Im Antlitz der Liebe Mai 2010
Transcription
Im Antlitz der Liebe Mai 2010
Im Antlitz der Liebe Der heilende Segen des Heiligen Herzens Gabriele Sych Santiago Moreno Garzón Im Antlitz der Liebe -2- © Gabriele Sych Vorwort Dieses Buch ist ein wahrer Bericht, und zwar zum einen unseres wundervollen Camino de Santiago im Spätsommer 2007 von Lourdes in Frankreich über Santiago de Compostela und weiter nach Finisterra und Fátima in Portugal. Wir sind gemeinsam ca. 1500 km gepilgert und hatten zusammen eine außerordentliche Zeit, für die wir sehr dankbar sind. Subjektive Erlebnisse und Empfindungen von Gabriele sind in Kursiv, von Santiago in Comic Sans gesetzt. Nicht alles, was der eine erfuhr oder denkt, ist auch für den anderen genau so. Doch dieser Bericht hört nicht in Santiago auf, sondern er enthält die ganz konkrete Geschichte von Gabrieles Gotteserleben in den zwei Jahren nach dem Camino: als ich ihn verdaute und seine Erkenntnisse umsetzte, meine daraus erwachsenen neuen Wunder, Alltags- und Gnadenserfahrungen, wie sich mein Leben veränderte. Da ich auf dem Camino eine besondere Gabe erhalten habe, nämlich Leben zu heilen, werde ich auch über mein Erleben mit dieser Gabe erzählen und über Heilung durch Gott, wie ich es durch meine Praxis als Heilpraktikerin für Psychotherapie authentisch mir erschließen konnte. Meine Erkenntnisse orientieren sich also an meinem realen Erleben zum einen direkt beim Laufen, also ein direktes Erleben an der "Hardware" Weg, Körper, Welt und Menschen. Zum anderen basieren sie auf konkreten Lebens- und Heilungserfahrungen, meiner eigenen und der Menschen, die mich aufsuchen. Es zeigt sich, was hilft und was nicht. Aber ob nun ein anderer darin Wahrheit findet oder nicht: für mich war es sehr real und wahr. Ich bin noch immer auf dem Weg, wie jeder andere, eine Lernende, Werdende, täglich menschlich Herausgeforderte genauso wie inzwischen ein wenig ein Pfadfinder/Scout und Fährtenleser, mehr nicht. Und als dieser Pfadfinder beschreibe ich das Land, das ich durchschreite und die Wege und Zeichen, die ich finde und erfahre. Als Fazit über diesen gesamten Weg möchte ich mit Maria, deren geweihte Orte Ausgangs- und Zielort unseres Caminos waren, sprechen wie in Lukas 1, 38, 46 + 47 (Einheitsübersetzung): Mir geschehe nach Deinem Willen. Meine Seele preist die Größe des Herrn, und mein Geist freut sich Gottes, meines Heilandes. In diesem Buch sind Bibelzitate verschiedener Übersetzungen enthalten, ich habe jeweils das Zitat gewählt, das im Zusammenhang am verständlichsten und deutlichsten war. Mehr zu den Bibelübersetzungen/Quellen am Ende des Buches. Das Bild auf dem Titel des Sagrado Corazón de Jesús stammt aus dem Besitz von Magdalena Koppány aus Ungarn, die dieses Bild über Jahre über ihrem Bett hängen hatte und sicherlich unendlich viele Stunden betend davor verbracht hat. Das Bild strahlt eine ungeheure Kraft aus und hat das Schreiben Im Antlitz der Liebe -3- © Gabriele Sych dieses Buches begleitet, daher heißt es: Im Antlitz der Liebe. Ihre Nichte, Sylvia Komin, hat mich während des Schreibens der ersten Fassung ohne Gegenleistung in ihrer Wohnung aufgenommen. Dafür bin ich ihr ganz besonders dankbar und auch denen, die ihr diesen Gedanken geschickt haben. Alle Nutzungs- und Kopierrechte liegen ausschließlich bei den Autoren. Im Antlitz der Liebe -4- © Gabriele Sych Inhaltsverzeichnis Der Weg des Apostels ................................................................................................................................................ - 7 - 2 1.1 Am Grab des Apostels............................................................................................................................... - 7 - 1.2 Beginn einer großen Liebe: El Sagrado Corazón de Jesús .................................................................. - 9 - 1.3 Der Aufbruch in die Weite Welt............................................................................................................- 14 - 1.4 Der Weg des Apostels: Mit Santiago nach Santiago, von Lourdes nach Fátima ..........................- 14 - 1.5 Momente der Gnade ..............................................................................................................................- 156 - 1.5.1 Dios te salve Maria, llena eres de grácia ..................................................................................- 157 - 1.5.2 Unerwartete Gaben .....................................................................................................................- 159 - 1.5.3 Prophezeiungen erfüllen sich ....................................................................................................- 161 - 1.5.4 Wege-Engel...................................................................................................................................- 163 - 1.5.5 Ankommen in Grácia .................................................................................................................- 164 - 1.5.6 Geben und empfangen ...............................................................................................................- 165 - 1.5.7 In der Wüste sein und der Ausblick auf das gelobte Land...................................................- 166 - 1.5.8 Der Moment der großen Angst ................................................................................................- 169 - 1.5.9 Hindurchgehen und die Angst verlieren .................................................................................- 171 - 1.5.10 Bei sich selbst ankommen..........................................................................................................- 173 - 1.5.11 Erkennen, was ist.........................................................................................................................- 176 - 1.5.12 Der Tag, als ich zu meinem Herz durchkam..........................................................................- 177 - 1.5.13 Meine Heimkehr und das Gnadenjahr.....................................................................................- 179 - Vom Ωmega zum Αlpha...............................................................................................................................- 185 2.1 Der Weg des Glaubens..........................................................................................................................- 188 - 2.1.1 Leben in Gottes Reich................................................................................................................- 188 - 2.1.1.1 Gelbe Pfeile in der Bibel: Gleichnisse von Gottes Reich..........................................- 194 - 2.1.1.2 Organisches Wachstum: Vom Senfkorn und vom Sauerteig ...................................- 196 - 2.1.1.3 Wann? Jetzt! Voraussetzungen? Keine! ........................................................................- 200 - 2.1.1.4 Leichtigkeit, bewusste Entscheidung, Wahl annehmen, Kind sein .........................- 203 - 2.1.2 Gott ist, was ist: Die Realität .....................................................................................................- 208 - 2.1.2.1 Und er sah, dass es gut war!............................................................................................- 211 - 2.1.2.2 Die Erbsünde, wie ich sie verstanden habe .................................................................- 214 - 2.1.2.3 Nimm nicht, sondern nimm an!.....................................................................................- 228 - 2.1.2.4 Der einfache Weg.............................................................................................................- 229 - 2.1.2.5 Das Leid in der Welt: Was würden wir tun?................................................................- 231 - 2.1.2.6 Der Moment der Wahrheit: Warst Du mit Deinem Leben zufrieden?...................- 235 - 2.1.2.7 Hilfe von oben ..................................................................................................................- 238 - 2.1.3 Und was ist mit der Sünde? .......................................................................................................- 238 - 2.1.3.1 Das Wort Sünde ...............................................................................................................- 243 - 2.1.3.2 Man wird mit dem „gestraft“, womit man sündigt.....................................................- 246 - 2.1.3.3 Die Gebote ........................................................................................................................- 255 - 2.1.3.4 Wir sind ja nicht allein! Der Segen der Gotteskindschaft .........................................- 263 - 2.1.3.5 Vergebung..........................................................................................................................- 266 - 2.1.3.6 Geistige Eucharistie .........................................................................................................- 271 - Im Antlitz der Liebe Montañas de Engaño .......................................................................................................- 271 - 2.1.3.8 Verantwortung und Konsequenz ..................................................................................- 273 - Sinn von Armut und Fülle .........................................................................................................- 276 - 2.1.4.1 Was sagt Jesus über Reichtum und Armut ..................................................................- 278 - 2.1.4.2 Existentielle Sorgen und der richtige Zeitpunkt .........................................................- 282 - 2.1.4.3 Nahrungsquelle Atmung .................................................................................................- 285 - 2.1.4.4 Feste Nahrungsquellen ....................................................................................................- 286 - 2.1.4.5 Die Ethik des Geldes.......................................................................................................- 287 - 2.1.4.6 Nochmals: Nimm nicht, sondern nimm an… ............................................................- 292 - 2.1.4.7 Parasiten und der Zusammenhalt der Gemeinschaft.................................................- 294 - 2.1.4.8 Aufwachen: Die Welt mit dem Herzen sehen.............................................................- 299 - 2.1.4.9 Und die Fülle? ...................................................................................................................- 308 - 2.1.4.10 Kredite auf das Leben......................................................................................................- 312 - 2.1.4.11 Was brauchen wir wirklich?............................................................................................- 317 - Der Weg der Liebe .................................................................................................................................- 319 - 2.2.1 Der Wegweiser: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben..................................- 319 - 2.2.1.1 Der Weg ist das Ziel?.......................................................................................................- 319 - 2.2.1.2 Der Weg des Kreuzes ist der Weg des Herzens .........................................................- 321 - 2.2.1.3 Jesus Anleitung zur Liebe in den 7 Ich-Worten..........................................................- 330 - 2.2.1.4 Wegweiser, Zeichen und Entscheidungen ...................................................................- 344 - 2.2.1.5 Kritik, Kontrolle und Zwang .........................................................................................- 347 - 2.2.1.6 Gott Raum schaffen.........................................................................................................- 352 - 2.2.1.7 Werke..................................................................................................................................- 357 - 2.2.2 Das Leben sich entfalten lassen ................................................................................................- 359 - 2.2.2.1 Ziele setzen und Wünschen............................................................................................- 360 - 2.2.2.2 Der Mensch denkt – Gott lenkt ....................................................................................- 373 - 2.2.2.3 Das Puzzle des Lebens ....................................................................................................- 376 - 2.2.3 Der Segen der Liebe....................................................................................................................- 379 - 2.2.3.1 Den Weg gemeinsam gehen ...........................................................................................- 384 - 2.2.3.2 Vernunft! Vernunft?.........................................................................................................- 388 - 2.2.4 2.3 © Gabriele Sych 2.1.3.7 2.1.4 2.2 -5- Alltagspraktiken für Hilfe durch Jesus Christus.....................................................................- 394 - 2.2.4.1 Ein Gebet vom Wegesrand ............................................................................................- 394 - 2.2.4.2 Jesus in sein Herz einatmen/im Herzen vorstellen....................................................- 395 - 2.2.4.3 Das Jesusgebet/Herzgebet .............................................................................................- 395 - 2.2.4.4 Heilung durch Abgeben und Loslassen im Heiligen Herzen Jesu...........................- 396 - Der Weg der Hoffnung .........................................................................................................................- 398 - 2.3.1 Gott der Trinität / Dreifaltigkeit, Raum und Zeit.................................................................- 399 - 2.3.2 Einheit und Trennung, Liebe und Leid...................................................................................- 406 - 2.3.3 Der Körper ist Heil .....................................................................................................................- 414 - 2.3.3.1 Kranheitsursachen............................................................................................................- 415 - 2.3.3.2 Die Krankheit als Gast ....................................................................................................- 416 - 2.3.3.3 Der Herzvergiftung vorbeugen......................................................................................- 425 - Im Antlitz der Liebe 2.3.4 -6- © Gabriele Sych Die Gedankenkrankheit .............................................................................................................- 428 - 2.3.4.1 Aufwachen: Aufmerksamkeit und Wahrnehmung.....................................................- 433 - 2.3.4.2 Starke und schwache Reize.............................................................................................- 435 - 2.3.5 Wunder des Lebens: Stärke und Schwäche.............................................................................- 440 - 2.3.6 Das Leben zu jeder Zeit lieben .................................................................................................- 443 - 2.4 Die Gabe des Caminos ..........................................................................................................................- 451 - 2.4.1 Heilen mit Gottes Hilfe: Unterschiede und Wirkungen.......................................................- 451 - 2.4.2 Gottes Allheilmittel: Glaube, Liebe, Hoffnung......................................................................- 467 - 2.4.2.1 Regelkreis Glaube und Sorge/Angst.............................................................................- 471 - 2.4.2.2 Regelkreis Liebe und Gleichgültigkeit/Pflicht/Trennung ........................................- 472 - 2.4.2.3 Regelkreis Hoffnung und Sinnlosigkeit/Teilnahmslosigkeit ....................................- 475 - 2.4.3 Wie wirkt Heilen durch Handauflegen?...................................................................................- 477 - 2.4.4 Der Ablauf einer Behandlung ...................................................................................................- 484 - 2.4.5 Unterschiede/Synergie zu Schulmedizin, Seelsorge und Psychotherapie .........................- 487 - 2.4.6 Der lebendige Gott .....................................................................................................................- 491 - 3 Epilog – Abendmahl in Tschenstochau.....................................................................................................- 494 - 4 Anhang.............................................................................................................................................................- 509 4.1 Unsere Pilgerorte ....................................................................................................................................- 509 - 4.1.1 Lourdes..........................................................................................................................................- 509 - 4.1.2 Der Camino de Santiago und Santiago de Compostela........................................................- 511 - 4.1.3 Fátima ............................................................................................................................................- 517 - 4.2 Den Rosario mitbeten............................................................................................................................- 521 - 4.3 Der spanische Gottesdienst ..................................................................................................................- 526 - 4.4 Die Ausrüstung .......................................................................................................................................- 532 - Im Antlitz der Liebe -7- © Gabriele Sych Der Weg des Apostels 1.1 Am Grab des Apostels Unter dem Altar der Kathedrale von Santiago des Compostela betete ich vor der Silberlade mit den sterblichen Überresten des Apostels Santiago el Mayor, der heilige Jakobus der Ältere. An diesem Tag war ich auf meiner Pilgerreise von Lourdes aus in Santiago nach 900 km angekommen. Ich fühlte mich wie ein Blatt im Wind: um auf diese Pilgerreise zu gehen, hatte ich meine Wohnung aufgegeben und meine Habe verkauft oder eingelagert, meinen beruflichen Standort riskiert, meine Praxis als Heilpraktikerin und Reiki-Meisterin verwaisen lassen, mein allerletztes Geld eingesteckt. Auch meinen 13-jährigen Sohn hatte ich aufgegeben: Er war vor 1 ½ Monaten auf eigenen Wunsch für ein Jahr zu seinem Vater nach Kanada gezogen und ich wusste nicht, ob er danach wiederkommen würde. Mit meinem Freund Santiago bin ich von Berlin nach Lourdes getrampt und dann sind wir von dort 32 Tage lang fast ständig den ganzen Tag lang gelaufen, manchmal 12 bis 14 Stunden am Tag. Wir haben in den einfachsten Herbergen und im Freien übernachtet, in den 4,5 Wochen von 400 Euro gelebt. Unterwegs haben wir unzählige Rosarios gebetet, waren wohl in jeder offenen Kirche und haben jeden abendlichen Gottesdienst besucht. Jeden Abend war ich erschöpft und nur „Handlauflegen sei Dank!“ mit einer Stunde abendlicher Selbstbehandlung, vor allem der schmerzenden Beine und Füße, am nächsten Tag wieder abmarschbereit. Meine Füße waren voller Blasen, 8 Kilo hatte ich abgenommen. Auch Santiago hatte ich zwischenzeitlich aufgeben müssen. Ich stand vor dem Nichts. Und nun war ich in Santiago. Ich hatte mir alles ganz anders vorgestellt. Meine Intention der Pilgerreise war es, Jesus Christus noch näher zu kommen und seine Form der Heilung noch besser zu verstehen und mich mit Santiago auf unser neues Leben einzustellen. Doch die Realität und damit Gott hatten mir ein anderes Gesicht des Camino bereitet. Ohne Zweifel war ich Jesus Christus sehr nahe gekommen, weil ich versuchte, ihm täglich in den Kirchen zu begegnen, um meine aktuellen schmerzlichen Erfahrungen an Körper und Seele zu ertragen und Antworten auf meine Fragen zu erhalten. Und nun: ich hatte nichts mehr außer mir selbst, ein paar Möbeln und Kartons und ich war in Santiago. Und nun saß ich dort im Halbdunkel, das Gesicht der Silberlade zugewandt. In stillem Zwiegespräch wandte ich mich an den Heiligen Santiago. „Ich bin hier hergekommen, um auf dem Weg mehr über das Im Antlitz der Liebe -8- © Gabriele Sych Heilen in der christlichen Tradition zu lernen, doch das alles hat sich nicht erfüllt. Kannst Du mir jetzt etwas über das Heilen sagen?“ Da hörte ich die Stimme des Apostel in mir: "Du bist schon lange eine von uns! Du heilst schon auf die Art, wie wir heilen. Du bist doch schon da!“ Lukas 14: Jesus fordert alles (Hoffnung für alle): Ist das zuviel? 25 Wie schon oft, war Jesus von einer großen Menschenmenge umlagert. Bei dieser Gelegenheit machte er seinen Zuhörern deutlich: 26 «Wenn einer mit mir gehen will, so muss ich für ihn wichtiger sein als alles andere in seinem Leben: wichtiger als seine Eltern, seine Frau, seine Kinder, seine Geschwister, ja wichtiger als das Leben selbst. Nur so kann er mein Jünger sein.27 Wer nicht bereit ist, diese Lasten um meinetwillen auf sich zu nehmen und mir nachzufolgen, der gehört nicht zu mir. ... 33 Überlegt es euch vorher, ob ihr wirklich bereit seid, alles für mich aufzugeben und mir nachzufolgen Im Antlitz der Liebe 1.2 -9- © Gabriele Sych Beginn einer großen Liebe: El Sagrado Corazón de Jesús Zum Jahreswechsel 2006/2007 machte ich drei Wochen Ferien in Barcelona. Mein Sohn besuchte in dieser Zeit seinen Vater in Kanada und Santiago seine Familie in Barcelona, da hatte ich mich ihm angeschlossen. Die ersten acht Tage hatte ich mir von einer Italienerin eine süße, kleine Jungmädchenbude unterm Dach in der Altstadt in dem angesagten Stadtteil Born, ganz in der Nähe der Kirche Santa Maria del Mar, gemietet. Es war sehr schön warm tagsüber, 17 Grad und sonnig, doch auf die Dauer war es in der Wohnung recht kalt, da ich die Heizung trotz Beschreibung nicht anbekam. Aus einer Email an meine Familie und Freunde stammen diese Zeilen: „Ich bin gleich am ersten Tag raus, um all dies hier zu entdecken. Ich fühle mich hier wie Alice im Wunderland, staunend auf Entdeckungsreise. Hinter jeder Ecke taucht etwas Neues auf, ein romantisches Plätzchen, eine Kirche, ein altes Kastell, Prachtbauten, enge Gässchen, trotzdem mit Bäumen, ein kleiner Markt, ein herrschaftlicher Platz mit Cafés und Palmen. Göttlich, das gefällt mir. Ich fühle mich hier in Barcelona wirklich einfach sofort heimisch, als ob ich hier schon einmal gelebt hätte und finde mich in dem Gassen-Gewirr schnell zurecht. Alles ist nicht weit und prima zu erlaufen. Barcelona ist wie mit Santiago zusammen sein: es lädt mich auf und macht mich glücklich. Plötzlich tauchen vor mir Kirchentürme auf und ich laufe darauf zu, es ist die Kathedrale von Barcelona. Das zieht mich immer an, denn die Atmosphäre alter Gotteshäuser, in denen viel gebetet wird, hat ihren eigenen Charme und eine spürbare umsorgende und herzerhellende Atmosphäre. In einer der kleinen Kapellen hinter dem Hauptaltar finde ich meine erste Gebetsstation „Sagrado Corazón de Jesus“ steht da – das geheiligte Herz Jesu. Und eine Sammelbox: Por los Pobres – Für die Armen. Er zeigt mit beiden Händen auf sein Herz, als wenn er sagen wollte: darauf kommt es an. Sein Herz prangt glänzend golden auf seiner Brust, es zieht mich sehr an. Ich hole mir eine Kerze, um sie hier für Santiago und mich anzuzünden und all die, mit denen ich in Liebe verbunden bin. Ungefähr eine Stunde verharre ich hier betend. Ich verbinde mich mit seinem geheiligten Herz, das ist eine unfassbare Erfahrung. Ich lasse diese Energie in mein Herz fließen und ich spüre ganz, ganz deutlich die Aussage: Es war absolut richtig, hier herzukommen, um Im Antlitz der Liebe - 10 - © Gabriele Sych all die neuen Themen für das nächste Jahr anzugehen. Da mein erstes Seminar des kommenden Jahres sich um Liebe und Partnerschaft dreht, ist dieser Orts- und Perspektivwechsel jetzt wichtig. Die Kernbotschaft, die ich beim geheiligten Herz Jesu erhalten habe, heißt: Liebe einfach, alles andere wird sich finden und regeln. Einfach nur lieben und nicht denken! Eine wunderbare Botschaft…“ Ab diesem Tage war ich in der Kathedrale Stammgast, da ich mich hier immer in Ruhe und in aller Beschaulichkeit und – das war wichtig – ohne Geld aufwärmen konnte. Stunden verbrachte ich dort, intensiv verbunden in stiller Zwiesprache mit Jesus. Ich stellte ihm all die brennenden Fragen, die ich hatte, redete mir allen Kummer von der Seele und erhielt Antworten. Und wer ihn noch nicht antworten gehört hat: es sind klare und einfache Antworten, die eben wirklich vom Herzen kommen. Oft beginnt er mit „Das ist ganz einfach...“ und das ist es dann auch. So als ob man auf dem Boden ankommt und das tut, was das Nahe liegende ist: ohne Gedankenkonstrukte, ohne Wertungen, gerecht und entspannt. Wir schauten uns gemeinsam die Realität an und anhand der Realität erklärte er, was denn nun am sinn- und liebevollsten zu tun wäre. Es ist nicht immer einfach, das umzusetzen, schon weil man sich manchmal erschreckt fragt, ob es denn überhaupt so klar geht. Ich habe mir aus der Kathedrale eine Votiv-Kerze mit seinem Foto mitgebracht, die über Wochen immer wieder bei mir brannte, wenn ich Rat oder Trost brauche. Und das war in diesem so jungen Jahr eine ganze Menge, weil es meinem Sohn nicht gut ging. Ich habe mich immer wieder im Licht der Kerze mit "El Sagrado Corazón de Jesús" verbunden und mir seine Energie in mein Herz fließen lassen, was sehr, sehr heilend war und meine innere Unruhe und meine Sorgen und Ängste linderte. In der Nacht zum Valentinstag hat die Kerze wieder einmal lange gebrannt. Als ich dann tagsüber in mein Zimmer trat, da war die Kerze zwischendurch umgefallen und hat mir auf dem Nachttisch ein Herz aus Wachs hinterlassen. Seht her, das ist für mich (m)ein ValentinstagWunder! Es ist einfach unglaublich berührend und beglückend, von Jesus direkt ein Herz geschenkt zu bekommen. Im Antlitz der Liebe - 11 - © Gabriele Sych In der Folgezeit habe ich ihn ständig aufgesucht und – ich habe ihm häufig Reiki1 geschickt und zwar auf die Zeit2 seines Leidensweges, zu dem Tag, als er das Kreuz durch Jerusalem und nach Golgatha getragen hat, als er am Kreuz hing. Als ich es das erste Mal tat, hörte ich in mir die Worte: „Na endlich bist Du da!“. Ich habe ihm immer wieder zu dieser Zeit Reiki geschickt und in die Zeit nach der Auferstehung Reiki auf seine Hände und seine Füße. Nicht dass ich denke, dass er nicht selbst über Heilkräfte verfügt, selbst Gott ist, aber ich weiß, es ist auch schön, wenn man selbst mal in einer schweren Situation diese wunderbare Energie bekommt. Einmal habe ich auch direkt seinen Tod mit meinen Händen miterlebt. Zunächst hatte ich sehr starke Energieempfindungen in meinen Händen, sie glühten förmlich und dann spürte ich plötzlich etwas sehr, sehr Helles, Leichtes, Feines in Richtung Himmel entweichen. Dann wurden meine Hände langsam kalt. Das einzige, was ich dann noch fühlte, war, als ob in seinem Körper „eine Art Notstromversorgung angeschaltet wurde“. Er ist mein Halt, mein Ratgeber, jemand, der es immer freundlich mit mir meint, der immer meint, was er sagt, er ist immer für mich da, meine Quelle. Auf dem Camino, in Arzua in Galizien, suchten wir eine Quelle, denn wir hatten Durst und nichts mehr zu trinken. Ich wiederholte in mir die ganze Zeit: „Wir brauchen eine Quelle, wir brauchen eine Quelle“. Wir fanden eine Kirche mit Ihm (und im Gemeindebüro ein Büchlein über die Erscheinungen von Fátima). Jesus ist die primäre Quelle, das lebendige Wasser. Das wurde mir dort wieder bewusst. Nach dem Rosario-Gebet in seinem Angesicht fanden wir hinter der Kirche einen Brunnen mit Wasser. Selbst in schweren Stunden sagt er zu mir: Ich bin hier bei dir, ich bin da! Er tröstet mich. Ich empfinde „El Sagrado Corazón de Jesús“ als meinen geliebten Freund, der mich durch meinen Freund als menschlichen Stellvertreter auch in der Realität liebt und der durch mich liebt. Wir sind täglich in Kontakt, kein Tag vergeht ohne ihn, ich richte viele meiner Fragen an ihn. Auch auf dem Camino de Santiago suchte ich immer wieder „El Sagrado Corazón de Jesús“ in den Kirchen und Klöstern und freute mich immer wieder riesig, wenn ich ihn sah. Ich habe jede Gelegenheit genutzt, mich mit ihm in Verbindung zu setzen und mit ihm zu sprechen. Hier eine Sammlung von unserem Weg.: 1 Aus Japan stammende, weltweit verbreitete Technik des Heilens durch Handauflegen; Wortbedeutung = göttliche/universelle Energie 2 Mit den Techniken des 2. Reiki-Grades kann man Reiki nicht nur in die Ferne, sondern auch in die Vergangenheit und Zukunft schicken. Im Antlitz der Liebe - 12 - © Gabriele Sych Auch die Gemeinde, in der ich jetzt zuhause bin, ist eine Herz-Jesu-Gemeinde. Wenn ich mich mit ihm in einer Kirche oder mit seinem Bild unterhalte, dann wird seine Statue oder das Bild oft lebendig. Die Umgebung der Statue verklärt sich, wie Luft, die über einem Feuer brennt, und beginnt die Statue beginnt, sich zu bewegen. Das bleibt dann so bis zum Ende des Gesprächs. Ähnliches ist mir später auch mit Santa Maria Virgen passiert und bei Gottesdiensten geschieht dies - vor allem in Kirchen mit Hochaltar - mit dem gesamten Altargebiet und dies verstärkt sich besonders in den Momenten, wo gebetet oder gesungen wird. Die göttliche Energie wird für mich deutlich sichtbar und spürbar. In vielen Zwiegesprächen hat er mir viele der Zusammenhänge und Übungen erklärt, die ich in einer Anleitung zum Handauflegen niederschrieb. Ich habe mir angewöhnt, regelmäßig zu ihm zu beten und ihn in mein Leben integriert. Und dies ist mein persönliches Gebet an ihn, (seit dem Camino bete ich noch immer in Spanisch, was mir mehr zu Herzen geht als das Deutsche) das ich aus einem Fátima-Gebet abgeleitet habe: Jesus Christus, te amo, te adoro, te necesito, te espero y te confio, te agradezco por todo con que tu llenas mi vida, te sigo. Te pido por tu amor, tu resurrección, tu guía, tu ayuda, tu protección y tu bendición - Ich liebe Dich, ich verehre Dich, ich brauche Dich, ich hoffe auf Dich und ich vertraue Dir, ich danke Dir für alles, womit Du mein Leben füllst, ich folge Dir. Ich bitte Dich um Deine Liebe, Deine Auferstehung, Deine Führung, Deine Hilfe, Deinen Schutz und Deinen Segen. Amen. Nach dem Camino hat er immer mehr von meinem Leben Besitz ergriffen, er will einen zu 100 %, das wird wohl jeder Christ bestätigen können. Er ist kein Hobby, er ist ganztags, 24/7, immer. Ein deutliches Bekenntnis – darunter geht es nicht. Vor kurzem erhielt mein Sohn eine Tüte T-Shirts Im Antlitz der Liebe - 13 - © Gabriele Sych geschenkt, eines gab er gleich an mich weiter: „I ♥ Jesus and Jesus ♥’s me“ stand da drauf. Manchmal muss ich tief durchatmen, doch: Lukas 9 (Hoffnung für alle) 26 Wer sich schämt, sich zu mir und meiner Botschaft zu bekennen, den wird auch der Menschensohn nicht kennen, wenn er in seiner Macht und in der Herrlichkeit des Vaters und der heiligen Engel kommen wird. Als ich dann jedoch in dem T-Shirt am Alexanderplatz an einer Gruppe Hare Krishna Jünger vorbeikam, die dort singend in ihren langen orangenen Gewändern tanzte, da musste ich – wieder - über mich selbst lachen… Ich mache mir einen Kopf um das T-Shirt und die singen und tanzen da, mit Verstärker, für ihren Glauben als junge Männer in langen, orangen Gewändern. Das ist Glauben, das ist Verehrung, zum Abgucken, zum Fühlen, in aller Deutlichkeit! So finde ich in der Form, wie Jesus mir im Außen zeigt, wie ich mich selbst verhalte, auch viel Humor. Es ist keine Angst, die mich bewegt, diesen Weg weiterzugehen. Durch seine Präsenz erhalte ich so viel, dass ich gar nicht anders kann, als ihm zurückzugeben und dazu zu stehen, was ich tue. In keiner Zeit habe ich so kondensiert über die Liebe gelernt wie unter seiner Führung, so viel erfahren, so viel verstehen können. Er stellte meine ganze bisherige Welt auf den Kopf. Über Liebe reden ist eine schöne Sache, Liebe jedoch in Gemeinschaft, z.B. in Familie zu leben eine ganz andere. Da kommen nämlich erstmal all die kleinen unfeinen eigenen Ecken und Kanten hoch, mit denen wir uns Fragen stellen, wo wir den anderen tatsächlich oder für uns im Stillen anklagen, uns beschweren, Fragen wie „Warum muss denn immer ich…?“ oder „Kann der/die nicht auch einmal…?“, all das „den Anderen nicht für gut halten“. Wer nicht in der engsten Gemeinschaft mit anderen Liebe, Zugewandtheit, uneingeschränktes Teilen und Frieden halten und leben kann, der hat in der Liebe noch viel Wachstumspotential, das habe ich in dieser Zeit an mir selbst intensiv gemerkt. All diese inneren Fragen führten mir immer wieder meine eigene Lieblosigkeit vor Augen, meine sture Erwartungshaltung darüber, wie Liebe sich anfühlen sollte, meist ungeachtet dessen, wie der Andere sich fühlte. Er hat mir die Frage aller Fragen gegeben, um meine Denkweisen und Gedanken zu sortieren, Entscheidungen zu treffen und zu erkennen, wohin mein Weg führt, wo es voran geht: „Ist das wirklich Liebe? Fördert dieser Weg die Barmherzigkeit unter den Menschen, fördert er deine eigene Barmherzigkeit, die Barmherzigkeit des oder der Anderen?“ Im Antlitz der Liebe 1.3 - 14 - © Gabriele Sych Der Aufbruch in die Weite Welt Unerledigt: Santiago schreibt noch über seinen Start in Europa 1.4 Der Weg des Apostels: Mit Santiago nach Santiago, von Lourdes nach Fátima 5 Mose 4 (Lutherbibel 1984) 29 Wenn du aber dort den HERRN, deinen Gott, suchen wirst, so wirst du ihn finden, wenn du ihn von ganzem Herzen und von ganzer Seele suchen wirst. 30 Wenn du geängstet sein wirst und dich das alles treffen wird in künftigen Zeiten, so wirst du dich bekehren zu dem HERRN, deinem Gott, und seiner Stimme gehorchen. Der Weg der Engel und Heiligen (14. – 16.08.2007) Am 13. August 2007 gab ich die Schlüssel für meine gekündigte Wohnung der Hausverwaltung zurück, brachte die Reste meiner Habe zur Möbeleinlagerung in den angemieteten Container und fuhr zu Santiago. Am 14. August packte auch er seinen Rucksack und seine Zampoña3 und wir brachen mittags auf, um unsere Reise nach Santiago de Compostela anzutreten. Wir wollten gleich ab Berlin die Kontrolle über unseren Weg aufgeben und sie Gott überlassen und haben – natürlich auch des Geldes wegen – uns entschlossen, nach Lourdes zu trampen, wo wir unseren Pilgerweg beginnen wollten. Auf dem Alexanderplatz gab es als letzte warme Mahlzeit gebratene chinesische Nudeln. Mit der S-Bahn fuhren wir nach Nikolasee zur Autobahnraststätte Grunewald an der Avus, einem bekannten Tramperplatz. Zunächst hielten wir direkt an der Autobahnauffahrt den Daumen und unser Schild „Köln – Frankfurt – Stuttgart“ raus, doch dann liefen wir zur Tankstelle und begannen, Autofahrer anzusprechen, weil wir sahen, dass andere damit erfolgreich waren. Was ich zu diesem Zeitpunkt nicht wusste: Santiago spielte noch immer mit dem Gedanken, wieder nach Hause umzukehren... Ein Autofahrer, den ich wegen der Mitfahrgelegenheit ansprach, fragte mich: „Was sind sie denn von Beruf?“ „Ich bin Heilpraktikerin und mein Freund ist Musiker und Altenpflegehelfer.“ Das war offensichtlich unsere Fahrkarte! Mit den Worten „Solche Leute sollte man unterstützen!“ öffnete er uns sein Auto und nahm uns mit – nicht weit – bis zur Autobahnraststätte Michendorf auf dem Berliner Ring. Auch dort sprachen wir wieder Autofahrer an und einer, ein bekennender Christ namens Jochen 3 Südamerikanische doppelreihige Panflöte Im Antlitz der Liebe - 15 - © Gabriele Sych (hebräisch: Gott richtet auf), räumte sein Auto schnell für uns auf und nahm uns mit bis nach Hannover. Damit war also die Richtung entschieden, unser Weg würde über das Ruhrgebiet und Richtung Paris führen. Unser Fahrer war von Beruf Martetingtrainer. Auf dem Weg hielt er uns einen Schnellkurs in „Lokales Marketing“. Nach meiner Rückkehr nach Berlin fand ich das SeminarSkript, das zwischenzeitlich im Briefkasten meiner ehemaligen Praxisräume gelandet war. Was ich mir bis heute gemerkt habe: Finde und lebe Deine spezielle Nische. Danke dafür! Auf dem Rastplatz kurz vor Hannover sprach uns sogar schon ein Pärchen mit einem Hund an, ob wir mitfahren wollen. Sie nahmen uns mit nach Dortmund. Santiago ist wahrlich kein Freund von Hunden, da er als Kind mehrfach gebissen wurde, doch dieser Hund legte sich auf seinen Schoß und blieb dort bis Dortmund. Es war Santiagos erste Hundebegegnung des Camino. Unterwegs schrieb ich eine SMS an meine Schwester, die in Essen wohnt, ob wir bei ihr übernachten könnten. „Ja klar“, schrieb sie, „wann kommt ihr an?“ Freundlicherweise wurden wir in Dortmund bis an die S-Bahn gebracht und von dort aus waren es nur ein paar Stationen bis Essen, wo meine Schwester am Bahnhof wartet. Sie ist ganz bestimmt ein Engel! Bei ihr konnten wir die Nacht in einem richtigen Bett schlafen und wurden reich bewirtet. Mit einem großen Fresspaket versehen brachte sie uns am nächsten Tag wieder zur Autobahn. Schon nach 5 Minuten waren wir wieder unterwegs, ein Ägypter aus Brüssel, Händler für Wasserpfeifen auf Musikfestivals, nahm uns in einem verbeulten Ford-Transporter – Santiago musste hinten auf dem Fußboden sitzen - mit nach Liége in Belgien. Auf einer Tankstelle bei Liége warteten wir viele Stunden, fragten viele Leute – doch nichts. Irgendwann sahen wir ein anderes Tramper-Pärchen, das mit einem Schild vom Tankstellenbereich zur Ausfahrt lief und dann schnell mitgenommen wurde. Das machten wir nach. Ein deutscher Brummifahrer namens Wolfgang aus Suhl nahm uns mit. Wolfgang fuhr mit zwei anderen Brummifahrern im Konvoi und es wurde über Funk viel gescherzt, weil die Kollegen Santiago wegen seiner langen Haare auch für eine Frau gehalten hatten und nun natürlich neugierig waren, wie das mit den Frauen so wäre. In der gemeinsamen Rastpause spielte Santiago auf dem Parkplatz auf seiner Zampoña für alle „La Lambada“. Auf dem letzten Parkplatz in Belgien in der Nähe von Mons kurz vor der französischen Grenze war erstmal Schluss für Wolfgang. Da es der Feiertag Maria Himmelfahrt war, war die französische Grenze bis 22.00 Uhr abends für Lastwagen geschlossen. Der Konvoi musste pausieren, die turnusgemäße Ruhepause war zudem erreicht. „Paris“ stand jetzt auf unserem Pappschild. Auf dem Rasthof bot uns ein Lastwagenfahrer, Sergio, die Mitfahrt an: Nicht nur bis Paris sondern sogar bis kurz vor Bordeaux! Das passierte so: Wir sprachen Im Antlitz der Liebe - 16 - © Gabriele Sych immer wieder Autofahrer und Lastwagenfahrer an, doch keiner sagte Ja. Plötzlich sprang an einer der Tanksäulen der voll gepackte Wagen einer kinderreichen, französischen Familie nicht an und wir boten sofort unsere Hilfe an und schoben mit an. Direkt danach wurde Santiago von Sergio angesprochen, Lohn einer kleinen, guten Tat. Wieder waren wir über Nacht versorgt! Einer von uns konnte komfortabel in der Couchette des sehr gepflegten, neuen Mercedes-Lasters schlafen, der andere auf dem Beifahrersitz. Gegen Mitternacht passierten wir Paris. Mit den kärglichen Überresten meines Schulfranzösisch tauschten wir uns über unser Woher? Wohin? aus. Sergio war ein eindrucksvoller Mann mit einer markanten Kopfform, dunkel, lange, kräftige Haare, fast ein wenig animalisch. Er stammte deutlich von den australischen Ureinwohnern ab, seine Heimat war Neu-Kaledonien4. Als wir am nächsten Morgen uns auf dem Parkplatz nahe Chagnas von Sergio verabschiedeten, lasen wir, dass oben auf der Frontscheibe des Lasters mit Riesenlettern das Wort „Angellines“ = Engellinie angebracht war. Wow! Das prickelte, war eine gewaltige Gänsehaut wert! Auf dem Parkplatz suchten wir uns eine neue Pappe und malten in Riesenlettern „Bayonne“ und „Lourdes“ drauf. Es war ein wunderschöner, warmer Sommertag in Südfrankreich, Santiago stellte sich an die Auffahrt und ich legte mich auf meiner Isomatte in die Sonne. Schon nach kurzer Zeit hielt ein portugiesischer Lastwagenfahrer namens Miguel an, also sogar ein Erzengel, der uns auf der Fahrt – von unseren Pilgerplänen erfahrend - begeistert auf Spanisch von Fátima erzählte, wohin er gepilgert war. Auch in seinem Laster durfte ich wieder eine Weile in der Couchette schlafen. Miguel setzte uns in Bayonne, kurz vor der Spanischen Grenze ab. Von dort nahm uns ein Gabriel, ein weiterer Erzengel, in seinem Auto mit zur Raststätte von Artiz. Er bat uns, die „La Vierge“, die Jungfrau, in Lourdes von ihm zu grüßen und dort für ihn zu beten. Auch in Artiz dauerte es nur Minuten, denn von dort nahm uns ein aus Deutschland stammender David (hebr. der Geliebte) nach Tabres mit. Er setzte uns an einem Kreisverkehr direkt an der Landstraße nach Lourdes ab. Dort hielt – fast wie bestellt - eine Adelina an, die uns die letzten 20 km direkt nach Lourdes hineinbrachte und dort auf der Hauptstraße absetzte, wo wir gegen 21.00 Uhr ankamen. Wir hatten innerhalb von 55 Stunden von Berlin aus Lourdes (2000 km!) erreicht, hatten beide Nächte warm, trocken, bequem schlafend und gut verpflegt verbracht. Wir hatten jeder 6,30 Euro für die Fahrt ausgegeben, jeweils für 2 S-Bahn-Tickets, der Rest war uns von Engeln und Heiligen und einfach wunderbaren Menschen geschenkt worden. Für uns war bestens gesorgt worden: Danke dafür! 4 Zu Frankreich gehörige Inselgruppe im Nordosten Australiens Im Antlitz der Liebe - 17 - © Gabriele Sych Nach einer warmen Mahlzeit gingen wir als erstes ins Sanktuarium und zur Grotte der Vierge, Santa Maria Virgen5. Als es schloss, entschieden wir, die Nacht draußen zu schlafen. Es war schon sehr spät, eine Pilgerherberge hätten wir nicht mehr gefunden. Wir suchten eine Weile im Dunkeln und fanden dann einen Weg in einem Parkgelände, ein wenig den Berg hinauf, der in einer ruhigen und dunklen Sackgasse endete, direkt an einem Felsen. Dort legten wir uns mit Isomatte und Schlafsack in einer Wegbiegung, geschützt unter Bäumen, an den Wegesrand. Was wir nicht wussten und erst am Morgen entdeckten, war, dass wir nur wenige Meter unterhalb der Kalvarie auf dem Chemin de Croix, dem Kreuzweg von Lourdes, geschlafen haben. Es war ein stiller und abgeschiedener Ort unmittelbar am Berg. Es war für uns im Dunkeln gar nicht erkennbar, dass wir auf dem Kreuzweg waren. Wir haben so dicht wie möglich bei Jesus, zu seinen Füßen geschlafen und ganz sicher in seinem Schutze. Er hat uns zu sich geholt. So sorgte Gott für uns. Unser Camino begann mit einem Paukenschlag. Man möge es uns in Lourdes nachsehen. Frankreich (ca. 155 km): Lourdes, Olivier, Christophe und Blanco Den 17. August verbrachten wir ganz in Lourdes, nahmen an verschiedenen Messen, an einer Führung von freiwilligen Helfern durch das Sanktuarium und zu den Lebensstationen der heiligen Bernadette und an der abendlichen Lichterprozession teil. In Lourdes erhielten wir den ersten Stempel in unserem Credencial und verbrachten die erste Nacht in einer PilgerHerberge, im Ave Maria in der Avenue du Paradís – was für Namen! Bei der gegrüßten Maria im Paradies! Im Ave Maria gibt es morgens sogar noch Frühstück, ein schöner Morgen! Am nächsten Morgen kauften wir uns Andenken – ich mir einen Rosario6 -, dann füllten wir uns unsere Wasserflaschen mit dem heiligen, heilenden Wasser im Sanktuarium auf und machten uns auf unsere 1. Etappe. Etappenbeschreibungen des Voie de Piemont im Internet Wir wanderten die wunderschöne Vorpyrenäen-Etappe bis nach Asson: Frische Luft, sanfte Waldwege mit plätschernden Bächen, weite Bergpanoramen. Auf einer Lichtung spielt Santiago auf seiner Zampoña – wie ein Waldelf. 5 Vierge (französisch) = Jungfrau, Santa Maria Virgen (spanisch) = heilige Jungfrau Maria 6 Rosario (spanisch) = Rosenkranz, Rosenkranzkette. Der Rosario ist das bekannteste Mariengebet der katholischen Kirche. Ich werde im Folgenden bei diesem spanischen Begriff bleiben. Im Anhang findet sich eine Gebetsanweisung in Deutsch und Spanisch. Im Antlitz der Liebe - 18 - © Gabriele Sych Ein tiefgrüner Gebirgsfluss, der Gave du Pau, begleitete uns lange. In Bétharram goutierten wir die wunderschöne Kirche mit einem Sternenzelt an der hohen Holzdecke. Direkt danach stiegen wir unseren ersten vollständigen Kreuzweg hinauf. Steil war es! An jeder Station, es waren jeweils kleine, weiße Kapellchen, hielten wir, schon weil ich kaum noch Luft kriegte, andächtig an. Wir hatten zwar nur unseren Rucksack auf dem Rücken und kein Kreuz, doch die Anstrengung des Kreuzweges haben wir hier auch erfahren! Die Sonne stach heiß. Ich merkte, dass ich mein neues Wanderbasekap gleich am ersten Morgen in Lourdes am Frühstückstisch liegen gelassen hatte – schade auch! Am Wegesrand pflückte ich frische Minze. Die krümelte ich mir in meine Wasserflasche und hatte fortan Lourdeswasser mit Minzgeschmack. Direkt am Ortsschild von Asson fragte mich ein Autofahrer, wie ich erfuhr der Küster des Ortes, ob ich denn in Asson in der Herberge übernachten wollte, was ich ihm bejahte. Er bat mich, erst in einer halben Stunde dort vorbeizukommen, er hätte noch eine Besorgung zu machen. So wartete ich vor der Kirche. Santiago wollte nicht in Asson bleiben, denn die Strecke, 24 km, war ihm viel zu kurz. Ich konnte nicht mehr, mir taten meine Beine wirklich weh. Ich spürte die Knochen in meinem Oberschenkel, als wollten sie aus den Hüftpfannen springen. 300 Höhenmeter Aufstieg und 440 Abstieg hatte ich an diesem 1. Tag bezwungen. Ich war stolz darauf, was ich geschafft hatte, das war genug! Unsere Wege schienen sich schon an diesem ersten Tag zu trennen. Erst ließ Santiago mich tatsächlich nach dem Einkaufen in Asson zurück. Wir verabschiedeten uns. Dann überlegte er es sich anders, hatte mit mir Einsehen und kam zu mir zurück. Die Herberge in Asson ist ganz klein, jedoch wunderschön: es gibt ein Zimmer mit einem Doppelstockbett, Kochgelegenheit, Esstisch und Badezimmer. Es war schon ein Pilger dort, den der Küster vorher wohl schnell an einem anderen Schlafplatz untergebracht hatte, wie wir hinterher merkten. Wir waren zahlende Pilger, er konnte nichts bezahlen. Wir haben gemütlich miteinander gekocht, gegessen und uns unsere Geschichten erzählt. Olivier war in seinem Wohnort Albi7 losgepilgert und ebenfalls über Lourdes gewandert. Sein Gepäck bestand aus einem kleinen Rucksack, einem Schlafsack, einer Isomatte und eine Schultertasche, in der er sein Schreibzeug mitführte. Er erzählte uns, dass er sehr wenig Geld hätte und er immer fragte, ob er kostenlos irgendwo schlafen könnte. Wenn er nichts fand, dann schlief er draußen, bei Regen suchte er sich ein überdachtes Plätzchen. Er war recht schnell bis Lourdes gelaufen, denn er wollte am 15. August dort bei den Feierlichkeiten zu Maria Himmelfahrt dabei sein, was wir leider verpasst hatten. Doch ab 7 Ort in Südfrankreich, Heimat der Albigenser, mittelalterliche christliche Glaubensbewegung Im Antlitz der Liebe - 19 - © Gabriele Sych jetzt wollte er langsamer laufen, am Morgen war er in Betharram aufgebrochen. Er sagte über die Streckenwahl seinen Leitsatz: „Wenn dein Pferd einen langen Weg zurücklegen soll, dann geh gut mit ihm um.“ Und dieser Olivier entpuppte sich als ein Spezialist des Rosarios, er trug drei verschiedene mit sich. Er betete ihn jeden Morgen vor dem Aufstehen. Er erzählte uns von den 20 Mysterien, wie die einzelnen Stationen des Rosarios aussehen, d.h. was wo gebetet wird. Am Morgen kaufte ich einen Rosario, am Abend schickte mir Gott bereits den Lehrer dafür! Oder: Wenn der Schüler bereit ist, dann ist der Lehrer da! Da war es offensichtlich, dass gebetet werden sollte, oder? Am nächsten Tag besuchten wir den Sonntagsgottesdienst in Asson, ein ganz familiärer Gottesdienst. Beim Wandern begann Santiago mir das Vaterunser und das Ave Maria auf Spanisch beizubringen, da ich den Rosario eben selbst beten lernen wollte. Das deutsche Vaterunser hätte ich noch zusammen bekommen, aber das Ave Maria kannte ich ja gar nicht, hatte es nur in Lourdes einmal gehört. Ich benutzte an diesem Tag das erste Mal meinen Teleskopwanderstock, Santiago schnitt sich am Wegesrand, als wir uns wegen Regen unterstellten, mit dem Taschenmesser einen Haselnussstock als Wanderstab ab. Wir haben sie immer wieder unterwegs gut brauchen können. An diesem Tag wollte Santiago weiter wandern als am Tag zuvor, also waren wir um 20.00 Uhr immer noch auf der Straße, als wir in Buzy ankamen. Dort fing es an zu regnen und wir suchten nach einem Schlafplatz. Alles, was wir sahen und wo wir fragten, war für uns zu teuer, 35 Euro, 50 Euro. Santiago suchte für uns etwas zu Essen, während ich mich in einem Bushäuschen ausruhte. Er fand eine Pizzeria, wir hatten beide großen Hunger. Doch wohin, wo nun schlafen? In der Pizzeria fragten wir die Wirtin, ob sie einen preiswerten Schlafplatz für uns wüsste. Während des Essens - unsere letzte gemeinsame warme Mahlzeit in einem Restaurant bis Fátima, das wusste ich damals nur noch nicht! wurde ich immer ängstlicher und begann zu beten, während ich das Kreuz meines Rosarios fest umklammert hielt: BITTE HILF UNS, WIR BRAUCHEN EINEN PLATZ, WO WIR IM TROCKNEN ÜBERNACHTEN KÖNNEN! Kurz bevor wir wegen Geschäftsschluss aufstehen mussten, kam ein Mann an unseren Tisch, der Küchenhelfer der Pizzeria. Er bot uns an, mit ihm in seinem Zelt zu übernachten. EIN TROCKENER ORT ZUM SCHLAFEN: Mein Gebet war erhört worden. Gott hatte uns einen rettenden Engel geschickt! Mein Herz sprang vor Freude und Erleichterung. Matte und Schlafsack hatten wir ja dabei! Dieser Mann hatte, wie er uns erzählte, selbst längere Zeit auf der Straße verbracht und wusste daher, wie man sich fühlt, wenn man am Ende des Tages ohne Schlafplatz dasteht. Der Mann hieß Christophe, ein Bote des Christus und des heiligen Christophorus, der der Schutzpatron der Reisenden und Pilger ist! Danke, Christ(oph(orus))! Im Antlitz der Liebe - 20 - © Gabriele Sych Am nächsten Morgen sah ich, dass nachts eine dicke Nacktschnecke auf Santiagos Schulter geklettert war. Ich dachte mir, vielleicht oder hoffentlich flüstert sie ihm ins Ohr: „Renn mal nicht so schnell, langsamer kommt man auch an, erinnere dich an Oliviers Leitspruch.“ Hat er es vernommen? Eher nicht! Auf dem Campingplatz konnten wir sogar warm duschen. Christophe brachte uns mit dem Auto zum Camino zurück. An diesem Tag wanderten wir weiter in Richtung Oloron Sainte-Marie. Unterwegs trafen wir Olivier auf einem Rastplatz wieder und teilten unsere Verpflegung mit ihm, er hatte in der regnerischen Nacht in einem Waschhäuschen übernachtet. In der Nähe von Herrere ging mir das Wasser aus. Ich fragte eine Bäuerin, die in ihrem Garten arbeitete, ob sie mir meine Wasserflasche auffüllen könnte, was sie gerne tat. Und sogar noch mehr: Sie lud uns auf eine Tasse Kaffee ein! Gegen Abend kamen wir in der Kathedrale von Oloron Sainte-Marie an, einer wunderhübschen, uralten, ehemaligen Bischofsstadt, wo wir den Abendgottesdienst besuchten. An einer großen Weltkarte konnten wir mit Nadeln unseren Herkunftsort markieren. Santiago steckte seine Nadel stolz nahe des Äquators in Quito ein, da war noch keiner hergekommen, aus Berlin schon mehrere. Ich war müde und wollte nicht mehr weiter und betete um Einsehen bei Santiago. Nach dem Gottesdienst fragte er zum Glück den Küster, ob er wüsste, wo man hier übernachten könnte, die Herberge, an der wir vorbeigekommen waren, war sehr teuer gewesen. Die Übernachtungsmöglichkeiten im Zugriff des Küsters waren schon belegt. Doch er hieß uns warten und kurz darauf holte uns zu unserer Überraschung der Pfarrer einer anderen Kirche mit dem Auto ab und brachte uns im Salle de Catechesme (Katechismusraum) der Kirche St. Croix unter, wo wir auf dem Fußboden schlafen konnten. Herzlichen Dank dafür! Und – dort trafen wir Olivier wieder! Zum Waschen konnten wir einen Toilettenraum mit Kaltwasser benutzen, die nötigste Wäsche wurde schnell gewaschen und im Hof unterm Dach aufgehängt. An diesem Abend vertieften wir unser Wissen über den Rosario, schrieben die 20 Mysterien auf einen Zettel, den Santiago ab diesem Tag in seiner Hosentasche trug. Santiago brachte Olivier das spanische Vaterunser und Ave Maria bei, weil Olivier ab nun auch in Spanisch weiterbeten wollte, es für das gemeinsame Rosario-Gebet in den Kirchen brauchte. So tauschten sie ihre Fähigkeiten aus. Der Küster von St. Croix versorgte uns währenddessen mit Gemüsesuppe, gekochten Eiern, Brot und Nüssen. Was für ein Festmahl, wir genossen die Barmherzigkeit der Kirche, ihrer Menschen! Die ganze Nacht goss es wie aus Im Antlitz der Liebe - 21 - © Gabriele Sych Eimern. Wir lagen im Trocknen, was schadet uns das! Am nächsten Morgen trafen wir Olivier, der vor uns aufgebrochen war, wieder in einer Klosterkirche zum Gottesdienst. Bei strömendem Regen brachen wir auf. Olivier haben wir seither nicht mehr gesehen, denn er wollte viel langsamer als wir pilgern, doch unterwegs haben wir immer wieder von ihm gesprochen. Olivier war unser Engel des Rosarios! Beim Verlassen von Oloron verloren wir die Pfeile des „Voie de Piemont“, denn durch Oloron Sainte Marie läuft als Hauptweg der Voie d’Arles. Wir wanderten auf der Landstraße nach der Karte weiter. In einer Käserei kaufen wir frischen Landkäse und Baguette für unsere nächste Pause. Es regnete und regnete. Unsere Plastikponchos waren nicht wirklich in der Lage, diese Wassermassen von uns fernzuhalten. In Aramits, dem Ort, wo der Musketier Aramis herkommt (wir sind an seinem Schloss vorbeigelaufen), kehrten wir in der Casa de Nuestro Señor ein, im Hause unseres Herrn, in der Kirche. Wir warteten dort 2 – 3 Stunden den Regen ab, ruhten uns aus, aßen unser Brot und versuchten, trocken zu werden. Wenn wir als Pilger auf dem Weg zu Ihm kein Zuhause haben, dann muss doch Sein Haus für uns da sein, oder? Wir waren sehr dankbar für die offene Tür. Als es aufhörte zu regnen, liefen wir weiter, denn wo wir auch fragten, es gab keinen Platz zum Schlafen. In Hotels fragten wir nicht. Weiter durch Lanné und Montory, bergauf und bergab in der feuchten Abenddämmerung. Am Ortseingang von Tardets, es war mittlerweile 21 Uhr und schon dunkel, schnaufte ich zu Santiago: „Da hast Du Deine Pension.“ Auf der anderen Straßenseite stand ein Bushäuschen aus Holz. Erst dachte ich, es genügt, wenn ich die Rettungsdecke und meinen Schlafsack über uns decke, doch Santiago breitete bald seine Isomatte auf dem Boden aus und legte sich in seinen Schlafsack zum Schlafen. Gegen Mitternacht war ich durchgefroren, von der Rettungsdecke nass und durfte dann zu Santiago in den Schlafsack kriechen, zum Glück! Zu Zweit pilgern hat viel Gutes, z.B. eine lebendiges Heizkissen! Am Morgen liefen wir nach Tardets hinein, ein sehr schönes altes Städtchen. Ich trank am beschaulichen Marktplatz eine dampfende Tasse Café au Lait in der Sonne, das hatte ich mir nach der Nacht verdient. So kann man auch immer in Ruhe die Toilette im Café benutzen, immer eine große Erleichterung für den Pilger. Wir studierten unsere Karte, wie ging es nun weiter? Pfeile hatten wir nicht mehr. Wir entdeckten einen Weg nach St. Jean, doch konnten nicht erkennen, ob er schon in die Berge führt. Wir fragten im Tourismusbüro nach, wie hoch der Weg führt: 400 m Höhendifferenz soll er Im Antlitz der Liebe - 22 - © Gabriele Sych haben. Tardets liegt auf ca. 210 m. „Das schaffe ich!“ sagte ich mir. In einem Supermärktchen kauften wir Verpflegung ein und setzten uns in den Park zum Frühstück. In einem Landhandel erstanden wir für je 6 Euro richtige Regenmäntel, denn unsere Plastikregenponchos bekamen schon Risse, mit so viel Regen hatten wir im Hochsommer nicht gerechnet. Die Mäntel sind grün und schwer, wohl für Jäger gemacht. Wir nennen sie unsere Elbenmäntel, denn sie hatten spitze Mützen und wir sahen damit aus wie Frodo und Sam. In der Natur sind wir darin kaum auszumachen. Bei unserer nächsten kurzen Pause kam ein freundlicher, weißer, wuscheliger Hund zu mir und ließ sich von mir streicheln, war ganz anhänglich, kletterte mir auf den Schoß. Santiago hielt weiterhin Abstand. Der Hund sah - bis auf die Farbe - aus wie Schorsch, der verstorbene Pudelpointer meiner ExSchwiegereltern, der eine Weile auch bei mir gewohnt hatte. Schorsch sah aus wie ein laufender, weißbrauner Flokati und er hatte die Gabe zu lächeln; jetzt also ein freundlicher reinweißer Flokati mit Ohren und Füßen und ebenfalls einem Lächeln. Schon im nächsten Ort kam wieder ein weißer Hund auf uns zu, er sah aus wie der große Bruder des Ersten. Da ich fremde Hunde, die auf mich zukommen, immer freundlich anspreche, begrüßte ich ihn mit den Worten: „Na, musst Du hier mal ganz wichtig gucken?“ Beim Gucken blieb es wahrlich nicht. Der Hund hatte sich wohl entschieden, uns zu begleiten. Uns begegneten Mountainbiker, wir fragten sie nach der Strecke. Sie sagen: jetzt geht es für uns erstmal 10 km bergauf. Na ja, 400 m, das wird ja gehen. Doch 400 m, das war nur die erste große und steile Steigung. Man konnte den Streckenverlauf nicht erkennen, es ging um viele Biegungen. Viele Hügel und hohe Bäume verdecken den Weg. Der Abstand zwischen Santiago und mir wurde größer. Der Hund, wir hatten ihn inzwischen Blanco, „Weißer“, getauft, überbrückte regelmäßig die Distanz zwischen uns, mal lief er vor, mal zurück. Nach einer Weile begann ich, vor Anstrengung zu zittern, es war wirklich sehr steil. Ich setze mich an den Straßenrand, aß noch eine Extraportion meiner L-Carnitin-/Magnesium- und Vitamin-Tabletten und Joghurt, B-Vitamine: das brauchte mein Körper. Blanco und Santiago warteten auf mich, bei beiden keine Spur von Erschöpfung. Weiter und weiter ging es bergauf. Blanco sprang in eine Viehtränke am Wegesrand und soff. Ich füllte meine Wasserflasche an einem Wasserhahn daneben auf. Irgendwann erreichten wir an eine Kuppe mit einem Schild: Col de Lecharria Altitude 832 m. Schon klar, exakt 400 m Höhendifferenz. Von wegen! Von dort aus stiegen wir ab in ein Tal mit vielen Findlingen. Nur um wieder bergauf steigen zu können. Uns fängt an, die Musik der Berge zu umklingen, das vielfache Läuten der Glocken der Weidetiere. Die Vegetation änderte sich, die Bäume werden weniger, das Strauch- und Wiesenland begann. Wir begegneten sanftbraunen Kühen, Schafherden und freilaufenden Pferden. Bergauf, bergauf! Ahusquy, der Ort, den wir auf der Karte gesehen haben, liegt auf ca. 1100 m. Nach Ahusquy stieg der Weg noch weiter an - bergauf in die Hochebene. Im Antlitz der Liebe - 23 - © Gabriele Sych Santiago setzte sich irgendwann wegen des frischen Windes eine Plastiktüte auf den Kopf: „El frio del paramo“ nannte er es - die Kälte der Hochebene, das kannte er aus seiner Heimat. Am Boden waren nur noch Bodendecker und Flechten zu sehen, runde Bergkuppen umgaben uns, das Panorama war atemberaubend, wie für mich der Aufstieg. Santiago war hier ganz in seinem Element, er liebt die Berge, die weite Aussicht! Er ist in den Anden groß geworden, Quito liegt auf 2800 m, Bergsteigen gab es täglich - von Kindesbeinen an. Wahrscheinlich sind auch seine Lunge und sein Blut ganz anders ausgelegt als bei mir. Er war begeistert über die unerwartete Bergetappe, glücklich, zufrieden. Er erzählt mir von „Asañas“, Prüfungen, Aufgaben, durch deren Bewältigung man persönlich wächst. Der ganze Camino wird für uns eine Asaña. Doch hier freute er sich über diese Asaña. Da hat er „Schwein gehabt“! Ohne die kenntnisarme Dame im Tourismus-Büro hätte er mich nie jetzt schon so hoch in die Berge gekriegt. Doch auch ich gewann, und zwar das Selbstbewusstsein, dass ich das auch schaffen kann. Der höchste Punkt dieser Bergetappe lag bei 1300 m. Mehr als 1000 m Höhendifferenz! Blanco blieb die ganze Zeit bei uns, immer freundlich, eben als ob er lächelte, legte sich zu uns, wenn wir Pause machten, nahm aber kein Fressen an. Er war häufiger bei Santiago als bei mir, Santiago lernte mit Blanco wirklich die Güte, Freundlichkeit und Treue der Hunde kennen. Weiter ging es auf langen Geraden in den Abstieg nach Mendive. Hier hätte man den Weg erkennen können… Am späten Nachmittag begann es wieder zu regnen, Zeit für unsere neuen Elbenmäntel, Zeit für den Rucksackregenschutz. Auch hier fanden wir zunächst nichts zum Übernachten, wenn wir bei Gîtes8 klingelten, war alles besetzt. Es wäre wahrscheinlich sowieso zu teuer gewesen. Wir liefen und liefen, ich konnte nicht mehr, egal, ich konnte ja nicht im Stehen einschlafen. Es wurde später und später, es wurde duster. Trotzdem setzten wir einen Fuß vor den anderen. Inzwischen hatten wir wieder die Landstraße erreicht. Und jetzt geschah etwas Erstaunliches: Als wir im Dunkeln und strömenden Regen die Straße entlang wanderten, da rannte Blanco, der leuchtend weiße Hund, immer in die Mitte der Straße, um die vorbeifahrenden Autos in ihrer Geschwindigkeit zu stoppen, damit uns in unseren dunklen Elbentarnmänteln nichts passierte und wir nicht noch nässer wurden. Er riskierte ständig sein Leben für uns. Zunächst hielten wir ihn für einen Hunde-Engel, aber sicher hatte hier der heilige Santiago diese Hundegestalt angenommen, um uns sicher zu geleiten. Gegen 22 Uhr kamen wir in St.-Jean-le-Vieux an, ein hübscher Ort fünf Kilometer vor St.-Jean-Piedde-Port, dem bekannten Pilgerort. Wir mussten ca. 50 km gelaufen sein, eine 14-stündige Pilgerschicht. Vor Ort fanden wir wieder ein Bus-Häuschen, eine Art Fachwerkhäuschen, diesmal schöner als in 8 Herberge Im Antlitz der Liebe - 24 - © Gabriele Sych Tardets, wesentlich geschützter. Es hatte vier Wände und nur an einer Seite einen schmalen Eingang. Gegenüber war eine öffentliche Toilette, für alles war gesorgt. Wir legten unsere Isomatten aus, und Blanco legt sich in den Eingang, um uns die ganze Nacht zu bewachen. Und genau so fanden wir ihn am nächsten Morgen auch. Blanco blieb an unserer Seite und lief mit uns die nächsten fünf Kilometer bis nach St.-Jean-Pied-de-Port hinein, was auf ca. 270 m ü. d. M liegt. Die Menschen schauten alle auf den Hund, er wartete auch vor dem Pilgerbüro auf uns. Dort suchten wir uns unsere Pilgermuschel aus, erhielten zwei essentielle Blätter, nämlich ein Herbergsverzeichnis und eine Übersicht der Etappen mit Höhenprofil für den Camino Francés, und einen kleinen Zettel mit einer Nummer für unser Bett für die Nacht in der Pilgerherberge. Wir konnten auch noch ein wenig das Internet nutzen und schickten erste Grüße an unsere Familien und Freunde. Der Camino Francés mit seinem geregelten Herbergssystem tat sich für uns auf. Und zum Unterschied zur Stille auf dem Voie de Piemont: Überall Pilger! Nach der Kurzetappe von fünf Kilometern konnten wir den Rest des Tages ausruhen und St. Jean entdecken, ein beschauliches, mittelalterliches Städtchen mit schmalen Gassen, Zitadelle, Stadtmauer und verwunschenen Treppen, einem reißenden Fluss, der durch den vielen Regen gewaltig angeschwollen war und lautstark brausend St. Jean durchquerte. Blanco wartete überall auf uns, vor dem Café und der Herberge, wo wir unsere Rucksäcke gegen ein Uhr endlich abgeben konnten. Als wir die Kirche betraten, machte Santiago Blanco klar, dass er dort nicht mit hinein konnte. In diesem Moment hat uns Blanco verlassen, er hat uns sozusagen bis an die Kirchentür von St. Jean begleitet, bei Gott abgeliefert. Was für ein wundervolles Tier! Was für eine wunderbare tätige Sorge Gottes! In der Kirche erlebten wir das erste Mal das gemeinsame Rosario-Gebet in der Kirche, bei dem ein Mädchen mit glockenheller Stimme ein Gesätz9 lang das Ave-Maria mehr sang als betete: „Je vous salue, Marie pleine de grâce, le Seigneur est avec toi. Tu es bénie entre toutes les femmes et Jésus, le fruit de tes entrailles, est béni. Sainte Marie, Mère de Dieu, prie pour nous, pauvres pécheurs, maintenant et à l'heure de notre mort.” 9 Abschnitt von 10 Perlen auf dem Rosario Im Antlitz der Liebe - 25 - © Gabriele Sych Das Gebet packte mich tief im Herzen mit dieser Kinderstimme und hält mich noch heute in seinem Bann. Die Messe anschließend war weniger der erbaulich, der Pfarrer wirkte schlecht gelaunt, dann fehlte auch noch die große Oblate, die er in der Eucharistie symbolisch zu zerbrechen hatte und er begann Streit mit seinem Adlatus. In der Kirche entdeckten wir noch einen anderen Pilger mit einem hölzernen, altmodischen Pilgerstab, den wir unterwegs häufig wieder treffen sollten, nennen wir ihn jetzt mal zum Wiedererkennen den Kanadier. In der Herberge zurück fand ich auf dem mir zugeordneten Bett Rucksack und Klamotten eines anderen Pilgers. Es dauerte eine Weile, bis das alles geklärt war und ich mich ein wenig ausstrecken konnte. Wir wuschen – nach drei Pilgertagen war wieder alles dreckig, schweißig, matschig und klebrig - unsere Wäsche und trockneten unsere eingeregneten Klamotten und nassen Schuhe. An jedem Fenster, jedem Haken, jeder Stuhllehne, jedem Bett hingen in den mit Betten vollgestellten Herbergszimmern nasse Wäsche und Regenbekleidung und dampften vor sich hin. Meine Füße waren schon mit ein paar Blasen bestückt, vor allem von der langen Bergetappe. Es gab eine Küche und wir bereiteten uns aus eingekauften Vorräten unser Abendessen. An langen Tischen saßen wir Pilger beisammen, die Sprachen tönten bunt durcheinander. Eine einzelne deutsche Pilgerin aus Hamburg setzte sich zu uns und erzählte, sie hätte die Etappe über die Berge Richtung Spanien in der Frühe schon begonnen, war aber wegen des Regens wieder umgekehrt und hatte sich einen Regenponcho gekauft. Santiago erfand einen Spitznamen für sie, der hier nicht verraten wird. Wir haben uns oft unterwegs gefragt, wo sie jetzt eigentlich wäre. Durch die Asaña des vergangenen Tages wusste ich, ich würde am nächsten Tag nicht umkehren, ich wusste, ich schaffe das! Der Camino Frances 24.8. – 18.9. (850 km): Roncesvalles (27 km) / 24.08.2007 Am nächsten Morgen brachen wir auf und durchquerten gegen neun Uhr die Port d’Espagne, das spanische Tor. Jetzt ging es bergauf, von 270 m auf über 1400 m nach dem Etappenplan. Zunächst liefen wir gemeinsam, doch die Steigungen wurden steiler, härter und härter. Eine Lücke reißt zwischen uns beiden ein und der Abstand wird weiter und weiter, bald war Santiago nur noch ein Punkt in der Höhe. OK, diese Etappe würde ich wohl weitestgehend allein laufen. Allerdings: So konnte ich meine Kräfte selbständig einteilen und Pausen nach Im Antlitz der Liebe - 26 - © Gabriele Sych meinem Gusto machen. An der Herberge von Orisson schöpfte ich neues Wasser und kam erstmals darauf, dass ich mit meinen Händen ja das Wasser aufladen, aus Wasser Heilwasser machen konnte. Hätte ich auch schon früher darauf kommen können! Nun wurde der Weg etwas flacher, die Musik der Berge begann wieder mit ihrem Glockenklang, es hatte wahrlich etwas Heiliges. Und was für Aussichten! Meine erste größere Pause machte ich bei der Vierge d’Orisson, einer Marienstatue auf einer Felsenkuppe mitten in der Landschaft. Ich betete ein paar Mal das Ave Maria, das ich inzwischen auswendig gelernt hatte und bat sie um Kraft und Durchhaltevermögen. Der Camino führte bald über Wiesen - an einem Pferdekadaver vorbei auf vom Regen am Vortag aufgeweichten, matschigen Wegen. Einmal rutschte ich aus und fiel auf die Seite in den Matsch. Egal, einfach weiter! Santiago war nicht zu sehen. Unterwegs sah ich immer wieder Paare, die gemeinsam liefen und wurde doch etwas neidisch darauf. Ich passierte die Rolandsquelle, wo ich natürlich meine Wasservorräte wieder auffüllte, und die spanische Grenze, einem roten Sandsteinobelisk mit der Jakobsmuschel und dem Wort „Navarra“ darauf. Im Wald war ich froh, meinen Wanderstock dabei zu haben, um auf einem Trampelpfad neben dem glitschigen und von Pfützen übersäten Weg vor dem Matsch mich schützend abstützen zu können. Erst am Nachmittag, am Alto de Lepoeder, dem höchsten Punkt, traf ich Santiago wieder, wo er auf mich gewartet hatte. Ich legte mich ins Gras und die Füße lagerte ich hoch auf meinen Rucksack, 1200 m Aufstieg waren geschafft, ich wahrlich auch. Von hier an hatten wir Aussicht auf Roncesvalles, ja - ganz Spanien legte sich uns zu Füßen, das wir komplett von Ost bis nach West durchqueren sollten! Auf dem Abstieg verloren wir uns beide wieder aus den Augen, meine Blasen waren beim Weg bergab wesentlich stärker zu spüren als beim Bergaufwandern. Der Weg war so schön, doch vor Schmerz kaum genießbar. In Roncesvalles suchte ich erstmal Santiago in der Jugendherberge, dort hatte man ihn nicht gesehen. Als Latino mit starkem Indioeinschlag ist er ja gut zu erkennen und zu beschreiben. Als nächstes kam ich am Pilgerbüro vorbei und fragte dort nach ihm. Wieder nichts! Egal, ich packte mein Credencial für die Registrierung und Bettvergabe im Refugio aus und - plötzlich – stand Santiago in der Tür. Er war noch einmal zurückgegangen, um mich zu suchen, hatte in der Jugendherberge erfahren, dass ich nach ihm suchte, und hatte meine Spur aufgenommen. Wieder vereint! Im Antlitz der Liebe - 27 - © Gabriele Sych Vor dem Refugio empfing uns ein holländischer Hospitalero, der uns gleich den Bettenzettel aus dem Pilgerbüro wieder abnahm. Das Refugio in Roncesvalles gleicht einem Hühnerstall für Menschen. In einem riesigen, alten Gewölbesaal steht Doppelstockbett neben Doppelstockbett, wohl um die 100 Stück. Wir fanden noch zwei freie obere Betten nebeneinander. Der Pilger unter uns, ein recht beleibter Franzose, der mit jeder Bewegung das Bett zum Beben brachte, hatte sich mit seinen Utensilien sehr breit gemacht. Er war schon lange unterwegs. Von Amiens war er über Le Puy gelaufen bis nach Santiago und war jetzt wieder auf dem Rückweg nach Le Puy und Amiens, so erzählte es sein Rucksack. Eine dicke Bibel lag drauf. Wow! So viel hatten wir nicht vor. Im Keller unter dem Saal befanden sich - ganz im Kontrast zum Gewölbesaal - ganz moderne Wasch- und Aufenthaltsräume.Vor den Duschen bildeten sich schnell lange Schlangen. Nach der heftigen Bergetappe war ich hungrig und entschied ich mich für das Pilgermenü im Restaurant, auch um für mich als Belohnung meine große Leistung der Pyrenäenüberquerung zu feiern. Santiago wollte nicht. Er sammelte unsere Lebensmittelvorräte ein und blieb im Refugio zum Abendessen. Am Tisch saß ich mit zwei Pilgerinnen aus der Nähe von Bremen zusammen, die den Weg eher läuferisch angehen wollten. Sie sprachen über ihr Marathontraining und dass das ja wohl eher ein Spaziergang werden würde! Zum Glück aßen sie nicht viel, so dass ich meinen Riesenhunger nach einigen Tagen ohne warme Mahlzeit an Forelle und Pommes stillen konnte, in denen sie zwar rumstocherten, doch nicht mit Appetit aßen. Den hatte ich wohl für den ganzen Tisch allein wohl gepachtet. Sie tranken dafür den Rotwein, den ich ihnen gern überließ, während ich das Wasser leerte. Als ich aufstand, um rechtzeitig zum Pilgersegen zu kommen, sagten sie: „Ach, da kommen noch so viele Pilgersegen unterwegs, jetzt müssen wir uns nicht bewegen.“ Innerlich fasste ich mich an den Kopf, meine Güte, geht’s noch? Den Pilgersegen gerade in Roncesvalles auslassen? Warum pilgern sie dann überhaupt? Dies war der Tag, an dem ich begann zu merken, dass für viele der Camino ein Urlaub, eine preiswerte Wanderstrecke, eine nette Abwechslung vom Alltag war. Nicht so für uns… Mit Santiago strebte ich zur Kirche. Die Pilgermesse war überaus feierlich, fünf Padres lasen und sangen gemeinsam, die Eucharistie war voller Andacht. Der anschließende, sehr innige Pilgersegen, zu dem wir Pilger alle vor den Altar geladen wurden, tat, was er tun sollte: er erfüllte uns mit Vorfreude und dieser besonderen Kraft und Überzeugung im Innern, es bis Santiago zu schaffen, komme was da wolle. Am Abend vor dem Einschlafen sagte mir Santiago: „Es macht mir keinen Spaß, mit dir zu pilgern, du bist mir zu langsam.“ Im Einschlafen hörten wir nach einer Weile einen Menschen lange noch an die Tür des Refugios klopfen, bis er eingelassen wurde. Ein später Gast? Einer, der die Schließzeit verpasst hatte? Im Antlitz der Liebe - 28 - © Gabriele Sych Ein wenig gruselig klang es schon. Ich war froh, dass ich schon drin war, schon im Bett lag, und das auch nicht allein… Der Pilger aus Le Puy schnarchte die ganze Nacht durch. Liebe Pilger, wenn ihr ruhig schlafen möchtet: meidet die räumliche Nähe von älteren Herren mit erhöhtem Leibesumfang und großem Resonanzkörper, sie sind recht sichere Schnarchkandidaten. Bei allen anderen kann man es nicht wissen…und es kann jeder sein, auch Frauen, die nachts ihre ausführlichen Konzerte ertönen lassen. Larrasoaña (25 km) / 25.08.2007 Der nächste Morgen war turbulent, 100 fast gleichzeitig aufstehende Pilger. Ich war schnell fertig, da mein Rucksack durch sein extra Schlafsackfach schnell zu packen war. Santiago brauchte für das Packen den ganzen Camino lang immer viel Zeit, da er seinen Rucksack erst völlig ausleeren musste, um den Schlafsack unterzubringen und den kompletten Rest wieder dazu zu ordnen. Während er packte, nahm ich schon meinen Rucksack mit zum Eingang, denn ich hatte dort eine Waage mit einem Haken zum Rucksackwiegen entdeckt. Ich war richtig neugierig, wie schwer mein Rucksack war: 10 kg!! Ich stellte meinen Rucksack an den Eingang und meine Stiefel dazu, damit Santiago wusste, wo er mich treffen konnte. So hatte ich noch Zeit, im Aufenthaltsraum im Keller mein Handy aufzuladen und oben eine Tasse Kaffee zu trinken, die die Hospitaleros auf einem Tisch an der Kellertreppe anboten. Als ich wieder aus dem Keller auftauchte und Santiago suchte, war er nicht mehr da, nicht an seinem Bett, seine Stiefel nicht, sein Rucksack nicht. Was war das denn? Ich lief zur Kirche, zum Restaurant, in den Keller, fragte die Hospitaleros und jeden Pilger, der mir in den Weg kam. Nach einer halben Stunde Suche gab ich auf. Er hatte es wohl wahr gemacht und war allein aufgebrochen, weil ich ihm zu langsam war!! So machte auch ich mich im Frühdunst auf den Waldweg auf, den Pfeilen hinterher, Spanien würde für mich ab nun wohl allein sein. Egal, wie traurig das Ganze war, der Weg durch den frischen, grünen Morgenwald unter hohen Bäumen war eine Pracht. In Burguette, dem nächsten Ort fragte ich nochmals beim Bäcker beim Brotkaufen und auf der Straße, ob irgendjemand Santiago gesehen hätte. Nichts! Einmal dachte ich, ihn in der Entfernung zu sehen, doch – wieder nichts. Es begann zu regnen, es gab immer wieder kleine, steile Anstiege zwischendurch. An einem traf ich – schwer atmend - den Pilger aus der Kirche in St. Jean wieder. Hier erfuhr ich, dass er Kanadier war. Wir trafen uns an diesem Tag immer wieder, einmal half ich ihm, seinen Regenponcho über den Rucksack zu ziehen, mal läuft er an mir vorbei, als ich mir meine ausführliche Frühstückspause auf einer Bank kurz vor Viskarette gönne. Im Antlitz der Liebe - 29 - © Gabriele Sych In mir höre ich einen Satz aus dem I-Ging10. „Wenn dir dein Pferd wegläuft, dann laufe ihm nicht nach. Wenn es dein Pferd ist, wird es zu dir zurückkommen.“ Auf dem Alto de Erro passierte ich das erste Pilgergrab des Weges, ein Japaner, dem noch einige folgen würden. Menschen fallen um, sterben einfach auf dem Camino… Das letzte Mal an diesem Tag traf ich den Kanadier auf dem Abstieg wenige 100 m vor Zubiri. Dort war die nächste Herberge. Wir überquerten gemeinsam die Brücke über den Fluss, sie heißt „Puente de la Rabia“, Brücke der (Toll-)Wut. In der Herberge direkt nach der Brücke war schon alles besetzt, doch es soll noch eine weitere in Zubiri geben. Der Kanadier und ich liefen weiter. Da sah ich plötzlich hinter einer Hausecke Santiago am Pilgerbrunnen stehen, er quatschte weiter mit zwei anderen Pilgern. Er lächelte mir freundlich zu, als ob nichts gewesen wäre! Haut ab und tut so, als ob er mich kaum kennt. Ich ging einfach weiter, an dem kleinen Platz vorbei, mal muss ja gut sein! Doch dann kam mir Santiago hinterher und fragte mich zornig, was das soll! Der Kanadier wollte eingreifen und mich vor Santiagos Wut beschützen, doch ich sage zu ihm „It’s ok!“, dankte ihm und wandte mich Santiago zu. „Wieso, du bist doch abgehauen und hast mich in Roncesvalles zurückgelassen. Ich habe Gott und die Welt gefragt, wo du bist. Eine halbe Stunde habe ich dich gesucht. Ja, denn mach doch deinen Kram alleine!“ Der Kanadier ging weiter, zur Herberge. Noch heute hält mir Santiago den Kanadier vor… Santiago nahm mich fest in den Arm und entschuldigte sich, schilderte mir seinen Morgen. Er hatte gedacht, ich bin vor ihm aufgebrochen, weil ich mit meinem Rucksack so schnell zur Tür gelaufen war. Sehr schnell war er ebenfalls aufgebrochen und gelaufen, um mich wieder einzuholen, doch – ich war gar nicht vor ihm. Im Regen hatte er in Viskarette lange auf mich gewartet, dort hatte er von später eintreffenden Pilgern gehört, dass ich nach ihm gesucht hätte. Meinen Rucksack hatte er zwar wahrgenommen, doch irgendwie innerlich seine Anwesenheit nicht ausgewertet. Komisch: An dem Morgen hatte ich auch mal kurzfristig gedacht: „Was würde wohl passieren, wenn ich vor ihm loslaufen würde? Er ist ja doch schneller, vielleicht muss ich dann nicht so rennen.“ Die Antwort kam prompt. Tücke der Gedanken! Wir blieben natürlich an diesem Tag nicht in Zubiri, wäre ja auch zu einfach und bequem gewesen! Nein, wir überquerten wieder die Puente de la Rabia, die Wutbrücke, und liefen noch weitere 6 km bis nach Larrasoaña. Unsere Wut hatten wir inzwischen ja abgearbeitet. Wir durchquerten ein riesiges Industriegelände einer Magnesitfabrik, das extra dem Camino einen Pfad freigegeben hatte, dann fanden 10 I-Ging Übersetzung von R. Wilhelm. Aus dem Zeichen 38 „Der Gegensatz“. Altes chinesisches Weisheits-Buch, das als Orakel, als Ratgeber benutzt wird. Das I-Ging geht davon aus, dass nur der stetige Wandel von Dauer ist. Im Antlitz der Liebe - 30 - © Gabriele Sych wir wieder zurück auf buschumwachsene Naturwege und kleinen Dörfchen – Ausgleich! Auch nach Larrasoaña hinein führte wieder eine alte Brücke über den Arga, diesmal die Puente de los Bandidos, die Banditenbrücke. Es war wieder sonnig, eben Spanien! In einer Dependance der städtischen Herberge kamen wir unter. Die sanitären Anlagen befanden sich in einem Container vor dem Haus, doch da wir hier zu den Ersten gehörten, war alles noch ok, sauber und appetitlich. Hier trafen wir eine französische Mutter mit ihren zwei Töchtern, von denen die Jüngere wegen Fußschmerzen buspilgerte. Wir begegneten ihnen noch mehrfach unterwegs. Was ich an ihnen bewunderte: sie schliefen nur mit einem Seidenschlafsack und Hemdchen, sie schienen nie zu frieren. Im Ort gab es keinen Laden, sondern nur ein Restaurant mit Pilgermenü, doch im Haupthaus der Herberge kann man ein paar Lebensmittel kaufen. In Larrasoaña begann sich unser Standardessen des Caminos zu etablieren: Spagetti mit Tomaten-Thunfisch-Sauce. Santiago bestand von jetzt an darauf, dass ich ihm das Kochen überließ, den ganzen Weg lang. Beim Essen im Hinterhof der Herberge gesellte sich ein Spanier zu uns, Jesús aus Burgos, mit dem Santiago sich gut verstand. Abends sahen wir amüsiert vor dem Haupthaus, wie einige deutsche Pilger, Rotweinflasche in der Hand, anfingen, die allein pilgernden Frauen anzubaggern. Pamplona (16 km)/ 26.08.2007: Die Tagesstrecke nach Pamplona hinein war eher kurz. Jesús schloss sich Santiago an und beide legten einen strammen Schritt vor, was meine blasigen Füße nicht so unendlich freute. An der nächsten Wasserstelle packte ich mein Dilemma aus und Santiago stach mir die Blasen auf. Wir kamen mit einem spanischen Paar aus Pamplona ins Gespräch, die heute auf ihrer letzten Etappe ihrer 14-tätigen Pilgertour unterwegs waren. Sehr schnell erreichten wir über die Brücke von Trinidad de Arre die Vorstadt von Pamplona. Es war Sonntagmorgen, die Kirche gleich nach der Brücke war überfüllt. Über die alte Brücke Puente de la Madalena und durch das Festungstor Puerta de Francia betraten wir Pamplonas bezaubernde Altstadt. Wahrscheinlich laufen alle Pilger auf eine ähnliche Weise durch Pamplona. In einem großen Strom Menschen taumelt man kreiselnd durch die Straßen, verzückt ob der Schönheit, die man mit den Augen einfangen will, und immer sich wendend und nach oben schauend auf die Pfeile und Muscheln. Es ist, als ob man im Mittelalter einkehrt. Auch wenn es viele moderne Geschäfte dort gibt, an diesem Sonntag war fast alles geschlossen und der Charakter und Charme der alten Gemäuer rückte in den Vordergrund. Im Antlitz der Liebe - 31 - © Gabriele Sych Wir blieben, nach nur 16 km Laufpensum! Pamplona wollten wir uns genauer ansehen. „Jesús y Maria“ hieß die nigelnagelneue Herberge in einem alterwürdigen Kirchengebäude 11 in Pamplona. Die Etagenbetten waren auf mehreren offenen Stockwerken halbkreisförmig um einen Mittelsaal angeordnet. Luxus! Jedes Bett hatte seine eigene Lampe, seine eigene Steckdose für das Aufladen der Handys. Es gab sogar eine Waschküche mit Waschmaschine; aufgrund unserer frühen Ankunft konnten wir ausführlich alles durchwaschen, wir waren ja schon 13 Tage unterwegs. Auch die Küche war schick eingerichtet in Pamplona – echtes Ikea - und Santiago kochte „Arroz con habichuela“, Reis mit Linsen. Dies ist gleichzeitig auch einer unser Lieblings-Salsa-Hits von „El Gran Combo de Puerto Rico“ und ein Sinnbild für uns als Paar, meine Haut ist weiß wie Reis, seine Haut braun wie Linsen. Santiago traf Markus und André wieder, die beiden Freunde vom Col de Lepoeder. Sie zogen sich gegenseitig kräftig auf, beide hatten das Doppelstockbett neben uns. Es war Sonntag, inzwischen war es heiß und wir entschieden uns nach einer Pause auf dem beschaulichen Innenhof der Herberge für einen geruhsamen Nachmittag an der Zitadelle, im Grünen, mal ohne Rucksack unterwegs sein. An der Westseite der Zitadelle entdeckten wir eine große Gruppe von Ecuadorianern, die dort ihren Sonntagnachmittag verbrachten. Wir setzten uns dazu und so konnte mir Santiago zeigen, wie in seinem Land die Freizeit am Wochenende verbracht wurde. Die ganze Familie war gemeinsam unterwegs und hatte Picknick dabei, die Frauen unterhielten sich, die Kinder wuselten spielend drum herum, die Männer betätigten sich sportlich bei Volleyball, Fußball, beim Zuschauen und Anfeuern. Eine von Grund auf friedliche Gemeinschaft. Eines Tages werde auch ich mit Santiago Ecuador kennen lernen, ganz sicher. Auf dem Rückweg von der Zitadelle kehrten wir zur Abendmesse in die Iglesia de San Nicolás ein. Hier erlebte ich zum ersten Mal, ganz in die Messe und meine tiefe Dankbarkeit versunken, dass sich meine Wahrnehmung veränderte. Ich sah den Altarraum plötzlich ganz verschwommen, wie durch die wabernde Luft über Feuer. Konnte es sein, dass der Heilige Geist so sichtbar wurde? „El señor esté con vosotros.“ „Y con tu espíritu. “12 Kein Spruch, sondern Wahrheit?! Eine neue Zeit begann, Glaube begann sich in Wahrnehmung zu wandeln. 11 La Iglesia de Jesús y María in der Calle de la Compañía, 12 „Der Herr sei mit Euch.“ „Und mit Deinem Geiste.“ Im Antlitz der Liebe - 32 - © Gabriele Sych Der sanft-laue Abend klang im romantischen Lichterzauber der Plaza de Castillo aus. Viel Volk war auf den Beinen, Familien und Pärchen spazierten um den Platz, die Tischreihen vor den Restaurants waren gut gefüllt, Gläser klangen, hier und da ein Fetzen Musik. Ahhh - Süden! Genau so! Und: Pilger müssen unvermeidlich um 22 Uhr ins Bett! Alto de Perdón (12 km) / 27.08.2007 Der nächste Tag war nochmals Pamplona gewidmet – Pilgerfreizeit, die schönen spanischen Städte wollten wir unterwegs kennen lernen. Nur nachmittags wollten wir ein paar Kilometer laufen, um in Cizur Menor, 4 km von Pamplona, das nächste Bett zu bekommen, denn die Herbergen sind nach einer Nacht immer wieder zu verlassen. Wir begannen diesen Montag in der Kathedrale Santa María la Real morgens um 9 Uhr mit den Laudes. Nur vereinzelt waren Gläubige in dem großen gotischen Kirchenschiff mit den hohen gefächerten Säulen aufgetaucht, im Halbdunkel war einzig der Altar erleuchtet. Plötzlich setzten gregorianische Gesänge ein und 12 Padres schritten - mit sonoren Stimmen singend - zum Altar, um das Morgenlob zu zelebrieren. Die Töne, so miteinander im Einklang, schwebten fast anfaßbar durch die hohe Halle. … Ich spüre, wie Santiago neben mir beginnt zu beben. Er lehnt sich bei mir an, seine Tränen beginnen zu fließen… eine große Kraft ergriff ihn, der er sich nicht erwehren konnte. xxx Für unser typisches Pilgerfrühstück fanden wir eine Bank auf der Plaza San Francisco, während wir auf die Öffnung des Tourismusbüros warteten. Das urbane Leben hastete an uns vorbei, während Santiago sein Schokolädchen trank, und wir uns das Brot belegten und entspannt unseren Hunger stillten. Wir kauften uns eine Prepaid-Handykarte für Spanien, damit wir erreichbar waren und im Notfall auch jemanden erreichen können, ohne an den Auslandsgebühren zu verarmen. Dann versuchten wir, unsere Rucksäcke am Busbahnhof zwischenzulagern, doch das klappte nicht – also gaben wir uns dem Pilgerlos hin und liefen den ganzen Tag mit den Rucksäcken. „Die Erste am Camino“ war das Motto einer Reihe von kulturellen und touristikfördernden Aktivitäten der Stadt Pamplona in diesem Sommer. Dieses Geschenk war dabei für uns: An einem Stand konnten wir Postkarten in Form einer Muschel mit Pamplona-Motiven schreiben und die Veranstalter übernahmen das Porto. Klar, dass wir die gute Gelegenheit ergriffen und uns eins, zwei Im Antlitz der Liebe - 33 - © Gabriele Sych Stunden auf dem Platz des reizvollen Gebäude des Ayuntamiento13 mit seinen vielen Balkons, Balustraden, Figuren und Glocken verweilten, um komplett unsere Familien und Freunde mit Post und unserer neuen spanischen Telefonnummer zu versorgen. Die Pilgerfreizeit, die wir in Pamplona hatten, war in die Weite wirksam genutzt. Mein Sohn hat die Karte mit dem Bild von San Fermin noch immer als Lesezeichen. Ja, San Fermin war allgegenwärtig: Der Lauf mit den Stieren in der Zeit vom 6. – 14. Juli, das ist die große Attraktion von Pamplona. Wir liefen die ganze Strecke von den Ställen „Corrallies“ bis zur „Plaza de Torros“, der Stierkampfarena ab und staunten, gruselten uns über die Bilder in den Fotoläden. Als wir dabei wieder den Platz am Ayuntamiento überquerten, stoppte ein Wagen direkt vor uns. Ein Mann winkte, es war der Mann des spanischen Pärchens, das wir noch gestern auf dem Weg getroffen hatten. Der Alltag hatte sie bereits wieder. So schnell kann es gehen! Gegen Nachmittag brachen wir auf, der Tag war unglaublich heiß, 40° C, so, wie ich es für Sommer und Spanien immer erwartet hatte. An der Zitadelle vorbei liefen wir wieder unseren gelben Pfeilen nach. Beim Ortsausgang holten wir uns noch einen Sello, einen Stempel der Santiago-Universität von Navarra. Im eigenen Schweiß dampfend ging es hinauf nach Cizur Menor, einer alten Burg auf einem Hügel direkt oberhalb von Pamplona. Schon weit sah man das Banner der Malteser auf dem Burgturm. Doch entgegen unserer Absprache, meinen persönlichen Vorstellungen und trotz der Hitze war doch für heute noch nicht Schluss. Santiago wollte weiter: „Hier bleibe ich nicht!“ Er forderte mich auf, meine mentalen Kräfte zu benutzen, um nicht so früh schon aufzugeben. Er war ein anspruchsvoller Pilgerpartner, kein Weichei, er hat mich wirklich immer wieder herausgefordert, Grenzen der Lauheit zu überschreiten! Doch schon am Ortsausgang von Cizur Menor hatte die Hitze mich erlegt, ich setzte mich einfach unter einen Baum. Das hatte ich schon in Berlin irgendwann erwartet, die große Hitze. Jetzt ging es also los. Ich hatte mich immer gefragt, wie wird es dann sein? Wie kann man bei solcher Hitze am Tag so viele Kilometer laufen? Wir verschenkten unsere Elbenmäntel aus Tardets, weil sie doch ein ganzes Kilo wogen, an eine Frau, die sie in der Herberge an andere weitergeben wollte, sollte es wieder mal regnen. Das Wetter sah nicht mehr nach Regen aus. Sommer in Spanien, olé! Nach Cizur Menor stieg der Weg durch Wiesen, Felder, kleine Orte weiter an, es ging hinauf zum Alto de Perdón, der Höhe der Vergebung. Wir trafen Frauen schwatzend beim trauten Abendspaziergang unter Bäumen. Die drückende Hitze ließ langsam nach. Wir atmeten auf. In der beginnenden Abenddämmerung entzündeten sich die Lichter von Pamplona. Wo würden wir an diesem Abend schlafen? Es war warm, warm genug und trocken. Eine Nacht unter dem Sternenhimmel war jetzt genau 13 Stadtverwaltung Im Antlitz der Liebe - 34 - © Gabriele Sych das Richtige! Auf einem Stoppelacker ein Stück oberhalb des Caminos fanden wir ein von den Blicken des nächsten Ortes verborgenes Plätzchen. Wir schütteten das umliegende Stroh zu einer weichen Matratze auf, breiteten unsere Isomatten und Schlafsäcke aus und baten den Erzengel Michael, wie in jeder Nacht draußen, um Schutz für die Nacht. San Miguel al frente, San Miguel atrás, San Miguel arriba, San Miguel abajo, San Miguel a la derecha, San Miguel a la izquierda, San Miguel, San Miguel, Donde quiere que voy: Yo soy Su amor protegiendo aquí, Yo soy Su amor protegiendo aquí, Yo soy Su amor protegiendo aquí!14 Bitte schütze unseren Schlafplatz vor den Blicken und dem Zutritt anderer, bitte schütze uns vor allem, was uns in der Nacht stören und erschrecken könnte und schenke uns einen erholsamen Schlaf! Und dann genossen wir von ganzem Herzen: eine abendliche Pilgervesper mit Wasser und Brot, den Blick auf das leuchtende Pamplona, den lauwarmen Atem einer leichten Brise. Das tat so gut nach dem heißen Tag! Ein kugelrunder Vollmond goss goldenes Licht über uns aus. Kein schöneres Bett als unser weiches, duftendes Strohlager, das einschläfernde Raunen der Windkrafträder des Perdón und das Summen der Natur, das sanfte Getragensein durch die noch warme Erde, das himmelhohe Sternenzelt, unsere Geborgenheit ineinander und in Gott. Nach 4 Tagen Herberge waren wir wieder ganz für uns und schliefen aneinandergekuschelt ein. Lorca (26 km) / 28.08.2007 14 Heiliger Michael vor mir, Heiliger Michael hinter mir, Heiliger Michael über mir, Heiliger Michael unter mir, Heiliger Michael rechts von mir, Heiliger Michael links von mir, wohin Er möchte, dass ich gehe: Ich bin Seine Liebe, die zu schützen ist. Im Antlitz der Liebe - 35 - © Gabriele Sych Nach einer stillen und erholsamen Nacht standen wir am nächsten Morgen auf, baten darum, dass der Schutz für den Platz wieder aufgehoben wurde, damit er auch anderen wieder zur Verfügung stünde. Wir schritten jetzt zügig weiter voran; das frühe Aufbrechen schenkte uns auch die Frische des Morgens nach dem gestrigen, heißen Tag. Der Anstieg war gut zu bewältigen. Kurz vor dem Gipfel des Perdón kreuzte ein deutsches Wohnmobil unseren Weg. Was wir hier noch nicht wussten: Es sollte uns künftig noch häufig begegnen! Wir fanden kurz unterhalb des Plateaus eine Quelle, damit war auch der erste Teil unseres Frühstücks geschenkt, eine kurze Katzenwäsche war auch drin, noch war niemand nahe bei uns. Oben auf dem Perdón steht eine bekannte Metallskulptur eines mittelalterlichen Pilgerzuges vor einem Panorama der Sonderklasse: auf der einen Seite der Blick in das Tal von Pamplona, auf der anderen Seite Kilometer über Kilometer das weite hüglige Land, das wir ab jetzt zu durchqueren hatten. Dies hat mich immer erstaunt auf dem Weg: wir standen erst vor einem weit ausgebreiteten Landstrich und schon nach einigen Stunden hatten wir ihn durchquert, hatten eine ganze Landschaft durchquert! Zu Fuß, nur so! Der Abstieg war recht einfach. Das Land war hier viel trockener als bisher auf der ganzen Reise, eher so, wie ich mir Spanien immer vorgestellt habe. Die erste Pause gab es mangels Einkaufsgelegenheit in Uterga und Murzábal in Obanos. Dort herrschte emsiges Treiben auf den Straßen. Weißgekleidete junge Männer mit roten Schärpen stolzierten durch die Straßen. Abends sollte ein großes Fest zu Ehren des Johannes des Täufers, Juan le Bautista, stattfinden. Ob wir bleiben würden, wurden wir gefragt. Im Laden wurde für den Festtag eifrig eingekauft, erst nach einer Weile Zusehens beim lokalen Leben konnten wir unser Frühstück erstehen. Vor der Kirche von Obanos gab es einen grünen Platz mit Bänken unter Bäumen. Perfekt! Neben uns frühstückte eine vergnügte, spanische Pilgergruppe, die wir noch eine Weile hören sollten: eine zugegeben sehr rundliche Frau, die mit drei jungen Männern unterwegs war, die auch ihr Gepäck trugen – prima, wenn es auch so geht. Einer der Jungs hatte eine gewaltig laute Tröte dabei, die er bei jeder sich bietenden Gelegenheit und darüber hinaus ertönen ließ. In Obanos durchquert der Camino einen Torbogen direkt neben der Kirche, da sahen wir auch schon die Stände der Schausteller, das würde wirklich ein großes Fest werden! Doch der Camino zog uns voran. Es ging an diesem Tag weiter nach Puente la Reina, wo der navarrasche und der aragonesische Weg vom Somportpass kommend zusammentreffen. Obwohl es erst Mittag war, als wir dort ankamen, saßen schon viele Pilger vor der Herberge. Da würden wir uns nicht anstellen, wir schritten durch die langestreckte Hauptstraße und kehrten in der Santiago-Kirche ein, holten uns seelische Erfrischung und körperliche Abkühlung in der halbdunklen Kirche und natürlich den nächsten Sello für unser Credencial. Ob der Im Antlitz der Liebe - 36 - © Gabriele Sych Hitze und mangels des in Lourdes liegengelassenen Basekaps erstand ich in einem winzigen Laden für 4,50 Euro einen weißen Stoffhut mit schwarzem Band. Santiago lachte über meinen „Oma-Hut“, aber egal, er war mir von da an bis Fátima ein hilfreicher, leichter Begleiter. Kurz vor der namensgebenden Puente, wieder einer Brücke über den Rio Arga, machten wir am Brunnen Halt, füllten unsere Wasserflaschen und trafen drei Frauen, die sich auch anschickten, den weiteren Weg in Angriff zu nehmen. Im Tourismusbüro direkt daneben fanden wir sogar ein echtes, klimatisiertes Luxusklo, ein Glückstreffer und eine buchstäbliche Erleichterung für den Pilger – ganz andere Dinge werden wichtig, wenn man unterwegs ist. Da erwachten die Lebensgeister! Nach der Flussüberquerung auf der alten römischen Brücke trafen wir an der ersten Steigung - hier wurde der Weg laut Schildern umgeleitet - die ersten zwei der drei Frauen beim Picknick, kurz danach die dritte, die gerade eine Wasserflasche aus ihrem Rucksack nahm. Und dann kam er, in brütender Hitze, der steilste, anstrengendste Anstieg, den ich in Erinnerung habe, ganz dicht neben der Autobahn. Santiago konnte mein Elend damit nicht mehr mit ansehen und stieg stetig voran und war bald außer Sichtweite. Mehrfach setzte ich mich auf große Steine unter Bäumen, trank und legte mir die Hände auf, um wieder Kraft zu sammeln. Die dritte der drei Pilgerinnen aus Puente la Reina stieg recht leichtfüßig an mir vorbei, ihr Rucksack sah so klein und leicht aus. Wie macht die das? Mein Wasser ging langsam zur Neige, fiese Stelle, mir wurde mulmig. Am Ausstieg aus dem Aufstieg war sehr schlecht zu erkennen, wo der Camino nun weiter ging. Ich suchte nach Pfeilen, ich rief nach Santiago, doch der tauchte nicht auf. Ich entschied mich für den rechten Weg und nach einer Weile fand ich dort erleichtert die Abdrücke von Santiagos Schuhen, also hier musste er auch entlang gegangen sein. Ihn traf ich wieder am nächsten Brunnen. Hemmungslos begann ich dort zu trinken und hielt meinen ganzen Kopf lange unter den Wasserstrahl – was für eine Hitze, ich glaube, ich habe dort 3 Liter getrunken und gleich wieder ausgeschwitzt. Während wir uns noch auf der Bank ausruhten, rannte ein Spanier – wohl auch fast verdurstend - auf den Brunnen zu und „wässerte“ sich in ähnlicher Manier. Er drehte sich zu uns um und sprach: „Que cuesta, la puta15 que le parió!“ – „Was für ein Aufstieg, die Hure, die ihn gebar!“ Dieser Spruch würde uns noch lange amüsieren und begleiten. Mit vollen Wasserflaschen ging es zunächst bergab und dann wieder ordentlich bergauf – hatten wir ja lange nicht! - nach Cirauqui. Dort gab es zwar eine schöne Herberge, doch offensichtlich nicht für uns. 15 „Puta“ oder besonders „Puta madre“, Hure oder Hurenmutter, ist wohl das gängigste spanische Schimpfwort, in Spanien und in Südamerika. Ich konnte es selbst den spanischen Fußballspielern bei der Fußball-EM 2008 von den Lippen lesen. Im Antlitz der Liebe - 37 - © Gabriele Sych Wir blieben bis zum Ende der Siesta im Schatten der Kirche auf einer Steinbank, damit wir uns ausruhen, abkühlen und anschließend im Laden noch etwas einkaufen konnten. Santiago spielte ein wenig für mich auf seiner Zampoña, das brachte mich immer wieder auf die Beine. Damit lockte er - wie einst der Rattenfänger von Hameln - auch ein paar Kinder an, die sich mit ihm lange unterhielten. Wir erfuhren: Sie kamen aus Pamplona und waren in ihren Sommerferien bei Oma auf dem Land – und vieles mehr! Ein wenig weiter ging es für uns noch: gegen Abend kamen wir in Lorca an. Dort liegen sich zwei private Herbergen direkt gegenüber. Wir nehmen natürlich die preiswertere, die offensichtlich von einem jungen Spanier allein betrieben wurde. Er brachte uns in einem Vierbettzimmer unter, doch da sahen wir noch ein leeres, gemütliches Zweibettzimmer. Das sei schon telefonisch von zwei Frauen reserviert, bedauerte der Hospitalero, ein Rucksacktaxi hätte sogar schon das Gepäck gebracht. Ein wenig später treffen zwei junge Mädchen aus USA ein. Die eine ist völlig aufgedreht. Sie hatte von der Tomatina gehört, die in der Nähe von Valencia am nächsten Tag stattfinden soll. Wir hörten, die Tomatina ist ein Fest in einem Ort namens Buñol, bei dem die Menschen sich mit überreifen, zerdrückten Tomaten bewerfen, bis der ganze Ort und alle darin rot, matschig, glitschig und glücklich sind. Bis dahin sind das zwar von Lorca aus zwar nur winzige 500 km, doch die Mädchen entschieden sich tatsächlich, sofort nach Valencia aufzubrechen: Wenn man schon mal während der Tomatina in Spanien ist, muss man da auch hin! Zwei müde Pilger, die es wohl verdient hatten, kamen so an ein schönes Zweibett-Zimmer. Danke, dass es die Tomatina gibt, vielleicht werden wir irgendwann mal in unserem Leben hinfahren. In Lorca packte ich aus meinem Rucksack alles aus, was ich wirklich nicht mehr brauche: Ein Buch über das WuWei - das Handeln durch Nichthandeln, ich legte die asiatische Lehre ab. Meine graue Moleskin-Hose reklamierte der Wirt gleich für sich und war damit überglücklich. Das Buch und noch ein wenig Kleinkram lege ich in ein Regal im Aufenthaltsraum, damit es jemandem diente, der es brauchen kann. Es wurde leichter! Los Arcos (30 km), 29.08.2009 Noch im Dunkeln ging es in Lorca wieder los, bei solcher Hitze ist im Dunkeln Losmarschieren die Devise. Am beständig plätschernden Brunnen mitten in Lorca füllten wir unsere Wasserflaschen auf, unser Hauptnahrungsmittel, unser Lebensretter! Noch am Ortsausgang von Lorca steht leuchtend ein Im Antlitz der Liebe - 38 - © Gabriele Sych Selbstbedienungs-Kaffeeautomat. 50 Cent, Café con Leche, erwachende Lebensgeister! Danke dem freundlichen Menschen, der mir eine unerwartete Morgengabe bereitet. In Estella kamen wir gleich am Ortseingang am Refugio vorbei, erkennbar an einer riesigen Holzmuschel. Der Stempel lag auf einem Tisch direkt neben dem Eingang und so dokumentierten wir im Credencial unseren Durchmarsch durch diese zauberhafte Stadt. Ein Fluss teilt sie in zwei Hälften. In der örtlichen Bibliothek fanden wir eine praktische Toilette, anschließend wurde Frühstück gekauft. Neben der Treppe an der Kirche St. Pedro auf der Plaza San Martin mit Schatten spendenden Platanen und einem großen Brunnen hielten wir unsere Frühstückspause. Mächtig ragten hier in Estela die alten romanischen Gebäude, Königspalast, Justizpalast, in die Höhe. Die Türme sehen eher aus wie Wehrtürme als Kirchtürme, die Felsen treiben sie weiter in die Höhe. Spanien zum tief einatmen…und wir sitzen ganz einfach auf einer Bank, essen krümelnd unser Brot, Santiago trinkt sein geliebtes Schokolädchen, Alltäglichstes vor eindrucksvollster Kulisse. Ein Deutscher mit einem Dackel sprach uns an. Wir lernten so „Heinrich“ und „Waldi“16 kennen. Heinrich wartete hier samt Dackel auf seine Frau. Er selbst konnte wegen seines Rückens nicht mehr pilgern, aber seine Frau hatte es sich selbst sehr gewünscht. So begleitete er sie samt Dackel in einem Wohnmobil, konnte am Camino und an der Gemeinschaft der Pilger teilhaben, transportierte ihr Gepäck, kaufte regelmäßig ein, wartete auf sie an vereinbarten Stellen, machte dort Mittag und versorgte sie mit gekühltem Wasser und pflegte ihre Füße. Das ist Liebe, oder? Dafür entging ihr das Leben in den Refugios. Dann war es also „Friedelotte“15, die am Tage vorher mit ihrem Leichtrucksack mich am Anstieg abgehängt hatte. Das Wohnmobil hatten wir ja schon am Alto de Perdón gesehen... Die Bezeichnung „Teilzeitpilger“ wurde geboren. Wir erfanden unterwegs überhaupt so einige Pilgerklassifizierungen. „Buspilger“ sind die ganz Üblen, Schummelpilger, ebenso wie die Autopilger. Dann gab es die „Leichtpilger“, die ihre Rucksäcke transportieren lassen, es gab „Luxuspilger“, die in Hotels und Pensionen übernachten und mittags und abends Pilgermenüs einnahmen, die „Pilgerdiven“, d.h. Frauen, die andere dazu brachten, ihr Gepäck zu tragen, die „Pilgerurlauber“, die den Jakobsweg als gut organisierten, preiswerten Wanderweg nutzen, die „Kurzzeitpilger“ oder "Ratenpilger", die nur einen kurzen Streckenabschnitt pilgerten, die „Nordic Pilger“, die Landplage des Caminos mit der ewigen Klackerei ihrer Nordic Walking Stöcke. Was waren wir? Hardcorepilger! 16 15 Das waren die Namen, die wir ihnen gaben. Wie sie wirklich heißen, wissen wir bis heute nicht! Im Antlitz der Liebe - 39 - © Gabriele Sych Heinrich machte uns auf den Kreuzgang des Klosters von St. Pedro aufmerksam. Von der Straße oberhalb des Platzes aus konnte man in den romantischen Klostergarten mit Rosen und Buchs sehen, der an zwei Seiten von einem überdachten Säulengang eingefasst war, darüber eine riesige Rosette in der mächtigen Kirchenwand. Und siehe da, auch wir sahen die eine Säule, die aus dem Rahmen fällt, da in ihr sich drei Steinsäulen umeinander winden. Solche kleinen Ausblicke am Wege machten für uns einen der besonderen Zauber des Caminos aus. Nach Estela erreichten wir eine der großen Attraktionen des Jakobsweges, das Kloster von Irache mit dem Weinbrunnen der Bodega Irache. Zwei Hähne gab es dort an einer Hauswand, einen für Wein, den anderen für Wasser. Da ich mir keinen Plastikbecher am Automaten ziehen wollte, trank ich meinen Schluck Rotwein aus meiner Pilgermuschel, Santiago blieb beim Wasser. In der Bodega ließen wir unser Credencial stempeln, das musste natürlich auch sein. In der Mittagshitze besuchten wir das alte Kloster Santa Maria Real de Irache mit einem traumhaften, stillen, kühlen Kreuzgang – es ist wie aus der Welt gehen! Auf dem Weg hatten wir viele Pilger um uns herum gesehen, hierher hatte niemand gefunden. In der Klosterkirche fand ich eine sehr schöne Statue des Sagrado Corazón de Jesús. Welch eine Freude und Erleichterung! Die Zeit mit Ihm, bei Ihm, nahm mir viel Last des Tages ab, trocknete meinen Schweiß, immer wieder auch mal Tränen und schenkte mir neue Kraft. Wer seine Pausen lieber im Café als in der Kirche verbringt, verpasst den Teil des Pilgerns, der uns am wahrhaftigsten stärken kann: Kein Koffein oder Nikotin kommt einer „Dosis“ Seiner Zuwendung, Seiner Gnade gleich. Wir sind im berühmten Weinanbaugebiet Rioja angekommen und durchquerten die ersten Viñeros, Weinberge, probierten die ersten Trauben, passierten die „Fuente de los Moros“, die Maurenquelle. Dies ist ein nach vorn durch zwei Steinbögen offenes Haus mit einem tiefen Wasserbecken innen. Wir genossen einen Schluck kühle Luft darin, das Wasser sah nicht so einladend aus. Auf der anderen Seite des Weges lag mächtig eine riesige Weinkellerei, sah aus fast wie ein Kastell. Wir pausierten in Villamayor de Monjardin, wo wir in eine Kirche aus großen Steinquadern traten. Jemand begann dort im Halbdunkel zu singen zu, damit man die ungewöhnlich guten Akustik erfahren konnte, wahrlich Im Antlitz der Liebe - 40 - © Gabriele Sych beeindruckend! Das letzte Teilstück des Tages, noch ca. 12 km, verlief in einem lang gestreckten Bogen nach Los Arcos. Santiago hatte sich angewöhnt, mich über Menschen und Begebenheiten aus meinem Leben zu befragen, damit ich die Entfernungen nicht so merkte und von der Anstrengung der Lauferei abgelenkt wurde. So erzählte und erzählte ich, viele, viele Stunden lang, so lernte er mit den Kilometern viel mehr von meinem Leben kennen. Sein zweites Zaubermittel war seine Musik. Wenn ich mich in den Pausen erholte, dann holte er seine Zampoña hervor und spielte für mich. Diese Musik ist so leicht und fein, uralte Folklore aus den Anden. Als ob sein Atem, den er durch diese Flöte schickte, in meinen Lungen ankam, um mir wieder neue Puste zu verschaffen. Als ob der fremde Rhythmus meinen Herzschlag balancierte; die Flötentöne entführte meinen Geist aus dem „Was ist das anstrengend! Ich kann nicht mehr!“ in ein „So, es kann wieder weitergehen!“ In Los Arcos kamen wir in der städtischen Pilgerherberge unter, da ist man schon fast wieder raus aus dem Ort. Sie ist recht groß, wirkte eher wie eine Turnhalle, die Matratzen sind mit blauem Plastik überzogen. Die Hospitaleros, diesmal Belgier, waren sehr freundlich, aufmerksam, hilfsbereit und überaus gesprächig. Als Pilgermahl gab es – mal wieder – Tomatenthunfischspagetti. Die Küche wurde insgesamt stark frequentiert, ein vielsprachiges Stimmengewirr, ein buntes Menü von Mixsalat über Tortilla zu Nudelsalat und Gemüsesuppe, ein friedliches und fröhliches Nebeneinander von Kochen, Essen und Abwaschen. Im Schlafraum lag auf dem Nebenbett ein kleiner Spanier, über und über behaart, mit dem sich Santiago unterhielt. Wir hatten ihn unterwegs schon beobachtet, eifrig im Gespräch vertieft und sehr zügig mit einer älteren Dame wandernd. Ich hatte ihn im „Verdacht“, einer der Camino-Gigolos zu sein. Überhaupt, diese Damen haben echt was drauf, oft mehr als die jungen. Zwei davon hatten wir inzwischen den Omi-Express getauft, weil sie morgens so zeitig aufstanden, früh losliefen und abends oft die gleiche Strecke zurückgelegt hatten wie wir. Wir überqueren wieder die Brücke des Odrón zum Rosario in Santa Maria. Vor der Kirche trafen wir den Kanadier wieder. Sicherlich hat er uns wieder eingeholt, als wir uns Pamplona ausführlich gönnten. Los Arcos ist eigentlich gar kein so großes Städtchen, die Kirche jedoch ist riesig. Ein gewaltige Kuppel, viel, viel Gold, üppig ausgemalt, hohe Bögen mit mächtigen Säulen, ein majestätischer Hochaltar mit vielen Statuen, natürlich gekrönt von Santa María. In der Kirche fiel mir auf, dass die Frauen alle so steif und verknöchert wirkten. Die Messe war opulent mit Personal ausgestattet, fünf Padres samt Beisitzern. Hier erlebte ich erstmals klar das Confiteor, das katholische Schuldbekenntnis mit dem Im Antlitz der Liebe - 41 - © Gabriele Sych dreimaligen „Mea culpa, mea culpa, MEA GRAN CULPA“ – „Durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch MEINE GROSSE SCHULD“, wobei sich die Padres auf die Brust schlugen. Yo confieso ante Dios todopoderoso y ante vosotros, hermanos, que he pecado mucho de pensamiento, palabra, obra y omisión. Por mi culpa, por mi culpa, por mi gran culpa. Por eso ruego a santa María, siempre Virgen, a los ángeles, a los santos y a vosotros, hermanos, que intercedáis por mí ante Dios, nuestro Señor.17 Ich musste tief durchatmen, das wirkte zunächst gruselig auf mich. Nachdem ich so lange mich bemüht hatte, mich von Schuldgefühlen zu befreien! Meine langjährige Psychotherapeutin versicherte mir einmal: „Schuldgefühle sind so sinnvoll wie ein Kropf!“ Viele neuere Psychotherapiemethoden vermeiden den Schuldbegriff, damit der Mensch wieder zu sich stehen kann. Und hier kam das Bekennen der Schuld – in breiter Ladung, Mir blieb der Mund offen stehen! Zwischen Psychotherapie und Seelsorge tat sich hier für mich ein breiter Graben auf. Welcher der Wege hilft wirklich weiter? Santiago überraschte den Pater bei der Eucharistie, der ihm mit einem Gesichtsausdruck von verblüfft bis entsetzt hinterher starrte. Lag es an seinem Kopftuch, das er noch aufhatte? War es, weil er seine Hostie nicht sofort runterschluckte, sondern mit zum Platz nahm? Den anschließender Pilgersegen gestaltete der leitende Padre, der vorher so „mit Stock verschluckt“ wirkte, dagegen erstaunlich locker und aufgeräumt, scherzte mit uns. Wir wurden gefragt, aus welchen Nationen wir kommen. Der Pater fragte Santiago sogar ganz persönlich nach seiner Herkunft – Ecuador, eines der ärmsten Länder dieser Erde. Sein so typisch indigenes Gesicht war doch eine seltene, außergewöhnliche Erscheinung auf dem Camino. Logroño (31 km)/30.08.2007 17 Ich bekenne Gott, dem Allmächtigen und Euch Brüdern und Schwestern, dass ich Gutes unterlassen und Böses getan habe. Ich habe gesündigt in Gedanken, Worten und Werken, durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine große Schuld. Darum bitte ich die selige Jungfrau Maria, alle Engel und Heiligen und Euch, Brüder und Schwestern, für mich zu beten bei Gott, unserem Herrn. Im Antlitz der Liebe - 42 - © Gabriele Sych Morgens um halb fünf begann es, neben mir hektisch zu rascheln. Der haarige Spanier fing an zu packen und hatte offensichtlich all seine Habe in knistrigen, weißen Supermarkt-Plastiktüten verstaut. Immer wieder rannte er raus und rein, um in der Zwischenzeit drinnen oder draußen nur noch ausführlicher rumzuknistern. DAS geht nicht! Ich stand auf und erwischte ihn im Flur „Nehmen sie Ihre Sachen aus dem Schlafsaal und packen Sie hier im Flur weiter, andere wollen noch schlafen!“ Erst motzte er, doch dann ließ er uns weiterschlafen. Doch nicht lange: Um halb sechs meinte ein nachts schwer schnarchender Spanier, es wäre Aufstehzeit und macht die Deckenlichter im Schlafsaal an. Das sorgte bei allen für einen frühen Aufbruch, draußen war es noch dunkel. Unterwegs unterhielt sich Santiago mit einer spanischen Familie, ich lernte währenddessen weiter das Ave Maria auf Spanisch zügig zu beten. Schnell erreichten wir über hüglige Landschaft die zwei nächsten Zwillingsörtchen, Sansol und Torre del Rio. In Torre del Rio kaufen wir in einem winzigen Laden unser Brot und frühstücken auf einer Bank auf einem mittelalterlichen Platz. Es ist immer noch ein wenig duster. Schon um 11 Uhr hatten wir die 19 km bis Viana geschafft, der Weg schlängelte sich immer wieder um die Landstraße. In der Kirche Santa Maria entdeckten wir eine Statue der Maria Magdalena, ihr Oberkörper ist nackt dargestellt. Das ist sehr selten, sie habe ich weder vorher noch nachher in einer Kirche wieder so entdeckt. Sie ist die Schutzheilige von Viana, da sie in Zeiten der Pest geholfen hatte. Im Café del Peregrino rasteten wir – Kaffeepause. Kurz vor Logroño erreichen wir den Stand von Felisa, die dort Stempel verteilt „Higos, agua y amor“ – Feigen, Wasser und Liebe - und essen unsere traditionelle Feige. Ich liebe Feigen! Leider findet man am Camino Francés nur leergepflückte Bäume, andere Pilger lieben sie offensichtlich auch. In Logroño kamen wir – einen Fluss überquerend – an. Da wir ohne Buch pilgerten, wusste ich noch nicht einmal, was für ein Fluss das war: Der Ebro war es, so hörte ich später auf meine Frage, der bedeutendste Fluss Spaniens. Bald sahen wir schon eine Gruppe von Pilgern, die vor dem städtischen Refugio warteten, es war erst Mittag, aber wir hatten schon ca. 30 km zurückgelegt, denn wir waren früh aufgebrochen und zügig gelaufen. Auf dem ganzen Weg hatte ich geübt, das Ave Maria auf Spanisch schnell zu beten. Santiago wollte mit mir zusammen den Rosario beten und er meinte, je mehr Geschwindigkeit, Im Antlitz der Liebe - 43 - © Gabriele Sych umso stärker die spirituelle Schwingung des Gebetes. Noch war ich ihm, wie beim Laufen, zu langsam… An diesem Tage sollte jedoch schon in Logroño für uns Schluss sein. Es war das erste und einzige Mal, dass wir bei der mittäglichen Öffnung einer Herberge dabei waren.Zuerst ruhten wir uns ein wenig aus, dann gingen wir Einkaufen und Santiago kochte Nudelsuppe mit Gemüse, die er selbst für ungenießbar hielt. Beim Verlassen des Refugios kam uns ein Pilger entgegen mit den Worten „So eine hässliche Stadt! Das lohnt sich überhaupt nicht, da rauszugehen!“ Wie gut, dass wir uns nicht beirren ließen und uns trotzdem an die Stadtbesichtigung machten. Ganz in der Nähe des Refugios waren eine Calle Santiago, eine Plaza Santiago und eine wunderschöne Santiagokirche. Über ihrem Portal trohnt eine große Steinstatue des Santiago als Matamoros, beritten und als Maurentöter. Natürlich traten wir sofort in die Kirche ein. Sie enthielt das große rote Santiago-Schwert an der Rückseite und in den Fenstern, wundervolle Santiago-Altarbilder auf einem riesigen, goldenen Hochaltar. Ein riesiges romanisches Sternengewölbe überdachte uns und für mich gab es natürlich auch einen Sagrado Corazón de Jesús. Wir beteten zunächst unseren gemeinsamen Rosario und dann vertiefte ich mich in das verbundene, stille Zwiegespräch mit Jesus, während wir auf den Beginn des Gottesdienstes warteten. Plötzlich sprach mich ein zierlicher, asiatischer Mann an, und fragte, ob ich Spanisch spräche, damit ich ein Teil der Lectura, der Lesung während des Gottesdienstes, auf Spanisch halten könnte. Sofort gab ich diese Aufgabe an Santiago weiter, der nun in der Kirche seines Namens in Spanien das erste Mal eine Lectura lesen konnte. Santiago übernahm diese Aufgabe würdevoll und wundervoll und ich war sehr stolz auf ihn und unheimlich glücklich für ihn. Denn es bedeutete ihm viel. Im Antlitz der Liebe - 44 - © Gabriele Sych So kamen wir mit Romulo Espina Jr. y Zaldarriaga ins Gespräch, philippinischer Seminarist am internationalen Seminario bei Pamplona und zurzeit im Dienste der Santiago-Kirche in Logroño. Da Santiago das Credo, das spanische Glaubensbekenntnis, nicht mehr auswendig konnte, fragte ich Romulo danach. Nach dem Gottesdienst nahm er uns mit ins Gemeindehaus, wo ebenso ein Refugio war, in dem wir uns leider nicht untergebracht hatten (danach haben wir immer nach Refugios Parroquiales gefragt). Er zeigte uns Bücher und schenkte uns dann eines seiner Bücher: Oraciones y Devociones mit vielen Gebeten und Teilen der Liturgie der katholischen Kirche, damit wir das Credo bei uns hätten. Ich habe dieses Buch, obwohl es immerhin 300 Gramm wiegt (viel für einen Pilger), den Rest der Reise in meinem Rucksack getragen. Nun hatte ich alle Gebete des Rosarios zusammen und in dem Buch gab es zusätzlich eine Kurzbeschreibung aller Mysterien des Rosarios. Romulo lud uns zum gemeinsamen Abendessen mit dem Pfarrer in das Parroquia18-Refugio ein, es gab ein herrliches Essen, das die Hospitaleras volontarias19 aus Barcelona gekocht hatten: gemischter Salat, so etwas wie Flammenkuchen, Chorizo-Kartoffelsuppe und Melone, wir hätten sogar Riojawein Logroño ist die Hauptstadt der Region La Rioja - dazu trinken können, wenn wir gewollt hätten, doch Santiago trinkt gar nicht und ich fast nicht. Es war ein opulentes Festmahl für uns, die wir nicht jeden Tag eine warme Mahlzeit hatten! Schade, dass wir nicht bis hierher weitergelaufen waren. Während des Essens unterhielt ich mich mit Romulo auch über Reiki und meine Pläne, nach den christlichen Ursprüngen, nach einem christlichen Zugang des Handauflegens zu suchen. Bei anderen Geistlichen und Gläubigen hatte ich hierfür schon eine arge Abfuhr erhalten, das wäre gottloses, okkultes Zeug. Er sagte, die katholische Kirche würde inzwischen versuchen, solche Dinge nicht zu fördern. allerdings andere Glaubensformen durch den christlichen Glauben als umfassendste Form des Glaubens zu umarmen. Gott gebe es! 18 Pfarrgemeinde 19 Die Hospitaleros volontarios, nicht nur Spanier, sondern Ex-Pilger aus vieler Herren Länder, führen die meisten der preiswerten munizipalen und parroquialen Herbergen auf dem Camino, freiwillig, kostenlos, meist für zwei Wochen, weil sie dem Camino dankbar etwas zurückgeben wollen. Sie sind gute Ratgeber, engagierte Gastgeber und dem Pilger ein wirkliches Geschenk. Im Antlitz der Liebe - 45 - © Gabriele Sych Nach dem Essen ging es um 21.00 Uhr dann noch durch die Katakomben des Gemeindehauses zurück in die Santiago-Kirche zu einer Pilgermesse. Auch diese wurde in verschiedenen Sprachen gelesen und wir haben uns alle im Kauderwelsch von Deutsch, Französisch, Englisch und Spanisch über den Camino unterhalten. Es war die wärmste Pilgermesse, die wir auf der ganzen Reise erlebt haben. Kurz vor 22.00 Uhr ließ uns Romulo aus der Kirche, damit wir es pünktlich bis Torschluss noch in die andere Herberge schafften. Wir haben uns beim Abschied umarmt und uns gegenseitig alles Gute gewünscht. So schnell war uns dieser körperlich kleine, doch geistig große Mann ans Herz gewachsen. Am nächsten Morgen trafen wir ihn nochmals auf der Straße und konnten uns nochmals bei ihm bedanken, bevor wir unseres Weges zogen. Noch heute schreiben wir uns manchmal. Danke Romulo, unser Engel des Credos. Als wir in unsere Herberge zurückkehrten, sahen wir den Pilger, der uns vor Logroño gewarnt hatte, betrunken im Patio der Herberge sitzen. Jedem sein Logroño! Azofra (29 km) / 31.08.2007 Der Weg aus Logroño heraus führte uns - nach einem schönen Stück an einem Stausee - lange an der Autobahn entlang, Lust auf Pausen bekam man nicht. Diese ist auch eine Etappe der CaminoTraditionen. Um den Weg von der Autobahn abzuschirmen, bastelt jeder Pilger aus Ästen ein Kreuz in den Zaun und so ist der ganze Weg gepflastert von kleinen Holzkreuzen. Dies würde uns immer wieder begegnen, doch nirgends so intensiv wie hier. Natürlich basteln wir auch eines! Als wir endlich von der Straße weg waren, machen wir auf großen, glatten Felsplatten am Weg eine lange Pause mit Schläfchen, die warmen Platten sind so einladend. Die zweite Tradition ist das Aufschichten von Steinmännchen, kleinen Steinpyramiden. Tausende sind hier auf den Feldwegen fern der Straße zwischen Navarette und Nájera zu sehen. Und natürlich bückten auch wir uns, um unser Steinmännchen zu errichten. Insgesamt ist heute auch ein Weg der Aussichten und des weiten Blicks. In Nájera finden wir einen offenen Supermarkt und im Park am Fluss gibt es eine reichhaltige Siesta mit den nackten Füßen im frischen Gras. Und das Panorama Nájeras dahinter besticht durch rote Sandsteinfelsen. Eine Bilderbuchpause. In der Nachmittagsschicht sind wir beim Pilgern meist allein, die anderen sind schon eingekehrt. Unser letztes Teilstück von Nájera nach Azofra ist ein Gedicht! Nach einem Anstieg in Nájera wandern wir Im Antlitz der Liebe - 46 - © Gabriele Sych durch im Abendlicht orange-rot leuchtende Sandsteinformationen, später durch leicht hügelige Viñeros auf einem angenehm zu laufenden Sträßchen bis nach Azofra. Dort begegneten wir Markus und André ein letztes Mal wieder, die schon auf der Plaza beim Absacker sitzen. André ist wegen seiner Schmerzen inzwischen Buspilger. Eine Frau an ihrem Tisch wollte nicht glauben, dass Santiago Santiago heißt und fragte nach seinen Pass. Mit einem „Für 5 Euro gern“ beendete er die Diskussion. Die supermoderne, schön eingerichtete Herberge besteht aus lauter Zweibettkabinen, supersaubere Duschen und Toiletten - das ist sehr erfreulich für den Pilger. Es gibt einen großen, praktisch eingerichteten Speisesaal: vorn stehen die Tische vor den verkleideten Rückseiten der Küchenzeile. So kann man in Ruhe essen, während die anderen ihren Küchendienst außerhalb des eigenen Blickfeldes erledigen! Ein kleiner Ort, dafür eine mächtige Herberge. Wie passt das zusammen? Das reiche Rioja? Zum Abendgottesdienst erreichen wir die Kirche Nuestra Señora de los Angeles. Im Gegensatz zu Los Arcos sind hier die Frauen durch die Bank locker und entspannt. Woran mag so etwas liegen? Belorado (39 km) / 1.09.2007 Auch der Omi-Express war in Azofra beherbergt und brach wie immer frühzeitig auf. Auf der Strecke nach Santo Domingo de la Calzada sind kaum Orte, keine Chance auf Frühstück, denn in Azofra war noch alles geschlossen, als wir aufbrachen! An diesem Morgen kamen wir rasch durch die Viñeros von Rioja voran, diese Wegstrecke war wie für uns gemacht. An den Weinstöcken hingen üppig die dunkelroten Reben, bald würde wohl Ernte sein. Unterwegs kamen wir durch ein merkwürdiges Geschwisterstädtchen, Ciriñuela und Cirueña. Das eine ist ein ganz normales Camino-Dörfchen, etwas verfallen, Altes und Neues gemischt. Dann eine eine Im Antlitz der Liebe - 47 - © Gabriele Sych schicke Vorstadtsiedlung mit uniformen, jedoch luxuriösen Reihenhäusern rund um einen riesigen Golfplatz – mitten in die Landschaft gespuckt oder wie mit einem Ufo gelandet -, dann geht es wieder mit einem Dörfchen weiter. Und alle Pilger mitten durch. Die nächste Großstadt ist Burgos – ca. 100 km weg. Wer geht denn da hin? Wer wohnt denn da? Und wann? Außer den strömenden Pilgern ist kaum ein Mensch zu sehen, eine Bar, keine Geschäfte. Wer kauft sich denn so ein Häuschen? Vor dem Eingang des Golfclubs saß bettelnd ein Pilger mit seiner Muschel vor sich stehend, ein gut aussehender, hochgewachsener Spanier, dem ich das nie zugetraut hätte… Nach 16 km waren wir schon weit vor der Mittagszeit in dem bekannten Pilgerort St. Domingo de la Calzada. Im örtlichen Supermarkt gab es frische Verpflegung und endlich Frühstück! Neben der Kathedrale trafen wir eine Spanierin aus der Herberge von Logroño wieder, deren dort liegen gelassenen Unterwäschebeutel wir ihr seither hinterhertragen. Sie war froh, ihre Ausrüstung wieder ergänzt zu sehen. Die Kathedrale ist zum großen Teil dem Tourismus vorbehalten und nur über Eintritt zu erreichen. Nur ein kleiner „Käfig“ für Gläubige erlaubt die christliche Pilgereinkehr im Sinne des „Culto“, schade auch… Aber wenigstens ist sie offen! Über Santo Domingo de la Calzada erzählt man sich die Legende, dass ein schon gebratenes Paar Hühner wieder lebendig wurde, um die Unschuld eines Verurteilten zu beweisen. Daher werden hier in der Kirche auch ein Paar Hühner gehalten. Im Souvenirshop neben der Kathedrale gab es den Stempel. Das mittelalterliche Pilgerhospital von St. Domingo ist heute ein Parador, ein Luxushotel, die heutige Pilgerherberge ist im Kloster untergebracht. Den materiellen Teil unserer Pause, das Frühstück, genossen wir in der Sonne auf einer Bank an der Plaza de España. Diese „spanischen Plätze“ sind oft der Höhepunkt der Orte. Auch hier ist es ein großer Platz hinter der Kathedrale, eingerahmt von traditionellen Herrenhäusern und aufgelockert mit Schatten spendenden Bäumen. An der Pilgerstatue machten wir die unvermeidlichen Fotos, dann geht es wieder auf die Strecke. Es ist nicht mehr so heiß wie in Pamplona, das Laufen ist wesentlich einfacher geworden, wir können gut voranschreiten, den ganzen Tag lang. Wie auf einer Perlenschnur liegen heute die Orte zwischen den Weizenfeldern an der Strecke, oft auf Hügeln gelegen und von Hügelketten umgeben, weiche Rundungen, so weit das Auge sieht: ♥ Grañon ♥ Redecilla del Camino ♥ Castildelgado ♥ Viloria Im Antlitz der Liebe ♥ - 48 - © Gabriele Sych Vilamayor Kleine, gewachsene Orte, eine Kirche, hier meist massiv und aus großen Steinquadern, ein Pilgerbrunnen, viel Stein, dann sind wir wieder draußen in den Feldern, immer wieder dazwischen etwas Grün durch einzelne Bäume und, Buschreihen. Langsam aber sicher nähern wir uns der Meseta. Wir überschritten hinter Grañon die Grenze nach Castilia y León. Am hohen Grenzpfeiler mit Landkarte pausierten wir, eine Landmarke für die Pilger. Wir entdecken, was in Kastilien auf uns zukommen wird – eine Menge! Als ich dort erzählte, dass ich für das Pilgern meine Wohnung aufgegeben habe, nicht nur mal so im Urlaub unterwegs bin, erntete ich überraschte Blicke. In Viloria entdecken wir ein Schild: noch 547 km bis Santiago. Wow, haben wir was geschafft! Jetzt merkt man schon richtig in Hunderten von Kilometern, dass wir vorwärts kommen. Wir machen Bilder, Santiago wirkt frisch mit freiem Oberkörper, ich kann kaum noch aus den Augen gucken, so verquollen wirke ich. Das waren heute bisher auch schon 30 km und es ist HEISSSSS! An der Kirche setzen wir uns in den Schatten auf eine Bank zum Auskühlen, ich lege die Beine hoch. Im Ort ein schläfriger Samstagnachmittag. Nur aus einem nahen Restaurant vernehmen wir die Känge einer großen Familienfeier, vielleicht wurde geheiratet? Gläserklingen, Fetzen von Musik, Gelächter, Stimmengewirr. Draußen springen und spielen auf dem sonst menschenleeren Platz nur einige Kinder in Sonntagskleidung. An diesem Tag wurde mein Pilgerdasein geadelt, auf dem Weg fand ich eine silberfarbene Brosche, eine Pilgermuschel. Dafür verlor ich auf dem letzten Wegstück mein Schaumstoff-Sitzkissen, was ich in Portugal noch sehr vermissen würde. Auch dies zeigte mir ein Bild des Geschehens: das Pilgerdasein wird zum Schatz, die Bequemlichkeit muss dafür weichen. In jedem der Orte gibt es eine Herberge, doch Santiago stürmte voran durch die Weizenfelder, die nun die Viñeros abgelöst hatten, er will weiter…weiter… weiter. Seit wir in Logroño die parroquiale Herberge gefunden und dort so viel Gnade erfahren haben, möchte er weder in einer privaten noch in einer munizipalen Herberge einkehren. Und die nächste parroquiale gab es erst in Belorado, nach fast 40 km. Die munizipale Herberge in Belorado, hier sogar mit Swimmingpool, passierte er, ohne davon Notiz zu nehmen. Kurz nach sechs Uhr kehrten wir ein, ich war völlig erschöpft. Die Herberge war in einem alten Theater direkt neben der Kirche Santa Maria untergebracht. Steile Treppen, kleine Räume, sehr einfache Ausstattung, jedoch ganz liebenswürdige Hospitaleros aus Frankreich. Auf der ehemaligen Bühne des Theaters war eine Küche eingerichtet. Wir durchforsteten die Schränke, ob es noch etwas Essbares gab, denn Einkaufen ging nicht mehr, es war Samstagabend – zu spät. Wir fanden eine Tüte Im Antlitz der Liebe - 49 - © Gabriele Sych Kartoffelpüreepulver und eine Dose Sardinen, im Kühlschrank war noch etwas Milch, ein schnelles, perfektes, stärkendes Pilgermenü mit ordentlich Salzersatz für das ausgeschwitzte. Eine Brasilianerin bat mich, ein Foto von ihrer hühnereigroßen Blase am Fuß zu machen. Von so nah wollte ich mir das – glaube ich – eigentlich nicht ansehen! Sie sollte mir noch öfter auffallen: das erste Mal am selben Abend während der Messe, die ich fast aufgrund meiner Müdigkeit nach der langen Etappe verpasst hätte. Sie hielt in allen Gebeten die Hände hoch zum Himmel ausgestreckt und während des „La Paz“ flitzte sie durch die ganze Kirche, um möglichst allen die Hand zum Friedensgruß auszustrecken. Der Padre wartete eine Weile etwas irritiert, bis sie wieder zu ihren Platz zurückkehrte und er mit dem Abendmahl fortfahren konnte. In einer Seitenkapelle fanden wir Pilger nach der Messe anschließend zu einem erhebenden Pilgersegen zusammen: wir lasen, sangen und beteten mehrsprachig zusammen, tauschten uns aus, erhielten die Hand aufgelegt. Dafür ließen wir gern den Swimmingpool links liegen. Nach der Pilgermesse fiel ich einfach nur ins Bett und schlief wie eine Tote, nichts konnte mich aufwecken. Und dafür gab es eine Menge: in Belorado wurde in dieser Nacht ein großes Erntedankfest mit viel Musik und Knallerei gefeiert, wie Santiago mir am nächsten Morgen verschlafen berichtete. Burgos (52 km) / 2.09.2007 In der Herberge von Belorado – und das ist oft der Vorteil von parroquialen Herbergen - gab es am nächsten Morgen Frühstück. Wir lernten dabei eine junge Frau aus Barcelona kennen, die – ebenso wie wir – jeden Tag große Strecken zurücklegte. Sie war sehr ruhig, natürlich, bescheiden. Auch sie erzählte von mit Blasen übersäten Füßen: „Ich vermeide das Anhalten, da wegen der Blasen das wieder Loslaufen so weh tut. Und so laufe ich einfach immer weiter und weiter.“ Es war nicht ihr erster Pilgerweg, der Camino zog sie immer wieder unausweichlich an. Einmal Pilger – immer Pilger. Wir nannten sie für uns „La Barceloneta“, wie das Barrio am Strand von Barcelona. Die Straßen von Belorado waren um sieben Uhr morgens noch drängend voll junger Menschen, die in den Morgen hinein feierten, tranken, Musik hörten. wir drängelten uns durch die herumstehenden Grüppchen. Alle Stilrichtungen heutiger Jugenkkultur waren dabei vertreten: von gepiercten Punks über tiefschwarz geschminkte Gothics und vernieteten Ledertypen zu bauchfreien Babes, das hätte auch bei mir hier um die Ecke in Berlin sein können. Spanien ist doch ein modernes Land, das vergisst man manchmal, wenn man auf einem so alten Weg läuft. Im Antlitz der Liebe - 50 - © Gabriele Sych Von Belorado ging es stetig bergan und noch im Morgendunst kamen wir über Tosantos nach Vilafranca Montes de Oca. Wir trafen am Ortseingang einen der baggernden Pilger aus Larrasoaña wieder, Capri-Sonne trinkend, der sich uns anschloss. Bis Agés wollte er an diesem Tag laufen. Der Aufstieg direkt nach Vilafranca war steil, doch er führte uns auf einen der schönsten Abschnitte des Caminos: Der Höhenweg nach St. Juan de Ortega. Knorrige Eichen, duftende Kiefern, Farne und Heidekraut, Felsen und vernebelte Ausblicke. Feucht und frisch war es, nicht nass, eine willkommene Abwechslung nach den warmen Tagen. Eine Panoramakarte am Wegesrand erklärte uns, was wir sahen. Die Berge in der Distanz wurden immer höher. An einem kleinen Denkmal machen wir Rast. Doch schon nach fünf Minuten brach Santiago wieder mit einem „Man sieht sich!“ auf und ließ den anderen Pilger – verblüfft - hinter uns, er wollte mit mir lieber alleine weiter wandern. Eine große Brandschneise teilte den Wald. Noch sah es wie ein Radikalschnitt aus, eine Wald-Wunde aus rötlicher Erde, bald würde es sich wieder verwachsen haben. St. Juan de Ortega war unsere nächste Station, eine Klosterkirche mit einer tief berührenden Atmosphäre. Stille umfing uns, jeder zog sich zum Gebet, in Meditation zurück, wir sprachen nicht miteinander. Wir konnten uns nicht entziehen, uns hier Jesus Christus, Gott zuzuwenden. Er holte uns ab und nahm uns mit in Sein Reich. Mehr als eine Stunde währte die Stille in uns. Waren wir noch bewusst, gab es einen Zeitsprung? In der düsteren, lautlosen Krypta mit dem einzelnen, blauen Licht unterhalb der Kirche war Geist fast anfassbar. Es heißt, dass in diesem Kloster spezielle Fenster eingebaut sind, die nur zur Tag-und-Nacht-Gleiche Tageslicht auf Bilder der Geburt Christi fallen lassen. Die Wunder der Alten, die keine Rechner und Simulationsprogramme besaßen, dafür aber Geduld und Kunsthandwerk beherrschten. Wir ließen in der Herberge unseren Credencial stempeln und weiter ging’s. Bald lichtete sich der Wald und offeneres Grasland mit vielen einzelnen Baumgruppen und weiter Sicht lag vor uns. Tiefe Freude über die Schönheit des Landes verstärkte das ohnehin erhobene, kreisende Gefühl im Herzen. Dieses alte Lied gilt auch hierfür: Geh aus mein Herz und suche Freud In dieser schönen Sommerzeit An deines Gottes Gaben Schau an der schönen Gärtenzier Und siehe wie sie mir und dir Sich ausgeschmücket haben Im Antlitz der Liebe - 51 - © Gabriele Sych … Hilf mir und segne meinen Geist Mit Segen, der vom Himmel fleußt, Daß ich Dir stetig blühe; Gib, daß der Sommer Deiner Gnad In meiner Seele früh und spat Viel Glaubensfrücht erziehe Mach in mir Deinem Geiste Raum, Daß ich Dir werd ein guter Baum, Und laß mich Wurzeln treiben; Verleihe, daß zu Deinem Ruhm, Ich Deines Gartens schöne Blum Und Pflanze möge bleiben Erwähle mich zum Paradeis, Und laß mich bis zur letzten Reis An Leib und Seele grünen; So will ich Dir und Deiner Ehr Allein und sonstern Keinem mehr Hier und dort ewig dienen Bis Agés ist das Laufen wirklich eine Pracht. In Agés entdecken wir wieder einen Hinweis auf unsere Distanz zu Santiago: 518 km. Agés könnte als Filmkulisse eines alten Dorfes verwendet werden, so wenig wirkte es von der Neuzeit geküsst. Im Ort gibt es eine gemütliche Bar mit dem vielsagenden Namen „El Alquimista“, wie das bekannte Buch von Paulo Coelho. Dieser Alchimist hieß übrigens auch Santiago. Es war Sonntag, mit Einkaufen war es also schon den ganzen Tag schlecht, aber der Alchimist, bei dem es Bocadillos und andere kleine Mahrzeiten gab, war gegenüber dem Ort so neuzeitlich - wie eine Salumeria in Berlin Mitte - dass wir lieber davon absahen dort einzukehren. Von Agés ging es durch Weizenfelder weiter nach Atapuerca, einem Ausgrabungsort für Frühzeitfunde. Ein Schild mit dem Atapuerca-Mann war von weitem zu sehen, Atapuerca von Wochenend-Touristen und Familienausflüglern übersät. Kurz vor dem Ortseingang treffen wir auf „Heinrich“ mit seinem Wohnmobil und halten für ein Schwätzchen an. Er hatte Burgos schon ausgekundschaftet und eingekauft und würde „Friedelotte“ von hier aus nach Burgos mit hinein mitnehmen. Zum Ausruhen setzten Im Antlitz der Liebe - 52 - © Gabriele Sych wir uns auf eine Bank, aber als ein Mann mich ansprach und über unser Pilgerdasein mehr wissen wollte, brach Santiago schnell auf und wir passierten Atapuerca im Nu. Hier blieben wir nicht, obwohl wir schon über 30 km intus hatten. Stattdessen erklommen wir die Hügelkette der „Sierra de Atapuerca“. Oben auf der Hochebene fanden wir nahe bei einem Kreuz eine riesige Steinspirale vor. Jeder Pilger sucht wohl ein paar Steine und legt sie an der Spirale an, so auch Santiago. Eine Spirale ist ein uraltes Mittel zu Erzeugung eines Energiesoges. Wer sich in den Mittelpunkt dieser Spirale stellt, wird ihn spüren. Oben auf dem Berg liegt das Tal von Burgos vor uns, die Stadt noch in weiter Entfernung. Heute erledigen wir also eine Doppeletappe. Zwischen Atapuerca und Burgos liegt keine einzige Herberge auf 21 km, sondern der Hinterhof von Burgos, kleine, ungepflegte Orte ohne Brunnen. In CardeñuelaRiopico machten wir an einer Bar halt, wir leisteten uns ein kaltes Getränk in der Nachmittags-Hitze. Und wie in Deutschland saßen die Männer in der Kneipe und schimpften mit ohrenbetäubendem Lärm. Wir konnten auf der Terrasse jedes Wort verstehen: sie schimpften auf die Ausländer, vor allem die Migranten aus Lateinamerika, die ihnen die Arbeitsplätze wegnehmen und die Mieten verteuern würden. Ja, Ihr lieben Spanier, da habt Ihr nun über Jahrhunderte deren Länder unterworfen und leergeplündert, sie ausgenommen und Euch deren Gold angeeignet und unendlich viele Menschen sinnlos ermordet. Jetzt sind sie arm und kommen zu Euch, das hat auch etwas von Gottes Gerechtigkeit. Zum Teilen seid Ihr aufgefordert, denke ich, zur Barmherzigkeit…vielleicht sogar noch mehr zur Sühne, zur Wiedergutmachung, oder? An einer Wegkreuzung gab es zwei Wegalternativen. Wir entschieden uns gegen die Landstraße und passierten daraufhin auf einen steinigen Weg entlang die Baustelle des Flughafens von Burgos. Teilweise erkannten wir nur durch die in den Bauzaun gesteckten Kreuze, dass wir noch auf dem richtigen Weg sind. Am Ortseingang von Burgos wurde es nicht besser: eine weite Strecke ging es an der stark frequentierten, vierspurigen Einfallsstraße entlang, bis wir sogar diese und eine Autobahnauffahrt überqueren mussten. Dann folgte Industriegebiet und graue Vorstadt. Keine so tolle Visitenkarte, Burgos! Dein Eingang ist für den Weg eine Schande, so empfanden wir es! Unser Unmut gab uns jedoch neue Kraft, doch sie entzweite uns auch. Durch ein Missverständnis beim Brotkaufen setzte Santiago sich plötzlich ab und ich fand ihn nicht mehr. Was machte ich jetzt? Weiter zur Herberge, ja, da würde ich ihn wieder finden! Plötzlich verschwanden auch die Pfeile von den Straßenpfählen, jetzt wurde es haarig. Ich hielt mich weiter in Richtung „Centro“. An einer Ecke fragte ich einen Mann nach der Pilgerherberge. Er begann mir, mit ratterndem Spanisch den Weg zu erklären. Mein Hirn kam dem nicht hinterher, ich verstand nix, nicht einmal Bahnhof. Doch da sah ich plötzlich aus den Augenwinkeln, Santiago an uns vorbeilaufen: „Momento, Im Antlitz der Liebe - 53 - © Gabriele Sych otra vez con el!“ Rettung im richtigen Zeitpunkt: Santiago verstand den Mann natürlich und wir fragten uns Stück für Stück weiter, bis wir uns – wieder einmal kreiselnd wie in Pamplona - auf der Plaza Mayor wieder fanden. Unsere Desorientierung war uns wohl deutlich anzusehen: Ein Deutscher sprach uns an und machte uns klar, dass das nächste freie Herbergsbett noch ca. 2 km ortsauswärts lag, die winzige Herberge im Stadtzentrum, die man uns beschrieben hatte, sei immer schon 5 Minuten nach ihrer Öffnung belegt. Als er mein entsetztes Gesicht sah, bot er mir an, meinen Rucksack bis dorthin zu tragen. Er war in Burgos „gestrandet“. Von Burgos aus wollte er seinen Camino vom letzten Jahr fortsetzten, aber seine EC-Karte war vom Geldautomaten „gefressen“ worden. Am Wochenende war einfach nichts mehr zu machen. So musste er bis Montag früh warten. Erst um 21.30 Uhr erreichten wir die Herberge, eine Art Baracke in einem großen Park namens El Parral. Der Herbergsvater fand unser Verhalten gefährlich, so lange in den Abend hinein zu laufen und schimpfte mit Santiago. Hornillos del Camino (20 km) / 3.09.2007 Nach der Megaetappe vom Vortag und den Erlebnissen in der Kathedrale Santa Maria de Burgos (siehe 1.5.10) ließen wir es an diesem Tag langsam angehen. Wir liefen den Weg zur Herberge zurück und frühstückten nochmals im Park. Der Weg heraus aus Burgos war wesentlich besser zu laufen als der Weg hinein. Wir ließen die große Stadt hinter uns; und schon waren wir wieder von gelben Feldern umgeben, ein Stück Landstraße, dann Feldwege. Nach Burgos beginnt so richtig die Meseta, von der man sagt: Nueve meses de invierno, trés meses de infierno20... Felder, so weit das Auge reicht. Kaum ein Baum, kaum ein Strauch, 20 Neun Monate Winter, drei Monate (Hitze-)Hölle Im Antlitz der Liebe - 54 - langezogen kurviger © Gabriele Sych Weg, Anhöhen mit etwas Brise … … flirrende Luft, Hitze …in den neuen Tälern, steinige Wege… …ein weiter, weiter Himmel, …lose Wolkenwege… …distanter Horizont… …Geist entspannt… …Leere… …der Weg lief uns …die Erde glitt unter uns hinweg … …ein Zustand der Hingabe war erreicht. Kein Widerstand … kein Wille… ...die Asaña des Vortages hatte alles aufgebraucht. Hagase tu voluntad en la tierra como en el cielo ... Hagase tu voluntad en la tierra como en el cielo ... Im Antlitz der Liebe - 55 - © Gabriele Sych Hagase tu voluntad en la tierra como en el cielo!21 Kein Gedanke ans Anhalten…wie auch… …kein wo, wie, was, wann… Camino – caminar – caminante - caminando22 sonst nichts... In Hornillos de Camino liefen wir erst an der Herberge vorbei, Pilger saßen entspannt an den Tischen eines Cafés, manche schon beim Wein, schrieben in ihre Büchlein oder Ansichtskarten oder lasen, plauschten. So hatte ich mir das Pilgern vorher auch vorgestellt. 20 bis 25 km am Tag pilgern, danach entspannen. Offensichtlich bin ich auf einem anderen Weg: Hagase Tu voluntad, en la tierra como en el cielo. Wir trafen meinen Rucksackträger vom Vortag wieder. Er suchte Anschluss bei uns und fand ihn nicht. Wir waren nach diesem Tag nicht in der Lage dazu, unser innerer Prozess war dominanter, die Flut der Tränen war abgeflossen, die Meseta brachte unserem Geist die Ebbe. Leben ist. Punkt. Die Herberge in Hornillos war schon voll…eine kurz angebundene Hospitalera brachte uns im Hinterzimmer der Bürgermeisterei unter…die Duschen waren schon kalt… ich rutschte in der Dusche aus…es machte keinen Unterschied…Gleichmut. Die Küche konnte man vergessen, Brot … Wasser … eine stille Aussicht an der Kirche ins weite Land, bis die Sonne ging … Blicke … Santiago hörte Salsa … wenige Worte …frühe Nachtruhe. Fromista (46 km) /4.09.2007 21 Dein Wille geschehe auf der Erde wie im Himmel 22 Weg – laufen – Laufender - laufend Im Antlitz der Liebe - 56 - © Gabriele Sych Frühes Fortschreiten am nächsten Tag. Es geht durch eine weite, weite Fläche. An einem Berg liegt eine kleine Herberge mitten in der Landschaft – Sanbol. Diese Einsamkeit wäre gestern Abend auch passend für uns gewesen. Weite vor uns, kein Ort zu sehen. Eine Stunde später steht ein Schild am Weg: Hontanas 0,5 km. Ich sehe keinen Ort, doch plötzlich öffnet sich vor uns eine weiche Mulde, in die sich der Ort Hontanas schmiegt, nur die Kirchturmspitze lugt ein wenig hervor. Ein steiler Abstieg, kleine Häuschen, enge Gassen. Wir suchen einen Laden für unser Frühstück, es gibt nur Bars zum Frühstücken, nichts für uns, also weiter. Ich liebe es, solche ursprünglichen, in sich harmonischen Orte zu durchqueren, wie eine Welt, die neben unserer Welt existiert, sie gaben mir Kraft. So war Frühstück auch hier nicht unbedingt nötig. Hügel folgten auf Täler, meine ecuadorianische Lokomotive zog und zog voran. Zurück auf der Landstraße passierten wir das alte Kloster St. Anton, danach ging es bergauf nach Castrojeriz. 21 km seit Hornillos, für viele eine ganze Etappe, für uns lediglich die Frühstückspause. In einem kleinen Laden bekamen wir knuspriges Ciabatta und Käse, Schinken, einen Apfel, am Brunnen frisches Wasser. Auf dem baumbestandenen Platz finden wir einen Absatz, auf dem wir uns ausbreiten, frühstückend die Beine baumeln lassen können. Beim Herausgehen aus Castrojeriz durchquerten wir eine enge Gasse mit einem unfreundlich-kalten Luftzug, wir laufen an der Rückseite einer Kirche vorbei. Da sahen wir unerwartet: eines der Fenster ist Im Antlitz der Liebe - 57 - © Gabriele Sych ein umgekehrtes Pentagramm23, keine Ahnung, warum jemand das in eine Kirche baut, hier herrscht keine gnadenvolle Atmosphäre, es ist, im Gegenteil, unheimlich und abweisend… Schnell weiter… Nach Castrojeriz folgte ein gnadenlos steiler Anstieg auf einen Tafelberg, den ich konsequent voranschreitend und ohne Pause bis zum Gipfel durchhielt. Mir kam dieser Berg vor wie eine Mauer, mit dem sich der Rest des Landes vor der dunklen Energie aus Castrojeriz schützte. Das wir hier nicht blieben, das war für mich ein Segen. Doch Castrojeriz hatte seine Wirkung getan. Santiago eröffnete mir, er vermisse sein altes Leben, er wollte es wieder aufnehmen. Rannte er deswegen so? Wir standen vor unserer Trennung. Innerlich zerbrach ich… das kam so unerwartet, nachdem er mir fast zwei Monate vorher das „Gabriele y Santiago por siempre“ versprochen hatte. Ich schlug ihm kraftlos vor, ich würde warten und er weiterlaufen, dann wäre auch die äußere Trennung einfach, weil er ja sowieso schneller war, da waren wir kurz vor dem Templerhospital San Nicolás am Río Pisuerga. Doch das wollte er auch nicht. Auf die Frage, was er wollte, sagte er: „Ich will, dass wir trotzdem zusammen bis Fátima laufen, ich will mit Dir beten, ich will, dass Du mir weiter erklärst, was das für Pflanzen am Weg sind.“ Eine Busreisegruppe hatte das Templerhospital mit Beschlag belegt, bot jedoch Kaffee für die vorbeilaufenden Pilger an. Ein Kaffee… zum Festhalten…eine Pause auch in einer Bar in Itero de la Vega… Trennen sich die Wege ? Wie betäubt lief ich weiter, ich konnte es nicht fassen. Auf dem Camino mit Santiago, was ich mir schon so lange gewünscht hatte, und doch allein. In Boadilla del Camino pausierten wir im Grünen, es war sehr windig an diesem Platz, dann schenkte uns die letzte Strecke nach Fromista einen frischen Treidelweg am Canal de Castilla. Kurz vor Frómista, an einer Schleuse, machten wir Fotos, Santiago am unteren Schleusentor, ich am oberen Schleusentor. Da ließ sich eine schneeweiße Taube bei mir nieder, nur einige 23 Das kannte ich als Symbol des gehörnten Satans. Im Antlitz der Liebe - 58 - © Gabriele Sych Schritte entfernt. Der Tröster war gekommen…Der Heilige Geist hatte sich bei mir eingefunden! Danke! In Frómista kauften wir im Supermarkt Tomaten, Brot und Käse aus Burgos, wir hatten Appetit auf etwas Frisches. In der Herberge bekamen wir im letzten Raum noch ein Bett. Dort trafen wir auch La Barceloneta wieder, auf einem Bett liegend. Ihre Füße waren weiterhin mit Blasen übersät. Gut, dass wir uns für Tomatensalat entschieden hatten, es gab keine Küche, nur einen Speisesaal. Nach dem Abendbrot verschwand Santiago plötzlich. Eine Journalistin hatte ihn in ein Café eingeladen und zum Camino interviewt. Und dann – wollte ich nur noch schlafen, mochte die Welt wollen, was sie wollte – ohne mich. Cárrion de los Condes (21 km) / 5.09.2007 An diesem Tag wünschte ich mir seit dem Loslaufen - es war ein richtig frisch-kalter Morgen - offene Kirchen. Ich war Jesu dringend bedürftig, die Casa del Nuestro Señor sollte für mich und mein Herz geöffnet sein. Und es geschah: in Vilarmentero de Campos kam sogar eine alte Frau winkend auf uns zu und fragte uns, ob sie uns die Kirche aufschließen sollte. Sie zeigte uns jedes Detail und erklärte jeden Heiligen. Sie war stolz auf „ihre“ Kirche und wir waren sehr gern dort zu Gast. So kehrten wir in jeder der vier Kirchen unterwegs ein und ich schüttete mein Herz aus, wollte überhaupt Luft bekommen. Ich betete für eine Antwort, was ich jetzt tun sollte. Zurückbleiben, allein einen geruhsamen Camino laufen? Doch alles, was ich wahrnahm, deutete auf einen gemeinsamen weiteren Camino. Geh mit ihm weiter! In Villalcázar de Sirga trohnte eine gewaltige, romanische Kirche aus hellen Steinquadern über dem Städtchen, ebenso gewaltig war das von 5 Bögen umkränzte Kirchportal, über das die Jungfrau, Engel und Heilige wachten. An der Seitenwand taucht eine beeindruckende, vielfarbige Rosette den Innenraum in buntes Licht. Die Atmosphäre innen war irgendwie weiß, leicht, ich fühlte mich wie an meinem Scheitelpunkt angehoben. Der Schmerz in meinem Herzen versiegte langsam. Erst fühlte ich mich leer, leer, leer, wie ausgegossen. Dann trat, floss dieses weiße Gefühl in mein Herz und breitete sich aus. Das muss Maria, La Immaculata, die Reine, Weiße gewesen sein. Dios te salve Maria, llena eres de gracia, El Señor es contigo, Bendita Tú eres entre todos los mujeres Y bendito es el fruto e Tú vientre Jesús Santa Maria, madre de Dios, ruega por nosotros, hijos y hijas de Dios, Ahora y en la hora de nuestra victoria, Im Antlitz der Liebe - 59 - © Gabriele Sych Sobre el pecado, la enfermedad y la muerte.24 In der Kirche kam eine andere deutsche Pilgerin auf uns zu und fragte: „Spürt Ihr hier etwas? Man hat mir gesagt, diese Kirche soll eine ganz besondere Atmosphäre haben. Aber ich merke gar nichts!“ Santiago pflichtete ihr bei, er spürte nichts Besonderes. Ich erzählte von meinem Erleben des Weißen. Erst zurück in Deutschland erfuhr ich, dass die Kirche Santa María la Blanca, die Weiße, heißt. Am Vortag die weiße Taube, und nun María la Blanca, der Camino aktivierte alle seine Protagonisten für mich, um mich zu trösten und mir den Weg zu erleichtern. Psalm 94 (Lutherbibel 1984) 19 Ich hatte viel Kummer in meinem Herzen, aber deine Tröstungen erquickten meine Seele. Psalm 147 (Lutherbibel 1984) 3 Er heilt, die zerbrochenen Herzens sind, und verbindet ihre Wunden. Mit Blick auf die Kirche sitzt ein eiserner Pilger in traditioneller Kluft an einem Tisch auf dem Kirchvorplatz. Wir setzten uns ein wenig zu ihm. Der Weg führte auf einem Sendra an der Straße entlang, das Land platt, Stoppelfelder auf beiden Seiten der Straße, im Norden Berge in der Distanz. Auf einem großen Straßenschild mal wieder eine Zahl: 463 km bis Santiago, schon wieder bald 100 km seit Viloria geschafft. An diesem Tag erlebte ich schon früh die Einkehr, in Carrión de los Condes, eine sehr große, moderne parroquiale Herberge. Ich sah viele alte Männer dort. Na, das würde in der Nacht einen Chor der Schnarchbarritone geben! Wir suchten ein Bett auf der entgegengesetzten Seite des großen Schlafsaales. Im kleinen Gärtchen hinter der Herberge hängten wir unsere Wäsche auf, schauen uns das Städtchen an, verbrachten einen sanften, stillen Nachmittag im Gras unter schattenspendenden Bäumen im Park am Río Carrión, der das sonst so trockene Land hier in eine grüne Oase verwandelte. Was konnten wir jetzt viel sagen? Wir gönnten uns – nach all der Strecke - einmal ein Eis. In einem Sportgeschäft kaufte ich mir neue Socken, da ich die dicken Socken zurückgelassen hatte, die immer nur zu noch mehr Blasen geführt hatten. Nur dünne Baumwollsocken schonten meine Füße. Ein kaltes Abendmahl – wie in Fromista, da es nur eine Mikrowelle in der Küche gibt, die wollen wir nicht benutzen. Tomaten, Käse, Oliven, Brot – mediterrane Kost. 24 Ave Maria auf Spanisch, so wie Santiago es mir beigebracht hatte Im Antlitz der Liebe - 60 - © Gabriele Sych Beim Pilgergottesdienst in der St. Maria del Camino hatte ich den Eindruck, dass der Pfarrer betrunken, zumindest einigermaßen angesäuselt war. Er erzählte uns in der Predigt eine Geschichte von Martin Luthers Mutter. Auf die Frage hin, ob sie die evangelische oder die katholische Kirche vorziehe, sollte sie ihm gesagt haben: „Wenn du das Volk retten willst, dann wähle die evangelische Kirche, wenn du deine Seele retten willst, dann wähle die katholische Kirche.“ Den in der Herberge angekündigten Pilgersegen verpeilte der Padre völlig, er ging einfach nach der Messe. Santiago war enttäuscht, doch ich nahm spontan beide seiner Hände in meine und sprach das erste Mal zu ihm den (wie ich heute weiß aaronitischen) Segen: „Der Herr segne und behüte dich, der HERR lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig, der HERR hebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden.“ Das – half uns beiden. Übrigens: das angekündigte, nächtliche Konzert fand statt – mehrstimmig, wenn auch unkoordiniert, die Akustik des hohen Raumes hat ihm zusätzlich Raum gegeben. Ich hatte mir – wie überall angeraten – Ohrstöpsel mitgenommen, sie jedoch nicht gebraucht. Wie gut, wenn der Pilger nachts richtig müde ist, so oder so schläft. Sahagún (40 km) / 6.09.2007 Noch im Morgengrauen brachen wir auf und überquerten nun auf der massiven, alten romanischen Brücke den Rio Carrión, passierten ein riesiges, altes Kloster. Die Stadt war nicht sehr groß, die sakralen Bauten, zwei Klöster und drei Kirchen, wirken überdimensioniert. Nur kurz währte der Streifen grüner Vegetation, dann wurde die Landschaft wieder trocken und gelb und ocker, ein steiniger Weg führte schnurstracks in die Weite, nur ein paar Büsche mal am Wegesrand, etwas weiter weg sieht man die Autobahn und den Strom der Fahrzeuge. Wir kamen voran, es gibt nichts außer einen Fuß vor den anderen zu setzen, 15 km lang. Der Himmel – hoch und weit. Irgendwann taucht in der Ferne ein Kirchturm auf, Calzadilla de la Cuesta, ein paar flache Häuser, eine Pause und dann waren wir schon durch. Unsere Ankunft in Sahagún war geprägt von einem weiteren heißen Tag in der Meseta, einem Tag der Weizenfelder: durch Ledigos, Terradillos de los Templarios, Moratinos, San Nicolás del Real Camino. Die Orte verschmelzen mit der Landschaft. Flache, lehmfarbene Häuser, gelb, beige, orange, ocker, rotbraun, braun, graugrün, oliv, das ist die vorherrschende Farbpalette zu dieser Jahreszeit. Eine lang gestreckte Landstraße, eingefasst von Ginsterbüschen, führte auf Sahagún zu, die Silos und Türme Im Antlitz der Liebe - 61 - © Gabriele Sych schon in der Weite zu sehen. Heute würden wir den Zettel mit dem Herbergsverzeichnis wenden können, die letzte Zeile der ersten Seite war erreicht. Kurz vor Sahagún entfernte sich der Camino von der Landstraße und machte in einem weiten Bogen einen großen Umweg zur Ermita de la Virgen del Puente, ein zerfallenes, kleines Kapellchen an einer alten Brücke, geschlossen. Zwei, drei Bäume, ein paar Bänke. Mir taten mir die Füße von dem steinigen Weg und dem Asphalt der Landstraße so weh, dass ich mich vor der kleinen Kapelle auf die blanke Erde legte und meine Beine und Füße auf eine Bank, um sie etwas von dem Schmerz und der Schwere zu entlasten. Das Maß meiner Blasen war an einem Höhepunkt angekommen. Jedes Wiederanlaufen war geprägt vom Schmerz und dem Versuch, die Blasen sich im Stiefel wieder zurechtschieben zu lassen, damit der Schmerz etwas nachlässt. Irgendwie mochte ich gar nicht mehr anhalten, so wie „La Barceloneta“ es beschrieben hatte, um das nicht wieder durchmachen zu müssen, aber manchmal ging es nicht anders. Der Schmerz meiner Füße half mir jedoch, einen anderen Schmerz auszuleben. Kurz vor Sahagún sahen wir Zettel, dass auch im Kloster Pilger aufgenommen würden. Und so ließen wir die Albergue Municipal rechts liegen und suchten das Kloster. An der Klostertür empfing uns Pilar, eine Hospitalera aus Madrid. Als sie erfuhr, dass ich Deutsche sei, gab sie mir gleich die Hausordnung und die Messe-Zeiten zur Übersetzung und übertrug mir die Aufgabe, am nächsten Morgen Kaffee für alle zu kochen. Irgendwo las ich mal diese spanischen Camino-Maximen: ♥ "Peregrino, deja lo que puedas; toma lo que necesites" ”Pilger, lass das, was du kannst; und nimm (nur), was du brauchst” ♥ "El turista exige, el peregrino agradece" ”Der Tourist fordert, der Pilger dankt“ Diese Maxime kann man sich auch für den Rest des Lebens merken, oder? Die Herberge im Kloster ist wunderhübsch mit einem lauschigen Innenhof der Ruhe und des Friedens, ein kleine, symmetrische Gartenanlage mit einem kleinen Springbrunnen in der Mitte. Ich legte mich erstmal hin und ließ Santiago allein für das Abendessen einkaufen, denn ich hatte gar keine Kraft mehr und meinen Füßen wollte ich auch keinen Meter mehr zumuten. Santiago bereitete Salat, ich wusch die Wäsche und hängte sie auf. Gleich am ersten Tag hatten die neuen, weißen Socken den gelbgrünen Ton meiner Stiefel angenommen (richtig weiß sind sie bis heute nicht mehr geworden). Pilar setzte sich beim Abendessen zu uns und berichtete lange über ihre eigenen Erfahrungen auf dem Camino. Sie war so dankbar für ihren Camino, dass sie immer wieder als Hospitalera auf dem Camino arbeitete. Sie sagte: Der Camino gibt einem so viel, dass man dem Camino unbedingt wieder etwas zurückgeben will. Und so Im Antlitz der Liebe - 62 - © Gabriele Sych erfuhren wir, dass es in Galicien viel regnet (für uns nicht!). Sie warnte uns vor dem Cebreiro, den sie nur mit großen Anstrengungen erstiegen hatte. Am späteren Abend besuchten wir die Vispera der Klosterkirche der schweigenden Benediktinerinnen, die sich nur über Klopfzeichen verständigten. Der Hochaltar der Kirche war atemberaubend, vielgestaltig, üppig, geschwungen – ein Traum – ein riesiger Kontrast nach all der optischen Kargheit der letzten Tage. Sahagún war mal ein sehr bedeutendes Kloster gewesen. Warum gingen wir jeden Abend in die Kirche? Es war einfach eine Sammlung am Ende des Tages, eine Reinigung des Inneren, ein Einkehren, ebenso notwendig wie die Dusche für die Reinigung vom Straßenstaub, eine Nahrung für die Seele, ebenso so dringlich nährend wie das Abendessen. Wie ein Kind war ich, das abends in die Arme seiner Eltern heimkam. Ich war so klein geworden. Ich brauchte Geborgenheit und Aufnahme, auch Gutenachtlieder. Kann es sich jemand vorstellen, nachvollziehen, der es nicht gemacht hat, ob nun als Zuhausegebliebener oder als Pilger ohne diese Einkehr? Am Schluss der Vispera gab uns die Klostervorsteherin persönlich unseren Pilgersegen, eine sehr warmherzige Frau, jünger als alle anderen Nonnen, die wir dort gesehen hatten. Es ist schön, in die Augen dieser Frauen zu schauen. Was für eine Kraftquelle nach einem langen und heißen Pilgertag! Danke dafür! Mansilla de las Mulas (30 km) / 7.09.2007 Am nächsten Morgen wurden wir klösterlich mit gregorianischen Gesängen von Pilar geweckt. Ich bediente, wie versprochen, die Kaffeemaschine und wir bekamen in der Dämmerung des Klosterinnenhofes ein Frühstück kredenzt. Das ist ziemlich unüblich in den Herbergen, aber wenn, dann gibt es das in kirchlichen Herbergen. Dankbar machten wir uns wieder auf den Weg. Zwei Engel sollten uns an diesem Tag begegnen. Über den Río Céa führten uns die Pfeile zur Landstraße, wieder ein Tag des Sendra, extra für die Pilger angelegten Schotterweges direkt neben der Landstraße. Um unsere Füße zu schonen, liefen wir trotzdem oft auf dem Asphalt, den irgendwann drückten die Steine auch durch eine dicke Sohle. Neu gepflanzte Bäume mit einem Bewässerungssystem schenkten dem Pilger unterwegs ein wenig Schatten. Ein paar Jahre noch, und eine Allee wird gewachsen sein. Mittags kamen wir nach 18 Kilometern in El Burgo Ranero an, die Kirche war offen, eine Körper und Seele erfrischende Pause in Aussicht. Doch von Ruhe keine Spur. Eine ältere Frau und ein Mann, die die offene Kirche beaufsichtigten, waren in einen heftigen Disput verwickelt, laut und schnell, das verstand Im Antlitz der Liebe - 63 - © Gabriele Sych ich schon nicht mehr. Ich nahm ihr lautstarkes Gespräch, meditationstrainiert, als Atem der Erde an und gehe in meinen Rosario, das brauchte ich mehr als alles andere. Santiago klärte mich später über den Inhalt ihres Wortschwalls auf, es war kein Streit: Sie hätten über einen Mann diskutiert, der nach ein paar Jahren auswärts wieder in die Heimat zurückgekehrt sei und sich nun in ihren Augen unmöglich aufführen würde und so zum Stein des Anstoßes wurde. Leider fanden wir in El Burgo Ranero den Brunnen nicht, was sich als fatal herausstellte. Die weitere Strecke nach Reliegos wurde lang, lang und länger. Keine andere Wegstrecke hat sich so hingezogen, es war einfach nichts zu sehen außer Feldern, einzelnen Gehöften, wir sahen nicht wie sonst am Horizont die Anzeichen des nächsten Ortes, ein Kirchturm, ein Silo, nichts, 13 km sollten es sein. Unser Wasser ging zur Neige, was die Hitze aber nicht bemerkte und uns trotzdem weiter austrocknete. Felder – Durst – Felder – Durst Hitze – Staub Wo bleibt Reliegos? Der nächste Brunnen? WASSER! Mann, ey!!! Nix… …nada… …desierto… …da sehen wir in der Entfernung ein weißes Wohnmobil. Tatsächlich, es ist „Heinrich“, der dort Ausschau nach „Friedelotte“ hält. Gott sei Dank! Wir baten ihn um etwas Wasser. „Heinrich“ schenkt uns einen Liter, sogar frisch gekühlt aus dem Kühlschrank. GOTT SEI DANK!! Und: was Im Antlitz der Liebe - 64 - © Gabriele Sych für ein Luxus! Sendra laufen, das verträgt sich gut mit Beten. Beten verträgt sich gut mit Danken. Der Rest der Strecke bis Reliegos verging wieder im Rosario. Am Eingang nach Reliegos sahen wir einige in die Erde eingelassene, grasbewachsene Gebäude. Lagerstätten? Hatte man Reliegos deshalb nicht gesehen, die Hügelchen die Häuser verdeckt hatten? Der Platz von Reliegos bot Schatten unter Bäumen und einen Brunnen, den hatten wir hier zum Glück gleich gefunden, wenn auch eine Schar Wespen ihn umsummte. Meine Blasen mussten einfach an die Luft und ich hielt sie lange unter das kalte Wasser, besonders die inzwischen Cherry-Tomaten-große Burgosblase an meinem linken Hacken. Ein spanisches Pärchen kam währenddessen vorbei und sie sprach mich auf meine Blase an: Die sähe ja furchtbar aus und ob sie sie verarzten dürfte. Das war mir in der Tat recht! Schnell entschlossen ging sie in die Herberge zurück und holt Nadel, Faden, Kompresse und Desinfektionsmittel. Geschickt fädelte sie einen Faden in die Nadel, desinfizierte alles, durchstach die Blase an zwei Stellen und ließ den Faden in der Blase zurück. Dann drückte sie mit der Kompresse auf meine Blase und fragte: „Todo bien? Duele?”25 Gequält - das tat fiese weh! - antworte ich: „Si, pero es una muy buena idea!“26 Als alle Flüssigkeit aus der Blase raus war, kam tatsächlich keine mehr zurück, der Druckschmerz beim Loslaufen verschwand. Der Faden wirkte wie eine Drainage, es konnte sich nichts mehr sammeln. GEMERKT haben wir uns das! Blasen hatten bei uns keine Zukunft mehr. Danke für diese praktische Art von Heilung, diesen Camino-Engel aus Barcelona! Ihr Mann hieß übrigens auch Santiago. Wir haben beide noch einmal in León getroffen, wo sie ihre diesjährige Etappe des Caminos beendeten. Von ihnen erfuhren wir, dass die Duschen im Refugio in Reliegos kalt waren, da sparten wir uns das Einkehren und die Euros, um uns wieder einmal einen Schlafplatz im Freien zu suchen. Zunächst blieben wir auf einem Rastplatz zwischen Reliegos und Mansilla de Mulas. Dort war eine ausführliche Beschreibung des Cruz de Ferro und seiner Bedeutung für den Pilger aufgestellt. Es gab Bäume, eine schützende Hecke, Steintische und Stühle und eine Holzrampe, das sah wirklich gut aus für uns als Nachtlager. Doch als auch nach 20 Uhr der Baulärm hinter der Hecke des Rastplatzes nicht aufhörte, liefen wir weiter und fanden unter Bäumen auf einer Wiese nahe der Straße – ca. 1 km vor Mansilla - ein geschütztes Plätzchen für uns. Wieder baten wir um den Schutz des Erzengels Michael. Wenn wir uns in seinem Schutz befanden, nahm uns keiner wahr, das haben wir immer wieder bemerkt. Die Pilger liefen vorbei, sahen uns aber nicht. 25 „Alles gut? Tut es weh“ 26 „Ja, aber es ist eine sehr gute Idee!“ Im Antlitz der Liebe - 65 - © Gabriele Sych In der dunstigen und feuchten Morgendämmerung legte sich der Tau auf uns, leider auch auf unsere Stiefel. So wird man schlauer: Beim nächsten Mal würden die Stiefel im Schlafsackabteil des Rucksackes übernachten. León (20 km) / 8.09.2007 Frisch und früh war der Morgen, ein gemütliches Café in Mansilla schenkte etwas Luxus nach der Außenübernachtung, heißer Kaffee und ein fettiges, schokoladiges Pastel schmeichelten unserer Seele. In Mansilla hatte es am Abend vorher eine große Fiesta gegeben, das war allenthalben zu sehen. Wir ließen die dicken Stadtmauern hinter uns, über die mittelalterliche Brücke überquerten wir den Río Esla und passierten Villamoros, Puente de Vilarente und Arcahueja mit einem steilen Aufstieg. Auch nach León hinein muss man eine Weile durch ein Industriegebiet, vorbei an vielen Autohändlern und durch die Stadt, aber es ist meilenweit besser als in Burgos, auch wenn es auf dem Weg vor kurzem gebrannt haben musste. Aufgrund der Kurzetappe von lächerlichen 20 km kamen wir sehr früh in León an. Die Herberge war wieder in einem Benediktinerinnen-Kloster untergebracht, diesmal riesig, über 200 Betten. Es war unheimlich eng zwischen den Betten. Trotzdem schmissen einige Pilger rücksichtslos ihre Rucksäcke in den Weg, so dass es für alle nur noch enger wurde. Zunächst war Wäschewaschen angesagt, eine Übernachtung draußen macht klebrig und muffig. Im Bad traf ich meine „Krankenschwester“ aus Reliegos wieder. Sie erzählte mir, dass sie Reikimeisterin ist, aber noch nicht die Lehrerausbildung hat. Ich erklärte ihr den „Marketing-Trick“, mit dem man ihr weiter Geld aus der Tasche ziehen wollte und dass sie im Grunde schon alles konnte. So hat unsere Begegnung – denke ich uns beiden etwas gebracht. In Flip-Flops, unseren Zweitschuhen, ging es auf zur Kathedrale von León. Auf dem Vorplatz gab es etwas zu Essen, Erbsensuppe aus dem Glas mit Aussicht auf die Kathedrale. Und was für eine wunderschöne Kirche das ist! Schon kurz nach dem Betreten der Kirche begann in einer Seitenkapelle der Gottesdienst. Und an diesem Tag verstand ich die spanische Lesung und Predigt ganz wunderbar deutlich und ohne jegliches Problem. Die Lesung war besonders für mich und meine Situation passend, denn es ging um die Nachfolge der Apostel, den Text aus Lukas 14, der auch auf der 1. Text-Seite dieses Buches abgedruckt ist: Alles aufgeben für die Nachfolge Jesu Christi. Das war die Erweckungsnachricht für mich, der Heilige Geist hatte mir das Verstehen ermöglicht; offensichtlich erleichtert er nicht nur das Reden in fremden Zungen, sondern auch das Verstehen dieser. Direkt weiter ging es in dem brechend vollen Hauptschiff der Kathedrale mit einem Rosario, der anlässlich einer Novena, einer neuntägigen Gebetsreihe, gesprochen wurde, und dieser Rosario ging dann direkt in die nächste Messe über, so dass wir die Kathedrale erst nach ca. 3 Stunden wieder verließen. Im Antlitz der Liebe - 66 - © Gabriele Sych Wir gaben ein wenig den Touristen, kauften uns neue Plastikregenponchos für 1 Euro in einem ChinaBazar für Galizien, Pilars Berichten folgend. An einem Fotogeschäft sahen wir im Schaufenster eine große Sammlung unglaublich hässlicher Kinderbilder. Eigentlich sind ja alle Kinder schön, aber was die dort hingekriegt hatten! Da würde ich nicht hingehen mit meinem Kind! Am Abend besuchten wir die Vispera des Klosters. Dies hier war ganz anders als in Sahagún. Zur Überbrückung der Wartezeit hatten die Hospitaleras die Pilger aufgefordert, nationenweise Lieder zu singen. Zuerst war eine Gruppe von polnischen Radpilgern an der Reihe, dann forderten sie die Deutschen auf zu singen. Wir mussten uns auf ein Lied einigen und eine Frau schlug vor: „Viel Glück und viel Segen auf all deinen Wegen“ zu singen, das wäre zwar eigentlich ein Geburtstagslied, aber es passte auch zu unserer Situation „auf all unseren Wegen“ „viel Glück und viel Segen“ zu haben. Anschließend holte uns eine Benediktinerin, eine entschiedene und ganz patente Nonne, ab und übte mit uns ein wenig für die Gesänge der Vispera. Mit den Worten „más o menos“ (na ja, mehr oder weniger!) brach sie irgendwann diese Übung ab, die Frau hatte Humor. Der Spruch ist noch heute ein geflügeltes Wort bei uns. Warum wir jedoch das Geburtstagslied gesungen haben, erfuhren wir in der Vispera. Es war der Geburtstag der Santa Maria Virgen und wir hatten ihr mit dem Lied unser Geburtstagsständchen gesungen. In diesem Gottesdienst trafen wir auch die verzückte Brasilianerin mit der Riesenblase aus Belorado wieder. Sie quetschte sich ganz zum Schluss neben mich in die Bank und verfledderte immer wieder suchend mein Liederheft, ohne etwas zu finden, wenn sie gerade nicht ihren piepsenden Fotoapparat benutzte, den sie der Vorsteherin sogar direkt blitzend ins Gesicht hielt. So viel Selbstversenktheit habe ich selten erlebt, ein ganz anderes Temperament als meines, das hätte ich mich alles nicht getraut. Die Vorsteherin erteilte uns abschließend den Pilgersegen. In ihr habe ich eine erleuchtete Frau gesehen, ihr inneres Leuchten, ihre zurückhaltende, beseelte Schönheit und ihre Sanftmut strahlten so weich und doch unerschütterlich aus ihrem Gesicht, aus ihren Augen, aus ihrer Haltung. Sie war sicher ein glücklicher Mensch in Gott. Danke dafür! Hospital d'Orbigo (38 km) / 9.09.2007 Im Antlitz der Liebe - 67 - © Gabriele Sych Am nächsten Morgen besuchten wir die sonntägliche Frühmesse in der Kirche San Isidro in einer dunklen, urigen Seitenkapelle, dann rief uns wieder der Camino. Pilgern ist eine Zeit ohne jegliches Wochenende, seit Burgos ist schon wieder eine Woche vergangen. Man bricht wirklich jeden Tag wieder auf und geht weiter und weiter und weiter. An diesem Tag habe ich besonders eine Ruhepause, eben Wochenende, vermisst, doch das ist auch Pilgern. Die Orte nach León sind hauptsächlich Straßendörfer, der Weg begleitet die Landstraße N 120 auf weiten Teilen. Klingende Ortsnamen, La Virgen del Camino, Valverde de la Virgen, San Miguel del Camino, Villadangos del Páramo, San Martin del Camino. An diesem Tag rief mich das erste Mal mein Sohn auf dem Handy an. Lange hatten wir uns nicht gehört! Meine Lebensgeister erwachten, na endlich! Es geht ihm gut, die Schule hat angefangen, er ist eine Klasse höher als erwartet. Santiago und ich liegen zu diesem Zeitpunkt auf einer Wiese im hohen Gras unter Bäumen, damit wir wenigstens ein wenig das Gefühl von Sonntagnachmittag bekommen. Das Sendra- und Landstraßengelaufe geht uns reichlich in die Füße. Irgendwann ging uns wieder das Wasser zur Neige, dabei waren es noch 8 km bis Hospital d’Orbigo. „Ich brauche eine Quelle“, das war mein Wandertakt. Bald tauchten am Sendra Moras auf, Brombeerbüsche. Reichhaltig gab es die dunklen, großen, reifen Beeren. Vitamin C und Feuchtigkeit, wenn auch kein Wasser, so doch ein süßer Ersatz. Die Moras halfen mir, bis Hospital d’Orbigo durchzuhalten, wo wir erst recht spät am Abend ankamen. Die zwanzigbögige römische Brücke über den Orbigo führte uns hinein in das traditionsreiche PilgerStädtchen. Die Pilgermesse war gerade zu Ende, als wir vor der Kirche eintrafen, schade! Neben der Kirche fanden wir eine der schönsten Herbergen am Camino, auch ein parroquiales Haus. Eine deutsche Gemeinschaft namens „Karl Leissner“ unterstützt dieses Haus mit und sorgte für ökologisch-hölzerne Doppelstockbetten und eine Solar-Warmwasserbereitung. Der Innenhof empfing uns mit einem zugedeckten Brunnen voll Obst und Gemüse, wo wir uns bedienen durften! Insbesondere die grünlichen Reneclauden hatten es mir angetan! Immer wieder fand ich mich dort wieder, um diese seltene Köstlichkeit, die uns Pilgern dargeboten wurde, zu naschen. Der Brunnen mit gusseisernem Zuggestell lag in einem lauschigen Innenhof mit gemütlichen, mit grünen Kletterpflanzen umwachsenen Sitzplätzen unter einer mit weißblau eingefassten Butzenscheiben verglasten Hochveranda am oberen Stockwerk. Weiße hohe Staudenblumen und liebevoll dekorierte Blumentopfe begrüßten und begleiteten duftend die Pilger, die in Grüppchen in den Abend hineinplauderten. Ein Wandgemälde mit einer Berglandschaft bedeckte eine sonst leere Wand. Wir wurden von anderen Pilgern angesprochen, die uns freundlich begrüßten, als ob sie uns kennen würden. Erst nach ein paar Momenten fiel der Groschen, Im Antlitz der Liebe - 68 - © Gabriele Sych es waren die belgischen Hospitaleros Volontarios aus Los Arcos, die sich noch eine Teiletappe des Caminos vor der Rückkehr nach Hause gegönnt hatten. Wir kochten uns aus in der Küche vorhandenen Vorräten Nudeln mit Gemüse vom Brunnen, und als wir noch hungrig waren, „Spagetti Alio y Olio“. Eine Brasilianerin mit hüftlangen Haaren ermahnte uns eindringlich, die Küche ordentlich zu verlassen, was wir längst getan hatten. Das warme Wasser der Solarduschen war leer geduscht. Während Santiago kalt duschte, kochte ich mir, nicht willens auf zumindest lauwarmes Wasser zu verzichten, einen Topf Wasser auf. Mit einer Waschschüssel und einem Plastikbecher kam ich zu meiner warmen Behelfsdusche. Noch im Dunkeln beteten wir im Garten den vierten und letzten Rosario, an diesem Tag für Giovanni, Santiagos älteren Bruder. Wir hörten das Schnauben eines Pferdes. Im Garten war ein Pferd einer Pilgerin untergebracht, wie wir hörten. Ein berittener Camino geht also auch. El Ganso (31 km) / 10.09.2007 Um 8 Uhr war die freundliche Herberge zu verlassen. Als wir um halb acht Licht im Schlafraum machten, hatte die Brasilianerin wieder schnell eine Ermahnung bereit; sie deutete auf eine Pilgerin, die noch schlief. Da auch sie um 8 Uhr raus musste, dachten wir, es wäre kein Fehler, wenn sie nun aufwachte und ließen das Licht an. Nach einem Tag mit viel Landstraße ging es an diesem Tag wieder mehr über Land, einen angenehmen, augen- wie fußschmeichelnden, natürlichen Camino. In den folgenden Dörfern Vilares de Órbigo, Santibánez de Valdeiglesias, San Justo de la Vega gab es viel Landwirtschaft, jedoch keinen Laden, Frühstück musste warten. Die Landschaft war – nach der Meseta - abwechslungsreich: Felder, Wiesen mit hohem Gras, Im Antlitz der Liebe - 69 - © Gabriele Sych Eichenwäldchen, Obstbäume und kleine Viñeros, Brüche mit leuchtend orangefarbener Erde. Anstiege waren inzwischen Routine, keinen Widerstand gab es mehr in mir, einzig das Reden stellte ich an solchen Strecken ein, um mehr Luft zu haben. An einem Kreuz auf der Passhöhe legte sich uns Astorga zu Füßen, das wir am späten Vormittag erreichen sollten. Dort hielten wir eine Art Brunch im Schatten der Kathedrale und des Gaudi-Bischofspalastes dank eines nahen Supermarktes. Kurz „besuchten“ uns zum Abschied die zwei Hospitaleros, deren Reise hier zu Ende war. Sie wollten von Astorga aus die Heimreise antreten. Die Kathedrale war für „Culto“, für das Gebet schon geschlossen. Drei Euro Eintritt war uns zu teuer, keiner ließ sich erweichen. Sehr schade auch! So ließen wir Astorga schneller hinter uns als erwartet. Die Mittagshitze setzte brütend ein, bildete eine dicke Wand, die das Fortschreiten lähmte. In Murias de Rechivaldi durchtränkten wir uns Haare und T-Shirts mit dem kalten Wasser des Pilgerbrunnens, damit die Verdunstungskälte uns das Weiterlaufen erleichterte. Der Weg führte ganz leicht aufwärts, ohne dass es uns belastete. Die Landschaft, genannt Maragatería, bot weite Aussicht über Büschen und kleinen Bäumen. Die alten Häuser und Örtchen in rötlichen Erdfarben waren weithin sichtbar. Irgendwann überholte uns die Brasilianerin mit leichtem Gepäck, ihr hinterher lief ein schwer mit Einkaufstüten und mehr bepackter junger Mann mit Rastalocken. So geht es auch! Unsere Rosarios an diesem Tag waren Santiagos Schwester Catalina gewidmet; überrascht waren wir, als wir uns dann vor dem Ortschild von St. Catalina de Somoza wieder fanden, für sie machten wir schnell ein Foto. Die Brasilianerin und ihr Adlatus blieben in St. Catalina, wir wollten noch weiter laufen, mindestens bis El Ganso, „der Ganter“. In der kleinen, lehmfarbenen Herberge von El Ganso, einem bis auf eine Cowboybar unscheinbaren kleinen Ort mit alten Häusern und viel Eingestürztem trafen wir trotz Rufens keine Menschenseele an. Auf einem Schildchen lasen wir: 8 Euro für die Übernachtung, das war nicht unsere Hutgröße. Bis Rabanal noch 7 km laufen? Nein, auch das nicht mehr heute, dafür hatte die Sonne zu sehr unsere Kräfte verbrannt. Eine weitere Nacht unterm Sternenhimmel war unsere. Das Wetter war warm und hinter El Ganso fanden wir einen bewachsenen breiten Weg zwischen zwei mit Steinmauern abgetrennten Gärten, wo wir einen geschützten Platz im weichen Gras ausmachten. Erst picknickten wir, ein paar Frauen mit großen Hunden kamen auf ihrem Abendspaziergang vorbei. Später richteten wir uns auf die Nacht ein, baten erneut um Schutz für unseren Platz. Im Dunkeln neigte sich die Kälte auf unseren Weg in einer Senke herab und ganz dicht schmiegten wir uns aneinander; wir waren jetzt schon wieder auf 1000 m Höhe, die Ausläufer der Montes de León Im Antlitz der Liebe - 70 - © Gabriele Sych nahten. Während der Nacht hörten wir oft die Hunde ganz nahe bellend an uns vorbei durch das Dorf laufen, doch sie störten und stöberten uns nicht auf. Immer wieder wachte ich auf und blickte empor. Ein Märchen war der tiefdunkle, funkelnde Sternenhimmel der Neumondnacht; seit Pamplona und dem goldenen Vollmond waren schon zwei Wochen vergangen. Immer, wenn ich die Augen aufschlug, war in tiefer Klarheit ein anderes Sternzeichen über mir, berückend und beruhigend, der ewige Kreislauf des Himmels zog sichtbar an meinen Augen vorbei und begleitete unsere Nacht mit leuchtenden Engelsaugen. So hatten sich den Menschen in der Vorzeit der Himmel und das Firmament erschlossen. Mit unseren sicheren, verdunkelten Schlafzimmern in den nachtbeleuchteten Städten verpassen wir den Zauber Seines Himmelzeltes, der ewigen Präsenz der unendlichen Größe der Schöpfung! El Acebo (26 km) Ein frisch-kalter Morgen, ein früher Aufbruch! Heute war die nächste Bergüberquerung dran, das Cruz de Ferro auf 1500m, der höchste Punkt des spanischen Jakobsweges, 500 Höhenmeter noch bergauf und dann noch mal bergab. Die ersten Kilometer auf einer weitgehend leeren Landstraße inmitten von Heidelandschaft und kleinen Baumgruppen war ein Camino zum Küssen: Stille, weite Sicht, die Bergkulisse, Lauflust pur! Wir kamen an einer riesigen Eiche vorbei, so groß wie ein Einfamilienhaus! Auf einem Zaun davor fanden wir vermeintlich die Spuren eines Pilgerschicksals in Filzstift auf Holz: „Zapatero!!! AntiChrist! Anti-Judío! Anti-Todo!“ was soviel heißt: „Zapatero!!! Anti-Christ! Anti-Jude! Anti-Alles!“ Das war schriftlich geschrieen. Zapatero ist, wie ich heute weiß, Ministerpräsident von Spanien. Erst hatte ich gedacht, das Wort Zapatero meint tatsächlich Schuster (ist das peinlich!). Und da hätte ich den Satz noch viel besser verstanden. Es ist einfach so: wenn die Schuhe nicht stimmen, versaut es einem den ganzen Weg. Die Stiefel waren unsere Wohnung für die zwei Monate, unsere Füße unser entscheidendes „Werkzeug“ des Pilgerns. Wenn die Füße ausfallen, geht es nicht weiter, wenn die Füße schmerzen, wird jeder Schritt zur Qual. Meine Stiefel hatte ich inzwischen eingepilgert, doch ich erinnerte mich noch gut an die erste Zeit in Frankreich und die ersten Abstiege. Santiago hatte anfangs keine Fußprobleme, er trug seine Tanzschuhe, die Schuhe, die er trug, als ich ihn kennen lernte! Es waren zwar halbhohe Lederschuhe, doch die Sohle war auf die Dauer nicht dick bzw. stabil genug, um den Fuß vor spitzen Steinen auf dem Weg zu schützen, daher trat ich ihm meist den ebeneren, steinloseren Weg ab, wenn wir nebeneinander wanderten. Im Antlitz der Liebe - 71 - © Gabriele Sych Rabanal ist eine Sirga, ein Ort wie eine Perlenkette. Ein Weg, links und rechts Häuser. Trotz der frühen Morgenstunde war die Kirche schon offen, wenn auch mit einem Gitter geschützt, vor dem für die Pilger einige Bänke standen. Wir beteten unseren ersten Rosario des Tages, heute für Santiago, in beschaulicher Ruhe. Im Lädchen von Rabanal erstanden wir unser Frühstück und konsumierten es gleich auf dem Steinbänkchen davor. Nachkommende Pilger, auch die Brasilianerin mit ihrem Adlatus zogen an uns vorbei. Hinter Rabanal entdeckten wir auf dem Weg eine kleine Steinstatue des heiligen Santiago, in einer Natursteinmauer eingelassen. Die Statue kannten wir schon, sie war auf einem Poster für eine Ausstellung über den Camino in Ponferrada, die sich „Yo camino“ – ich laufe - nannte. Sie war viel kleiner, als wir erwartet hatten. Hier entstand das für mich schönste Foto von dem Pilger Santiago auf dem Camino. Trotz des Aufstieges schritten wir beide an diesem Tag locker aus, die höchste Erhebung des Caminos war nicht so anstrengend wie der Weg nach Roncesvalles oder später am Cebreiro. Die Strecke kam uns kurz vor, die Kilometer schwanden schnell unter unseren Füßen. Die Frische der Höhe war ein willkommener Kontrast zur Hitze des vorangegangenen Tages. Der Ort Foncebadón war sehr beeindruckend, Paulo Coelho hatte über diesen Platz eine spannende Hundeszene geschrieben. Ein zerfallenes Dorf inmitten der Hochebene, einige Häuser zwar sichtbar bewohnt, doch auch diese nicht weniger ruiniert. Die lokale Herberge, eine mit Verpflegung, war sehr urtümlich. Ein hochgewachsener Spanier im Alternativlook und seine rührige Mutter sorgten in dem Gastraum mit Küche für die Pilger. Sie bearbeitete mit einem scharfen Messer einen großen Schinken in seinem Schneidehalter, die Im Antlitz der Liebe - 72 - © Gabriele Sych Scheiben wurden im Halbrund herausgeschnitten, um Bocadillos con Jamón27 zu reichen. Das obere Stockwerk beherbergte die Schlafplätze. So war es sicher vor vielen Jahren in den meisten Pilgerherbergen gewesen. Eine Thermoskanne mit Kaffee stand auf dem Tisch, man konnte sich bedienen und eine Spende zurücklassen. Das war für mich eine gute Pause! Gegen Mittag tauchte es vor uns auf, das Cruz de Ferro: Ein Holzmast mit einem kleinen Eisenkreuz darauf, auf einem ca. 10 m hohen Steinhaufen. Davor ein Parkplatz mit Bussen. So einfach kann man also auch hierher kommen! Der Steinhaufen war gerade belegt, der erste Unterstand dort war von einer großen Gruppe lautstarker Pilger besetzt. So setzten wir uns in den zweiten, überdachten Rastplatz ins Abseits, um uns auf das Ablegen unserer Steine einzustimmen. Wir beteten unseren zweiten Rosario des Tages. Da ich von dieser Camino-Tradition gelesen hatte, hatte ich mir einen Herzstein aus meinen letzten Urlaubstagen mit meinem Sohn mitgebracht. Trotzdem hatte ich auf dem Camino immer weiter Herzsteine gesammelt. Das machte ich schon seit Jahren, vor allem im Urlaub am Strand, ich habe eine ganze Sammlung. Irgendwann hatte sich unterwegs auch Santiago diese Angewohnheit zu Eigen gemacht und eine erkleckliche Anzahl von Herzsteinen gefunden. Das Prachtstück war ein großer dunkelockerfarbener Herzstein, über eine Hand groß, den er nun schon über zwei Tage lang in der Hand getragen hatte. Als sich der Trubel am Kreuz gelegt hatte, schritten wir gemessenen Schrittes hinauf, erst Santiago, der lange dort oben verharrte und mit viel Sorgfalt seine Herzen auslegte. Sein tief gerührtes Gesicht sah ich, als er herabstieg. Nun stieg ich hinauf, und dieser besondere Ort holte auch mich ein. Ablegen, abgeben, loslassen, hier war es dran, an Ihn alles abzugeben. Jeden einzelnen Herzstein hatte ich einer Person, einer Beziehung, einem Kreuz gewidmet. Jeden legte ich mir ans Herz und gab das Vergangene, Loszulassende, zu Vergebende in diesen Stein hinein. Mein Herz schmerzte und wurde gleichzeitig offen. Mir stiegen die Tränen in die Augen, die Kehle wurde mir eng. Noch unterdrückte ich das Weinen, ich stieg wieder hinab zu Santiago. Zusammen kehrten wir wieder zu unserem Sitzplatz zurück, setzten uns eng aneinander und dann flossen bei uns beiden die Tränen - endlich. Was raus muss, das muss raus, auch im geistig/emotionellen gibt es den Energieerhaltungssatz. Wir halten in uns fest, was wir noch nicht zugelassen und ausgedrückt haben. Erst wenn wir es dann ausdrücken, dann kann es auch gehen, uns verlassen. Hier hat Er von uns in der Form der Steine angenommen und uns zur Erleichterung, Entlastung und Lösung die Tränen 27 große Schinkenbrötchen, ähnlich wie Baguette Im Antlitz der Liebe - 73 - © Gabriele Sych geschickt. Wir lassen es geschehen, geben uns hin, dafür sind wir hier. Unser Platz ist geschützt, keiner kommt, um uns in dieser Zeit zu stören. Prediger 3 (Lutherbibel 1984): Steine wegwerfen hat seine Zeit, Steine sammeln hat seine Zeit! 1 Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: 2 geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit; 3 töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit; abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit; 4 weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit; klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit; 5 Steine wegwerfen hat seine Zeit, Steine sammeln hat seine Zeit; herzen hat seine Zeit, aufhören zu herzen hat seine Zeit; 6 suchen hat seine Zeit, verlieren hat seine Zeit; behalten hat seine Zeit, wegwerfen hat seine Zeit; 7 zerreißen hat seine Zeit, zunähen hat seine Zeit; schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit; 8 lieben hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit; Streit hat seine Zeit, Friede hat seine Zeit. Tränen sind anstrengend und machen leer. Benommen machen wir uns auf den Weg. Doch schon nach wenigen 100 Metern ist die neue, große Leichtigkeit zu spüren; und das lag nicht nur an den paar Steinen, die nun nicht mehr im Rucksack zu tragen waren, Tränen nahmen uns auch Gewicht ab, nämlich die Steine, die uns durch das Weinen vom Herzen fallen. Sie entsorgen das Salz in der Seele. Aus einem der Busse war eine Reisegruppe geklettert, die auf ihrer Busrundreise nun den Programmpunkt „Pilgern auf dem Jakobsweg“ bewältigten. Sie pilgerten vom Cruz de Ferro nach Manjarín, so ca. 2,5 km leicht bergab auf dem befestigten Seitenstreifen, von der Straße durch Ginsterbüsche getrennt. Sie trugen Halbliterfläschchen mit Wasser, Sandalen oder Freizeitsneaker. Was uns anrührte: alle trugen hübsche gelbe Schärpen und ein Namensschild. Trotzdem überholten wir sie mit unseren schweren Wanderstiefeln und Rucksäcken im Nu. Sie freuten sich sicher, echte Pilger zu sehen, fotografierten uns im Vorbeigehen. Wir jedoch waren nicht mehr zu halten. Wir spielten die ganze Zeit „Busreiseveranstalter“, die sich die verschiedensten, kostenpflichtigen Extras zu den Zielen und Aktivitäten ausdachten und mit einer Menge individueller Charaktere und Persönlichkeiten umzugehen hatten. Insbesondere Frau Schiller samt Neffen und die ewig flirtende Frau Müller sind mir in Erinnerung geblieben, wahre Busterroristen. Nie konnten sie bei der Gruppe bleiben oder das tun, was für uns praktisch und daher verabredet war. Wir lachten, bis wir uns den Bauch hielten. Auf dem Camino begegneten wir ihnen an den verschiedensten Touristenattraktionen wieder, Im Antlitz der Liebe - 74 - © Gabriele Sych besonders, wenn wir bunte Schärpen sahen. Und ja, wir schämen uns, auch auf dem Kreuzweg in Fátima überkam es uns kurzzeitig und wir mussten Frau Schiller doch noch mehrfach deutlich zurechtweisen: „So geht das nicht! Insbesondere hier nicht, das ist doch völlig ohne jede Pietät!“ Vorbei an Manjarín, vorbei an dem knallebunten Wegweiser. Es sind genau noch 222 km bis nach Santiago, 2475 km bis nach Rom, 5000 km bis nach Jerusalem und 9453 bis zum Machu Pichu in Perú: An allen diesen Orten werden wir sicher noch einmal landen! Am folgenden Anstieg konnte sich mein Andinischer Steinbock nicht mehr beherrschen. Der Pilgerweg führte in einem Halbkreis um den Berg herum, ein anderer Weg führte steil über den Gipfel. Santiago musste seinen Gipfel, den Cerezeales auf 1532 m erklimmen, den höchsten Berg hatte er für sich allein. Ich wählte die gemäßigtere Strecke. Jedem, was er braucht! Wir trafen uns auf der anderen Seite wieder, ich zufrieden, er überglücklich. Und sofort begann auch Frau Schiller wieder mit ihren Sperenzien und kichernd setzten wir Fuß vor Fuß. Vor uns breitete sich ein unglaubliches Panorama aus. Während wir durch Flechten, Ginster, duftende Gewürzkräuter und trockenes Gras schritten, konnten wir vor uns die Strecke der nächsten 3 Tage sehen, und die umliegenden Gipfel der Montes de León. Das liebliche Bierzo lag nun vor uns. Wir hatten von diesem Teil Spanien noch nie etwas gehört vorher. Der Bierzo ist ein bezaubernder Talkessel, in dessen Mitte die Stadt Ponferrada liegt. Wir sahen die Stadt in der Ferne, eine Dunstwolke schwebte über ihr. Die Orte ähnelten denen im Schwarzwald oder in Südtirol, Häuser aus Naturstein, teilweise mit Fachwerk, Holzveranden im 1. Stockwerk, heimisch, niedlich, ein Augenschmaus. Während der Aufstieg heute sehr gemächlich und schonend von statten gegangen war, merkten wir den Abstieg deutlich in unseren Knien, 300 Höhenmeter auf 3 Kilometern. Und so bewirkten unsere Knie ein frühes Pilgerende in El Acebo, einem bezaubernden Bergdorf. Vor einer Kneipe saß ein deutscher Pilger. Als er Santiagos Zampoña sah, forderte er ihn gleich auf, doch etwas zu spielen. Mit „Fünf Euro!“ wiegelte Santiago ab, wir waren reif für die Herberge. Auch hier fanden wir ein parroquiales Haus, sauber mit exzellent ausgestatteter Küche und einem Hinterhof zum Wäschewaschen. Im Essraum fand ich einen Stapel mit Bibeln in verschiedenen Sprachen, wo ich endlich einiges nachsehen konnte, was mir bisher aufgefallen war. Die RosarioGeheimnisse, die Nachfolge Christi aus der Messe von León. Die kleine Kirche war für ein Abendgebet offen, dann spazierten wir zu einem großen Holzkreuz an einem Abhang am Rande von El Acebo, wo sich uns das Tal mit einem fantastischen Ausblick im Licht eines tiefroten Sonnenuntergangs zu Füßen legte. Wir lagerten auf den Steinen am Fuße des Kreuzes. In Santiago kamen wieder Gefühle und die Tränen vom Besuch am Cruz de Ferro hoch und ich legte ihm die Hände aufs Herz. Er beruhigte und Im Antlitz der Liebe - 75 - © Gabriele Sych fasste sich, die Schmerzen verklangen. Jetzt gab es nur noch die Abenddämmerung des Bergdorfes, Stille und unsere Schicksalsgemeinschaft. Doch kurz darauf klingelte das Handy, Santiagos Mutter war dran. Wie schön für ihn an diesem Tag! Trotzdem gab es eine frühe Nacht nach einem körperlich und seelisch anstrengenden Tag. Ich räumte Santiago mein Bett an der Wand, damit er ein wenig mehr für sich wäre und übernahm sein quietschendes Hochbett weiter in der Raummitte. Auf dem Flachbett neben mir lag ein älterer Pilger. Als das Licht verlöscht war, ließ er unglaublich laut die Luft fahren, was ich mit einem hörbaren „Na so was!!!“ kommentierte. Wer’s nicht glaubt: Das machen die da, völlig ungeniert! Echt! Cacabelos (32km) / 12.09.2007 Recht früh brachen wir nach einem freundlichen Frühstück heute auf: 600 m Abstieg durch steindurchsetztes Buschland war die erste Herausforderung des neuen Tages. Irgendwo in der Nähe von Riesgo de Ambros kam uns der nächtliche Pupser entgegen, er steigt wieder auf!? Schon gegen 9 Uhr erreichten wir Molinaseca, ein Städtchen mit grauen Natursteinhäusern. Eine lange, vielbögige Steinbrücke führt über den malerischen Fluss. Alle Kirchen waren geschlossen, wir waren wohl zu früh. Durch enge Gassen mit Balkons aus Holz, mit Butzenscheiben verglast oder schmiedeeisern verziert, und gemütlichen Cafés durchquerten wir den stimmungsvollen Ort. Schade, wäre man mit dem Auto unterwegs, würde man hier wohl eine Nacht bleiben und Molinaseca in Ruhe genießen. Doch um 9 Uhr morgens, da hält kein Pilger an. An der Straße entlang und später in einem großen Bogen um die Stadt geht es nach Ponferrada, die Stadt, die wir schon von den Bergen aus im Tal gesehen hatten. Da der Morgen noch frisch ist, haben wir einen kräftigen Schritt am Leib. Plötzlich kommt uns der Pupser schon wieder entgegen. Wie hatte er das gemacht? Über eine große Brücke, auf spanisch EL Puente, geht es in die Stadt hinein. Dieser Artikel ist für mich immer schwer zu merken. Zwei wichtige Caminoworte sind fast gleich, puente=Brücke und fuente=Brunnen, doch es heißt el puente und la fuente. Santiago macht es viel Freude, mich mit meinem Spanisch aufzuziehen und nachzuäffen. Invierno, Infierno, Bierzo, all diese Wörter spreche ich für seine Ohren so ungewöhnlich aus, dass er sie immer wieder wiederholt, und ich kann da eigentlich gar nichts dran finden! Ponferrrada liegt auf 500 m, über 1000 Meter Abstieg haben unsere Knie bewältigt. Bald erreichen wir die Innenstadt mit der mächtigen Templerburg. Zunächst ist sie für die Besichtigung nicht geöffnet, später entdecken wir, dass der Eintrittspreis mal wieder außerhalb unserer Reichweite liegt. Vor allem Santiago Im Antlitz der Liebe - 76 - © Gabriele Sych hätte sie gern gesehen, da er schon viel über die Templer gelesen hat. In der Basílica de Nuestra Señora de la Encina und der Iglesia de San Andrés ist nun endlich die große Pilgerausstellung, deren Plakate wir schon so häufig unterwegs gesehen hatten: Yo Camino. Ich laufe. Die Basílica ist als Kirche ganz außer Betrieb. Für Pilger ist gut gesorgt, es gibt kostenlos einen beaufsichtigten Abstellplatz für unsere Rucksäcke. Kostbare Kirchengüter, Statuen vor allem von Jesus und Santiago, Malereien und historische Bücher aus ganz Spanien und vielen Epochen zeigen uns einen enormen Ausschnitt der Kulturgeschichte des Caminos. Eine Multimedia-Schau zeugt vom Leben der Kirchen-Künstler. Das Alter des Caminos, die enorme Zeitspanne des christlichen Glaubens war hier so greifbar, in jedem Exponat und im Geiste des Raumes, in dem die Ausstellung untergebracht war. Es hat sich bewahrheitet in all dieser Zeit, dass der christliche Glauben von Gott stammt, wie es einst Gamaliël im Hohen Rat in den Raum gestellt hatte. Apostelgeschichte 5 (Einheitsübersetzung): Da erhob sich im Hohen Rat ein Pharisäer namens Gamaliël, ein beim ganzen Volk angesehener Gesetzeslehrer; er ließ die Apostel für kurze Zeit hinausführen. 35 Dann sagte er: Israeliten, überlegt euch gut, was ihr mit diesen Leuten tun wollt. 36 Vor einiger Zeit nämlich trat Theudas auf und behauptete, er sei etwas Besonderes. Ihm schlossen sich etwa vierhundert Männer an. Aber er wurde getötet und sein ganzer Anhang wurde zerstreut und aufgerieben. 37 Nach ihm trat in den Tagen der Volkszählung Judas, der Galiläer, auf; er brachte viel Volk hinter sich und verleitete es zum Aufruhr. Auch er kam um und alle seine Anhänger wurden zerstreut. 38 Darum rate ich euch jetzt: Lasst von diesen Männern ab und gebt sie frei; denn wenn dieses Vorhaben oder dieses Werk von Menschen stammt, wird es zerstört werden; 39 stammt es aber von Gott, so könnt ihr sie nicht vernichten; sonst werdet ihr noch als Kämpfer gegen Gott dastehen. Durch einen Sternengang, ein langer Korridor mit Sternenhimmel, mit den Namen aller Orte des spanischen Jakobsweges läuft nochmals unsere bisherige Wegstrecke namentlich und im Geiste vor uns ab und wir waren stolz auf uns, wie weit wir schon gekommen sind. „Bald sind wir in Galicien!!!“ Am Fuße der Templerburg ist der Ausgang der Ausstellung, dort setzten wir uns im Schatten auf die Mauer für ein ausführliches Mittagsmahl, diesmal gibt es sogar Avocado zum Brot, Luxus! Viele spanische Bustouristen schlenderten an uns vorbei, wir wurden wieder fotografiert. Es war heiß geworden, reichlich heiß. Bald brechen wir auf und entdeckten ein Grafitti, dem wir von Herzen zustimmen können, vor allem nach dem Camino: “Vive como piensas, o acaba pensar como vives!“ Im Antlitz der Liebe - 77 - © Gabriele Sych Leb, wie du denkst, oder hör auf, darüber nachzudenken, wie du lebst. Wie wahr! Vom Gedanken machen ändert sich nichts, nicht nur träumen, sondern machen, so wie wir mit unserem Camino! Wir wollten ihn, wir schafften ihn… In der Hitze der Siesta-Zeit schwitzten wir uns durch die Stadt. Eine Senke wie der Bierzo hat ein ganz eigenes Klima, wenig Wind, hohe Luftfeuchtigkeit. Fällt erst einmal ein Wetter herab, so bleibt es. Bald wurde der Weg aus Ponferrada heraus recht freundlich, durch Gärten und kleine Parks. An jedem Brunnen, in Columbrianos, in Fuente Nuevas und in Camponaraya hielten wir an und durchnässten Haare und T-Shirt als Hitzeschutz, selbst wenn die Leute sich wunderten. Wir tranken große Mengen Wasser. Durch flaches Land und später viele Viñeros hatten wir eine erholsame Etappe. Wir kosteten ein paar Weintrauben am Weg, von weitem sahen wir große Weinkellereien des Bierzo. Unser Zielort Cacabelos beherbergte eine mittelalterliche Altstadt, es war eine echte Freude, sie zu durchlaufen. So wünschten wir uns Camino. Als wir eine Brücke überquerten, kamen uns Pilger auf abendlicher Stadterkundung entgegen: „Na, ob ihr noch ein Bett kriegt, die Herberge ist, denk ich, schon voll!“ Dank unseres guten Gottes bekamen wir das letzte Zimmer der Herberge, später ankommende Pilger schliefen auf Bänken und Matratzen im Innenhof. Die Herberge in Cacabelos ist als hölzerner Flachbau rund um die Kirche Nuestra Señora de la Quinta Angustia herumgebaut und bot mal wieder Zweibettkammern, allerdings nur abgeteilt durch Bretterwände, die nicht bis zur Decke reichten, so dass zumindest eine akustische und olfaktorische Gemeinschaft mit den anderen Pilgern bestand. Auch wir gingen zum Einkaufen noch in die Stadt, ich wollte jedoch nur trinken, und zwar kein Brunnenwasser mehr, mir war nach bitzeliger Kohlensäure und Geschmack im Getränk, um den fiesen staubigen Schleim in meinem Mund loszuwerden, der sich durch den heißen Nachmittag auf meinen gesamten Rachenraum verteilt hatte. Auf dem Kirchhof stand ein Walnussbaum und wir fanden viele, viele reife Walnüsse, sehr nahrhaft für den amen Pilger: Linolsäure, Kalium, Magnesium, Eisen, Kupfer, Zink, Mangan, Vitamin B1, B6 und E! Bei der Abendmesse in der Kirche waren viele Damen aus dem gegenüberliegenden Altersheim anwesend. Viele von ihnen himmelten ganz augenscheinlich den stattlichen Padre an, der, sich dessen bewusst, eine sehr anregende, ausdrucksvolle Messe zelebrierte. Eine frühe Abendeinkehr und lange, trennende Gespräche in unserer Klausurzelle führten in eine unruhige Nacht, in der sich das erste Mal das Kruzifix von meinem Rosario löste. Oje! O Cebreiro (36 km) / 14.09.2007 Im Antlitz der Liebe - 78 - © Gabriele Sych Wir brachen in Cacabelos im Dunkeln auf, da wir so weit wie möglich an den Cebreiro heranlaufen wollten, um ihn am nächsten Morgen dann frisch zu überqueren. Ich hatte den letzten Abend noch nicht verdaut, und mit meinen Füßen liefen weiter die Tränen. Wir kamen durch das schöne Villafranca de Bierzo an der Puerta de Perdon28 vorbei, doch wir waren natürlich noch fit. Ein vorzeitiges Perdón war für uns unnötig, sie war auch verschlossen. Im Refugio Fenix, einer von einem Brasilianer betriebenen gemütlichen Herberge, kauften wir uns ein neues Credencial, denn unseres war inzwischen voll von Sellos/Stempeln. Den ganzen Morgen sprachen wir über das Thema Leere und Fülle auf dieser Erde und wie sie zurzeit die großen Probleme über unsere Welt brachte; über das Wesen und die Natur des Teufels. Der Camino ermöglicht, ein Thema wirklich über Stunden von allen Seiten zu beleuchten. Der Weg stieg stetig bergan, denn heute sollte die letzte große Bergetappe kommen, doch der erste Teil des Weges war nicht schwer. Wir umwanderten die Autobahn, die sich in die Berge schraubte, an Pereje, Trabadelo, La Portela de Valcarce, Ambasmestas vorbei. Erst in Vega de Valcarce, nach 25 km, konnten wir Frühstück einkaufen und so hatte ich einen ganzen Tag – bis auf die Wallnüsse - gefastet, da ich am Abend vorher in Cacabelos nicht essen, sondern nur trinken wollte. Allerdings stand an diesem Tag andere Nahrung zur Verfügung, da viele Kirchen offen gewesen waren. Über kleine Straßen führte der Weg weiter durch Dörfer Ruitelán und Herrerías, vorbei an Obstbäumen und alten Häusern und einem Kapellchen, eine beschauliche Strecke nach der Zeit an der Autobahn. Am Fuße des Cebreiro rasteten wir nach einer bisherigen Tagesdistanz von ca. 30 km noch an einem Bach und kühlten unsere Füße im klaren, eiskalten Wasser. Santiago spielte dabei wie ein Bachelf auf seiner Panflöte, während der Pilger aus El Acebo vorbeilief, der ja damals schon Santiago spielen hören wollte. Nun kam er zu seinem Konzert. Hier begann der steile Teil des Cebreiro. Wie eine Bergziege verschwand Santiago schon nach kurzer Zeit aus meiner Sicht, ich traf ihn erst in La Faba vor der 28 Puerta de Perdón: Kranke und geschwächte Pilger, die es nicht mehr über den letzten Gebirgszug am Cebreiro schaffen, können hier schon auf ihre Bitte hin die Ablassweihen Santiagos erhalten. Im Antlitz der Liebe - 79 - © Gabriele Sych Herberge auf einem Stein sitzend wieder. La Faba, eine von Deutschen betriebene Herberge, liegt auf halber Höhe am Berg. „Hier bleibe ich nicht!“ Die Berge breiten sich mit grünen Kuppen um uns herum aus. Je höher man kommt, umso weiter, vollendeter wird die Sicht, prachtvoll ! Es ging weiter, immer den Weg hinauf, bis wir schließlich in Galicien ankamen. Andere waren ohne Rucksack unterwegs, wir nahmen den Weg, wie er kam. Und auch hier ging es weiter, an atemberaubenden Panoramen entlang, bis wir auf dem Cebreiro auf ca. 1300 m ankamen. Wir dachten an Pilar und sagten uns: So, den Cebreiro haben wir nach einer ganzen Tagesetappe, sozusagen zum Nachtisch geschafft. Aber meine „ecuadorianische Lokomotive“ aus den Anden hätte natürlich nicht vor dem Gipfel anhalten können. Und ich habe es auch geschafft, langsam aber sicher, unterwegs zur Stärkung reife Brombeeren pflückend. Oben angekommen besuchten wir zunächst die stäbige, graue Naturstein-Kirche Iglesia St. Grial. So trutzig muss wohl eine Kirche auf einem Berggipfel aussehen. Völlig unvermutet sind wir dort einem Heiligen Gral begegnet und waren davon sehr beeindruckt. Ich erinnere aus einem dort ausliegenden Heftchen: „Im Winter während eines Schneesturmes, eventuell sogar am Weihnachtstag, stieg ein frommer Mann auf den Cebreiro, um dort an der Messe teilzunehmen. Der Padre hatte jedoch keine Lust, für einen einzelnen Gläubigen eine ganze Messe zu zelebrieren. Der Mann drang darauf; der Padre begann missmutig die Messe. Doch plötzlich verwandelten sich Hostie und Messwein in echtes Fleisch und Blut Christi.“ Das Wissen um den Gral ist der Gipfel der Erkenntnis Gottes. O Cebreiro ist ein graues, weitgehend traditionell belassenes Steindorf, vielfach mit Schieferdächern, an dessen Ende die Amigos29 eine neue Herberge errichtet haben. Nun lag Galizien uns zu Füßen - weit ausgebreitet. Hier lernten wir das Donativo-System der galizischen Herbergen kennen. Jeder gibt, was er kann. Das fühlte sich gut an. Wir duschten und wuschen wieder Wäsche, die im Bergwind schnell trocknete. Es gab Einzelbetten, selten für den Camino, aber auch mal sehr angenehm. Wir stellten unsere Betten dicht nebeneinander, konnten uns mal wieder anlehnen, das lud mich auf. Die Küche der Herberge war sehr schick und hochmodern eingerichtet, hatte jedoch kaum Ausrüstung mit Töpfen, Geschirr und Besteck. Wir borgten uns von drei Engländerinnen, die mit einem Pferd unterwegs waren, einen Topf aus und kochten uns damit einen Pfefferminztee mit frisch am Wegesrand gepflückter 29 Amigos = kurz für Associaciones de Amigos del Camino de Santiago Im Antlitz der Liebe - 80 - © Gabriele Sych Bergminze und aßen Kekse dazu. Trockene Kekse aus der Rolle, das war zu einer neuen Gewohnheit geworden, schnell verfügbar und süß. Ein kühler Nachtwind am Berg trieb uns schnell zu Bett. Sarria (38 km): Am nächsten Morgen brachen wir früh auf und stiegen zunächst in der Morgendämmerung zur stillen Höhe des Gipfelkreuzes des Cebreiro. Beim Abstieg verloren wir einander, weil ich einen einfacheren Weg wählte. Santiago war vor mir, das sah ich nach einer Weile wieder an den Abdrücken seiner markanten Schuhsohlen. Wir trafen uns wieder am Alto de San Roque bei einem riesigen Pilgerdenkmal. Nach ein paar weiteren Aufstiegen, zum Beispiel zum Alto de Poio, der Schweinehöhe auf schweinisch steilen 1337 m Höhe wanderten wir nun wieder bergab, allein 666 Höhenmeter nur von dort bis nach Triacastela auf 671 m. Der Camino läuft zunächst entlang der Straße, durch kleine Kiefern und Ginster abgetrennt. Unterwegs bekamen wir von einer Bäuerin, die auf dem Weg gegen eine Spende Eierkuchen verteilt, ein wunderbares Frühstück. Dicke alte Bäume markierten die Landschaft. An einem Bauernhof wurden frische Himbeeren verkauft, oft ist der Camino vom Viehmist verziert. Ein Bauer zankte lautstark mit seiner Frau, viel Vieh ist am Weg zu sehen. Vor der Santiago-Kirche in Triacastela begegneten wir dem Parroco Augusto Losada López und kamen mit ihm ins Gespräch. Er nahm uns mit in die Kirche, drückte uns in der Kirche jeweils ein langes Papier in unserer eigenen Sprache über den Camino in die Hand. Hier war wirklich einer der Orte, an dem tatsächlich auf dem Camino Seelsorge für den Pilger betrieben wurde. In der Kirche beteten wir unseren Rosario und haben uns mit Augusto Losada Lopez so lange, tief und gut unterhalten, dass danach schon alle Geschäfte geschlossen waren und wir tatsächlich einmal in einem Restaurant ein „bocadillo con queso“30 essen mussten, da unsere Vorräte nach der Bergwanderung erschöpft waren. 30 Übersetzung: Käsebrötchen. Das war so ein halbes Baguette, mit 5 Käsescheiben belegt. Ich habe es nicht geschafft, den Rest eingepackt. Im Antlitz der Liebe - 81 - © Gabriele Sych Auch hier noch einige von seinen eindringlichen Worten, seine Worte über die Nachfolge gibt es hier: im Kapitel 2: Im Antlitz der Liebe - 82 - © Gabriele Sych Vom Ωmega zum Αlpha „Der Camino bedeutet auch, nach allen Seiten hin offen zu sein. Heute, wo wir so viel über die Welt als universelle Gemeinschaft sprechen, schließen wir uns manchmal in uns selbst oder in unserer eigenen Natur ein mit der fixen Idee, dass es das Beste sei. Somit öffnen wir den anderen weder Empfindungen noch Kultur, und so ersticken wir dabei. Wir selbst sind die Schuldigen. Wenn Ihr nicht das Gefühl haben wollt, dass Ihr allein in der Einsamkeit des Lebens lebt, öffnet euch den anderen, und so könnt Ihr immer von ihnen lernen. Jeder ist das was er erhält, gibt und was er ist. Wir können den Camino auch als Brüderlichkeit bezeichnen. Miteinander teilen können, das Leben und die Ruhelosigkeit, den Überfluss und die Knappheit, die Werte verteilen und steigern, und ebenso unsere Fehler miteinander teilen und überwinden. Es ist ein sehnlichster Wunsch und eine Hoffnung, dass jeder selbst aus dem Kampf all das überwinden wird, was ihn daran hindert, sich zu freuen, um eine bessere Welt zu schaffen. Wir wollen eine Werteskala erstellen und das Vorrangige vom Zweitrangigen unterscheiden, um das in unser Leben einzulassen, was wir am nötigsten brauchen. Es ist, sich selbst zu erkennen und Jesus von Nazareth näher kennen zu lernen. Mit ihm und neben ihm auf dem Lebensweg zu wandern, damit diese gerechtere Gemeinschaft, wofür er kämpfte, Wirklichkeit auf dieser Welt wird, jetzt, hier und heute. Wir haben es entstellt, wenn wir es mit der Gemeinschaft vergleichen, die er sich vorgestellt hatte und wofür er kämpfte. Christus kam, um uns zu erlösen. Es war, ist und wird immer seine Friedensmission sein. Es ist für uns notwendiger, die Liebe, die uns mit Jesus vereint, tiefer zu erleben als die Kleinigkeiten des Alltags. Glaubt an die Jesusliebe und liebt Euch selbst der Liebe wegen und nicht aus Angst oder Furcht. Denn die Furcht in der Liebe führt uns zu einer Gemütslähmung. Ihr wisst, dass die Lähmung eine Rehabilitation erfordert, und Ihr wisst selbstverständlich auch, dass es unter klinischen Gesichtspunkten schwierig ist, wieder so zu sein, wie wir es einmal waren. Deshalb rate ich Euch, nicht zu stagnieren. Fordert von Euch nicht mehr, als Jesus von Euch verlangt. Überlastet Euch nicht mit der Zukunft, denn es gibt keine sorgenfreie Tage. Seid Im Antlitz der Liebe - 83 - © Gabriele Sych glücklich und versucht dabei, den anderen glücklich zu machen. Kämpft um Euer Glück und das Glück der anderen, ohne Euch zu verausgaben und den anderen zu überfordern. Befreit Euch von Schuldgefühlen und seid Jesus und seinem Auftrag treu. Es ist wirklich eine befreiende und zutiefst menschliche Aufgabe. Er braucht uns nicht, wir brauchen ihn, aber um eine bessere Welt zu schaffen, werden wir alle gebraucht. Seid stark und einfach wie Jesus. Wenn Ihr den Camino beendet habt und imstande seid, Jesus die Frage zu beantworten: Wer bin ich für Euch, für Dich konkret? Dann seid Ihr einen enormen Schritt in Eurem Leben vorangekommen...“ Danke für Ihr Engagement, Ihre Liebe zur Pilgerei und Ihre Worte, Parroco Augusto! Ich würde die Frage beantworten… Beim Bocadillo trafen wir im Restaurant wieder den Pilger, der Santiago schon in El Acebo auf seine Flöte angesprochen hatte. Wir hatten ihn am Fuße und kurz vor dem Gipfel des Cebreiro, in Laguna, wieder gesehen. Fred hieß er, ein Unternehmer aus der Lutherstadt Wittenberg. Bald brachen wir wieder auf, um uns freudig unserer Nachmittagsschicht zu widmen. Die Nachmittage sind in Galizien die schönste Pilgerzeit, denn morgens gleicht der Aufbruch oft einer Volkslaufveranstaltung, so voll ist der Camino inzwischen. Wir waren nun wieder allein auf weiter Flur, die Sonne schien, doch in Galizien gab es immer eine leichte Brise. Über eine einsame Straße ging es hinauf nach Sant Xil, durch alte traditionelle Dörfer aus grauem Stein, in denen noch Leben ist. Die Hórreos, die galizischen Maisspeicher sind allerorten zu sehen. Insgesamt war Galizien eine Landschaft, bei dem wir auf dem Camino das Gefühl hatten, dass hier wirklich Jahrhunderte lang die Pilger entlang gezogen waren, die Wege waren noch ganz natürlich, selten Straße, oft durch Natursteine von Feldern abgegrenzt. Riesige alte Bäume am Weg, von vielen Füßen geschliffene Natursteine unter uns. Viele Wälder durchquerten wir, alte Eichenwälder wechselten sich mit frischen Eukalyptuspflanzungen ab, in denen unsere Lungen saubere, nahrhafte Luft atmen konnten. Und dann wieder Landwirtschaft, Felder, Gemüsepflanzen, Weiden, Ginster und Moras am Feldrain. Ach diese Moras, was für ein Segen, tiefschwarze, dicke Brombeeren, süß und intensiv an Geschmack, Lebenselixier, Vitaminspender – oft hielten wir an zum Pflücken und Im Antlitz der Liebe - 84 - © Gabriele Sych Genießen, erst gegessen, dann noch eine Handvoll für den Weg. Und selbst, wenn wir satt waren, dann waren immer noch genug da für die Pilger nach uns. In Galizien gibt es weniger Pfeile, dafür kleine Steinsäulen, auf denen sogar mit einer Stelle hinter dem Komma die Entfernung nach Santiago angegeben war, manchmal auch der Name des Ortes. An diesen Nachmittagen sprachen wir die ganze Zeit, erzählten uns gegenseitig aus unserem Leben, was wir glaubten, was wir für Gott hielten, beteten unsere Rosarios, im Laufen wie in den Pausen. Glückseliges Pilgern, Pilgern als Sein…ohne Sorgen, ohne Morgen. Sonne, Himmel, Luft, der Boden glitt leicht unter unseren Füßen dahin. Leben im Augenblick, Leben für den Augenblick. Jetzt – im Moment des Schreibens - weiß ich, dass ich das wieder und wieder pilgern werde, meine Stiefel rufen, locken mich… Ganz plötzlich kommen wir in Calvor an, unserem geplanten Ziel für diesen Tag. Doch … hier blieben wir nicht! Angesichts der grauen Herberge direkt an der Straße verging uns die Lust. Da ist auch nichts, wo wir einkaufen könnten, unsere Vorräte sind lamge aufgebraucht. Also weiter nach Sarria! Und jetzt beginnt so richtig Pilger-Country. Sarria ist der Startpunkt für die 100-km-Pilger, die Mindestpflicht für die Compostela.31 In Sarria gibt es 6 Pilgerherbergen, die nicht-kommerzielle ist natürlich schon seit mittags belegt, der Rest ist uns zu teuer. Also erst ein kurzer Kirchenbesuch in der Santa Marina, wo wir einen jungen, dunkeläugigen Pilger treffen, dann auf zum Supermarkt, der Rest, unser Platz unterm Sternenzelt, würde sich später finden. In einem kleinen Stadtpark fanden wir eine gemütliche Bank, um uns herum pulsierte der spanische Abend voller prallem Leben, die Familien, auch mit kleinen Kindern, blieben noch lange an der frischen Luft und umspielten uns. In der öffentlichen Toilette konnten wir uns umziehen und waschen. Als die Dämmerung einsetzte, machten wir uns auf die Suche nach unserem Schlafplatz. Schon fast am Ortsausgang fanden wir ein kleines Wäldchen, in dem wir einen geschützten Platz fanden. Zwar bellte in der Nähe noch lange ein Hund, der uns wohl wahrgenommen hatte, doch wir fanden – dank des Erzengels Michael - völlig ohne Störung zur Ruhe. Im Wäldchen war es angenehm lau, durch die Baumwipfel blinkten die Sterne. Die Nacht schenkte uns einen geruhsamen Schlaf. Portomarin (21 km) / 15.09.2007 31 Compostela = Urkunde in lateinischer Sprache, die den Pilgern im Pilgerbüro in Santiago ausgestellt wird für das erfolgreiche Pilgern auf dem Camino de Santiago, dabei müssen mindestens 100 km zu Fuß oder 150 km zu Pferd oder Fahrrad zurückgelegt werden. Im Antlitz der Liebe - 85 - © Gabriele Sych Noch in der Dämmerung packten wir unsere Rucksäcke. Unauffällig glitten wir aus unserem Wäldchen auf die Straße und reihten und bald auf der Straße in den Strom der Pilger ein. Eine ausgesprochen gut laufbare und landschaftlich attraktive Wegstrecke begann durch Wälder mit alten Bäumen und kleine, urtümliche Orte am Weg. In Barbadelos, dem 1. Dorf des Tages, sprach uns auf der Straße der Padre an, ob wir in die Kirche wollten. Klar doch, ein morgendlicher Rosario in der alten Santiago-Kirche aus großen Steinquadern war ein guter Anfang des Tages. An diesem Tag passierten wir den Kilometerstein mit der 100. Nur noch 100 km bis nach Santiago! Das war überschaubar! Drei Tage schätzten wir noch bis zu unserem großen Ziel! Ab jetzt gilt es auch, regelmäßig die Sellos zu sammeln, denn die letzten 100 km zählen vor allem für die Compostela, wir haben gehört, dass jetzt mindestens 2 Stempel am Tag gebraucht werden. Von einer Anhöhe aus öffnete sich unser Blick auf einen breiten Fluss, den Minho mit seiner Brücke. Noch ahnten wir nicht, dass wir den Minho noch ein zweites Mal überqueren sollten. Auf der anderen Flussseite ist Portomarin schon zu sehen. Vor der Brücke liegt allerdings auch ein mächtig steiler Abgrund. Von dem großen Abstieg vom Cebreiro sind unsere Knie noch lädiert, das tut richtig weh, aber als Pilger so kurz vor dem Ziel nimmt man das hin wie Regen und Sonnenschein. Der Weg geht eher uns. Die Brücke ist gewaltig hoch und oft bleiben wir stehen, um hinunterzuschauen. Der Fluss liegt träge in der Sonne, nur wenig Bewegung auf dem Wasser, denn ein Stauwehr bildet eine anscheinend unpassierbare Barriere. Auf Treppen geht es in die Stadt. In einem Park unter Bäumen mit Aussicht auf den Fluss ist Zeit für unsere mittägliche Siesta, für die wir vorher in einem kleinen Supermarkt eingekauft haben. Nach dem Essen lege ich mich auf meiner Matte in den Halbschatten, es ist so richtig, richtig heiß. Ich war geschafft und müde und wünschte und genehmigte mir ein kleines Schläfchen, während Santiago sich Portomarin anschaute. Zu meiner Überraschung kehrte er mit dem Vorschlag zurück, hier in Portomarin in der Herberge zu bleiben! Herr, endlich Einsehen! Danke! In der städtischen Herberge fanden wir zwei Betten nebeneinander auf der oberen Etage, wo ich mein Mittagsschläfchen ausführlich fortsetzen konnte. Die beiden vorhergehenden Etappen mit 36 und 38 km und unsere Gipfelstürmerei hatten in uns Spuren hinter- Im Antlitz der Liebe - 86 - © Gabriele Sych lassen. Nach dem Wäschewaschen erkundeten wir das Städtchen mit der würfelförmigen JohanniterKirche St. Juan. Unsere Cena nahmen wir in der Küche der Herberge ein. Dort trafen wir Margarete aus Polen, sie isst lecker Linsen mit Mayo, auch eine ungewöhnliche Kombination. Sie ist mit ihren zwei Schwestern aufgebrochen, doch nun sind sie alle einzeln unterwegs, die eine, die Fitte, vor ihr, die andere, die schon früh nur ihrem eigenen Tempo gerecht werden konnte, hinter ihr. Sie wollen sich alle in Santiago wieder treffen und - wenn dann noch Zeit wäre - nach Finisterra weiter. Wir unterhalten uns lange, die Polen sind ein gläubiges Völkchen. Margarete wollte am nächsten Tag bis nach Palas de Rei laufen. Zur Abendmisa finden wir uns wieder in der schönen Kirche ein und wir beschließen mit einem trauten Spaziergang in der milden Abendluft unseren Tag in Portomarín. Melide (39 km) / 16.09.2007 Noch im Dunkeln brachen wir in Portomarin auf, alle liefen im Pulk, denn die Pfeile waren im Dunkeln schwer zu erkennen. Taschenlampen waren Mangelware, doch Santiago trug eine praktische Kopflampe. Mit der Dämmerung löste sich der Pulk immer mehr in kleine Grüppchen auf. Bei jedem Café schwenkten einige Gruppen ab, um zu pausieren, der Weg für uns wurde wieder freier. Xacobeo32 in Galizien, das ist wundervoll, das Laufen eine Pracht, Wäldchen, sanfte Hügel. Wir passierten eine Camino-Steinsäule, die den Ort als „Alto de Rosario“ auswies. Dort beteten wir natürlich einen – wenn man schon mal da ist! Es war wieder einmal Sonntagmorgen. In Palas de Rei besuchten wir einen familiären Gottesdienst, ach, diese Pausen liebte ich. Wir blieben natürlich nicht, es war ja erst Mittag, während Margarete hier schon die Herberge ansteuern würde. Auf dem Marktplatz machten wir Frühstückspause auf einem Steinbänkchen an einem großen Platz. Menschen in Hülle und Fülle waren unterwegs, saßen am trauten Sonntag zusammen. Plötzlich hörten wir aus der Distanz Marschmusik. Ein Blasorchester marschierte direkt vor unsere Füße, gab ein Konzert. Und was hörten wir? „Jesus Christ Superstar“ und „I don’t know how to love him“. Wer’s nicht glaubt: ich habe es mit meinem Handy per Video aufgenommen. Nach dem Konzert ging es weiter. Ein sanfter Weg führte uns weiter durch Wald und Flur, Steinwälle, umwachsene Hohlwege, Bauerndörfer, Horréos. Hier gab es alle paar Kilometer Herbergen, San Xulian, Ponte Campana, Leboreiro, viele private dabei, vorbei, vorbei! Unser Tagesziel hieß Melide, eine Herberge der Amigos. 32 Galizisches Wort für Jakobus Im Antlitz der Liebe - 87 - © Gabriele Sych Am Wegesrand fanden wir oft Hortensiengärten, bestimmt bietet Galizien für die „Wasserschlürferin“33 genug Regen. Am Nachmittag rief mich meine Schwester an, der Sonntagnachmittag verführte die Daheimgebliebenen zum Anrufen, vor genau einer Woche hatte mein Sohn das erste Mal angerufen. Der Weg nach Melide hinein war unendlich. Zum Anfang sah man moderne Türmchen, der bisher romantische Weg des Tages geht verloren. Man läuft an einem langen Industriegebiet nach Melide hinein, wo die Amigos eine Menge Gedenktafeln aufgerichtet haben. Am Ortseingang kommt man durch ein kleines Stück hübsche Altstadt, ist aber auch genau so schnell wieder draußen. Und dann zieht sich Melide einfach wie Kaugummi hin, keine sehr schöne Stadt, anders als so viele andere am Camino. Wir fragten picknickende Galizierinnen am Weg nach der Herberge, sie haben keine Ahnung. An der Straße liefen wir an einem Straßencafé vorbei. Auf einem der Tische lag ein Pilgerführer. Tatsächlich, hier bekamen wir unsere Wegweisung : die Herberge liegt kurz vor dem Ortsausgang. Die Melider Herberge war groß und voll, erst unterm Dach fanden wir noch zwei freie Betten. Wir gingen zum Gottesdienst in die Kirche und – waren entsetzt. Einen solchen Gottesdienst hatten wir in ganz Spanien nicht erlebt. Der Pastor war unheimlich missmutig, schnarrte seinen Gottesdienst herunter, keinerlei nonverbale Geste der Freundlichkeit. Wir denken, Gottes Botschaft ist eine Botschaft des Glücks und der Freude! Am Ausgang der Kirche fanden wir ein Gästebuch und wir hinterließen diesem Pastor unseren Eindruck von seinem Gottesdienst. Als Unternehmensberaterin hatte ich häufig erkannt: Wenn die Führungskraft nicht gut ist, dann geht die ganze Abteilung den Bach runter. Es ist, wie es in dem deutschen Sprichwort heißt: Der Fisch fängt am Kopf an zu stinken. Und so kam uns Melide vor: ein ungepflegter, schlecht geführter Ort, der sich kaum Mühe mit sich selbst gibt. Selbst der Brunnen für die Pilger war kaputt. So kann es sein, dass ein Pastor, der nicht mit Freude und im inneren Glück der Beziehung zu Gott stehend der Weide seiner Schafe nachgeht, eine deutlich lebensmindernden Einfluss auf die Entwicklung der ganzen Stadt haben kann. Ich weiß es nicht, ob es tatsächlich so ist, aber hier könnte es so sein. An einer Palme neben einem Kapellchen und einem Cruzeiro beteten wir einen weiteren Rosario. Wir sind noch nicht durch und an diesem Tag war mein Sohn dran. Und an diesem Tag erlebte ich beim Beten das Verständnis der Mysterien, des Leidensweges Jesu. Die freudenreichen Mysterien erinnerten mich sehr an meine Zeit mit meinem Sohn. Das Glück zu erfahren, dass ich mit ihm schwanger war, es anderen zu erzählen, die Geburt. An dem Tag, als ich mich – nach langen Jahren der Kinderlosigkeit – gerade über einen positiven Schwangerschaftstest freute, klingelte bei uns der Schornsteinfeger! Mein Sohn 33 Der lateinische Name der Hortensie ist Hydrangea, das bedeutet Wasserschlürferin Im Antlitz der Liebe - 88 - © Gabriele Sych ist im November geboren und als dann der Advent herankam, da konnte ich eines meiner Lieblingslieder nur mit einem dicken Kloß im Hals und Tränen in den Augen singen: „…der Sohn ist uns gesandt!“ In Melide waren wir schon bei den schmerzreichen Mysterien und mir war so klar: Jesus hat geglaubt, bei allem Leiden hat er geglaubt, gewusst, dass er auf dem richtigen Weg ist. Er ertrug es mit Langmut. So ist er zur Auferstehung gekommen, weil sein Glaube ihn durch den Tod trug. Doch davon später mehr! In der Herberge setzte ich mich zu Santiago aufs Bett und behandelte noch seine Füße, die ihm inzwischen schon sehr weh taten. Er spürte beim Laufen zwar kaum Anstrengung, aber seine Schuhe schützten seine Füße nicht ausreichend vor der Härte des Weges. Er schlief ein, und irgendwann machte auch ich mich auf ins Bett. Zwar wollten ein paar Damen doch auch noch um 23 Uhr Licht wieder anmachen, um noch ein wenig in ihren Rucksäcken zu kramen, doch sie wurden niedergezischt. So geht das nicht bei uns Pilgern. Frühe Nachtruhe ist ein Grundrecht des Pilgers! Arca de Pino / Pedrouzo (34 km) / 17.09.2007 Die Quartals-Raschler hatten am Abend vorher spät aufgehört, begannen dafür den Tag aber früh. Da machte es keinen Sinn, lange im Bett zu bleiben. Den tiefroten Sonnenaufgang im Rücken brachen wir auf. In Boënte, an der Santiagokirche, machen wir unsere erste Pause. Wir beteten unseren ersten Rosario und holten uns unseren Stempel. Der Pfarrer freute sich so, dass wir „richtig“ gebetet hatten: er war ganz anhänglich und nahm mich immer wieder in den Arm. Heute landeten wir auch selbst einmal wieder in Ribadiso im Café auf der Strecke. Das war neu, wir machten richtig Pause, ich genoss es sehr, wieder Kaffee zu trinken. Ich entschloss mich, ab nun Santiago häufiger zum Kaffee einzuladen, dann hatte ich selbst etwas davon. Hier in Galizien konnte ich es mir leisten, 80 Cent, ein Euro pro Kaffee, das war noch drin! In Arzúa waren wir beide sehr durstig, unser Wasser war uns ausgegangen. Und so durchforsteten wir die Stadt nach einem Brunnen. Auf dem Weg fanden wir das Pfarrbüro, dort gab es den nächsten Stempel und wir fanden ein kleines Büchlein über die Marien-Erscheinungen von Fátima und die Hirtenkinder. Das war für uns bestimmt! Das nahmen wir uns zur Vorbereitung unserer inzwischen geplanten Fátimastrecke mit! Kurz hinter dem Pfarrbüro ging es auch in die Kirche von Arzúa, wo wir den Spender des lebendigen Wassers fanden und uns daran sättigten. Hinter der Kirche, auf einem großen Platz, fanden wir endlich den Pilgerbrunnen der Stadt, tranken und füllten unsere Flaschen wieder auf – Wasser in beiden Gestalten ist immer immens wichtig für den Pilger! Im Antlitz der Liebe - 89 - © Gabriele Sych Johannes 4 (Bibelübersetzung Neues Leben): 14 Wer aber von dem Wasser trinkt, das ich ihm geben werde, der wird niemals mehr Durst haben. Das Wasser, das ich ihm gebe, wird in ihm zu einer nie versiegenden Quelle, die unaufhörlich bis ins ewige Leben fließt. Ein paar Schritte weiter sahen wir vor der Pilgerherberge – und es war erst zur Mittagszeit – schon eine ganze Reihe von Pilgern sitzen, die auf die Öffnung der Herberge warteten. Das war noch nicht unsere Zeit, wir hatten noch 19 km auf dem Zettel unserer vorletzten Etappe vor Santiago. Die Dörfer reihten sich eins nach dem anderen auf die Strecke: Preguntono, Tavernavella, Calzada, Calle Boavista, Salceda, Ras. Santiago fragte mich: „Was machst du denn, wenn du wieder in Berlin bist?“ KEIN gutes Thema! Es war, als ob mir der Boden unter den Füßen weg glitt… In meiner Magengegend tat sich ein riesiges Loch auf. Mein Herz wurde kalt. Ich wusste ehrlich nicht, was ich in Berlin wieder tun würde. Ich wusste es einfach nicht. Ich wollte auch nicht darüber nachdenken. Noch nicht einmal mal vorstellen mochte ich es mir. Wenigstens noch ein paar Wochen nicht. Ich hatte mich zwischenzeitlich mit den Worten getröstet: „Wenn ich nur diese Wochen mit Santiago habe, dann will ich sie genießen und nicht die ganze Zeit innerlich oder äußerlich darüber jammern, dass sie vorbei sein werden.“ Noch sind wir am Pilgern, wenn auch für den Rest des Tages recht schweigsam. Das war ein Moment, dessen Güte ich erst viel später erkenne. Ein Moment, an dem man seine Zukunft weder kennt noch planen kann oder möchte. Ein weißes Blatt Papier. Ca. 600 km Aufschub hatte ich noch, bis dieses Blatt vor mir läge und ich es unweigerlich mit der Fortsetzung meines Lebens beschreiben musste. Ich bat Santiago, das Thema für den Rest des Weges nicht mehr anzuschneiden. Mir blieb die Luft weg und mir wurden dabei die Knie weich. Meine Lungen fühlen sich an, als ob sie unten zwei extra Löcher hatten, an denen die Luft entweicht, das konnte ich beim Laufen nicht brauchen, kann ich mich ja gleich hinsetzen und hier sitzen bleiben. Eine ungesunde Mischung von kräftezehrendem Gedankenmüll, von Schwarzseherei und spirituellem Trotz! Kann man trotzdem nicht ausziehen wie eine Jacke, schade auch, hätte ich in dem Moment gern gemacht. Ein Tag vor Santiago de Compostela: Eigentlich hatte ich gedacht, ich würde nun vor Euphorie platzen, doch meine Laune war auf einem Tiefpunkt. Wir redeten kaum noch miteinander. Dabei war der Weg angenehm, durchs Grüne, wenig Autoverkehr, eigentlich nichts zu meckern. Ich habe vom Weg eine Im Antlitz der Liebe - 90 - © Gabriele Sych Antwort erwartet, eine Revelation, etwas Lichtvolles, große Erkenntnisse. Stattdessen stand ich vor dem Nichts… es war viel anstrengender gewesen als erwartet, unglaublich überhaupt nicht so, wie ich es erwartet hatte. Trotzdem glitt der Weg unter meinen Füßen weiter, egal, wie es in mir aussah. Es war ein schweigsamer Nachmittag, brütendes Wetter in mir. Die Herberge lag in Pedrouzo neben der Straße, etwas unterhalb des Straßenniveaus. Wir kauften uns im Supermarkt nebenan das Übliche zum Abendessen, Brot, Thunfisch, Pulpo, Käse, Schinken. Stimmt, Pulpo ist neu seit Galizien. Es gibt hier sogar Restaurants, die heißen Pulperia, wo es hauptsächlich Pulpo = Tintenfisch gibt. Das schmeckt gut, ist eine Abwechslung und zu dem Preis gibt es das nur hier. Eine Gruppe Spanier kochte unter Gejohle ausführlich größere Mengen totes Huhn mit Tomaten und viel Knoblauch, die ganze Herberge war von dem Geruch erfüllt. Alle wirkten freudig, erwartungsvoll, gespannt. Morgen würde es soweit sein: Ziel erreicht! Santiago taten wieder die Füße mächtig weh, ich behandelte ihn abends in der Herberge wie auch schon am Abend vorher in Melide. Auch er war dabei den Tränen nahe. Ich beschrieb ihm seinen erspürten, körperlichen Zustand, mehr war zwischen uns nun nicht drin. Wir beschlossen, am nächsten Morgen sehr früh aufzubrechen, so um halb sechs, damit wir mittags um zwölf Uhr zur Pilgermesse rechtzeitig in Santiago wären. Pilar hatte uns in Sahagún ausführlich gebrieft. Sie war am vorletzten Tag bis zum Monte Gozo gelaufen, damit es nur noch 5 km sind. Gemäß den Steinsäulen waren es nur noch ca. 20 km, das müsste doch mit links zu schaffen sein. Santiago de Compostela (24 km) / 18. – 19.09.2007 Am 18. September waren wir früh im Dunkeln in Arca de Pino aufgebrochen, jeder weiterhin in seine eigenen Gefühle und Gedanken vertieft. Ein kleiner Streit über den Weg kam noch hinzu. Das Schweigen zwischen uns addierte die Kilos auf unserem Rucksack, Finsternis und Stille um uns. Da wir nicht zurücklaufen wollten und Santiago meinte, am Vortage einen Pfeil entdeckt zu haben, liefen wir auf der Landstraße in Richtung Santiago de Compostela los. Den Pfeil fand Santiago nicht wieder, so blieben wir zunächst auf der Landstraße. Im Antlitz der Liebe - 91 - © Gabriele Sych Irgendwann nach ein paar Kilometern entdeckte Santiago den Camino und es ging wieder durch die Natur, unter Eukalyptusbäumen entlang und über einen Hügel und dann am Flughafen vorbei. Wieder steckten im Zaun viele Kreuze, willkommen auf dem Camino! Wir schritten zügig aus, der Weg zog sich hin. Irgendwann verschwanden auch die uns in Galizien so vertraut gewordenen Steinsäulen mit den Restkilometern, der letzte zeigte noch 8 km an. Eigentlich mussten wir es nach unserem zwischenzeitlich entwickelten Zeit/Distanzgefühl schon geschafft haben. Haben die uns inzwischen ein paar Kilometer dazu geschmuggelt? Wir liefen an den Gebäuden des galizischen Fernsehens vorbei, ein paar berittene Pilger mit Hund überholten uns, wir sahen sie später in der Kathedrale wieder. Und wo ist denn nun Monte Gozo, der Berg der Freude, die letzte Herberge vor Santiago? Wir durchquerten einen riesigen Gebäudekomplex mit gleichförmigen Glasflachbauten. Das also war Monte Gozo! 3000 Leute können hier unterkommen. Alles wirkte super organisiert, doch etwas kühl. War wohl gut für uns, wie es war! Um 9.30 Uhr erreichten wir das Ortsschild von Santiago de Compostela. Ich war innerlich und äußerlich zerzaust. Was hatte die Reise für uns bedeutet? Ich fühlte mich eben wie ein Blatt im Wind. Und wo würde der Wind mich hintreiben? Ich wusste es nicht. Ich war völlig bindungslos. Mein Kind würde erst in 10 Monaten wiederkommen, eventuell. Es gab nur Gott! Und jetzt? Am Ortseingang leisteten wir uns einen Kaffee, kamen an einem Monument vorbei, von dem wir lernten, dass auch Papst Johannes Paul der II. den Camino gepilgert hatte. Wir liefen durch die Stadt, immer weiter auf den Kern zu. Im ehrwürdigen, jedoch überfüllten Pilgerbüro bekamen wir recht unspektakulär unsere Compostela ausgestellt. Im Antlitz der Liebe - 92 - © Gabriele Sych Pilgerlohn: Die Compostela – Eine lateinische Bestätigung, dass wir aus Glaubensgründen bis zur Kathedrale gepilgert sind - in Andacht und aus Gründen der Verehrung. Die Compostela ist jedoch – zumindest in diesem Jahr - keine Ablassurkunde. Pilgerglück: Wir konnten unsere Rucksäcke im Büro unterstellen. Pilgersegen: direkt gegenüber war der SeitenEingang zur Kathedrale, unser Pilgergottesdienst wartete auf uns. Wir setzten uns ganz nach vorn und hatten noch Zeit für einen Rosario, bis eine Nonne begann, mit uns singen zu üben. Der dunkeläugige junge Pilger aus Sarria saß in der Nähe, lächelte mir zu. Gut! Wie betäubt erlebte ich an Santiago gelehnt den Gottesdienst. Nur als wir „Desde Lourdes: uno de Alemania, uno de Ecuador“ hörten, da drückten wir uns fest an den Händen. Wir waren in Santiago angekommen! Ganz anders, als ich erwartet hatte. Ich hatte gedacht, ich würde gemächlich und innerlich gestärkt, mit einer klaren Vision, hier ankommen, und nun war ich mit 48 Jahren den Camino Frances in nur 26 Tagen gelaufen und fühlte mich wie im freien Fall. Würde ich irgendwo aufschlagen oder würde ich beginnen zu fliegen? Wie in jedem Gottesdienst umarmten wir uns fest beim Paz Christi. Noch teilten wir den Weg, noch hatten wir vor, bis Fátima zu laufen. Wäre hier unser Weg zu Ende gewesen, dieses ohnmächtige, leergeblasene Gefühl wäre wahrscheinlich noch intensiver gewesen. Vielleicht möchte Gott einen mal so haben im Leben, damit man danach völlig neu und wieder von null anfangen kann. Neu-Installation des Lebens: Festplatte löschen und alles neu konfigurieren. Ich hatte in den letzten Tagen Gespräche über meine Zukunft nicht mehr führen wollen, um mich nicht herunter zu ziehen, hatte Im Antlitz der Liebe - 93 - © Gabriele Sych Santiago gebeten, dieses Thema einfach ruhen zu lassen. Vor dem Camino hatte Santiago mir geschrieben: Gabriele & Santiago por siempre! Und jetzt? Was hatte Gott mit mir nun vor? Haben wir Angst vor der völligen Unsicherheit und Ungewissheit über unsere Zukunft? Wie weit sind wir in Gott sicher, dass er uns führt, uns führen wird? 34 Nach dem Gottesdienst spazierten wir – endlich mal befreit von der Rucksacklast – durch Santiago, durch die kleinen Gassen, schauten in Andenkenläden und genossen die Stadt. Immer wieder trafen wir Pilger, blieben zum Schwatzen stehen. Wir trafen sogar „Heinrich, Friedelotte und Waldi“ wieder, das deutsche Pärchen, das wir seit dem Alto de Perdón kurz hinter Pamplona immer wieder getroffen hatten. Auf der Praza de Obradoiro schoss Heinrich das einzige Foto des Caminos mit meinem Handy, das Santiago und mich gemeinsam zeigt. Am Nachmittag stiegen wir zur Herberge auf, zum Seminario Menor, ein beeindruckender Steinbau auf dem Hügel über Santiago. Hier durften wir zwei Tage bleiben! Wir erhielten unsere Betten im 4. Stock zugewiesen, die Aussicht über die Stadt war ein wahres Geschenk! Für ein großes Fest – Party, wie es von vielen anderen gehört hatten – dafür war kein Geld da und in mir nicht die Seelenstimmung. Santiago konnte meinen Zustand ebenso kaum aushalten und nahm mich lange, lange und fest in den Arm. Wir ruhten uns aus und überließen uns der Pilgerpflicht des Wäschewaschens. Am Abend besuchten wir um 21.00 Uhr wieder die Kathedrale zur Pilgerandacht, die durch den Leiter des Pilgerbüros geleitet wurde. Nach einer mehrsprachigen Lectura durch die Teilnehmer stellte er uns zwei Fragen, zum einen: „Was ging uns am ersten Tag unseres Weges durch den Kopf?“ Jeder durfte nach vorn an den Leseplatz treten und von sich berichten. Meine Antwort auf die erste Frage finden Sie im Kapitel 2.1.1 über Gottes Reich. Die zweite Frage war: „Was denken wir jetzt?“ Und hier sagte ich: Die Kirche kümmert sich viel zu wenig um die Pilgerei, die Kirchen sind so oft verschlossen. Wir haben unterwegs kein Zuhause und würden dann gern in die Casa de Nuestro Señor, in das Haus unseres Herrn, einkehren. Ora et camina (statt labora)! 34 Jetzt in der Rückschau weiß ich, wie wichtig dieser Moment war, dass ich vor dem Nichts stand. Im Antlitz der Liebe - 94 - © Gabriele Sych Nur für das Ora ist oft zuwenig Raum, es tut auch gut, in Kühle zu rasten. An manchen Tagen haben wir gar keine offene Kirche gefunden. Nur selten gibt es wirklich Gespräche mit den Geistlichen auf dem Weg, dabei sind unsere Beispiele aus Logroño, Belorado und Triacastela wirklich ein glückliches Gegenstück (es gab einige mehr davon). Das hätten wir uns mehr gewünscht, vielleicht mehr gebraucht. Die Herbergen werden häufiger von den Städten als von der Kirche betrieben. Der Camino de Santiago wäre für viel Menschen mehr ein Glaubensweg, wenn die Kirche ihn intensiver nutzen würde. Hunderttausende werden vor die Türen der Kirche geleitet für die Neu-Evangelisierung. Und dies wäre eine Aufgabe nicht nur der spanischen Kirche. Es gibt so viele Pilgerstatistiken, man könnte schnell feststellen, wer, welche Nation den Bedarf produziert und Mittel für diese Aufgabe nach Spanien transferieren. Der Leiter führte uns noch einmal ausführlich unter den Altar an das Grab des Apostels Santiago. Jeder durfte noch eine persönliche Fürbitte leisten. Meine persönliche Bitte galt den Kindern dieser Welt. Dann war auch dieser Weg vorbei. Diese Abendandacht und die internationale Gemeinschaft der Pilger habe ich ganz, ganz positiv in Erinnerung. Einige andere Teilnehmer drückten mir die Hände, sagten, sie hätten ähnlich empfunden wie ich. Danke, Apostel Santiago, danke der Pilgerorganisation, danke all denen, die uns auf dem Weg unterstützt haben, vor allem die Organisatoren der Pilgerherbergen in Galizien. Am nächsten Tag schlenderten wir – luxuriöserweise wieder ganz rucksackfrei - durch Santiago, frühstückten in einem Café, genossen die Stadt, kauften kleine Andenken. Schon seit langem hatte ich am frühen Vormittag immer Santiago um sein langärmeliges Funktionsshirt beneidet. Morgens liefen wir immer mit Jacke los, doch der Übergang von der Jacke zum kurzärmeligen T-Shirt war immer etwas zu frisch anfangs. Santiago zog immer erst seine Jacke aus und später dann das langärmelige Hemd, wenn es richtig warm wurde, um dann kurzärmelig weiterzuwandern. Und schon häufiger hatte ich unterwegs nach einem solchen Hemd Ausschau gehalten, doch es war immer zu teuer gewesen. Hier in Santiago fand ich ein schwarz-grünes Shirt für 15 Euro. Nun war ich für den portugiesischen Weg gerüstet. In zwei Tagen war ja Herbstbeginn! Auf der Praça de Obradoiro winkte uns Margarete aus Polen mit ihrer wieder gefundenen Schwester aus dem luxuriösen Café des Paradors zu. Sie lud uns an ihren Tisch ein, wir selbst wären nie allein hineingegangen. Nach einer Weile kam auch Fred aus der Lutherstadt Wittenberg hinzu, und Stück für Stück fand sich eine bunte Gruppe zusammen. Santiago spielte für uns auf seiner Panflöte und einige für uns neue Pilger waren stolz darauf, in Santiago de Compostela einen leibhaftigen Santiago kennen gelernt Im Antlitz der Liebe - 95 - © Gabriele Sych zu haben. Erinnerungsaustausch, Erinnerungsfotos und Aufbruchstimmung: Fred war kurz vor seinem Weg zum Flughafen. Ich behandelte im Café eine Frau, die wegen einer Knochenhautentzündung am Knöchel den Camino nicht zu Fuß beenden konnte. In Palas de Rei hatte sie einige Tage verweilt, um sich zu kurieren, doch es ging zu Fuß einfach nicht weiter. Sie hatte auch darin ihren Frieden gefunden. Nun wartete sie auf ihren Mann, der extra herflog, um sie aus Santiago wieder nach Hause zu begleiten. Aus einem InternetCafé schrieben wir einige Nachrichten in die Heimat, dass wir angekommen seien. Es fiel mir sehr schwer, diese Nachrichten zu formulieren. Ich hielt sie sehr unbestimmt, ich war nicht bereit, zu zeigen, wie es mir ging. Hallo Ihr Lieben, gestern sind wir heil nach ca. 1000 km in Santiago angekommen, wir sind am 18. August in Lourdes losgelaufen und am 18. September waren wir hier. Es ist eine Erfahrung, fuer die es keine Worte gibt. Wir werden jetzt erstmal noch bis Finisterra laufen und dann weitersehen. Bisher waren wir sehr sparsam und haben pro Person weniger als 400 Euro seit Berlin ausgegeben, billiger als allein Miete. Daher geht alles noch. Meine letzte warme Mahlzeit ist zwar schon 10 Tage her, aber alles laeuft. In letzter Zeit haben wir ca. 30 - 40 km am Tag gemacht. Heute ist unser erster Ruhetag seit dem 18. August. Hier gibt es kein Wochenende, nur jeden Tag Rucksack packen und loslaufen. Hier in der Herberge in Santiago de Compostela duerfen wir mal 2 Tage bleiben, daher unser Pausentag, und natuerlich fuer diese tolle Stadt und zum Verdauen der Ankunft. Santiago de Compostela ist wundervoll, der Norden Spaniens eine Schoenheit, die Staedte wundervoll, die Landschaft von urig bis atemberaubend. Insbesondere Galicien und der Bierzo sind ein Gedicht. Ich fuehle mich wie ein Blatt im Wind. Im Antlitz der Liebe - 96 - © Gabriele Sych Ich hoffe, es geht Euch allen gut, auch dem kleinen Kater, hoffentlich habt Ihr auch schoenes Wetter, seit Pamplona hat es hier nicht mehr geregnet und es war nur 1 1/2 Tage bedeckt. Herzliche Gruesse aus Santiago de Compostela Gabriele & Santiago In der Nacht lernten wir in der Herberge eine kreative, neue Methode kennen, mit Schnarchern umzugehen. Junge Spanier leuchteten mitten in der Nacht einem deutschen Rentner mit RiesenResonanzkörper mit einer Taschenlampe mitten ins Gesicht und forderten ihn auf, mit dem Schnarchen aufzuhören. Seine Frau beschwerte sich: „Der kann doch nichts für das Schnarchen. Und wer das Schnarchen nicht hören mag, der kann doch in eine Pension gehen, wenn er das weiß!“ Ich schlug ihr vor, mit ihrem schnarchenden Mann in die Pension zu gehen. Sie wüssten ja auch beide, dass er schnarcht. Das Problem lag ja nicht bei den jungen Spaniern, sondern in der Schnarcherei ihres Mannes. Sie hätten sicher mehr finanzielle Mittel als die Spanier! Finisterra (90 km) / 20.-22.09.2007 Am dritten Tag verabschiedeten wir uns mit der morgendlichen Messe von Santiago de Compostela, bevor wir nach Finisterra aufbrachen. Dieser Weg war wesentlich leerer als der Camino Frances, doch er ist sehr, sehr schön. Hier endlich gab es noch reife Feigen an den Bäumen, von denen ich schon seit „Feliza: Higos, Agua y Amor“35 träumte. Wir bekamen Aprikosen von einem zahnlosen Greis zugesteckt, danke! Ein sehr steiler Aufstieg führte uns zu einer Quelle, Trasmonte de Maria, vor die ich mich dürstend kniete, nichts ging mehr. Obwohl sie mit Algen bewachsen war, traute ich mich zu trinken, denn ein Symbol des „Sagrado Corazón“ zierte sie. Das Wasser war frisch und belebend. Das Motto des Tages lautete wohl: „Ich bin das Wasser des Lebens“. In Puente Maceira fanden wir einen der schönsten Orte des ganzen Camino: Santiago ging ausführlich und überglücklich in dem Fluss schwimmen, während ich meine Füße - zum Schwimmen zu erschöpft - im Wasser badete. 35 Feigen, Wasser und Liebe. Eine Dame, die kurz vor Logroño einen Tisch am Camino stehen hat und dort Credenciale stempelt, und eben Feigen, Wasser und Liebe freigebig an die Pilger verteilt. Danke! Im Antlitz der Liebe - 97 - © Gabriele Sych In Negreira kauften wir ein, mein Körper zitterte mal wieder vor Anstrengung. Santiago wollte in Negreira nicht in der Herberge bleiben, schon weil er weitere Kosten vermeiden wollte. Wir blieben auf dem Weg, um wieder in der Natur zu schlafen. Oberhalb der Herberge am Kreuz hielten wir noch auf ein Schwätzchen mit einem Pilger an, der dort die Abenddämmerung und Aussicht genoss. Unser Abendessen gab es hinter der kleinen Kapelle am Berg ein. Schweigend liefen wir weiter, zum Sprechen reichte es nicht mehr. Mitten im Wald fanden wir eine grasweiche Lichtung, wo wir 20 m vom Camino entfernt unsere Matten ausbreiteten, unser Pilgervesper hielten und geruhsam und gut geschützt einschliefen. Das Himmelszelt war wieder unsere Herberge für diese sanfte Nacht, von kleine Bäumen zart bedacht. Und wieder sah kein Mensch zu uns hin, obwohl wir einige morgens an der Lichtung vorbeilaufen sahen. Am nächsten Tag ging es in aller Frühe weiter. Der Weg heute war anfangs sehr hübsch und verlief durch Wälder und kleine Orte: A Pena, Kaffeepause in Vilaserío, Cornado, As Maronas, Geima, Pilar, Lago, Ponte de Olveira, wo wir den Fluss Xallas überqueren. Die Landschaft lag wellenförmig vor uns, eine Welle nach der anderen mussten wir überqueren, Berg, Tal, Berg, Tal, den ganzen Tag. In einem Tal trafen wir einen kahlköpfigen, spanischen Radpilger wieder, der sich vorgestern auf der Praça de Platerias hinter der Kathedrale lange mit Santiago unterhalten hatte. Unterwegs gab es keine Möglichkeiten zum Einkaufen. Gegen vier erreichten wir nach 32 km die Herberge in Olveiroa ein, ein altes Natursteinhaus mit türkis gestrichenen Türen und Fensterläden. Auch hier gab es keine Verpflegung zu kaufen, wie uns ein älterer Pilger erzählte, der sich gerade dort eingetragen hatte. Das Café war wegen dringender Familienangelegenheiten geschlossen. Naja, wir konnten ja wieder draußen schlafen! Also ging es weiter: zunächst ein unangenehmer Weg über spitze, grüne Steine, später an Bauernhöfen vorbei. Ein paar Kilometer nach Olveiroa verpflegten wir uns in Hospital in der letzten Bar vor Ceé – wie außen ein Schild uns verkündete. Sie lag einsam an einem stinkenden Industriegelände, über dem ein hoher Schornstein riesige Schmutzwolken ausstieß. Der Wirt klärte uns auf, dass es jetzt nur noch 15 km bis Ceé seien, nur noch bergab. Also wieder weiter! Der Weg ging weit häufiger bergauf als bergab Im Antlitz der Liebe - 98 - © Gabriele Sych und wir fanden keinen Schlafplatz. Es hatte auf diesem Wegstück viel gebrannt. Die geschützte, schöne Stelle, die wir im Sinne hatten, gab es nur ebendort: in unserer Vorstellung. Das letzte Stück, der Abstieg nach Cée war weit, steil und gefährlich, über große, glatte Steine zu erklettern. Unten angekommen trafen wir auf der Straße auf einen sehr großen, freilaufenden Hund. Santiago war weiterhin kein Hundefreund und traute sich nicht an ihm vorbei. Ich ging zurück, nahm ihn an der Hand und führte ihn, dem Hund direkt ins Auge schauend und munter auf ihn einquatschend, hinter mir an ihm vorbei. In Cée war die Albergue schwer zu finden. Nach langem Suchen und mehrmaligem Nachfragen fanden wir sie: sie lag in einem modernen Zweckbau im Keller. Das Büro war nicht besetzt. So bekamen wir keinen Stempel. Es war ist nur ein Raum mit ein paar Matten auf dem Fußboden, dafür mit warmen Duschen. Andere Pilger, ein Pärchen und eine Frau aus Deutschland, halfen uns mit Chips und Getränken für unser Abendessen aus, denn es war schon nach 20 Uhr, die Geschäfte schon zu. Das Pärchen erzählte uns, dass sie zwischenzeitlich auf den Camino Primitivo, dem ursprünglichsten aller Caminos von Oviedo nach Palas de Rei, gewechselt waren, weil ihnen der Camino Francés zu überlaufen war. Der spanische Radpilger war schwer überrascht, als er uns – von seinem Abendessen zurückkehrend – in der Herberge wieder traf. Wieder mal hatten wir eine 50-km-Etappe bewältigt! Im Antlitz der Liebe - 99 - © Gabriele Sych Mit viel Zeit machten wir uns am nächsten Tag auf die letzten 16 km nach Finisterra. Der Morgen war noch regnerisch, so gönnen wir uns einen Frühstückskaffee in einem schicken Café kurz vor dem Strand, wo wir noch einige Mitpilger trafen, z.B. die Frau, die uns am Abend vorher Orangensaft gespendet hatte. Die Kellnerin stellte uns gratis – weil sie uns als Pilger erkennt? - ein paar Churros con Chocolate hin, das sind unglaublich sündige, in Fett gebackene Spritzteigstangen mit Trinkschokolade, in die man die Churros stippt. Mmmmhhhhhh - wovon ein Pilger sonst nur träumen kann! Wo wir unterwegs schon öfter mit hängendem Magen dran vorbeigelaufen waren! Endlich konnten wir sie auch probieren. Herzlichen Dank! Hinter dem Café war ein riesiger Supermarkt in dem modernen Gebäude untergebracht. Wir versorgten uns für die Strecke, dann ging es am Strand los in Richtung Concurbión. Langsam und träge sind wir heute nach der langen gestrigen Etappe. Am Strand von Estorde hielten wir für unser zweites Frühstück mit Schokolädchen und Schinkenbrot, mit Meeresblick, Sandstrand und Möwengeschrei. Noch durch Sandineiro, einen weiteren Berg und dann endlich: der Abstieg nach Finisterra. Das letzte Stück schwingt sich in einem weiten Bogen am weißen Strand von Finisterra entlang. Wir warfen alle Last ab und liefen überglücklich ins Meer. Das Wasser war GANZ schön kalt, egal, so etwas muss sein!! Nun schulterten wir auch unsere Stiefel und liefen barfuss am Strand bis zum Ortseingang von Finisterra vom Meer her. Ich fand eine wunderschöne, große Jakobsmuschel, die ich Santiago schenkte, und für mich eine kleine, die ich auch um den Hals tragen kann. Und: auch so sorgt Gott für einen guten Pilger-Abschluss am Ende der Welt. Nach dem BarfußStrandspaziergang über schmirgelnden Sand und durch die Ausläufer der Wellen hatten sich alle Blasen und Blasenhäute von meinem Fuß gelöst ebenso wie der Fußnagel, unter dem sich auch einmal eine Blase gebildet hatte. Meine Füße waren nun blasenfrei und praktisch wie neu! Danke dafür! Als wir in Finisterra in der Herberge ankamen, gab es Ärger: Wir hatten ja unterwegs keinen Stempel auf dem Weg von Santiago bis Finisterra sammeln können. Für Buspilger sind die Herbergsplätze nicht gedacht, man misstraute uns. Doch während der Diskussion mit den Hospitaleros tauchten plötzlich in der Herberge innerhalb von Sekunden vier Menschen auf: der Pilger vom Kreuz in Negreira, der ältere Pilger Im Antlitz der Liebe - 100 - © Gabriele Sych von der Herberge in Olveiroa und das Pärchen vom Camino Primitivo, das uns in Ceé die Chips gespendet hatte. Alle vier bezeugten, dass wir von Santiago aus gewandert sind. Nun konnten wir bleiben! Danke dafür! In der Herberge trafen wir auch den Kanadier wieder, ein letztes Mal. Wir benutzen die Waschmaschine, um unsere komplette Wäsche mal wieder richtig sauber zu kriegen, dann machten wir uns auf zum Hafenspaziergang, Stadtbummel und Einkauf. Endlich gab es auch wieder eine warme Mahlzeit, das hatten wir schon seit ein paar Tagen nicht mehr: Nudeln mit Tomaten-Thunfisch-Sauce, als Krönung hier mal mit Bohnen. Am Abend gehen wir zum traditionellen Sonnenuntergang zum Leuchtturm, doch wir verbrannten nichts, denn es ging ja weiter! Eine riesige Menge Menschen ist dort. Wir suchten uns einen Platz auf den Felsen. Santiago setzte seine Zampoña an und spielte. Was für ein romantischer Moment: Am Ende der Welt sein mit zarter, sphärischer Musik aus dem Atem des geliebten Mannes. Es wird dunkel, als wir zur Herberge zurückkehren. Wir hörten von anderen, dass sie jetzt feiern gehen würden. Wir feierten diesen Abend auf leise Weise miteinander. Morgen würde ein neues Abenteuer beginnen. Im Antlitz der Liebe - 101 - © Gabriele Sych Camino Portugués Padrón (27 km) / 23.09.2007 Gegenüber von der Pilgerherberge trafen wir viele Mitpilger zu einem gemütlichen Frühstückskaffee mit Blick auf den Hafen. Wir saßen draußen und begnügten uns mit unserem eigenen Brot. Heute gönnten wir uns eine Busfahrt, denn die Strecke nach Santiago wollten wir nicht wieder zurücklaufen. Wir entdeckten an der Bushaltestelle, dass um 11.45 Uhr ein Bus fuhr, wir hatten noch Zeit für einen beschaulichen Sonntagvormittag am Meer. Beim Bäcker trafen wir einen Österreicher, der sich uns als Don Giovanni vorstellte. Er schien schon längere Zeit in Finisterra zu wohnen, die Bäckereiverkäuferin deutete uns lächelnd an, dass er wohl ein wenig mit Vorsicht zu genießen sei. Don Giovanni wollte gern Santiago beim Zampoña-Spielen aufnehmen, also verabredeten uns für 11 Uhr an der Bushaltestelle. Noch einmal kehren wir zum Strand zurück, klettern dabei über die Felsen und schafften uns damit noch eine Asaña, eine Anstrengung, denn die Zeit wurde uns knapp, ich kam ganz schön ins Pusten. Kurz nach 11 Uhr erreichten wir wieder die Busstation und trafen Don Giovanni, der Santiago mit der Webcam seines Computers beim Spielen filmte und Fotos von uns machte, uns handbemalte Wäscheklammern und mit eigenen Bildern beklebte Streichholzschachteln mit seinem Namen und seiner Webadresse schenkte. Dann kam der Bus. Im Bus – ganz vorn auf der ersten Bank mit einer wunderbaren Aussicht – genossen wir die Fahrt am Meer entlang ca. 80 km bis nach Noia, von wo aus wir weiterlaufen wollen nach Padrón, der 1. Station des Camino Portugués. Von Noia nach Padrón war es ungefähr genauso weit wie von Santiago nach Padrón, da konnten wir uns 4 Euro Fahrgeld sparen und trotzdem genauso viel laufen – so dachten wir jedenfalls. Auf der Fahrt sah Santiago den Kanadier das letzte Mal vom Bus aus, der nun die Küstenstraße entlang lief. In Noia, dem letzten Küstenort vor Santiago, fragten wir uns bei einem Kiosk und Im Antlitz der Liebe - 102 - © Gabriele Sych Passanten durch, wie es jetzt weiterginge. Es gab zwei Alternativen für uns: eine schmale Straße durch kleine Dörfer und die Landstraße nach Padrón. Wir entschieden uns für die Tour über die Dörfer. Und dann begann der Aufstieg, Kilometer um Kilometer, von Meereshöhe bis auf 600 m. Es gab keinen Laden, keine Wasserstelle am Berg. Einmal sind wir einfach in einen Garten mit offener Tür hineingegangen und haben uns am Gartenschlauch bedient, zum Trinken, Auffüllen unserer Wasserflaschen und zum Durchnässen unserer Haare, damit wir den Aufstieg in der Sonntagshitze besser bewältigen konnten. Diesen Aufstieg hatten wir allerdings nicht geahnt und aus dem Kartenmaterial, das wir hatten, auch nicht erahnen können. Von Noia konnte man auch nicht auf das Ausmaß des Berges schließen, immer sah es nur nach noch „ein wenig mehr“ aus, nach jeder Kurve jedoch zeigte sich eine neue Höhe der Aussicht. Über 17 Kilometer ging es nur bergauf! Ich taufte diesen Weg nach einer Weile „Montaña de Engaños“, Berg der Täuschung, weil: Immer denkt man, man hätte es geschafft mit dem Aufstieg, doch: getäuscht! Weiter bergauf! Nach dem Montaña de Engaños, den oben eine Stein-Säule mit einer kleinen Jesusstatue beschloss, führte uns der Weg in der beginnenden Dämmerung 10 km lang in engen Kurven nach Padrón, dem Ort, wo das Schiff mit den sterblichen Überresten des Apostel Santiago in Spanien angelegt hatte. Der Ort musste vor 2000 Jahren noch einen Zugang zum Meer gehabt haben. Padrón ist übrigens auch der Ort, nach dem die „Pementos de Padrón“ benannt sind, winzige grüne Paprikaschoten, die man in Spanien in den Supermärkten kaufen kann und die, komplett in Olivenöl gebraten und gesalzen, ein typisch Galizisches Gericht darstellen. Wo in Padrón die Herberge war und wie wir sie fänden, wussten wir nicht, da wir ja von einem unbepfeilten Weg kamen. Es war schon dunkel. Wir fragten ein Pärchen beim Abendspaziergang. Sie wiesen uns an, einfach nur bis zur nächsten Kreuzung geradeaus zu gehen, dann würden wir sie, rechts auf einer Anhöhe, schon sehen. Es war wirklich nicht mehr weit, wir waren automatisch auf den richtigen Weg gekommen. Die Herberge war in einem ehemaligen Kloster untergebracht, dem Convento del Carmen. Ein Hospitalero war nicht mehr da, auch die am Tresen ausgehängte Telefonnumer war nicht mehr zu erreichen. Wir fanden noch zwei freie Betten in dem großen Schlafsaal. Eine Dose Ravioli, die ich seit Negreira mit mir trug, war neben dem Brot, was wir in einem kleinen Ladencafé oberhalb von Padrón gekauft hatten, unser luxuriöses Abendbrot. Eine tschechische Dame, die sich den Camino Portugués mit einer größeren Reisegruppe mit Gepäcktransport ab Valença erlief, freute sich über uns, weil wir Santiago de Compostela schon kannten. Sie fragte uns ein Loch in den Bauch über alles Mögliche: die Herberge, den Pilgergottesdienst, den Parador, was man machen und nicht verpassen sollte. Im Antlitz der Liebe - 103 - © Gabriele Sych Sie war aufgeregt, hatte am nächsten Tag den Einzug in Santiago vor sich. Ich empfahl ihr die Pilgermesse abends in der Kathedrale. Erst lag Santiago im Schlafsaal ganz weit weg von mir, doch dann beanspruchte ein anderer Mann das Bett, in dem er lag, sagte, dass das Bett ihm schon lange zugeteilt war. Santiago war nicht auf Streit aus und suchte weiter und fand sein neues Bett dann sogar neben meinem! Danke dafür! Wie sehr dieser Tag und auch sein Ende ein Bild für unser Ankommen im folgenden Jahr sein würde, war mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewusst. Portas/Briallos (23 km) / 24.09.2007 Am nächsten Morgen besuchten wir die Santiago-Kirche und nahmen an der morgendlichen Messe teil. Anschließend erschienen dienstbare Damen, die die Kirche aufräumten und die Blumen erneuerten. Ein paar andere Pilger fragten sie nach einem Stein, den sie in ihrem Pilgerbüchlein entdeckt hatten. So konnten wir den Original-Stein, den Pedrón, an dem das Schiff mit den sterblichen Überresten Santiagos angelegt hatte, unterm Altar besichtigen. Der Reiseführer Zufall hatte uns eine neue Seite aufgeschlagen. In der Innenstadt von Padrón fanden wir viele neuzeitlichere Kollegen dieses Steines wieder. Jetzt kam die neue Aufgabe auf uns zu, den Camino gegen den Strich zu finden. Zum anderen war die nächste Herberge erst in Pontevedra, also eine ca. 40 km lange Etappe lag vor uns. Bisher waren wir ja mit den Pfeilen gelaufen, am gestrigen Tag durch Nachfragen geleitet. Nun würden die gelben Pfeile ja wieder nach Santiago de Compostela zeigen, wir hätten aber genau in der Gegenrichtung zu laufen, d.h. aus der Positionierung des Vorwärtspfeiles auf die Rückwärtsroute zu schließen. Ganz schnell zeigte sich, dass dies eine anspruchsvolle Aufgabe war. Im Pilgerbüro von Santiago hatten wir eine Liste der Orte erhalten, durch die wir zu laufen hätten, mehr nicht. Schnell verliefen wir uns und dann traf es uns doch, was wir immer zu vermeiden gesucht hatten: wir mussten umkehren. Zunächst hatten wir einige Pfeile gefunden, die uns am Wasser entlang führten und so auf eine Halbinsel geraten. Am Ende des Weges lag ein sehr schöner Picknickplatz, eine wundervolle und romantische Aussicht am Wasser, doch es ging nicht weiter. Umkehren! (siehe auch Kapitel 2.1.3.5 Vergebung) Wir trafen auf einen Radfahrer, der uns den Weg beschrieb, wir fanden Pfeile und verloren sie wieder. Insgesamt verbrachten wir mehr Zeit auf der Landstraße als auf dem Camino. An einer Brücke sahen wir Pfeile, die uns über die Brücke halfen, dann verpassten wir sie wieder. Auf der Landstraße donnerten die Lastwagen an uns vorbei. Das Landstraßengetippel war anstrengend und ermüdend. Im Antlitz der Liebe - 104 - © Gabriele Sych In Caldas de Reis, es war schon Nachmittag, kamen wir an der Kirche vorbei und rasteten auf den Bänken unter Bäumen, Santiago spielte für mich auf seiner Zampoña, ich breitete meine Rolle aus, um mich etwas hinzulegen. Da begann es zu nieseln und schon bald artete es in Regen aus, erst suchten wir Schutz in der Kirche, doch da war nur ein kleiner Vorraum offen. Alsdann gönnten wir uns einen Cafébesuch, um den Regen abzuwarten und unsere verdiente Ruhepause zu genießen. Weiter ging es auf der Landstraße. Plötzlich sah ich ein kleines Hinweisschild auf eine Herberge. Wir hatten laut unseren Unterlagen erst eine Herberge in Pontevedra erwartet. Gern nahmen wir das Angebot an und fanden innerhalb von Viñeros eine schöne, moderne, fast leere Herberge. Außer uns waren nur noch zwei Spanierinnen aus Barcelona dort. Wir teilten uns die Räume auf, sie nahmen den Mädelsschlafraum, wir breiteten uns im Männerschlafsaal aus. Es war kein Hospitalero da, so trugen wir uns selbst ein. Am Empfangstisch fanden wir einen Pilgerführer der galizischen Jakobus-Gesellschaft „Xunta Xacobea“ für die Strecke des portugiesischen Weges in Galizien, wie wunderbar, danke! Jetzt würde es für uns bestimmt etwas leichter, den Camino weiter zu finden. Santiago war erledigt für heute, die Montañas de Engaños gestern hatte ihn geschafft. Sofort legte er sich in der Herberge hin und schlief ein. Ich lief los, um etwas zum Essen für uns zu finden, mal anders herum! In einem Hinterhof von Portas, einem langezogenen Straßendorf, fand ich einen kleinen Landhandel, und natürlich gab es das mangels anderer Optionen das Übliche: Spagetti mit TomatenThunfischsauce und Schinken, Käse und Brot für den nächsten Tag. Inzwischen kauften wir uns abends immer häufiger gezuckerte Getränke, Cola oder Orangensprudel oder ähnliches. Tagsüber tranken wir zwar meist noch Wasser, aber irgendwann mag man das auch nicht mehr runterbringen, sehnt sich nach etwas Geschmack, und der staubige Schleim im Rachen verschwindet auch besser durch das Gebitzel der Kohlensäure. Auf dem Rückweg stiebitzte ich uns noch ein paar dunkle Weintrauben zum Nachtisch. Ich kochte mit dem spärlichen Geschirr, was wir in der ansonsten superschick ausgestatteten Küche fanden, dann weckte ich Santiago für unser Abendessen. Er war tief in seinem eigenen seelischen Prozess eingetaucht. Ich bot ihm erneut eine Behandlung seiner Beine an, die er gern annahm und während der er wieder umgehend einschlief und durchschlief bis zum nächsten Morgen. Redondela (36 km) / 26.09.2007 In der Morgendämmerung brachen wir in Portas auf und liefen in der frischen Morgenluft durch die Viñeros, der Camino hatte uns wieder – leider immer nur kurzzeitig. Wir verloren den Weg immer wieder und Santiago machte es auch nicht so viel aus, auf der Landstraße zu laufen. Die Landstraße war neben der Autobahn die zweite große Verbindung von Santiago über Vigo zur portugiesischen Im Antlitz der Liebe - 105 - © Gabriele Sych Grenze und entsprechend heftig war auch der Verkehr. Der Standstreifen war kein sehr sicherer Ort und wir riefen den Erzengel Michael herbei, um den Weg für uns zu sichern und uns vor schlingernden Lastwagenanhängern mit Tempo 100 zu schützen. Es ist segensreich, sich in diesen Situationen beim Laufen in den Rosario zu flüchten. Man nimmt die Landstraße nicht mehr so sehr wahr. An diesem Tag lief ich für Santiago auch nicht schnell genug, er wurde ärgerlich und lief weit voraus, bis ich ihn nicht mehr sah. Doch der Weg war ja nicht zu verfehlen, die Landstraße schmiegte sich zunächst eng an den Berghang hinauf durch ein enges Tal. Ich hätte hier gern den Camino gefunden, denn die Landschaft sah wundervoll aus: Gärten, Vineros, Wäldchen. Das Teilstück, das wir zwischenzeitlich entdeckt und erlaufen hatten, war viel versprechend gewesen. An diesem Vormittag rief Santiagos Mutter an und begeistert telefonierte er, so dass ich ihn wieder ein wenig einholen konnte. Es hatte ihm gut getan. Die Landstraße führte direkt nach Pontevedra hinein. Da ich inzwischen schon eine Weile allein lief, besorgte ich mir erstmal beim Bäcker frisches Ciabatta und eine fett gezuckerte Schnecke, denn mein Körper zitterte mal wieder und ich war sehr hungrig. An der großen Brücke über den Rio Lérez wartete Santiago auf mich – allerdings sauer, dass er so lange hatte warten müssen. Ich war auch nicht viel besser gelaunt, ich fand das nicht so toll, immerhin waren wir vor 12.00 Uhr schon 20 km gelaufen. Die Innenstadt von Pontevedra war ein Schmuckkästchen. Über eine massive, geschwungene Steintreppe stiegen wir zur Basilika Santa Maria A Grande auf und kamen rechtzeitig zur Mittagsmesse an. Was für ein prachtvolles, dreifschiffiges Haus: eine mit riesigen Blütenmustern und Bögen gefasste Gewölbedecke, ein raumgreifender, reichbebildeter Hochaltar, viele Capillas am Rande, eine Virgen, welche eine besänftigende Stimmung ausstrahlte. Trotzdem setzten wir uns an unterschiedliche Stellen im Kirchenschiff, um die Messe zu erleben. Erst nach dem Gottesdienst, beim weiteren Besichtigen der Basilika, kamen wir zum Paz Christi zusammen und vertrugen uns wieder. Maria bringt vieles in Ordnung, ebenso der Paz Christi, auch wenn uns die Landstraße und der jeweils Andere aggressiv gestimmt hatten. In Pontevedra gönnten wir uns unterhalb des großen Francisco-Klosters einen Kaffee, dann schauten wir uns noch die kleine Kapelle Virgen de la Peregrina an, ein rundes, kleines Kirchlein mit einer Maria in dunkelblauer Pilgerkluft. Rote Templerkreuze zierten die Wände. Eine kleine Verschnaufpause im Kühlen noch, bevor es weiterging. Vor der Kirche gab es einen großen Brunnen in der Form einer Jakobsmuschel, Pontevedra muss schon eine Weile Pilgerstadt gewesen sein, früher war der portugiesische Weg sicherlich stärker frequentiert. Im Antlitz der Liebe - 106 - © Gabriele Sych Wir fanden Pfeile, der Weg hatte uns wieder. Jetzt ging es durchs Grüne, durch Felder und Wälder, wie schön! Irgendwo musste es eine Umleitung des Caminos gegeben haben, denn plötzlich hörte der Weg an einem Bach einfach auf, die Brücke war eingestürzt, der Weg mit Plastikbändern versperrt. Egal, wir stiegen an einer flachen Stelle über Steine durch den Bach, kletterten an der anderen Seite wieder hinauf und dann hatte uns der Camino wieder, der an dieser Stelle tatsächlich schon wieder ein wenig zugewachsen war. In Ponte Sampaio fanden wir im Ort noch die Camino-Steinsäulen, und schon waren sie wieder weg. Über die neue Brücke überquerten wir den Río Verdugo, in der Entfernung konnten wir die ehrwürdig-schöne, alte, römische Brücke bewundern, die dem Ort den Namen gegeben hatte. In Arcade, direkt nach der Brücke, wurden wir auf wunderbare Weise gestärkt und verwöhnt. In einer kleinen Nebenstraße entdeckte uns eine Familie, die gerade von der Weinlese gekommen sein musste. Der Kofferraum ihres Autos war voller Körbe mit Weintrauben. Sie befragten uns nach unserem Woher und Wohin und beschenkten uns mit einer ganzen Tüte Weintrauben, weiße und rote. Aromatischere Trauben hatten wir beide nie gegessen, sie hatten einen intensiven Muskatellergeschmack. Den ganzen Nachmittag futterten wir die Trauben, endlich Vitamine und natürliche Ballaststoffe, was für ein Fest! Herzlichen Dank dafür! Hinter Arcade wurde der Camino zunächst kurzzeitig an der Landstraße entlang geführt, dann ging er wieder in den Wald. Und egal, dass es jetzt steil bergauf ging: lieber Camino mit Subida (Aufstieg) als Landstraße. Und es WAR steil, das kann ich wohl sagen. Oben auf dem Berg entdeckten wir die wild überwachsenen Ruinen einer alten Poststation, dann führte uns der Weg über am Berg gelegene Wohnstraßen nach Redondela hinein. Die Herberge lag ganz in der Innenstadt, diesmal in einem historischen Gebäude aus dem 16. Jahrhundert namens „Casa da torre“, das Turmhaus. Spät kamen wir nach der langen Etappe an, doch es gab noch Betten und superheiße Duschen! Das Duschen war fast wie Blanchiertwerden, krebsrote Haut, es ließ sich leider nicht anders einstellen, aber nicht meckern, besser als kalte! Wir fanden noch etwas zum Kochen: Santiago kochte für uns Suppe, wunderbar, Abendessen gesichert. Die Herberge war diesmal gut besucht. Wir trafen im Speisesaal – ja, das gab es da - zum einen Miguel aus Madeira, einen kernigen portugiesischen Pilger mit einer sehr rustikalen Ausrüstung. Er war schon in Portugal losgelaufen und konnte uns gute Tipps für den Caminho in Portugal geben, vor allem den Hinweis, dass wir bei den Bombeiros Volontarios36 nach einem Schlafplatz fragen konnten, und wo wir in Fátima übernachten könnten, nämlich im Pão da Vida. Miguel kreuzte auf unserem Zettel an, in welcher Stadt es Herbergen oder Bombeiros gab. Er hatte allerdings einige Abstecher in Portugal 36 Freiwillige Feuerwehr Im Antlitz der Liebe - 107 - © Gabriele Sych unternommen, zum Beispiel zum Bom Jesus nach Braga. Miguel hatte noch einen weiten Weg vor sich, denn er wollte von Santiago de Compostela den Camino Francés rückwärts laufen und von dort aus weiter nach Rom. Wir trafen ihn Ende September, ob er wohl in den Wintermonaten den weiten Weg, auch über die Alpen, geschafft hat? Auch er war ein eifriger Rosariobeter – das sah man auch seinem Rosario an - auf der Strecke, wenn er die Mühsal der Landstraße, die er lange gelaufen war, hinter sich lassen wollte. Gleichgesinnte! Zum anderen trafen wir einen deutschen Pilger, der in Deutschland eine Webseite über Jakobswege betreibt und einiges von uns wissen wollte. Weil er aber insgesamt sehr penetrant, aufschneidend und unangenehm wirkte, hielten wir uns lieber an Miguel, der uns auch gern von seiner Flasche Rum abgegeben hätte, wenn wir denn trinken würden… Ein kleiner Abendspaziergang noch durch die Altstadt von Redondela, dann war es gut für diesen Tag. O Porriño (16 km) / 27.09.2007 Vor dem Frühstück wollten wir uns in Redondela die Santiago-Kirche ansehen, doch wir fanden sie leider verschlossen vor. Schade, sie sollte sehr sehenswert sein! So blieb uns denn noch ein Frühstückchen in einem Café in Redondela, dann verließen wir das Städtchen an dem alten Kloster vorbei. Heute fanden wir den Weg ganz gut und wir lernten ein Wort auf Galizisch gut kennen, das auf Portugiesisch genauso heißen musste: „Encima“ oder „por encima“, weil wir es so oft hörten, „den Berg hinauf“, das schallte uns aus einem Garten entgegen, als wir nach dem Weg nur umsahen. Oben auf dem Plateau Chan das Pipas verfransten wir uns wieder. Ein Jogger half uns zurück in die richtige Spur. An diesem Tag trafen wir schon früh immer wieder entgegenkommende Pilger, die nächste Herberge durfte gar nicht so weit sein. Encima: da liefen wir durch Gärten und wieder sprach uns eine Frau an, die gerade ihre Weintrauben vom grünen Blätterdach ihres Gartens erntete. Auch sie schenkte uns ebenfalls eine ganze Tüte Weintrauben – Uvas -, und wieder waren es die aromatischen Muskatellertrauben. Der portugiesische Weg, das merkte man ganz klar, war nicht so überlaufen wie der französische Weg, hier mochte man noch von ganzem Herzen den Pilger als Stellvertreter Jesu beschenken, ohne an der schieren Masse zugrunde zu gehen. Schön war das! Muchas grácias! Und siehe da, im nächsten Örtchen namens Mos gab es schon eine Herberge. Doch es war ja gerade mal Vormittag…noch nichts für uns. Ich traute mich, Santiago erstmals zu fragen: „Warum rennst Du eigentlich so? Warum hast Du es immer so eilig?“ Er wusste spontan keine Antwort darauf, aber dachte zumindest heute darüber nach, Im Antlitz der Liebe - 108 - © Gabriele Sych was mir für diesen Tag eine kurze Etappe bescherte. Nach Berg und Feld verlief auch der Camino wieder an der Landstraße entlang. Wir kamen in O Porriño an und fanden eine wunderhübsche, kleine Kapelle, St. Stefano, in der wir unseren Rosario beten. Die Kapelle war mit vielen Blumen geschmückt, die Jesus-Statue stand noch auf einen Tragegestell. Am Tag vorher muss es eine Prozession gegeben haben. Auch in der Innenstadt waren noch ein paar Jahrmarktsbuden aufgebaut. Wir beschlossen zu bleiben und suchen die Herberge. Was für ein modern-feudaler Bau für die Pilger, großer Aufenthaltsraum, schicke Küche, spiegelblanke Sanitärräume, wahrlich nichts zu meckern! Es gab mehrere große Schlafsäle mit schweren Eisentüren davor. Die Herberge stand uns völlig allein zur Verfügung – dachten wir! Wir besuchten den Supermarkt und ich fand endlich, was ich schon lange zu einem akzeptablen Preis suchte: Tintenfischringe. An diesem Tag kochten wir uns ein wahrhaft feudales Mahl aus einem Nudel-Gemüse-Salat mit den Tintenfischringen und einer Knoblauchmayonaise. Es war unser Abschiedsabend von Spanien, morgen würden wir die Grenze nach Portugal überqueren. Wir kochten mehr, als wir essen konnten, so blieb in der Küche noch Nudelsalat übrig für das Frühstück. Den Rest unserer Vorräte verstauten wir in einer Plastiktüte neben unserem Bett. Nach dem Essen gönnten wir uns eine Siesta, dann wollten wir uns „in das Nachtleben“ von O Porriño stürzen. Wir fanden nun auch die parroquiale Kirche und erlebten einen wunderschönen Gottesdienst. Der weißhaarige, beseelte Pfarrer hielt eine tief berührende, von Freundlichkeit und Liebe, von tiefen Glauben geprägte Predigt, welche Gnade, welche Liebe die Auferstehung Jesu für uns bedeutete, was sie mit uns machte, ein echter Seelsorger, wahre Seelsorge. Johannes 11 (Lutherbibel 1984): 25 Jesus spricht zu ihr: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt; 26 und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben. Glaubst du das? 27 Sie spricht zu ihm: Ja, Herr, ich glaube, dass du der Christus bist, der Sohn Gottes, der in die Welt gekommen ist. Mein Herz wurde ungemein ruhig und gesättigt durch das Gefühl und die unendliche Hoffnung, die Jesu Auferstehung uns an die Hand gibt. Wie gut, dass ich mal wieder gut das Spanisch verstand, danke, Heiliger Geist für Deine Gaben! In dieser Kirche freute mich auch eine der für mich schönsten Marienstatuen am Weg. Nach dem Gottesdienst schlenderten wir noch ein wenig die Geschäftsstraße entlang. Und da kam mir vor einem Sportgeschäft eine Idee. Als kurze Hose hatte ich mir vor der Reise eine alte lange Hose, die ich sonst nicht mehr tragen mochte, einfach abgeschnitten, und diese Hose war inzwischen sehr weit und Im Antlitz der Liebe - 109 - © Gabriele Sych überhaupt nicht mehr ansehnlich, ein wahrer Sack. Ich hatte auf dem Weg mächtig abgenommen und diesen Gewichtsverlust feierte ich mit einer neuen kurzen Hose, ich fand eine blaue, eng anliegende SportShorts von Adidas, die für mich gut bezahlbar war. Und - vor dem Spiegel freute ich mich über meine neue Figur! Diese Hose konnte ich morgens immer unter meiner langen Hose anziehen und musste nun, wenn es warm war, nur noch die lange Hose ablegen, aber nicht mehr die Hosen wechseln. Sehr schön, sehr praktisch. Die Morgende wurden jetzt auch immer kühler, das passte alles sehr gut! Noch in der Herberge entsorgte ich erleichtert die alte Sack-Hose! Tui/Valença (spanisch/portugiesische Grenze) (18 km) / 27.09.2007 Erleichtert hatten uns inzwischen auch andere Bewohner der Herberge: Als wir morgens aufwachten, fanden wir unsere Vorräte angefressen, da mussten eine Menge Mäuse in der Herberge sein. Unsere nigelnagelneue Kekspackung, unser Brot, unser Obst, überall waren sie mit Nagerspuren übersät. Gesehen und gehört hatten wir nichts in der Nacht. Wir ließen uns den restlichen Nudelsalat zum Frühstück schmecken, wuschen ab und hinterließen an der unbesetzten Rezeption der Herberge einen Zettel, auf dem wir auf die kleinen Untermieter der Herberge aufmerksam machten. Und wieder trugen unsere Stiefel uns weiter. Nach O Porriño verlief der Camino durch ein großes Industriegebiet, danach verschwand er wieder im Wald. Inzwischen waren wir im Finden der Pfeile schon viel geschickter geworden, so dass wir immer häufiger auf dem Camino liefen. Wir überquerten die Fieberbrücke, an der der aus Santiago zurückkehrende Pilger San Telmo an Fieber erkrankte und kurz darauf noch auf dem Camino verstarb. Doch das ist schon lange her, 13. Jahrhundert. Beim Eingang nach Tui trafen wir zwei deutsche Frauen an einer Kapelle, die uns mit unseren Flechas weiterhalfen. Nach eigener Auskunft waren sie an diesem Tag trödelig drauf, sie kamen aus der örtlichen Herberge und nach O Porriño war es nicht weit. Sie schüttelten den Kopf, als sie von unseren typischen Tagesdistanzen hören. So hatte ich es mir auch einmal vorgestellt, jaja! Beide waren von Porto aus losgelaufen und erzählen uns einiges: Frische Credenciale gibt es in der Kathedrale von Porto, das war wichtig für uns, denn nur noch wenige Stempelkästchen waren in unserem 2. Credencial frei. Und dass allgemein empfohlen wird, sich die ersten zwölf Kilometer aus Porto heraus nach Maia zu knicken und mit dem Bus zu fahren, weil es nur durch Vorort und Industriegebiet geht. Wir laufen weiter nach Tui hinein und kauften für unser Mittagessen ein. An der Kathedrale, die leider verschlossen war, fanden wir ein Bänkchen direkt neben dem Finanzamt. Leider öffnete die Kathedrale Im Antlitz der Liebe - 110 - © Gabriele Sych auch nicht vor vier Uhr, wie wir zwischenzeitlich erfuhren, so musste diese Kathedrale eben auf uns verzichten wie wir auf sie. Auf dem Weg aus Tui heraus sprach uns eine Frau an. Wir schwatzten ein wenig, sie hatte auch einige Jahre in Deutschland gelebt. Zum Abschied segnete sie uns: „Dios vos bendiga!“ Wie schön, danke! Hat er gemacht! Kurz vor der Brücke über den mächtigen Río Minho, den wir hier – nach Portomarin – wiedertrafen, steht ein Pilgerdenkmal mit einem Muschelbrunnen. Natürlich wurden wieder Fotos gemacht, man konnte sich so schön neben ihn setzen, dekorativ die Kathedrale im Hintergrund. Und dann war es so weit: Portugal, wir kommen! Wir verließen Spanien und überquerten die alte Brücke des Minho nach Portugal. Direkt nach der Brücke erreichten wir Valença, eine alte Festungsstadt. Im Oficina de Tourismo erhielten wir unseren Führer für den Caminho37 Portugués, eine Karte von Valença und den Hinweis, dass die Albergue erst um 18.00 Uhr öffnet. Also stiegen wir mit unseren Rücksäcken zur Festung hinauf. Uns erwartete ein geruhsamer Nachmittag in der Festung mit Kirchenbesuch – ich entdeckte wieder eine sehr schöne „Sagrado Corazón“ Statue - und Rosario und Kaffeetrinken. Auf der Festungsmauer, mit den Beinen baumelnd und mit Blick auf Tui und die so verschlossene Kathedrale machen wir Rast in der Nachmittagssonne und: Maniküre und Pediküre. Mal ganz in Ruhe Körperpflege, muss ja auch mal sein. Als Santiago wieder schick war, griff er zu seiner Zampoña und gab für Portugal sein Einstiegskonzert! Und für mich persönlich! Wir schlendern zurück durch die Altstadt. Uns fiel auf, dass es unheimlich viele Wäschegeschäfte gab. Es wurde nun bald sechs Uhr, also machen uns auf zur zur Albergue St. Teotonio, die - schon längst OFFEN WAR. Ein deutsches Pärchen öffnete uns. Sie wollten von Valença den portugiesischen Weg nach Santiago zurückpilgern. In Santiago hat man ihnen versichert, dass man den Weg sonst nicht findet. Wie gut, dass wir ihren Ratgebern nicht begegnet waren. Auf der Busfahrt hatte die Frau allerdings ihre Stiefel vergessen, darauf warteten sie gerade. In der Herberge begegneten wir einem dicken Spanier, der gerade den Hospitalero vertrat. Er erzählte uns, dass er den Camino Portugués schon 12 x 37 Ab jetzt werde ich die Camino mit h, also Caminho schreiben, weil es in Portugal so geschrieben wird. Im Antlitz der Liebe - 111 - © Gabriele Sych gelaufen habe. Nicht, dass er so aussieht! In der Herberge von Valença – Portugal scheint da wesentlich strikter zu sein als Spanien, wo Frauen und Männer immer bunt gemischt in den Räumen übernachteten - gab es einen Frauen- und einen Männerschlafsaal, das bedeutete, in dieser Nacht mussten wir uns trennen. Santiago kochte für uns Suppe mit Nudeln; der Spanier bekochte später mit einem Riesenbuhei die halbe Herberge mit Fisch. Bei uns stand heute noch ein Rosario aus, wir fanden einen stillen Ort im Krankenzimmer der Herberge. Unsere nächtliche Trennung hatte für mich sehr unangenehme Folgen: Es war eine eiskalte Nacht und meine lebendige Heizdecke fehlte mir sehr. Ich schloss das offene Fenster, weil der Windzug direkt auf mein Bett stand. Da beschwerte sich die Deutsche, die neben dem Fenster lag. Sie wäre so erkältet und bräuchte dringend frische Luft, sie könnte so nicht atmen. Da sie das nun schon die halbe Nacht hatte, beschloss ich, trotzdem das Fenster zu schließen, damit ich auch mal zum Schlafen kam. Das war nun ihr egal, sie öffnete es wieder. Selbst das Kopfkissen vom Nebenbett, das ich in meinen Schlafsack zum Zudecken hineinstopfe, machte mich nicht wärmer. Ich war stinkesauer und konnte nicht richtig schlafen. Ich kann eben einfach nicht schlafen, wenn ich zu kalt bin, das war schon immer so… Ponte de Lima (40 km) / 28.09.2007 Ein früher und ob der nächtlichen Kälte übellauniger Aufbruch führte uns aus der Stadt. Am Ortsausgang an der Tankstelle fanden wir ein Café und wir kauften uns feiste Chocolatinas zum Frühstück, die halfen nach und nach darüber hinweg. Jetzt galt es zu entscheiden: wie laufen wir weiter? Es gibt eine Route über Viana do Castelo an der Küste entlang und eine über Ponte de Lima, etwas mehr landeinwärts. Vor 15 Jahren war ich einmal mit dem Auto in Nordportugal gewesen, ich kannte beide Städte, hatte in Viana do Castelo damals sogar einen farbenprächtigen Umzug miterlebt, fand aber Ponte de Lima schöner, vor allem erinnerte ich mich an den dortigen fantastischen Vinho Verde. Wir fragten auch nochmals bei einem Einheimischen nach, und er empfahl uns den Weg über Ponte de Lima, auch wenn er steiler wäre. Also gut! Wir fanden den Camino wieder und entschieden uns für die Route nach Ponte de Lima. Und dann kam sie, eine steile und lange Subida, aber das war ja angesagt, der Weg war wunderbar, eine total schöne Etappe durch den Wald. Mehrere Pilgerbrunnen standen am Weg, für uns war gesorgt. In S. Bento trafen wir an der Kirche auf vier deutsche Altherrenpilger. Wir tauschten uns aus über das Woher und das Wohin. Sie kamen aus Porto, an diesem Tage aus Rubiaes. 14 Tage hatten sie sich für Im Antlitz der Liebe - 112 - © Gabriele Sych die 240 km bis Santiago vorgenommen. Als sie von unserem Weg hörten, bezeichneten sie uns als „Harte Hunde“. Sie beschrieben uns den weiteren Weg des heutigen Tages, den wir auch wirklich gut fanden. Die ersten 20 km hatten wir schnell hinter uns. In unserer Mittagspause in Rubiaes am Wegesrand passierten uns spanische Radpilger, auch sie gaben uns wieder Weghinweise. Es würde etwas feucht werden, sie hatten häufiger tragen müssen, oft wäre der Weg eng. Und wieder eine heftige Subida in der heißen Sonne! Auf dem Gipfel kamen uns einige deutsche Pilger entgegen, die in Ponte de Lima aufgebrochen waren und an diesem Tag erst jetzt hier angekommen waren, uuuiiiihhh, das würde ja noch einen ordentlichen Weg bedeuten! Und dann legte sich uns ein langer Abstieg vor die Stiefel, zunächst durch den Wald über Stock und Stein und mit unglaublich vielen Flechas, an jedem dritten Stein war einer! Santiago meinte: Wenn man all diese Pfeile besser über den gesamten Weg verteilt hätte, dann hätten wir es viel leichter gehabt. Nach dem Wald folgte ein beschaulicher Kopfsteinpflasterweg in Serpentinen abwärts durch Viñero-Hänge mit vielen, vielen Weintrauben, von denen so einige in Santiagos Hände „fielen“. Weiter nach Ponte de Lima, ein Weg, der an diesem Tag gar nicht enden mochte: unter der Autobahn durch und einmal über eine fiese Behelfsbrücke über ein tiefes Wasserloch, die nur aus zwei Stahlträgern bestand, die über die Felsen gelegt waren. Hätte das Wasser, über das sie führten, nicht so im Schatten liegen, wir hätten gebadet. In einem stillen Waldstück hielten wir erschöpft ein Schläfchen. Ganz plötzlich lag nach ca. 40 km Weg die Ponte de Lima vor uns und wir überquerten die alte, römische Brücke mit ihren 24 Bögen, verloren dafür aber sofort an ihrem Ende unsere Flechas. An diesem Abend machte uns unsere Übernachtungssuche zu schaffen, wir endeten über mehrere Stationen schließlich unter der Autobahnbrücke. Mehr über diesen Abend in 2.1.4 Sinn von Armut und Fülle. Barcelos (39 km) / 29.09.2007 Am Fluss Lima entlang ging es am nächsten Morgen weiter, wir entdeckten unsere Flechas. Am Weg durch die Gärten sahen wir überall Tüten mit Brötchen an den Hauseingängen, die vom Bäcker wohl dort abgeliefert wurden. Einige Häuser hatten sogar neben dem Briefkasten einen eigenen Einwurf für „Pan“, Brot. In einem kleinen Café hielten wir für die Toilette an, wir entdecken daneben einen winzigen Dorfladen. Für unser Frühstück lagen dort die letzten 4 Brötchen bereit, die es gab, und wir freuen uns darüber wie die Schneekönige, dazu zwei saftige Pfirsiche und eine Flasche Ananas-Saft, alles zusammen für 1,63 Euro. Im Antlitz der Liebe - 113 - © Gabriele Sych Über viele Dörfer verlässt der Caminho Ponte de Lima. In Facha fanden wir ein recht modernes Café und konnten noch mehr Brot für den Tag kaufen. Hier erfuhren wir, dass der Milchkaffee in Portugal Galão heißt und ab diesem Moment bestellten wir uns diesen immer wieder. Wunderbar, die heiße, süße Milch im Kaffee. Irgendwann begann es zu nieseln und dann immer stärker an zu regnen und so blieb es auch bis Barcelos. Wir wurden pitschenass samt Hosen und Stiefeln, die blauen Plastik-Ponchos, die wir in León vor 20 Tagen im Chino-Basar gekauft hatten, kamen nun zum Einsatz. Das bedeutete übrigens, dass wir in ganz Galicien keinen wirklichen Regen hatten!! Stell dir vor, Pilar! In einem Bushäuschen stellten wir uns eine Weile unter, aber länger bleiben hat ja keinen Sinn. Wir fanden unseren Caminho immer wieder und auf Fragen hieß es fast immer „Encima“, nach oben. Auch in Nordportugal ist die Landschaft in Wellen geschaffen. In den Tälern zerschneiden die großen Flüsse Minho, Lima, Cávado, Douro, Mondego das Land in Ost-/West-Richtung. Und nach jedem Fluss geht es wieder den Berg rauf, eben „Encima!“ Die blauen Flechas, die nach Fátima weisen, sind tlw. sehr irreführend, die Leute schicken uns oft in die entgegengesetzte Richtung.. Vor einem Haus trafen wir eine Frau, die schon nach Fátima gepilgert war, in 5 Tagen. Von hier aus? So nah sind wir schon dran? Wir sollten noch sehen, wie die Portugiesen pilgern. In Lijó, es ist schon wieder die Zeit des Abstieges, machen wir durchnässt Pause in einem Café, wärmten uns auf. Und wieder tröstete uns eine Chocolatina und weckte unsere Lebensgeister. Von hier aus sollte es nicht mehr so weit sein, und wir bekamen vom Café sogar einen Carimbo, so heißt in Portugal der Stempel. Der Regen ließ nach, als wir nach Barcelos hineinlaufen. In der Innenstadt suchten wir das Tourismus-Büro auf. Eine ganz liebe Deutsch-Portugiesin, die in Hamburg aufgewachsen war, verriet uns, dass es in Barcelos keine Pilgerherberge gibt und riet aufgrund unserer Finanzlage, es doch bei den Bombeiros Volontarios zumindest zu versuchen. Sie erklärte uns den Weg, es war gar nicht weit. Sie hätten zwar nicht viele Betten, aber wenn wir Glück hätten, dann wären sie noch frei. Von der Feuerwehr hatten wir schon in Redondela von Miguel aus Madeira gehört. Und hier möchte ich mal einen Riesendank an die portugiesische freiwillige Feuerwehr aussprechen, die uns als Pilger unheimlich gut unterstützt hat. Danke dafür! Denn tatsächlich, der Wachhabende der Feuerwehr führte uns in ein großes Zimmer, in dem drei Betten standen und zeigte uns in der Nähe noch eine Toilette. Großartig! Wir konnten die Mannschaftsdusche im Keller benutzen, und das tat ich auch. Jetzt mussten nur noch alle Sachen trocknen. Wieder ca. 40 km geschafft, schon 80 in Portugal an zwei Tagen!! Im Antlitz der Liebe - 114 - © Gabriele Sych Barcelos ist die Stadt des Gallo Portugués, der Legende des portugiesischen Hahns. Es ist eine ähnliche Geschichte wie in Santo Domingo de la Calzada, wo auch ein schon toter, gebratener Broiler wieder anfing zu krähen und damit das Leben Unschuldiger rettete. Wir gingen der Tradion auf den Grund und kauften uns auch ein Frango Assado, ein gebratenes Huhn. Das überlebte nicht und hatte keine Chance, nochmals zu krähen. Wir futterten es im Stile der Neandertaler aus der Hand in den Mund auf der Treppe einer Einkaufspassage hintereinander weg und auf der Stelle auf. So hungrig waren wir. Im Supermarkt Pingo Doce, zu dem uns die Hamburgerin geraten hatte, ging es dann zum Einkauf und auf dem Rückweg besorgten wir uns in einem Kiosk alte Zeitungen, damit über Nacht die Stiefel trocknen konnten. Wir waren fix und fertig! Es wurde eine ganz frühe Nacht bei den Bombeiros – und wir hörten es die ganze Nacht durch in Strömen regnen. Da wäre mit draußen Übernachten gar nichts gewesen. Wie heißt es weiterhin so schön: Wir sitzen im Trocknen, was schadet uns das? São Pedro de Rates (17 km) / 30.09.2007 Am nächsten Morgen – wieder ein Sonntag – gingen wir im strömenden Regen in die Igreja Bom Jesús da Cruz zum Gottesdienst, die Kirche war „gerappelt“ voll, was sich in Portugal als das Typische herausstellen sollte. Die Portugiesen sind ein sehr gläubiges Volk. Der örtliche Kirchen-Chor sang und eine der Vorsängerinnen, die sich sichtlich massiv persönlich im Chor einbrachte, sang konsequent neben der Spur – wunderbare Menschlichkeit. Wir tauchten ein in die portugiesische Sprache. Nach dem harten, manchmal geradezu knatternden Spanisch klingt das Portugiesische weich, gesungen, mit vielen S-Stimmlauten, teilweise wie genuschelt! Was für ein schönes Vaterunser: Pai nosso que estais no céu, santificado seja o vosso nome, venha a nós o vosso reino, seja feita a vossa vontade, assim na terra como no céu. O pão nosso de cada dia nos dai hoje; Im Antlitz der Liebe - 115 - © Gabriele Sych perdoai-nos as nossas ofensas, assim como nós perdoamos a quem nos tem ofendido, e não nos deixeis cair em tentação, mas livrai-nos do mal. Porque teu é o reino, e o poder, e a glória, para sempre. Amen! Im Gottesdienst sah Santiago plötzlich durch ein Fenster die Sonnenstrahlen hineinblinken. Der Tag war gerettet! Die Sonne zog tatsächlich ein und wir konnten unseren Weg nach St. Pedro de Rates bei trockenem Wetter fortsetzen. Gottesdienst besuchen hilft. Danke dafür! Beim Verlassen der Stadt trafen wir noch auf viele der großen, bunten Hähne, die überall in Barcelos aufgestellt sind und schauten uns die große Kirche über dem Fluss an. Dann überquerten wir den Cávado und durchquerten Barcelinhos, das „kleine Barcelos“ auf der gegenüberliegenden Fluss-Seite. Plötzlich sprang mir ein Ortsname ins Auge, der mir sehr bekannt vorkam: Carvalhal! Das ist der Ort, in dem Eragon aus dem gleichnamigen Fantasy-Buch aufgewachsen ist, das ich mit meinem Sohn mit großer Begeisterung gelesen und im Kino gesehen hatte. Ich fotografierte das Ortswappen am Bushäuschen, um ihm später zeigen zu können, dass es einen solchen Ort tatsächlich gab. Dies war auch wieder so ein Tag, an dem es nicht so recht voranging. Kilometer zogen sich, auch wenn wir die Pfeile heute gut fanden. Der Camino führte heute wieder durch viele Viñeros, die jedoch oft stark gespritzt waren mit einer bläulichen Chemie. Wir waren nicht sehr schnell und nach den zwei Monsteretappen recht müde. Mein rechter Fuß tat mir nun schon seit ein paar Tagen richtig weh, auch wenn ich ihn täglich ausführlich behandelte. In einem kleinen Ort liefen wir an einem Haus vorbei und ich sah eine blaugelbe Jakobsmuschel und schaute nochmals hin. So fanden wir quasi im Vorbeigehen die sehr gut ausgerüstete Albergue – der Ort war São Pedro de Rates - durch einen großen Zufall. Schnell kauften wir uns im Laden der Hospitalera, gegenüber der Herberge, etwas zum Essen ein, es war ja Sonntag. Wen würde es jetzt überraschen, wenn es wieder Nudeln mit Tomatensoße und Thunfisch gab! An diesem Tag allerdings gab es zusätzlich als Beigabe dazu gregorianische Gesänge, in der Herberge gab es – welch ein Luxus – eine Stereoanlage und sogar ein paar CDs. Der Aufenthaltsraum war mit Sesseln und Sofas wohnzimmermäßig gemütlich. Webseite der Albergue von São Pedro de Rates Im Antlitz der Liebe - 116 - © Gabriele Sych Es gab einen Wäscheraum und viel Platz auf der Wäscheleine im Innenhof, eine exzellente Chance, um wieder einmal alles durchzuwaschen. Im Hinterhof befand sich sogar ein kleines Museum mit alten Landgerätschaften. Im Seitenteil des alten Gebäudes lagen die Duschen. Kleine schwarze Viecher flogen in Scharen durch die Gänge: Fledermäuse! Was wir nicht alles zu sehen bekamen! Da wir heute früh ein gekehrt waren, schauten wir uns noch São Pedro de Rates an. Es gab einen kleinen, ausgeschilderten Rundweg zu Rates historischen Stätten. Wir fanden einen alten Brunnen, Bilder vom Leben der Kinder vor langer Zeit und eine kleine Kapelle, in der eine Virgen zu sehen ist, deren Herz mit 7 Schwertern durchbohrt ist. Das sah wirklich grausam aus. Sie muss schlimme Schmerzen leiden. Warum wird sie so dargestellt? Eine ältere Dame beaufsichtigte die Kapelle und wir konnten spüren, wie wichtig ihr diese Virgen war. Teilte sie ihren Schmerz? Erst lange danach erfahre ich von den typischen Leiden eines barmherzigen Menschen. Weiter geht es in eine alte, trutzige, romanische Kirche. Wir entdeckten, dass es eine Templerkirche ist, ihr Hauptgiebel ist von einem Templerkreuz gekrönt. Wir fotografierten und es dauerte eine Weile, bis auf dem Bild sowohl unten Santiagos Füße und das Templerkreuz oben drauf waren. Innen konnte man die mächtigen weißen und grauen Steinblöcke erkennen, aus denen sie gebaut war. Von drinnen wirkt sie auch höher, als man von außen vermutet. Dunkle Holzbänke füllten den Innenraum. Die starken Pfeiler waren mit alten Skulpturen verziert, die Skulptur eines Bischofs trug dicke, rote Handschuhe und der Duft der Lilien auf dem Altar durchströmte die ganze Kirche. Doch ganz klar: Portugal ist VirgenCountry. Auch sie ist an prominentem Ort zu finden, Rosen zu ihren Füßen. Bald kam schlüsselklappernd der Küster, um die Kirche zu schließen, schade. An der Rückseite sahen wir, dass die drei runden Apsiden gerade von außen beeindruckend, vor allem auch beeindruckend schön waren. Dahinter trafen wir auf acht Steinsärge, die im Bogen aufgestellt waren. Was mochte das sein? Als es dunkel wurde, besuchten wir auf dem Rückweg noch ein Internet-Café und buchten uns für eine Stunde ein. Ich erhielt Post von meiner Praxis-Hauptmieterin, sie hatte ihre und damit auch meine Räume aufgrund ihrer persönlichen Situation von jetzt auf gleich aufgegeben. Wenn ich zurückkäme, hätte ich für meinen Neu-Anfang also erstmal keinen Raum. Eiiiiiiiieiiiiiiieiiiiii! Und dann noch die zweite Entdeckung: Meine Praxis-Internet-Seite war nicht mehr erreichbar! Ich hatte sie noch vor der Reise auf ein neues Programm umgestellt und zu einem neuen Provider umgezogen und nun verwies die Adresse nur noch auf eine Hinweisseite, Baustelle, nicht jedoch auf mein Angebot. Ich hatte meine Handykarte, auf der alle Anrufe für meine Praxis einliefen, bei meiner Vermieterin gelassen, damit sie Anrufe entgegen nehmen könnte von zukünftigen Klienten. Was sollte denn nun passieren, wenn ich zurück kam? Ich hatte doch auf neue Klienten gehofft für die Zeit nach meiner Pilgerreise. Und nun war Im Antlitz der Liebe - 117 - © Gabriele Sych alles ins Leere gelaufen und hatte mich richtig viel Geld gekostet. Wie sollte ich nach der Reise wieder meinen Lebensunterhalt verdienen? Doch ich konnte es nun drehen und wenden, wie ich wollte: Innerhalb von einer Stunde war das alles nicht lösbar. Da mir schon seit Tagen mein rechter Fuß mächtig weh tat und trotz aller Behandlungen damit nicht aufhörte, entschloss ich mich, auch aufgrund der Aussagen der Pilgerinnen in Tui über die Vorstadt von Porto, mit dem Bus dorthin zu fahren, um alles Notwendige am nächsten Tag von dort aus zu regeln und vor allem meinen Heimflug zu buchen und währenddessen meinen Fuß zu kurieren. Was soll denn nun aus mir werden? Nun war ja gar nichts mehr da außer meinem Auto und meiner eingelagerten Habe. Da war mehr offen, als ich erwartet hatte. Das Gefühl, wie ein Blatt im Winde zu sein, verstärkte sich noch einmal gewaltig. Was würde wohl nach dem Camino geschehen? Santiago wollte die 37 km am nächsten Tag laufen, Buspilgern d.h. Schummelpilgern, das kam für ihn natürlich definitiv nicht in Frage. Am Abend fanden wir in der Herberge zwei Stadtpläne von Porto und den Busfahrplan, wir verabredeten uns an der Kathedrale für den nächsten Tag um vier Uhr nachmittags. Porto (37 km) Schräg gegenüber von der Herberge in São Pedro de Rates lag die Bushaltestelle. Der Bus kam pünktlich um 7.45 Uhr und ich winkte Santiago nach, der die Straße Richtung Kirche hinunterlief, immer kleiner werdend. Der Bus war voller Schulkinder, die nach Póvoa de Varzim wollten. Sie wirkten genauso wie die Schulkinder bei uns in Stil und Klamotten und Gehabe. Mit einem Affenzahn schaukelte der Fahrer den alten Bus durch die Kurven, die anderen Mitfahrer ließ das ungerührt. Das war wohl tägliche Praxis, um pünktlich in der Schule anzukommen. In Póvoa de Varzim wechselte ich in den Bus nach Porto, in einen wesentlich bequemeren Überlandbus. Alles in allem kostete mich die lange Fahrt 3 Euro, Wahnsinn! Die ganze Busfahrt über behandelte ich meinen rechten Fuß und den ganzen Tag über immer wieder. Heute wollte ich die Dinge an der Heimatfront in Ordnung bringen. In Porto besuchte ich zunächst die Kirche, um für den Tag um gutes Gelingen, für die Lösung meiner Probleme und um die Heilung meines Fußes zu bitten. Ich fand als erstes die grau-grandiose Trinitätskirche und kam gerade rechtzeitig zum Gottesdienst. Anschließend setzte ich mich zur dortigen Statue des Sagrado Corazón de Jesús, um mit ihm zu reden. Es wurde sehr intensiv, es wurde lebensverändernd, was er mir zu verstehen gab. Im Antlitz der Liebe - 118 - © Gabriele Sych Zunächst ging es um meinen Fuß. Dazu verstand ich: Der Körper ist immer heil und unversehrt. Doch zusätzlich ist dort der Schmerz. Und wenn wir den Schmerz heilen wollen, dann müssen wir den Schmerz liebevoll annehmen, ihm danken und ihn dann fragen: Wofür stehst Du? Was willst Du mir sagen? Die Antwort, die ich von meinem Fuß erhielt, war: Gehe einen besseren Weg! Entweder du verlässt dich auf Gott und bist unbesorgt oder du klärst das, was Dir Sorgen macht. Beides gleichzeitig geht nicht. Sonst gehst Du auf dem Weg nicht voran. Man kann nur einen Weg gehen. Der Schmerz an meinem Fuß wurde an diesem Tag besser, aber ganz ging er noch nicht weg, denn ganz hatte ich das Prinzip ja auch noch nicht bewältigt, das sollte erst in den nächsten Wochen kommen – durch die Inhalte dieses Buches. Die zweite Aussage war: Lass dein Leben sich entfalten! Versuche nicht immer zu ergründen und zu wissen, was passiert, das ist für dich nicht kontrollierbar und es ist dir auch schlicht nicht möglich. Andere spielen in dem Spiel auch eine Rolle und das kannst Du nicht provozieren, nicht beschleunigen, nicht verlangsamen und nicht verhindern, es passiert einfach, jeder macht seine eigenen Züge. Lass das Leben sich entfalten und lebe es Tag für Tag und kläre jeden Tag genau das, was du jeden Tag klären musst, mehr nicht. So entschloss ich mich, lediglich meine Internet-Präsenz abzustellen und mit der Reparatur und allen weiteren Aktivitäten für meine Zukunft und mein Auskommen bis Berlin zu warten. Im Haus der Stadtverwaltung, schräg gegenüber der Trinitätskirche, bekam ich eine ganze Stunde Internet geschenkt. Ich stellte also meine Internet-Seite ab, schickte Emails, schaute nach Flügen von Lissabon oder Madrid nach Berlin und begann, mir ganz in Ruhe das schöne Porto gefallen zu lassen. Jetzt pilgerte ich, genau dies war gerade dran, das war das Einzige, was ich jetzt erleben konnte und sollte. Und: sollte sich das Leben doch um sich selber kümmern! Ich kaufte neue Credenciale in der Kathedrale, denn unser zweites war nun auch schon voller Stempel – oder wie sie in Portugal heißen: Carimbos, genehmigte mir noch einen Galão in der verwinkelten Altstadt unterhalb der Kathedrale. Ab halb vier wartete ich wieder vor der Kathedrale auf Santiago. Im Antlitz der Liebe - 119 - © Gabriele Sych Er kam erst gegen fünf Uhr, denn er hatte sich verlaufen und insgesamt einen harten Tag hinter sich. Wir waren wirklich froh, einander wieder zu haben. Wir übernachteten wieder – großes Glück - bei den Bombeiros und leisteten uns als warme Mahlzeit Große Pommes bei McDonalds. Ich zeigte ihm noch die schöne Igreja Trinidade, wo gerade ein Gottesdienst endete. Hier holten wir uns noch unseren Carimbo in der Sakristei, dann schloss die Kirche. Gegenüber der Kirche war das Locutorio, ein Telefon- und Internetcafé, in dem ich an diesem Tag ebenfalls einige Zeit verbracht und auch meinen Flug von Madrid nach Berlin gebucht hatte. Dorthin gingen wir, und Santiago freute sich von Herzen über sein Telefonat mit seinem Sohn in der Heimat. Die Lichter Portos genossen wir bei einem langen Abendspaziergang und kehrten dann zur Feuerwehr zurück. Santiago schlief im Mannschaftsraum der Männer, ich in dem der Frauen. Lourosa (27 km) / 2.10.2007 Santiago lernte über Nacht bei den Bombeiros Karl-Heinz kennen, sie redeten noch lange in die Nacht hinein. Karl-Heinz war von Lissabon den Camino Portugués gelaufen, hatte Fátima und Tomar besucht, wovon er sehr schwärmte. Er hatte unterwegs lange keine anderen Pilger getroffen, hatte auch vor Porto für eine Strecke den Bus genommen und freute sich nun über unsere Gesellschaft. Ein ganzes Jahr lang hatte er frei und war nach Todesfällen in der Familie einfach auf den Camino gegangen, um für sich Trost und eine neue Perspektive zu finden. So lud er uns, als wir auf unsere Carimbos der Feuerwehr warteten, zum Kaffee ein und wir sprachen lange miteinander. Zum Abschied sang er für uns an der Ampel vor der Trinitätskirche ein mehrstrophiges, berührendes Lied über die Wanderschaft, über ihr Wohl und Wehe, das Süße und das Bittere. Danke, Karl-Heinz und viel Glück für Dich! Wir stiegen wieder an zur Kathedrale und überquerten die große Brücke über den Douro. Jetzt lag noch einmal die ganze Schönheit Portos vor uns. Auf der einen Seite die mächtige Sé (Kathedrale) mit dem Bischofssitz, daneben die als Unesco-Kulturerbe geschützte Altstadt mit ihren engen, verwinkelten, oft steilen Gässchen, in denen ich gestern etwas herumgeklettert war. Unten am Fluss die Anlegestellen der traditionellen PortweinBoote, die großen Kontore und die Restaurants am Ufer des breiten Douro und auf der anderen Seite die ganzen Portweinkellereien in Vila Nova da Gaia, bekannte Namen waren da auf den großen Schildern Im Antlitz der Liebe - 120 - © Gabriele Sych zu sehen: Sandeman, Ferreira, Taylor’s , Fonseca, Graham, wie viele man davon kennt! Fantastisch! Der Pilger ist jedoch kein Tourist, also ging es weiter. Unsere Pfeile verloren wir im Nu. In Vila Nova liefen wir die Hauptstraße entlang, es gab hier sogar einen Schlecker, ich kaufte mir neues Duschgel und Shampoo, nun machte es mir nichts mehr aus, auch normal große Flaschen zu tragen. Mein Rucksack war mir so weitgehend an den Rücken gewachsen, oft merkte ich ihn nicht mehr, wie die Kilos, die so manche von uns an Bauch, Beinen und Po tragen. Santiago kaufte uns Brot und einen Kokos-Kuchen mit viel, viel Puderzucker drauf, wir staubten damit fröhlich beim Laufen vor uns hin, das Süße tat uns sehr, sehr gut. Wir fragten unterwegs ein paar Frauen nach dem Weg und sie wiesen uns den Weg - zur nächsten Bushaltestelle. Als wir ihnen klarmachten, dass wir zu Fuß weiter wollten, pilgerten, da stiegen ihnen die Tränen in die Augen. Fátima! Ein Zauberwort in Portugal! Die eine nannte uns ihren Namen, Claudia, fiel uns um den Hals und bat, dass wir in Fátima für sie beten. Claudia, das haben wir gemacht! Die N1, das war heute unsere Laufstrecke. Und die N1 war Baustelle, die ganze Zeit lang, das lasen wir auf den Schildern an der Straße. Im Prinzip kann man sagen, dass inzwischen das ganze Gebiet an der Nord-Küste bebaut ist, zwischen den Städten vielleicht mal 100, 200 m mit Bäumen dazwischen, ansonsten steht an der Landstraße Haus an Haus. Das war Anfang der 90er Jahre noch nicht so gewesen. Als ich damals in Portugal war, da kam mir Portugal unheimlich aufgeräumt vor, so wie Oberbayern, vor allem gegenüber Spanien, das eine einzige Baustelle zu sein schien. Kaum hatten wir damals die Grenze überschritten, schien uns Portugal wie ein Paradies, ein Land, vor dem die Zeit ein wenig Halt gemacht hatte. Nur ein paar EU-geförderte neue Straßen hatten wir gesehen, der Rest wirkte so ursprünglich – und eben sehr ordentlich, müllfrei, als ob gerade eben noch gefegt worden wäre. Und davon hatte ich Santiago auch vorher vorgeschwärmt, der ein großer Fan von Sauberkeit ist. So war es inzwischen nicht mehr, die Landstraße war genauso schmuddelig wie jede andere Landstraße. Und inzwischen hatte sich Spanien konsolidiert, man hatte sich Mühe gegeben, Altes und Neues nebeneinander gut aussehen zu lassen. Portugal hatte sich verändert und die N1 war kein wirklich schöner Ort. Genervt, ich war genervt! Mit meinem Fuß war es an diesem Tag wesentlich besser, es gab Phasen, da hab ich ihn gar nicht mehr gespürt. Auch an diesem Tag trafen wir einen Pilger, der ebenfalls schon lange ohne Kontakt zu anderen Pilgern war, ebenfalls ein Deutscher, der lange in Südafrika gelebt hatte und nun in Spanien in Sichtweite zur portugiesischen Grenze wohnte. Er war ebenfalls in Lissabon losgelaufen und hatte in den im Pilgerführer aufgeführten Herbergen und Pensionen übernachtet, jedoch anderen Pilgern dort nicht begegnet. Er war auch in Fátima gewesen, hatte es aber schrecklich gefunden, ein Fußballfeld und jede Im Antlitz der Liebe - 121 - © Gabriele Sych Menge Andenkenläden, von Wallfahrtsort hätte er kaum etwas gemerkt. Er hätte sich gern auf einen längeren Plausch eingelassen, doch Santiago wollte weiter und verabschiedete sich auf seine geschickte Art sehr schnell – das Treffen mit Karl-Heinz war angenehmer gewesen. Landstraße, Baustelle, immer wieder Seitenwechsel oder Marsch auf dem Seitenstreifen, Pausen am Wegesrand – mittendrin und ohne Punkt und Komma, Supermärkte, Industriegebiete, Landstraßengastronomie. Wie unser Gemüt verdunkelte sich auch der Himmel. Ich war schon lustlos und hatte noch weniger Lust auf Regenwetter. Auf der anderen Straßenseite sah ich plötzlich einen McDonalds und daneben – die Bombeiros! Vorsichtig fragte ich Santiago, ob wir da mal nachfragen wollten, wir hatten ja ungefähr erst 25 km geschafft, dabei war es schon vier Uhr nachmittags. Er ging mit mir über die Straße, es geschahen selbst bei ihm doch noch Zeichen und Wunder! Wir fragten, der Commandante wurde gerufen, er fragte Santiago nach seiner Herkunft: Ecuador! Jawohl, wir konnten bleiben und bekamen unser Zimmer gezeigt, ein unbenutztes Casino, in dem an der einen Seite viele Matratzen übereinander gestapelt lagen. Noch während wir die Treppe hinaufgingen, kam der Kommandante hinter uns her, fragte uns, ob wir etwas zu Essen haben wollten. Wie freundlich, ja natürlich! Er nahm uns kurz mit über den Hof zur Kantine, die auch gleichzeitig ein öffentliches Restaurant ist. Und just in diesem Moment ging er los: der Wolkenbruch. Es goss wie aus Eimern, zwei Minuten nach unserer Ankunft! Hätten wir die Feuerwehr rechts liegen gelassen, dann wären wir jetzt innerhalb von Sekunden triefend nass geworden. Wenn es auf unserem Camino einen rechten Zeitpunkt gegeben hatte, dann diesen! Wahr und wahrhaftig! Danke, gütiger Gott! Der Commandante stellte uns Elia, dem Koch vor, der sagte uns, wir sollten in ungefähr einer Stunde wiederkommen. Pünktlich und hungrig fanden wir uns nach einer heißen Dusche und dem Bettenbau wieder ein. Jetzt war nur noch die Frau des Koches da, Fátima, eine rundliche, freundliche Seele von Mensch, so richtig jemand zum Liebhaben, von dem man sich gern mal ausgiebig bemuttern lässt.. Sie stellte uns zunächst einen Teller mit Bollos, Klößen hin. Es gab zwei Sorten, die eine mit Bacalhau, dem portugiesischen Stockfisch aus Kabeljau, und die andere mit Fleisch. Insbesondere die Bacalhau-Bollos waren exzellent. Wir fragten Fátima nach dem Rezept, das sie uns ausführlich erklärte. Man nehme Kartoffeln, Zwiebeln, Knoblauch, Kräuter und Bacalhau und mische sie zu einem festen Teig. Mit Löffeln werden die Bollos geformt und dann in Fett ausgebacken. Wir futterten sie alle auf und bekamen: einen zweiten Teller davon! Santiago schaffte es immer, gefragt zu solchen Zeiten ohne Bedenken Ja und Danke zu sagen, was mir schwer fiele. Und die Feuerwehr stiftete uns eine ganze Flasche Saft dazu. Das einzige Unangenehme war, dass Santiago von dem Fisch Pusteln bekam, aber das kannte er schon, sie gingen wie sie kamen. Danke Fátima, danke Elia, danke Bombeiros, das war Nahrung für Körper Im Antlitz der Liebe - 122 - © Gabriele Sych UND Seele! Als Hauptgericht gab es Kohlsuppe, und wie man ein solches Gericht genießen kann! Und: es gab satt zu essen, mehr als einen Teller voll, von Fátima und Elia mit viel Liebe gekocht. In unserem Casino machten wir es uns gemütlich. Dort gab es sogar einen Fernseher – und – es war Mittwoch, Champions-League-Mittwoch. Der Fußballfan Santiago schaute im Liegen beglückt und begeistert alle Spiele des Abends und ich machte es mir neben ihm bequem, ebenfalls begeistert über unser Glück, genoss seine Nähe. Draußen regnete und regnete es, bis ungefähr fünf Uhr morgens. Wir hörten es die ganze Nacht auf der Terrasse vor dem Casino laut plätschern. Oliveira de Azemeis (24 km) / 3.10.2007 Morgens brachen wir dankbar bei den Bombeiros auf. Der Regen hatte aufgehört und es blieb den Tag über weitestgehend trocken. Wieder ging es auf die N1. Nach 10 km versuchen wir, in São João de Madeira wieder auf den Camino zu kommen. Wir frühstücken in einem Park vor der Kirchenverwaltung und fragen den Gärtner, ob er den Camino kennen würde. Er empfahl uns, auf die N1 zurückzukehren und auf dieser bis kurz vor Fátima zu bleiben. Das machen hier alle Pilger so. Auch im Tourismus-Büro wusste die junge Dame gar nicht, dass der Camino durch ihren Ort geht, dafür konnte sie uns eine gute Karte der Umgebung überlassen. Sie schenkte uns einige Postkarten von São João. Auf dem großen Platz in St. João, Santiago war gerade nicht an meiner Seite, sprach mich ein junger Mann an, mal gar nicht politisch korrekt aber dafür verständlich gesprochen: ein Zigeunerjunge. Er möchte Geld von mir, um sich etwas zu essen zu kaufen. Ich gab ihm komplett mein ganzes restliches Kleingeld, so ca. 50 Cent, doch er sah, dass ich noch einen 5-Euro-Schein habe, den will er haben. Er jammerte und weinte fast, doch in mir kam meine Sparsamkeit durch, davon wollte ich heute leben. Mein Geld war inzwischen ja ziemlich knapp. Der Tag war ja noch jung, er kann ja noch viele andere Menschen fragen, beruhigte ich mich. Schon lange wusste ich auch nicht mehr, wie es auf meinem Konto aussah, denn meine Kontokennnummer hatte sich auf dem Zettel, auf den ich sie geschrieben hatte, durch den Schweiß aufgelöst, ich wusste nicht, ob ich überhaupt noch Guthaben hatte... Ich behielt meine 5 Euro, doch richtig wohl war mir nicht mit meiner Entscheidung, den ganzen Tag über kam es immer wieder zu mir zurück. Hätte ich ihm das Geld nicht besser gegeben in dem Vertrauen, schon genug zu bekommen? Im Antlitz der Liebe - 123 - © Gabriele Sych Wir fanden und verloren unsere Flechas. In dem Ort Santiago de Riba suchten wir wieder weiter, es schien uns selbstverständlich, dass der Caminho durch diesen Ort geht. An einem Haus sprachen wir eine ältere Frau an. Als sie hörte, dass wir auf dem Weg nach Fátima sind, weinte sie heftig und rief immer wieder die Virgen an. Auch sie bat uns, für sie in Fátima zu beten, und nannte uns dafür ihren Namen: Madalena. Wir versprachen auch ihr, für sie zu beten. Madalena, wir haben unser Versprechen eingehalten und mehrfach unterwegs und in Fátima für Dich gebetet. Um halb drei kamen wir in Oliveira de Azeméis an und fanden wieder Flechas! An der Iglesia S. Miguel wollten wir pausieren und wir warteten, bis sie öffnete und beteten mit vielen Frauen, die dort einkehrten, einen Rosario mit und wieder umfing uns das einschmeichelnde, singende Portugiesisch: Avé Maria, cheia de graça, o Senhor é convosco. Bendita sois vós entre as mulheres; bendito é o fruto do vosso ventre, Jesus. Santa Maria, mãe de Deus, rogai por nós, pecadores, agora e na hora da nossa morte. Amen Wir beteten weiterhin auf Spanisch. Hinter uns kniete ein Mann, der uns interessiert zuhörte. Besonders in dieser Kirche fiel mir auf, was ich ab dann immer wieder beobachten konnte: In der Kirche war vorn rechts vom Altar eine Marienstatue und links vom Altar eine Jesus-Statue in der Ausgestaltung als Sagrado Corazón. Doch die meisten Menschen gingen beim Betreten der Kirche zur Virgen, in inniger Versenkung sie begrüßend. Ich war – wie immer – zunächst bei Jesus gelandet, hatte – wie immer - mein Gespräch mit ihm wieder aufgenommen. Doch irgendwas musste da dran sein Ich war evangelisch erzogen worden, Maria kam Weihnachten mal kurz vor, sonst nicht. Es musste etwas dran sein an Maria. Ich beschloss, mich aufgrund dieser Beobachtungen, aber auch, weil ich zwischen zwei Marienwallfahrtsorten unterwegs war, mehr auf Maria einzulassen, mich ihr bewusster zuzuwenden. Nach dem Gottesdienst entschlossen wir uns zu bleiben und kamen bei den Bombeiro in der Straße hinter der Kirche in einem sehr schönen, gemeinsamen Zimmer unter. Wir hatten Zeit für eine Stadtbegehung und suchten als erstes das Tourismus-Büro auf, wo wir eine schöne Karte bekamen, die nun ganz bis Fátima reichte. Santiago riss so lange daran herum, bis er nur noch unseren Weg zurückbehielt, damit er die Karte in seiner Hosentasche unterbringen konnte. Im Antlitz der Liebe - 124 - © Gabriele Sych Im Supermarkt Pingo Doce gab es frischen Frango Asado und sogar fertigen Gemüsereis, was wir in der Küche der Bombeiros sehr zufrieden verspeisten. Die in Portugal so präsenten Grillhähnchen gaben uns sehr viel Kraft in diesen Tagen, unseren anstrengenden Weg fortzusetzen, hielten uns Leib und Seele zusammen. Wir hatten bestimmt schon genug Nudeln mit Thunfisch gegessen. Gegen Abend besuchten wir die Misa in der Igreja Matriz St. Miguel. Der Mann hinter uns beim Rosario-Gebet war der örtliche Pfarrer gewesen! Nach dem Gottesdienst baten wir ihn um einen Carimbo. Der lag im Pfarrbüro ein paar Häuser weiter. Durch den strömenden Regen rannten wir mit ihm dorthin, auch dieser Stempel sollte uns noch etwas nützen. Im Casino der Bombeiros gab es wieder Champions League für Santiago, ich blieb im wärmenden Bett und las das Heftchen über Fátima, das wir im Pfarrbüro in Arzúa gefunden hatten, von den drei Hirtenkindern Jacinta, Francisco und Lucía, die Botschaft, wie Lucía sie gesprochen hatte. Sie erzählte von den Erscheinungen des Engels, der die Kinder beten gelehrt hatte und den Erscheinungen der Virgen, ihre Bitten an die Kinder und dem Wunder. Albergheria-a-Velha (20 km) / 4.10.2007 Wir hatten diesmal verdunkelte Fenster in dem Raum und schliefen lange aus bei den Bombeiros. Erst weit nach 8 Uhr verließen wir die Bombeiros durch die Fahrzeug-Halle. Man gewöhnt sich eigentlich schnell dran, täglich zwischen all den Feuerwehrautos durchzulaufen. Wir fanden unsere Flechas und verließen Oliveira. Ich wollte unbedingt auf dem Caminho bleiben, auch wenn uns alle immer wieder auf die N1 schicken, es ist für mich „der Weg des Herrn“, der Weg zu Gott und durch Gottes Natur. Als der Weg in Pinheiro wieder in den Wald übergehen will, rief uns eine Frau zurück und fragte uns, was wir da wollten, weil es dicht am Nachbarhaus vorbeigeht. Auch sie wollte uns wieder zurückschicken. Doch auch direkt an ihrer Gartenmauer ist ein gelber Pfeil angebracht, den wir ihr zeigten und erklärten: Der Caminho de Santiago führt direkt an ihrem Haus vorbei und wenn sie den gelben Pfeilen folgen würde, würde sie direkt in Santiago de Compostela ankommen. Sie erzählte uns, dass sie tatsächlich schon häufiger Radfahrer und Wanderer in der Gegenrichtung gesehen hätte und sich immer gewundert hätte, wo die denn alle herkämen. Allerdings wäre ein anderer Wallfahrtsort in dem Wald und sie hatte diesen als Ausgangsort der Fremden vermutet. Ob sie inzwischen wohl ein Stück des Weges oder den ganzen Weg probiert hat? Im Antlitz der Liebe - 125 - © Gabriele Sych Nun ging es tief durch den Wald, es war noch feucht, aber angenehm. Nach all der Landstraße ist es wirklich eine Wohltat, wieder in der klaren, duftigen Waldluft zu laufen, der Weg ist weich und fußschonend. SO ist der Weg für mich richtig. Wir hatten Glück und fanden unsere Pfeile regelmäßig. Irgendwann sahen wir eine riesige weiße Marienstatue. Als wir näher kommen, entdeckten wir den kleinen Wallfahrtsort „Nossa Senhora do Socorro“38, mitten im Wald. Vor der Statue standen viele Votiv-Kerzen, alle nur ein wenig abgebrannt aber verlöscht, weil der heftige Regen der letzten Nacht spätestens alle Kerzenflammen in Wasser ertränkt hatte. Wir nahmen uns die Zeit und gossen das Wasser aus allen Kerzen aus, trockneten sie ab und entzündeten sie neu, damit die Wünsche und Gebete der Menschen, die sie aufgestellt hatten, wieder neue Kraft, neues spirituelles Feuer bekamen. Einige verlöschten gleich wieder, waren die Wünsche schon erfüllt? Waren es Wünsche gewesen, die Seinem Willen nicht entsprachen? Die meisten aber, so ungefähr 20 der 30 Kerzen, brannten weiter zu Füßen der Senhora Immaculada. Wir stiegen auf zum Sanctuario. Dort fanden wir eine Kirche, verschlossen. Vor einem winzigen, geöffneten Fenster stand ein Mann, mit kummervollem Gesicht, so empfand ich es, und betete seinen Rosario. Er blieb für sich, war in sein Gebet vertieft, wir ließen ihn in Ruhe und setzten uns in dem schönen Garten zu einer Pause hin. Nun ging es abwärts durch den Wald, und leider – verließen uns die Pfeile wieder. In einem Dorf kamen wir aus dem Wald heraus. Wir fragten einen Mann mit einer großen Ladung Holz auf dem Rücken, wo wir den wären und wie wir denn nach Albergaria-a-velha, zur alten Herberge kämen. Er zeigte auf eine Straße, die sich ca. 100 m über uns an den Berg schmiegte. Toll! Encima! Hatten wir ja lange nicht. Wir kletterten die Straße hinauf und kamen nach 2-3 km nach Albergaria-a-Velha. Schnell fanden wir auch ein Schild, das uns zu den Bombeiros führte. Doch zu früh gefreut. Wir könnten zwar bei den Bombeiros duschen, jedoch nicht übernachten. Das ginge eventuell im Gemeindehaus. Sie wiesen auf das Haus des Pfarrers und wir gingen hin und klingelten. Keiner da! Auch in der Kirche St. Cruz schräg gegenüber nicht. Doch in der Kirche konnte man schön warten, und wir erledigten einen Teil unseres Betpensums, auch eine sehr ansprechende HerzJesu-Figur war da. Und hier geschah es zum ersten Male, dass sich auch wie sonst Jesus die Statue der Maria, einer – wie ich später entdecken sollte – Fátima-Maria, bewegte, als ich versuchte, mit ihr Kontakt aufzunehmen. Die Annährung begann und gelang… Was ich von ihr erfuhr, das war: 38 Unsere liebe Frau der Hilfe/Rettung Im Antlitz der Liebe - 126 - © Gabriele Sych Jeder Kilometer, den wir pilgern, hilft. Jeder Akt, jedes Gebet, jede gute Tat, jeder km, der für Gott gelaufen wird, hilft, um uns selbst und unsere Welt zu verbessern. Das hatte ich noch nicht so gewusst. Penitencia ist der spanische Begriff, im Deutschen meist mit Buße übersetzt. Wir redeten eine Weile, sie vermittelte mir privat viel Neues, ich erhielt Linderung für einen Dorn in meinem Herzen. Nach einer Stunde versuchten wir es noch einmal am Pfarrhaus, und ein älterer Herr öffnete, der so ähnlich aussah wie ein Bruder der Schulzes aus Tim und Struppi. Der Pfarrer schloss uns das Gemeindehaus aus und zeigte uns einen Kinder-Katechismusraum mit vielen Kinderstühlen im Keller, in dem wir auf dem Fußboden schlafen konnten. Die Toilette samt Bidet lag zwei Stockwerke höher. Er drückte uns den Schlüssel in die Hand mit der Bitte, in am nächsten Morgen durch den Briefschlitz zu werfen. Wunderbar! Wir bauten unsere Schlafstätte und machten uns auf unseren Stadtrundgang und die Suche nach einem Supermarkt. Leider kein Pingo Doce, leider kein Frango, sondern für jeden von uns eine Dose kalte Hühnersuppe und das obligatorische Brot, besser als nichts. Bald trafen im Gemeindehaus auch zwei Österreicher ein, die ungefähr denselben Weg genommen hatten wie wir. Sie waren zwei Tage vor uns in St. Jean losgelaufen, allerdings hatten sie nicht nur Finisterra, sondern auch Muxia an der Westküste Spaniens besucht, wo der Apostel Santiago von der Virgen zum Fortsetzen seiner Mission ermutigt worden war. Sie erzählten uns, dass auch sie in Lourosa bei den Bombeiros geschlafen hätten, einen Tag nach uns. In der Kantine hätten sie allerdings ihr Essen bezahlen müssen. Sie liefen hauptsächlich Landstraße, da ihnen die Pfeilsuche zu mühselig war. Nach unserem Austausch des Woher/Wohin gingen sie aus, um in einem Restaurant zu Abend zu essen. Wir blieben mit unseren Dosen zurück. Die Abendmesse war wieder unsere, anschließend setzten wir uns ins Café Latino, das dem Gemeindehaus gegenüber lag, wo wir uns eine Cola teilten. Dort gab es einen Fernseher und Santiago genoss weiterhin seine Champions League. Ich war müde und einfach nur froh, neben ihm zu sitzen und nichts zu machen. Beim Einschlafen diskutierten wir, wo wir weiterlaufen würden. Santiago war nach dem Gespräch mit den Österreichern für die Landstraße, ich wollte auf jeden Fall den Caminho laufen, egal, was irgendjemand sagt, egal, wie schwierig es ist. Das ganze artete in ein sehr unangenehmes Gespräch aus mit dem Ergebnis, dass wir am nächsten Tag getrennt laufen und uns am Abend dann bei den Bombeiros in Anadia wieder treffen wollten. Im Antlitz der Liebe - 127 - © Gabriele Sych Anadia (35 km) / 5.10.2007 Am nächsten Morgen kam Santiago doch mit auf den Camino und wir fanden ihn an diesem Tag erstmal sehr gut. Wir hielten unsere Frühstückspause auf einer Bank in einem kleinen Ort auf einer Bank und beobachteten die Leute, wie sie an einem mobilen Supermarktlaster einkauften. So kommt man als kleine Dorfgemeinschaft auch zusammen, eine eigene kleine Welt! Als wir aufbrachen und uns nach unseren Pfeilen umschauten, da sprach uns ein Mann darauf an, was wir suchten. Als er von unserem Vorhaben hörte, wurde er sehr bestimmt: „Er lebe jetzt zwar in Amerika, aber er stamme von hier. Hier gäbe es keinen Camino, keine Pfeile, der Weg nach Fátima führt über die N1 und das wäre da lang.“ Der Weg, den er uns wies, führte uns total in eine Sackgasse und auf einen Schrottplatz, wir mußten umkehren. Wir drehten um, und liefen zur letzten Straße zurück. Santiago hatte keine Lust mehr, die Pfeile zu suchen und ich wollte unbedingt auf dem Camino bleiben, weil ich keine Lust mehr auf Autos, Autos, Autos, Lärm und schlechte Luft hatte. Schon am Abend vorher in Albergaria-a-Velha hatte es ja die Diskussion gegeben, weil wir uns auf dem Weg dahin verlaufen hatten. Santiago war es nun leid, er wollte auf die N1, wozu ich nicht bereit war. Und ich wollte den Camino weiterlaufen. Der Camino war für mich der Weg Gottes in der Alltagswelt, ihn wollte ich verfolgen, auch wenn es schwierig war, oder ich suchen musste, denn er war einfach schöner, natürlicher, angenehmer, und zwar deutlich! Und dann geschah es: Wir trennten uns, was ich nie geglaubt hätte. Der Camino war mir in diesem Moment wichtiger, als mit Santiago zusammen den Tag weiter zu pilgern. Etwas anderes war mir wichtiger als Santiago! Eine Revolution in mir! Herzklopfen, Schreck, und trotzdem Entschlossenheit und das Gefühl, das Richtige getan zu haben. Da ging Santiago zurück auf die Landstraße, wir verabredeten uns bei den Bombeiros Volontarios in Anadia, unserem nächsten Etappenende. Und ich fing wieder an, Pfeile zu suchen, fand sie, verlor sie wieder, fand sie wieder und betete einen Rosario, damit ich sie in Zukunft besser finden würde. Und so geschah es auch. Im Antlitz der Liebe - 128 - © Gabriele Sych Ich hatte beim Frühstück ein Hinweisschild zu einem Bahnhof gesehen. In dieser Straße zum Bahnhof hin hätten unsere Pfeile auch sein können. Und nun sah ich vor mir Bahnschienen. Ich lief entlang der Bahnschiene in die Richtung, wo ich die Straße und den Bahnhof vermutete, und es dauerte gar nicht lang, bis ich den Bahnhof erreichte. Und siehe da, an der Straße fand ich Pfeile. An einer Kreuzung fragte ich einen jungen Mann auf einem Fahrrad, ob in der Straße, aus der er gerade kam, sich gelbe Pfeile befinden würden, wobei ich ihm einen zeigte, der sich an der Kreuzung befand. Von der Anbringung des Pfeiles her müsste der Weg aus der Straße herkommen. Er hatte nie einen gelben Pfeil gesehen, obwohl er hier wohnte. Oje! Ich probierte die Straße trotzdem, weil es einfach wahrscheinlich war. Natürlich waren da meine Pfeile! So ist es also: die Menschen haben die Pfeile täglich vor der Nase und sehen sie nicht. Und ein Fremder kann kommen und sie einfach finden, weil er zu sehen und zu deuten gelernt hat. Trotzdem ging ich wohlgemut meines Weges, denn ich war auf dem Caminho. Und wieder eine Wegentscheidung: ein Trampelpfad an der Bahnschiene und ein anderer Weg. Auf dem Trampelpfad sah ich in der Entfernung Hunde. Ok, also nahm ich den Trampelpfad: Er stellte sich im Rückblick wieder als Caminho heraus. Apostel Santiago und die Hunde! Das ist nicht von ungefähr! Nach zwei Stunden sah ich plötzlich vor mir auf der Straße – auf seiner Zampoña spielend - Santiago sitzen. Der Camino hatte die Landstraße wieder gekreuzt, er hatte die Pfeile gesehen und dort auf mich gewartet. Er begrüßte mich als seine „Superheldin“ und ab nun pilgerten wir gemeinsam weiter! Es scheint so zu sein, dass man auf dem Weg zu Gott, für Gott auch bereit sein muss, das Liebste hinter sich zu lassen, loszulassen. Es heißt ja nicht, dass man es so für immer verliert, im Gegenteil, ich bekam Santiago neu zurück. Ich war überglücklich. Nahe des Flusses Vouga in Lamas de Vouga machten wir an einer mit Azulejos39 verkleideten Klosterkirche mit fantastischem Ausblick Frühstückspause, die Kirche lag auf einem Hügel. Auf den Schornstein des Hauses neben der Kirche setzten sich: zwei weiße Tauben, zusammen. Das war mir ein Zeichen. In Fromista hatte ich am Tag unserer Trennung eine weiße Taube gesehen, nun waren es Zwei, ein Pärchen. Ja, wir waren wieder zu Zweit. Zwei weiße Tauben, wie auf einer Hochzeitstorte… Wir pilgerten weiter und sahen bald in der Ferne die portugiesischen Pilger mit ihren Neonwesten und Turnschuhen auf der Landstraße N1 weiterlaufen, während wir auf schönsten Wegen unseren Camino fortsetzen. Wir erreichten Agueda und suchten mal wieder das Tourismus-Büro. Ein Russe sprach uns an, ob er uns helfen könnte. Ja klar, er begleitete uns quer durch die Stadt bis zur alten Brücke, wo in 39 Azulejos: meist blaue, bemalte Kacheln, entweder in Mustern oder in Bilder zusammengesetzt. Im Antlitz der Liebe - 129 - © Gabriele Sych einem kleinen Glashäuschen das Büro war. Die Frau dort erklärte uns, dass der Camino tatsächlich einer alten römischen Straße folgte. Sie gab uns noch ein paar Tipps und nach einer kurzen Pause ging es weiter, wir überquerten die alte römische Brücke in Richtung Anadia. Der Weg stieg wieder hinauf und wir durchquerten ein lang gezogenes Industriegebiet. Mein rechter Fuß tat es wieder recht gut, da trat eine neue, gesundheitliche Malesse auf. Hatte ich nun Santiago wieder, so hatte sich bei mir eine Blasenentzündung eingeschlichen. Wir hatten inzwischen den 5. Oktober, so richtig schwer warm war es nicht mehr, wenn wir uns unterwegs hinsetzten. Mein Sitzkissen hatte ich ja kurz vor Belorado verloren. Ich tat, was ich immer tat, wenn mich so etwas traf: viel trinken! Ich kaufte in einer Kneipe eine große Wasserflasche und trank sie kurzfristig aus. Unterwegs fragten wir auch wieder nach Wasser und ein Mann füllte unsere Flaschen mit dem Gartenschlauch auf. Mitten in einem Wohngebiet trafen wir wieder auf Pilger in der Gegenrichtung. Eine Gruppe von 8 spanischen Radpilgern rief uns – im Vorbeifahren winkend – „Buen Camino“ zu, wie schön, das endlich mal wieder! Wir wussten zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass diese Radfahrer uns bei einem der wichtigsten Erlebnisse unseres Caminos weiterhelfen sollten. Der Camino führte wieder durch viele schöne Viñeros und Gartenstädte und war sehr entspannend, die Etappe allerdings lang: 35 km. Als wir endlich in Anadia ankamen, waren die Pfeile so missverständlich, dass wir einmal einen ganzen Berg umrunden, um auf der anderen Seite des Berges bei den Bombeiros Voluntarios anzukommen. Ich hätte keinen Schritt mehr weitergehen können, so erschöpft war ich. Bei den Bombeiros konnten wir diesmal nicht übernachten, dafür brachte uns der Feuerwehrmann Mario mit einem weißen Behindertentransportbus zum Kloster Nossa Senhora d’ Assunção, einem Clunykloster, wo er sich ganz lieb darum kümmerte, dass wir bleiben konnten. Er fuhr erst weg, als er sah, dass wir aufgenommen wurden. Als wir ihm dankten, zeigte er auf sein FeuerwehrAbzeichen „Vida por Vida“ (Leben für Leben) und sagte: Das ist meine Aufgabe, dafür lebe ich! Im Kloster übernahm uns eine Nonne. Sie kontrollierte unsere Credenciale, sah wohl die unterschiedlichen Namen und Adressen. Sie sah uns beide an und fragte uns dir Frage der Fragen: Wollen Sie beide heiraten? Santiago antwortete ohne Nachzudenken mit Ja, ich nickte eifrig, bejahte ebenfalls! Ein unerwartetes Heiratsversprechen, das hatte ich mir schon lange gewünscht! Wir wurden eingelassen und durften im selben Raum schlafen - im Nebengebäude in Räumen neben dem zum Kloster gehörigen Kindergarten - und es gab Matrazen und sogar Bettwäsche – deutlich besser als auf der eigenen Isomatte. In dem Raum fanden wir darüber hinaus einen Stadtplan für Coimbra, das war doch wirklich hilfreich. Danke Mario, und danke für den Schlafplatz im Kloster and die Cluny-Gemeinschaft.! Später kamen noch zwei portugiesische Pilger mit Neonwesten an, sie schliefen im zweiten Pilgerraum. Im Antlitz der Liebe - 130 - © Gabriele Sych Untergebracht, geduscht und ausgeruht brauchten wir nur noch etwas zum Essen. Wir fanden keinen Supermercado mehr, daher kaufen wir uns gemeinsam eine sehr teure, dafür aber brotdicke Pizza beim Bäcker, von der es am nächsten Morgen sogar noch Reste zum Frühstück gab. Gut, dass die Duschen sehr, sehr heiß waren, ich machte mir aus einer Plastikflasche eine Wärmflasche zum Einschlafen für meine Blasenentzündung. Trotzdem unternahm ich in der Nacht viele Besuche zur Kindertoilette. Coimbra (40 km) / 6. – 7.10.2007 Gegen 8 Uhr brachen wir im Kloster auf, es war so richtig frisch am Morgen, so genau das Richtige für meine Blasenentzündung. Da die Zeit im Jahr spürbar vorrückte, wurde es jetzt erst richtig hell. Es war Samstag und natürlich waren an diesem Tag keine Kinder im Kindergarten, alles war still und ruhig. Die portugiesischen Pilger waren schon um 6 Uhr aufgebrochen, wir ließen die Tür - wie uns aufgegeben einfach ins Schloss fallen, und weiter ging es. Wir liefen in Richtung Mealhada, das klang uns so arabisch. Wir fanden nur die Landstraße, keine Pfeile. Ein Bild war auf dem Weg nach Mealhada auf Plakaten und Hauswänden allgegenwärtig: ein gegrilltes Schweinchen, das von hinten auf einen Spieß aufgesteckt war und als Leitão bezeichnet wurde. Daraus entwickelte sich bei uns eine Art Running Gag, der aus einer charakteristischen Handbewegung, nämlich dem Versenken des Spießes und den Worten: „Komm Puerco/Puerquito40!“ bestand, Humor als eine Form, mit einem so erbärmlichen Bild klarzukommen. Wir hörten später, dass das Leitão, das gegrillte Milchferkel, die landesweit bekannte Spezialität von Mealhada war und die Portugiesen busweise in Mealhada einfielen, um diese armen, kleinen Schweinchen in großen Mengen zu vertilgen. „Pobres puercos41!“ Auf dem Weg vor Mealhada waren die Pfeile wieder aufgetaucht. Wir trafen einen einzelnen portugiesischen Pilger, einen gemütlichen Mann in Turnschuhen und mit einem T-Shirt in den Schweizer Landesfarben. Wir sprachen mit ihm Spanisch, er antwortete auf Portugiesisch, das funktionierte hier überall ganz gut. Er erzählte uns, er stamme aus Guimarães im Norden Portugals, einer Stadt, die für Textilien sehr bekannt ist und wollte auch nach Fátima. Er fragte uns und wir erklärten ihm das Geheimnis der blauen Pfeile, dass sie einen der Landstraße weit überlegenen Weg kennzeichneten. Eine 40 Schwein/Schweinchen 41 Arme Schweine! Im Antlitz der Liebe - 131 - © Gabriele Sych Weile lief er vor uns her. Ob er die Flechas genutzt hat? Wir sahen ihn in Mealhada ganz zielstrebig in ein Leitão-Restaurant abbiegen und dann nicht mehr. Auch heute gab es wieder einige Einheimische, die uns auf die Landstraße zurückschicken wollen, doch ohne uns, und gut so! Der Caminho führte uns zunächst westlich an Coimbra vorbei, wir sehen die Vorstadt auf dem Berg neben uns anschwellen, während wir durch Felder und nahe dem Fluss im Grünen und Stillen pilgern. Auch wenn der Tag frisch begann, so war es doch ab Mittags heiß und brütend, der Weg zog sich mächtig hin, es war mal wieder eine 40-km-Etappe. Für unsere Pause fanden wir Schatten und Sitzplatz in einem Bushäuschen. Ich war geschafft, kämpfte mit meiner Blasenentzündung und betete inständig mindestens einen ganzen Rosario lang, mal zwei Tage an einem Ort bleiben zu können, mich ein wenig ausruhen, auskurieren zu können. Über eine große Brücke in Coimbra angekommen suchten wir die Bombeiros Voluntarios. Doch leider, dort, wo sie sonst Pilger unterbrachten, war ein riesiges Loch in der Wand – Baustelle, diesmal keine Bombeiros! Sie schickten uns weiter zu einem Ärztehaus, doch da es Samstag war, öffnete niemand. Weiter also zum Oficina de Tourismo. Auch dem Herrn dort war es unbekannt, dass der Caminho Portugués de Santiago durch Coimbra führt, obwohl wir anschließend 30 m weiter schon Flechas sahen. Einen Caminho Portugués gäbe es erst ab Porto…. Eine Übernachtungsmöglichkeit, die zu unserem Geldbeutel passte, wusste er leider nicht. Der Mann erzählte uns, dass viele der portugiesischen FátimaPilger den ganzen Tag fast ohne jegliche Ausrüstung und Wechselwäsche laufen würden, sich abends einfach da auf den Boden, einen Platz oder einen Park, legen würden, wo sie ankamen, schlafen und dann früh morgens weiterlaufen würden. Wir waren ja schon hart im Nehmen…aber das? Respekt! Auf dem Platz gegenüber der Brücke setzten wir uns, mit rotem Kopf und schwitzend, erstmal auf eine Bank. Ein Mann sprach uns an, ob wir ein Zimmer suchten. Natürlich, ja, doch er hatte uns nur etwas ab 25 Euro anzubieten, das wäre das Geld für ca. 5 Tage nach unserem aktuellen Maß. Wir probierten es bei der Polizei, leider auch Fehlanzeige. Da half nur Beten. Wir gingen in die wunderschöne weiße Kirche St. Cruz, direkt am Eingang zur Altstadt, zur rechten Zeit zum Gottesdienst. Das uns nun schon so bekannte Ritual der Misa entspannte uns, die Last wurde spürbar weniger: Saludo, Confiteor, Kyrie eleison, Gloria, Oración, Lectura, Credo, Plegaria, Hoseanna, Padre Nuestro, La Paz, Eucaristía & Communió, Saludo, Bendición. Nach dem Gottesdienst suchten wir die Sakristei auf, um einen Carimbo für unseren Credencial zu erhalten. Dort fragten wir auch eine Nonne, ob sie eine Unterkunft für Pilger wüssten. Sie meinte, ein lokaler Pfarrer könnte uns bestimmt helfen, den fand sie für uns auch. Der Padre studierte intensiv unsere Credenciale, schaute uns prüfend an, dann setzte er sich an einen Schreibtisch und schrieb uns ein Empfehlungsschreiben! Dies drückte er einem älteren Herrn in Im Antlitz der Liebe - 132 - © Gabriele Sych die Hand, der mit uns auf die Straße trat und uns zu einem Haus im Hinterhof neben einer anderen Kirche führte. Im Durchgang stand auf einem Schild: Casa Abrigo Padre Americo. Der Mann klingelte, wir wurden eingelassen und stiegen gleich eine Treppe hoch und standen in einem langen Gang. Der Mann übergab den Brief und verabschiedete sich freundlich lächelnd von uns, wir dankten ihm. Vor uns öffnete sich ein Aufenthaltsraum mit einigen Menschen, die uns neugierig ansahen. Eine Frau führte uns in ein Arbeitszimmer. Ein Mann mittleren Alters las das Empfehlungsschreiben und begann zu lächeln. Er fragte uns, wie lange wir denn bleiben wollten. Hatte ich gebetet oder hatte ich gebetet? Gibt es Gott oder gibt es Gott? WIR WURDEN GEFRAGT, WIE LANGE WIR BLEIBEN WOLLTEN!! ZWEI NÄCHTE NATÜRLICH! Der Mann erklärte uns die Regeln für unseren Aufenthalt: Wir könnten hier kostenlos für zwei Tage bleiben, allerdings in getrennten Zimmern, da es hier Männer- und Frauenzimmer gäbe. Abends zwischen sechs und sieben hätten wir uns zu duschen, das wäre Pflicht. Morgens gab es Frühstück und mittags und abends jeweils eine warme Mahlzeit und nachmittags Kaffee. Unsere Wäsche konnten wir in eine Waschküche legen und gewaschen und getrocknet wieder zurückerhalten. Tagsüber sollten wir rausgehen und um 22.30 Uhr abends spätestens wieder da sein. Wir waren im Pilgerparadies gelandet! Casa de Abrigo heißt Schutzhaus, wir waren sozusagen im Armenhaus von Coimbra untergebracht. Es ist gemacht für Menschen, die aus ihrer Lebensbahn geworfen sind, für Obdachlose, Abhängige, psychisch Angeschlagene, Frauen, die vor häuslicher Gewalt geschützt werden müssen, werdende junge Mütter ohne familiäre Unterstützung, Immigranten – und uns. Links neben mir schlief eine junge Frau namens Fátima, die offensichtlich depressiv war und die, außer während der Mahlzeiten, den ganzen Tag im Bett lag, wenn man sie ließ. Auf der rechten Seite schlief eine junge Frau, bei der ich das Gefühl hatte, dass sie gerade ein Kind geboren und zur Adoption freigegeben hatte. Zu unserem ersten Abendessen gab es Suppe und Reis mit Bacalhau. Santiago kriegte wieder Pusteln, doch egal, wir hatten frisch gekochtes, warmes Essen, einen richtigen Tisch. Wir wurden umfassend versorgt, es war einfach wunderbar, genial, spürbare Gnade Gottes! Danke dafür! Am Abend unternahmen wir noch einen Spaziergang in die nahe gelegene Innenstadt und fanden gegenüber der Kirche St. Cruz ein städtisches Internet-Café, in dem man täglich kostenlos eine halbe Stunde ins Internet konnte. Wie schön alles für uns bereitet wurde! Da alles besetzt war, meldeten wir uns für 21.00 Uhr an und durften dann sogar eine ganze Stunde rein, weil um 22.00 Uhr geschlossen war und keiner mehr einen Platz suchte. Im Antlitz der Liebe - 133 - © Gabriele Sych Am nächsten Morgen, Sonntag, war alles anders als sonst: kein Rucksack packen, sondern einfach halbwegs ausschlafen und sich gemütlich an den gedeckten Frühstückstisch setzen. Nach dem Frühstück besuchten wir die Sonntagsmesse in St. Cruz. Und dann ging es den Berg hinauf in die Altstadt, wir besichtigen die alte Kathedrale und die Universität, jedenfalls da, wo man sie kostenlos anschauen darf. Die Universität von Coimbra ist die Älteste Portugals und eine der Ältesten in Europa, gegründet im Jahr 1250. Von dort oben hatten wir eine herrliche Fernsicht über den Rio Mondego und Coimbra. Auf der anderen Flussseite sahen wir ein riesiges Kloster. Dort würde uns am nächsten Tag unser Weg entlangführen. Nach der alten Kathedrale „Sé“ wollten wir auch die neue sehen, doch wir fanden sie nicht, nur ein Gefängnis. Beim Abstieg verliefen wir uns im Garten des Bischofspalasts und beeilten uns dann, zu unserem warmen Mittagessen, Bohnensuppe, Rindfleisch mit Kartoffeln und Gelatina (Wackelpudding), zu kommen. Und dann kam etwas ganz ungewöhnliches für den Pilger: ein sonntägliches Mittagsschläfchen im Bett, Gold für meine Blase, wieder mit Wärmflasche! Den Nachmittag verbrachten wir bei sommerlichen Temperaturen und in romantischer Stimmung am Fluss zwischen vielen, vielen Familien. Auf dem Rückweg zur Casa Abrigo trafen wir auf dem Platz neben dem Tourismus-Büro in einem Straßencafé die beiden Österreicher aus Albergaria-a-Velha wieder. Sie hatten in Coimbra auch die Feuerwehr probiert, waren dann aber in eine Pension gegangen. Sie konnten sich es leisten, wir konnten uns selbst nicht mehr helfen, daher wurde uns geholfen – auf wunderbarste Weise! Abends schaute Santiago im Kreise der Heimbewohner Fußball im Gemeinschaftsraum, ich setzte mich nur ganz dicht neben ihn und genoss es, einfach einen ruhigen Abend, wunschlos glücklich, in seiner Nähe zu verbringen. Zum Tagesabschluss war noch ein reservierter Ausflug ins Internet dran. So war wieder Zeit für Emails zu unseren Lieben und daher hier Originalton aus Coimbra aus den Emails: „Gestern sind wir in Coimbra angekommen und dann hatten wir statt dem ueblichen Sonntagsblues endlich wirklich mal Sonntag! Nicht morgens aufstehen, packen und weiterziehen, nein, wir durften bleiben, kriegen warmes Essen vorgesetzt und koennen uns ausruhen. Heute frueh haben wir die Stadt besichtigt und heute Nachmittag habe ich MITTAGSSCHLAF gemacht, was fuer ein Luxus!!! Wir sind in einem Heim fuer "gestrandete Existenzen" untergekommen, das heisst hier Casa de Abrigo, Schutzheim. Hier wohnen Menschen fuer bis zu 6 Monate, Im Antlitz der Liebe - 134 - © Gabriele Sych die kein Geld, keine Wohnung haben, die einfach nicht weiter wissen, ein wenig psychisch Kranke, Menschen mit Alkoholproblem oder Leute, bei denen einfach mal alles anhaelt. Alle sagen immer eins: na ja, so ist das Leben. Und einer sagte: Life sucks and then it goes on (Das Leben geht den Bach runter und dann geht es einfach weiter...). Aber das kennen wir ja auch. Eine ganz ungewoehnliche Erfahrung, aber es tut gut, sich einmal wieder ganz versorgen zu lassen. Hier gibt es abends um 6 Duschpflicht, dann gibt es warmes Abendessen und das ist wunderbar nach all der Zeit der unregelmaessigen und meist kalten Ernaehrung. Auch mein Sohn erhielt Nachricht: „Lieber Arno, jetzt sind wir mittlerweile in Coimbra, inzwischen haben wir schon vier mal bei verschiedenen Feuerwehren geschlafen. Seit gestern sind wir in Coimbra (schau Dir das mal in Google Earth an). Hier gibt es auch eine schoene Altstadt und eine uralte Universitaet. Wir sind hier fuer zwei Tage in einer Casa de Abrigo (Schutzheim) untergekommen und kriegen hier sogar mehrfach am Tag zu essen. Es ist schoen, mal wieder warmes Essen zu kriegen. Heute Abend gab es Tintenfisch mit Bohnen und Reis. Heute hatten wir das erste Mal seit 7 Wochen Sonntag mit Nichtwandern, sonst geht es ja jeden, wirklich jeden Morgen weiter, Rucksack packen, Stiefel an und weiter. Doch heute haben wir Stadtbesichtigung gemacht, dann richtiges Mittagsschlaefchen und nachmittags faule Stunden in der Kirche und im Park. Das hat uns sehr gut getan.“ Wir lernten in der Casa de Abrigo einige Leute kennen: Manuel Lopez, der uns immer weiterhalf, und einen Ex-Drogenabhängigen, der wegen seiner Drogenprobleme aus den USA ausgewiesen worden war. Alle sagen: So ist das Leben, deutlicher eben der Ex-Drogi mit seinem: Life sucks and then it goes on. Rabaçal (30 km) / 8.10.2007 Im Antlitz der Liebe - 135 - © Gabriele Sych Todo tiene su final!42 Auch unser gnadenvoller Aufenthalt in Coimbra ging vorbei, wir packten unsere frisch gewaschene Wäsche ein, schulterten den Rucksack, dankten allen und wünschten unseren neuen Bekannten alles Gute, versprachen, in Fátima für sie zu beten. Über die Mondego-Brücke verließen wir Coimbra mitten im Berufsverkehr. Gleich nach der Brücke ging es – den blauen Pfeilen auf der Straße folgend - steil bergauf und so blieb es auch für eine Stunde. Wir liefen lange hinter drei jungen portugiesischen Pilgerinnen mit winzigen Rucksäcken und Turnschuhen her, doch irgendwann war unsere Kondition im Aufstieg doch größer und wir zogen in schweren Stiefeln und Tourenrucksack vorbei. Bald finden wir auch die gewohnten Flechas wieder und mit ihnen einen sehr angenehmen Weg durch ruhige, kleine Bauerndörfer. Wir pausierten nach einem Supermarktbesuch in Condeixa-a-Nova und erreichen Conimbriga, eine alte römische Ausgrabungsstätte, die besterhaltene in Portugal. Conimbriga ist ein Ort, der schon zu Christi Geburt existiert hat. Eine frühchristliche Basilika soll hier gestanden haben. Ein Museum und - sauber eingezäunt - Säulenhallen, Mosaikfußböden, kunstvoll gemauerte Bögen, Fundamente, Thermen und Bäder, dazwischen Buchsheckchen, Schwertlilien und Iris gepflanzt. Die Flechas waren allerdings schnell verloren, wir suchten und suchten, liefen dreimal durch die Ausgrabungsstätte, erst nach rechts, Richtung Kirche, hier vernichteten wir in Rekordzeit eine ganze Packung Kekse, dann nach links, durch das Dorf in Richtung Amphitheater. Doch wir fanden weder Amphitheater noch den Weg. Hinter dem örtlichen Waschhaus war hier einfach Schluss, der Weg wurde schmaler und schmaler. Also wieder umdrehen und bis zum letzten, bekannten Flecha zurück. Und dann - fanden wir ihn tatsächlich. Ein kleiner, unscheinbarer, abschüssiger Sandweg hinter dem Museum, noch vor den Ausgrabungen, da war der nächste Pfeil. Direkt in den Wald, förmlich ins Nichts hinein. Und ab nun ging es nur noch durch die pure Natur. Es gab Verzweigungen des Weges und hier war kein Mensch mitten im Wald, den man fragen kann. Doch Santiago entdeckte mehrere Fahrradspuren auf einem der Wege. Das musste er sein, die 8 Radfahrer von vor drei Tagen hatten ihre Spuren hinterlassen. Gott sei Dank! Und er war es… Dieser Weg, diese Stunden waren der stille Höhepunkt unseres Jakobsweges. Der Camino führte uns durch die unberührte Natur und über uralte Brücken, hier waren keine Zivilisationsspuren zu erkennen, keine Häuser, keine Straßen, nichts. Natur pur. Rechts von diesem 42 Alles hat (s)ein Ende! Im Antlitz der Liebe - 136 - © Gabriele Sych Tal lief die Autobahn und die N1/IC2, rechts vom Tal die IC3 und mittendrin – so war es für uns hatten wir Gottes unberührtes Reich43 gefunden. Als das Tal flacher wurde, durchquerten wir ein altes Dorf, in dem nichts, aber auch gar nichts darauf hinwies, dass wir uns im 21. Jahrhundert befanden. Ziegen wurden durch das Dorf getrieben, die Menschen waren freundlich, hielten für uns an und hatten Zeit. Sie kannten den Caminho, den alten heiligen Weg, und konnten ihn uns weisen. Hunde begleiteten uns schwanzwedelnd. Das Land war extensiv bewirtschaftet, ein paar Olivenbäume, ein paar Reihen Weinreben, Felder, Grasland, jeweils links und rechts baumbestandene Hügel. Stille, nicht ein einziges Autogeräusch, Stille, nur der Atem der Natur, der Wind in den Bäumen, die Glocken der Ziegen, ihr zufriedenes Meckern, Hundegebell. Der Weg war nun ein weiches Grasbett, ein sanfter Erdrücken für unsere Füße. Wir wussten nun, warum wir so intensiv gesucht hatten, hatten suchen müssen, warum Gott die Sehnsucht in mir geweckt hatte, auf dem Camino zu bleiben. Wir wussten auch, dass wir den Weg nur gefunden hatten, weil es uns wichtig war, und weil wir zu Zweit waren. Ich hätte – wäre ich allein gelaufen – schon viel früher aufgehört, hätte mir die Strecke nicht zugetraut, hätte mich vielleicht nicht allein auf diesen einsamen Weg getraut. Santiago wäre auf der Landstraße geblieben, hätte Strecke gemacht. Weil wir beide zusammen gelaufen waren, waren wir in diesem Tal angekommen – in Gottes Reich. Und es stimmt, es ist mitten unter uns. Unser Herz ging ganz weit auf, es war pures Glück. Ja, es war der Höhepunkt unseres Weges. Gloria al Padre, al Hijo y al Espirito Santo! Como era en el principio, ahora y siempre por los siglos de los siglos! Amen!44 43 Mehr dazu finden Sie im Kapitel 2.1Leben in Gottes Reich 44 Ehre sei dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geiste, wie im Anfang so auch jetzt und allezeit und in Ewigkeit! Amen! Im Antlitz der Liebe - 137 - © Gabriele Sych Wir liefen den Camino weiter und er führte uns in ein etwas moderneres Dorf auf einer Kuppe, nach Zambujal. Unser Hunger führte uns in einen kleinen Laden. Wir hätten gern frisches Brot, doch es gab zunächst nur Pan Rico. Wollten wir eigentlich nicht! Wir zögerten. Doch dann flüsterte die Familie miteinander und jemand holte von irgendwo frische Brötchen. Jo! Herrlich! Als wir den Laden verließen, da schwang sich der Sohn der Familie auf sein Mofa und fuhr weg. Ich gehe mal davon aus, dass wir die privaten Brötchen der Familie bekommen hatten und der Sohn nun vom nächsten Bäcker eine neue Ration für die Familie holte. Unter alten Bäumen und mit Blick in die weite Ebene vesperten wir. Eine tiefe Ruhe war in uns und – FRIEDE ! Lukas 2: 14 Gloria a Dios en las alturas, y en la tierra paz a los que gozan de su buena voluntad.45 Psalm 145 (Lutherbibel 1984): 15 Aller Augen warten auf dich, und du gibst ihnen ihre Speise zur rechten Zeit. 16 Du tust deine Hand auf und sättigst alles, was lebt, nach deinem Wohlgefallen.17 Der HERR ist gerecht in allen seinen Wegen und gnädig in allen seinen Werken. 18 Der HERR ist nahe allen, die ihn anrufen, allen, die ihn ernstlich anrufen. 19 Er tut, was die Gottesfürchtigen begehren, und hört ihr Schreien und hilft ihnen. 20 Der HERR behütet alle, die ihn lieben. Auf einer Straße liefen wir weiter und kamen nach Rabaçal. Es wurde langsam Einkehrzeit, doch wo? Rabaçal ist zu klein für eine Feuerwehr. Da fiel mir ein Schild vor einem Haus ins Auge: Centro Social stand drauf. Sozial, das könnte ja auch für uns gelten! Drinnen war eine kleine Bar aufgebaut und eine junge Portugiesin bediente. Ich fragte sie auf Spanisch, ob sie hier im Zentrum auch Pilger aufnähmen. Es klang positiv, was sie sagt, doch ich verstand sie schlecht. Sie musste ihre Antwort viermal wiederholen, bis es bei mir schnackelt. Sie könnte es nicht allein entscheiden und wir müssten auf ihren Chef warten, der in ca. einer Stunde käme. OK! So warteten wir in dem kleinen Sozialcafé und ruhten uns weiter aus. Über die Stunde hinaus warteten wir, dann kam der Mann. Alles wurde gut, er brachte uns im gegenüberliegenden Gemeindezentrum unter. Und das ist einfach Wahnsinn! Die Menschen kannten uns nicht und vertrauten uns den Schlüssel zum Gemeindehaus an, den wir am nächsten Morgen im Zentrum abgeben sollten. Das war bewiesene Achtung vor dem Pilger als lauterem Menschen. 45 Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen ein Wohlgefallen. Im Antlitz der Liebe - 138 - © Gabriele Sych Wir bauten unser Bett auf dem Fußboden und kauften in einem kleinen Laden den obligatorischen Thunfisch mit Brot zum Abendessen. Es gab zwar keine Dusche, aber eine vernünftige Toilette, wo man sich auch waschen konnte. In einer Ecke fand ich einen Stapel alter Zeitungen und schnitt mit meiner Nagelschere dort die Sudoku-Felder aus, weil Santiago gern rätselte. In Coimbra hatte er auch alle herumliegenden Zeitungen durchsucht und sich damit entspannt. Und an diesem Abend wussten wir: Dies war wirklich unsere letzte Übernachtung auf dem Fußboden, weil uns wirklich alles weh tat nach der langen Reise und einer langen Tagesetappe. Man wusste gar nicht mehr, wie man die Beine hinlegen sollte, damit sie nicht schmerzten. Mehrfach geisterte ich ob meiner Blase nachts durchs Gemeindehaus. Meine Hände wechselten die ganze Nacht ihre Positionen auf meinem Körper. Alvaiázere (35) / 9.10.2007 Am nächsten Morgen rollten wir wieder unsere Matten ein, räumten den Gemeinderaum auf und stellten alle Stühle an ihren Platz. Im Centro gönnten wir uns ein Frühstück, Galão und Bollo für 1,70 € pro Person, das IST sozial. Wir gaben mit einem herzlichen „Obrigado“ / „Obrigada“ den Schlüssel zurück und machten uns zufrieden auf den Weg. Die Kirche am Ortsausgang von Rabaçal war geöffnet, Raum und Zeit für intensiven Dank, für den ersten Rosario des Tages. Und wir machen uns auf die Suche nach unseren Flechas. Da der Caminho nicht durch Fátima läuft, mussten wir uns irgendwann verabschieden. Und nach unserem gestrigen Erlebnis war nun der Tag gekommen. Am letzten Flecha Amarilla machen wir Erinnerungsfotos und trennen uns offiziell mit einem Herz voller Dank von diesem gotterfahrbaren Weg. Unser nächstes Ziel heißt Ansião. Auf Spanisch heißt dieses Wort „Ich ersehne“. Jetzt trafen wir immer wieder auf Flechas, und liefen auch noch mal ein schönes Stück Caminho durch den Wald – unser Bonus Track. Auch in Ansião gingen wir in die Kirche zum Rosario-Beten, ein wunderschönes Marienbild schmückte den Altar. Für unser Mittagessen suchten wir uns einen Supermarkt zum Einkaufen, der sogar über eine sehr schicke und saubere Kundentoilette verfügte. Im Oficina de Tourismo gab uns eine Frau namens Claudia viele Tipps. Sie hatte unsere Jakobsmuscheln erkannt und selbst schon seit einer Weile vor, den Caminho zu laufen. Wir zeigten ihr unsere Karte und sie drückte uns ein Empfehlungsschreiben für den Commandante Bruno bei den Bombeiros in Alvaiázere in die Hand. Im Antlitz der Liebe - 139 - © Gabriele Sych Am Ortsausgang von Ansião in einem Park gab es Mittagbrot. Noch während wir aßen, liefen drei Fátima-Pilger ohne Rucksack an uns vorbei. Ein Kleinlaster mit Wohnwagen fuhr langsam hinter ihnen her. Am Rückfenster des Wohnwagens war ein riesiges Schild angebracht, dass hier Pilger begleitet werden. Etwas Ähnliches hatten wir auch schon auf dem Weg nach Mealhada gesehen. Der Wohnwagen fuhr vor und wartete immer wieder. Alle paar Kilometer trafen sie sich, tranken am Wagen Kaffee, rauchten eine. So geht’s auch. Acht Kilometer bis Almoster ging es – zwar an der Straße entlang, doch sie ist wenig befahren – gut und im Grünen voran, dann bogen wir in Almoster ab nach Alvaiázere. Mitten auf dem Weg nach Alvaiázere bemerkten wir nach weiteren sechs Kilometern, dass wir uns damit auf einen irren Umweg eingelassen hatten, weil wir den Ort auf der Karte nicht richtig lokalisieren konnten. Ein riesiger Aufstieg auf 900 m entstand uns. Der Weg schraubte sich, Kurve um Kurve, nach oben, vorbei an Felsen und kahlen Kuppen, weiter oben wieder durch den Wald. Da wir es – wie bei den Montañas de Engaño - nicht absehen konnten, kehrten wir nicht um. Dieser unerwartete Aufstieg samt Umweg sorgte bei mir für sehr schlechte Stimmung. Diese Claudia hätte doch wissen müssen, uns doch sagen können, dass es zum einen ein Umweg auf dem Weg nach Fátima ist, zum anderen, dass wir da mächtig klettern müssten! Nur mit einer großen Kraftanstrengung kamen wir in Alvaiázere an. Als wir endlich - wir stiegen schon wieder ab - Alvaiázere erreichten, sahen wir am Ortseingang zum Glück gleich die Bombeiros. Das Empfehlungsschreiben von Claudia an Commandante Bruno half uns schnell weiter, wir wurden sehr zuvorkommend behandelt. Wir bezogen eine ganze Wohnung nur für uns. Bruno schenkte uns darüber hinaus einen Wimpel, den wir bis Fátima neben der Muschel an unserem Rucksack getragen haben, und einen Schlüsselanhänger in Form eines Feuerwehrautos als Andenken, den ich noch heute an meinem Schlüsselbund trage. Wir konnten unsere Beine auf richtigen Matratzen ausruhen, was für ein Segen! Das kann man sich sonst wahrscheinlich gar nicht vorstellen! In dieser Nacht ist meine Blasenentzündung schmerzlich auf ihrem Höhepunkt angekommen, ich trank und rannte die ganze Nacht. Wie gut, dass ich hier einen so privaten Zugang zur Toilette hatte. Vielleicht war der Aufstieg diesmal dafür gut, weil wir nicht mehr auf dem Fußboden schlafen wollten! Auf dem Weg nach Ourém am nächsten Tag kam Claudia uns noch einmal im Auto entgegen und hielt auf einen kurzen Schwatz an. Danke, Claudia, danke Bruno! Ourém (39 km) / 10.10.2007 Im Antlitz der Liebe - 140 - © Gabriele Sych Die letzte lange Tagesetappe begann, die vorletzte insgesamt. Der Morgen war sehr frisch, wir waren fast 1000 m hoch in den Bergen. Alvaiázere ist ein langezogener Ort, den wir nun erst einmal durchquerten, das allein waren schon fast 2 km. Wir lerrnten: Bomba heißt hier Tankstelle, daran vorbei ging es entlang. Die ganzen 900 Höhenmeter, die wir uns gestern erklettert hatten, waren bergab unsere heutige Asaña. Wir fanden lange kein Café, so stoppten wir für unser Frühstück in einem kleinen Ort an einer Art Gänseteich zum Frühstück. Mein Sitzkissen vermisste ich hier sehr! Der Tag wurde immer heißer, Schicht um Schicht entledigten wir uns der Kleidung, die wir morgens in der Frische so dringend gebraucht hatten. Das langärmelige Funktionsshirt aus Santiago hatte mir für den Herbstbeginn wirklich gute Dienste geleistet. Je tiefer wir in die Ebene zurückkamen, umso heißer wurde es. Auf kleinen Straßen durchquerten wir Dorf um Dorf. Immer wieder sahen wir auch Pfeile, dann verschwanden sie wieder und tauchten wieder auf. In einem kleinen Café-Supermarkt besuchte ich die Toilette. Dort durchfuhr mich ein riesiger Schmerz, dann war der schlimmste Teil meiner Blasenentzündung vorbei, wahrscheinlich war irgendetwas Verfestigtes mit abgegangen. Blasenentzündung psychosomatisch: schmerzliches Loslassen. Das war wohl die Aufgabe. In Ourém standen wir nach dieser langen, der vorletzten Tagesetappe, bei den Bombeiros vor der Tür. Hier war es ganz anders als am Tage vorher. Ein Bombeiro führte uns auf Anweisung des Chefs in den Keller unter der Halle mit den Fahrzeugen. Dort zeigte er in einer Ecke auf dem gekachelten Fußboden und meinte, dort könnten wir schlafen. Der Raum war nach draußen offen, und die Abgase der laufenden Fahrzeuge zogen in den Keller. Er war vollgekramt mit Tischen, Stühlen, Kisten, Material für die verschiedenen Feste im Feuerwehrjahr. Oh, das war uns noch nicht passiert! Das Wasser in den Duschen wurde auch nicht warm und wir mussten kalt duschen. Für mich war es fast so wie „Versteckte Kamera“. Wie lange würden wir das mitmachen? Ich entschied mich: der Pilger muss sich bescheiden können, nehmen was da ist. Wir bastelten uns aus alten Sesseln und Kisten, die dort herum standen, ein Behelfsbett, legten unsere Matten drauf und schliefen trotzdem gut. Wir nahmen, was kam und nutzten unsere Kreativität. Die innere Einstellung entscheidet über das Empfinden. Danke trotzdem! Fátima (11 km) / 11.10.2007 Am 11. Oktober kamen wir in Fátima nach schon 11 km an. Am Weg fanden wir einen toten Hund, dessen Bedeutung sollte ich erst später erfahren. Danke Apostel Santiago für diesen langen, wunderschönen, gemeinsamen Weg, all das Glück, dass Du uns gebracht hast, die Veränderungen, alle die Erkenntnisse, die wunderschönen Wege, Straßen und Städte, all die freundlichen Menschen, die sich von Ort zu Ort an den Händen fassten, um uns zu helfen. Danke für all die Gottesdienste, die wir Im Antlitz der Liebe - 141 - © Gabriele Sych besuchen konnten, danke für das neue Leben, das Alpha nach dem Omega! Danke, dass uns klar wurde, was wir brauchen und was wir loslassen können. Danke für die Treue und das sich selbst treu sein lernen. Danke für Gottes Reich. Danke für all die gelben Flechas und die Muscheln, auch die am Strand von Finisterra! Wir hatten es geschafft, nach ca. 1500 km waren wir angekommen. In Fátima kamen wir an und nach den obligatorischen Fotos am Ortseingangsschild besuchten wir erstmal die Igreja Matriz, die örtliche Kirche. Gerade begann ein französischer Gottesdienst mit einer fast vollständig schwarzen Pilgergemeinde aus Afrika, Elfenbeinküste. Sie zogen zu Beginn des Gottesdienstes in einer polonaiseartigen Prozession durch die Kirche. Ein weißer Padre begleitete sie. Wir sollten ihn die nächsten Tage noch häufiger sehen, er grüßte jedes Mal freundlich. Wir beteten intensiv dankend für das gute Ende unserer Pilgerreise und für unsere kommenden Tage in Fátima. Über dem Altar breitete ein hölzerner „Sagrado Corazón de Jesus“ weit seine Arme für uns aus. Auf dem Weg zum Sanctuario fanden wir ein chinesisches Restaurant mit erschwinglichen Preisen namens „Boa Sorte“, zu Deutsch „Guter Ausgang“ oder „Gutes Schicksal“. Hier haben wir das erste Mal wieder gemeinsam eine warme Mahlzeit seit Buzy in Frankreich in einem Restaurant zu uns genommen. Und auch hier schloss sich wieder ein Kreis. Bei unserer Abfahrt haben wir als letztes am Alexanderplatz Chinesisch gegessen. Auf dem weiteren Weg zum Sanctuario kamen wir an einer Straße voller Souvenirläden vorbei – wie in Lourdes. Im Tourismusbüro erhielten wir eine Fátimakarte und die Wegbeschreibung zur Unterkunft in der Herberge Pão da Vida – Brot des Lebens -, wo wir drei Tage bleiben konnten, so wie es uns Miguel in Redondela geraten hatte. Wir wurden in getrennten Trakten untergebracht. Der Hospitalero zeigte uns die Pilgerküche im Pão da Vida, sie war eine schlichte Katastrophe, war eher ein zum Hof hin offener Verschlag. Unter dem BetonWaschtrog mit lediglich kaltem Wasser befanden sich eine große Plastik-Schüssel mit dem stinkigen Abwasser. Beim Gasherd fehlten bei zwei Feuerstellen die Abdeckplatten, das Geschirr war schmierig, weil man es nicht richtig abwaschen kann. Auf dem Tisch lagen alte, verschlissene Plastiktischdecken. Im Antlitz der Liebe - 142 - © Gabriele Sych Davor standen rissige Holzbänke. Pilgerbescheidenheit in allen Ehren – doch so etwas würde in Deutschland aus gesundheitlichen Gründen geschlossen werden. Irgendwann entdeckte ich in dem Haus, in dem ich wohnte, eine riesige, vollständig ausgestattete Einbauküche mit warmem Wasser, Abfluss, Herd, einfach allem, blitzsauber. Nun musste mal gut sein! Diese Küche konnte auch für uns sein, wir waren definitiv keine Pilger 2. Klasse. Wir trafen die zwei Österreicher wieder. Auch sie hatten in Conimbriga nach den Pfeilen gesucht, auch sie hatten in Conimbriga den Weg in Richtung Amphitheater versucht, doch sie hatten den Weg nicht gefunden und waren die N1 über Lleiria gepilgert. Was wir als realisierte Vision von Gottes Reich durchquert hatten, das Tal hinter Conimbriga, das war ihnen verborgen geblieben. Am Nachmittag besuchten wir die Via Sacra und die Engelshöhe, dort, wo der Engel den Kindern Lucia, Jacinta und Francisco erschienen war. Ein riesiger, freistehender Feigenbaum spendete uns reife Früchte. Wir fanden zum einen wieder einen Pingo Doce Supermarkt und so waren warme Mahlzeiten mit Frango Asado uns für die Fátima-Tage sicher, zum anderen ein Internet-Café. In der Abenddämmerung durchquerten wir das Sanctuario. Hier wurde uns wieder das Anderssein des portugiesischen Pilgerns deutlich. Im ganzen Sanctuario lagerten die Pilger unter Plastikplanen oder auch so einfach nur auf dem Fußboden, manche nur mit einer Decke. Sie nutzten einfach alles, um unterzukommen. Auch auf dem großen Parkplatz hinter dem Sanctuario standen viele Zelte, Wohnwagen und Wohnmobile, wie ein Campingplatz, auch auf den Straßen waren viele kleine Zelte errichtet. Alles war mehr ein Familien- oder Gruppenerlebnis, es gab große Toilettenhäuser und dort auch einige Duschen. Der übliche Santiagopilger wirkt gegenüber dem üblichen Fátimapilger wie ein gut ausgestatteter, ernsthafter Sportenthusiast mit HighTech-Ausrüsung gegenüber einem Freizeitsportler in weiten Jogginghosen, doch während unserem Gefühl nach der Jakobsweg vom Glaubensweg immer mehr zum modischen Visionquest-Urlaub, Globetrotter-Muss und Selbstfindungstrip a la „Ich bin denn mal weg“ mutiert, steht hier in Fátima der Glaube und die Ausrichtung auf Gott ohne jegliche ReligionsScham im Vordergrund. Die ganze Atmosphäre war heiter, familiär, einfach – Kinder des Glaubens, Gotteskindschaft unter den weichen Händen der Gottesmutter: Santa Maria, madre de gracia, madre de misericordia, en la vida y en la muerte Im Antlitz der Liebe - 143 - © Gabriele Sych ampáranos, Madre Nuestra!46 Nach dem abendlichen Rosario ging es ins Bett. Die Wolldecke, die ich über meinem Schlafsack noch brauchte, roch heftig nach Mottenmittel, aber ich brauchte es immer noch warm, nahm immer noch eine Wärmflasche mit ins Bett. In meinem Zimmer wohnten mit mir noch 4 Portugiesinnen, eine Großmutter mit ihrer Enkelin, deren Gepäck in einem „Hackenmercedes“47 verstaut war. Die Großmutter lag neben mir und schnarchte und schnarchte die Nächte durch, ohrenbetäubend laut. Die anderen Portugiesinnen waren zwei sehr lebhafte, ältere Damen, immer geschäftig, immer mit Maria auf den Lippen, das war sehr rührend, wenn auch manchmal recht „unruhig“. Sie standen teilweise zwei-, dreimal in der Nacht auf und machten das Deckenlicht an, um auf die Uhr sehen zu können, damit sie nichts für sie Wichtiges verpassten. Unseren nächsten Tag begannen wir im Sanctuario mit einem Gottesdienst in der Basilica den „Nossa Senhora del Rosario“, den eine große Gruppe von Rad-Pilgern von der Algarve mitgestaltet. An der „Capelinha de las Apariciones“, dem Kapellchen, dem Herzen des Sanctuarios mit der kleinen, zierlichfeinen Fátima-Statue, dem ersten Bau des Sanctuarios, trafen wir auf eine ganz besondere Glaubensgeste. Auf den Knien legten die Pilger einen ca. 500 m langen Stein-Weg zur Capelinha zurück, umrundeten sie ein bis dreimal auf den Knien, während sie ihren Rosario zu beten. Manche wurden von anderen dabei an der Hand gehalten, geführt. Das haben wir nicht gemacht, das lag nicht in unserer Natur. Wir sind dafür 1500 km gepilgert In der Mitte des Platzes steht auf einer hohen Säule ein vergoldeter „Sagrado Corazón de Jesus“. Wie schön, auch hier! Umgeben ist die Statue von mehreren Trinkbrunnen. Ein schönes Bild für Johannes 4,14 (Neues Leben): Wer aber von dem Wasser trinkt, das ich ihm geben werde, der wird niemals mehr Durst haben. Das Wasser, das ich ihm gebe, wird in ihm zu einer nie versiegenden Quelle, die unaufhörlich bis ins ewige Leben fließt. Am Nachmittag begann im Sanctuario die große Prozession für die Weihe der Trinitätskirche mit dem neuen Oratorium von Fátima. 46 Heilige Maria, Du Mutter der Gnade, Du Mutter der Barmherzigkeit, im Leben wie im Tode beschütze uns, Du unsere Mutter. 47 Einkaufswagen mit Rädern Im Antlitz der Liebe - 144 - © Gabriele Sych Das Sanctuario war brechend voll! Hunderttausende Menschen, alle im Glauben versammelt! Von der Capelinha aus geht die gewaltige Prozession zum Altar vor der Basilika, die Virgen wird auf einem Bett aus Rosen getragen, ihr folgen ca. 200 Padres in elfenbeinfarbenen Gewändern, gefolgt von den Hohen und Wichtigen Portugals. Noch höherer Besuch war da, Tercisio Bertone, der Legat des Papstes, der die Feierlichkeiten führte und die neue Kirche weihte. Die Vírgen wurde dazu auch in die Kirche getragen und stand auf dem Ehrenplatz vorn am Altar. In die Kirche kamen wir natürlich nicht mehr hinein, obwohl sie 9000 Menschen fasst. Der Weihegottesdienst und das Oratorium wurden auf Großleinwänden nach draußen für alle in das Sanctuarium übertragen. Wunderschön, ein Genuß, wir sitzen im warmen Oktoberwetter unter den Bäumen und lauschen dem Oratorium. Wir sind angekommen, auf unseren Füßen und im Herzen. An diesem Tag haben wir einen kompletten Rosario-Zyklus für meinen verstorbenen Vater gebetet. Im Sanctuario bekamen wir am Nachmittag rote Rosen geschenkt von einer amerikanischen Gruppe von Pilgern, die für jede der ca. 2300 Rosen, die sie mitgebracht haben und dort verschenkten, einen öffentlichen Rosario gebetet hatten. Wir haben unterwegs keine 2.300 Rosarios gebetet, doch ca. 150 werden es gewesen sein. Unschöner Zwischenfall dabei: Sie machten mehrere Fotos von der Aktion, davon einige mit einem kleinen portugiesischen Mädchen, das da gerade stand, dem sie einen Blumenstrauß in die Hand drückten. Nach dem Foto nahmen sie ihr den Blumenstrauß einfach kommentarlos wieder aus den Händen. Die Kleine weinte sehr, denn sie dachte, man hätte ihr die Blumen geschenkt. Nein, man hatte sie einfach nur als „Dekoelement“ benutzt. Was wirft ein solches Handeln auf die ganze Aktion, die ganzen Rosenkränze? Nach diesem Erleben legten wir uns ein wenig hin, um für den Rest des Abends voll aufnahmefähig zu sein. Als Santiago mich zum Einkaufen abholte und kurz wartete, bekam er Streit mit der Hospitalera. Er hatte „einfach“ unser Haus betreten und war dort auf die Toilette gegangen, welch eine "Freveltat". Es war ja kein reines Frauenhaus, es gab kein Männerverbot dort, dass eine solche Regel verständlich gewesen wäre. Als Latino hat Santiago auch ein südamerikanisches Temperament mitbekommen, so endete dieser Zwischenfall dementsprechend . Für unser Abendbrot setzten wir uns in die Innenküche des „Pão da Vida“. Plötzlich erschien der Hospitalero und schmiss Santiago mit harten Worten und voller Entschiedenheit aus der Küche, daher verblieb uns für ein gemeinsames Mahl nur der Küchenverschlag außen. Am Abend waren wir in dem 2 ½-stündigen Lichtergottesdienst, hunderttausende von Menschen mit Kerzen auf dem großen Sanctuario. Das ganze Gelände ist voller Lichter, größer als ein Fußballfeld Im Antlitz der Liebe - 145 - © Gabriele Sych beeindruckender als das Endspiel der WM 2006, das ich im Olympiastadion miterlebte, und dicht gedrängt mit Menschen. Es ist nicht nur romantisch, sondern ergreifend, gigantisch, feierlich, rührend, nahe gehend, gotterfüllt – DIOS ES GRANDE - GOTT IST GROSS - und wir waren mittendrin, Teil der Gemeinschaft der Gläubigen. Der Gesang des Chores erfüllte den riesigen Platz, wir alle sangen das Fátimalied „Avé, avé, avé Maria, avé, avé, avé Maria!“48, als die zierliche Marienstatue von der Capelinha zum großen Altar getragen wird. Wir fielen kurz nach Mitternacht erschöpft aber glücklich ins Bett. Gegen fünf Uhr morgen rührten sich schon meine portugiesischen Damen, machten in aller Herrgottsfrühe einen heiligen Lärm. Sie wollten – die Arme voller Kerzen, die so lang waren wie sie selber groß – ins Sanctuario, um sie dort – gewidmet ihren großen Familien – dem Feuer zu überantworten. Die eine drückt mir einen zerknitterten Zettel in die Hand, den ihr eine Frau in mehreren Exemplaren zugesteckt hat. Er war ihr sehr heilig und bedeutend und so ist er auch für mich ein bedeutendes Geschenk, das ich in Ehren halte. Er enthält die letzten Worte der Lúcia und ein Bild der Vírgen. Wir verabschiedeten uns herzlich, sie drückten mich, und da drückte ich sie auch zurück. Pelo Santo Padre!... Nossa Senhora!...Nossa Senhora!... Anjinhos! Coração de Jesus!... Coração de Jesus! Vamos, vamos... - Para onde? Preguntou-lhe a Prioresa. Para o Céu... - 48 Com quem? Auf dem Server des Sanctuariums von Fátima kann man sich Videos dieses Abends und des folgenden Morgens herunterladen, um so einen stärkeren Eindruck zu bekommen. Auch das Bild auf dieser Seite ist von diesem Server. Im Antlitz der Liebe - - 146 - © Gabriele Sych Com Nosso Senhor...Com Nossa Senhora...e os Pastorinhos...!49 Anders als in Lourdes, wo man Kerzen kaufen kann, um sie anzuzünden, aufzustellen und brennen zu lassen, wirft man hier die Kerzen einfach in ein riesiges Feuer, auch bündelweise, auch Kerzen von 1,50 m Länge, wo sie gleich vollständig schmelzen. Das hatte ich noch nirgendwo gesehen! Und es gab nicht nur Kerzen, man konnte aus Wachs auch Augen, Arme, Beine usw. erstehen, wenn man für seine Gesundheit oder die Genesung Anderer eine Fürbitte unterstützen will. Zur Frühstückszeit traf ich den Hospitalero und sprach ihn auf die Küchensituation an, bat ihn, ob wir wegen meiner Blasenentzündung wohl drinnen bleiben könnten. Er lenkte nicht ein, obwohl ihm die Argumente ausgingen, er blieb beim Nein. Er war nicht bereit, Santiago in das Haus, in die Küche zu lassen und schlug mir vor, doch selbst drinnen zu essen und Santiago draußen essen zu lassen. Doch ich pilgere nicht 1500 km mit Santiago, um ihn dann alleine draußen sitzen zu lassen. So bereitete ich unser Frühstück in der Innenküche, wir frühstückten im Verschlag und ich wusch anschließend wieder in der Innenküche ab. Für eine spätere Entscheidung meines Lebens sollte dieser Vorgang noch einmal ein wichtiges Gleichnis werden. Zu 10 Uhr eilten wir wieder ins Sanctuario, denn dort erwartete uns der Abschiedsgottesdienst. Die Oktobersonne glänzte gleißend vom Himmel und wieder erlebten wir eine Eucharistiefeier mit zig Pastoren, die die Hostien unter den Gläubigen verteilten, eine unglaubliche Organisation. Eins wurde uns klar: Unsere Freunde und Helfer, die Bombeiros kommen in Portugal gleich nach dem Herrn. In den Prozessionen standen sie immer in der ersten Reihe der Weltlichen. Ich hörte ein Gespräch mit, eine Frau möchte auf die andere Seite des Geländes, was aber wegen der Prozession abgesperrt ist. Der Ordner sagt zu ihr: „Für Wunder ist hier „Nossa Senhora“ (unsere Frau, d.h. Santa Maria Virgen) zuständig.“ Recht hat er! Am Ende des Gottesdienstes zogen alle 49 Heiliger Vater! Unsere Herrin, unsere Herrin! Engelchen! Das Herz Jesu, das Herz Jesu! Lasst uns gehen, lasst uns gehen! Wohin? fragt die Äbtissin. In den Himmel… Mit wem? Mit unserem Herrn, mit unserer Herrin, mit den Hirtenkindern… Im Antlitz der Liebe - 147 - © Gabriele Sych Menschen weiße Taschentücher heraus und winkten der Virgen von Fátima zu, die nun von den Bombeiros vom Altar vor der Basilika wieder zu ihrem Platz an der Capellinha zurückgetragen wurde. Mir kam es aber auch so vor, als ob dies – natürlich nicht nur, aber auch - uns zum Abschied für unsere Pilgerei geschenkt wurde. Schaut her, sagte Er zu uns, soviel Menschen kann ich aufbieten, um euch einen gebührenden Abschied vom Camino zu feiern, sie winken auch für Euch! Ganz großer Bahnhof! Mir kamen gerührt die Tränen, so schön, so intensiv hatte ich es mir nicht vorgestellt! Ein gebührender Ersatz dafür, dass wir in Santiago de Compostela den großen Botofumeiro nicht in Aktion sehen konnten, dass Santiago nicht das erwartete, erhebende Erlebnis gewesen war. Aber unser Pilgerende war ja erst hier in Fátima. Danke für dieses große Fest, danke für diesen Abschied! Wir fühlten uns wahrlich angehoben. Heute war der Tag, an dem auch der Rest der Welt die neue Kirche ausführlich besichtigen durfte, auch das Oratorium wurde für die breite Öffentlichkeit wiederholt. Wir genossen das wunderbare Konzert. Die Portugiesen waren – wie es schien – nicht ganz so begeistert, viele besichtigten nur die Kirche, setzten sich, hörten kurz zu und standen dann wieder auf, um weiter herumzulaufen. So setzten wir uns weit nach vorn, sahen die Hirtenkinder, den Engel und die Virgen. In dem Programmheft war auch eine deutsche Übersetzung des Textes des Oratoriums. Die Botschaft von Fátima war hier als „Beten und Busse“ gedruckt. Ich schmunzelte: das mit den vielen Bussen, das war sehr präsent hier in Fátima. Anders als in Santiago, wo der einzelne Pilger im Pilgergottesdienst erwähnt wird, wird hier ein starker Schwerpunkt auf die Pilgergruppen gelegt, die in den in Fátima allgegenwärtigen Bussen anreisen, hier waren sie dran. Im Pilgerbüro holten wir uns unseren „Carimbo“ vom Sanctuario de Fátima, der durfte nicht fehlen. Ein wenig Zeit blieb uns noch, um Souvenirs einzukaufen. Rosarios – das ist DAS Fátima-Souvenir, ganz klar, ein Geschäft nach dem anderen. Santiago kaufte Rosarios für seine ganze Familie, ich besorgte einen schwarzen Rosario für meinen Sohn. Santiago und ich erstanden uns Kruzifixe, denn wir wollen uns selbst einen Rosario basteln. Für mich war der Abschiedsgottesdienst der letzte religiöse Akt hier in Fátima, das ist, was als Abschluss mir in Erinnerung bleiben sollte und ich mochte, von den vielfältigen Eindrücken gesättigt, früh ins Bett. Santiago machte sich noch zum Abend-Rosario ins Sanctuario auf, er war offensichtlich Im Antlitz der Liebe - 148 - © Gabriele Sych noch nicht durch mit seinem Programm. Anschließend – wieder im Pão da Vida – entschuldigte er sich beim Hospitalero, die Vírgen hatte ihm beim Rosario den Respekt gegenüber Frauen ans Herz gelegt. Schlafen konnte ich nicht gleich, denn in meinem Zimmer wohnte inzwischen eine Polin und wir unterhielten uns lange auf Englisch; sie lebte seit einiger Zeit in London. Ich berichtete von unserer Pilgerei und sie erzählte mir von polnischen Pilgerzielen, die sie schon besucht hatte, von Tschenstochau. Sie beneidete mich um meinen Pilgerpartner, sie würde auch gern mit einem Mann zusammen einen solchen Weg beschreiten. Ich wurde mir so auch nochmals bewusst, was für ein Glück, was für eine Gnade mir geschehen war, dass ich den Camino mit Santiago pilgern durfte, es wäre allein – siehe das Tal hinter Conimbriga – nicht dasselbe gewesen. Mit dieser Reise habe ich nicht nur meinen Kontakt zu Jesus vertieft, sondern bin auch endlich bei der Santa Maria Virgen von tiefstem Herzen angekommen. So viele Frauen in Portugal fangen einfach schon an zu weinen, wenn sie nur den Namen hören. Das Bedürfnis nach einer guten Mutter und nach einer weiblichen Ansprechpartnerin und Fürsprecherin im Himmel ist groß, auch in mir! Das habe ich hier kennen gelernt und gefühlt. Danke dafür! Lissabon und Madrid / 14. – 16.10.2007 Nach dem Frühstück in der Innenküche, was an diesem Tag ohne weitere Störungen verlief, brachen wir vom Pão da Vida auf und waren kurz vor 9 Uhr an der Autobahnauffahrt. Von Fátima aus wollten wir nach Madrid trampen. Wir malten uns ein Trampschild Lissabon IC 6 Madrid und hielten den Daumen raus und warteten… und warteten und beteten Rosario… …und warteten und beteten Rosario… …und warteten und beteten Rosario. Meine Trauer über unsere baldige Trennung setzte wieder ein. Santiago trennte sich hier von seinem Pilgerstab, er gab ihn der Natur zurück. Nachmittags um halb drei höre ich eine Stimme von oben: „Kehr um!“ Ich entschloss mich, zum Busbahnhof zurückzulaufen, im Notfall die Trennung hier Im Antlitz der Liebe - 149 - © Gabriele Sych geschehen zu lassen und allein nach Madrid zu fahren, denn mein Flugzeug ging in 48 Stunden, ich würde ein 2. Flugticket nicht kaufen können. Santiago wollte mich zum Busbahnhof noch begleiten. Auf dem Weg war es mir wichtig, noch bei Pingo Doce Wasser zu kaufen, denn mein Wasser war in der Wartezeit draufgegangen. Am Ticketschalter erfuhren wir: Der Bus sollte sofort losgehen! Santiago bat mich spontan, zwei Tickets zu kaufen, er wollte mitfahren. Und kaum waren wir in den Bus eingestiegen, da schloss sich die Tür und der Bus fuhr los! Wir fanden zwei Plätze nebeneinander und schauten in die Landschaft. Ca 125 km war die Strecke, für die wir mit dem Bus 9 Euro pro Person zahlten. Im Kopf wurde sofort umgerechnet, das wären gepilgert ca. 4 Tage noch gewesen. Doch nach Lissabon hinein wäre es kein Vergnügen gewesen, so riesig ist die Stadt inzwischen geworden. Lange, lange fuhr der Bus durch die Vorstadt. Gegen ½ 6 kamen wir in Lissabon am Busbahnhof an. Am internationalen Schalter fragten wir nach der Weiterfahrt. Der Nachtbus nach Madrid war schon ausgebucht. Na ja, da wird es ja wohl auch noch Züge geben. Mit der Metro fuhren wir zum Bahnhof am Expo-Gelände, um uns nach Zügen zu erkundigen. Der internationale Schalter dort war gerade für eine Stunde Pause geschlossen. Wir besuchten das Einkaufszentrum gegenüber, fanden einen McDonalds für ein preiswertes, warmes Abendessen. Auf der der Terrasse gab es noch ein Plätzchen für uns. Und dort konnten wir ein LiveOpen-Air-Konzert auf dem Expo-Gelände genießen. Unverhofft kommt oft! Lissabon schenkte uns ein wenig seiner Kultur! Als wir den Schalter wieder erreichten, erfuhren wir, dass es nur einen Zug pro Tag von Lissabon nach Madrid gibt, um 22.00 Uhr. Und der war auch ausgebucht. Ich hatte gedacht, dass da alle paar Stunden welche fahren, so wie Berlin – Hamburg oder so, das hätte ich nicht gedacht, dass die zwei Länder so wenig Kontakt haben! Wir sprangen wieder in die Metro und fuhren zum Busbahnhof zurück, um mein Ticket für den nächsten Tag zu kaufen. Santiago, der eigentlich hatte versuchen wollen, von Lissabon aus zu trampen, entschloss sich unterwegs, mit mir im Bus nach Madrid zu kommen. Am Busbahnhof erfuhren wir, dass wir warten und uns auf die Standby-Liste des ausgebuchten Abendbusses um 21.00 Uhr eintragen konnten. So standen wir an 2. Stelle auf der Liste und wartend und inständig betend in der Halle. Wir hatten ja für Lissabon noch keine Übernachtungsmöglichkeit und es war schon spät! Wenn wir doch nur im Bus schlafen könnten! Und wie gut, dass wir am Expo-Gelände die Pause hatten, schon gegessen hatten und sogar noch etwas Schönes von Lissabon mitbekommen hatten! Für uns wurde doch immer wieder gesorgt, wenn wir die Gelegenheiten einfach nutzten. Eineinhalb Stunden mussten wir warten, dann bekamen wir grünes Licht Im Antlitz der Liebe - 150 - © Gabriele Sych und zwei Tickets und sogar zwei Plätze nebeneinander. Der Bus war fast nur von Schwarzen bevölkert, es war mir mehr als recht, dass Santiago bei mir war, denn schon bei der Abfahrt gab es heftige, lautstarke Argumente zwischen ihnen im Bus, doch mit ihm fühlte ich mich gut beschützt. Meinen Schlafsack hatte ich mit in den Bus genommen, so konnten wir ganz gut schlafen, wenn es auch etwas eng war. Ich genoss die geschenkten Stunden neben Santiago im Bus und war froh, dass wir so die Nacht trocken und warm und ohne zusätzlichen Kostenaufwand verbringen konnte. Seine Gnade und bestimmt unsere vielen Rosariogebete des Tages hatten uns dieses Geschenk erwiesen gemacht. Danke dafür! Am 15. Oktober kamen wir am frühen Morgen in Madrid an – noch im Dunkeln - und begannen, diese wunderschöne Stadt zu entdecken. Wir entschieden uns, vom Busbahnhof aus zu Fuß in die Stadt zu laufen. Wir fanden ein offenes Café und mit Café con Leche y Bollo starteten wir warm und süß in den Morgen. Als erstes besuchten wir einen Gottesdienst in der Basílica del San Francisco El Grande, in der riesige, eindrucksvolle Bilder der Apostel an den Wänden sind. Ein alter Mann spielte das Spinett und sang mit brechender Stimme dazu, der Padre schaute von Zeit zu Zeit – verzweifelt, wie es schien – zu ihm hin. Nach dem Gottesdienst holten wir uns unseren Stempel für unser Credencial und fragten den Padre, wo wir als Pilger denn in Madrid bleiben könnten. Er empfahl uns, in einer kirchlichen Bibliothek in der Nähe oder in der neuen Kathedrale nachzufragen. In der Bibliothek schüttelten sie den Kopf. Wir überquerten eine Brücke, dann ragte sie vor uns auf: die neue Kathedrale, die neben dem Königspalast liegt, ein riesiger Bau! In der Sakristei wurde unser Credencial ein letztes Mal gestempelt, ein würdiger Abschluss! Vor dort aus schickte uns eine Nonne zur Klärung unserer Übernachtungsfrage zur Pilgerabteilung in den Bischofspalast. Dort empfahl man uns das Kloster St. Maria am Fuße der Kathedrale. Lange suchten wir, fanden stattdessen und besichtigten die Krypta der Kathedrale, stiegen durch einen Park richtig weit steil abwärts, doch wir fanden nichts außer einem winzigen Steinkirchlein. Wir kletterten den Berg wieder hinauf und kehrten in die Kathedrale zurück und fragen die Nonne nach dem Kloster. Sie griff zum Telefon und siehe da: sie sicherte uns den Schlafplatz im Kloster, wir sollten uns um ½ 8 wieder bei ihr in der Kathedrale melden, dann würde sie uns den Weg weisen. Wunderbar, unsere letzte Nacht war nun auch geregelt. Und wieder begann ein Gottesdienst, an dem wir teilnahmen. In der Kathedrale fand ich auch wieder einen wunderbaren Sagrado Corazón de Jesús. Hier begann die Geschichte dieses Buches. Er nahm sehr deutlich Kontakt zu mir auf, forderte mich auf, mich hinzusetzen und begann, mir vom Heilsystem zu Im Antlitz der Liebe - 151 - © Gabriele Sych erzählen, das ich in der Folgezeit aufgeschrieben habe. Das, um was ich vor dem Camino gebeten hatte, hat sich hier erfüllt: Die Gabe wurde am Ende des Weges überreicht, bis hierhin wurde ich geführt, um meine Unterweisungen zu erhalten. Genau hier entstanden die ersten Erklärungen, wie was funktioniert, die ersten Übungen, lange saß ich und lauschte, während Santiago weiter die Kathedrale besichtigte. Aus diesen Erklärungen ist bis Weihnachten 2007 ein ganzes Heilbuch entstanden. Das Heilbuch nutze ich für meine Arbeit. Unser Weg, die Erkenntnisse des Weges, das Umsetzen unseres Weges im Alltag und das Wissen darüber, was Krankheit und was Heilung ist, das ist in diesem Buch gelandet. Danke dafür von Herzen! Möge dies der Welt von Nutzen sein… 1. Petrus 4 ( Neues Leben): 10 Gott hat jedem von euch Gaben geschenkt, mit denen ihr einander dienen sollt. Setzt sie gut ein, damit sichtbar wird, wie vielfältig Gottes Gnade ist. Gegen Mittag begann so der weltliche Teil unserer Madrider Zeit. Wir sahen Hinweisschilder zur Plaza Mayor und folgten ihnen. Dieser geschichtsträchtige Platz ist rechteckig, von dreistöckigen Häusern mit vielen Balkons, Türmchen und Kolonnaden umgeben. Es wurden gerade die Zelte einer Veranstaltung abgebaut, doch das konnte die Großartigkeit dieses Ortes - Spanien en eccelencia - nicht verdecken. Hier sollen früher sogar die Opfer der Inquisition hingerichtet worden sein, Stierkämpfe stattgefunden haben. An dem Platz war das Tourismusbüro, wo wir einen Stadtplan und eine Internet-Viertelstunde bekamen. Ich fragte auch nach einem Geldautomaten einer deutschen Bank, denn das Geld ging mir aus. Wir fanden unseren Weg ins Latino- und Chinesenviertel und dort einen günstigen Chinesen für unser Mittagessen. Wir erliefen uns Madrid, so wie wir uns schon 1000 weitere Kilometer Spaniens erlaufen hatten, und ruhten uns an der Plaza de España auf einer Parkbank im Schatten der Bäume aus. Hohe, schon ältere Wolkenkratzer mit New Yorker Charme der 50er Jahre grenzen den Platz ein. In der Mitte stand eine Skulptur von Don Quijote und Sancho Panza. Die Touristen nutzen das Duo für die merkwürdigsten Erinnerungsfotos, auch wir ließen uns davon anstecken. Madrid ist wirklich sehenswert, bald ging es weiter zur Plaza del Oriente am Palacio Real, dem Königspalast. Wir waren sentimentaler Stimmung und brauchen eigentlich nur noch Ruhe, um unseren Abschied vorzubereiten. Wir kauften noch schnell etwas zum Abendessen ein, um dann pünktlich um 8 an der Kathedrale zu sein. Im Antlitz der Liebe - 152 - © Gabriele Sych Wegen unserer Muschel am Rucksack sprach uns auf der Straße eine Spanierin an und erzählte von ihrer eigenen Verbundenheit zum Camino. Wir kamen ins Plaudern und sie berichtete uns von der Via Francígena, dem französischen Weg nach Rom. Das war uns wie ein Fingerzeig von oben, der nächste gelbe Pfeil. Er zeigt also nach Rom. Wir beide nahmen uns vor, auch diesen Weg demnächst zu beschreiten. Wieder ein vom Omega zum Alpha. Bis bald auf dem Weg nach und in Rom! Als wir die Kathedrale betraten, kam uns die Nonne schon entgegen und zeigte uns nun genau den Weg dorthin. Wir hätten nur noch einmal mehr um die Ecke gehen müssen! Im Kloster kamen wir unter. In einem ebenerdigen großen Raum standen blaue Holzpritschen, lagen Decken und die Habseligkeiten einiger Leute. Wir lernten einen Flüchtling aus El Salvador kennen, der uns etwas einwies und mit dem sich Santiago lange unterhielt, und einige Obdachlose. Wir suchen uns zwei Holzpritschen nebeneinander, doch schon bald gab es Ärger wegen der Betten. Andere erhoben den Anspruch darauf, sich auf älteres Recht berufend. Der Ton war etwas rauh, aber wenn man schon fast gar nichts hat, so möchte man wohl wenigstens einen Schlafplatz als Eigenes haben. Wir erklärten vorsichtig unsere Situation, dass es unsere letzte Nacht wäre und wir nur einen warmen Schlafsack haben und irgendwann lenkte ein Mann ein und zog auf eine einzelne stehende Pritsche um. So hatten wir doch noch eine Nacht nebeneinander. Die Pritschen waren hart, wir legten unsere Matten drauf, doch es war nicht sonderlich bequem – dafür kostenlos und da wollen wir weiterhin nicht meckern. Nach und nach füllte sich der Raum, zwei ältere Männer, ein Frauenpärchen, eine wohl ganz frisch Obdachlose, die sich sofort hinlegte und seufzend einschlief. Dieses Kloster muss so etwas wie eine Notunterkunft sein für Menschen, die nicht mehr weiter wissen und nichts haben. Unsere gemeinsamen Tage klangen aus, nur noch wenige Stunden trennten uns vom Abschied. Noch im Dunkeln verließen wir das Kloster und frühstückten in einer Bar, in der zunächst die Espressomaschine streikte. Die Bar war neu, der Betreiber kannte sich noch nicht so gut aus, es gab wieder Café con Bollo. In Madrid gibt es noch eine alte Kathedrale, inzwischen heißt sie Basílica de San Isidro. San Isidro ist der Stadtpatron von Madrid. In einer kleinen Seitenkapelle nahmen wir am Morgengottesdienst teil, um unseren letzten Tag auch Gott zu überantworten. Vorn vor dem Hauptaltar stand eine Sagrado Corazón Statue, noch ein Gespräch, Trost, Abschied. Wir liefen weiter durch die Stadt und erreichten den Parque del Buen Retiro. Ich packte meinen Rucksack um und warf allen restlichen Ballast ab. Am See, dem Estaque de Retiro verbrachten wir den Vormittag. Ein Akkordeonspieler begleitete unsere melancholische Stimmung mit „La vie en rose“, „My way“, „Strangers in the night und ganz besonders: „Let it be!“ Wir weinten immer wieder, weil uns der Abschied sehr schwer fiel, schmerzte. Im Antlitz der Liebe - 153 - © Gabriele Sych Irgendwann verließen wir den Park und erreichen die Plaza Colón. Von dort aus suchten wir wieder den Chinesen von gestern, denn er war gut und günstig, und nahmen unsere gemeinsame Henkersmahlzeit zu uns. Und so ging es in Richtung der Bahnstation, wo die Metro zum Flughafen abfährt. Unterwegs halten wir nochmals in einem Park für 1 ½ Stunden an, setzen uns in die madrilener Oktobersonne. Es gab nicht mehr viele Worte, wir lehnten uns nur noch aneinander an. Um kurz nach 5 brachen wir dann auf zur Metro und waren kurz nach sechs auf dem Flughafen. Ich checkte ein und dann brachen unsere letzen Minuten an, unser Abschied voneinander. Wieder weinen wir noch eine Weile zusammen, die letzten wichtigen Worte und dann ging es unter Tränen und mit weißem Taschentuch winken als Referenz an Fátima los, bis der letzte Blick uns trennte, damit ich den Flieger nicht verpasste. Santiago stand tränenüberströmt am Geländer, das war das letzte was ich von ihm nach unserem langen gemeinsamen Weg in Spanien sah. Let it be Let it be When I find myself in times of trouble Wenn ich mich in Schwierigkeiten befinde, dann Mother Mary comes to me kommt Mutter Maria zu mir und spricht ihre Speaking words of wisdom, let it be. Worte der Weisheit: “Lass Dein Leben sich And in my hour of darkness entfalten”50. Und in meinen Stunden der She is standing right in front of me Dunkelheit steht sie direkt vor mir und spricht: Speaking words of wisdom, let it be. Lass Dein Leben sich entfalten. Let it be, let it be. Sie flüstert die Worte der Weisheit: Whisper words of wisdom, let it be. Lass Dein Leben sich entfalten. And when the broken hearted people Und wenn die Menschen mit gebrochenen Herzen Living in the world agree, in der Welt zustimmen, dann wird es eine There will be an answer, let it be. Antwort geben: „Lass Dein Leben sich entfalten.“ For though they may be parted there is Auch wenn sie getrennt sein mögen, mag es immer Still a chance that they will see noch eine Chance geben, There will be an answer, let it be. die sie erkennen können. Es wird eine Antwort Let it be, let it be. Yeah geben! Lass das Leben sich entfalten. There will be an answer, let it be. Und wenn die Nacht auch bewölkt ist, dort ist And when the night is cloudy, immer noch ein Licht, das mich erleuchtet, 50 „Let it be“ kann man auch mit „Lass es sein“ oder „Lass es geschehen“ im Sinne von „Lass es SO sein/werden wie es ist“ übersetzen. Die gewählte Form schien mir hier geeigneter, das von mir Erlebte auf den Punkt zu bringen. Englischer Text von Paul McCartney, Beatles Im Antlitz der Liebe - 154 - © Gabriele Sych There is still a light that shines on me, so lange leuchtet, bis es Morgen ist: Shine on until tomorrow, let it be. „Lass Dein Leben sich entfalten.“ I wake up to the sound of music Ich wache zum Klang von Musik auf, Mutter Mother Mary comes to me Maria kommt zu mir und spricht die Worte der Speaking words of wisdom, let it be. Weisheit: Lass Dein Leben sich entfalten! Let it be, let it be. Es wird eine Antwort geben, There will be an answer, let it be. lass Dein Leben sich entfalten. Let it be, let it be, Sie flüstert die Worte der Weisheit: Whisper words of wisdom, let it be LASS DEIN LEBEN SICH ENTFALTEN! Danke Santiago, dass ich mit Dir von Lourdes über Santiago de Compostela nach Fátima laufen konnte, ohne Dich hätte ich es nicht geschafft, nur mit Dir konnte ich in Gottes Reich und ins Paradies eintreten, dank Deiner haben wir es gefunden. Danke für Deine Liebe und Partnerschaft, Deine Im Antlitz der Liebe - 155 - © Gabriele Sych Zärtlichkeit, danke für Deine Kraft, Deine Nähe und Wärme und das Teilen Deines Schlafsacks in kalten Nächten, die Wärme Deiner Augen, Deine Gedanken, Deine klugen Worte, die Tiefe Deines Gefühls, Deine Geduld, Dein Zurückkommen, Deine Beharrlichkeit, Deine Ermutigung, Deine Natürlichkeit, Dein geschickter Umgang mit Geld, Deine Unterstützung, Deinen Willen, Dein Lachen, Deine Schönheit, Deine Musik, Dein Kochen, Deine Ideen, Deine gute Laune und auch für die andere, wir wissen inzwischen ja, wofür sie gut war. Danke für Dich, danke, dass Du mich gefunden hast! Danke für diese so bedeutsame Zeit unseres gemeinsamen Lebens! Ich liebe Dich von Herzen! Im Antlitz der Liebe 1.5 51 - 156 - © Gabriele Sych Momente der Gnade Und wenn man wie ein Blatt im Wind fliegt, nicht wissend, ob man auf dem Boden aufschlägt oder das Fliegen lernt, und keinen Schimmer von der Zukunft hat, dann ist dies der größte Moment der Gnade, die intensivste Einladung an Ihn, ins eigene Leben einzutreten. (Clipart aus Microsoft Powerpoint) In Santiago de Compostela war für mich das Gefühl, wie ein Blatt im Wind zu sein, eben noch sehr schwer auszuhalten. In Fátima war endlich das Vertrauen vorhanden, da ich in Porto meine Lektion erhalten hatte, das Leben sich entfalten zu lassen. Da erst war der rechte Moment, meine Pilgerreise zu beenden und in leeren Raum zurückzukehren. Jeremia 17 (Neues Leben): 7 Aber Segen soll über den kommen, der seine ganze Hoffnung auf den Herrn setzt und ihm vollkommen vertraut. 8 Dieser Mann ist wie ein Baum, der am Ufer gepflanzt ist. Seine Wurzeln sind tief im Bachbett verankert: Selbst in 51 Ab dieser Seite reflektieren alle Texte nur die Meinung von Gabriele Sych Im Antlitz der Liebe - 157 - © Gabriele Sych glühender Hitze und monatelanger Trockenheit bleiben seine Blätter grün. Jahr für Jahr trägt er reichlich Frucht. Gnade = lat. Gratia, griech. Charis, Bedeutung: freie, freiwillige und unverdiente Zuwendung, Gaben 1.5.1 Dios te salve Maria, llena eres de grácia52 Maria war durch Lourdes und Fátima die Klammer um unseren Camino. Ich wünschte, jeder könnte den Zustand der Gnade Gottes in aller Tiefe erfahren. Marienwallfahrtsorte sind ein erstaunlicher Ort dafür. Die Menschenmassen in Fátima und in Lourdes: ich habe es später auch in Tschenstochau erlebt. Die Menschen werden zu Kindern. Ihre Offenheit für Berührung und Staunen, Emotionalität, der nicht unterdrückbaree Fluß von Tränen, das Strahlen in den Augen, die tiefe Ergriffenheit, der schiere Druck, sich unbedingt der Gottesmutter zu nähern, koste es, was es wolle, vor sie zu treten, ganz vorn zu stehen, sich dort ganz klein zu machen, auf die Knie zu fallen, sich nicht darum zu kümmern, wie andere einen sehen könnten, was andere von einem denken könnten. Ist das alles Spinnerei, eine GemeinschaftsTrance? Eine enorme lebendige Kraft war in den Menschen spürbar, ihr Ziel zu erreichen. Sie sind tief berührt: gestandene Männer, resolute Frauen, gewichtige Personen. Maria hilft den Menschen, weil sie Mutter ist, das Kindsein zu erreichen nach dem Wort: Lukas 18 (Neue Genfer Übersetzung): 17: Ich sage euch: Wer das Reich Gottes nicht wie ein Kind annimmt, wird nicht hineinkommen. Maria war in ihrer Lebenszeit ein Mensch, ausgestattet mit der der ganzen Fülle der Gnade. Dass sie noch heute für so viele Menschen so wichtig ist, bis in die heutige Zeit und für so viele präsent wirkt, deutet sich mir als Hinweis darauf, dass das ewige Leben eine Realität ist. Die Ewigkeit ist zeitlos, daher kann sie in jeder Zeit da sein. Die größte Gnade Gottes, nämlich seinen Sohn in sich tragen zu dürfen, war Maria vorbehalten. Die ersten Zeilen des „Ave Maria“ entstammen der Bibel. Sie werden täglich millionenfach von Menschen im Rosario gebetet. Lukas 1,28: Der Engel trat ein und sagte: Sei gegrüßt, Maria, voll der Gnaden, der Herr ist mit dir! 52Der spanische Beginn des Ave Maria: Gott grüßt Dich, Maria, voll der Gnaden! Im Antlitz der Liebe - 158 - © Gabriele Sych Lukas 1,42 Mit lauter Stimme rief sie (Elisabeth): Gesegnet bist du unter den Frauen und gesegnet ist die Frucht deines Leibes. Maria wird täglich millionenfach gesegnet. Und Maria antwortete dem Engel: Lukas 1 (Neue Genfer Übersetzung): 38 Maria antwortete: "Ich bin die Dienerin des Herrn und beuge mich seinem Willen. Möge alles, was du gesagt hast, wahr werden und mir geschehen." Darauf verließ der Engel sie. Auf Elisabeths Gruß antwortete sie mit einem Lobgesang, der heute Magnifikat genannt wird: Lukas 1,46-55 (Einheitsübersetzung) Da sagte Maria: Meine Seele preist die Größe des Herrn, und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter. Denn auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut. Siehe, von nun an preisen mich selig alle Geschlechter. Denn der Mächtige hat Großes an mir getan und sein Name ist heilig. Er erbarmt sich von Geschlecht zu Geschlecht über alle, die ihn fürchten. Er vollbringt mit seinem Arm machtvolle Taten: Er zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind; er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen. Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer ausgehen. Er nimmt sich seines Knechtes Israel an und denkt an sein Erbarmen, das er unsern Vätern verheißen hat, Abraham und seinen Nachkommen auf ewig. Magnifikat ist das lateinische Anfangswort des Lobgesangs mit der Bedeutung „Er, sie, es macht groß“. Das Magnifikat ist heute ein wichtiges Gebet in der katholischen Kirche. Schon hier sind die Grundregeln von Gottes Reich enthalten. Im Antlitz der Liebe 1.5.2 - 159 - © Gabriele Sych Unerwartete Gaben Kaffeepause: Auf dem Voie de Piemont ging mir am frühen Nachmittag das Wasser in meiner Flasche aus, und ich sprach eine Bäuerin an, ob sie mir etwas Wasser nachfüllen konnte. Das tat sie, und lud uns dann ganz unverhofft in ihre Bauernstube zu Kaffee und Keksen ein. Es war so ein richtig traditioneller Bauernhof mit Kupferkesseln, Milchkannen, Spitzendeckchen, Holzfußboden, Kittelschürze und spätsommerlicher Staudenblumenstrauß, es sah aus wie vor 50 Jahren. Sie bat uns an ihren Küchentisch, ihr Mann kam auch dazu. Aus einem Kästchen wurde eine ganz neue Packung Kaffee geholt und auf alte Art frisch gebrüht. Und – ich liebe Kaffee, es war sooo schön! Sie öffnete ebenso ein Paket Waffelkekse und Santiago atmete die Kekse förmlich ein und wir fühlten uns sehr herzlich aufgenommen. Mit meinem stoppeligen Schulfranzösisch erzählte ich von unserem Vorhaben, wo wir herkommen, wir plauderten über den Weg, das Wandern, die Schönheit der Pyrenäen-Landschaft. Wir zeigten dem Ehepaar Fotos von unseren Kindern und sprachen von unserem bisherigen Weg und Lourdes. Sie brachten Ruhe in unseren Tag und wir Leben in den ihren. Frisch gestärkt machten wir uns voller Dank wieder auf den Weg. Willkommen in Wilsnack: Im Frühjahr 2009 liefen Santiago und ich gemeinsam den Wilsnackweg - diesmal ganz bis zum Ende. Nach einer viertägigen Wanderung in Bad Wilsnack angekommen suchten wir - wie immer - nach einer günstigen Übernachtungsmöglichkeit. Wir fragten am evangelischen Pfarramt neben der Wunderblutkirche . Während auf der Strecke mehrere Kirchen, z.B. in Flatow, Linum und Barenthin, Pilger in den Gemeinderäumen übernachten können, war man auf eine solche Anfrage von Pilgern eher weniger vorbereitet und man zuckte mit den Schultern. Wir fragten auch nach einem überdachten Platz im Freien. Nach langem Hin und Her bot man uns einen Unterstand im Pfarrgarten an. Da wir auf diesem Wege schon im Wald auf einem Tisch und in einem Bushäuschen geschlafen hatten, war das für uns eine machbare Lösung. Zusätzlich gestattete man uns, bis zum Ende der Chorprobe um ca. 21 Uhr zu bleiben, damit wir uns einen Tee kochen könnten und es bequem hätten. Vielen Dank dafür! Wir stellten unsere Rucksäcke im Pfarrgarten ab und Santiago ließ es sich nicht nehmen, mit dem Gartenschlauch zu duschen. Dann besuchten wir ausführlich die Wunderblutkirche, schrieben ins Gästebuch und machten Im Antlitz der Liebe - 160 - © Gabriele Sych anschließend die obligaten Fotos. Aus einem Haus gegenüber der Kirche trat ein Ehepaar, mit denen ich ins Gespräch kam. Sie sahen uns an, dass wir Pilger waren, anschließend liefen sie zum Gemeindehaus, um an der Chorprobe teilzunehmen. Nach Sonnenuntergang machten auch wir uns auf ins Gemeindehaus, kochten uns Tee und machten es uns in den großen Sesseln bequem, die im Raum neben der Chorprobe genau richtig für uns bereitstanden. Wir hatten vier Tage lang ordentliche Etappen zurückgelegt und waren auf das Angenehmste erschöpft, sanken tief in die Sessel und lauschten dem Gesang. Als die Chorprobe zu Ende war, fand uns das freundliche Ehepaar wieder. Sie wunderten sich, was wir da im Gemeindehaus machten. Wir erzählten von unserer Übernachtungsmöglichkeit im Pfarrgarten und der Aufenthaltserlaubnis im Gemeindehaus. Wir verabschiedeten uns und mit der Chorleiterin gemeinsam verließen wir ganz zum Schluss das Haus. Auf dem Weg zum Pfarrgarten kam uns der Mann entgegen. Er hatte dort schon nach uns geschaut. Er und seine Frau hatten als zuvorkommende Christen entschlossen, dass für sie das gar nicht ginge, wie die Gemeinde mit uns als Pilger umging. Wir waren ihnen willkommen! Sie luden uns ein zum Abendbrot und zum Übernachten ein in Ihr Haus. In einem gemütlichen Gästezimmer unter dem Dach durften wir duschen und in einem bequemen Bett schlafen. Noch lange erzählten wir Ihnen an diesem Abend von unserer Pilgerreise nach Santiago. Am nächsten Morgen wurden wir mit einem wundervollen Frühstück verwöhnt, bevor wir uns am Himmelfahrtstag auf die Rückreise machten. Vielen herzlichen Dank für dieses ganz persönliche Engagement, die Großzügigkeit und Offentheit für Fremde. Unerklärliche Geldbewegungen: Auf mein Privatkonto Konto wurden in 2007 größere Summen Geldes überwiesen, zweimal ungefähr 3.000 Euro, einmal 25.000 Euro, und zwar einmal, als ich in Barcelona war, das andere Mal zwei Monate vor dem Camino, als ich einfach mal zwei Wochen nicht auf mein Konto sah. Es waren Fehlüberweisungen durch Zahlendreher gewesen, die mir jedoch genau zeitgerecht halfen, eine Ebbe auf meinem Konto zu überbrücken und mir Rücklastschriftgebühren und Überziehungszinsen zu sparen. Wenn ich es bemerkte, dann googelte ich die Absender, und die freuten sich. Natürlich überwies ich den Betrag zurück, sobald ich es bemerkt hatte. Ich habe dann darum gebeten, mir kein Geld mehr zu schicken, was mir nicht gehört, damit hörte dies auf. In der Zeit, Im Antlitz der Liebe - 161 - © Gabriele Sych als ich auf dem Camino war, erreichten zwei unerwartete Steuerrückzahlungen mein Konto und Geld aus einem behördlichen Widerspruch, den ich zwei Jahre vorher eingereicht hatte – und gedanklich schon längst ad acta gelegt hatte. Begrüßungsgeld: Als ich am Morgen nach meiner Ankunft in Berlin bei meinem Bruder aufbrach, da drückte er mir 20 Euro in die Hand: „Damit du erstmal was zum Essen hast, wenn du nicht gleich zur Bank kommst.“ 1.5.3 Prophezeiungen erfüllen sich Für mich ist es immer ein gnadenvoller Moment, wenn die Worte oder Bilder, die ich als innere Botschaften in mir wahrnehme, auch eintreffen. Hier einige Beispiele: Das Bild: Als ich die erste Buchversion direkt nach der Rückkunft schrieb, wohnte ich bei einer Freundin, da ich damals keine eigene Wohnung hatte. Da ich all dies bald in die Welt tragen wollte, habe ich Jesus um ein Bild gebeten, dass ich für dieses Buch und mehr verwenden kann und er hat es mir zugesagt. Einen Abend später kommt meine Freundin und zeigt mir ein altes Bild, das sie von ihrer sehr gläubigen Tante Magdusch aus Ungarn geerbt hat, über deren Bett es immer hing. Was soll ich sagen: Es war ein wunderschönes Herz-Jesu-Bild in Schwarzweiß, der durch die Gebete ihrer Tante gehoben eine ungeheure Kraft und Liebe ausstrahlt. Sie wusste, dass sie ein Jesusbild hatte, sie wusste nicht, dass es eine Darstellung des Heiligen Herzens Jesu Christi hatte. Was mich sehr freute: Sie hat ihn mir in Sichtweite meines Bettes hingestellt und mir ein Foto von einer Fotografin davon anfertigen lassen und aus dieser Sichtverbindung stammt der Buchtitel. Während meiner Zeit bei Ihr war mein letzter Blick am Abend auf ihn gerichtet und mein erster Blick am Morgen. Zwischen Wunsch und Realität sind genau zwei Tage vergangen. Das Bild ist vorn auf dem Titelblatt zu sehen. Danke dafür! Raum in der Herberge zu Weihnachten: Weihnachten 2007 musste ich meinen schönen Platz am Friedrichshain verlassen, weil die Familie meiner Freundin zum Weihnachtsbesuch kam. Am 19. Dezember sollte ich die Wohnung verlassen und ich schrieb bis zum 18. Dezember die erste Version dieses Buches fertig und kümmerte mich nicht darum, wo ich wohnen würde. Beim Pilgern haben wir auch immer am gleichen Tag etwas gefunden, darauf verließ ich mich. Ich fragte morgens beim Frühgebet: Wie machen wir es denn? Ich höre: Du wirst eine Nachricht erhalten und da meldest du dich. Und tatsächlich, ich bekam eine Email von einer Freundin, von der ich lange nichts gehört habe. Sie schickte Im Antlitz der Liebe - 162 - © Gabriele Sych Weihnachtsgrüße und berichtete, dass sie über Weihnachten in Köln sein würde. Ich rief sie umgehend an und konnte über Weihnachten ihre Wohnung haben – auf der anderen Seite des Friedrichshains. Am nächsten Tag schon bekam ich die Schlüssel und kann einziehen, schräg gegenüber wohnte eine andere Freundin, mit der ich Weihnachten feierte… Danke dafür! Siehe auch die Geschichte der Vision zur Zimmerfindung in 1.5.13 Meine Heimkehr und das Gnadenjahr. Ein festes Kreuz: Der Rosario (Rosenkranzkette), den ich in Lourdes gekauft hatte, begann nach einem Jahr häufigen Nutzens und Tragens immer häufiger in ihre Einzelteile zu zerfallen, da sich die Ösen zwischen den Perlen lösten oder ich mit dem Kruzifix hängen blieb und er abriss. Er war halt preiswert gewesen, doch er war mir sehr, sehr wertvoll, weil er uns auf dem ganzen Camino für viele, viele Gebete gedient hatte. Am „Praxis-Tag der offenen Tür“, an dem auch vor der Praxis ein Straßenfest stattfand, bei dem Santiago auftrat, da verlor ich meinen Kruzifix, der unten am Rosario dran war. Ich suchte überall, hängte Zettel auf, aber ich fand ihn nicht wieder. Ich erschreckte mich sehr darüber, doch dann hörte ich: „Mach dir keinen Kopf, Du bekommst einen Neuen.“ Und das passierte auch: vier Wochen später schenkte mir die Freundin, mit der ich Weihnachten gefeiert hatte, einen neuen Kruzifix aus rund geschnitztem Holz an einer festen Schnur! Er liegt wunderbar in der Hand. Dieses Kruzifix wird nicht mehr abfallen, wir sind fest verbunden. Inzwischen hat mir mein Sohn sogar aus Medjugorje einen quasi unkaputtbaren, riesigen Rosario mitgebracht, den ich jetzt benutze. Danke dafür! Etwas zum Lachen: Bei einer anderen Pilgertour ging es mal wieder auf den Abend zu und ich brauchte eine Übernachtung. Schon bei der Planung der Tagesetappe hatte ich vernommen, bis zu einem bestimmten Ort zu gehen – und etwas darüber hinaus. Ich wanderte also bis zu diesem Ort und fragte dann: „Und jetzt?“ Da hörte ich in mir: „Geh einfach weiter, wenn Du es siehst, wirst Du es wissen. Und – Du wirst Dich kaputtlachen!“ Ich ging also langsam weiter, der Weg zog sich, der Ort war mehr ein bewohntes Tal, das unter dem Namen einer Ortschaft lief. Irgendwann dachte ich, jetzt muss ich ja mal jemanden fragen, wo es hier was gibt. Ich kam an einem Gebäude mit einem Schild „Bürgerhaus“ vorbei und stieg die davorliegende Treppe hinauf, um dort Menschen zu finden. Hinter dem Bürgerhaus entdeckte ich: Das Gebäude der freiwilligen Feuerwehr. Die Tür stand offen und ich hörte Stimmen. Ohne Bedenken trat ich ein und fragte die Anwesenden, ob ich dort übernachten könnte, erzählte von meinen Erlebnissen in Portugal, ließ mich nicht abweisen. Sie schmunzelten, ließen mich dort übernachten. Ja, ich hatte in diesem Moment gewusst, dass ich richtig war, und ja, ich habe mich innerlich kaputtgelacht. Einer der „Bombeiros“ lud mich für nächsten Morgen noch zu einem reichhalten Frühstück in sein Haus ein. Danke dafür! Im Antlitz der Liebe - 163 - © Gabriele Sych Das Fahrrad: Kurz nach Herbstanfang wurde mir mein Fahrrad geklaut. Ich hatte es schon viele Jahre gefahren und ich mochte es richtig gern, auch wenn die Gangschaltung häufiger mal Aussetzer hatte. Es war leicht und einfach zu fahren, auch in engen Kurven. Doch nun war es geklaut, einfach das Schloss – zapp! – durchgeknippst. Erst ärgerte ich mich sehr, warum musste mir das passieren! Da hörte ich in mir: “Du brauchst ein neues Fahrrad, du wirst ein neues Fahrrad bekommen!” Einen Monat vor Frühlingsanfang bekam ich von einer Klientin ein neues Fahrrad geschenkt, kaum benutzt, tiptop in Ordnung. Sie brauchte es nicht mehr, da sie ein für sich praktischeres Fahrrad bekommen hatte und war froh, dass sie Platz schaffen konnte. Gott sorgt für mich! 1.5.4 Wege-Engel Beim Pilgern trifft man häufig Wege-Engel, die genau im richtigen Moment auftauchen, um einen den richtigen Weg zu weisen. In Spanien wird man als Pilger ja häufig erkannt und die Ortsansässigen sind es gewohnt, einem den Weg zu weisen, wenn man sich verlaufen hat. Einen besonders zuvorkommenden Wege-Engel hatten wir bei unser Ankunft in Burgos nach der 50km-Etappe. Ein deutscher Pilger, der am nächsten Tag von Burgos aus loslaufen wollte, sprach uns mitten in der Stadt auf der Plaza Mayor an, weil wir uns wohl etwas verloren umschauten. Auf die Frage, wo denn die Herberge sei, verriet er uns, dass die größere Herberge noch ca. 2 km vom Zentrum entfernt wäre. Als er mein entsetztes Gesicht sah, ich war schon wirklich erschöpft, begleitete er uns dorthin und trug dabei meinen Rucksack, damit ich es nicht so schwer hätte. Danke! Als ich nach Bad Wilsnack pilgerte, war ich mir hinter Fehrbellin über ein Zeichen unklar. Es war an ein Straßenschild ein Wilsnack-Aufkleber dran, d.h. ich war noch auf dem richtigen Weg, aber ich wusste nicht, ob dies nun der Abzweig war. Ich lief die Straße weiter geradeaus. Da kamen mir drei Wanderer entgegen, die mich dann aufklärten: Geradaus ging es ins nächste Dorf, nach Protzen, wo sie übernachtet hatten, doch der schönere Weg ging über die Felder durch das Luch, und zwar dort, wo der Im Antlitz der Liebe - 164 - © Gabriele Sych Aufkleber dran war. Ich lief also mit ihnen zurück und wir bogen gemeinsam ab. Ich nahm noch meinen Kugelschreiber raus und kennzeichnete für alle weiteren Pilger auf dem Aufkleber die Richtungen, nach Protzen geradeaus, nach Garz nach links. Mit einer der Frauen unterhielt ich mich noch ein Weilchen über den Wilsnack-Weg. Sie hatten die Reise lange geplant und schon im Voraus alle Etappen samt Übernachtung festgelegt und fest gebucht. Ich erzählte ihr vom Jakobsweg und meiner Form des Pilgerns, loslaufen und vertrauen, dass sich schon etwas findet, wo man bleiben kann und was ich bisher erlebt hatte, mein wunderbar geschütztes Strohlager und das Bett – gegen Donativo, wie in Spanien - in der katholischen Kirche in Fehrbellin. Sie war sehr erstaunt, und sagte: „Das hätte ich mich nicht getraut.“ Kurz darauf hielt die kleine Gruppe an, weil sie Fotos von dem leuchtend-gelben Rapsfeld machen wollte. Wir verloren uns schnell aus den Augen, ich habe sie ab diesem Punkt – auch aus der Entfernung heraus, nicht mehr gesehen – und sie mich wohl auch nicht. Ich bin mir sicher, diese Frau wird über kurz oder lang auch den Jakobsweg pilgern. Wir waren uns gegenseitig – Wege-Engel. Wege-Engel gibt es auch im Alltag ständig, Menschen, die plötzlich vorbeikommen, eine Nachricht hinterlassen und dann wieder verschwinden. Bücher, die plötzlich in unsere Hände fallen, Liedertexte, die wir plötzlich hören. Wenn wir innerlich berührt werden, dann ist die Nachricht für uns. Ein Moment der Gnade. Gebet nach Matthäus 8,8 vor der Eucharistie im Gottesdienst, dass viele Menschen besonders berührt: “Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort, dann wird meine Seele gesund.“ 1.5.5 Ankommen in Grácia Ein dreiviertel Jahr nach seiner Abreise sah ich meinen Sohn wieder, der mich in seinen Osterferien für zwei Wochen besuchen kam. Meine Tante hatte uns beiden zu Weihnachten Geld für gemeinsame Erlebnisse geschenkt und die verwendeten wir für Tickets nach Barcelona. Ich wollte ihm endlich diese schöne Stadt zeigen. Über das Internet fanden wir eine preiswerte Privatunterkunft für uns im Stadtteil Grácia, das spanische Wort für „Gnade“. Bei der sehr herzlichen Maite aus Perú erhielten wir ein Im Antlitz der Liebe - 165 - © Gabriele Sych Zimmer in einer typisch spanischen Altbau-Wohnung. Sie war von der Zeit schon etwas mitgenommen, lang gestreckt, viele kleine, auch innen liegende Zimmer an Lichtschächten, jedoch kalt, eine einfache Küche, doch wir kochten gerne selbst. Mein Sohn war froh, wieder von mir Gekochtes essen zu können. Und ich las ihm wieder ein Buch vor, den letzten Band von Harry Potter, damit schloss sich auch dieser Kreis, wir hatten alle sieben Bände gemeinsam gelesen. Wenn es auch nicht so warm war, wie wir es uns erhofft hatten, so war es doch wesentlich wärmer und angenehmer als im österlich verschneiten Berlin. Hier fanden wir 10 Tage viel Gnade miteinander. Grácia liegt mitten in der Innenstadt, ist einer der schönsten Stadtbezirke überhaupt und beheimatet den illustren Passeig De Grácia, die edle Einkaufsstraße von Barcelona unter Platanen, mit wunderschönen Häusern, unter anderem mit den Gaudí-Denkmälern Casa Batlló und La Pedrera/ La Casa Milá. Wir freuten uns an der schönen Umgebung, wir liefen viel zu Fuß: Plaza Catalunya, Las Ramblas, Colón und der Hafen, Barceloneta und der Strand, Torre Agbar, Montjuïc, Plaza España, Parque Guëll und besuchten viele Kirchen: die Kathedrale, Santa Maria del Mar, Santa Maria del Pi, La Merced, La Sagrada Familia, St. Joanic. Jeden Morgen genossen wir die Musik von der Straße zum Frühstück, da wir an einer Fußgängerzone wohnten, wo es viele Straßenmusikanten gab. Wir hatten eine sehr schöne Osterzeit, in der mein Sohn die Entscheidung traf, nach dem einen Jahr wieder nach Deutschland zurückzukehren. Er verkündete mir dies mit den Worten: Du bist ein Lebenskünstler, Mama, und bei dir kann ich lernen, mit wenig Geld gut umzugehen und auch ohne Geld Schönes zu erleben. 1.5.6 Geben und empfangen In der Praxis veranstalteten wir einen Tag der offenen Tür, bei dem wir alle Behandlungen für eine Spende an die gemeinnützige Stiftung von Karl-Heinz Böhm für Kinder in Afrika anboten. Bei einer Behandlung, bei der der heilende Segen des allmächtigen Vaters im Himmel notwendig war, begann ich instinktiv inbrünstig das Vaterunser zu beten. Und immer wieder stockte das Gebet bei mir an derselben Stelle, immer bei „und vergib uns unsere Schuld wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“. Und man glaube mir, ich kann es wirklich auswendig. Ich sprach den Behandelten, den ich vorher noch nie gesehen hatte an, ob er unter Schuldgefühlen litte und Probleme mit dem Vergeben hätte. Er sagte: „Das ist wohl mein größtes Problem. Ich mache mir so viele Vorwürfe, ich fühle mich so schuldig. Und ansonsten ist das bei uns in der Familie eine lange Kette. Ich kann meinen Eltern nicht vergeben, meine Kinder beschuldigen mich und das geht auf allen Ebenen weiter“. Wir konnten dann über Vergebung sprechen und sie einleiten und so einiges an Last und Leid mindern. Im Antlitz der Liebe - 166 - © Gabriele Sych Und so erfuhr ich, dass ich auch die Gebete zur Diagnose verwenden kann, wenn ich sie während des Handauflegens intensiv bete. Durch die Gespräche erschließt sich mir die Bedeutung jeder Zeile des Vaterunsers und der anderen Gebete, die ich für die Wesenspersönlichkeiten der heiligen Dreifaltigkeit bete. Wenn ich dann die Zeile mit meinem Klienten anspreche, dann komme ich immer direkt auf den Punkt. Inzwischen hat sich im Praxisalltag herausgestellt, dass auch andere Gebete, z.B. das Heilig-GeistGebet des Augustinus, die 10 Gebote und die 7 Ich-Worte Jesu aus dem JohannesEvangelium bei der Diagnose in ähnlicher Weise sehr hilfreich sind. Ich habe meine Fähigkeit gegeben, um anderen und den Kindern in Afrika zu helfen. Und mein Lohn dafür war nicht von dieser Welt, er war ein Geschenk, mit dem ich meine Gabe zur Diagnostik der Seele erweitern konnte. Die Gnade, die durch Geben einfach geschieht – ein weiterer Moment der Gnade. . 1.5.7 In der Wüste sein und der Ausblick auf das gelobte Land Eines Tages, im Sommer nach dem Pilgern, da hatte ich gegen Morgen einen Traum. Ich sah mich in einer Wüste wandern, gelb, orange, ocker der Sand, unter wolkenlosem Himmel und in gleißender Sonne. Es war heiß und es ging bergauf, es war sehr anstrengend, ich schwitzte, die Füße schwer im abrutschenden Sand. Doch plötzlich wurde mein Blick angehoben, ich wurde über meinen Standpunkt in der Wüste gehoben und sah, dass zwar noch Aufstieg zu bewältigen ist, es aber gar nicht mehr so lange dauert, der Gipfel ist bald erreicht. Und hinter dem Bergkamm, da begann ein anderer Landstrich: die Wüste war zu Ende und es begann, grüner zu werden, Wiesen, später Bäume, ein gewundener Pfad, Blumen, Früchte, Wasser in Form eines Baches – das gelobte Land lag vor mir. Im Antlitz der Liebe - 167 - © Gabriele Sych Gelobtes Land voraus! …auf dem Wilsnackweg Als ich am Morgen aufwachte und meinen Traum Revue passieren ließ, da wurde mir klar, ja, meine Zeit ähnelt der einer Wüste. Die Wüste ist nicht grundsätzlich etwas Schlimmes, ich kenne einige Menschen, die für die Wüste absolut schwärmen. Ich hatte durch meine Praxis kein festes Einkommen, lebte von der Hand in den Mund, alles Geld, was hineinkam, reichte sozusagen bis zum nächsten Tag, alle Zahlungen, die ich zu leisten hatte, waren erst kurz vor dem Termin auf meinem Konto – und manchmal auch nicht - das wirklich Wichtige klappte. Irgendjemand rief immer an, und dann gab es wieder etwas zu tun. Als ich noch allein lebte, da hatte ich manchmal auch nur sehr wenig zu essen, 5 Euro für eine ganze Woche. Doch – an einem Abend wurde ich unerwartet zum Essen eingeladen – indisch, bunt und gesund: Huhn mit Mango und Kokos-Lassi da konnte ich mich dann richtig satt essen. Ich lernte im Alltag, mich darauf zu verlassen, dass es schon klappen würde, und wenn es nicht klappte, dann war es für einen neuen Glaubensschritt wichtig, es hatte jeweils einen Sinn. Ich wurde in der Wüste ausgebildet: 2. Mose 16 (Lutherbibel 1984) 4 Da sprach der HERR zu Mose: Siehe, ich will euch Brot vom Himmel regnen lassen, und das Volk soll hinausgehen und täglich sammeln, was es für den Tag bedarf, dass ich's prüfe, ob es in meinem Gesetz wandle oder nicht. 5 Am sechsten Tage aber wird's Im Antlitz der Liebe - 168 - © Gabriele Sych geschehen, wenn sie zubereiten, was sie einbringen, dass es doppelt so viel sein wird, wie sie sonst täglich sammeln…. 11 Und der HERR sprach zu Mose: 12 Ich habe das Murren der Israeliten gehört. Sage ihnen: Gegen Abend sollt ihr Fleisch zu essen haben und am Morgen von Brot satt werden und sollt innewerden, dass ich, der HERR, euer Gott bin. 13 Und am Abend kamen Wachteln herauf und bedeckten das Lager. Und am Morgen lag Tau rings um das Lager. 14 Und als der Tau weg war, siehe, da lag's in der Wüste rund und klein wie Reif auf der Erde. 15 Und als es die Israeliten sahen, sprachen sie untereinander: Man hu1? Denn sie wussten nicht, was es war. Mose aber sprach zu ihnen: Es ist das Brot, das euch der HERR zu essen gegeben hat. 16 Das ist's aber, was der HERR geboten hat: Ein jeder sammle, soviel er zum Essen braucht, einen Krug voll für jeden nach der Zahl der Leute in seinem Zelte. 17 Und die Israeliten taten's und sammelten, einer viel, der andere wenig. 18 Aber als man's nachmaß, hatte der nicht darüber, der viel gesammelt hatte, und der nicht darunter, der wenig gesammelt hatte. Jeder hatte gesammelt, soviel er zum Essen brauchte. 19 Und Mose sprach zu ihnen: Niemand lasse etwas davon übrig bis zum nächsten Morgen. 20 Aber sie gehorchten Mose nicht. Und etliche ließen davon übrig bis zum nächsten Morgen; da wurde es voller Würmer und stinkend. Und Mose wurde zornig auf sie. 21 Sie sammelten aber alle Morgen, soviel ein jeder zum Essen brauchte. Wenn aber die Sonne heiß schien, zerschmolz es. 22 Und am sechsten Tage sammelten sie doppelt so viel Brot, je zwei Krüge voll für einen. Und alle Vorsteher der Gemeinde kamen hin und verkündeten's Mose. 23 Und er sprach zu ihnen: Das ist's, was der HERR gesagt hat: Morgen ist Ruhetag, heiliger Sabbat für den HERRN. Was ihr backen wollt, das backt, und was ihr kochen wollt, das kocht; was aber übrig ist, das legt beiseite, dass es aufgehoben werde bis zum nächsten Morgen. 24 Und sie legten's beiseite bis zum nächsten Morgen, wie Mose geboten hatte. Da wurde es nicht stinkend und war auch kein Wurm darin. 25 Da sprach Mose: Esst dies heute, denn heute ist der Sabbat des HERRN; ihr werdet heute nichts finden auf dem Felde. 26 Sechs Tage sollt ihr sammeln; aber der siebente Tag ist der Sabbat, an dem wird nichts da sein. 27 Aber am siebenten Tage gingen etliche vom Volk hinaus, um zu sammeln, und fanden nichts. 28 Da sprach der HERR zu Mose: Wie lange weigert ihr euch, meine Gebote und Weisungen zu halten? 29 Sehet, der HERR hat euch den Sabbat gegeben; darum gibt er euch am sechsten Tage für zwei Tage Brot. So bleibe nun ein jeder, wo er ist, und niemand verlasse seinen Wohnplatz am siebenten Tage. 30 Also ruhte das Volk am siebenten Tage. 31 Und das Haus Israel nannte es Manna. Und es war wie weißer Koriandersamen und hatte einen Geschmack wie Semmel mit Honig. Im Antlitz der Liebe - 169 - © Gabriele Sych An diesem Tag beschloss ich für mich: Ich werde die Zeit in der Wüste auch genießen, soweit ich kann, soweit ich mein Bewusstsein und meine Dankbarkeit dafür immer wieder anheben, aufkommen lassen kann. Ich werde den Weg, die Herausforderung und die Lernaufgabe annehmen. Lernen, das zu nehmen, was jeden Tag „von oben“ kommt, nicht für morgen vorzusorgen. Eben Matthäus 6 (Bibelübersetzung Neues Leben): 34 Deshalb sorgt euch nicht um morgen, denn jeder Tag bringt seine eigenen Belastungen. Die Sorgen von heute sind für heute genug. Es ist anfangs kein Spaziergang, manchmal hatte ich Angst, manchmal schlug es mir auf den Magen, manchmal wünschte ich mir, dass es leichter sein möge. Doch es war, wie es war. Es ging um das Lernen, um das Erfahrung sammeln, um das „Trainieren des Glaubensmuskels“. Leichter geht es nicht. Ich lernte, mit dem auszukommen, was gerade jetzt da war, ich lernte, mir um den nächsten Tag weitestgehend keine Sorgen zu machen, und auch nicht um das, was in 30 Jahren sein könnte mit mir. Und im Kleinen: Wenn eine Überweisung zu leisten war, dann würde das Geld auch am rechten Tag da sein. Nie wusste ich, wann etwas kommen würde, wieviel kommen würde. Es kam einfach was. Ich lernte auch, mit nichts zu rechnen, selbst wenn Leute kamen, die sonst immer etwas gaben. Es war ja kein Lohn, sollte es auch nicht sein. Wüste – kein Baum, kein Strauch, wo ich einfach hingehen konnte, um etwas zu pflücken. Es hatte irgendwie ohne mein Zutun zu geschehen: Völlige Abhängigkeit von Gott. Und ich gab nicht auf, ich kehrte nicht um, denn ich hatte ja gesehen: „Der Weg da raus ist der Weg da durch“. Es ist der Camino im Alltag – einfach weitergehen! Mein Traum schenkte mir Hoffnung und Zuversicht – und wieder viele Momente der Gnade. 1.5.8 Der Moment der großen Angst Auf dem Weg des Weiterlernens im Alltag gab es immer wieder „spannende“ Zeiten, zum Beispiel in der Zeit, als ich alle meine anderen Aktivitäten und Einnahmequellen aufgab, um mich nur noch dem Handauflegen mittels Heilsegnen und diesem Buch zu widmen. Manchmal stellte ich mich ein wie ein Kind, das pfeifend durch den Wald geht, um die Angst zu überbrücken. Ich betete, wo ich ging und Im Antlitz der Liebe - 170 - © Gabriele Sych stand, um mich nicht von meiner Angst überwältigen zu lassen. Irgendwann ging es nicht mehr, sie kam durch, ich ließ sie zu. Und in dem Moment hörte ich die Worte: „Na endlich!“ Es war wie ein „Mach hier nicht den dicken Herrmann, wenn du es nicht wirklich bist. Wir sind doch da, um dir zu helfen, wir sind da, um dir zu dienen, nicht umgekehrt. Wir unterstützen dich, wenn du dich nicht stark fühlst. Gerade dann können wir am besten für dich da sein. Lass dir helfen! Du bist für uns auch ok, wenn du vor Angst schlotterst. Im Gegenteil, es ist mutiger, zeugt von mehr Überzeugung, vor Angst schlotternd voranzugehen, als ohne Furcht voranzuschreiten.“ Ja, es ist einfacher, über ein Brett, das am Boden liegt zu gehen, als über ein Brett, was über dem Abgrund liegt, auch wenn beide gleich breit sind. Ich ließ also die Angst mich überfluten, ich schlotterte! In dem Moment, als das passiert war, als ich es zuließ, wurde mir leichter ums Herz. Ich hatte Angst und durfte Angst haben. Ich fühlte mich mickrig und durfte auch so sein. Und trotzdem vorangehen! Das war ein großartiges Erlebnis – ich durfte auch nicht groß, stark und ok sein, und war trotzdem richtig, hey, was für ein Gefühl – ein Moment der Gnade, den man so gar nicht erwartet. Auch Jesus hatte einmal große Angst – während seines Gebetes im Garten Gethsemane, als er Blut und Wasser schwitzte. Und dann kam der Engel … Er wusste, was auf ihn zu kam, wir wissen es meist nicht…und haben Angst vor dem Ungewissen. Markus 14 (Lutherbibel 1984): 32 Und sie kamen zu einem Garten mit Namen Gethsemane. Und er sprach zu seinen Jüngern: Setzt euch hierher, bis ich gebetet habe. 33 Und er nahm mit sich Petrus und Jakobus und Johannes und fing an zu zittern und zu zagen 34 und sprach zu ihnen: Meine Seele ist betrübt bis an den Tod; bleibt hier und wachet! 35 Und er ging ein wenig weiter, warf sich auf die Erde und betete, dass, wenn es möglich wäre, die Stunde an ihm vorüberginge, 36 und sprach: Abba, mein Vater, alles ist dir möglich; nimm diesen Kelch von mir; doch nicht, was ich will, sondern was du willst! Oder in Lukas 22 (Einheitsübersetzung): 39 Dann verließ Jesus die Stadt und ging, wie er es gewohnt war, zum Ölberg; seine Jünger folgten ihm. 40 Als er dort war, sagte er zu ihnen: Betet darum, dass ihr nicht in Versuchung geratet! 41 Dann entfernte er sich von ihnen ungefähr einen Steinwurf weit, kniete nieder und betete: 42 Vater, wenn du Im Antlitz der Liebe - 171 - © Gabriele Sych willst, nimm diesen Kelch von mir! Aber nicht mein, sondern dein Wille soll geschehen. 43 Da erschien ihm ein Engel vom Himmel und gab ihm (neue) Kraft. 44 Und er betete in seiner Angst noch inständiger und sein Schweiß war wie Blut, das auf die Erde tropfte. Und doch kann man sich vollständig anvertrauen, alles geben. Das Scherflein der Witwe, Markus 12 (Lutherbibel 1984) 41 Und Jesus setzte sich dem Gotteskasten gegenüber und sah zu, wie das Volk Geld einlegte in den Gotteskasten. Und viele Reiche legten viel ein. 42 Und es kam eine arme Witwe und legte zwei Scherflein ein; das macht zusammen einen Pfennig. 43 Und er rief seine Jünger zu sich und sprach zu ihnen: Wahrlich, ich sage euch: Diese arme Witwe hat mehr in den Gotteskasten gelegt als alle, die etwas eingelegt haben. 44 Denn sie haben alle etwas von ihrem Überfluss eingelegt; diese aber hat von ihrer Armut ihre ganze Habe eingelegt, alles, was sie zum Leben hatte. Einem solchen Menschen begegnete ich, der 100 % gibt. Ich war bei einer Freundin in einem Café in Potsdam, da kam er herein. Stefan hatte vor 19 Jahren seine Firma verkauft und das Geld gespendet, hat kein Zuhause mehr und läuft seither für den Frieden durch Europa und hilft. Er sammelt und gibt gleich weiter, er geht zu allen Gelegenheiten zu Hilfe, die sich ihm auftun, ob es nun ein Kinderheim, die Flutkatastrophe oder der Hunger in der Welt ist, darüber zeigte er uns Zeitungsausschnitte. Er fragt Privatleute und Firmen nach Geld zum Spenden und für sich selbst nach Essen und Unterkunft. Er sagt, er lebt bereits seit 19 Jahren so. Er überlebt schon so lange in dieser Lebensform. Da war ich platt, er hat mich überzeugt, dass es geht, ein wunderbares Beispiel, und er hat mir viel Angst vor diesem Weg genommen. Ich habe ihm sofort und spontan mein Portemonnaie geleert53. Er ist weiter unterwegs, halten Sie Ausschau! Ich traf ihn später nochmals in Berlin. Mögen alle, die ihm begegnen, ihn auf seinem barmherzigen Weg unterstützen! Chapeau, Stefan, Gott segne Dich! 1.5.9 53 Hindurchgehen und die Angst verlieren Und komischerweise bekam ich das Geld noch am selben Tag aus anderer Quelle wieder. Im Antlitz der Liebe - 172 - © Gabriele Sych Viele Dinge verlieren ihren Schrecken, wenn man sie erlebt, durchlebt und überlebt, oft macht uns dies das Leben einfacher und sorgenfreier. Es gelang mir über eine gewisse Zeit nicht, meinen Krankenkassenbeitrag zu bezahlen. Immer wieder streckte und dehnte ich mich – getreu auf dem Weg bleibend – zu überweisen, doch es reichte nicht. Sie wurde immer wieder angedroht und dann kam sie, die Kontopfändung durch das Hauptzollamt. Die Lastschrift für die Miete wurde nicht eingelöst und ich kam nicht mehr an mein Geld. Ich nahm mit dem Hauptzollamt Kontakt auf und reichte alles ein, was notwendig war, um meinen Finanzstatus zu dokumentieren. Da ich mit meinen Einnahmen unterhalb der Pfändungsgrenze lag, wurde die Kontopfändung aufgehoben und das war es. Punkt. Eine Woche Unannehmlichkeiten (das war die mit den 5 Euro) und wenig zu essen, mehr war nicht passiert. Jetzt weiß ich, dass ich geschützt bin. (Und – brauchte ich die Krankenkasse? In der ganzen Zeit nicht, wenn ich krank wurde, dann lege ich mir meine Hände auf, bat um Heilung und es geschah. Doch Krankenkasse ist halt gesetzliche Pflicht…) Sprüche 13 (Lutherbibel 1984): 8 Mit Reichtum muss mancher sein Leben erkaufen; aber ein Armer bekommt keine Drohung zu hören. Es ist nun nicht mein aktiver Wunsch und Wille, zahlungsunfähig zu sein oder Schulden zu machen, es ist mir auch nicht einfach „Wurscht“, nein, ganz und gar nicht, im Gegenteil. Ich war nicht zahlungsunwillig, sondern zu einer Zeit zahlungsunfähig – genau dann. Das Durchleben dieser Situation machte es mir leichter, mit dem Leben „aus der Hand in den Mund“ klar zu kommen, mich nur auf Ihn zu verlassen, den gefundenen Weg nicht zu verlassen. Die Welt geht nicht unter. Und es hilft mir auch immer wieder der Gedanke an meine Eltern, die nach dem Krieg hier in Berlin als Vertriebene in aller Unsicherheit angefangen haben, und an meine Patentante, die in den Kriegsjahren für die Küche des Max-Bürger-Zentrums in Berlin zuständig gewesen war, die gerade in dieser Zeit auch ständig zusehen musste, dass sie für alle Patienten genug zu essen bekam. Wenn ich bei ihr zu Besuch war, dann gab es bergeweise zu essen, das war ihr eine große Freude. Sie sagte dann immer: „Komm und iss, Kind, es ist genug da!“, ein für sie wichtiges Zeichen, ihre Liebe auszudrücken. Eines Abends habe ich die DVD vom „Herrn der Ringe“ gesehen, als Frodo und Sam bei der Trennung von ihren Gefährten aufbrechen. Frodo und Sam, das war so ein Bild von Santiago und mir, und die beiden haben sich auch nicht nach ihrer Krankenkasse gefragt, als ihnen klar war, was ihr Weg war. Im Antlitz der Liebe - 173 - © Gabriele Sych Der Verlust von Existenzangst in einem Leben ohne menschlich gestützte Sicherheitsreißleinen und das Wissen um die einzig wahre Sicherheit in Gott – immense Momente der Gnade. 1.5.10 Bei sich selbst ankommen Die ersten Tage auf dem Camino, und vor allem die Zeit in Lourdes, hatte ich immer wieder das Gefühl, als ob ein Schleier zwischen mir und der Realität war. Ich war in Lourdes, aber es war für mich ein Ort wie jeder andere, ich spürte keine speziellen Schwingungen, nichts. Lourdes habe ich mir schon angesehen, habe Messen besucht, an der Prozession teilgenommen. Aber es war nicht das, was ich erwartet hatte. Ich war einfach nicht ganz da. Nur in den Situationen, wo ich wirklich körperlich erschöpft war, war ich ganz präsent. Ich war manchmal nur mit meinen Gedanken beschäftigt und manchmal merkte ich auch beim Laufen, dass die Landschaft nicht so farbig war, wenn ich dachte oder den Rosario beim Laufen betete. Der anstrengendste Tag war der Weg von Belorado nach Burgos hinein, 52 km am Stück, zwei ordentliche Anstiege, einer nach Vilafranca Montes de Oca und einer nach der Ortsdurchquerung von Atapuerca. Allerdings auch eine wunderschöne spirituelle Auszeit in St. Juan de Ortega. Der Weg nach Burgos hinein war die scheußlichste Strecke des ganzen Camino Frances: erst eine lange Strecke an der Flughafenbaustelle entlang auf einem Behelfsweg; ungeschützt mussten wir eine vierspurige Schnellstraße und eine Autobahnauffahrt überqueren; es ging durch Industrie, trübe Vorstadt – keine Visitenkarte für eine so bekannte Stadt wie Burgos. In Burgos verloren wir unsere Pfeile, weil die Hinweise irgendwann sich von Pfeilen in den Bürgersteig eingelassene Jakobsmuscheln wandelten. Wir schimpften, was uns zunächst Kraft gab, und wir stritten uns beim Brotkaufen, wir verloren uns und trafen uns wieder. Spät abends kamen wir auf der Plaza Mayor an, die winzige Herberge mitten in der Stadt war natürlich schon „completo". Wir erfuhren, dass es noch eine Herberge in einem Park gäbe, ca. 2 km vom Zentrum. Erst um 21.30 kamen wir in der Herberge im Parque Parral an, eine Holzbaracke mit sanitären Anlagen zum Weglaufen, egal, wir waren bescheiden geworden. Wir aßen unser Brot und dann nur noch ins Bett. Meine Hände hatten an diesem Abend noch viel zu behandeln, meine Füße und Schenkel schmerzten wie verrückt. Im Antlitz der Liebe - 174 - © Gabriele Sych Am nächsten Morgen schulterten wir wieder unsere Rucksäcke und liefen wieder in die Innenstadt von Burgos, um die Kathedrale zu besuchen und die Stadt ein wenig besser kennen zulernen. Die Innenstadt war wirklich beeindruckend, traumhaft, imposant, einzigartig! Im Café Latino leisteten wir uns – nach langer Zeit mal wieder - einen Café con leche zum Frühstück und luden derweil unauffällig an der Steckdose neben meinem Stuhl das Handy auf. Die Kathedrale – Catedral de Santa Maria de Burgos – ist ein riesiger, gotischer Prachtbau, der heute allerdings zu einem großen Anteil als Tourismusattraktion dient. In der dem „culto“ vorbehaltenen Seitenkapelle, der Capilla de Santa Tecla, nahmen wir an der Messe teil, auch hier waren wieder für wenige Gläubige eine Vielzahl von Padres, ich glaube, es waren zwölf, die mit gregorianischen Gesängen die Messe erfüllten. Kaum hatte ich mich hingesetzt, griffen die Gesänge tief in meinem Herzen durch und ich begann zu weinen, haltlos. Zunächst wusste ich nicht, es war einfach nur da. Und dann kam es irgendwann zu mir durch, was für so lange Zeit einfach nicht an mich herangekommen war. Ich hatte mich für mindestens ein Jahr von meinem Sohn verabschiedet, und ich wusste nicht, ob wir jemals wieder - so wie früher - zusammen wohnen würden. Und in all dem Trubel, Renovierungsstress, Steuerprüfung, Umzug meiner Sachen in den Container und Reisevorbereitungen hatte ich nur eins nach dem anderen erledigt, um dann endlich auf den Camino gehen zu können. Mein Kopf war voll, mein Körper erschöpft. Der Camino war eine solche Umstellung, körperlich, seelisch und geistig, er forderte alles von mir. Der Abschied war noch nicht zu mir durchgedrungen – bis zu diesem Moment. Jetzt war nichts mehr aufzuhalten. Die Anstrengung des Pilgerns und Seine Kraft in den Messen hatten meinen Kopf leer laufen lassen, meine Mauern mürbe gemacht und dann zum Einsturz gebracht. Ich war in meinem Innern angekommen, ich spürte mich, vollständig, spürte meine Trauer, meine Angst und meine Sehnsucht. Na klar, ich war auch zum Pilgern aufgebrochen, damit der Abschied nicht so schwer für mich würde, es war auch eine Selbstschutzmaßnahme gewesen. Als dann alle Tränen draußen waren, ging es mir besser, viel besser. Der Schleier war verschwunden. Ich war mit allen Sinnen auf dem Camino – ich war angekommen, ich war berührbar, erreichbar, anwesend. Übrigens: In Fátima bin ich vollständig angekommen und es war alles in meinem Fühlen da, so wie ich es mir vorgestellt hatte, ich war berührt und gerührt, konnte weinen und lachen, spüren und erfahren, Im Antlitz der Liebe - 175 - © Gabriele Sych erkennen, leuchten und erleuchten, erhielt Geschenke über Geschenke, war mittendrin, ganz Teil des Gesamten – 1500 km später! Mit meinem Sohn wohne ich inzwischen wieder zusammen, Gott sei Dank, und ich gehe sehr dankbar mit dieser Zeit um. Ich kenne diese Schleier gut, lange Jahre habe ich nur hinter diesen Schleiern gelebt, mich nicht wahrgenommen. Ich hatte das Gefühl, hinter dem Fenster zu stehen und das Leben findet draußen statt. Doch nur ohne diese Schleier konnte ich, können wir sinnvoll den wahren Weg finden, den wir aus dem Herzen heraus ohne Zweifel wissen. Mit beiden Füßen unten auf der Erde angekommen. Oft ist das bei sich ankommen mit Tränen verbunden, immer mit dem Hindurchgehen durch Gefühle, die wir vorher eher gern vermeiden. Ich lernte: Wenn wir uns also das nächste Mal einem Gefühl wirklich hingeben, es zulassen, was wir bisher zu vermeiden trachteten, werden wir wieder „unten ankommen“ und wissen, worum es geht, was jetzt unsere Wahrheit ist. Das ist der Weg zum eigenen Ich. Wer oder was immer das bisher vermiedene Gefühl auslöst: es ist wichtig, nicht ausschließlich dagegen vorzugehen, sondern auch sich der Gründe der Verletzung, der Verletzlichkeit und der Verdrängung zu widmen, wahr zu werden. Und so können wir Schicht um Schicht immer mehr die ganzen Schmerzbarrieren zwischen uns selbst und dem eigenen Ich abbauen, die uns sonst in Verwirrung und Entscheidungsunfähigkeit führen. Und wenn diese weg sind, dann können wir unser Ich spüren und werden auch genau wissen, was wirklich das Eigene ist, unser geschaffenes Wesen, wo es lang geht. Viel zu lange stehen wir manchmal am Fenster mit dem Blick auf die Realität, nicht in der Realität. Seien wir auch nicht zornig oder verzweifelt mit uns, falls wir noch immer nicht da sind. Mein großer Wunsch war es, Gott zu hören. Und so hörte ich auch einmal: Gott ist in uns, Gott ist auch dieses Ich in uns. Wenn wir zu uns den freien Zugang haben, dann haben wir damit den Zugang zu Gott. Gott ist unsere Essenz, unser wirkliches Spüren, das Wegziehen des Schleiers, das was ganz unten bzw. innen ist. Und das ist oft erstmal nicht so leicht auszuhalten. Daher sorgen wir ja oft für Hektik, die so oft in unserem Leben herrscht. In Gott ist Ruhe, das habe ich gespürt, in Gott ist Frieden, denn er öffnet uns die Augen und lässt uns erkennen, was zur Zeit auf unserer Bühne passiert. Und wenn wir auf diese Bühne unsere alten Geschichten noch einmal mit liebendem Im Antlitz der Liebe - 176 - © Gabriele Sych Blick heraufholen, können wir den Schleier zwischen uns und unserem Ich immer weiter lüften, all die Deformationen wieder ausbeulen, herauslassen, was wir abgeben können, Last abwerfen. Ich bin der ICH BIN DA. Unser Ich fühlen – Gott fühlen – die reine Gnade, viele, viele Momente lang. Gottes heiliger Name ist: Ich bin, der ich bin (da). Daher also, kein Wunder – oder eben genau das ganz große! 1.5.11 Erkennen, was ist Der Tag der vollständigen Entscheidung für meinen Weg: In den ersten Monaten des Jahres 2008 baute ich meine Praxis wieder auf. Ich behandelte und gab Seminare – Reiki-Seminare. Während ich in der Behandlung immer mehr auf das Heilsegnen setzte, blieb ich, um neue Kunden zu finden und Geld zu verdienen, beim Reiki, denn nach Reiki wird im Internet gesucht, und so konnte ich leicht gefunden werden und wurde auch gefunden. Bei den Behandlungen habe ich dann Reiki und Heilsegnen alternativ angeboten und in der Regel haben sich die Menschen für das Heilsegnen entschieden – meist mit einem: „Sie wissen, was besser funktioniert, machen Sie einfach, was mir mehr hilft.“ Doch irgendetwas stimmte nicht. Es gab immer mehr Widerspruch, immer mehr Widerstand in mir, Reiki und seine Grundlagen zu erklären. Ich wusste doch inzwischen etwas ganz anderes, war doch schon längst auf einer neuen Spur. Doch meine Existenzängste ließen mich das Reiki noch nicht loslassen, da doch dadurch ein recht stetiger Kundenstrom mir zugeleitet wurde, Begegnungen mit Menschen, für die ich heute sehr dankbar bin. Ich veränderte mein Angebotsprofil zwar immer stärker, kam immer mehr aus mir heraus, stand immer mehr zu meinem neuen Weg. Im Mai, in der Nacht zwischen den beiden Tagen meines letzten Reiki-Seminars kam dann die Entscheidung. Dies war das letzte Reiki-Seminar, und dann würde ich Reiki aus meinem Leben entlassen. Ich bedankte mich für den bisherigen Weg und verabschiedete mich. Nicht dass Reiki und Heilsegnen sich grundsätzlich widersprechen, doch ich wollte nicht mehr über christlich oder nicht christlich diskutieren, ich wollte es einfach zu 100 % machen, und ganz klar sein. Ein anderes, intensiveres Ausbildungskonzept, ein glaubensbasiertes Systeme, in dem man zu seinen religiösen Wurzeln stehen kann. Noch in der Nacht veränderte ich meinen Internet-Auftritt und legte dann Stück für Stück alles Alte lahm. Schon am nächsten Morgen hatte eine meiner ehemaligen Teilnehmerinnen die Veränderungen entdeckt und fragte nach, was denn passiert sei. Mehrere ehemalige Teilnehmer versuchten mich umzustimmen, bei der Stange zu halten, es war nicht mehr aufzuhalten. Man kann nicht gleichzeitig auf Im Antlitz der Liebe - 177 - © Gabriele Sych zwei Wegen gehen. Ich habe mich dem Einen hingegeben. Mein Weg war klar, ich hatte erkannt, was ist, was meine Realität, was mein Ziel ist. Und seit der Entscheidung begannen sich mir neue Türen und Wege zu öffnen. Obwohl ich nicht wusste, wie es mit mir wirtschaftlich weitergehen würde, habe ich mich entschieden, meine bisher wichtigste Geldquelle freiwillig aufzugeben, um mich vollständig dem christlichen Weg zu widmen. Ich hatte keinen Freifahrschein, keine Garantie, ich hatte meinen Glauben als Stütze und die Worte Jesu: „Euer himmlischer Vater weiß, dass ihr das alles braucht. Euch aber muss es zuerst um sein Reich und um seine Gerechtigkeit gehen; dann wird euch alles andere dazugegeben.“ Ich habe es in einem Moment gemacht, wo ich finanziell sehr verletzlich war, denn ich hatte gerade eine Wohnung angemietet und musste ja monatlich meine Miete bezahlen und die Kaution noch aufbringen. Es gab Durststrecken, es gab Angst (siehe oben) doch bisher hat es funktioniert. Ich bin angekommen, ich bin ganz, ich bin, – nicht immer, aber immer öfter- die ich bin. 1.5.12 Der Tag, als ich zu meinem Herz durchkam Über längere Zeit hatte ich häufig mein Herz durch Handauflegen behandelt. Wann immer mir etwas weh tat, wenn ich mich verletzt fühlte, dann legte ich mir die Hände auf, um mich zu heilen. Und auch zu vielen anderen Zeiten, mit Gebet und ohne, machte ich viele Übungen, die ich erhalten hatte, für mein Herz, für meine Fähigkeit zu lieben. Ich habe viele schöne Seiten der Welt kennen gelernt und ich liebe diese Welt. Doch eines Tages - bei der Behandlung - wachte ich auf. Ich begriff, wie sehr die Welt in Unordnung ist, wie dringend jede Hilfe nötig ist für die Armen dieser Welt, für die Gesundheit dieser Welt, wie nah wir am Abgrund stehen. Ich verstand, wie sinnlos die Zeit vor dem Fernseher, mit kommerziellen Zielen anderer Menschen, mit jedweden anderen Beschäftigungen verbracht ist. Ich sah auch das Leid der Menschen hier, die ihr Leben so von sich abgetrennt verleben, die so fern von sich selbst sind. Die sehen und hören und nicht sehen und hören, oder warum tun sie nichts? Die sich selbst, obwohl sie keine äußere Not haben, so viel Schmerz zufügen. Ich sah Jesus an, und ich hatte das Gefühl, dass er mir sagte: Ja, so schlimm ist es, du fühlst es jetzt in Deinem Herzen. So schlimm steht es um diese Welt, Millionen Menschen verhungern, leiden, kämpfen hart um ihre Existenz und verlieren oder müssen zusehen, wie sie ihre Liebsten nicht retten können – täglich, stündlich, minütlich. Im Antlitz der Liebe - 178 - © Gabriele Sych Unendlich viele Menschen kümmern sich nicht darum, kümmern sich um ihr eigenes Ding, um ihren eigenen Schmerz, ihr eigenes Unglück, ihre eigene Ziellosigkeit, oder ihre Ziele, sie drehen sich um ihre Welt, sie arbeiten für ihre Karriere, für mich, mir, mein, damit es ihrer Familie mehr als gut geht, für Umsatzziele, Erfolgsboni, ihre eigene und die Profitgier großer Firmen, für große Häuser, Autos, Urlaube, Luxus. Sie kümmern sich darum, den Exportüberschuss Deutschland zu erhöhen, das Ausnehmen anderer Länder, auch ärmerer Länder. Sie sehen sich und verzweifeln, doch sie sehen nicht die Not der Welt, die viel größer ist als ihre eigene. Doch jeder Tag, der sich nicht der Veränderung dieser Welt zur Linderung ihrer größten Not und zur Rettung unserer Umwelt widmet, ist ein verlorener Tag, verbrannte Stunden, ist ein Tag, der uns allen fehlt, ist ein Tag, der besser hätte genutzt werden können. Und ich verstehe darunter nicht nur Almosen für die Hungernden, sondern die Schaffung einer global gerechten, füreinander sorgenden Gemeinschaft. Ich kann mir vorstellen, dass das jetzt keiner gerne lesen möchte, nur das macht es für mich nicht weniger eindringlich. Sollte ich es lieber verschweigen, um niemandem Schuldgefühle zu verursachen? Es heißt ja immer, man sollte die dem Anderen die Wahrheit umhängen wie ein wärmendes Mäntelchen, und nicht wie einen nassen Lappen ins Gesicht schlagen. Aber wie macht man das in diesem Falle? Es tat richtig, richtig weh, als das durchkam. Meine Tränen begannen zu fließen und mein Bewusstsein veränderte sich schlagartig. Ja, da war ich - auch so eine, die sich so viel Zeit nur um sich selbst gedreht hat. An diesem Tag bin ich aufgewacht. Zuerst wollte ich alles Mögliche tun, nur schnell, schnell, schnell mich auch engagieren. Was, was konnte ich tun? Was werde ich tun? Mein Lebensweg zeigte mir zumindest, wo ein Teil meines Platzes ist. Ich habe einen Weg gefunden, wie man zum Herzen durchkommt, ich bin – wie es scheint - in der Lage, Herzen zu heilen, damit die Menschen sich dem Leben wieder zuwenden können. Es hat sich herausgestellt, dass ich das ausbilden kann, anderen die Angel in die Hand reichen und nicht nur den Fisch, Herzschaftler und Herzpraktiker, keine Wissenschaftler. Und ich habe die Worte. Ich trage den Namen eines Engels, des Erzengels und Verkünderengels Gabriels, der bedeutet: Gott ist mein Held bzw. Meine Stärke ist Gott bzw. Mein Mann ist Gott Ich werde mich in seine Aufgabe mit hineinstellen und verkünden, was mir widerfahren ist, was ich gelernt habe, mit diesem Buch und später, es wird kommen und ich werde mich nicht weigern. Ich wünsche mir von Herzen, dass ich andere Menschen durch meine Worte auch anrühren kann, sie aufwachen können und in die Nachfolge eintreten und Gottes Reich mit schaffen wollen. - Ein Tag der Gnade! Im Antlitz der Liebe 1.5.13 - 179 - © Gabriele Sych Meine Heimkehr und das Gnadenjahr Das Gnadenjahr/Das Jubeljahr: 3. Mose 25 (Einheitsübersetzung) 8 Du sollst sieben Jahreswochen, siebenmal sieben Jahre, zählen; die Zeit von sieben Jahreswochen ergibt für dich neunundvierzig Jahre. 9 Im siebten Monat, am zehnten Tag des Monats, sollst du das Signalhorn ertönen lassen; am Versöhnungstag sollt ihr das Horn im ganzen Land ertönen lassen. 10 Erklärt dieses fünfzigste Jahr für heilig und ruft Freiheit für alle Bewohner des Landes aus! Es gelte euch als Jubeljahr. Jeder von euch soll zu seinem Grundbesitz zurückkehren, jeder soll zu seiner Sippe heimkehren. 11 Dieses fünfzigste Jahr gelte euch als Jubeljahr. Ihr sollt nicht säen, den Nachwuchs nicht abernten, die unbeschnittenen Weinstöcke nicht lesen. 12 Denn es ist ein Jubeljahr, es soll euch als heilig gelten. Vom Feld weg sollt ihr den Ertrag essen. 13 In diesem Jubeljahr soll jeder von euch zu seinem Besitz zurückkehren. Am 16. Oktober 2007 kam ich spät abends in Berlin an. Mein Bruder holte mich vom Flughafen ab, und ich konnte eine Nacht in seinem Haus schlafen. Am nächsten Morgen brach ich bei ihm auf, um mir wieder eine neue Existenz zu schaffen. Zunächst holte ich bei meinen Freunden mein Auto ab und dann fuhr ich zu meinem Lager-Container, um mir die vorbereitete Tasche mit warmen Sachen, meine Erstausrüstung und meinen Computer zu holen. Ich wollte mir ein Zimmer in einer WG anmieten und von dort aus langsam Fuß fassen. Meine Handy-Telefonkarte hatte ich bei meiner Praxis-Vermieterin gelassen. Doch die erreichte ich nicht, sie war ja umgezogen, unbekannt verzogen. So rief ich wieder bei meinen Freunden an und fragte, ob ich dort übernachten konnte, es ging, auch noch für eine zweite Nacht. Sie hatten einen Computer mit Internet-Anschluss, so brachte ich erstmal wieder meinen InternetAuftritt in Ordnung, so dass ich wieder für neue Anmeldungen für Seminare und Behandlungen auffindbar war und verschaffte mir einen Überblick über meine finanzielle Situation. Die sah überhaupt nicht gut aus, zugesagte Zahlungen in Höhe von 1000 Euro waren nicht angekommen, auch wenn ein paar kleinere und unerwartete Zahlungen eingetroffen waren. Es würde schwierig sein, ein Zimmer in einer WG anzumieten, da die meisten eine Kaution wollten. Das Geld war nicht da! Ich fand im Internet auch eine Herberge in Berlin, in der man für 10 Euro pro Nacht ein Zimmer bekam. Leider war gerade nichts frei… Ich meldete mich bei meiner Schwester zurück. Sie wusste, dass meine Tante in Urlaub war und ihre Wohnung frei. Ich erreichte meine Tante. Ja wunderbar: ich konnte vier Tage in ihre Wohnung ziehen. Diese vier Tage nutzte ich vollständig dazu, unsere ganze Reise in Stichworten aufzuschreiben, Tag für Im Antlitz der Liebe - 180 - © Gabriele Sych Tag, unsere Strecke, unsere Ziele, Gedanken und Erlebnisse. So konnte ich alles festhalten, um später immer wieder mein Gedächtnis auffrischen zu können. Als ich mich nach den vier Tagen wieder an die Herberge wandte, war ein Zimmer frei. Ich zog ganz nah ans Wasser auf die Halbinsel Alt-Stralau. Ich konnte dort, wenn ich wollte, Tag für Tag die Miete bezahlen, eine Kaution wurde nicht erwartet, das kam mir sehr entgegen. Die Herberge in Alt-Stralau war sehr einfach, ein DDR-Plattenbau, klar, Küche und Bad auf dem Flur, sehr ähnlich den spanischen Herbergen, im Standard teilweise sogar darunter, dafür Einzelzimmer. Doch das war ich ja gewohnt, ich war froh über jeden Tag, den ich dort wohnen konnte. Nun ging es darum, wieder finanziell auf die Beine zu kommen für meine Grundbedürfnisse Wohnen und Essen. Ich wandte mich nach Oben und bat um Führung, Hilfe und Beistand, was ich denn jetzt tun sollte, wie ich mich nach dem Camino neu ausrichten sollte, vom Omega zum Alpha zu kommen. Was ich in mir hörte, war: „Sei unbesorgt, was stattfinden soll, das wird stattfinden. Was nicht stattfinden soll, das wird nicht stattfinden.“ Und mir zeigte sich ein Bild eines Scheideweges: Ich könnte den materiellen Weg gehen, mir einen Job suchen, um erstmal eine sichere finanzielle Basis zu schaffen, dann meine Praxis neu aufbauen und damit meinen Platz in der materiellen Welt finden. Alternativ stand mir offen, eine Phase der Ruhe und der Besinnung einzugehen, den Weg der Angst ohne sichere finanzielle Basis zu gehen und mich daranzumachen, in Gottes Reich hier im Alltag leben zu lernen, dem Spirituellen in meinem Leben den 1. Platz einzuräumen und die Gabe, die ich auf dem Jakobsweg erhalten hatte, die Gabe, auf die ich ein ganzes Leben vorbereitet wurde, anzunehmen und zu nutzen. Ich entschied mich für die 2. Alternative, auch wenn sie wesentlich schwieriger aussah. Als erste berufliche Aktivität nahm ich eine Woche nach meiner Rückkehr mein Bewegungstraining „Salsa Movimientos“ auf, das ich in einer Physiotherapiepraxis durchführte. Es waren einige Neueinsteiger dabei, so kam das erste Geld wieder in mein Portemonnaie. Ich war recht unbesorgt über mein weiteres Fortkommen, da ich am letzten Wochenende im Oktober schon ein Seminar abhielt, für das ich – noch in Spanien – eine Teilnehmeranmeldung erhalten hatte. Ein weiteres war für das Wochenende danach geplant, die Anmeldungen dafür lagen seit vor dem Camino vor, sozusagen mein Novembergehalt war gesichert. Für das 1. Seminar nahm ich zusätzlich eine Teilnehmerin kostenlos auf, weil sie Anfang des neuen Jahres zu einem Straßenkinderprojekt in Nepal aufbrechen wollte und daher kein Geld, aber großes Interesse an der Teilnahme hatte. Auch die Seminare wollte ich in der Physiotherapiepraxis durchführen, weil sich ja meine alten Praxisräume während meiner Pilgerzeit „in Luft aufgelöst“ hatten. So hatte ich zumindest erstmal einen Raum. Im Antlitz der Liebe - 181 - © Gabriele Sych Und plötzlich, innerhalb von 3 Tagen, brach alles zusammen. Die Teilnehmerin aus dem Umland für das erste Seminar kam wegen des Bahnstreiks nicht durch, ich führte das Seminar nur für die nicht zahlende Teilnehmerin durch. Und am Tag darauf sagten innerhalb von zwei Stunden alle Teilnehmer ab, die sich für das zweite Seminar angemeldet hatten. Mein „Novembergehalt“, 850 Euro, war futsch! Was nun? Aha: Was stattfinden soll, das findet statt, was nicht stattfinden soll, das findet nicht statt! Autsch! Jedoch eindeutig, und das ist auch etwas sehr Angenehmes. Wieder eine Vision. Ich hörte: Du brauchst bis Weihnachten ein Zimmer. Ich sah plötzlich das Gesicht einer meiner früheren Teilnehmerinnen vor mir. Bei ihr würde ich unterkommen können. Ich bräuchte aber nichts dazu tun. Genau so geschah es auch – am nächsten Tag erhielt ich eine Email von ihr, sie wollte mich dringend sprechen. Wir verabredeten uns für einen Tag später zum Frühstück bei ihr. Sie erzählte mir ihre Geschichte und ihr Anliegen und ich ihr meine. Wir konnten uns gegenseitig helfen. Nach dem Frühstück bot sie mir an, dass ich bis Weihnachten bei ihr am wunderschönen Friedrichshain wohnen am könnte. Im Dezember feierte ich bei ihr meinen 49. Geburtstag. Danke! Ein gewaltiges Geschenk, ein großer Moment der Gnade. Bei ihr begann ich, die erste Version dieses Buches zu schreiben und erfuhr eine Menge über das Heilen, erhielt Lektion um Lektion „im Antlitz der Liebe“. Wir verstanden uns wunderbar! Sie las meine Texte und nahm daraus viel für sich selbst mit. Kurz vor Weihnachten war ich mit der Erstfassung fertig und verschickte sie als Weihnachtsgeschenk. Über Weihnachten kam ich dann an zwei weiteren Stationen unter, und nahm eine ehrenamtliche Unterstützung von Obdachlosen in der Herz-JesuGemeinde auf. Über Silvester ging ich mit Jesus in einer stillen Dachwohnung in einem Weddinger Hinterhof in Klausur, um mich mit ihm der Praxis des neuen Heilungssystems und dabei, als sinnvolles Übungsthema, der Aufarbeitung alter Geschichten – all meiner Männergeschichten - zu widmen. Das Ergebnis war umwerfend, ich habe mit allen Männern, die in meinem Leben waren, meinen Frieden geschlossen, ohne dass sie da waren. Ich konnte vergeben, loslassen und merkte, dass ich mir viele Einschläge im Selbstbewusstsein lediglich eingebildet hatte, sinnloses Leid: ich hatte nicht loslassen wollen, was nicht gut für mich war. Ich hatte den Grund in mir gesehen, was es einfach nicht war. Mir wurde für jede gescheiterte Beziehung ein guter Grund, ein Segen für das Scheitern klar. Es war einfach alles gut gewesen! Was für eine Zeit der Gnade! Im Januar durfte ich wieder zurück an den Friedrichshain, wo ich bis Anfang März blieb. Ich machte mich dann an den Aufbau meiner Praxis. Eine Ärztin hatte mir einen Raum in ihrer Praxis angeboten Im Antlitz der Liebe - 182 - © Gabriele Sych – vermittelt durch eine meiner ehemaligen Teilnehmerinnen. Es gab nur wenig zu tun, einen Teppich, Gardinen, ich stellte meine Liege, meinen Tisch und drei Stühle auf, um anzufangen. Ich nahm alle meiner früheren Aktivitäten auf, um wieder in Tritt zu kommen. Parallel begann ich, für das Heilungssystem einen Ausbildungsplan aufzustellen, damit ich es irgendwann vermitteln könnte. Und ich behandelte und probierte das neue System aus. Es war exzeptionell anders als alles, was ich vorher gekannt hatte, was für mich ein Wunder und gleichzeitig kein Wunder war! Intensiver, wirkungsvoller, klarer, liebevoller. Beim Arbeiten erfuhr ich so viel mehr über die Anwendung, insbesondere über die Diagnostik, so dass ich sehr schnell bei meinen Klienten auf den Punkt kommen konnte. Eine neue Welt erschloss sich mir! So viel Gnade! Anfang März hatte ich wieder eine eigene Wohnung - nahe Alexanderplatz -, die allerdings heftig zu renovieren war. Sie lag nur 8 Minuten von meinem bisherigen Platz am Friedrichshain weg, war günstig, warm und gut geschnitten. Über Ostern verbrachte ich ein paar Tage mit meinem Sohn, den ich nach einem Dreivierteljahr nun endlich wieder sah, in Barcelona – sponsored by family. Santiago tauchte wieder vermehrt in meinem Leben auf und renovierte die Wohnung, wir verbrachten Monate damit. Meine Praxis begann, wieder recht gut zu laufen. Keine Reichtümer, aber es kamen neue Leute dazu. Anfang Mai nutzte ich das Himmelfahrtswochenende, um wieder zu pilgern, diesmal allein, und zwar die Strecke Berlin – Bad Wilsnack, ein wundervolles Frühlingswochenende unter blühenden Obstbäumen und frischbunte Felder und sprossende Wälder durch die brandenburgische Luchlandschaft. Ich kam nicht ganz bis hin, doch ich spürte wieder: einmal Pilgern, immer Pilgern – es ist eine Passion! Gestärkt durch diese Erfahrung stellte ich meine Praxis um, hörte mit allem auf, was nicht mehr zu meinem neuen System gehörte, wagte wieder den Schritt ins Unbekannte. Ich begann, Vorträge zu halten über das neue System und mit Santiago auch über unsere Pilgerreise. Finanziell machte ich mich sehr verletzlich, und es war definitiv kein Powerstart. Doch neue Menschen begannen sich zu interessieren, ich konnte die Ausbildung entwerfen und den ersten Kurs planen und dafür das erste Handbuch schreiben. Ich stand unter Seiner Führung – vollständig auf dem Weg, der durch den Jakobsweg entstanden war, wackelig noch, aber es gab diesen Weg plötzlich, weil ich ihn gegangen war. Ende Juli kam mein Sohn wieder zurück nach Berlin, was für ein Glück! Auch Santiago zog mit in die Wohnung ein und den ganzen August über war auch sein Sohn mit bei uns, eine kinderfrohe gemeinsame Zeit. Im September fand der 1. Kurs statt, eine ganz unerwartete Erfahrung. Es war ganz anders als die früheren Seminare, intensiver, doch viel entspannter, ich war vollständig in meiner Mitte, völlig sicher und Im Antlitz der Liebe - 183 - © Gabriele Sych ruhig wie nie. Ich fühlte mich nicht mehr als Dienstleister, der sich um Kundenzufriedenheit und Postsales und andere kommerzielle Ziele zu kümmern hatte, sondern nur um die Wahrheit und den Inhalt, Unbequemes inklusive. Die Teilnehmer gehen nun statt der Zahlung eines Teilnehmerbetrages - denn das Heilsegnen ist ein Geschenk an das Leben - eine Selbstverpflichtung ein. So habe ich es formuliert: „Das Heilsegnen dient der Barmherzigkeit unter den Menschen und einer Stärkung der Gottesverbindung bei jedem Einzelnen. Es ist kein kommerzielles System und keines, was individuellen Zielen dient. Es gibt keine andere Motivation, Belohnung und kein anderes Ziel außer der Stärkung von Gottes Reich in dieser Welt und dem Wohlergehen der Menschen durch Heilung durch Gott. Förderung und Verbreitung: Mit Förderung des Heilsegnens ist daher gemeint, sich auf ganz eigene Weise, mit den eigenen Fähigkeiten für diesen Weg einzusetzen, die Qualität, Wahrhaftigkeit, Anschaulichkeit und Tiefe des Heilsegnens zu stärken und sich in den Prozess der Weiterentwicklung und Dokumentation einzubringen. Mit Verbreitung ist gemeint, dass andere Menschen sich der Anwendung des Heilsegnens freiwillig und aus eigenem Antrieb annähern können nach dem Wort von Bernadette Soubirou aus Lourdes „Ich bin nicht beauftragt, sie zu überzeugen, ich bin beauftragt, es zu sagen.“ Auch hier gilt, nicht es allein zu tun, sondern mit Ihm gemeinsam. Schaffung von Gottes Reich im Innern: Wer das Heilsegnen erlernt, der ist gehalten, zunächst sich selbst zu heilen. Er übernimmt die Selbstverpflichtung, das Heilsegnen auch auf seine eigenen Situationen, Bedürfnisse und Probleme54 anzuwenden und kontinuierlich anzuwenden. Am leichtesten erreichen wir das aus Freude, Liebe und Sinn: Spaß daran zu haben, es von Herzen gern zu tun und zu verstehen, warum es gut ist. Glaube, Liebe und Hoffnung werden so zu den Grundpfeilern des Lebens, das Leben wird aus der Perspektive des Herzens betrachtet. Schaffung von Gottes Reich im Außen: Jeder Teilnehmer versucht aus seinem innersten Sein heraus ein Feld für sich zu finden, in dem er seine Liebe zum Nächsten durch tätigen Dienst – freiwillig und kostenlos – erweist. Durch die Verfügbarkeit solcher Dienste können immer mehr Menschen Erfahrungen mit Gottes Reich machen und das Glück und die Gnade Gottes erleben. Gottes Gabenkatalog wird durch jeden von uns reichhaltiger. Je freudiger und aus eigenem Antrieb wir diesen Dienst übernehmen, eben weil wir ihn von Herzen gern tun, umso tiefer wirkt dieser Dienst nach; der Empfänger kann das spüren.“ 54 Was nicht schulmedizinische Behandlung bei Krankheiten ausschließt, sondern diese ergänzt. Im Antlitz der Liebe - 184 - © Gabriele Sych Das ist mein Ziel: Ich will sein wie ein Stein, der ins Wasser geworfen wird und von da an Kreise zieht, die sich weiter ausbreiten. Diese Worte benutzte ich gegenüber einer Freundin, als ich ihr diesen meinen Weg erklärte. Am nächsten Tag war der Berliner Weihbischof zu einer Firmung in der Herz-JesuKirche. Auch er benutzte in seiner Predigt die gleichen Worte für die Firmlinge: Seid wie die Steine, die ins Wasser geworfen werden und Kreise ziehen… Lukas 12,31 (Lutherbibel 1984) 31 Trachtet vielmehr nach seinem Reich, so wird euch das alles zufallen. 32 Fürchte dich nicht, du kleine Herde! Denn es hat eurem Vater wohlgefallen, euch das Reich zu geben. 33 Verkauft, was ihr habt, und gebt Almosen. Macht euch Geldbeutel, die nicht veralten, einen Schatz, der niemals abnimmt, im Himmel, wo kein Dieb hinkommt, und den keine Motten fressen. 34 Denn wo euer Schatz ist, da wird auch euer Herz sein. Ab Oktober habe ich begonnen, für meine Behandlungen kein Geld mehr zu fordern. Ich habe von einigen Klienten immer wieder freiwillig welches bekommen, aber auch viele Menschen einfach kostenlos behandelt, auch wenn ich für meinen Raum Miete bezahlt habe. Nach einigen Monaten bekam ich einen sehr schönen Praxis-Raum von einem Freund im Glauben, einem Arzt, kostenlos angeboten. Damit war dieser neue Weg noch viel leichter. Vertrauen… Es hat also funktioniert: mir ist alles zugefallen, ich habe den Weg auch im Alltag gefunden. Ein Gnadenjahr, das Jubeljahr, ein Jahr der Nachfolge, das damit ausklingt, dass ich dieses Buch weiter zu Ende schreibe. Im Antlitz der Liebe 2 - 185 - © Gabriele Sych Vom Ωmega zum Αlpha An der Ausgangstür der Kathedrale von Santiago de Compostela in Richtung Plaza de Plateria findet sich die Umkehrung des typischen A und Ω zum „Vom Ω zum A“. Hier geht es darum: Das Ende eines Weges ist erreicht. Hier findet eine Art Tod statt und danach gibt es wieder ein Alpha, einen Neuanfang, ein neues Leben. Es beginnt im Prinzip in dem Moment, wo man sich auf den Weg macht, bis zu dem Zeitpunkt, bis die Umkehr mittels der Erkenntnisse auf dem Camino im alltäglichen Leben umgesetzt ist. Man nagelt beim Losgehen sein altes Leben ans Kreuz, und dann ist es symbolisch die Wiederauferstehung des Menschen in gewandeltem Geist, die Kraft der Resurrección, was dann stattfindet: Die tiefste Wandlungsmöglichkeit des Menschen. Das Omega ist: Legen wir unser altes Leben zu Santiagos sterblichen Überresten in die Silberlade. Die Übergangszeit, die Zeit von Karfreitag bis Ostersonntag im Reich der Toten, ist die Zeit des Loslassens und der geistigen Neuorientierung. Die bewusste Umarmung Santiagos in der Kathedrale ist die Entscheidung für die Nachfolge. Das Alpha ist der Start des Umsetzens der Nachfolge und der geistigen Neuorientierung im Leben. Es mag also viele Heilungskräfte geben, doch nichts, was ich bisher kennen gelernt habe, kommt dem Camino in Bezug auf diese Kraft gleich. Wer diese Heilkraft also braucht, der packe seinen Rucksack und mache sich auf den Weg. Und zwar nicht jedes Jahr ein wenig, so wie es mit dem Urlaub zusammenpasst. Der Camino ist kein Urlaubsziel, sondern ein Weg des Glaubens. Nochmals möchte ich Parroco Augusto Losada López, den wir in Triacastela getroffen haben, zitieren, der dies uns so erklärt: Im Antlitz der Liebe - 186 - „Der Weg nach Santiago ist ein © Gabriele Sych Weg nach innen, die Idole vergessend, die uns versklaven und die Ideale suchend, die uns würdig sind und machen. Ein Weg, der uns in der Wüste unserer Zweifel Horizonte öffnet und weit macht, uns hilft das Licht zu sehen und Licht gibt. Uns hilft zu leben und uns Leben gibt. Uns hilft, uns selbst zu entdecken und die echten und gleichzeitig unterschiedlichen Wege zu finden, die uns zu den großen Pilgern Jesus und Jakobus führen. Der Weg nach Santiago ist ein Glaubensweg, nicht ein kultureller, aber glaubensloser Weg. Er will gelebt werden, nicht einfältig tot geredet oder berechnet. Der Weg ist der, den der Pilger aus ihm machen will, bedenkend, das es neben dem Pilger weitere Personen gibt, die aus ihm Tourismus, Wanderung oder Ferien, fern von jedem gesellschaftlichen und spirituellen Zusammenhang, machen wollen. Ein Weg, der uns hilft gerecht zu sein und frei vor aller Welt. Fähig zu sein einfach zu bleiben, den Stolz vergessend, der uns arm macht. Der Weg hilft dir die Liebe Jesu zu entdecken und in ihrer Fülle zu leben. Dafür musst du Jesus von Nazareth wirklich begegnen. Wir können nicht Nachfolger Jesu sein, nur nach dem Hörensagen, eine persönliche Erfahrung ist nötig. Auf diesem Weg müssen wir unser Leben neu ausrichten. Es ist der Moment etwas zu riskieren, weil unsere Sicherheiten uns fesseln, uns lähmen und uns unbrauchbar machen für die Liebe. Manchmal geht Jesus an unserer Seite und wir wollen ihn nicht sehen: in dem Armen, in dem Kind, in dem Alten, in jedem Wesen das leben will.“ Meine Erlebnisse vom Camino wiederholten sich in der folgenden Zeit auch hier in gleicher Form im Alltag. Ich verstand immer mehr, was mir passiert war, was ich ab nun anders tun und anders denken konnte. In schreibender Selbstwahrnehmung erarbeitet Im Antlitz der Liebe - 187 - © Gabriele Sych kann meine Wandlung als Gleichnis vielleicht auch Anderen helfen, sich selbst und die Welt zu verstehen. Und das ist vielleicht einer der größten Wünsche meines Lebens gewesen. In jungen Jahren habe ich immer gesagt: Ich verstehe mich nicht, ich verstehe die Menschen nicht. Und ich wollte es lernen, daher habe ich viel über Menschen gelesen, gelernt, habe sogar einige Semester Psychologie studiert. Zurückgekommen versuchte ich mit der Bibel als Manual in der Hand, meine Erlebnisse einzuordnen, dort gelbe Pfeile für den Alltag zu entdecken. Wie man Manuals liest und dadurch Dinge zum Funktionieren bringt, das hatte ich viele Jahre in der Computerbranche gelernt. Ich fand einen reichhaltigen Schatz und vieles stellte sich in ein neues Licht. In vielem erkannte ich, wie wirr, wie unverständig, wie unbarmherzig ich früher gedacht hatte, wie unbewusst, wie eingelullt in allgemeinen, oft übernommenen Lebensansichten ich mein Leben gelebt hatte. Mein Denken, meine Welt fiel immer mehr in die Ordnung zurück. Auf dem Weg vom Omega55 zum Alpha habe ich keinen Stein meines Lebens mehr auf dem anderen gelassen, damit ich im Leben jetzt – gemäß meinem Konfirmationsspruch in Johannes 14,6 - Seinen Weg gehen kann. Jesus spricht zu ihm: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich. Und hier möchte ich nochmals meine Erfahrung auf dem Weg nach Anadia wiederholen: „So ist es also: die Menschen haben die Pfeile täglich vor der Nase und sehen sie nicht. Und ein Fremder kann kommen und sie einfach finden, weil er zu sehen und zu deuten gelernt hat.“ Auf diesem Weg wurde ich geleitet durch die drei wichtigsten Gaben Gottes: ♥ Glaube ♥ Liebe und ♥ Hoffnung Diese drei Wege beschreibe ich: 55 Omega ist der letzte Buchstabe des griechischen Alphabetes. Stavros, ein Grieche aus dem Glaubenskurs, machte mich auch darauf aufmerksam, dass O Mega auch Der Große heißt. Im Antlitz der Liebe 2.1 - 188 - © Gabriele Sych Der Weg des Glaubens Hebräer 11,1 (Gute Nachricht Bibel): Glauben heißt Vertrauen, und im Vertrauen bezeugt sich die Wirklichkeit dessen, worauf wir hoffen. Das, was wir jetzt noch nicht sehen: im Vertrauen beweist es sich selbst. 2.1.1 Leben in Gottes Reich Als wir auf unserer allerersten Etappe in Lourdes losliefen, bot sich uns eine liebliche Vorgebirgslandschaft am Fuße der Pyrenäen und spülte tiefes Glück in mein Herz. In Lourdes hatte man uns immer ganz deutlich erklärt, in welchem Elend die heilige Bernadette dort gelebt hatte. Doch als ich die Landschaft sah, gab es dort einfach das Paradies. Die ganze Landschaft, die Feldblumen am Weg, die duftenden Kräuter, die friedlichen Tiere, die lauschigen Bäume, die plätschernden Bäche und grünen Bergflüsse, die runden Bergrücken in der Nähe und die erhabenen Berge in der Entfernung. Wir kauften frischen Ziegenkäse „à la ferme“ und fragten gleich noch die Bäuerin nach ein paar süßen SonnenTomaten aus ihrem Garten dazu, die sie uns verblüfft in die Hand drückte. Mit diesem Schatz genossen wir das einfache Leben im Gras am Wegesrand. Jeder Kilometer, den wir liefen, schenkte uns neue, herzerwärmende Ausblicke. Gut, wir Menschen verstehen schon, viel kaputtzumachen, wie man inzwischen an vielen anderen Landstrichen sehen kann. Doch: Warum beten wir eigentlich immer: Dein Reich komme! Es ist doch schon da! Wenn jemand im Raumschiff an allen Planeten und am Mond vorbei flöge und auf der Erde landete: Ich bin sicher, dass er das hier für das Paradies hält. Leben wir hier nicht in der Schönsten aller Welten, die zumindest hier in der Nähe ist? Die Erde ist kein Jammertal, sie ist wunderschön! Ich denke: Das Einzige, was uns diese Erde zum Jammertal oder Im Antlitz der Liebe - 189 - © Gabriele Sych zur Hölle macht, sind unsere Gedanken und unsere daraus resultierenden Handlungen und deren Resultate. Die Wasser Lourdes und der Segen der heiligen Jungfrau hatten ihre Wirkung getan! Als Vorbemerkung: Natürlich ist die ganze Welt, das ganze Universum von Gott geschaffen, es gibt keine Trennung. Ich benutze hier den Begriff „Gottes Welt bzw. Reich“ als die Realität im Unterschied zu „erdachten Welten, unmaterialisiert oder materialisiert“ von Menschen, die diese für die Realität halten, was sie aber nicht sind. Diese Welten werden aus unseren eigenen Annahmen darüber, wie die Welt ist, geboren. Je länger wir in einer „erdachten Welt“ leben, umso mehr werden wir die Diskrepanz zwischen ihr und der Realität feststellen und sprichwörtlich „die Welt nicht mehr verstehen“ und evtl. sogar mit der Realität hadern oder darunter leiden, weil wir sie und das Gute daran nicht verstehen. Um uns Gottes Reich anzunähern, sind Jesu Worte ein wichtiger Hinweis: Nochmals Matthäus 6 (Bibelübersetzung Neues Leben) 31 Hört auf, euch Sorgen zu machen um euer Essen und Trinken oder um eure Kleidung. 32 Warum wollt ihr leben wie die Menschen, die Gott nicht kennen und diese Dinge so wichtig nehmen? Euer himmlischer Vater kennt eure Bedürfnisse. 33 Wenn ihr für ihn lebt und das Reich Gottes zu eurem wichtigsten Anliegen macht, wird er euch jeden Tag geben, was ihr braucht. 34 Deshalb sorgt euch nicht um morgen, denn jeder Tag bringt seine eigenen Belastungen. Die Sorgen von heute sind für heute genug. Das Reich Gottes ist ein Reich ohne Angst und Sorgen. Er kümmert sich um unsere Bedürfnisse, wenn wir uns um Seine Bedürfnisse kümmern und uns hier ganz real an die Schaffung und Erhaltung seines Reiches machen, unseren Beitrag dazu leisten, so, wie unser von Ihm geschaffenes und genau so gewolltes Wesen es kann. Lukas 17 (Lutherbibel 1984) 20 Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man's beobachten kann; 21 man wird auch nicht sagen: Siehe, hier ist es! oder: Da ist es! Denn siehe, das Reich Gottes ist mitten Im Antlitz der Liebe - 190 - © Gabriele Sych unter euch. Und eine frühere Übersetzung heißt: Das Reich Gottes kommt nicht mit äußerlichen Gebärden ... sehet, das Reich Gottes ist inwendig in euch. Allerdings ist beides wahr, denn es gilt ja auch "wie innen, so außen". Beginnen wir einfach, in uns mit der Schaffung von Gottes Reich anzufangen und dann ist es im Äußeren besser erfahrbar, wahrnehmbar. Die Alltagswelt und alle anderen Welten sind die, die die Menschheit aus den eigenen Gedanken erschafft, sie existieren miteinander, sie haben Schnittstellen, überlappen sich, sind alle auf einmal. Diese erdachten Welten stimmen aber nicht unbedingt mit den Bedingungen von Gottes Reich überein, sondern eben mit ihren selbsterdachten oder gemeinschaftlich kreierten Bedingungen. Alle, die die jeweils erdachte Welt für die reale Welt halten, halten sich an diese Bedingungen, denken im Kontext dieser Bedingungen, agieren konform zu diesen Bedingungen, erleben, was diese Bedingungen für Konsequenzen haben. Wenn man jedoch diese Bedingungen geistig hinter sich lässt und sich vollständig auf „Gottes Reich“ einstellt, kann man jederzeit dort einkehren. Ich habe vor der und für die Reise fast alles aufgegeben, was ich hatte. Und ich habe unterwegs erfahren, dass das Leben trägt. Auf dem Camino Frances haben wir uns eingewöhnt und sind in einem straffen Tempo ohne Buch nur den gelben Pfeilen gefolgt, wir hatten nur zwei Zettel: einer, auf dem stand, wo es was für Herbergen gibt und einer mit dem Streckenprofil. Nach der Ankunft in Santiago de Compostela und dem üblichen Abstecher nach Finisterra sind wir dann den portugiesischem Weg rückwärts in Richtung Fátima gelaufen. Wir mussten unsere gelben Pfeile sozusagen gegen den Strich suchen. In Spanien war noch alles gut organisiert, doch in Portugal war alles anders. Unterwegs in Portugal sagten uns viele Menschen auf unserer Frage, wo denn der Camino de Santiago verlaufe, "Sie müssen die Landstraße N1 laufen, die geht von hier aus bis Fátima, hier gibt es keinen Camino!" (selbst wenn in ihrer Stadt gelbe Pfeile waren). In Coimbra sagte dies sogar der Mann im Tourismusbüro: „Den Camino de Santiago gibt es in Portugal erst ab Porto“. Doch schon wenige Meter weiter fanden wir dann die gelben Pfeile, z. B. auf dem Bild sieht man Santiago mit der Santiagokirche in Coimbra und zu seinen Füßen den gelben Pfeil. Das war ein deutliches Gleichnis für die Realität. Im Antlitz der Liebe - 191 - © Gabriele Sych Doch wir haben uns, nachdem wir tatsächlich kurzzeitig die Landstraße probiert hatten, für den Camino de Santiago durch die wunderschöne Natur entschieden und haben dafür die Suche nach den Wegweisern auf uns genommen. Wir haben ihn gefunden und ihn dabei immer besser finden gelernt und um Hinweise von oben bitten und sie verstehen gelernt. Eines werden wohl alle erleben, die sich hier in unserem Alltag konsequent auf Gottes Weg begeben. Alle anderen werden sagen: „Da, da ist sie doch, gehe die normale Straße lang. Das Andere gibt es nicht.“ Und so pilgern die portugiesischen Fátima-Pilger mit ihren Neon-Westen und Turnschuhen in der Regel auf der Landstraße, auf dem Camino haben wir (fast?) keine entdeckt. Doch, wir können heute sagen, es gibt diesen Weg, es gibt diese Welt, dieses Reich. Auf der Etappe von Coimbra aus kamen wir in den Ausgrabungsort Conimbriga. Dort suchten wir über eine Stunde nach den Pfeilen, bis wir sie fanden. In Fátima erzählten uns die zwei Österreicher, die wir ein paar Tage vorher in Albergaria-a-Velha kennen gelernt hatten, dass auch sie an genau derselben Stelle gesucht haben, jedoch den Weg nicht gefunden haben und dann wieder auf die Landstraße N1 zurückgekehrt sind. Ihr Weg war fast derselbe gewesen wie unserer, doch er unterschied sich definitiv in Einem: sie konnten sich durch ihren Reichtum besser selbst helfen konnten, weil sie nicht - wie wir - auf Gott und die Barmherzigkeit der Menschen angewiesen waren: Beide waren auch in Lourosa bei der Feuerwehr eingekehrt, doch wir wurden vom Commandante zum Essen eingeladen und Fátima, die Köchin, tischte uns ihre unvergleichlichen „Bolos de Bacalhau“ auf. In Coimbra wohnten die Österreicher in einer Pension, diese Option stand uns ja finanziell nicht mehr offen. Wir waren darauf angewiesen, intensiver zu suchen, zu fragen und zu bitten. Durch das Empfehlungsschreiben des Pfarrers in der Kirche Igreja de Santa Cruz erhielten wir dann die gnadenvolle Aufnahme in der Casa Abrigo Padre Amerigo. Wir fanden in Conimbriga durch intensive Suche in ein wundervolles, natürliches Tal hinein, von der Zivilisation fast unberührt. Es gab zunächst nur den Camino und Berge, Wald und Wiesen. Und auch weiter unten fanden wir nur naturbelassene Weingärten, Olivenhaine und extensiv bewirtschaftetes Land, alte Häuser, freundliche, hilfsbereite Menschen mit Zeit, Ziegen, Hunde; keine Straßen, wie ein Platz, den die heutige Welt vergessen hat. Hier kannten die Menschen den Camino genau und konnten ihn uns zeigen. Eben das Erstaunliche an diesem Ort ist: direkt im einen Nachbartal nach rechts verlaufen die Autobahn und die Landstraße N1/IC2, im anderen nach links die IC3. Im Antlitz der Liebe - 192 - © Gabriele Sych Für uns war dies ein Wunder bzw. ein Gleichnis, eben so, wie Gottes Welt ist und wie sie sich in ihrer naturbelassenen Schönheit von der materiellen Welt unterscheidet. Zwischen Autobahn und Landstraße, ist die „enge Pforte“, durch die wir zu Fuß in Gottes Reich eintreten können, ein Raum der Ursprünglichkeit, des Friedens und der Reinheit, ein Raum der Freundlichkeit, Herzlichkeit und Naturverbundenheit. Wir waren sehr glücklich, diesen Ort gefunden und durchquert zu haben und werden uns immer daran erinnern. Und auch eins haben wir uns an diesem Ort gesagt: Nur, weil wir zusammen und in Liebe gewandert sind, haben wir dieses Tal entdeckt, sind wir so weit gekommen. Allein hätte uns wahrscheinlich der Mut und die Ausdauer gefehlt, zusammen haben wir es geschafft. Das Paradies konnten wir und kann man nur zu zweit betreten. Und das kann – im übertragenen Sinne – an jedem Ort der Welt geschehen. Nochmals Lukas 13 (Rev. Elberfelder) 24 Ringt danach, durch die enge Pforte hineinzugehen! Denn viele, sage ich euch, werden hineinzugehen suchen und es nicht können. Wieder in Berlin zurück ging ich wieder „gegen den Strich“, erst für mich als Wohnungslose, dann für mich allein wohnend und nun gemeinsam in meiner familiären Umgebung. Die Landstraße, das ist für mich, den Weg ohne kontinuierliche Begleitung Gottes zu gehen, nicht daran zu glauben, dass mit Ihm alles möglich ist, zu sammeln und zu horten, das Leben der Versicherungen. Die Landstraße ist für mich die Alltagswelt, in der Gott maximal in der Kirche zuhause ist, ein Lebensweg außerhalb der Nachfolge zu leben. Die Autobahn ist für mich die Leistungsgesellschaft: Das schneller, höher, weiter, mehr! (Mehr, mehr, mehr…schrie der kleine Häwelmann…) Das, was unsere Welt unter anderem auch aktuell in die Finanzkrise geführt hat. So viele Menschen sagen mir: Such Dir einen Halbtagsjob und den Rest der Zeit mach, was Dir vorschwebt. Das geschah gleich nach der Rückkehr vom Camino und das Im Antlitz der Liebe - 193 - © Gabriele Sych passiert auch noch heute manchmal56. All diese Menschen meinen es bestimmt sehr, sehr gut mit mir, genau so wie die Menschen, die uns in Portugal auf die Landstraße schickten. Denn sie denken, dass ich dort sicher ans Ziel komme bzw. in materieller Sicherheit bin, was sie für absolut notwendig halten. Vom Ernst der Nachfolge: Lukas 9, 61 (Lutherbibel 1984): Und ein andrer sprach: Herr, ich will dir nachfolgen; aber erlaube mir zuvor, dass ich Abschied nehme von denen, die in meinem Haus sind. 62 Jesus aber sprach zu ihm: Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes. Es begann wieder nach ein paar Monaten eine Woche der beständigen Zurede zur Jobsuche, in dieser Zeit las ich auch, dass der Apostel Paulus neben seiner Missionstätigkeit noch einen weiteren Beruf als Sattler ausübte, um sich materiell über Wasser zu halten und dass es vielleicht ja doch eine gute Idee sei. Am darauf folgenden Sonntag war die Lesung im Gottesdienst diese: Jesus wandelt auf dem Wasser: Matthäus 14 (Lutherbibel 1984) 25 Aber in der vierten Nachtwache kam Jesus zu ihnen und ging auf dem See. 26 Und als ihn die Jünger sahen auf dem See gehen, erschraken sie und riefen: Es ist ein Gespenst!, und schrien vor Furcht.27 Aber sogleich redete Jesus mit ihnen und sprach: Seid getrost, ich bin's; fürchtet euch nicht! 28 Petrus aber antwortete ihm und sprach: Herr, bist du es, so befiehl mir, zu dir zu kommen auf dem Wasser. 29 Und er sprach: Komm her! Und Petrus stieg aus dem Boot und ging auf dem Wasser und kam auf Jesus zu. 30 Als er aber den starken Wind sah, erschrak er und begann zu sinken und schrie: Herr, hilf mir! 31 Jesus aber streckte sogleich die Hand aus und ergriff ihn und sprach zu ihm: Du Kleingläubige(r), warum hast du gezweifelt? Es ist so: Jede Lesung, jeden Sonntag, gibt mir immer die Antwort, die ich gerade brauche: Also ist mein Glauben gehalten zu wachsen und konsequent da weiterzugehen, wo es nach normaler Alltagsvernunft nicht trägt. Ich bete: „Ich glaube in meiner tiefsten Essenz, dass mit Dir, mein Gott, alle Dinge möglich sind.“ 56 Inzwischen heißt es auch manchmal: Na ja, du kannst es vielleicht, aber für mich wird das nicht funktionieren. Gott ist für alle da! Im Antlitz der Liebe 2.1.1.1 - 194 - © Gabriele Sych Gelbe Pfeile in der Bibel: Gleichnisse von Gottes Reich In der Bibel habe ich nach weiteren Hinweisen gesucht. Es gibt mehrere Gleichnisse, wie wir uns Gottes Reich vorstellen und es erreichen können. Und diese Gleichnisse sind das Manual. Der Sämann (Markus 4, Lutherbibel 1984) 3 Hört zu! Siehe, es ging ein Sämann aus zu säen. 4 Und es begab sich, indem er säte, dass einiges auf den Weg fiel; da kamen die Vögel und fraßen's auf. 5 Einiges fiel auf felsigen Boden, wo es nicht viel Erde hatte, und ging alsbald auf, weil es keine tiefe Erde hatte. 6 Als nun die Sonne aufging, verwelkte es, und weil es keine Wurzel hatte, verdorrte es. 7 Und einiges fiel unter die Dornen, und die Dornen wuchsen empor und erstickten's, und es brachte keine Frucht. 8 Und einiges fiel auf gutes Land, ging auf und wuchs und brachte Frucht, und einiges trug dreißigfach und einiges sechzigfach und einiges hundertfach…Und Jesu Deutung dieses Gleichnisses: … 14 Der Sämann sät das Wort. 15 Das aber sind die auf dem Wege: wenn das Wort gesät wird und sie es gehört haben, kommt sogleich der Satan und nimmt das Wort weg, das in sie gesät war. 16 Desgleichen auch die, bei denen auf felsigen Boden gesät ist: wenn sie das Wort gehört haben, nehmen sie es sogleich mit Freuden auf, 17 aber sie haben keine Wurzel in sich, sondern sind wetterwendisch; wenn sich Bedrängnis oder Verfolgung um des Wortes willen erhebt, so fallen sie sogleich ab. 18 Und andere sind die, bei denen unter die Dornen gesät ist: die hören das Wort, 19 und die Sorgen der Welt und der betrügerische Reichtum und die Begierden nach allem andern dringen ein und ersticken das Wort, und es bleibt ohne Frucht. 20 Diese aber sind's, bei denen auf gutes Land gesät ist: die hören das Wort und nehmen's an und bringen Frucht, einige dreißigfach und einige sechzigfach und einige hundertfach. Mit den Worten unserer Zeit: ♥ Manche Menschen sind gar nicht mehr aufnahmefähig, weil ihr WahrnehmungsSystem so überlastet ist, als dass diese Information zu ihrem Bewusstsein durchdringen könnte. Das kenne ich auch von mir. Solche Zeiten hatte ich auch. Im Antlitz der Liebe - 195 - © Gabriele Sych ♥ Manche Menschen sind fasziniert von der Idee, doch wenn es anfängt schwierig zu werden, wenn ihr Glaube geprüft wird, dann verlässt sie eben dieser Glaube. Dann heißt es, es funktioniert eben nicht, oder ihre Ängste, z.B. anders zu sein, sich zu exponieren, auf Sicherheit zu verzichten etc. verschließen ihnen die Tür und sie sehen zwar den Himmel, aber gehen nicht auf ihn zu. Oder „Lieber Gott, ich weiß, dass es Dich gibt, und ich liebe Dich auch, aber frag mich bitte lieber nicht ernsthaft, Dir zu folgen“. ♥ Und wieder andere möchten auf ihre Bequemlichkeit, auf die Vorzüge des Reichtums und der alternativen Götter z.B. Geld, Macht, Ansehen, Einfluss, Luxus, Überfluss nicht verzichten. Andere wieder gehen so in ihren Sorgen auf, dass sie deretwegen die Umsetzung, das Betreten von Gottes Reich, immer wieder hinausschieben: „Wenn ich … erreicht habe…, dann...“ (genug Geld beisammen habe, die Kinder aus dem Haus sind, das Haus, Auto abbezahlt sind, meinen Traum von … erfüllt habe, meine Altersversorgung vollständig eingezahlt ist…). Wenn wir uns von der Existenz von Gottes Reich überzeugt haben, ist die Saat auf gutem Land gelandet ist. Die Fähigkeit, Frucht zu tragen, besteht aus diesen Geisteshaltungen, in denen wir auf dem Camino permannt trainiert wurden: ♥ Aufmerksamkeit, Aufnahmekapazität: Damit uns Seine Zeichen zu uns durchdringen, uns erreichen. o Von Lourdes nach Asson o Den Pfeilen zu folgen, offene Augen dafür haben, Gespür dafür entwickeln o Lourosa o Burgos, siehe 1.5.10 Bei sich selbst ankommen o 1.5.12 Der Tag, als ich zu meinem Herz durchkam o siehe auch Kapitel 2.3.4.2 Starke und schwache Reize ♥ Konsequenz, Geduld und Standfestigkeit: Damit wir uns nicht davon abbringen lassen, wenn es mal nicht glatt geht o Der Camino insgesamt: Einen Weg täglich voran gehen o Nach St. Jean le Vieux: Die unerwartete Bergetappe o Belorado, Burgos: 40, 50 km am Tag pilgern Im Antlitz der Liebe - 196 - © Gabriele Sych o O Cebreiro: Weitergehen, die Erschöpfung und den inneren Schweinehund überwinden o Montañas de Engaño: Bergauf, auch wenn das Ziel nicht sichtbar ist o Der Portugiesische Weg, besonders Anadia, Conimbriga: Konsequent und geduldig die Pfeile weiter suchen o Padrón: Umkehren, Vergebung o Porto: Schmerzen erfahren und innehalten, um zu heilen, das Leben sich entfalten lassen o Coimbra: Bitten und anklopfen o Ourém: Kreative Bescheidenheit ♥ Fokussierung und Klarheit: Damit uns nicht der alltägliche Lauf der Welt ablenkt, verwirrt, wir uns im Alltag verstricken o Feststellen, wie wenig man wirklich braucht: Rucksackinhalt, Herbergen, Essen o Sich auf Gott verlassen lernen: an fremden Orten ankommen und trotzdem übernachten und essen o Ponte de Lima: 2.1.4 Sinn von Armut und Fülle o Lourosa, siehe 2.1.4.2 Existentielle Sorgen und der richtige Zeitpunkt ♥ Umsetzung: Damit wir nicht nur hören, verstehen und darüber reden, sondern auch danach handeln, es leben: Rechtschaffenheit. o 1.5 Momente der Gnade o 2 Vom Ωmega zum Αlpha 2.1.1.2 Organisches Wachstum: Vom Senfkorn und vom Sauerteig Zwei Gleichnisse sprechen vom Wachstumsweg von Gottes Reich. Markus 4, 30 (Lutherbibel 1984): Und er sprach: Womit wollen wir das Reich Gottes vergleichen, und durch welches Gleichnis wollen wir es abbilden? 31 Es ist wie ein Senfkorn: wenn das gesät wird aufs Land, so ist's das kleinste unter allen Samenkörnern auf Erden; 32 und wenn es gesät ist, so geht es auf und wird größer als alle Kräuter und treibt große Zweige, sodass die Vögel unter dem Himmel unter seinem Schatten wohnen können. Im Antlitz der Liebe - 197 - © Gabriele Sych Oder der Sauerteig in Matthäus 13 (Lutherbibel 1984): 33 Ein anderes Gleichnis sagte er ihnen: Das Himmelreich gleicht einem Sauerteig, den eine Frau nahm und unter einen halben Zentner Mehl mengte, bis es ganz durchsäuert war. Es beginnt alles ganz klein, durch eine Intuition, ein Wort, ein Gedanke, durch den Wunsch. Und dann wächst es organisch heran, bis es zunächst uns selbst und dann immer mehr Wesen Raum bietet. Es ist keine Revolution und auch nicht durch Revolution zu erreichen, sondern durch harmonische Evolution, auch kleine Schritte, durch Kontinuität. Auch der Glaube ist ein Wachstumsprozess, das Leistungsprinzip gilt hier deutlich nicht. Zu Beginn ist er klein und durch tägliches Erleben kann er wachsen, wenn wir uns die Zeit nehmen, Seine Spur, Sein Wirken in unserem Leben zu verfolgen, ihm Wärme, Kümmern hinzufügen. Egal, wie klein, erbärmlich oder unbedeutend man sich fühlt, außer anfangen und voranschreiten gibt es keinen Weg. Mir wurde es erst unterwegs bewusst: Beim Pilgern macht man sich selbst schwach. Man lässt sein Heim und seine Sicherheiten hinter sich und ist jeden Tag auf Ihn angewiesen, auf Seine Hilfe und die Barmherzigkeit anderer Menschen. Als wir in Frankreich mit dem Pilgern begannen, da begann noch jeder Tag damit, dass unsere Gedanken darum kreisten, wo wir denn abends schlafen würden. Die ersten drei Tage war es recht einfach: Der vermeintliche Park in Lourdes (der Kreuzweg), die Herbergen in Lourdes und Asson. Dann kam der Abend, an dem nach einem angstvollen Gebet Christophe auf uns zukam. Danach in Olorón die Kirche. Und als wir vom Wege abkamen und im Regen standen, die Bushäuschen in Tardets und in St. Jean le Vieux. In Spanien war es einfach, alles war organisiert und geklärt, es gab genug Herbergen und Betten, oder wir schliefen mit Vergnügen an einem schönen Ort unterm Himmelszelt. Jeden Abend hat er uns gezeigt, dass Er ein Bett für uns bereithält. In Portugal war es dann anders. Es gab kaum noch Herbergen und wir mussten fragen und suchen. Doch obwohl wir nicht portugiesisch sprachen, haben wir jeden Tag etwas gefunden. Die Zeit in Spanien hatte uns geschult und sicher gemacht, abends an einem Ort anzukommen und einen Schlafplatz zu finden. Unsere Aufmerksamkeit war geschärft, unsere Möglichkeiten zu entdecken. Unser Mut, einfach zu fragen, war durch die Erfahrung „Klopfe an, und dir wird aufgetan“ gewachsen. Am Ende des Tales hinter Conimbriga entdeckte ich an der Straße bei einem Haus das Schild „Centre Social“. Ich ging hinein und fragte und uns wurde das ganze Gemeindehaus samt Schlüssel anvertraut. Im Antlitz der Liebe - 198 - © Gabriele Sych Und selbst in Madrid haben wir einen Platz in einer klösterlichen Unterbringung, nur wenige Meter vom Königsschloss entfernt, gefunden. Die Angst, an einem fremden Ort anzukommen und dann allein und gottverlassen da zu stehen, war vollständig geschwunden. Und als ich wieder in Berlin war, habe ich auch hier eine einfache Herberge mitten in Berlin zum Preis von 10 Euro/Nacht gefunden, in der ich zwei Wochen wohnte, um meinen Neustart in Angriff zu nehmen. Warte nicht auf andere, mache Dich auf den Weg, biete die Hand, wenn Du jemanden mitnehmen willst, doch lass ihn hinter Dir, wenn er die Mühen scheut. Es gibt ganz viele Stellen, wo Gottes Reich und die Alltagswelt immer wieder zusammentreffen, wo der andere umkehren, den Weg/die Welt wechseln kann, an Deine Seite zurück. Wenn einer losläuft, dann ist es für andere viel leichter, hinterherzukommen, mitzukommen. Nochmals die Geschichte von Anadia: Als wir in Albergaria-a-Velha aufgebrochen waren, wollte uns nach dem Frühstück in einem kleinen Dorf wieder ein Mann auf die Landstraße schicken. Wir gingen weiter und kamen auf dem von ihm gewiesenen Weg in eine Sackgasse, wir mussten umkehren. Und dann passierte es eben, dass Santiago und ich uns trennten. Er war des Suchens leid und ich wollte auf keinen Fall auf die Landstraße. Wir verabredeten uns bei den Bombeiros Voluntarios in Anadia. Und dann ging jeder für sich los. Ich holte einfach meinen Rosario raus und betete eine Runde mit der Bitte, dass ich die Pfeile immer besser finden lerne. Und so fand ich den Weg. Nach ca. zwei Stunden sah ich plötzlich Santiago flötespielend vor mir auf dem Weg sitzen. Er hatte von einer Überführung der Landstraße aus den Camino und Pfeile gesehen. Er stieg hinab, setzte sich hin, spielte auf seiner Zampoña und wartete auf mich. Und ab diesem Moment blieben wir gemeinsam auf dem Camino. Wenn wir konsequent voranschreiten, dann entwickelt sich auch unser Weg wie von selbst, ohne dass wir uns Sorgen machen müssen, ohne dass wir die Keimlinge unseres Handelns ausbuddeln müssen, um zu sehen, ob sie treiben, ohne dass wir an den Halmen ziehen müssen. Sonne und Regen, Wärme und Liebe, Tag und Nacht sorgen für das Wachstum, für das Fortschreiten. Markus 4 (Lutherbibel 1984): 26 Und er sprach: Mit dem Reich Gottes ist es so, wie wenn ein Mensch Samen aufs Land wirft 27 und schläft und aufsteht, Nacht und Tag; und der Same geht auf und wächst - er weiß nicht wie. 28 Denn von selbst bringt die Erde Frucht, zuerst den Halm, danach die Ähre, danach den vollen Weizen in der Ähre. 29 Wenn sie aber die Frucht gebracht hat, so schickt er alsbald die Sichel hin; denn die Ernte ist da. Im Antlitz der Liebe - 199 - © Gabriele Sych Von selbst werden sich Gelegenheiten mit der Zeit ergeben, die uns helfen, Gottes Reich besser zu verstehen, zu vertiefen und zu erweitern. Von außen kommen Menschen und Situationen auf uns zu, die zu unserem Werk beitragen oder es nutzen. Es mag uns ein Ruf ereilen. Von selbst wird sich das Wunder entfalten, wenn wir ihm die Hand reichen. Nicht müde werden sondern dem Wunder leise wie einem Vogel die Hand hinhalten. Hilde Domin. Lyrikerin Es ist keine einmaliger Akt, sondern ein kontinuierlicher Prozess, über den wir keine Kontrolle haben. Wir können nur täglich voranschreiten, der Rest liegt in Seiner Hand. Wir haben durchaus Zeit, uns zu entwickeln, zu wachsen. Das Umlernen – so lästig es uns manchmal fällt, gerade wenn wir mitten drin sind - lässt sich nicht abkürzen. Wie sollten wir auch sonst verstehen, wenn die Erfahrung noch nicht vollständig ist? Es ist sinnlos, immer wieder zu fragen: Wie geht es denn nun? Wenn wir durch sind, werden wir es wissen. Oft ergibt sich die Ernte erst in der Rückschau. Beim Pilgern kannten wir unser großes Ziel, erst Santiago de Compostela, dann Fátima. Aber den Weg mit allen seinen Wendungen, den kannten wir nicht vorher. Wir haben uns jeden Tag nur um die Pfeile gekümmert, die zu unserer Tagesetappe gehörten, der Rest war uns egal, damit haben wir uns nicht belastet, wir wussten einfach, vertrauten, dass sie da sein würden. Morgens haben wir uns manchmal überlegt, wie weit wir laufen wollten, doch das hieß noch lange nicht, dass wir abends dort blieben. Oft verhinderte ein „Hier bleibe ich nicht“ eine frühzeitige Abendruhe, manchmal waren wir aber auch zu geschafft zum Weitergehen. Wenn es eine Messe gab, dann sind wir in die Messe gegangen, das wussten wir aber vorher nicht, es war einfach fast jeden Abend so. Trotzdem sind wir Santiago und Fátima jeden Tag näher gekommen und irgendwann – und das recht schnell – angekommen. Im Antlitz der Liebe 2.1.1.3 - 200 - © Gabriele Sych Wann? Jetzt! Voraussetzungen? Keine! Wann und wie können wir anfangen? Müssen wir Voraussetzungen schaffen, erreichen, damit wir uns auf den Weg in Gottes Reich machen können? Müssen wir selbst, muss unsere Umgebung vollständig rein und sündenfrei sein, dass wir den Anfang wagen können? Matthäus 13 (Lutherbibel 1984) 24 Er legte ihnen ein anderes Gleichnis vor und sprach: Das Himmelreich gleicht einem Menschen, der guten Samen auf seinen Acker säte. 25 Als aber die Leute schliefen, kam sein Feind und säte Unkraut zwischen den Weizen und ging davon. 26 Als nun die Saat wuchs und Frucht brachte, da fand sich auch das Unkraut. 27 Da traten die Knechte zu dem Hausvater und sprachen: Herr, hast du nicht guten Samen auf deinen Acker gesät? Woher hat er denn das Unkraut? 28 Er sprach zu ihnen: Das hat ein Feind getan. Da sprachen die Knechte: Willst du denn, dass wir hingehen und es ausjäten? 29 Er sprach: Nein! Damit ihr nicht zugleich den Weizen mit ausrauft, wenn ihr das Unkraut ausjätet. 30 Lasst beides miteinander wachsen bis zur Ernte; und um die Erntezeit will ich zu den Schnittern sagen: Sammelt zuerst das Unkraut und bindet es in Bündel, damit man es verbrenne; aber den Weizen sammelt mir in meine Scheune. Eine Deutung des Gleichnisses: Man kann Gottes Reich an jedem Raum der Welt errichten, auch wenn man nur von Menschen umgeben ist, die Gottes Reich nicht kennen, nicht wollen oder nicht anstreben. Das ist einfach zu akzeptieren. Eine ganz freie, perfekte Fläche werden wir wohl nicht finden, warum auch? Wir müssen nicht auf den Moment warten, bis alles perfekt ist, auch in uns selbst nicht, um von unserer Seite her loszulegen. Sondern jetzt, in jedem Moment, jederzeit können wir anfangen. Keine Ausreden, im Gegenteil: Wenn der Weizen nicht wüchse, wenn er von anderen Pflanzen umgeben ist, wie klein wäre dann seine innere Wachstumskraft gepaart mit Gottes Unterstützung. Es ist doch der allmächtige Gott, der uns zur Seite steht! Auch in widrigen Umgebungen, umgeben von „Unkraut“ können wir uns entfalten, wenn wir es darauf anlegen und uns Seiner Hilfe anvertrauen. Gerade diese Umgebungen bieten uns Glaubensprüfungen in Hülle und Fülle, an denen wir wachsen und Stärke gewinnen können. Im Antlitz der Liebe - 201 - © Gabriele Sych Jesu Deutung des Gleichnisses vom Unkraut, Matthäus 13 (Lutherbibel 1984): 36 Da ließ Jesus das Volk gehen und kam heim. Und seine Jünger traten zu ihm und sprachen: Deute uns das Gleichnis vom Unkraut auf dem Acker. 37 Er antwortete und sprach zu ihnen: Der Menschensohn ist's, der den guten Samen sät. 38 Der Acker ist die Welt. Der gute Same sind die Kinder des Reichs. Das Unkraut sind die Kinder des Bösen. 39 Der Feind, der es sät, ist der Teufel. Die Ernte ist das Ende der Welt. Die Schnitter sind die Engel. 40 Wie man nun das Unkraut ausjätet und mit Feuer verbrennt, so wird's auch am Ende der Welt gehen. 41 Der Menschensohn wird seine Engel senden, und sie werden sammeln aus seinem Reich alles, was zum Abfall verführt, und die da Unrecht tun, 42 und werden sie in den Feuerofen werfen; da wird Heulen und Zähneklappern sein. 43 Dann werden die Gerechten leuchten wie die Sonne in ihres Vaters Reich. Jesus selbst hat das Gleichnis auch gedeutet. Gottes Reich kann koexistieren mit dem Bösen, kann koexistieren mit denen, die nicht darin leben. Doch wer in Gottes Reich sein will, der wird auch dort bleiben. Die Ernte wird eine unterschiedliche sein, wir haben die Wahl. Offenbarung des Johannes, 22 (Hoffnung für alle): 10 Halte die prophetischen Worte nicht geheim, die du aufgeschrieben hast, denn bald wird alles in Erfüllung gehen. 11 Wer dennoch weiter Unrecht tun will, der soll es tun. Wer mit Schuld beladen bleiben will, der soll es bleiben. Doch wer ein Leben führt, wie es Gott gefällt, der soll weiterhin so leben. Und wer Gott gehört, der soll bei ihm bleiben. 12 Macht euch bereit! Ich komme schnell und unerwartet und werde jedem den verdienten Lohn geben. 13 Ich bin der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ziel, das A und das O. 14 Glücklich werden alle sein, die ihre Kleider rein gewaschen haben. Sie dürfen durch die Tore in die Stadt hineingehen und die Früchte von den Bäumen des Lebens essen. 15 Draußen vor den Toren der Stadt müssen alle Feinde Gottes bleiben: alle, die sich mit Zauberei abgeben, die sexuell zügellos leben, die Mörder, alle, die anderen Göttern nachlaufen, die gerne lügen und betrügen. „Unkraut“ wuchert außen wie innen. Auch viele unserer Gedanken sind noch Unkraut, oft fallen wir wieder zurück in die Beurteilung von Gut und Böse. Oder wir kehren in unsere Ängste zurück und vertrauen nicht. Wir überlegen ständig, wie wir dies oder jenes geregelt bekommen – auf den bisher gewohnten Wegen. Mit diesem Unkraut können wir leben lernen, es als Unkraut ansehen und es hin- aber nicht ernst nehmen, nicht danach handeln, ihm trotzen. Auch hier dürfen wir wachsen und uns Stück für Stück entwickeln. Im Antlitz der Liebe - 202 - © Gabriele Sych Wer schafft es denn schon, von einem auf den anderen Tag vollständig gut zu sein? Da gibt es so viele Gewohnheiten, die neu einzurichten oder zu überwinden sind. Und jede einzelne Gewohnheit braucht schon seine Zeit der Erkenntnis und dann des An- oder Abgewöhnens. Von den Arbeitern im Weinberg: Matthäus 20 (Lutherbibel 1984) 1 Denn das Himmelreich gleicht einem Hausherrn, der früh am Morgen ausging, um Arbeiter für seinen Weinberg einzustellen. 2 Und als er mit den Arbeitern einig wurde über einen Silbergroschen als Tagelohn, sandte er sie in seinen Weinberg. 3 Und er ging aus um die dritte Stunde und sah andere müßig auf dem Markt stehen 4 und sprach zu ihnen: Geht ihr auch hin in den Weinberg; ich will euch geben, was recht ist. 5 Und sie gingen hin. Abermals ging er aus um die sechste und um die neunte Stunde und tat dasselbe. 6 Um die elfte Stunde aber ging er aus und fand andere und sprach zu ihnen: Was steht ihr den ganzen Tag müßig da? 7 Sie sprachen zu ihm: Es hat uns niemand eingestellt. Er sprach zu ihnen: Geht ihr auch hin in den Weinberg. 8 Als es nun Abend wurde, sprach der Herr des Weinbergs zu seinem Verwalter: Ruf die Arbeiter und gib ihnen den Lohn und fang an bei den letzten bis zu den ersten. 9 Da kamen, die um die elfte Stunde eingestellt waren, und jeder empfing seinen Silbergroschen. 10 Als aber die Ersten kamen, meinten sie, sie würden mehr empfangen; und auch sie empfingen ein jeder seinen Silbergroschen. 11 Und als sie den empfingen, murrten sie gegen den Hausherrn 12 und sprachen: Diese Letzten haben nur eine Stunde gearbeitet, doch du hast sie uns gleichgestellt, die wir des Tages Last und Hitze getragen haben. 13 Er antwortete aber und sagte zu einem von ihnen: Mein Freund, ich tu dir nicht Unrecht. Bist du nicht mit mir einig geworden über einen Silbergroschen? 14 Nimm, was dein ist, und geh! Ich will aber diesem Letzten dasselbe geben wie dir. 15 Oder habe ich nicht Macht zu tun, was ich will, mit dem, was mein ist? Siehst du scheel drein, weil ich so gütig bin? 16 So werden die Letzten die Ersten und die Ersten die Letzten sein. Für Gottes Reich gelten unsere Regeln und Gerechtigkeiten nicht. Und - für Gottes Reich ist es nie zu spät. Ob wir uns nun in der 1. Stunde oder der 11. Stunde oder sogar 5 vor 12 für die „Arbeit in seinem Weinberg“, das Leben in seinem Reich eintragen und loslegen, es ist nicht zu spät. Wir schaden uns nur selbst, wenn wir es hinausschieben. Wir sind alle gleich vor ihm, wir erhalten alle den gleichen Lohn, nämlich was jeder zum Leben BRAUCHT. Jede Zeit ist die rechte Zeit, um bei ihm anzukommen. Im Antlitz der Liebe - 203 - © Gabriele Sych Liebe fragt nicht. In der guten Tat liegt der Lohn an sich. Wer schon sein Leben lang Gutes gesät hat, na, der wird auch geerntet haben, oder? Wer lange Wege gebraucht hat, um anzukommen und lange nichts Gutes gesät hat, der wird auch gehungert haben, gehungert nach Liebe, gehungert nach Sinn, gehungert nach Ankommen, gehungert nach Seiner Hand, gehungert nach dem Getragensein, gehungert nach der wahren Sicherheit und getäuscht von vielen vermeintlichen Zielen und Sicherheiten. Gottes Reich ist keine Leistungsgesellschaft, sondern eine Solidargemeinschaft. Wir alle haben Lebensphasen, in denen wir stark und kräftig sind; wo es ganz natürlich ist, dass wir mehr schultern als andere, wo wir andere versorgen, die sich nicht so gut versorgen können. Und wir haben Lebensphasen, in denen wir weniger schaffen, weniger Leistung bringen als unsere Mitmenschen, uns vielleicht nicht einmal mehr selbst vollständig versorgen können. Es ist völlig gottgewollt, dass andere unsere Last mittragen, so, wie wir es einmal tun werden (Perspektive des Kindes) und so wie wir es getan haben (Perspektive des alten Menschen). Mehr darüber im Kapitel 2.3.5 „Stärke und Schwäche“. 2.1.1.4 Leichtigkeit, bewusste Entscheidung, Wahl annehmen, Kind sein Hat man Gottes Reich einmal gekostet, kann man alles loslassen, was man hatte, was man bisher getan hat, um für dieses Reich zu leben. Leicht werden: das Blatt im Wind lernt in der Tat das Fliegen. Es ist frei und ohne Last dafür, sich hinzugeben, um dort anzukommen, wo es hingeweht wird, wo es hingehört. Es weiß es doch nicht selbst! Das Neue, was jetzt kommt, ist unvergleichlich. Ich vermisse nichts. Ich hatte mit meinem damaligen Ehemann ein Haus gebaut und nach unserer Scheidung wieder verkauft. Es war ein sehr schönes Haus, den Garten hatte ich mit sehr viel Liebe selbst angelegt. Heute wohne ich in einer Wohnung, die nur halb so groß ist, sogar in einem DDR-Plattenbau. Ich vermisse es nicht, sondern genieße die Freiheit, mich nicht um so viel Materielles kümmern zu müssen, mich auf das Wesentliche, meinen Sinn hier auf Erden zu konzentrieren. Vom Schatz im Acker und der kostbaren Perle, Matthäus 13 (Lutherbibel 1984) 44 Das Himmelreich gleicht einem Schatz, verborgen im Acker, den ein Mensch fand und verbarg; und in seiner Freude ging er hin und verkaufte alles, was er hatte, und kaufte Im Antlitz der Liebe - 204 - © Gabriele Sych den Acker. 45 Wiederum gleicht das Himmelreich einem Kaufmann, der gute Perlen suchte, 46 und als er eine kostbare Perle fand, ging er hin und verkaufte alles, was er hatte, und kaufte sie. Es gibt es kein Zurück mehr. Leben wie vorher scheint uns unmöglich, als ob wir auf frisches Wasser verzichten sollten. Wir können Fähigkeiten, Mittel und Kompetenzen nutzen, die wir uns vorher erworben haben. Sie setzen wir jetzt in einem neuen Kontext ein. Selbst, wenn wir in unserem alten Beruf bleiben: die Motivation und Intention sind ganz andere. Wir können und sollten natürlich auch in unserem Familienzusammenhang bleiben, doch lassen wir uns nicht durch Ängste, Sorgen und Ansichten der Familie dazu veranlassen, unseren neuen Weg zu verlassen oder zu verwässern. So, wie wir uns vorher vielleicht durch ein „Das macht man so“ oder durch Ratgeber und Erlerntes haben lenken lassen, um mit unserem Umfeld umzugehen, so handeln wir jetzt aus dem inneren Wissen und der Führung Gottes. Allerdings: Durch Bekehrungserlebnisse oder Gotteserfahrungen kann man schnell in Begeisterung, Schwärmerei und Passion für Gott. Eine bewusste Entscheidung für die Nachfolge tut ebenso Not, für die guten Seiten wie für die ungewohnten, meist nur anfänglich unbequemen Seiten. Wer bisher in gut situierten Verhältnissen gelebt hat, wird mit dem, was er wirklich braucht, von Zeit zu Zeit tief durchatmen müssen und sich alte Zeiten zurückwünschen. Das gibt sich. Wer bisher die Gebote als eine Option ansah, als Kür und nicht als Pflicht, der wird sich zunächst fragen, ob er dieses Maß an Selbstdisziplin wirklich „bestellt“ hat. Doch es ist wie mit den meisten Gewohnheiten, die wir verändern. Wenn wir eine neue Gewohnheit annehmen, geht sie uns bald leicht von der Hand. Wer vor der Gemeinde ein Bekenntnis ablegen will, der muss sein Leben vor Augen haben und klar sein. Kann er mit ganzer Konsequenz „Ich widersage“ „Ich glaube“ und „Ja, bis dass der Tod uns scheidet“ sagen? Der Turmbau / das Kriegführen: Lukas 14 (Lutherbibel 1984) 28 Denn wer ist unter euch, der einen Turm bauen will und setzt si ch nicht zuvor hin und überschlägt die Kosten, ob er genug habe, um es auszuführen, - 29 damit nicht, wenn er den Grund gelegt hat und kann's nicht ausführen, alle, die es sehen, anfangen, Im Antlitz der Liebe - 205 - © Gabriele Sych über ihn zu spotten, 30 und sagen: Dieser Mensch hat angefangen zu bauen und kann's nicht ausführen? 31 Oder welcher König will sich auf einen Krieg einlassen gegen einen andern König und setzt sich nicht zuvor hin und hält Rat, ob er mit zehntausend dem begegnen kann, der über ihn kommt mit zwanzigtausend? 32 Wenn nicht, so schickt er eine Gesandtschaft, solange jener noch fern ist, und bittet um Frieden. 33 So auch jeder unter euch, der sich nicht lossagt von allem, was er hat, der kann nicht mein Jünger sein. Seien wir uns jedoch gewahr: es ist eine komplette Hingabe an sein Reich, es ist kein Schulausflug, kein Ponyhof, sondern die Lebensreise. Unter 100 % wird es nicht funktionieren, es ist eine bewusste, definitiv keine leichtfertige Entscheidung. Es geht um die Bereitschaft, vollständig in der neuen Aufgabe aufzugehen, ein Ausstieg ist nicht möglich, das kann so weit gehen wie ein: Und selbst, wenn ich alles verliere oder hergeben muss, ich werde nicht aufgeben. Diese Selbstprüfung ist unerlässlich. Nicht die Größe des Vorhabens noch die Menge der Herausforderungen darf einen schrecken, damit ist vielleicht sogar zu rechnen. Das gilt für das Außen wie das Innen, es gilt für das, was die Psychologie Ego nennt. Dazu gehört es zusätzlich, sich von den eigenen, inneren Vorstellungen, wie etwas sein sollte und wie etwas nicht sein sollte, zu verabschieden. Es gilt das reine GUT. Hui, nach was für einem bleischweren Rucksack klingt das denn plötzlich? Die gute Nachrichten dazu, eine sehr, sehr gute: Es ist nicht mehr unsere eigene Stärke, die das allein erreichen muss. Unserem inneren Schweinehund gegenüber stehen uns nun starke Helfer zur Seite. Wie einem Kind wird uns wird sofort geholfen, wenn wir was nicht schaffen. Wenn unsere eigene Kraft nicht reicht, dann erhalten wir durch das Bitten und die Wunder der Charismen neue Möglichkeiten. Matthäus 11 (Lutherbibel 1984): 28 Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken. 29 Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen. 30 Denn mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht. Im Antlitz der Liebe - 206 - © Gabriele Sych Erinnern wir uns an meinen Rucksackträger in Burgos oder an Mario, den Feuerwehrmann in Anadia? Genau! So geht das! Jesus ist ein zärtlich-konsequenter Verführer zum Guten mit exzellentem Timing. Er macht uns seinen Weg so schmackhaft, dass wir ihm nicht widerstehen können, ihn zu wählen, wirklich! In vielen Bibelstellen wird von den Auserwählten gesprochen, zum Beispiel in Markus 13 (Lutherbibel 1984): 27 Und dann wird er die Engel senden und wird seine Auserwählten versammeln von den vier Winden, vom Ende der Erde bis zum Ende des Himmels. Vielfach wurde ich darauf angesprochen, warum Gott denn so wählerisch sei, warum nicht alle eine Chance haben, alle auserwählt sind. Ich glaube: wie bei jeder Wahl kommt es auch darauf an, dass wir die Wahl annehmen und uns in die Aufgabe stellen, die mit der Wahl einhergeht. Und die Aufgabe ist in Johannes 17 (Lutherbibel 1984) benannt: 7 Nun wissen sie, dass alles, was du mir gegeben hast, von dir kommt. 8 Denn die Worte, die du mir gegeben hast, habe ich ihnen gegeben, und sie haben sie angenommen und wahrhaftig erkannt, dass ich von dir ausgegangen bin, und sie glauben, dass du mich gesandt hast. Der Prozess der Auserwählung für Gottes Reich ist beidseitig. Gott erwählt uns, indem er uns erschafft. Wir wählen Gott und Gottes Reich mit all seinen Eckdaten. Das griechische Wort des Auserwählens ist εκλεκτος = eklektos von εκλεγω „ich sage heraus“. Wählen wir einfach Sein Wort und nehmen es vollständig an! Leben wir nach dem Wort, so nehmen wir die Wahl an. Nehmen wir unsere Gotteskindschaft an, das Bewusstsein, dass wir unter seinem Dach und durch seine Gnade und Unterstützung leben; dass Sein Wille der Leitstern unseres Lebens ist, Sein Wille, der das „Liebevollstmögliche“ an sich ist! Das Angebot, auserwählt zu sein, haben wir alle. Jeder ist für seinen eigenen Weg auserwählt. Ob wir die Wahl annehmen, das liegt nur an uns. Die Tür zu Gottes Reich ist offen! Er lässt uns hinein als Seine Kinder. Denn als Kinder dürfen wir, sollen wir kommen. Matthäus 18 (Gute Nachricht Bibel): 1 Um diese Zeit kamen die Jünger zu Jesus und fragten ihn: »Wer ist in der neuen Welt Gottes der Größte?« 2 Da rief Jesus ein Kind herbei, stellte es in ihre Mitte 3 und sagte: »Ich versichere euch: Wenn ihr euch nicht Im Antlitz der Liebe - 207 - © Gabriele Sych ändert und den Kindern gleich werdet, dann könnt ihr in Gottes neue Welt überhaupt nicht hineinkommen. 4 Wer es auf sich nimmt, vor den Menschen so klein und unbedeutend dazustehen wie dieses Kind, ist in der neuen Welt Gottes der Größte. Markus 10 (Lutherbibel 1984) 15 Wahrlich, ich sage euch: Wer das Reich Gottes nicht empfängt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen. Was kann das heißen? Für mich bedeutet es, wie ein Kind Gottes Reich kennen zu lernen und vom Vater in Liebe angenommen zu werden. Wie lernt ein Kind laufen, wie lernt ein Kind sprechen, wie lernt ein Kind einen Raum kennen? Beim Laufenlernen hat das Kind Lust, die Welt zu entdecken. Es stellt sich auf, läuft los und fällt wieder hin. Im Raum verläuft es sich auch mal, ruft und bittet um Hilfe und wird wieder auf den Weg geführt. Das dürfen wir auch. Hinfallen und wieder aufstehen, ohne uns Vorwürfe zu machen. Nur so weit gehen, wie wir uns sicher fühlen und beim nächsten mal drei Schritte weiter oder vier. Uns mal verlaufen. Uns mal irren und das erst später merken, indem Gott uns in eine Situation führt, wo wir das selbst erfahren können. Darüber lachen und nicht weinen. Neues anwenden. Gelobt werden und nicht pausenlos getadelt. Das Rechte selbst erkennen. Erkunden in 3D, im Leben ausprobieren - auf Neudeutsch „Experiential Learning“. Bevor man in Gottes Reich erwachsen sein und wie ein Großer wirken kann, hat man erst Zeit zum Wachsen, auch dort erwachsen werden. Ich selbst hatte auch so ein wenig meine eigene Kinderzeit, mein eigenes Wachstum und das Glück meiner Kleinheit in Gottes Reich eine Weile nicht gesehen und geschätzt, war selbst unter Druck geraten oder hatte mich unter Druck gesetzt, der sich mit dieser Erkenntnis in Luft auflöste. Ich konnte mit ihm gemeinsam wieder zum Gotteskind werden und Gott genießen. Er zeigte mir auch deutlich, dass die Drohbotschaft und Schuld als Kernbotschaft nicht funktioniert. Auf die Dauer macht uns das krank. Einsicht und Liebe, in die wir selbst eingeschlossen sind, das funktioniert. Wer also durch die Pforte findet, der darf Kind sein und von vorne wieder anfangen zu lernen, Erfahrungen sammeln. Nur so lernen wir, in Gottes Reich zu leben, durch Vertrauen lernen, dass Gott wahrlich für uns sorgt. Durch das Wachstum des eigenen Glaubens aus Gotteserfahrungen. Wir haben Zeit dafür, durch Jesus selbst oder durch anderen Menschen unsere Ausbildung zu erhalten.Auch meine Gabe durfte ich ganz klein und langsam und ohne größere Aufsicht Anderer entwickeln, sie ausprobieren, sie auch wachsen lassen. Wir dürfen selbst erst mit Gott voll Gott werden, uns mit Liebe Im Antlitz der Liebe - 208 - © Gabriele Sych anfüllen lassen, bevor wir uns weiterverschenken. Und bedenken wir: Jesus war Gottes Sohn, Gott selbst. Er hat erst mit 30 Jahren angefangen, aktiv in Predigt, Lehre, Heilwirken und Evangelisierung zu gehen. Wir müssen uns nicht über Gebühr beeilen und uns dabei selbst fertig machen, was nicht heißt, dass wir unsere Zeitfenster auch einfach verstreichen lassen können. Das Maß ist immer Liebe, Gesundheit, Freude: Wenn wir unseren Weg jeden Tag lieben können, ohne Ruhe oder Fortschritt zu vermissen, haben wir ein gutes Tempo. Wir fühlen uns zufrieden, voller Ruhe und Balance und erkennen gleichzeitig, dass es voran geht, dass sich etwas tut. Gehen wir langsamer, wenn uns Ruhe und Liebe mangelt und sich Stress einschleicht. Gott ist groß genug, seine Schafe zu finden. Andere sind auch noch da, auch die haben Beiträge, denen sollen wir auch nicht alles abnehmen. Niemand muss allein die Erde auf seinen menschlichen Schultern tragen, das eigene Kreuz reicht. Doch bringen wir mehr in Bewegung, wenn wir das Gefühl haben zu stagnieren oder unangenehme Deja-Vue-Erlebnisse sich häufen. Und: wir dürfen wir selbst bleiben im Sinne des „Ich bin der ich bin“. HipHop und Halleluja, Salsa y Salmo57. Hier eine Salsa, die vom guten Hirten handelt: „El buen pastor“ von Raphy Leavitt mit Rap-Einlage. Geht alles! Goza! Und mehr zur Drohbotschaft, Umgang mit Schuldgefühlen und „Sünderdasein“ in 2.1.3 Und was ist mit der Sünde? 2.1.2 Gott ist, was ist: Die Realität Mir wurde auf meinem eigenen Heilungs-Weg immer mehr klar, dass ich mich häufig in meiner Gedankenwelt außerhalb der Realität befand. Am deutlichsten war dies mit Erwartungen. Ich habe zu einem bestimmten Zeitpunkt etwas Bestimmtes erwartet oder erwünscht, dafür kam etwas anderes. Ich habe mir andere Menschen anders gewünscht, als sie waren, habe es von Ihnen sogar erwartet. Die Enttäuschung über das Nicht-Eintreffen meiner Erwartung war oft so groß, dass ich das, was wirklich passierte, was wesentlich besser für mich war, nicht wahrnahm. Ging dann das Leben ins Land, dann 57 Psalm Im Antlitz der Liebe - 209 - © Gabriele Sych wurde mir häufig klar, warum es so viel besser war, ein anderes Ergebnis als das gewünschte oder erwartete zu erhalten. In der Rückschau können wir unser Leben oft viel besser verstehen, doch wir leben es vorwärts. Was uns hilft, ist der Glaube, dass alles, was Realität ist, gut und Gott ist: Teilhabe am Geist Gottes. 2. Moses 3 (Schlachter Bibel 2000) 13 Und Mose sprach zu Gott: Siehe, wenn ich zu den Kindern Israels komme und zu ihnen sage: Der Gott eurer Väter hat mich zu euch gesandt!, und sie mich fragen werden: Was ist sein Name? — was soll ich ihnen sagen? 14 Gott sprach zu Mose: »Ich bin, der ich bin!« Und er sprach: So sollst du zu den Kindern Israels sagen: »Ich bin«, der hat mich zu euch gesandt. Wenn es sich nicht gut anfühlt, dann meistens, weil wir uns in einem Irrtum, in einer Illusion befinden. Oft werden uns die Konsequenzen einer Handlung gezeigt, über deren Ausgang, Motivation oder Rechtmäßigkeit wir uns geirrt haben. Wir denken uns die Welt, wie sie nicht ist, planen daraufhin etwas, was nicht geschehen kann und laufen gegen eine Wand, mit der wir an dieser Stelle nicht gerechnet haben, die wir an dieser Stelle einfach nicht berücksichtigt hatten. Das tut weh. Gut daran ist, dass wir es jetzt kapieren können. Je schneller wir hinschauen und annehmen, was ist, d.h. verstehen, dass dieses Erlebnis gut für uns war, anstatt dem nachzutrauern, was nicht war, umso leichter fällt uns das Leben. Eine wichtige Realität sind wir selbst, so wie wir sind. Wenn wir uns nicht so zeigen, wie wir sind, beispielsweise weil wir ♥ cool sein wollen, ♥ unsere Gefühle nicht zeigen wollen, uns unserer Gefühle schämen, ♥ wir uns für irgendwas an uns, von uns oder in uns schämen ♥ keine Schwäche zeigen wollen, denken perfekt sein zu müssen, ♥ unsere Verletzlichkeit, Emotionalität und Sehnsucht nach Liebe nicht zeigen wollen ♥ Angst vor Ablehnung oder Konflikten oder Verlassensangst haben Im Antlitz der Liebe - 210 - © Gabriele Sych ♥ es allen recht machen wollen ♥ von uns ein anderes Bild – Image! - vermitteln wollen, von dem wir uns mehr Erfolg versprechen ♥ Contenance gegenüber unserem Chef, unseren Auftraggebern bewahren wollen dann handeln wir ebenso gegen unsere gottgegebene Realität. Dann locken wir an, was nicht zu uns passt, schüren Erwartungen, die wir nicht erfüllen. Wir locken das an, was zu dem passt, was wir als Fassade gerade vormachen, aber nicht sind. Und – wir können nicht von dem gefunden werden, was wirklich zu uns passt. Und die, die nicht zu uns passen, erschrecken sich oder sind enttäuscht, wenn wir uns als etwas entpuppen, was sie in uns nicht vermutet haben und verlassen uns. Wir produzieren zunächst Täuschung und daraus folgend dann die Ent-Täuschung, die Beendigung der Täuschung, selbst. In einer Beziehung zu einem Mann habe ich mich einmal bemüht, möglichst liebe- und verständnisvoll zu sein, z.B. „nur heute ärgere dich nicht“. Eines Abends war ich mit diesem Mann im Kino. Als wir vor seiner Tür ankamen - wir waren mit meinem Auto gefahren, weil seines in der Werkstatt war - da sagte er, er würde jetzt gern allein in seine Wohnung gehen. Ich hatte mich noch auf ein paar Stunden mit ihm – wie sonst - gefreut. Innerlich implodierte ich, gab ihm jedoch ein Küsschen, heuchelte Verständnis und wünschte ihm noch einen schönen Abend und fuhr nach Hause. Selbstverleugnung. Als er mit mir kurz darauf Schluss machte, da sagte er mir: „Weißt du, als du an dem Abend nach dem Film xy einfach so, völlig emotionslos, nach Hause gefahren bist, als ich allein bleiben wollte, war mir klar, dass ich dir ziemlich egal bin. Andere Frauen, die ich kannte, wären sauer gewesen, hätten was gesagt oder mich sogar angeschrieen. Du warst ungerührt. Das hat mir von allem am meisten zu Denken gegeben.“ Da implodierte ich wieder, aber gleichzeitig auch in mir der Glaubenssatz: „ Es ist in einer Beziehung nicht gut ist, seine negativen Emotionen zu zeigen.“ Auch sie können für andere eine sehr wichtige Aussage enthalten. Egal, auch wenn er nicht der Richtige war: das war eine sehr wichtige Lehre für meine Zukunft. Ich habe während einer Zeit in meinem Leben Dinge erlebt, die der Albtraum vieler, vieler Menschen sind: ♥ Ich habe mich scheiden lassen. ♥ Ich musste mein Kind für längere Zeit gehen lassen, weil es bei seinem Vater leben wollte. ♥ Ich habe mein Haus verkauft, weil der Preis des Haltens zu hoch war. Im Antlitz der Liebe - 211 - © Gabriele Sych ♥ Ich habe 150.000 Euro und meine Altersversorgung dabei verloren und war nicht nur bankrott, sondern blieb mit Schulden zurück. ♥ Ich konnte meinen hochdotierten Beruf als Unternehmensberaterin nicht mehr ausüben, weil mir plötzlich dort – und nur dort – die Worte wegblieben. ♥ In meinem Büro hat es gebrannt. ♥ Ich habe eine Zeit lang Hartz IV beantragen müssen, denn alle „Sicherheitsleinen“ waren gerissen. Ich habe es alles überlebt und nie wirklich einen unwiederbringlichen Verlust erlitten, es hat mich nicht verzweifeln lassen. Alles hat mich auf wundersame Weise gestärkt. All dies passierte zu meinem Guten. Wenn das nicht passiert wäre, würde ich noch heute etwas anderes tun als das, als meine Bestimmung zu leben, vielleicht würde ich mich noch immer ablenken oder davor davonlaufen, wäre noch nicht aufgewacht. Ich würde mir noch Sorgen machen und Angst haben. Ich würde noch heute unter einer hohen Last stöhnen. Ich würde mich immer noch hetzen, nicht genug Zeit haben und mich überfordern, statt ein gesundes und liebevolles Leben zu leben, in dem Zeit in Balance ist. Ich hätte Gottes Welt nicht kennen und schätzen gelernt. Ich hätte sie nicht so gebraucht. Ich hätte Gott nicht so gebraucht, wie ich ihn gebraucht und erfahren habe. Ich wurde arm und erfuhr, wie es ist, von Gott getragen zu werden. Ich habe keine Angst mehr, ich mache mir nur noch selten Sorgen. Die einzige „Sicherheitsleine“, die ich habe, ist Gott, sonst nichts. Sicherer geht es nicht, denn er hat mehr Macht als jeder Mensch, mehr als alles, was ich selbst versuchen könnte. Und das wichtigste, prägende Erlebnis der Gut-Wahrnehmung war dieses: ♥ Als Kind habe ich etwas erlebt, was ein Kind nicht erleben sollte - und es in einer Amnesie verdrängt Ich verstand damals die Welt, die Menschen nicht mehr und das zog sich von meiner Kindheit in meine Jugend und ins Erwachsenensein. Aus diesem Grund habe ich ein Leben lang nach Heilung gesucht und sie auch gefunden, mit Gottes Hilfe, über meine Hände. Wäre ich dadurch nicht so sehr verletzt gewesen, wäre nicht mein Leidensdruck so groß gewesen, wäre dadurch nicht mein Glaube an Gott so erschüttert worden, wie hätte ich sonst all diese Heilungserfahrungen am eigenen Leibe real erleben können? Wie könnte ich sonst so sicher sein, dass funktioniert, was ich tue? Ich habe meinen Glauben Im Antlitz der Liebe - 212 - © Gabriele Sych an einen guten Gott zurück gewonnen und weiß in aller Tiefe, was ich hier schreibe, es ist mehr als Glaube. Meine Seele ist geheilt. Der wichtigste Glaubenssatz in meinem Leben war durch diese Kindheitserlebnisse: „Was ich will, ist sowieso egal!“ Die Behandlung dieses Glaubenssatzes hat zwei Stunden gedauert, in denen ich, geschützt durch den Erzengel Michael, nochmals durch die damalige Erfahrungen gegangen bin, geheult, geschrieen und mit den Beinen um mich getreten habe, ganz viele Momente wieder erlebt habe, in denen mein Wille einfach übergangen wurde oder wo ich meinen Willen nicht mal erwähnt habe, sondern mich gleich dem Willen anderer – gegen meine Bedürfnisse und Vorstellungen – unterworfen habe. Am Ende der Behandlung war in meinem Munde ein Satz, den schon Jesus uns zu beten empfohlen hat: „Dein Wille geschehe!“ Noch nie hatte ich mich in meinem Leben so getröstet gefühlt. Alle diese Erlebnisse waren von mir abgefallen. Und dann fiel mir eines auch nicht mehr schwer, was er im gleichen Atemzug sagte: Wie auch wir denen vergeben, die uns verletzen. Ich konnte vergeben und Frieden wiedergewinnen. Ich denke heute, Sein Wille war, dass ich Heilung vollständig und authentisch verstehe. Diesen Weg dazu habe ich genau so gebraucht. Und dafür bin ich meinem guten Gott dankbar. Die Gegensätze haben sich im Frieden vereint. Ich habe gesehen, dass es gut war: Der Weg des verwundeten und dann geheilten Heiler führt zur Heilberufung. 2.1.2.1 Und er sah, dass es gut war! Gott hat die Welt geschaffen und sein Werk gefiel ihm. Er hat sie geschaffen mit Sinn. 1. Mose 1 (Lutherbibel 1984) Verse: 10, 12, 17, 21, 25: Gott sah, dass es gut war. 1. Mose 1 (Lutherbibel 1984) 31 Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Es war sehr gut. Wer sind wir, dass wir dies in Zweifel stellen, diese Welt sogar als Jammertal bezeichnen können? In Jesaja 45 steht dazu deutlich: Im Antlitz der Liebe - 213 - © Gabriele Sych 9 Weh dem, der mit seinem Schöpfer rechtet, er, eine Scherbe unter irdenen Scherben. Sagt denn der Ton zu dem Töpfer: Was machst du mit mir?, und zu dem, der ihn verarbeitet: Du hast kein Geschick? Nun, in der Schöpfungsgeschichte verbot Gott Adam, von dem Baum der Erkenntnis von Gut und Böse zu essen. 1. Mose 2 (Lutherbibel 1984) 16 Dann gebot Gott, der Herr, dem Menschen: Von allen Bäumen des Gartens darfst du essen, 17 doch vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse darfst du nicht essen; denn sobald du davon isst, wirst du sterben. Von der Übersetzung her kann das dort verwendete griechische Wort γινωσκειν sowohl mit Erkennen, jedoch genauso gut auch mit Beurteilen übersetzt werden, es kann auch Wahrnehmen oder Bezeichnen/Benennen heißen. Der Mensch fängt damit an, selbst die Welt in Gut und Böse aufzuteilen, etwas gut oder böse zu nennen. Das erste, was nach der Bibel ihm nach dem Sündenfall auffiel, war die Nacktheit. Was ist an der Nacktheit gut oder böse? Warum war sie plötzlich für Adam und Eva schlecht, beschämend? Der Mensch ist von Gott geschaffen, wie der Mensch eben geschaffen ist: Gott sah, dass es gut war. Der Mensch beginnt nun zu urteilen, worüber er kein Urteil zu fällen hat, worüber er kein Urteil fällen kann, worüber kein Urteil gefällt werden kann. Denn was Gott geschaffen hat, ist gut. Der Mensch ist gut, auch nackt. Nochmals die Sätze aus dem Buch der Weisheit: Weisheit 11 (Einheitsübersetzung) 23 Du hast mit allen Erbarmen, weil du alles vermagst, und siehst über die Sünden der Menschen hinweg, damit sie sich bekehren. 24 Du liebst alles, was ist, und verabscheust nichts von allem, was du gemacht hast; denn hättest du etwas gehasst, so hättest du es nicht geschaffen. 25 Wie könnte etwas ohne deinen Willen Bestand haben, oder wie könnte etwas erhalten bleiben, das nicht von dir ins Dasein gerufen wäre? 26 Du schonst alles, weil es dein Eigentum ist, Herr, du Freund des Lebens. Im Antlitz der Liebe - 214 - © Gabriele Sych Hat einer von uns wirklich das Gefühl, dass wir Menschen tatsächlich erkennen können, was gut und böse ist? Mal ganz ernsthaft, ist das wirklich unsere Erfahrung? Das mit dem Beurteilen ist viel wahrscheinlicher, oder? Das können wir JEDEN Tag erleben, an uns selbst und an anderen… 2.1.2.2 Die Erbsünde, wie ich sie verstanden habe In dem Moment, wo wir anfangen zu beurteilen, Menschen, Verhalten, Situationen und Dinge in Gut und Böse, und Folgen von Dingen in Gut und Böse und Vergangenheit oder Zukunft in Gut und Böse zu unterteilen, da fängt die Verfehlung des Weges an, eben Sünde. Wir schalten in unsere Wahrnehmung einen Zwischenschritt ein für eine Filterung in Gut und Böse. Dies legt den Samen in uns für Emotionen wie Wut, Zorn, Trauer, Depression, Mangel- oder Rachegefühle. Wir erzählen uns selbst Geschichten. Deren Wahrheitsgehalt? Reine Spekulation! Genau das halte ich persönlich für die Erbsünde. Wir ermöglichen unserem Bewusstsein, die Kategorie „BÖSE“ zuzulassen, so dass es sich in unserem Bewusstsein anlagern kann. Da gehört es aber nicht rein. Weil durch Erziehung und Erleben Verurteilung und Kritik von den Eltern zu den Kindern weitergegeben werden, es ist uns zur ständigen Gewohnheit geworden. Doch Gewohnheiten kann man sich auch abgewöhnen. Den Menschen, allen Menschen kann man es nicht recht machen, das ist völlig hoffnungslos, das ging sogar Jesus so, und der ist der menschgewordene Gott; siehe auch Matthäus 11 (Lutherbibel 1984): 6 Mit wem soll ich aber dieses Geschlecht vergleichen? Es gleicht den Kindern, die auf dem Markt sitzen und rufen den andern zu: 17 Wir haben euch aufgespielt und ihr wolltet nicht tanzen; wir haben Klagelieder gesungen und ihr wolltet nicht weinen. 18 Johannes ist gekommen, aß nicht und trank nicht; so sagen sie: Er ist besessen.19 Der Menschensohn ist gekommen, isst und trinkt; so sagen sie: Siehe, was ist dieser Mensch für ein Fresser und Weinsäufer, ein Freund der Zöllner und Sünder! Und doch ist die Weisheit gerechtfertigt worden aus ihren Werken. Nie kann man es allen recht machen! Wer es versucht, wird daran verzweifeln. Kann man es überhaupt jemandem recht machen? Immer wird jemand ein Haar in der Suppe fin- Im Antlitz der Liebe - 215 - © Gabriele Sych den. Genau das ist die Frucht vom Baum der Beurteilung von Gut und Böse: Die Annahme des Bösen, dass das Haar in der Suppe etwas Böses ist. Und der Höhepunkt der Erbsünde war die Verurteilung von Gott selbst in Jesus Christus und seine Kreuzigung. Hier wurde die Beurteilung durch Menschen tatsächlich vollends ad absurdum geführt, in das Verrückteste, was kommen konnte. Gott ist zu uns auf die Erde gekommen, hat die Menschen geliebt, geheilt und gelehrt von der Liebe als Ausgangspunkt aller Perspektiven. Und wir wissen es nicht besser, als ihn zum Tode zu verurteilen und auf barbarische Weise umzubringen! Weil er sich nicht an irgendwelche unserer Regeln hält?! Da zeigt sich doch, wie wir ohne Sinn, Verstand und Herz urteilen! Regeln, ach, davon haben wir weiterhin mehr als genug…Jesus sagt das auch sehr deutlich in Johannes 15 (Hoffnung für alle): 24 Wenn ich nicht vor aller Augen Gottes Wunder vollbracht hätte, die kein anderer tun kann, wären sie ohne Schuld. Aber nun haben sie alles miterlebt, und trotzdem hassen sie mich und auch meinen Vater. 25 Dies geschieht, damit sich die Voraussage der Heiligen Schrift erfüllt: 'Sie hassen mich ohne jeden Grund!' Doch auch hier ist nichts ohne Sinn. Im Höhepunkt der Verurteilung hat sich die Möglichkeit zur Umkehr aufgetan, der Weg zur Besserung, der Weg zur deutlichen Erkenntnis. Damit wir endlich verstehen, dass wir keinen Schimmer haben! Das Böse entsteht, indem wir etwas dazu machen! Auch das Absurdeste enthält die Chance zum Heil. Der Tod Jesu führte zum Leben, zur Auferstehung. Aus dem Tod entsprang der Quell des Heils für die gesamte Menschheit. Ergreifen wir diese Chance! Nochmal, so sieht es im Alltag aus: Nur aus der Beurteilung, unserem Privatfilter „das ist gut und das ist böse“, ergeben sich Gedanken über diese Bosheit – wir basteln unsere „blöde“ Welt selbst58 - und diese Gedanken produzieren Gefühle, z.B. Ärger, Eifersucht, Trauer, Angst. Diese Gedanken und Gefühle sind es, die uns von der Wahrnehmung 58 Und hier erinnere ich gern an die Geschichte mit dem Hammer in dem Buch von Paul Watzlawick „Anleitung zum Unglücklichsein“. Im Antlitz der Liebe - 216 - © Gabriele Sych Seines Willens abhalten, von seiner Führung, so dass wir immer mehr die Illusion entwickeln, wir wären die Herren unseres Lebens, wir könnten / dürften diese Beurteilung abgeben und das Geschehen nicht als Teil seiner Führung ansehen. Und wir wissen ja, zu was für absurden Handlungen wir uns manchmal aus obigen Gefühlen hinreißen lassen… Wie kann es anders sein, als dass Gottes Schöpfung und sein Weg gut ist? Welcher Mensch, welche Handlung gut ist? Wer sind wir, dass wir uns aufschwingen, dies beurteilen zu wollen? Der Regenbogen, die große Brücke zwischen Himmel und Erde, kann nur entstehen, wenn wir Regen und Sonnenschein gleichzeitig haben. Beides ist für uns gut. 1.Mose 9,13 (Lutherbibel 1984): Gott sprach: Meinen Bogen habe ich in die Wolken gesetzt; der soll das Zeichen sein des Bundes zwischen mir und der Erde. Und selbst hier scheiden sich die Geister: Für manche ist Regen himmlisch und Sonne nicht. Und für manche ist Sonne himmlisch und der Regen nicht. Ist die Sonne daher schlecht oder gut, was ist mit dem Regen? Auch ein Gewitter ist eine sinnvolle Sache, es nimmt den Druck der Schwüle, wenn auch viele Angst davor haben. Römer 8 (Lutherbibel 1984) 28 Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen, denen, die nach seinem Ratschluss berufen sind. Eines Tages erlebte ich einen von Kindern und Jugendlichen mitgestalteten Gottesdienst mit, die gerade von der Religiösen Kinderwoche zurückgekommen waren. Die Kinder hatten dort den Psalm 23 „Vom Guten Hirten“ besprochen. Sie hatten dann im Gottesdienst die Zeit, immer wieder Worte und Sätze aus dem Psalm zu sprechen. Da saß ich nun im Gottesdienst und hörte die hellen Kinderstimmen rufen: „Er gibt mir neue Kraft.“ „Nichts wird mir fehlen.“ „Du beschützt mich.“ „Du gibst mir mehr als genug.“ „Er gibt mir neue Kraft.“ „Und geht es auch durch dunkle Täler, fürchte ich mich nicht.“ „Er leitet mich auf sicheren Wegen.“ „Nichts wird mir fehlen.“ „Er führt mich zu frischen Quellen.“ „Du Herr bist bei mir.“ „Er gibt mir neue Kraft.“ „In deinem Haus darf ich für immer bleiben.“ „Ich fürchte mich nicht, denn du bist bei mir.“ „Du beschützt mich.“ „Deine Güte und Liebe werden mich begleiten mein Leben lang.“ „Er führt mich zu frischen Quellen.“ „Du beschützt mich mit deinem Hirtenstab.“ „Er weidet mich auf saftigen Wiesen.“ Da wurde mir klar: wenn wir als Kinder lernen Im Antlitz der Liebe - 217 - © Gabriele Sych können, im ständigen Bewusstsein dieses Psalms zu leben, dann können wir so früh lernen, alles für gut zu halten, auch wenn es mal durch dunklere Täler geht. So können wir die Erbsünde hinter uns lassen. Psalm 23: Der gute Hirte (Bibelübersetzung Hoffnung für alle) 1 Ein Lied Davids: Der Herr ist mein Hirte. Nichts wird mir fehlen. 2 Er weidet mich auf saftigen Wiesen und führt mich zu frischen Quellen. 3 Er gibt mir neue Kraft. Er leitet mich auf sicheren Wegen, weil er der gute Hirte ist. 4 Und geht es auch durch dunkle Täler, fürchte ich mich nicht, denn du, Herr, bist bei mir. Du beschützt mich mit deinem Hirtenstab. 5 Du lädst mich ein und deckst mir den Tisch vor den Augen meiner Feinde. Du begrüßt mich wie ein Hausherr seinen Gast und gibst mir mehr als genug. 6 Deine Güte und Liebe werden mich begleiten mein Leben lang; in deinem Haus darf ich für immer bleiben. Und für uns Erwachsene, die wir noch ohne dieses Bewusstsein sind, finden wir diesen Ratschlag Jesu zur Güte: Lukas 6 (Lutherbibel 1984): 36 Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. 37 Und richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Vergebt, so wird euch vergeben. 38 Gebt, so wird euch gegeben. Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben; denn eben mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch wieder messen. … 41 Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und den Balken in deinem Auge nimmst du nicht wahr? 42 Wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt still, Bruder, ich will den Splitter aus deinem Auge ziehen, und du siehst selbst nicht den Balken in deinem Auge? Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge und sieh dann zu, dass du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehst! Und wenn ich erstmal den Balken aus meinem eigenen Auge gezogen habe, dann finde ich in der Regel den Splitter im Auge des anderen nicht mehr, sondern nur noch sein Wunderbarsein, sein wunderbares Sein. Und ist der Splitter noch da, haben wir ein Feld zum Handeln gefunden, das unser bedarf. Unser Gefühlshaushalt ist auch unser Messgerät. Schaute ich auf das, was ich als unangenehm, störend empfand: BINGO! Ich entdeckte bei näherer Betrachtung wahrscheinlich hiervon etwas direkt bei MIR, meine eigenen Balken: Im Antlitz der Liebe ♥ - 218 - © Gabriele Sych Geiz, Habgier, Existenzangst, Verlassensangst, Angst vor Mangel, Mangel an Glaube und Vertrauen ♥ Selbsterhöhung oder Erhöhung einer anderen Person, Stolz, Übermut, Eitelkeit, Ruhmsucht, Angst vor Imageverlust, Kontrollverhalten ♥ Genusssucht, Maßlosigkeit, Unmäßigkeit, Selbstsucht ♥ Zorn, Wut, Vergeltung, Rechthaberei, Rache, Bitterkeit, Hadern mit dem Schicksal ♥ Neid, Missgunst, Eifersucht, Angst ♥ Trägheit, Faulheit, Feigheit, Ignoranz, Lieblosigkeit, Gleichgültigkeit Es wurde mir immer wieder und intensiver klar, das man zuerst sein eigenes Herz ansehen kann, bevor man auf eine andere Person sauer ist und/oder sie lieblos behandelt. Alles, was uns im Außen trifft, berührt, hat seine Ursache im Innern – dem Feld, was ganz uns gehört, das wir wirklich gemeinsam mit Gott bestellen können und dessen Fruchtgüte wir selbst mitbestimmen können, wo wir anpacken können und tatsächlich zuständig sind. Markus 12 (Lutherbibel 1984): Die Frage nach dem höchsten Gebot 28 Und es trat zu ihm einer von den Schriftgelehrten, der ihnen zugehört hatte, wie sie miteinander stritten. Und als er sah, dass er ihnen gut geantwortet hatte, fragte er ihn: Welches ist das höchste Gebot von allen? 29 Jesus aber antwortete ihm: Das höchste Gebot ist das: »Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, 30 und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt1 und von allen deinen Kräften« (5.Mose 6,4-5). 31 Das andre ist dies: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« (3.Mose 19,18). Es ist kein anderes Gebot größer als diese. 32 Und der Schriftgelehrte sprach zu ihm: Meister, du hast wahrhaftig recht geredet! Er ist nur "einer," und ist kein anderer außer ihm; 33 und ihn lieben von ganzem Herzen, von ganzem Gemüt und von allen Kräften, und seinen Nächsten lieben wie sich selbst, das ist mehr als alle Brandopfer und Schlachtopfer. 34 Als Jesus aber sah, dass er verständig antwortete, sprach er zu ihm: Du bist nicht fern vom Reich Gottes. Und niemand wagte mehr, ihn zu fragen. In ganz einfachem Deutsch: ♥ Nimm die Welt an und schätze sie, so wie sie ist. Halte sie für gut. Im Antlitz der Liebe - 219 - © Gabriele Sych ♥ Nimm Deinen Nächsten an und schätze ihn, so wie er ist. Halte ihn für gut. Vertraue in seine Güte. ♥ Nimm Dich selbst an und schätze Dich, so wie Du bist. Halte Dich für gut. ♥ Denn alles ist von Gott geschaffen. Alle Gebote werden obsolet, wenn ich dies beachte und lebe, denn warum sollte ich lügen, töten etc., wenn ich alles für gut halte. Warum sollte ich dann meine Eltern schlecht behandeln, wenn alles gut ist, dann begleiten wir einander ein Leben lang in Liebe. Kinder kommen so auf die Welt, sie lieben ihre Eltern einfach automatisch, egal, wie sie behandelt werden. Erst zu einem späteren Zeitpunkt im Leben, wenn sie die Gewohnheit der Beurteilung übernommen haben, dann wenden sie sich manchmal gegen sie. Genauso steht es mit der Lüge. Was sollte ich verbergen oder verändern oder anders darstellen wollen, wenn ich alles in Liebe und Dankbarkeit annehme? Warum sollten Kriege geführt, andere Menschen überhaupt angegriffen oder getötet werden? (Das erschließt sich mir allerdings sowieso bis heute nicht.) Es gäbe keine Veranlassung dafür. Ein gewaltfreier Weg ist immer möglich! Lukas 6 (Lutherbibel 1984): 27 Aber ich sage euch, die ihr zuhört: Liebt eure Feinde; tut wohl denen, die euch hassen; 28 segnet, die euch verfluchen; bittet für die, die euch beleidigen. 29 Und wer dich auf die eine Backe schlägt, dem biete die andere auch dar; und wer dir den Mantel nimmt, dem verweigere auch den Rock nicht.30 Wer dich bittet, dem gib; und wer dir das Deine nimmt, von dem fordere es nicht zurück. 31 Und wie ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, so tut ihnen auch! Wenn einer uns im Affekt schlägt, d.h. auf die erste Wange, so ist der zweite Schlag, den wir ihm sodann anbieten, immer einer, den er bewusst ausführen muss. Ob er dann ein zweites Mal zuschlägt, ist wesentlich unwahrscheinlicher. Im Antlitz der Liebe - 220 - © Gabriele Sych Warum sollte ich neidisch sein oder anderen Menschen etwas wegnehmen wollen, wenn ich mit meinem Zustand zufrieden bin und – wenn ich selbst arm bin und etwas brauche, was ich nicht habe – andere mir barmherzig zur Seite stehen? So sah es auch der Apostel Paulus in Galater 3 (Hoffnung für alle): 19 Was aber soll dann noch das Gesetz? Gott hat es zusätzlich gegeben, damit wir das Ausmaß unserer Sünden erkennen. Dieses Gesetz - von den Engeln durch den Vermittler Mose zu uns gebracht - sollte auch nur so lange gelten, bis der Nachkomme Abrahams da wäre, an dem Gott sein Versprechen erfüllen wollte. Wer das noch nicht kann, der hat alle Chance der Welt. Einfach Schritt für Schritt bei sich selbst anfangen. Am einfachsten ist es, die Hand auf’s Herz zu legen und genau jetzt sich Liebe im Herzen durch Jesus Christus zu wünschen. Das Böse ist einfach eine Illusion, ein geistiger Virus, und diese Illusionen wecken als erstes unsere emotionalen Erinnerungen / vergangene, unvergebene Sündenfälle. Diese entzünden dann unsere Gedanken, daran entzünden sich unsere Gefühle und daran irgendwann unser Körper. Das ist wie bei einem Computervirus. Ist der Virus erst mal da, dann ist irgendwann die ganze Festplatte korrupt, digitaler Müll bei 100 % Prozessorauslastung. Nix geht mehr. Menschlich gesehen: Wirre Gedanken, die sich im Kreise drehen, der Kopf zum Bersten voll, geistige Erschöpfung, Stagnation. Und genau durch Glaube, gepaart mit Liebe und Annahme verschwindet das Böse aus der Welt, durch den Anteil daran, den wir selbst tun können, indem wir erkennen können, dass es entweder gar nicht böse ist, oder wir einen deutlichen Handlungsappell vor uns sehen. Hierfür können wir Verantwortung übernehmen, hier können wir diesem Appell folgen und handeln, das scheint mir unsere Aufgabe! Glaube an das Gute ist das wirksamste Antivirusprogramm. Es ist der einzige Ansatz, der unserer Macht ohne Machtausübung zugänglich ist. Auch der Apostel Paulus hält dafür ein schönes Beispiel bereit im Römerbrief 11 (Lutherbibel 1984), wo er vom Volk Israel als dem möglichen Anderen spricht, dem man Schuld zuweisen möchte: Im Antlitz der Liebe - 221 - © Gabriele Sych 11 So frage ich nun: Sind sie gestrauchelt, damit sie fallen? Das sei ferne! Sondern durch ihren Fall ist den Heiden das Heil widerfahren, damit Israel ihnen nacheifern sollte. 12 Wenn aber schon ihr Fall Reichtum für die Welt ist und ihr Schade Reichtum für die Heiden, wie viel mehr wird es Reichtum sein, wenn ihre Zahl voll wird. 13 Euch Heiden aber sage ich: Weil ich Apostel der Heiden bin, preise ich mein Amt, 14 ob ich vielleicht meine Stammverwandten zum Nacheifern reizen und einige von ihnen retten könnte. 15 Denn wenn ihre Verwerfung die Versöhnung der Welt ist, was wird ihre Annahme anderes sein als Leben aus den Toten! 16 Ist die Erstlingsgabe vom Teig heilig, so ist auch der ganze Teig heilig; und wenn die Wurzel heilig ist, so sind auch die Zweige heilig. Ändern wir uns zuerst, das haben wir in der Hand, fangen wir bei uns an. Formatieren wir uns selber neu! Die Veränderung des Nächsten sich zum Ziele nehmen59 ist meist hoffnungslos und zudem dessen eigene Aufgabe unter Gottes Führung. Ein weiteres Beispiel für die unnötige Neukreation von Bosheit in der Welt ist die Unterteilung der Menschen in Freunde und Feinde: Matthäus 5 (Lutherbibel 1984): Von der Feindesliebe 43 Ihr habt gehört, dass gesagt ist: »Du sollst deinen Nächsten lieben« (3.Mose 19,18) und deinen Feind hassen. 44 Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen2, 45 damit ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. 46 Denn wenn ihr liebt, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner? 47 Und wenn ihr nur zu euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr Besonderes? Tun nicht dasselbe auch die Heiden? In den Psalmen erschrecken mich – ehrlich gesagt - immer die vielen Erwähnungen und Verwünschungen der Frevler und Feinde. Dazu stehen die Aussagen Jesu in krassem Widerspruch. Der Gerechte wächst an seinen „Feinden“, an denen, die ihm Widerstand bieten, und das müssen nicht nur Feinde sein. Sie sind auch Engel, ungeflügelte Boten Gottes. 59 Ein solches Verhalten hält man inzwischen sogar für eine eigene Krankheit und sie hat inzwischen sogar einen Namen,: „Co-Abhängigkeit“, (siehe z.B. das Buch „Co-Abhängigkeit“ von Anne Schaef Wilson) Im Antlitz der Liebe - 222 - © Gabriele Sych Die spanische christliche Mystikerin Theresa von Àvila sagte dazu in ihrem Buch Seelenburg: „Denn ob wir Gott lieben, kann man nicht wissen, wenn es auch spürbare Anzeichen dafür gibt. Aber die Liebe zum Nächsten ist erkennbar. Und glaubt mir: je weiter ihr euch in dieser fortschreiten seht, umso größer ist eure Liebe zu Gott.“ Und dafür ist uns ein jeder gesandt, der unseren Weg kreuzt bzw. niemand ist uns nicht gesandt. Wer uns entzündet, ist in der Regel da, um uns zu heilen. Johannes 13 (Lutherbibel 1984) 20 Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer jemanden aufnimmt, den ich senden werde, der nimmt mich auf; wer aber mich aufnimmt, der nimmt den auf, der mich gesandt hat. Freuen wir uns also auf den nächsten Ärger, auf die nächste Sorge, auf die nächste Bitterkeit. Das legt uns die nächste Chance zu Füßen, die Liebe in uns zu vergrößern und das Unkraut unserer Illusion zu erkennen, kaltzustellen oder auszujäten, unser Antivirusprogramm laufen zu lassen. Einfach sagen: „Lieber Gedanke, du bist zwar da, doch ich glaube dir nicht. Raus, und mach die Tür von außen zu !“ oder moderner „Ab, isoliert in den File Sanitizer und dann schnell gelöscht!“ Auch dies ist ein Teil des Kreuzes, das wir auf uns nehmen. Das ist zum Teil mit der Verleugnung gemeint. Ich leugne die Realität meiner selbsterfundenen Geschichten. Lukas 9 (Lutherbibel 1984) 23 Da sprach er zu ihnen allen: Wer mir folgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich täglich und folge mir nach. Es geht darum, diesen Erinnerungen, Ängsten, Einflüsterungen, Geistesviren nicht zu trauen und eine klare Absage zu erteilen, sie zu isolieren und zu löschen. Verbeißen wir uns nicht in diese Gedanken, damit aus diesen Gedanken keine Missstimmungen erwachsen. Solche Missstimmung und solche Gedanken würden unseren Körper nur weiter schwächen. Sagen wir uns: „Ich weiß, ich habe einmal so gefühlt, doch damals wusste ich es noch nicht besser oder ich hatte es wieder vergessen. Und heute erinnere ich mich wieder daran und jetzt kann ich es ja verdauen und dann halte ich mein Herz und meinen Geist frei und unbeschwert.“ Halten wir das große Stoppschild namens Im Antlitz der Liebe - 223 - © Gabriele Sych Glaube an das Gute in uns hoch, aktivieren wir unser geistiges Antivirusprogramm, damit die Wucht der Illusion des Bösen daran abprallt! Genießen wir Seine Heilung! Glauben wir! Bleiben wir in der Liebe! Damit erweist sich der christliche Glaube eine absolut schlechtwettertaugliche Lebensform. Wenn wir jede Wendung des Schicksals als eine Chance erkennen, in der Liebe zu wachsen, unser Herz zu weiten, so sind in der Rückschau oft die vermeintlichen „Schlechtwetterphasen“ des Lebens die, die uns dazu bringen, wahre Liebe und Lebendigkeit in uns zu ermöglichen. Über vier Jahre in meiner Ehe litt ich unter unerfülltem Kinderwunsch. Ich wusste nicht, wieso ich kein Kind bekam, glaubte an Karma und damit daran, dass ich in irgendeinem anderen Leben irgendetwas Schreckliches gemacht haben musste, um in diesem Leben kein Kind zu haben. Ich weiß nicht, wer sich außer den Betroffenen das vorstellen kann: jeden Monat eine tiefe persönliche Niederlage zu erleiden, wieder den Lebenstraum nicht erfüllt zu bekommen. Jeden Monat irgendwann zu spüren, dass es doch nicht geklappt hat, ein dauerhaftes Leben in der Erwartung, das eigene Leben umzukrempeln. Mein Leben fühlte sich an, als ob ich auf einem Bahnhof war, und der Zug kommt nicht und keiner weiß, wann er kommt. Ob er überhaupt kommt? Als ich dann endlich schwanger war, war ich – selbst nach westdeutschen Maßstäben – mit knapp 35 Spätgebärende. Trotzdem ließ ich keine vorgeburtliche Diagnostik machen. Ich wollte einfach nehmen, was kommt. Lieben, was das Kind ist, wie das Kind ist, gesund oder krank, in guten wie in schlechten Tagen. Eltern und Kinder, das können wir uns nicht aussuchen. Bei den Kindern sind wir zwar beteiligt, sie zu schaffen, doch der Herr über Leben und Tod ist Gott. Nur er! Es gibt keine Garantie. Nur Güte… Wie bedeutsam dies war und eine späte Dankbarkeit erfuhr ich später durch den Konflikt einer Frau, die durch vorgeburtliche Diagnostik von der schweren Krankheit des in ihr lebendigen Kindes hörte. Sie durchstand einen furchtbaren Kampf in sich, ob sie sich auf das Kind einlassen könnte, wollte, ob sie dem Kind ein solches Leben zumuten sollte oder nicht. Sie entbehrte der ganzen Freude, die eine Schwangerschaft bedeutet. Sie hatte es sich anders vorgestellt, vielleicht wie etwa den schönen Kleinmädchentraum des Vater-Mutter-Kind-Spiels. Da sie nicht gläubig war, war ihr nicht bewusst, dass die Entscheidung gar nicht bei ihr liegt. Exkurs: Doch wo setze man das Maß an: wann ist Leben lebenswert? Für mich ist der Physiker Steven Hawking immer ein Beispiel. Ein zweites ist der ohne Arme und Beine geborene Australier Nick Im Antlitz der Liebe - 224 - © Gabriele Sych Vujicic60, der mit all seinen Einschränkungen glücklich lebt, Sinn in seinem Leben hat, tief in Gott verankert ist, sogar für andere sorgt statt nur versorgt zu werden. Sind ihre Leben lebenswert? Ganz bestimmt! Viele Kinder, die ungeboren geblieben sind, hätten weit weniger Einschränkungen gehabt. In der Liebe wachsen: Welche besondere Chance hat man mit einem kranken Kind? Wie viel mehr Hingabe ist für ein solches Kind notwendig? Um wie viel intensiver kann man die Liebe erleben, wenn man auch immer wieder Todesängste um das Kind aussteht? Wie viel wertvoller erscheint das Kind dann, und wie viel wertvoller erscheint dann das Leben, auch das eigene Leben? Auch Menschen mit Nahtoderfahrungen schätzen in der Regel ihr Leben auf ganz neue und intensive Weise. Sicher, wir bitten in der Regel nicht darum, eine solche Erfahrung zu machen und ich wünsche sie auch keinem. Doch einigen von uns wird sie gegeben, damit wir ihr Wunder erleben können: den Weg zur Liebe gehen können, wenn wir nicht mit unserem Schicksal hadern, sondern es willig annehmen. Es sind doch solche Zeiten, die unsere Weisheit, unsere Herzensbildung, unsere Geduld und Langmut, unser Vertrauen, unsere Zuversicht und unseren Glauben61 wachsen lassen. Wo kann sich ein Glaube erweisen, der nicht in der Realität geprüft ist? Wo kann er über das Lippenbekenntnis hinausgehen? Nur im wahren Leben! Und so ist es mit allem vermeintlichen Leid, das in unserem Leben ankommt. Wenn wir immer vorher wüsssten, was auf uns zukommt, immer wählen könnten, würden viele heilende Wege, die sich uns einfach so unter die Füße schieben, für immer ungegangen bleiben. In Finisterra begegneten wir beim Bäcker Don Giovanni, einem Künstler aus Österreich. Ihn faszinierte Santiagos Flöte, er wollte unbedingt Aufnahmen von ihm machen. So verabredeten wir uns kurz unserer Abfahrt an der Bushaltestelle. Don Giovanni schenkte uns anschließend eine handbemalte Streichholzschachtel und eine ebensolche Wäscheklammer, auf der die Webadresse www.wolfgangsweg.de stand. Dort kann man die Werke von Don Giovanni bewundern. Ich fand ein Gedicht, das mein Verständnis unterstreicht. Die Wäscheklammer fiel mir wieder ein, ein paar Tage, bevor ich dieses schrieb. Hier ist es: Ich bat um Stärke 60 Einfach mal den Namen bei www.youtube.com eingeben und sich bezaubern lassen! 61 Auch dies Gaben des Heiligen Geistes Im Antlitz der Liebe - 225 - © Gabriele Sych Ich bat um Stärke, aber er machte mich schwach, damit ich Bescheidenheit und Demut lernte. Ich erbat seine Hilfe, um große Taten zu vollbringen, aber er machte mich kleinmütig, damit ich gute Taten vollbrächte. Ich bat um Reichtum, um glücklich zu werden. Er machte mich arm, damit ich weise würde. Ich bat um alle Dinge, damit ich das Leben genießen könne. Er gab mir das Leben, damit ich alle Dinge genießen könne. Ich erhielt nichts von dem, was ich erbat – Aber alles, was gut für mich war. Gegen mich selbst wurden meine Gebete erhört. Ich bin unter allen Menschen ein gesegneter Mensch. (Unbekannter Soldat) Betrachten wir einige der wahren menschlichen Größen unserer Zeit und ihren Lebensweg: Nelson Mandela war 27 Jahre als politischer Gefangener in Haft. Die Zeit hat ihn nicht gebrochen, sondern hat ihn wachsen lassen, so dass er später als Präsident von Südafrika einen friedlichen Übergang zur Abschaffung der Apartheit einleiten konnte. Mahatma Gandhi verbrachte insgesamt 8 Jahre seines Lebens im Gefängnis. Er bestand auf dem gewaltfreien Weg in die Unabhängigkeit seines Landes. Albert Schweitzer war 19717 – 1918 in Frankreich interniert. In dieser Zeit arbeitete er an seinem Werk „Ehrfurcht vor dem Leben“. Der Psychiater und Psychotherapeut Victor Frankl war in Theresienstadt, Ausschwitz und Türkheim interniert. Aus seinen Erfahrungen dort entwickelte er die Logotherapie und Existenzanalyse, eine psychotherapeutische Methode, die über die Sinnfindung im Leben von Depression und Suizidalität befreit. Er prägte den Satz „Sinn kann nicht gegeben, sondern muss gefunden werden.“ Sie alle haben Leid, Angst und Härte, Zeiten der Machtlosigkeit und absoluten Einschränkung erlebt in ihrem Leben, Wüste. Sie sind daran gewachsen, haben in der Im Antlitz der Liebe - 226 - © Gabriele Sych Annahme ihres Schicksals ein Herz voller Liebe, Angstlosigkeit (Glaube) und Handlungskraft (Hoffnung) gewonnen. Denn Schlimmes hatten sie schon erlebt, es hat sie nicht gebrochen. Paulo Coelho, der Mann, der mich mit seinem Buch auf den Jakobsweg gelockt hat, bringt in seinem Buch „Die Hexe von Portobello“ ein Gleichnis aus einer Schmiede, was dies verdeutlicht. Er beschreibt, dass die Schmiedestücke durch harte Schläge geformt, durch Feuershitze und kaltes Wasser strapaziert werden. Eisen, was nicht taugt und daran zerbirst und untauglich wird, das landet auf dem Haufen für Alteisen, unbrauchbar für die Zukunft. Nur was nicht zerbricht, erhält als Werkzeug, als Werkstück überzeitliche Dauer. Und so bittet der Schreiber darum, eben nicht auf dem Haufen von Alteisen zu landen, sondern durch die Schläge des allmächtigen Schmiedes, die Schicksalsschläge, durch Hitze und Kälte der Schlechtwetterperioden des Lebens als Werkzeug Gottes tauglich zu werden, innerlich fest zu werden und Halt bieten zu können. Dieser Bitte konnte ich mich anschließen. Jesus Sirach 2 (Einheitsübersetzung): 4 Nimm alles an, was über dich kommen mag, halt aus in vielfacher Bedrängnis! 5 Denn im Feuer wird das Gold geprüft und jeder, der Gott gefällt, im Schmelzofen der Bedrängnis. Weisheit 3,5 (Einheitsübersetzung): Denn Gott hat sie geprüft und fand sie seiner würdig. 6 Wie Gold im Schmelzofen hat er sie erprobt und sie angenommen als ein vollgültiges Opfer. Ein weiteres Bild schenkten uns gemeinsam der heilige Augustinus und Papst Benedikt XVI. aus der Enzyklika Spe Salvi, Papst Benedikt XVI Nr. 32 - 34: „Der Mensch ist zum Großen geschaffen – für Gott selbst, für das Erfülltwerden von ihm. Aber sein Herz ist zu eng für das Große, das ihm zugedacht ist. Es muß geweitet werden. 'Indem Gott die Gabe [seiner selbst] aufschiebt, verstärkt er unser Verlangen; durch das Verlangen weitet er unser Inneres; indem er es ausweitet, macht er es aufnahmefähiger [für ihn selbst].' Augustinus verweist auf den heiligen Paulus, der von sich sagt, daß er ausgestreckt auf das Kommende hin lebe (vgl. Phil 3, 13), und gebraucht dann ein sehr schönes Bild, um diesen Vorgang der Weitung und Bereitung des menschlichen Herzens zu beschreiben. Im Antlitz der Liebe - 227 - © Gabriele Sych 'Stell dir vor, Gott will dich mit Honig [Bild für die Zärtlichkeit Gottes und seine Güte] anfüllen. Wenn du aber ganz mit Essig angefüllt bist, wohin willst du den Honig tun?' Das Gefäß, d.h. das Herz, muss zuerst ausgeweitet und dann gereinigt werden: vom Essig und vom Essiggeschmack befreit werden. Das kostet Arbeit, das kostet Schmerz, aber nur so entsteht die Eignung für das, wozu wir bestimmt sind.[26] Und das ist das zugehörige Bibelzitat von Paulus aus dem Brief an die Philipper 3 (Neue Genfer Übersetzung): „13 Geschwister, ich bilde mir nicht ein, das Ziel schon erreicht zu haben. Eins aber tue ich: Ich lasse das, was hinter mir liegt, bewusst zurück, konzentriere mich völlig auf das, was vor mir liegt. Als wir pilgerten, da hatten wir den Weg vor uns und alle anderen Gegebenheiten des Weges. Wir konnten nur vorwärts gehen, egal ob Regen oder Hitze, Matsch oder Pfützen, Stock und Stein, Aufstieg oder Abstieg, Wege ohne jeglichen Schatten vor der spanischen Sonne in der Meseta, Trockenheit und Regentage, die laute Landstraße, stinkende Industriegebiete, graue Vorstadt, Wald, Feld und Wiesen. Der Weg geht immer vorwärts. Es ist ein Weg, wo wir nicht äußerlich, sondern nur innerlich wählen können. Wir können nämlich wählen, mit welcher Gesinnung wir den Weg annehmen. In Dankbarkeit, Neugier, Sinnvermutung und Gleichmut, als Gabe Gottes, oder in Lustlosigkeit, mit innerem Gemecker oder Gehader über alles, was nicht schön oder leicht ist, mit Widerstand. Mit letzterem verdoppeln wir das Gewicht, das wir tragen, der Weg ändert sich dadurch nicht. Auf dem Camino würde die Nichtannahme des Weges bedeuten, dass wir in die falsche Richtung laufen. Wir müssen dann wieder bis zum Weg, bis zum letzten Pfeil, an den wir uns erinnern, zurückgehen. Oder dass wir einfach stehen bleiben. Wie oft im Leben treffen wir diese, auf dem Weg so unsinnige Wahl? Als wir aus Burgos herauspilgerten, fragte mich Santiago, welches meine Lebenseinstellung ist: der Weg des Pilgers, der nimmt, was kommt, oder der Weg des Alchimisten, der versucht, die Natur des Gegebenen zu verändern? Ich habe den Weg des Pilgers gewählt. Und welchen Weg wählst Du? Wenn wir uns jeder als Teil von Gottes Organismus betrachten, als Zelle seines Körpers: Zu was kann es führen, wenn jeder sich als Einzelwesen sieht mit eigenen Zielen, mit dem Ziel, für sich selbst Reichtum und Fülle zu schaffen, ohne Bedenken des Ganzen? Im Körper nennt sich diese Krankheit Krebs: „Krebs ist im allgemeinen Sprachgebrauch Im Antlitz der Liebe - 228 - © Gabriele Sych ein Sammelbegriff für eine Vielzahl verwandter Krankheiten, bei denen Körperzellen unkontrolliert wachsen, sich teilen und gesundes Gewebe verdrängen und zerstören können. (Wikipedia.de)“. Was passiert, wenn eine Zelle im Körper mit einer anderen in Konflikt gerät? Und macht das Sinn? Nein, ein Organismus funktioniert, wenn jede Zelle des Körpers die andere als Partner in ihrer Verschiedenartigkeit und unterschiedlichen Funktion akzeptiert und anerkennt und mit ihr kooperiert; wenn sie sich in das Gesamte, in die Einheit einfügt; wenn die Leberzelle akzeptiert, dass sie eine Leberzelle ist und keine Haut- oder Gehirnzelle. 2.1.2.3 Nimm nicht, sondern nimm an! Eines Tages, beim Überarbeiten dieses Kapitels bekam ich ein Gleichnis gezeigt. Ich erhielt die Vision eines Weinstockes mit folgenden Worten: An diesem Weinstock sind Reben mit Trauben. Alle diese Trauben reifen zu ihrer eigenen Zeit. Wenn du nun eine Traube isst, die nicht reif ist, dann erscheint sie dir sauer, vielleicht bekommst du sogar Bauchschmerzen davon. Gib nicht der Traube die schuld, dass sie sauer und ungenießbar ist, sie kann nichts dafür, dass du sie zu früh ernten willst. Wenn du die Traube isst, wenn sie reif ist, dann ist sie süß und voller Geschmack, sie macht dich gesund. Die rechte Zeit der Ernte, die rechte Zeit des Betrachtens des Geschehens deines Lebens erlöst dich von der Beurteilung, denn du wirst nicht beurteilen, sondern plötzlich wissen. Wenn du mitten in einer Situation stehst, dann nützt es nichts, die Erfahrung daraus auszuwerten, der Reifeprozess ist noch mitten im Gange, das Keltern der Erfahrung ergibt dann einen sauren Wein, Sauersein. Kannst du vertrauen, dass schon alles gut ist und abwarten, dann wird die Antwort automatisch irgendwann in deinem Herzen erscheinen und die Freude ist da. Und solange deine Beurteilung noch zu einem „sauren“ Ergebnis kommt, dann gehe davon aus, dass die Traube noch nicht reif ist. Warte mit der Ernte, mit dem Keltern. Atme tief durch und sage dir, „ich sag/denk jetzt einfach mal nichts, sondern warte eben mal ab, denn es fehlt wohl einfach nur noch ein wenig Zeit, Sonne und Regen!“ – das Leben sich entfalten lassen… Die Trauben zu früh pflücken, d.h. die Dinge erzwingen, kontrollieren oder erkaufen, Kredite aufnehmen für etwas, wofür wir noch nicht reif sind, unausgegorene Wünsche, Im Antlitz der Liebe - 229 - © Gabriele Sych enttäuschte Erwartungen, jemand macht nicht, was wir wollen: das sind die sauren Trauben des Lebens. Ende September, es sind wunderschöne Altweibersommertage, sind wir auf dem Spanischen Camino Portugués unterwegs. Kurz hinter der alten römischen Brücke Ponte Sampaio bekommen wir, als Pilger erkannt, direkt aus dem Kofferraum frisch von der Ernte eine ganze Einkaufstüte voller Weintrauben geschenkt, rote und weiße, so vier bis fünf Kilo. Auch am nächsten Tag ruft uns eine Frau zu sich ans Gartentor. Sie erntet gerade die Trauben ihres Weinstocks, der ein grünes Sonnendach über ihrem Garten bildet. Auch sie schenkt uns einen ganzen Eimer voller Weintrauben. Und diese privaten Weintrauben sind natürlich ungespritzt, gewaschen hat man sie uns trotzdem Es sind die süßesten, aromatischsten Trauben – sie hatten einen intensiven Muskatellergeschmack - die wir je in unserem Leben genießen durften. Keine der Trauben, die wir unterwegs gepflückt hatten – selbst in Rioja und im Bierzo – hat uns so gut geschmeckt wie die reifen, geschenkten Trauben. Wir bekamen in diesem Moment eine Menge Vitamine und Ballaststoffe auf unserer bisher sehr kargen Reise, neue Kraft und die wahre Süße des Lebens für unseren neuen Wegabschnitt. Was für dich ist, das nimm zu dem Zeitpunkt, wo es von selbst zu dir kommt, was man dir freiwillig und von Herzen schenkt. Das ist, was für uns reif geworden ist, wofür wir reif geworden sind. Und genau so möchte Gott unsere Liebe und unseren Glauben. So möchte er, dass wir alles tun und behandeln. Freiwillig, nicht aus Angst oder Zwang oder Kontrolle oder Druck oder Manipulation oder Androhung oder Vertrag oder ein Mittel, um etwas anderes zu erreichen. Druck erzeugt zu häufig Gegendruck. Glaube, Leben und Liebe, das sind keine Verhaftung, keine Pflicht, kein Kompromiss und kein Befehl. Glaube ist am stärksten als Bedürfnis aus Liebe zu Gott, zu allen Menschen, zu dieser Welt. Er kann auf Dich warten. Bis Du von Dir selbst aus zurückliebst. Gottt ist in Jesus Christus auf die machtloseste und kleinstmögliche Art auf die Welt gekommen: Als Säugling, vollständig angewiesen auf die Menschen für sein Überleben. 2.1.2.4 Der einfache Weg Mein Taufspruch heißt: Psalm 37 (Lutherbibel 1984) 5 Befiehl dem HERRN deine Wege und hoffe auf ihn, er wird's wohlmachen Im Antlitz der Liebe - 230 - © Gabriele Sych In der Übersetzung „Gute Nachricht Bibel“ ist es sogar noch deutlicher: 5 Überlass dem Herrn die Führung in deinem Leben; vertrau doch auf ihn, er macht es richtig! Genau so ist es! Sobald man dieses zulässt, fällt das ganze Leben in die Ordnung zurück. Gott zu glauben und vollständig auf ihn zu bauen und zu wissen, dass alles gut ist, dass Er es richtig macht. Das ist damit gemeint, sein Haus auf einen Fels zu bauen. Dann kann jeder Sturm über einen hinweg gehen, denn man weiß ja, dass es gut ist. Kein Sturm bringt einen aus der Bahn, wenn man voller Vertrauen in Gott lebt. Auch im stärksten Sturm kann man jederzeit sagen: „Danke, dass Du es so geschaffen hast“ und dann Frieden mit der Situation schließen. Manchmal weiß man noch nicht, warum. Doch unser Zeithorizont und unsere Perspektive sind ja begrenzt, DAS können wir wirklich wissen. Matthäus 7 (Lutherbibel 1984) 21 Es werden nicht alle, die zu mir sagen: Herr, Herr!, in das Himmelreich kommen, sondern die den Willen tun meines Vaters im Himmel…. 24 Darum, wer diese meine Rede hört und tut sie, der gleicht einem klugen Mann, der sein Haus auf Fels baute. 25 Als nun ein Platzregen fiel und die Wasser kamen und die Winde wehten und stießen an das Haus, fiel es doch nicht ein; denn es war auf Fels gegründet.26 Und wer diese meine Rede hört und tut sie nicht, der gleicht einem törichten Mann, der sein Haus auf Sand baute. 27 Als nun ein Platzregen fiel und die Wasser kamen und die Winde wehten und stießen an das Haus, da fiel es ein und sein Fall war groß Gott ist der Schöpfer und Gott ist das wahre Werk, die Schöpfung. Gott zeigt uns in seinem wahren Werk und mittels seiner Schöpfung von allen möglichen Taten die Folgen auf, damit wir das Heilige verstehen und uns in unserem Leben und in unserem Vorgehen darauf ausrichten können. Und das Heilige liegt im Frieden Gottes, in der Liebe und Barmherzigkeit und in der Lebendigkeit. Daher beten wir im Vaterunser: Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auch auf Erden. Und: Erlöse uns von dem Bösen. Und so geht es einem, wenn man etwas anderes versucht: Prediger 8 (Neues Leben) Im Antlitz der Liebe - 231 - © Gabriele Sych 16 Ich habe versucht, zur Erkenntnis der Weisheit zu gelangen und alles, was auf der Erde geschieht, zu beobachten. Aber selbst wenn sich der Mensch Tag und Nacht keinen Schlaf gönnt, 17 wird er nie alles nachvollziehen können, was Gott auf dieser Erde tut. Wie sehr er sich bemüht, wie sehr er forscht, er wird es nicht ergründen können. Nicht einmal der weiseste Mensch kann es verstehen, selbst, wenn er es behauptet. Eine meiner Klientinnen haderte sehr mit Gott über ihre aktuelle Lebenssituation. Während der Behandlung merkten wir, dass sie in einer selbsterdachten Welt lebte mit der Überschrift: „Ich kann gar nicht glücklich werden“. Wir haben diesen Glaubenssatz und ihr Herz den himmlischen Kräften überantwortet und behandelt und sie – die visuell sehr begabt ist – sah einen riesigen Dämon und eine Gruft, in der sie sich selbst eingesperrt hatte. Am Ende der Behandlung hatte sich die Überschrift gewandelt, sie bekam den Satz geschenkt: „Ich glaube, dass es gut ist“. Eine Einsicht, die in Gottes Reich hineinpasst. Gleichzeitig wandelte sich ihr Gottesbild von einem strafenden Gott von oben, der das Schicksal förmlich in Kübeln über sie ausschüttete, in einen Gott, der seine Hand unter sie hält und sie trägt, in eine wärmende Sonne, auf der sie stehen kann. Den Satz: „Ich glaube, dass es gut ist.“ wird sie nun in ihrem Alltag verankern. 2.1.2.5 Das Leid in der Welt: Was würden wir tun? Bei einem Glaubenskurs wurden wir gefragt: „Was würdest du Jesus fragen, wenn er leibhaftig vor dir stünde?“ Ein Italiener wollte mit ihm einfach nur zusammen sein und Pizza essen gehen62, ein anderer Teilnehmer sagte: „Ich würde ihn fragen: Warum all das Leid in der Welt, die Schmerzen, der Hass, der Hunger, die Armut?“ Ich selbst hatte die Frage nach dem Leid auch schon gestellt. Und das ist die Antwort, die ich erhielt. Es war an einem Punkt in meinem Leben, als sich mein Herz geöffnet hatte und ich das Ausmaß des Leides wahrnahm und den Irrsinn unseres alltäglichen Handelns als völlig abstruse Reaktion darauf wahrnahm. 62 Das mit der Pizza fand ich auch eine schöne Idee, ich selbst, ich würde übrigens gern mit ihm lachen. Ich glaube, er hat einen fantastischen Humor. Manchmal habe ich das Gefühl, dass er mir zu irgendwelchen alltäglichen, aber nach Jesu Lehre absurden Situationen mittendrin Seitenbemerkungen zuflüstert, über dich ich wirklich lachen muss. Im Antlitz der Liebe - 232 - © Gabriele Sych Wenn wir daran zweifeln, dass alles gut ist, wenn wir den Hunger in der 3. Welt sehen, dann ist dies ganz sicher ein Handlungsappell, ein ganz dringlicher. TU WAS! Und zwar für einen fundamentalen Wandel unserer Einstellung und unserer Lebensweise. Und wenn mir jetzt irgendjemand etwas von Karma der dortigen Menschen erzählen möchte, so empfinde ich das als Blindheit, Verdrängung, Verantwortungslosigkeit und eine billige Ausrede. Könnte es nicht auch so sein? Die indischen Hungernden sind Brahmanen aus früheren Leben, die glaubten, es sei das wohlverdiente Karma der Hungernden zu hungern, und die trotz ihres Reichtums diesen Hungernden vor ihrer eigenen Haustür nicht geholfen haben. So sollte uns die Barmherzigkeit mit Dringlichkeit zum Teilen, zu einer gerechten Verteilung der Güter und Ressourcen bewegen. So sollten wir das abgeben, was wir mehr haben als wir brauchen, uns auf das beschränken, was wir brauchen, die dritte Welt nicht ausnehmen, ausplündern63! Wir können uns daran machen, unsere Gesellschaft, die Weltgemeinschaft umzubauen, unser Bewusstsein zu wandeln, erst auf persönlicher Ebene und dann auf gesellschaftlicher, damit wir auch dasselbe trinken, was wir predigen. Und egal, was der Rest der Welt macht, es kommt für uns darauf an, selbst auf dem Weg zu gehen, uns nicht davon abbringen zu lassen. Kein Fragen: „Wieso denn ICH, macht doch auch sonst keiner!“ Eben! Auch hier greift wieder das Sauerteigprinzip. Und er schickt uns als Boten, als Engel Seelen, die sich uns zur Liebesanregung, als Motivator zur Barmherzigkeit zur Verfügung stellen, um uns das immer wieder zu zeigen, um unser Herz zu berühren. Wenn wir das Elend sehen, dann ist doch der erste Gedanke des Herzens: Hier, nimm, nimm auch was, hier ist genug. Dass wir abgeben, sobald wir haben, was wir brauchen, jeden Tag, nicht horten für die Zukunft. Leben aus der Hand in den Mund… Einmal selbst überlegen: Die Güterverteilung in unserer Welt ist zuhöchst unausgeglichen. Mehr darüber in Kapitel 2.1.4 „Sinn von Armut und Fülle“. Wenn uns das klar ist und wir eine großen Menge Menschen daher Barmherzigkeit und Gerechtigkeit im Teilen lehren wollten: Was würden wir tun? Vor allem, was würden wir 63 In der Financial Times Deutschland erschien der Kommentar ihres Chef-Ökonomen Thomas Fricke mit der Überschrift „Exportjunkie, noch ein Schuss“, die Unterüberschrift heißt: „Deutschlands Hardliner kämpfen gegen den Verdacht, das Modell ewig hoher Exportüberschüsse sei gescheitert. Dabei hat dieser Egotrip die globale und hiesige Krise befeuert – und könnte es bald wieder tun!“ Jawohl, klare Worte! Im Antlitz der Liebe - 233 - © Gabriele Sych tun, wenn dabei als einziges Mittel Liebe und Einsicht-Verschaffung einsetzen wollen? Auch wenn wir alle Macht des Himmels und der Erde haben, wir sind nur bereit, den einen Schlüssel zu nutzen: den Weg der Einsicht, den Weg des Ankommens im Herzen, etwas in Liebe, aus Liebe zu tun. Würden wir ihnen nicht auch Bilder von hungernden Kindern zeigen? Würden wir ihnen nicht auch das Elend vor Augen führen, es wahrnehmbar, spürbar machen? Ein offenes Herz kann da nicht einfach wegschauen, ohne Veränderungen angehen zu wollen und Werke zu schaffen. Ein chinesisches Sprichwort heißt: Das Tor zur Barmherzigkeit lässt sich schwer öffnen und noch viel schwerer wieder schließen. Der französische Hirnforscher Jean Decety hat mit seinem Team übrigens festgestellt, dass die Betrachtung von Schmerz ähnliche Gehirnareale aktiviert wie das Wahrnehmen von Schmerzen am eigenen Körper. Wir sind also mit der Fähigkeit zu Mitgefühl, Empathie geschaffen worden, eigentlich eine gute Voraussetzung. Paradoxerweise kommt jedoch häufig Angst und Gier auf, die uns zu diesen ganz anderen Gefühlen verhelfen: Um Gottes Willen, das darf mir selbst nicht passieren! Also brauche ich, muss ich ganz viel Geld verdienen und sparen, damit mir das nicht passiert. Ich muss mein Geld beisammen halten und nicht abgeben! Geht hier unsere Selbstbezogenheit so weit, dass wir über den betrachteten Schmerz gleich so tun, als würde uns dieser Schmerz gerade passieren? Daher die Geschichte des reichen Kornbauern: Lukas 12 (Lutherbibel 1984): Der reiche Kornbauer 16 Und er sagte ihnen ein Gleichnis und sprach: Es war ein reicher Mensch, dessen Feld hatte gut getragen. 17 Und er dachte bei sich selbst und sprach: Was soll ich tun? Ich habe nichts, wohin ich meine Früchte sammle. 18 Und sprach: Das will ich tun: Ich will meine Scheunen abbrechen und größere bauen und will darin sammeln all mein Korn und meine Vorräte 19 und will sagen zu meiner Seele: Liebe Seele, du hast einen großen Vorrat für viele Jahre; habe nun Ruhe, iss, trink und habe guten Mut! 20 Aber Gott sprach zu ihm: Du Narr! Diese Nacht wird man deine Seele von dir fordern; und wem wird dann gehören, was du angehäuft hast? 21 So geht es dem, der sich Schätze sammelt und ist nicht reich bei Gott. Im Antlitz der Liebe - 234 - © Gabriele Sych Nach 2000 Jahren sind diese Gleichnisse immer noch gültig und notwendig. Warum? Weil wir Gottes Reich noch nicht verwirklicht haben. Das Leben ist friedvoll und gesund im festen Glauben an das Gute! Eine andere Frage, die ich sehr häufig höre, ist: Wo ist Gott? Wo ist Gott in meinem Leben, jetzt, wo ich ihn so brauche? Die Frage kann ich inzwischen auch beantworten. Gott ist in diesem Moment genau an unserer Seite und fühlt mit uns. Wenn wir so sehr leiden, dann ist immer eine Umkehr in unserem Leben erforderlich. Und zwar müssen wir aus eigenem Entschluss umkehren. Als Eltern oder Partner sehen wir uns auch häufig vor Problemen stehen, bei dem es ausgesprochen dumm und vor allem für den anderen destruktiv wäre, wenn wir ihm in diesem Moment helfen würden. Was ist, wenn wir uns permanent gegen uns selbst richten, uns selbst zerstören z.B. aufgrund irriger Denkkonzepte, Glaubenssätze, Verhaltensweisen oder aufgrund von Süchten mit ständiger Selbstvergiftung? Was ist, wenn wir trotz aller Notwendigkeit nicht aus dem Knick kommen, endlich handeln müssten und es nicht tun, sondern stattdessen, wie wir es bei unseren Kindern heutzutage oft beobachten können, unsere Tage mit Fernsehen, Computerspielen, Chatten, Newsreading und vergleichbaren Tätigkeiten verbringen? Darf man dann helfen? Nein, das würde alles nur schlimmer machen! Gott ist in diesem Moment wirklich dicht bei uns, er leidet mit uns, er ist wie ein Vater oder eine Mutter, die uns leiden sehen und sich die Hände ringen: Kind, nun hör doch mal damit auf, das ist ja furchtbar, was Du da mit Dir machst! Gerade Er schenkt, verstärkt meines Erachtens sogar diese Gefühle, damit in uns immer mehr die absolute Notwendigkeit besteht, einen Schnitt zu machen, aufzuhören und neu anzufangen. Umkehr! Warum sollten wir uns wohl fühlen, wenn wir mit uns • Selbsthass • Selbstverletzung • Selbstabwertung • Selbstverachtung • Selbstverleugnung • Selbstzerstörung • Selbstvergiftung • Selbstvernachlässigung • Seelenabtötung • Selbstaufgabe Im Antlitz der Liebe - 235 - © Gabriele Sych betreiben? Das ist die pure Lieblosigkeit, in diesem Falle mit uns selbst! Lieblosigkeit kann nicht belohnt werden!!! Wir müssen umkehren, gerade wenn wir merken bzw. absolut nicht mehr daran vorbeischauen können, dass ein Verhalten uns nun so gar nicht weiterbringt. Nein, Gott schickt uns immer mehr Zeichen, immer mehr Situationen, immer mehr Boten (siehe hier auch das Kapitel 2.3.3.2 Die Krankheit als Gast), damit wir endlich verstehen, dass wir so nicht weiter kommen. Die schrecklichen Gefühle, die Zeichen, die Situationen, die Boten, die Wegeengel, mit denen versucht Gott uns zum Einhalt auf dem Weg ins selbstgeschaffene Grauen zu bewegen. Da ist Gott! Direkt an unserer Seite, intensivst um uns bemüht. Er kann unseren Weg vor der Umkehr nicht positiv verstärken, das würde uns ja dazu veranlassen, in die falsche Richtung weiter zu laufen! Er tut es genau in dem Moment, wo wir über Umkehr nachdenken, uns um Umkehr bemühen, um Hilfe bei der Umkehr bitten, bei der Umkehr und anschließend. Und selbst wenn einige Dinge auf Erlebnissen in unserer Kindheit basieren, uns tatsächlich etwas angetan wurde: Deswegen müssen wir es ja jetzt nicht fortsetzen! Daher sind immer wieder Dinge, die sich für uns schrecklich anfühlen, die beste Medizin, das Gute, ein Zeichen der Güte, Liebe und Gnade Gottes, damt wir zur Liebe, bei oben beschriebenen Verhaltenskreis, zu uns selbst zurückfinden. Umkehr aufgrund eigener Entscheidung. Punkt. Praktizieren wir die Lieblosigkeit unseren Nächsten oder Gott gegenüber, dann gilt zwangsläufig dasselbe. 2.1.2.6 Der Moment der Wahrheit: Warst Du mit Deinem Leben zufrieden? Einmal sprach ich mit Santiago über das Verhalten eines anderen Menschen aus meiner Kindheit. Da sagte Santiago: „Meine Güte! Und wenn dieser Mensch mal tot ist und bei Petrus an die Tür klopft, dann wird Gott ihn beiseite nehmen, ihm an den Kopf klopfen, und fragen: „Sage mal, was hast Du Dir eigentlich DABEI bloß gedacht!“ Zuerst musste ich bei der Vorstellung des: „Was hast du dir dabei gedacht?“ einfach nur lachen, aber irgendwann blieb es mir das Lachen im Hals stecken. Vielleicht ist es das, was nach unserem Tod passiert, vielleicht das, was mit dem Fegefeuer, der Hölle gemeint ist: Der Moment der Wahrheit. Dass wir wirklich bis zu Ende denken und erkennen können, wie wir gehandelt haben. Und er uns fragt: „Sag mal, was hast Du Dir dabei nur gedacht? Für was für einen Gott hälst Du mich eigentlich?“ Im Antlitz der Liebe - 236 - © Gabriele Sych Dort werden wir keine Chance haben auszuweichen, weil gleich die Nachrichten anfangen, wir aufs Klo müssen, müde sind, keine Lust oder Hunger haben, jemand anruft oder wir zur Arbeit müssen – ein Ort, an dem es keine Verdrängung und keine Ablenkung mehr gibt. Weil wir wirklich unsere Handlungs- und Verhaltensweisen bis zu Ende betrachten und ihre Folgen klar sehen können – wie etwa Ebenezer Scrooge in dem Buch „A Christmas Carol“ von Charles Dickens, auch sehr schön in der Filmfassung der JetztZeit mit Bill Murray: Die Geister, die ich rief. Vielleicht bekommen wir so etwas wie Rückblenden, wie einen Film gezeigt mit all den Momenten, wo wir eine andere Richtung hätten einschlagen können, dorthin, wo wir vielleicht immer hinwollten, wovon wir immer geträumt haben, was wir uns so sehnlich gewünscht, aber nicht erfüllt haben. Der Moment der Wahrheit: Wenn wir die Folgen unserer Wegverfehlungen vollständig erkennen können. Inzwischen habe ich das Gefühl vermittelt bekommen, dass die Frage aus dem strahlenden Gesicht Gottes lauten wird: „Und, warst Du mit deinem Leben zufrieden? Habe ich nicht eine schöne Welt geschaffen?“ Er HAT eine schöne Welt geschaffen! Was aber, wenn wir dann damit kommen: „Diese Welt ist ein Jammertal! Ich fand mich hässlich! Naja, für die Anderen war es vielleicht möglich, mit ihrem Leben zufrieden zu sein, aber für mich doch nicht! Ich hatte so viel Stress! Mein Beruf war schrecklich, langweilig und öde, aber ich hatte ja auch keine Chance. Meine Ehe war schlicht eine Katastrophe. Und meine Kinder: Na, Du siehst ja, was draus geworden ist!“ Und was – wenn er mit sanften, freundlichen Augen uns direkt ins Herz sieht und dort die Wahrheit findet und hervorholt, die da – seien wir ehrlich – doch schon immer war: „Wenn Du mir vertraut hättest und mit ein bisschen Mut hättest Du doch an diesem Punkt jenen Weg einschlagen können und … (was auch immer). Ich hatte beide Hände voller Glück an dieser Stelle für Dich bereit, aber Du kamst nicht, Du bist da stehen geblieben. Was war denn bloß?“ Was werden wir dann erzählen? Von unserer Krankenkasse, von unserer Altersversorgung? Von unserem Haus, unserem Auto, unserem Boot? Davon, dass wir nicht gewusst hätten, wovon wir dann leben? Dass unsere Kinder aber dringend eine Playstation gebraucht hätten? Und dann fragt Er weiter: „Wie kamst Du nur darauf, dass Du von mir nichts bekämst, wenn Du etwas tust, was Dir und anderen gut tut, was Dir Spaß macht? Ich will Euch doch nicht unglücklich, gelangweilt oder gestresst sehen!“ Und dann begreifen wir vielleicht langsam, was wir uns haben entgehen lassen, was wir alles hätten tun können, wie traumhaft alles hätte werden Im Antlitz der Liebe - 237 - © Gabriele Sych können, wenn wir der Verheißung gefolgt wären. Wenn wir an Gottes Reich mitgearbeitet hätten. Da wird es brennen an dem Ort, den wir lebend Herz genannt haben, die Flammen der Scham, der Reue, des Erschreckens, des „Oh Mann, bin ich BLÖD gewesen!“ Der Moment der Wahrheit: Wenn wir vor Gott, der Glaube, Liebe und Hoffnung ist, stehen, mit unserem Leben vor uns in der Hand, könnten wir ihm dann ins Auge sehen, können wir uns selbst ins Auge sehen? Und vielleicht sehen wir auch dann die Welt und er fragt uns: „Sag mal, Du hast doch gesehen, dass so viele Menschen hungern. Warum hast Du denn eigentlich nichts dagegen getan?“ Wir können schon heute uns mal einen Moment der Wahrheit gönnen und uns diese Frage schon heute stellen. Warum nicht jetzt, in diesem Moment? Gott zu lieben und zu ehren heißt sicher auch, aus uns, aus diesem Leben, aus dieser Welt etwas Schönes und Wertvolles zu machen, das Geschenk Gottes zu würdigen und wertzuschätzen. Warum nicht zumindest ab heute? Nehmen Sie sich Zeit für Ihren Persönlichen Moment der Wahrheit Bist Du mit Deinem Leben zufrieden? Habe ich nicht eine schöne Welt geschaffen? Im Antlitz der Liebe 2.1.2.7 - 238 - © Gabriele Sych Hilfe von oben Ich möchte hier eine neue Technik vorschlagen, mit der wir Probleme klären, Sinn finden, Fragen beantworten und Gegensätze miteinander vereinen kann. Und zwar schaffen wir uns ein Gottes Board. Was ist das? Wir nehmen eine Pinwand, eine Magnettafel oder ähnliches, natürlich tut es auch ein kleines Büchlein. Diesem Gottes-Board übergeben wir alle die Dinge, die wir nicht verstehen und für die wir gern eine Erklärung oder eine Lösung hätten. Wenn zum Beispiel Gegensätze zu überwinden sind, dann schreiben wir diese, z.B. auf einem Kärtchen oder einem Post-It einander gegenüber und verbinden sie durch ein Herz, z.B. Lust auf etwas Neues ♥ Angst vor Neuem Wir können Bitten und Fürbitten zum Besten aller Beteililgten formulieren, Fragen stellen und alles, was wir nicht selbst lösen können, einfach aufschreiben und abgeben. Betrachten wir all das, was wir aufschreiben, als ebenso klares wie demütiges Bekenntnis, dass wir es nicht allein schaffen und um Gottes Hilfe dabei bitten. Nehmen wir immer wieder diese Themen mit ins Gebet. Wir bekommen eine Lösung. Wenn wir die Zettel wieder vom Gottes-Board abnehmen, weil sie sich erledigt haben, dann können wir das Ergebnis oder die Lösung und wie es dazu kam auch aufschreiben. Ich bin sicher, dies wird ein kleines „Buch der Wunder“. 2.1.3 Und was ist mit der Sünde? Die Worte Sünde und Schuld64, das ist wohl das, was die viele, viele Menschen aktuell von der christlichen Kirche treibt, sie abhält wie auch zur Gottesferne führt. Es impliziert für den Laien einen strafenden und hyperkritischen Gott. Dass man es mit einem komplizierten Gesetzesapparat zu tun hat. Dass es schwierig ist, nicht zu sündigen. Dass man im Prinzip nie ok ist. Sünde, das klingt vielen wie eine zentnerschwere Last, die man auf den Schultern trägt – Mit der man sich nicht auch noch beschäftigen möchte. Wann denn auch? Sünde: würde 64 Und – dieses Kapitel ist wohl das, was ich über die Zeit in am meisten umgeschrieben habe J . Im Antlitz der Liebe - 239 - © Gabriele Sych man das Wort von den Menschen malen lassen, so wäre es mit 100 % Wahrscheinlichkeit ein erhobener Zeigefinger. Sünde!!G Sünde!G Sünde!!!G Asche auf Dein Haupt! Und: S C H Ä M E D I C H!!! Winde Dich im Staub, Du!!!65 Drohbotschaft pur! Uns reicht es wirklich schon… Gerade die heutige Zeit bietet uns unendlich viele Situationen, uns furchtbar, unzulänglich, erbärmlich, minderwertig, als Versager, zu fühlen, nicht gut genug. Heute können wir uns auf Knopfdruck mit der ganzen Welt vergleichen. Wir bekomm die Anderen in Hochglanz und grafisch aufgearbeitet, so wie sie nicht sind. Wir vergleichen uns mit all den Idolen und Ikonen, mit den Erfolgreichen, den Sportlichen, den Schönen, den Guten, den Genialen. Es gibt es ja inzwischen tausende Lebens- und Erfolgskonzepte! Wie soll man das voneinander unterscheiden, bewerten können? Wer weiß, ob sie heilsam sind oder nicht.? Wo ist den vorn, wo ist denn gut? Was mach ich denn nur? Wonach sollte ich eigentlich streben? Wann bin ich gut? Gut genug? Annehmbar? Zumindest ausreichend? Ich darf weiterleben? Und ab wann können wir eigentlich endlich entspannen, unsere Daumenschrauben lockern? Wann haben wir endlich eine Chance? Mal ein Momentchen Ruhe…? Mal durchatmen können? Bitte! 65 Im Sand sich winden, das tut doch die Schlange! Die will uns dort sehen, damit ihr dort unten nicht so langweilig ist…Das ist nicht Gott! Im Antlitz der Liebe - 240 - © Gabriele Sych Und wenn man es sich und den Anderen schon nie Recht machen kann, was ist mit dieser imperativen Stimme in unserem Innern, die uns ständig Vorhaltungen macht, die uns mit Schuldgefühlen und Unzulänglichkeit martert: nicht schlafen lässt: Warum machst Du nicht endlich…? (z.B. einen anständigen Job, Fortbildung, Steuererklärung, die Wohnung sauber, Wohltätiges) Warum hast Du noch immer nicht…? (z.B. Mann, Frau, Kind, Beruf, Haus, Geld, deine Eltern angerufen/besucht, Beförderung erreicht) Warum bist Du immer noch nicht…? (z.B. erfolgreich, schlank, fit, gepflegt, kultiviert, schlagfertig, liebevoll, barmherzig, eine gute Mutter, ein guter Vater, ein guter Ehepartner…) Wie siehst Du nur aus? (z.B. dick, dünn, ungepflegt, übernächtigt, schlampig, aufgedonnert, modisch, unmodern, (un)sexy, nuttig, alt(ernd), kindisch, faltig, nicht straff, grau…) Wie kannst Du nur…? (z.B. Dich so hängen lassen, so fett sein, Dich nicht bemühen, Dich scheiden lassen, Deine Kinder vernachlässigen, Dich in einen Verheiratetete(n) Mann/Frau verlieben, trinken, rauchen, zuviel…, zuwenig…, nicht richtig…?) Gleichzeitig verhungern wir vor Liebe, vor Sehnsucht nach Anerkennung, nach Berührung und Zärtlichkeit, nach Ruhe, nach endlich „in Ordnung sein“, so zu sein, wie wir sind. Das Beste kommt noch: so sehr wir uns bemühen: Wir kommen schon auf die Welt mit der Last der Erbsünde, wir fangen schon unter Null an. Vielleicht sind wir einer von denen, die bis ins dritte und vierte Glied heimgesucht werden. Was ist das für ein Gott? Tori Amos beschreibt in ihrem Lied Crucify, wie es sich anfühlt, hier ein Textauszug: Im Antlitz der Liebe - 241 - © Gabriele Sych Got a kick for a dog Ich habe einen Tritt wie ein Hund Beggin' for Love bekommen, der nach Liebe bettelt. I gotta have my suffering Ich muss mein Leiden haben, So that I can have my cross so dass ich mein Kreuz haben kann. I know a cat named Easter Ich kenne eine Katze namens Ostern66 He says will you ever learn Er sagt: Wirst du jemals lernen? You're just an empty cage girl Du bist ein leerer Käfig, Mädchen, If you kill the bird wenn du den Vogel (die Seele) umbringst. I've been looking for a savior in these dirty Ich habe nach einem Retter gesucht in streets diesen schmutzigen Straßen, looking for a savior beneath these dirty einen Retter gesucht unter diesen sheets schmutzigen Bettlaken. I've been raising up my hands Ich habe meine Hände erhoben, Drive another nail in noch einen Nagel eingeschlagen. Got enough guilt to start Ich habe so viel Schuld, dass ich my own religion meine eigene Religion gründen könnte. Please be Bitte sei (da)! Save me Rette mich! I cry Ich schreie / heule Why do we Warum nur Crucify ourselves Kreuzigen wir uns selbst? Every day Jeden Tag I crucify myself Ich kreuzige mich selbst. Nothing I do is good enough for you Nichts, was ich tue, ist gut genug für euch Crucify myself Ich kreuzige mich Every day Jeden Tag And my heart is sick of being in chains Und mein Herz ist krank davon, angekettet zu sein. 66 Wortspiel mit der Katze aus Alice im Wunderland, gleichzeitig der Vorgang der österlichen Kreuzigung und der anschließenden Auferstehung Im Antlitz der Liebe - 242 - © Gabriele Sych Und dann ist da eben diese Institution Kirche, die uns gleich mit unserer Sündhaftigkeit begrüßt, sobald wir sie als Laie betreten! Exkurs: Als ich mich entschied, in die katholische Kirche eintreten zu wollen, blieb ich außen vor. „Ich kann Sie nicht in die Kirche aufnehmen“ Bis heute bin ich nicht aufnahmefähig. Ein Gerichtsverfahren beim Konsistorium wird mir vielleicht einmal die Chance geben. Doch die Kirche wird überstrahlt von einem Jesus mit weit ausgebreiteten Armen, der alle willkommen heißt. An ihn halte ich mich. Er ist der Priester, der mich schon lange aufgenommen hat. Er steht über dem örtlichen Pfarrer, viel größer als dieser in der Apsis. Ihm bin ich willkommen! Er ist froh, dass ich endlich da bin. Dort und an vielen anderen Orten hat er auf mich gewartet. Auf mich, auf Dich, uns alle, immer! Die Gute Botschaft, was ja Evangelium heißt, die Heilsbotschaft kommt sehr, sehr viel leiser rüber. Wer hört sie noch, wer kann sie erklären? Sie wird nicht mit der Kirche identifiziert, obwohl sie das Kernstück des Glaubens ist. Gerade dass wir Last loswerden können und von jetzt auf gleich die Dinge anders machen können und das „da werden sie geholfen!“ Ein Ort, an dem wir angenommen werden, trotz jeglicher Vergangenheit in Ordnung sein. Unser aller Traum ist doch, egal wie unannehmbar wir uns selbst fühlen, als verlorener Sohnes, als verlorene Tochter mit offenen Armen empfangen werden. Die Vergebung der Sünden! Das ist doch real, ist doch das Versprechen: Ich bin bei Euch alle Tage! Warum mag das so sein? Lieber Gott, geht das auch anders? Als ich meine Umkehr öffentlich machte, waren viele meine früheren Klienten entsetzt. „Nee, der christliche Glauben, das ist nichts für mich, da lass mich mal mit in Ruhe!“ „Nimm' es mir bitte nicht übel, aber Kirche ist nicht mein Ding, ich werde daher nicht kommen.“ Katholisch werden, bekennende Christin sein, das klingt für viele wohl lächerlich, spinnert oder psychisch krank., als wollten man den Kaiser wieder haben, das Frauenwahlrecht abschaffen, sich die Kittelschürze anziehen und stante pede ins Mittelalter zurückkehren. Sofort kommt die Sprache auf Inquisition, Hexenverbrennung und Ablaßhandel mit der Überkommenheit, der Verhinderung der Emanzipation der Frauen und mehr. „Und das willst Du freiwillig, auf die Knie gehen oder sogar beichten?!“ „Und was ist mit der Aufklärung, dem politischen Bewusstsein?“ Ja, ich will das ganze Paket trotzdem kaufen. Jesus, hilf uns bitte! Es heißt, Du hast die Last der Sünde doch für uns getragen, lass uns das doch mal spüren! Im Antlitz der Liebe - 243 - © Gabriele Sych Je mehr wir uns auch des Sündenbegriffs freundlich annehmen, ihm eine Chance geben, uns zu heilen, umso tiefergehend öffnen sich uns die Türen zur Erkenntnis. Wir waren an einem Abzweig unseres Lebens nicht bewusst und aufmerksam, wir haben Wege gewählt, die uns und anderen schadeten. Doch wir können unser Leben korrigieren. Während anfangs das Confiteor, das Schuldbekenntnis, - wie mich damals in Los Arcos schrecken mag, so schrecklich ist es nicht, um Vergebung zu beten, froh, dass es jemanden gibt, der für uns mitbetet: Darum bitte ich die selige Jungfrau Maria, alle Engel und Heiligen, und Euch, Brüder und Schwestern, für mich zu beten bei Gott, unserem Herrn. Türen öffnen sich, wenn wir uns für das Gute entscheiden, Seine Wege gehen, in Seinem Sinne, in Liebe handeln. Ach ja, übrigens…für alle Neuen: Herzlich Willkommen in der Kirche! Herzlich Willkommen als Christ! Die Gute Nachricht ist die: Egal, was Menschen sagen und welchen Regelkatalog sie uns grad vor die Nase halten: Gott sind wir willkommen, so wie wir sind, so wie wir gerade sind! Wir sind herzlich eingeladen, mit Ihm eines Geistes zu sein! Es geht nur um das Kommen! Ehrlich, er ist überglücklich! Weil er sich schon so lange nach uns gesehnt hat. Weil er sich schon so lange mit uns Mühe gegeben hat, uns auf seinen Weg zu führen, uns hörend und sehend zu machen. Und wenn wir es erstmal nur zu 30, 50 oder 90 % raffen: er hat ja Zeit mit uns, und ist ein geduldiger Lehrer, unser EWIGER GOTT. Dein Kind 2.1.3.1 Das Wort Sünde Während eines meiner Führungskräfteseminare erzählte ein gestandener Geschäftsführer eine Anekdote. „Ein bekannter Geschäftsmann wurde interviewt und nach dem Geheimnis seines Erfolges gefragt. Er Im Antlitz der Liebe - 244 - © Gabriele Sych antwortete: „Richtige Entscheidungen!“ Und er wurde weitergefragt: „Wie kommen sie denn zu den richtigen Entscheidungen?“ Er sagte: „Durch meine Erfahrung!“ Und dann wurde weiter nachgefragt: „Und wie kamen Sie zu ihrer Erfahrung?“ Seine Antwort war: „Durch falsche Entscheidungen!““ Und so ist es, genau wie mit dem Weg… Geben wir dem Wort Sünde also einen Vertrauensvorschuss. Das ursprüngliche Wort in der Bibel heißt αµαρτια (hamartia), das bedeutet nicht treffen, verfehlen, das Ziel verfehlen bzw. Verfehlung, Irrtum im NeuenTestaments, so auch das hebräischen Wort chat'at des Alten Testamentes. D.h. wenn wir sündigen, laufen wir in die falsche Richtung und verfehlen wir unser Ziel. Und es gibt nur ein Ziel: Mit Gott leben, sein Schaffen an uns erleben, seinen Geist teilen. Menschen machen immer wieder Fehler. Machen wir Fehler, machen wir uns selbst Mühe, ganz einfach. Wir schieben ein paar Kilometer zusätzlich ein. Und das haben wir alle schon gemacht, oder? Oder 1. Johannes 1 (Lutherbibel 1984): 8 Wenn wir sagen, wir haben keine Sünde, so betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns. Das, was als Sünde bezeichnet ist, dass wir unserem Ziel nicht näher kommen und nicht lieben und uns nicht geliebt zu fühlen. Das Ergebnis: Lieblose Weltkonzepte, liebloses Denken, liebloses Handeln, Einsamkeit, Angst, brennende Sehnsucht. Wir weichen vom Weg der Liebe ab, wir teilen nicht seinen Geist, es ist ein Umweg. Wir müssen umkehren und unseren Weg und unsere Pfeile neu suchen. Dann erst geht es wieder voran. Buch der Weisheit 11 (Einheitsübersetzung) 16 Sie sollten erkennen: Man wird mit dem gestraft, womit man sündigt. Und Jesus teilt uns ganz genau auch den Ausgangspunkt für unseren Irrweg, unseren Irrtum, unsere Sünde mit in Markus 7 (Neues Leben) 14 Dann rief Jesus die Menge zu sich. "Hört alle genau zu", sagte er, "und versucht es zu verstehen. 15-16 Der Mensch wird nicht durch das unrein, was er isst; er wird unrein durch das, was er sagt und tut." 17 Als Jesus sich von der Menge zurückzog und in ein Haus ging, fragten ihn seine Jünger, was er denn mit dieser Aussage gemeint habe. 18 "Versteht ihr es denn auch nicht?", fragte er. "Begreift ihr nicht, dass nichts, was der Mensch isst, ihn verunreinigen kann? 19 Die Nahrung kommt nicht mit seinem Herzen Im Antlitz der Liebe - 245 - © Gabriele Sych in Berührung, sondern geht nur durch den Magen und wird dann wieder ausgeschieden." Damit erklärte Jesus alle Speisen für erlaubt. 20 Und er fuhr fort: "Es sind seine Gedanken, die den Menschen verunreinigen. 21 Denn von innen, aus dem Herzen eines Menschen, kommen böse Gedanken wie Unzucht, Diebstahl, Mord, 22 Ehebruch, Habgier, Bosheit, Hinterlist, Vergnügungssucht, Neid, Verleumdung, Stolz und Unvernunft. 23 Alle diese üblen Dinge kommen von innen heraus; sie sind es, die den Menschen unrein machen." Logo, das ist alles nicht Liebe. Es gibt kein Außen dafür. Der Teufel ist ein armer Geselle. Er ernährt sich von unseren Gedanken an das Böse und wird so größer und größer, er hat nur einen entscheidenden Fehler, er kommt nicht an! Und daran kann man ihn erkennen. Als ich noch als Unternehmensberaterin arbeitete, hatte ich viele Ziele, habe viel dafür gearbeitet, um sie zu erreichen. Und wenn ich sie erreichte? Ich fühlte keine Freude. Ich kam nicht an. Verfehlung des Zieles… Wir alle füttern ihn, mit jedem Gedanken der Angst, daraufhin mit der Erinnerung an die Angst, der Sorge, des Neides, der Eifersucht, der Gier usw. Und diese Gedankenenergie hat sich – so fühlt es sich wirklich manchmal an – verselbständigt, um ihren Bestand zu sichern und zu vergrößern. Er bietet uns einen Gedanken an, mit dem wir Gottes Geist verlassen, so wie die Schlange Eva den Apfel. Und wenn wir bereit sind, uns mit diesem Gedanken zu befassen, den Apfel in die Hand zu nehmen und hineinzubeißen, ihn an uns heran zu lasssen, liefern wir uns ihm aus. Die Zähne sind dann in uns, giftige Zähne mit Widerhaken. Sein Werk ist dann unser Werk. Die Liebe ist nicht in ihm, nicht in uns. Das biblische Wort Diabolus kommt aus dem Griechischen und bedeutet: „hindurch werfen, durcheinander werfen und dann im übertragenen Sinne verleumden, verhasst machen, auseinander bringen, entzweien, täuschen, betrügen, verschmähen, verwerfen“. Und genau das ist eben wieder das Entstehen des Bösen. Das ist es, was wir machen: wenn man die Dinge durcheinander wirft, verleumdet, auseinander bringt und entzweit, Da wird das Gute und das Böse beurteilt, etwas Gutes als böse verleumdet, das Gute als Böses verworfen. Der Teufel wirkt mit Gedankenappetit, Zweifel, Ver(w)irrung, (Selbst-) Täuschung. Der gewinnt über uns Macht durch seine Vielgestaltigkeit von Ablenkungen von dem, was ist. Im Antlitz der Liebe - 246 - © Gabriele Sych Wir müssen ihm nicht glauben, wir müssen ihn nicht füttern, wir müssen nicht zubeißen. Wir können wahrnehmen, Wahrheit und Klarheit sind die Gegenmittel. Welche Stärke hat ein Vorsatz: „Ich will nicht hassen, sondern bitte hilf mir auch jetzt zu lieben“! Und so können wir ganz einfach, ohne jedes kanonisches Recht und jede Regel selbst herausfinden, was Sünde ist: „Ist das, was ich gerade vorhabe bzw. getan habe, liebevoll für alle Beteiligten? Habe ich in jeden und alles die unbedingte Gütevermutung?“ Und Lieben heißt nicht unbedingt "lieb sein"... Und noch eine gute Nachricht: Gott ist der, der auch noch das 100. Schaf suchen geht, wenn schon alle anderen bekehrt und auf dem Weg sind sind. Und ich bin sicher, Gott hat auch vor, Lucifer noch zu bekehren. Er wird das letzte Schaf sein, das er heimholt. Dann wird das Licht Gottes durch nichts mehr verdunkelt wird. In diesem Moment wird er seines Namens und seiner Bestimmung gerecht. 2.1.3.2 Man wird mit dem „gestraft“, womit man sündigt Ganz klar wird dieses Prinzip in der Geschichte von König David aus dem 2. Buch Samuel (11). David sah eine verheiratete Frau names Batseba und beging mit ihr Ehebruch, wovon sie schwanger wurde. Ihr Mann war einer der Soldaten König Davids, die im Felde lagen. Um die Fremd-Vaterschaft zu vertuschen, versuchte David, ihren Mann Uria zu Batseba zu schicken, damit er dächte, das Kind sei von ihm, aber das gelang David nicht. Daraufhin ließ David Uria von seinen Befehlshabern in eine lebensgefährliche Situation im Kampfe stellen, und ja - Uria fiel im Kampf. Batseba verrichtete die angemessene Totenklage, dann holte König David sie in sein Haus. Sie heirateten und Batseba gebar einen Sohn. Gott sandte den Propheten Nathan zu David und machte ihm klar, welche Sünde er begangen hatte, was David einsah und bereute. Nathan sagte ihm voraus, dass sein neugeborener Sohn sterben würde, was dann auch geschah, obwohl David für seine Gesundheit betete und fastete und viel Reue zeigte. Nach dem Tod dieses Sohnes schwängerte David wieder Batseba und dieses Kind war Salomo, ein Kind und später König, den Gott sehr liebte. König David hatte Urias Tod verursacht und so hatte er einen Tod, wenn auch nicht seinen eigenen, zu erleiden. Wenn ich einmal der Täter, der „Handelnde“ oder „Handeln- Im Antlitz der Liebe - 247 - © Gabriele Sych Könnende“ bin, sündige, so werde ich als Ausgleich der Sünde auf der anderen Seite der sein, an dem gehandelt bzw. eben nicht gehandelt wird, in der gleichen Sache. Wir bekommen immer beide Seiten zum Zwecke des Erkenntnisgewinns, erfahrbar auf allen Sinnesebenen, sozusagen 3-D, mit Körper, Geist und Seele. Ich will dieses Geschehen mal für das folgende das „duale Erleben“ nennen. Es ist für mich eines der großartigsten Mittel Gottes, uns zu führen. Man kann es als Strafe sehen, es ist jedoch pure Gnade, auf diese allumfassende Weise verstehen zu lernen. Diese mehrdimensionale Erfahrung ist deutlicher, glaubhafter als das Wort und die Gebote allein, sie wird zu Wissen, mit der Zeit zu Weisheit. Der Karma-Begriff hat die Weisheit und Erkenntnis bildende Konnotation nicht. Durch diese Weisheit wird unsere Welt angenehmer, gottgemäßer. Buch der Weisheit 11 (Einheitsübersetzung) 15 Zur Strafe für ihre frevlerische Torheit, in die sie sich verirrt hatten, als sie vernunftloses Gewürm und armseliges Ungeziefer verehrten, sandtest du ihnen eine Menge vernunftloser Tiere. 16 Sie sollten erkennen: Man wird mit dem gestraft, womit man sündigt. Ich möchte ein paar Gleichnisse aus dem echten Leben erzählen, die uns aufzeigen, wie dieses Prinzip heute funktioniert. 1. Gleichnis: Ein Mann ist gehalten, in seinem Leben einen neuen Weg einzuschlagen. Seit sechs Jahren tritt er auf der Stelle und hadert mit seinem Leben, hadert mit Gott, weil er nicht bekommt, was er sich so sehr wünscht. Was er an den Tag legt, ist einfach kein “erfolgreiches” Verhalten. Wie ein Süchtiger hält er an einer Lebensform fest, die ihn immer mehr mit Todessehnsucht füllt. Er bekommt eine Depression, sein Beruf leidet massiv darunter, finanzielle Probleme treten auf, Liebe und Partnerschaft = Zero. Parallel dazu entwickelt sich im Leben seiner Tochter ein ähnliches Muster. Das Mädchen besuchte immer unregelmäßiger die Schule, bis sie ohne Abschluss schließlich draußen stand. Ihre Eigeninitiative geht gegen Null. Sie beginnt mit Drogen, driftete ab und der Vater kann sie nicht halten. Immer, wenn es ihr schlecht geht oder sie Geld braucht, dann kommt sie zu ihrem Vater. Dort bekommt sie etwas zu essen, sie reden miteinander. So gern würde sie von ihm hören, dass alles gut gehen wird und Erfolg sich einstellen wird, wenn sie so weiter macht. Er erkennt, dass er ihr außer dem “täglich Brot” nicht wirklich helfen darf, solange sie dabei auf dem alten Weg bleibt. Er würde ein selbstdestruktives Verhalten damit in ihr verstärken. Damit würde er sie weiter auf die Straße ins Unglück schicken, sie noch mehr schwächen. Es tut ihm in der Seele weh, sein Kind so zu sehen. Er betet für sie, nimmt sich für sie Zeit. Im Antlitz der Liebe - 248 - © Gabriele Sych Sie wird immer, immer wieder wütend auf ihn, weil er ihr nicht zustimmt, schreit ihn an, explodiert, haut ab. Irgendwann begreift er, dass er seinem Vater im Himmel gegenüber genauso handelt. Er versteht, dass Gott ihm in seiner eigenen Selbstdestruktivität in aller Liebe nicht helfen darf. Er entscheidet sich zur Umkehr. Er merkt, dass er immer dann, wenn er die Umkehr durchzieht, sich gute Gelegenheiten ergeben. Wenn er die Umkehr wieder schleifen lässt und sich wieder zurückwendet, fällt das Gute wieder in sich zusammen, er kassiert Stornos oder Verzögerungen stellen sich ein. 2. Gleichnis: Über zunächst verheimlichten, einseitigen Ehebruch kommt ein Paar zusammen. Was zunächst auf der Strecke bleibt, – außer üblerweise der Familie -ist in der Partnerschaft das Vertrauen. Dadurch, dass man weiß, dass der andere einen anderen Partner schon mal belogen und betrogen hat, ist es leichter, ihm das wieder zuzutrauen. Die Eifersucht lauert, es entsteht Überaufmerksamkeit, Empfindlichkeit. Wer einmal lügt… Man vermutet schnell Betrug, eine neue Affäre hinter allen möglichen Reaktionen und Alleingängen und gegengeschlechtlichen Kontakten. Denn ganz sicher möchte man es nicht, dass es einem selbst genauso widerfährt. Und natürlich weiß man ja auch, wann, wie und auf welche Weise der Partner seinen ehemaligen Gatten betrogen hat. Man nimmt also all die Gefühle, die Quälerei wahr, die der verlassene Ehepartner während des Ehebruches hatte, übernimmt dessen Leiden, ohne dass es einen realen Hintergrund haben muss. Der andere Partner fühlt sich dadurch schnell beobachtet, kontrolliert und eingeschränkt, auch wenn er jetzt treu ist. Er erfährt wieder und wieder Misstrauen, das ja einst gerechtfertigt war. Der Zweifel wird immer versuchen, Hausgenosse zu sein. 3. Gleichnis: Die katholische Kirche führt im Mittelalter den Ablasshandel ein, d.h. Geld ist in der Lage, Vergebung herbei zu führen. Etwas, was eigentlich nur Gott kann, ein deutlicher Verstoß gegen das 1. Gebot. Geld wird die gleiche Macht wie Gott zugestanden. Die Kirche trennt sich von Gott, von Gottes Gebot, wartet nicht auf freiwilliges Geben. Gott trennt daraufhin die Kirche, d.h. er spaltet die Kirche, hebt die Einheit der Kirche auf. Er entzieht ihr die Macht durch Klostersturm, den Augsburger Religionsfrieden (Cuius regio, eius religio – Wessen Gebiet, dessen Religion), der weltliche Herrscher steht über dem Glauben. Und er lässt uns bis heute fühlen, wie es ist, wenn das Geld die Welt regiert. Und die evangelische Kirche entsteht dadurch nochmals als weitgehend uneinheitlicher, in viele unterschiedliche, autonome Landeskirchen getrennt. Konsequenz des Zu-Gott-Erhebens von Geld: Im Antlitz der Liebe - 249 - © Gabriele Sych Trotz vieler Bettelorden, vieler Heiliger, die in der Armut das gottgefällige Leben erkannt hatten, wie z.B. Johannes der Täufer, Augustinus, St. Martin, Franziskus von Assisi, Theresa von Ávila, trotz anders lautender Bibelworte: Matthäus 19, Markus 10, Lukas 18: Eines fehlt dir. Geh hin, verkaufe alles, was du hast, und gib's den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben, und komm und folge mir nach!... Jesus sah ihn an und sagte: Wie schwer ist es für Menschen, die viel besitzen, in das Reich Gottes zu kommen! Denn eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt. Reichtum, das Horten wird zum erstrebenswerten Ziel. Die Erkenntnis war ja vorhanden, es kann keiner sagen, er hätte es nicht gewusst. Der Kapitalismus, die industrielle Revolution setzt sich durch, die Macht der Banken entsteht, die Ölmulties treten auf den Plan. Trends wie Globalisierung, und Shareholder Value Orientation kommen auf. Geld wird die Haupt-Motivation des Alltags, das Quartalsdenken in den Unternehmen nimmt zu statt auf organisches Wachsen der Unternehmen zu setzen. Die Legalisierung gewaltiger Zerstörung: Familien, Rohstoffe, Umwelt. Ich bezahle, daher darf ich! Bildung geschieht nicht mehr aus Interesse, aus Liebe, sondern für den Beruf, d.h. die Geldbeschaffungskompetenz des Menschen und seine wirtschaftliche Macht bestimmen den Wert des Menschen wie in dem Bankenslogan: Mein Haus, Mein Auto, Mein Boot….“ Erfolg wird mit dem Grad des Reichtums gemessen. Heute leiden die einen unter Arbeitslosigkeit, die anderen unter Arbeitsüberlastung. Stress wird zur Volkskrankheit. Zeit ist Geld und entweder ist das eine oder das andere knapp. Bruch der Liebe und des sozialen Netzes: Der Schutz, die Gemeinschaft und die Barmherzigkeit der Großfamilie zerbricht. Nicht mehr die Großeltern unterstützen die Familien mit Kindern, weil sie ja arbeiten müssen, sondern bezahlte Kinderbetreuung wird eingeführt mit einem Betreuungsschlüssel von 1:23, 1:30. Depersonalisierung, Defamiliarisierung, dafür Kindergeld. Die Altersversorgung der Menschen wird von den Schultern der eigenen Kinder auf das Geld, auf anonyme Kinder, die Renteneinzahler, die Rentenkasse, die Pflegekasse übertragen. Kinder werden zu (Alt-)Lasten, zum Karrierehindernis. Die alten Menschen vereinsamen – oft fern von ihren Kindern, werden von bezahlten Kräften „wirtschaftlich“ im Heim gepflegt mit einem Betreuungsschlüssel von 1:6, am Wochenende 1:12. Gesundheit und Heilung: Der Heilungsdienst der Kirche ist fast völlig eingestellt. Und die Tätigkeit des Heilens an die kommerzielle Schulmedizin abgegeben. Das Gesundheitssystem selbst ist zu einem riesigen Geschäft geworden, die Krankenkassenbeiträge würgen uns. Wir wissen, dass Gott heilt, dass er Im Antlitz der Liebe - 250 - © Gabriele Sych dem Gläubigen spontan Gesundheit schenken kann, so genannte Spontanremissionen wie auch allmähliche Genesung, sofern er umkehrt, um Hilfe und Heilung bittet und darin vertraut. Die Pharmaindustrie ist zu einem gewaltigen Wirtschaftsfaktor geworden, Medikamente, die niemand braucht, der Gottes Heilung in Anspruch nimmt. Die Arbeitswelt im Kapitalismus, die Lieblosigkeit und die soziale Verarmung sind die Hauptursachen für Krankheiten. Im Japanischen gibt es sogar schon ein Wort dafür: Karōshi, Tod durch Überarbeitung, meist Herzinfarkt während der Arbeitszeit. Und im Alter entscheidet selten Gott über unseren Todeszeitpunkt, sondern Arzt, Angehörige und der eigene Wille, niedergelegt in der Patientenverfügung. Ein gesegneter Tod im Kreise der Familie mit dankbarem Abschied der Beteiligten grenzt heute schon an unterlassene Hilfeleistung. Und klar, dem Gott Mammon habe ich auch gehuldigt. Eine Zeit hatte ich auf meinem Schreibtisch eine Karte, bei der eine Hand aus dem Himmel ein großes Geldstück reicht. Das Geld kam irgendwann, die Folgen waren erschreckend: Überarbeitung, Stress, Schmerzen, Schlaflosigkeit, Gedankenkrankheit, Gewichtszunahme (Fülle!), soziale Verarmung, unerfüllter Kinderwunsch, Burnout. Ich bekenne selbst Gott, dem Allmächtigen, und allen Brüdern und Schwestern, dass ich Gutes unterlassen und Böses getan habe, dass ich Geld als Herrscher für mich und in der Welt zugelassen habe. Ich habe gesündigt in Gedanken, Worten und Werken durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine eigene Schuld. Darum bitte ich die selige Jungfrau Maria, alle Engel und Heiligen, und Euch, Brüder und Schwestern, für mich zu beten bei Gott, unserem Herrn. Ich bat um Vergebung, ich kehrte um. Es gibt nur noch einen Herrscher für mich, der ist so mächtig, dass er für mich sorgt. Ich gebe mich mit dem zufrieden, was ich brauche, was ich bekomme. Aber was hat Er mir auf die Finger gegeben, bis ich so weit war! Und wie froh bin ich jetzt! Wie einfach wird Leben! Exkurs: Umkehr ist auch für die Kirche möglich? Es ist einfach: Indem sie betrachtet, was sie selbst von Gott trennt; wo sie sich verweltlicht hat, wo sie Im Antlitz der Liebe - 251 - © Gabriele Sych lieblos handelt, andere steinigt. Indem die Christen der verschiedenen Konfessionen betrachten, was sie individuell von Gott trennt und wo er durch Geld oder andere Götter ersetzt wird – meine Sicherheit ist mein Bankkonto, die Kirchensteuer, nicht Gott. Die Kirche kann aus eigenem Entschluss ihre eigene Trennung von Gott wieder aufheben und in die Einheit zurückkehren. Seien wir sicher, Er wird uns die Einheit der Kirche zurückgeben, der Gast „Spaltung“ ist dann nicht mehr nötig. Und auf diesem Wege betrachte jede Kirche nicht den Splitter im Auge der anderen Kirche, nämlich: Was hat die andere Kirche für Macken, warum sind die so unannehmbar für uns, so dass wir uns mit ihnen nicht vereinigen könnten? Sondern man betrachte den Balken im eigenen Auge. Wo sind unsere eigenen Baustellen, wo sind unsere eigenen Macken, und wie stellen wir sie ab? Denn allein da kann jede Kirche Veränderung bewirken, in sich selbst, nicht in einer Fremdorganisation. Wie können wir lieben und annehmen, was sie ausmacht. Schmeißen wir über Bord, was uns trennt - alle! Diese Arbeit wird sicher sowohl für die Christenheit ein Segen sein, wie auch hilfreich für all die vielen, vielen Menschen, die ein dringendes Glaubensbedürfnis haben, die bei der Annäherung an den christlichen Glauben wie auch die christliche Kirche jedoch scheitern, weil sie die Spaltung nicht verstehen. Sie werden nicht mehr so viele Diskrepanzen zwischen dem neuen Testament und dem christlichen Lebenstil und Kirchenführung feststellen. Diese innere Renovierung wird all den Menschen, die heute bei dem Wort Kirche nur noch die Augen verdrehen, die Tür wieder öffnen. Doch das „duale Erleben“ wirkt auch hier: Geben umgekehrt wir Gläubigen, wir Gottsuchenden auch der Kirche eine Chance als der Gemeinschaft der Gläubigen! Nehmen wir sie so wie sie ist! Liebende Akzeptanz! Denn die Kirche ist genau Spiegel dessen, wie ihre Mitglieder mit ihrem Glauben umgehen. Wirken wir selbst dabei mit, sie immer mehr dem Sein Jesu und seinen Worten anzunähern, mit zur Einheit zu führen! Denn wenn wir uns selbst von der Kirche trennen, weil sie nicht so ist, wie wir sie gern hätten, dann tragen wir zur Trennung bei. Dann tun wir genau dasselbe, sind um kein Deut besser oder anders. Wenn die Kirche nicht so ist, wie wir sie gerne hätten, dann liegt es an uns, unseren Glauben und unsere Jesus-Erfahrungen zu leben, uns einzubringen und dazu beizutragen, sie mehr und mehr so werden zu lassen, wie sie Glaube, Im Antlitz der Liebe - 252 - © Gabriele Sych Liebe und Hoffnung entspricht. Wenn Dir an der Kirche etwas fehlt, dann ganz sicher auch deswegen, weil Du dort fehlst, mein lieber Freund, meine liebe Freundin! Wer wirft denn gerade hier den ersten Stein? Wenn wir uns eben von dem Wort Sünde abgestoßen fühlen, dann werfen wir der Kirche zur gleichen Zeit Sünde vor, nämlich vom Wege abzuweichen, den Jesus uns vorgezeichnet hat, lieblos zu sein, regelungssüchtig, bestimmerisch, herabwürdigend, was auch immer. Immer dasselbe Spielchen: Projektion! Auch eine Form des „dualen Erlebens“: Auch wir scheinen der Kirche Vorschriften machen zu wollen, wie Kirche sich für uns anfühlen soll. Wird die Kirche dadurch besser? Nein, wie auch! Lieblos ist das ebenso, gegenüber der Kirche, dem Leib Christi, gegenüber Gott! All diese Veränderung geht nur von innen heraus, indem wir in die Kirche hinein gehen. Bringen wir also unsere Lebendigkeit, unsere geistige Freiheit, unsere Einsicht, unser Vertrauen, unsere Kreativität, die Fähigkeit, über uns selbst zu lachen, unseren guten Willen, unsere Heilungs- und Veränderungsbereitschaft, unsere Wandlungsfähigkeit, unsere Liebe, unsere Akzeptanz, unsere Toleranz, unsere Fähigkeiten, unsere Leichtigkeit, unseren lebendigen Glauben mit in die Kirche. So wird sie durch uns, was immer wir sind: lebendig, gutwillig, frei, einsichtig, fröhlich, tolerant, akzeptabel, fähig, leicht, jung! Bringen wir unsere Wünsche und Vorstellungen an die Gemeinschaft der Gläubigen mit in die Kirche und die Gemeinschaft, ihr Geist und Sinn ändert sich automatisch, weil dem gemeinsamen Geist, der gemeinsamen Gestalt neue Facetten, neue Farben, neue Kräfte hinzugefügt werden - unsere. Wenn wir eine liebevollere Kirche wollen, dann tragen wir doch einfach unsere Liebe hinein! Wenn wir eine Kirche wollen, die weniger durch Gesetze und Vorschriften geprägt ist, dann seien wir selbst weniger kritisch, stellen selbst keine Vorbedingungen für die Kirche: Ich gehe da erst (wieder) hin, wenn sich dies und das geändert hat. Für diese Änderungen brauchen wir unsere eigene Offenheit und Hingabe, damit Gott sie realisieren kann. Übernehmen wir für unseren Glauben, für die Einheit der Gläubigen mit Verantwortung! Es ist dasselbe wie in jeder Partnerschaft, Familie, Arbeitsstelle, Gemeinschaft, Organisation. Politikverdrossenheit und Kirchenverdrossenheit gleichen sich: sich zurücklehnen zum einen wie ein trotziges Kind, dessen Erwartungen nicht erfüllt werden, zum Im Antlitz der Liebe - 253 - © Gabriele Sych anderen eben Bequemlichkeit und Verantwortungslosigkeit für die Gemeinschaft, zu der wir gehören. Was wir in dem Falle tun, ist, uns selbst eben nicht in die Gemeinschaft einzubringen, der wir per se durch unseren Wohnort bzw. durch unseren Glauben, unseren Gott angehören. Meckern und Rückzug67 ist leicht und bequem. Verändern erfordert Glaube, Veränderungsbereitschaft und Engagement – nicht ganz so leicht und bequem, oder? Der Lohn? Gemeinschaft! Ein gemeinsamer Weg, gemeinsames Wachstum, geteiltes Leid, doppelte Freude! Ein herrlicher Leib Christi! Vielleicht können wir das Wort Sünder auch mal übersetzen mit: „die sich von der Liebe weg verirrt haben“, vielleicht ist das annehmbarer. Also: wir kommen selbst immer wieder in Situationen, wo wir durch das „Die Sünde ist die Strafe an sich“ im „dualen Erleben“ nachfühlen können, wie der, gegen den wir – neben uns selbst - gesündigt haben, sich mit unserem Verhalten gefühlt hat, ob Mensch oder Gott. Klar fühlt sich das oft sehr quälend an, ist es ja auch! Liebe ist unser Lebenselexier und wir hungern… Wenn uns dann die Schuppen von den Augen fallen, wir bemerken, was wir dem Anderen und uns angetan haben oder antun wollten, dann ist Reue sofort da, können wir sofort umkehren, aufhören. Wenn wir also „duales Erleben“ erst einmal erfahren und verstanden haben, wie sich Vergebung und die Neu-Regulierung des Lebens, das Verschwinden des lieblosen Zustandes, unter dem man vielleicht schon so lange gelitten hat, anfühlt, dann kommen einem die Worte „Bitte für uns Sünder, jetzt in und in der Stunde unseres Todes“ ganz einfach über die Lippen, nichts in uns wehrt sich mehr gegen dieses Wort, sondern wir sind froh, dass es tatsächlich Hilfe und einen Ausweg gibt. Das ist wieder eine wahre, gute Botschaft: dass dieser Irrsinn endlich aufhört, das, was uns schon so lange nervt, schmerzt, krank oder verrückt macht. So wie David seinen wunderbaren Sohn Salomo bekam. Eben: Vergebung erfahren, die Erfahrung einer falschen Entscheidung beendet bekommen. Auch daher also unsere Übung, die Pfeile gegen den Strich zu suchen! Es bedeutete, dass wir uns an jeder Kreuzung versichern mussten, welches der richtige Weg ist. Wir betrachteten den Pfeil und konnten 67 Gleichzeitig fühlen wir uns ausgeschlossen und machtlos: „Duales Erleben“: Die da oben, wir da unten, Untertan statt Teilhaber. Im Antlitz der Liebe - 254 - © Gabriele Sych anhand seiner Positionierung meist erkennen, aus welchem Weg heraus man den Pfeil wohl am besten sehen konnte. Und dann ging es um den nächsten Pfeil. Oft trennten wir uns, wenn die Richtung nicht klar war, jeder suchte einen Weg ab und rief oder pfiff, wenn er den nächsten Pfeil gefunden hatte. Und dann gingen wir weiter. Und wenn wir uns unterwegs umdrehten, dann sahen wir oft die Pfeile in der Rückschau (der Blick auf die Früchte) und freuten uns, dass wir auf dem richtigen Weg waren. Der Camino, der Weg Gottes schenkte uns Kraft und gute Erlebnisse, während die Landstraße uns Kraft nahm. Und die Essenz? Wenn wir uns immer wieder fragen, warum läuft das hier so, dann können wir uns das Geschehen anschauen und uns fragen: Wo ist dieses Muster schon mal so gewesen, und zwar mit mir selbst auf der anderen Seite? Schauen wir in Gegenwart und Rückblick auf die Früchte unserer Lebensweise, auf das Maß der Liebe, was wir empfinden und erfahren. Gefallen sie uns nicht, dann gehen wir innerlich zum letzten Ort gehen, wo sie für uns gemeinsam gut waren, wo unser Leben von Zufriedenheit und Liebe geprägt war. Was haben wir seither getan? Was haben wir erlebt? Wann, wo und wodurch haben wir Wege eingeschlagen, auf denen wir keine guten Früchte fanden? Wo sind wir aus der Liebe gefallen? Gehen wir zu dieser Kreuzung zurück und halten erneut Ausschau: In welcher Richtung (Perspektive, Denken, Haltung) sind die guten Früchte am wahrscheinlichsten, was fühlt sich am deutlichsten als Liebe an, welcher Weg lässt uns am besten auf den bisherigen Früchten aufbauen? Wir werden zu denen, die den Weg der Liebe wieder finden. Aus Sündern werden Gesunde. Mit dem Martyrium Jesu, der Bitte um Vergebung und Umkehr sind uns die Sünden vergeben, was sollte zum Richten übrig bleiben außer dem innerlichen Ausrichten. Gott ist für mich kein strafender Gott, sondern gerade, wenn ich eine für mich schwerwiegende Erkenntnis hinnehmen muss, ein Quell der Liebe, wenn ich dann irgendwann den Sinn dieser Erfahrung oder die Wirkung meines Handelns erkenne und verstehe. Er erklärt alles nachfühlbar und mit großer Geduld und Langmut, ich darf an jeder Kreuzung so lange hin und herlaufen, meine Runden drehen, die anderen Wege als Irrwege erfahren und erkennen, bis ich Seinen Weg einschlage, anders geht es gar nicht. Wie kann ich denn sonst verstehen lernen? Wann immer ich in meinem Leben etwas nicht bekommen habe, was ich wollte, oder ein schwierige Erfahrung hinnehmen musste, dann war es so, dass ich mich mit viel zuwenig zufrieden gegeben hätte und etwas viel Besseres, mehr Leben, mehr Liebe, mehr Im Antlitz der Liebe - 255 - © Gabriele Sych Lebendigkeit im Leben, auf mich wartete. Herr, du Freund des Lebens: das kann ich deutlich bestätigen. Auch ein Kind, dass sich an etwas festklammert, jammert, schreit oder bockt, für etwas, was nicht so gut für es ist und dem eigentlich eine gesündere, sinnvollere Variante zur Verfügung steht, dem mag ein gutelterliches Verhalten zunächst wenig gefallen oder wehtun, und so ist es auch mit uns als Erwachsenen und unserem Vater im Himmel. Manchmal schenkt er uns jedoch auch die Erfüllung unserer Wünsche und schenkt uns die Erfahrung, die mit dem Wunsch einhergeht. Ein lange gehegter Wunsch ging eines Tages in Erfüllung, jedoch war die Erfahrung der Begleiterscheinungen ein deutliches Zeichen dafür, dass mein Wunsch nicht der beste Weg gewesen war, ich also das Ziel verfehlt hatte, saure Trauben gepflückt hatte. In dieser Nacht, da schon kam das Gericht zu mir: Es war, als ob im Halbschlaf ein Licht um mich herum anging und eine große Klarheit entstand und mir die Frage gestellt wurde: So, das hast Du also gewollt, hast Du das wirklich so gewollt? Dies ist ein Moment, dem man nicht ausweichen kann, in dem nichts als die Wahrheit funktioniert. Und dieser Moment ist der, in dem die Buße, die Umkehr einsetzen kann, wo man beginnt, für diese Wünsche ein Kreuz zu tragen. Heute bete ich immer wieder besonders inbrünstig die Zeile das Vaterunsers: Dein Wille geschehe, im Himmel wie auf Erden. Dein Wille, der die Liebe ist. 2.1.3.3 Die 10 Gebote – ganz liebevoll Jeden Irrweg brauchen wir nicht selbst auszuprobieren, es gibt ja gelbe Pfeile: In einer Welt, die noch das Böse für möglich hält, zeigen uns die 10 Gebote die wichtigsten Eckpunkte auf, in der Liebe zu bleiben. Hier lang geht’s geradeaus! Wie der Rat liebender Eltern gilt Sein Gebot, das wir genauso als gute Botschaft verstehen können. Und eigentlich: Geht es hier nicht auch um die goldene Regel: Was Du nicht willst, das man Dir tu, das füg auch keinem anderen zu? Ich will weder getötet, beklaut, falsch verurteilt usw. werden. Im „dualen Erleben“ auf der Opferseite finden wir das all das auch gemein, unfair, verbrecherisch. Daher will ich hier die Gebote einmal als solche „Liebeserklärungen“ formulieren, so, wie es mir eine innere Stimme sagte, ganz nach Paulus Wort aus 1. Korinther 13 (Lutherbibel 1984): Im Antlitz der Liebe - 256 - © Gabriele Sych 1 Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte die Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle. Es sind übrigens wirklich Gebote, keine Verbote: Zumindest im griechischen Urtext ist keinerlei Imperativ zu erkennen und so soll es auch im hebräischen sein, wie man mir sagte. Es heißt einfach im Indikativ: Du tötest nicht. Du stiehlst nicht. Punkt. Ganz selbstverständlich, es gibt keine Alternative dazu. Es ist keine Entscheidung von uns. Trotzdem haben alle deutschen Bibelübersetzungen und meisten englischen das „Du sollst nicht“ bzw. „thou shall not“, aufgeführt. Das klingt schon wieder nach erhobenem Zeigefinger Ist das nicht merkwürdig? Als gutelterlicher, liebender Rat würde es vielleicht so klingen (alle Gebote aus Gute Nachricht Bibel): 1. Gebot 2 »Ich bin der Herr, dein Gott! Ich habe dich aus Ägypten herausgeführt, ich habe dich aus der Sklaverei befreit.3 Du sollst keine anderen Götter neben mir haben. In biblischen Zeiten verehrten viele Menschen ganze Pantheone von Göttern, uns am bekanntesten sind die römischen mit Jupiter als oberstem Gott, die griechischen mit Zeus und die germanischen mit Thor. Die Israliten kannten am ehesten die Götter ihrer Nachbarn und natürlich die Babylonischen Götter. Wir haben diese Art von Götterwelten mit für bestimmte Lebensbereiche zuständigen personifizierten Göttern heute nicht mehr so präsent, dafür haben wir heute typischerweise andere „Herren“: z.B. unseren Arbeitgeber, das Geld an sich, „mein Haus, mein Auto, mein Ansehen, meine Altersversorgung“, daher auch Kreditgeber, diverse Süchte, Schönheit, Image und Style, meine Ziele etc. „Ich bin Gott, Dein Gott, keiner außer mir. Ich bin die Liebe selbst und ich möchte meine Liebe ständig in Dich strömen lassen und weiter aus Dir hinaus in die ganze Welt hinein. Ich führe Dich und jeden Anderen, der will, aus der Sklaverei, wie ich es immer getan habe. Weißt Du, wenn Du Deinen Geist und alle Deine Prioritäten nach mir ausrichtest, dann kann ich alles für Dich tun, denn ich bin der allmächtige Gott. Ich liebe es, für Dich da zu sein, fühle einfach mal den Strom der Liebe, den ich über Dich ausgieße. Und so können wir gemeinsam das tun, wofür ich Dich geschaffen habe, wofür ich mir Dich seit ewigen Zeiten gewünscht habe, Dich seit Beginn der Zeit geplant habe. Wir sind im Einklang und ich sorge für Dich. Wir können so zusammen am wirksamsten Im Antlitz der Liebe - 257 - © Gabriele Sych voranschreiten. Ich wünsche mir Dich frei, nicht mit anderen Sachen beschäftigst, mit anderen Prioritäten, anderen Werte, denn ich will so gerne zu Dir durchkommen. Meine Sprache geht weit über das Wort hinaus und es ist nicht so einfach, Dir auf allen Deinen Sinneskanälen eine Nachricht zukommen zu lassen, wenn Dein Kopf mit etwas anderem voll, beschäftigt ist. Ich möchte Dir so viel schenken, vielleicht entgehen Dir so meine Segnungen. Ich rufe Dich oft, weil ich Dich so gern glücklich sehen möchte, weil ich Dich so gerne senden möchte. Es gibt so viel, was ich Dir gerade zeigen möchte. Vielleicht hast Du gerade keine Zeit für mich, wenn die beste Gelegenheit da ist. Ich tue jede Menge für Dich, bitte vertrau mir einfach. Lass mich Dir viel abnehmen, lass Dich auf mich ein, ja? Wenn Du Dich auf andere Herren einlässt, ihnen dienst, um von ihnen eine Aufgabe und Deine Sicherheit zu erhalten, dann bist Du nicht frei. Bei mir bist Du sicher und frei, während andere Sicherheiten trügerisch sein mögen, denn ich bin der allmächtige Gott. Und ich liebe jeden so sehr wie Dich, daher lass Mich auch den Gott eines jeden Anderen sein.“ 2. Gebot: 4 Du sollst dir kein Gottesbild anfertigen. Mach dir überhaupt kein Abbild von irgendetwas im Himmel, auf der Erde oder im Meer. 5 Wirf dich nicht vor fremden Göttern nieder und diene ihnen nicht. Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein leidenschaftlich liebender Gott und erwarte auch von dir ungeteilte Liebe. Wenn sich jemand von mir abwendet, dann ziehe ich dafür noch seine Nachkommen zur Rechenschaft bis in die dritte und vierte Generation.2 6 Wenn mich aber jemand liebt und meine Gebote befolgt, dann erweise ich auch noch seinen Nachkommen Liebe und Treue, und das über Tausende von Generationen hin. Gott ist so eifrig und sehnsüchtig um uns bemüht und hätte gern als Gegenstück unseren Eifer und unsere Sehnsucht. Die zwei griechischen Worte, die für Gottesbild und Abbild genutzt werden, heißen ειδωλον und οµοιωµα. Das Word ειδωλον (sprich eidolon) kommt vom Wortstamm des griechischem Wortes für „sehen“ her, also etwas Sichtbares, daher wird es als Bild übersetzt, doch wir können dort auch unser heutiges Wort Idol erkennen. Ein Vorbild. Ein Ausschnitt. Das Wort οµοιωµα (sprich Omoioma) bedeutet Ähnlichkeit, wir kennen es heute z.B. aus dem Wort Homöopathie. „Ich bin Dein lebendiger Gott, eben nichts Statisches ist, sondern wirklich quicklebendig. Ich bin keine Momentaufnahme, sondern beständige Dauer, immer an Deiner Seite, doch Im Antlitz der Liebe - 258 - © Gabriele Sych trotzdem ständig neu, ständig in Bewegung – mit Dir. Ich bin für Dich da mit allen Sinnen, in allen Dimensionen erfahrbar, ich bin nicht nicht reduzierbar auf einen oder zwei Sinneskanäle oder Dimensionen. Wie könntest Du mich auch sonst in jedem Moment erfassen? Ich bin ewig, doch das umfasst ja alle Zeiten, daher bin Ich in Meiner Ewigkeit auch allumfassend und allgestaltig. Meine Sprache ist nicht nur das Wort, sondern auch das Bild, der Klang, das fühlbare Sein, die leibhaftige Erfahrung. Durch Nichts ist bin ich erfassbar außer durch Alles, nichts ist Mir ähnlich außer Alles, dem Schöpfer des Himmels und der Erden, aller Wesen. Mein Bild ist schon da: Einfach die Augen öffnen, einfach Sein erfahren, leben. Schau hin! Das bin ich! So verstehst, so fühlst Du, was ich Dir gerade für ALLE Deine Sinne, Körper, Geist und Seele zeige als Zeichen/Wegweiser und dann das nächste und das nächste und das nächste…Richte Dich an mir aus, denn ich habe Dich mit viel Liebe und Sinn geschaffen.“ Immer wenn ich auf dem Camino draußen geschlafen habe, dann lag der riesige, gewaltige, leuchtende Sternenhimmel vor meinen Augen. Dies kann uns wirklich gut die unfassbare Größe Gottes zumindest ein wenig vor Augen führen. Wir liegen da und sind so winzig. Und wie groß ist DAS denn! Wie könnte ich da was herauspicken, um es darzustellen? Es hieße, Gott die Größe, Seine Dimensionen und die Lebendigkeit abzuerkennen, wenn wir ihn abbilden. Wir könnten es nicht. Durch dieses ALLES können wir seine Größe erahnen. 3. Gebot 7 Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen; denn der Herr wird jeden bestrafen, der das tut. Im Urtext kann man es auch so verstehen: von Eitelkeiten oder Nichtigkeiten fernhalten. „Wir lieben uns und ich freue mich, wenn Du meinen Namen mit Liebe aussprichst, wenn Du mit mir und über mich redest. Was immer Du mit meinen Namen in Verbindung bringst: Ich wünsche mir so, dass es von dieser Liebe getragen ist, von Wahrheit, von dem, wie ich bin.“ 4. Gebot Im Antlitz der Liebe - 259 - © Gabriele Sych 8 Halte den Ruhetag in Ehren, den siebten Tag der Woche! Er ist ein heiliger Tag, der dem Herrn gehört. 9 Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Tätigkeiten verrichten; 10 aber der siebte Tag ist der Ruhetag des Herrn, deines Gottes. An diesem Tag sollst du nicht arbeiten, auch nicht dein Sohn oder deine Tochter, dein Sklave oder deine Sklavin, dein Vieh oder der Fremde, der bei dir lebt.3 11 Denn in sechs Tagen hat der Herr Himmel, Erde und Meer mit allem, was lebt, geschaffen. Am siebten Tag aber ruhte er. Deshalb hat er den siebten Tag der Woche gesegnet und zu einem heiligen Tag erklärt, der ihm gehört. „Ich weiß schon, dass ich manchmal für Euch Menschen nicht so einfach zu verstehen bin. Daher schenke ich Dir jede Woche einen Tag der Ruhe, damit Du Raum und freien Geist hast, um unsere Verbindung wieder wahrzunehmen, Deinem Körper Erholung schenkst. Ruhe und Stille schenken Dir wieder Aufmerksamkeit. Es soll Dir gut gehen auf meiner Erde!“ Jesus sagt das auch in Markus 2 (Bibelübersetzung Neues Leben): 27 Und er fuhr fort: »Der Sabbat wurde zum Wohl des Menschen gemacht und nicht der Mensch für den Sabbat.“ „An diesem freien Tag kannst Du auch mich und die Erfahrungen, die ich Dir biete, leichter erfassen als in Geschäftigkeit. Ich liebe es, wenn Du Zeit für mich hast, mich mit allen Deinen Sinnen, mit Deinem Herzen, Deiner Seele zu erfassen genauso wie für Deine Liebsten. So kann ich meinen Strom der Liebe am besten in Dich fließen lassen, die viele gute Botschaften schicken. Manchmal bin ich die leise Stimme in Dir und ich wünsche mir so sehr, dass Du mich hörst. Ich habe diese Welt schön geschaffen, so vielen unterschiedlichen Blumen ihre Farbe und ihren Duft gegeben. Ich habe Euch leuchtende Kinderaugen, weiche Haut, süße Früchte und das Lachen geschenkt. Genieße diese Welt, dieses Geschenk an Euch, an diesem freien Tag, genieße mich, um auch so – über die Welt und ihre Menschen - meine intensive Liebe zu Dir, zu Euch allen zu erfahren. Lass es einen Tag sein, an dem für Dich getan wird, an dem ich für Dich da bin.“ 12 Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren. Dann wirst du lange in dem Land leben, das dir der Herr, dein Gott, gibt. Im Antlitz der Liebe - 260 - © Gabriele Sych „Ja, Ich will Dich genau so, wie Du bist, denn ich habe Dich geschaffen, seit ewigen Zeiten geplant und genau so gewünscht. Ja, Du bist hier auf der Erde von ganzem Herzen erwünscht. Daher habe ich Dir die Eltern geschenkt, die am besten zu Deiner Schöpfung passen. Glaube einfach, dass sie Dich richtig auf Deine Bestimmung vorbereiten durch alles, was Du mit ihnen erlebst. Sie sind Dein Schicksal und gleichzeitig auch Dein Schatz! Er ist eines meiner besonderen Geschenke an Dich: Suche und hebe diesen Schatz! Es wird Dein persönliches Abenteuer sein. Eltern lernen durch Kinder meine Art der Liebe für andere Wesen fühlen und leben. Sie tun, was sie können. Ihr lebt in meinem ewigen Kreislauf, schwach seid Ihr am Anfang und am Ende des Lebens, damit ihr die Hilfe anderer und dadurch mich erfahren und genießen könnt. Sie haben mir geholfen, als Du klein warst. Magst Du mir helfen, was Deine Eltern angeht?“ 13 Du sollst nicht morden. „Der Herr über Leben und Tod, über jedwede Bestimmung bin ich. Und das ist gut so, denn diese Entscheidung zu treffen, das ist gewaltig. Denn: Weißt Du, was ich mit diesem Menschen vorhatte, wofür ich ihn geschaffen hatte? Weißt Du, ob seine Mission schon beendet ist? Du bist ein Mitmensch, Du weißt es nicht.Vielleicht habe ich Dir gerade dieser Mensch als Deinen Engel gesandt, der Dir den Schlüssel zum Paradies in die Hand drücken kann. Vielleicht konnte gerade er durch seine verstörende Andersartigkeit Dir zeigen, wo Du selbst noch in Deinen Gedanken verstört, von meinem Reich getrennt warst und ihr könntet Freunde werden. Abgesehen davon, dass Du durch Töten ein anders Leben zur Unzeit beenden mögest: Ich möchte Dir ein schlechtes Gewissen, vielleicht ein lebenslanger Gedanke, Zerrissenheit, Zweifel und Verzweifelung ersparen, die Frage: Was wäre gewesen, wenn ich diesen Menschen am Leben gelassen hätte? Tue Dir das bitte nicht an, ich möchte Dir das wirklich ersparen. Das trifft zu bei allen Formen von Mord, um ungeborenes Leben, um Selbstmord, um Mord und Totschlag, um Krieg. um Sterben lassen, falls Du hättest helfen können. Mein Reich ist Frieden, das Zulassen der Vielfalt der Menschen, weil ich sie so unterschiedlich brauche, und dass der Starke sich unter den Schwachen stellt, bitte komm doch herein!“ Im Antlitz der Liebe - 261 - © Gabriele Sych 14 Du sollst nicht die Ehe brechen. Die Ehe brechen ist in der Regel der Abschluss eines langen Prozesses. In einer funktionierenden Beziehung wird kein Dritter gesucht. „Die Liebe ist mir heilig. Wehre am besten den Anfängen von Miss-Stimmungen in Eurer Ehe. Ehebruch beginnt innen, darum stärkt euren inneren Bund, hegt und zu pflegt ihn, festigt und vertieft ihn, dann ist das Leben miteinander die wahre Pracht und ihr fühlt Euch wohl miteinander, was ich Euch von Herzen wünsche. Mein Friede sei mit Euch. Ihr tut Euch wohl, wenn Ihr einander annehmt, die Liebe und damit Eurer Partner darf den ersten Platz im Leben einnehmen. Genießt Eure Gemeinschaft, feiert sie mit Körper, Geist und Seele. Gerade in Eurem Partner kann ich jeden Tag bei Euch sein, gerade im Miteinander durch Dick und Dünn gehen, denn so bin ich auch. Diese Intensität und dieses Glücksempfinden habe ich der Liebe zwischen Mann und Frau geschenkt, gerade weil ich die Liebe liebe. Ihr seid mit mir Mitschöpfer, die tiefste Verbindung zwischen Mensch und Gott, wenn wir gemeinsam Eure Kinder ins Leben führen. Wenn das schwer ist, Ihr nicht weiter wisst, nicht weiter kommt: Ich bin gerne da, für Euch, ich bin doch die Liebe! Kommt zu mir, einzeln und noch besser gemeinsam, damit Ihr der Lösung Eurer Probleme gewahr werdet. Besonders hilft Euch dabei Vergebung und hinzuschauen, dass Euch nicht etwas trennt, was kleiner ist als die Liebe. Denn erst bricht das innere Band, bevor das äußerliche Band bricht, die Ehe bricht, einer ausbricht, was schade wäre, weil ich so meine Liebe nicht mehr so intensiv ausdrücken kann.“ 15 Du sollst nicht stehlen. Das im Griechischen gewählte Wort κλεψεις (klepseis, was wir aus dem Wort Kleptomanie kennen) heißt übrigens nicht nur stehlen, sondern auch unterschlagen, schmuggeln, entführen, sich betrügerisch, schlau oder heimlich etwas zu verschaffen, betrügen, täuschen, verhehlen, verbergen, verheimlichen, etwas heimlich tun. „Was für Dich ist, das bekommst Du, denn ich meine es beständig gut mit Dir. Was nicht für Dich ist, das brauchst Du nicht, es wird Dir nichts nützen. Denn das Dumme ist: Du wirst es immer verbergen wollen, es wird Dir Angst verschaffen vor Entdeckung, vor Strafe, vor der Rückgabe, der Wiedergutmachung, der Schuld, es sind einfach blöde Gefühle, saure Trauben. Vielleicht verpasst Du durch diese Gefühle das anzunehmen, Im Antlitz der Liebe - 262 - © Gabriele Sych was ich Dir ganz frei gebe! Glaube mir, dass Du das bekommen wirst, was für Dich richtig ist, die süßen Trauben! Ich habe genau für Euch alle gemeinsam genug geschaffen.“ 16 Du sollst nichts Unwahres über deinen Mitmenschen sagen. Es geht hier im griechischen Original um die Aussage bei Gericht, sogar betont in Form einer sprachlichen Verdopplung. „Für jeden Menschen habe ich meinen eigenen Plan, für Dich, wie für jeden anderen. Überlasse sie bitte meiner Führung, so wie Du lieber auch nicht von Deinem Wege durch Willkür anderer abgebracht wirst. Du hast immer ein gutes Gewissen, wenn Du bei der Wahrheit bleibst, besonders dann, wenn Du über Deinen Mitmenschen vor Gericht aussagst. Dort wird von Menschen über das weitere Leben von Menschen entschieden. Hilf den menschlichen Richtern, die beste Entscheidung für alle Beteiligten zu finden. Dafür brauchen sie Deine Wahrheit. Es ist gut, wenn die Unschuld Unschuldiger festgestellt wird und sie ihr Leben unbeschadet fortsetzen können. Es ist ebenso gut, wenn die Schuld Schuldiger festgestellt wird, damit auch Du und alle anderen die Wahrheit kennen und so besser geschützt seid. Nur so kann Vergebung stattfinden.“ Für das Lügen an sich könnte es sich so anhören: „Mein liebes Kind, es ist einfach besser, z.B. nicht zu lügen. Denn wenn Du lügst, kriegst Du hinterher "Probleme". Die Trennung entsteht ja nicht nur in der Trennung von der Wahrheit. Sie liegt auch in der Trennung von Dir selbst, weil Du ja nicht das sagst, was du denkst oder erlebt hast, sondern etwas Ausgedachtes, Konstruiertes. Und du erlebst Trennung von der Person, der Du die Lüge erzählst, weil sie jetzt von Dir nicht Deine Geschichte weiß, sondern nur eine erdachte Geschichte. Und da eine Lüge oft eine oder mehrere nach sich ziehen, trennst Du Dich im Folgenden wieder und immer weiter von Dir selbst. Du passt auf, dass du nicht beim Lügen ertappt wirst und trennst dich daher von spontanen Aussagen und prüfst erst, ob alles auch mit den bisherigen Lügen übereinstimmt, bevor Du eine Äußerung wagst. Das ist anstrengend und mühsam. Und Du kannst vielleicht nicht tun, was du von Herzen gern tätest, weil sonst eine Lüge herauskäme. Und so setzt sich die Trennung immer weiter fort, bis Du vielleicht in einer völlig erlogenen Welt lebst, geplagt von schlechtem Gewissen, Schuldgefühlen und einer Im Antlitz der Liebe - 263 - © Gabriele Sych Gegenwart, die nicht wirklich Deine ist. Das Leben wird weniger lebendig, sondern immer künstlicher. Das ist weder gesund noch heil. Dein natürliches Ich wird umgebracht.“ 17 Du sollst nicht versuchen, etwas an dich zu bringen, das deinem Mitmenschen gehört, weder seine Frau noch seinen Sklaven oder seine Sklavin, sein Rind oder seinen Esel noch irgendetwas anderes, das ihm gehört. „Es ist ein Anreiz, wenn Du nicht zufrieden mit dem bist, was Du hast und stattdessen Dein Herz auf das richten magst, was ein anderer hat. Komme doch lieber zu mir und ich helfe Dir, zufrieden und dankbar zu werden. Es gibt so viele Wege, die wir gemeinsam beschreiten können, um diesen Zustand zu erreichen. Verharre nicht in der Betrachtung dessen, was ein anderer hat, verschwende daran keine Zeit. Lass uns lieber die Zeit gemeinsam besser nutzen. Richte Dich auf mich aus und wir werden gemeinsam Dein Leben vom Mangel weg zu wahrer Freude zu verwandeln. Dein Mangelgefühl zeigt Dir gerade, dass es genau jetzt mit uns losgehen kann. Überschütte doch Deine Frau mit Liebe, so wird sie in ihrer Schönheit, ihrem Strahlen, ihrer Freundlichkeit, ihrer Liebe und Freude, für Dich da zu sein, wachsen. Behandle alle Wesen, für die Du zuständig bist oder mit denen Du zusammen wirkst, mit Liebe, Respekt und Freundlichkeit. Pflege sie gut und hilf ihnen wachsen, so werden sie auch für Dich gute Partner sein. Wenn Du noch nichts dergleichen hast, so wisse, dass ich Dich gerade jetzt pflege, führe und Dir helfe zu wachsen, damit auch Du Deinen eigenen, guten Platz findest, mit dem Du Dich zu Recht wohlfühlst. Genau so wirst Du stolz sein, auf Dich, auf sie und alles von Herzen genießen können, was Dein war, ist und sein wird.“ 2.1.3.4 Wir sind ja nicht allein! Wenn die Verfehlung des Zieles ist, auf etwas zuzugehen, was nicht Liebe ist, dann ist die Umkehr die Rückkehr in den Zustand der Liebe, in den Strom der Liebe. Wird uns das allein gelingen? Sind wir der tapfere kleine Mensch, der jetzt mit einem großen Kraft- und Willensaufwand das Steuer herumreißen muss, um alles wieder auszugleichen? Kommen wir so in die Liebe zurück? Wenn wir uns Jesus anschauen, so finden wir immer wieder, dass er auf Sünder zugeht, nicht nur das, er sucht sie intensiv als verlorene Schafe. Wir lesen, wie er sie aufbaut, Im Antlitz der Liebe - 264 - © Gabriele Sych ihnen ihre Würde zurückgibt und sie mit den Anderen wieder auf gleiche Augenhöhe zurückbringt: z.B. bei der Frage nach der Steinigung der Ehebrecherin, bei Zachäus, dem Zöllner, dem verlorenen Sohn. Exkurs: Was ich dabei mal wieder nicht verstehe, ist, warum die Beichtenden auf die Knie gezwungen werden. Und vor allem: Warum wird ihnen vorher die Eucharistie verweigert? Denen, die sie am meisten brauchen? Die Eucharistie ist das Medikament Jesu, die Quelle der Liebe und Vergebung. Da ich lange zu geistiger Kommunion „gezwungen war“, habe ich die Eucharistie immer in beiden Gestalten68 erhalten. Ich hatte dies vorher schon beim Abendmahls-Geheimnis des Rosenkranzes häufiger erfahren. Dadurch wurde mir ihr mystischer Inhalt immer mehr bewusst, ich spürte von beiden Gestalten die unterschiedliche Wirkung und warum es wichtig ist, dass es beide Gestalten gibt. Und je länger ich wöchentlich in der Kirche so kommunizierte, konnte ich immer deutlicher wahrnehmen, was Brot und Wein machen. Wenn ich das Brot erhalte, dann geht von meiner Herz-/Magenregion ein Strahlen zu allen Seiten aus. Später kam hinzu, dass ich merkte, wie sich daraus um mich herum eine Lichtspirale in Gang setzte, die wie ein Wind alles Schwere wegpustete, irgendwann nahm ich am Ende ein Herz – wie ein Schutzschild - um mich herum wahr. Wenn ich den Wein erhielt, dann war es zunächst so, dass sich von meinem Körpermittelpunkt nach oben und nach unten etwas Starkes, Dunkles aufrichtete, als ob ich nach oben und unten gezogen würde. Später kam hinzu, dass von derselben Stelle aus nach der Oben-/Untenbewegung anschließend derselbe Sog zu beiden Seiten stattfand. Das Kreuz baute sich aus dem Blut in mir auf und richtete meinen Kanal nach oben und zur Erde hin wieder aus, danach dahin, wo meine Arme und Hände hinreichen können, zu den Menschen der Welt. Zusammen das Symbol der Herz-Jesu, das Kreuz auf dem Herz, als Bild des höchsten Gesetzes. Die, die die Kommunion akut brauchen, kriegen sie oft nicht. Glauben wir, dass Jesus so heilig sein will, dass er von den „Unwürdigen“ ferngehalten wird, in ein fernes Tabernakel eingeschlossen? Möchte er auf ein Podest gestellt werden, das auch wieder trennt? Ist er nicht – im Gegenteil – immer auf die „Unwürdigen“ zugegangen, hat sich selbst zu ihnen runtergebeugt, sich zum Mahl direkt zu ihnen gesetzt? Sind nicht alle Unwürdigen Menschen, die irgendwo auf dem Weg 68 Beide Gestalten: Brot und Wein Im Antlitz der Liebe - 265 - © Gabriele Sych zum Heil sind; sollten wir ihnen verachtungsvoll noch Steine in den Weg legen? Hat er nicht sich selbst hingekniet und seinen Jüngern die Füße gewaschen? Will er nicht unter uns allen sein, sagt er nicht: „Ich bin bei Euch alle Tage, bis an der Welt Ende!“ Judas Ischariot hat auch beim allerersten Abendmahl dabei und wurde nicht ausgelassen. Ich denke, die Eucharistie muss gerade als starke Medizin zu den Sündern hin, um sie zu heilen, um sie so sehr mit Liebe anzufüllen, dass sie den Weg zurück wieder finden, weil sie nun den Geruch, den Geschmack, das Gefühl kennen. So kann Jesus auch heute noch auf die Sünder zukommen! „Kommt zu mir,“ rief er „die ihr mühsam und beladen seid!“ Jesus ist doch quicklebendig immer da und gerade kein goldenes Kalb, vor dem man sich rituell in den Staub wirft. Vor einiger Zeit habe ich das Bild gesehen von der Perle, als die wir Gottes Reich finden können, und die uns wichtiger ist als alles Andere. Wir sind auch Perlen, die allerdings teilweise noch in sehr harten Schalen stecken, die noch zu öffnen sind. Wir haben uns manchmal sehr fest verschlossen, doch trotzdem in uns ist schon die Perle angelegt. Manchmal braucht es viel Liebe (Wasser), damit wir unsere harte Schale öffnen können. Manchmal sind wir als Perle noch verdunkelt, brauchen noch ein wenig Politur. Mit dem weichen Tuch der Liebe poliert uns Gott, damit wir die manchmal verworrenen oder schrägen Vorstellungen über das, was und wie Liebe ist, loswerden können. Der Vorgang des Polierens fühlt sich manchmal vielleicht etwas sehr „drüber und drunter“ an, doch hinterher ist die Perle, unser inwendiges Reich Gottes glänzend. Gott ist es, der uns die Gnade zukommen lässt, dass er auf Millionen unterschiedliche Weisen Liebe in unser Leben hineinfließen lässt. Es geht gar nicht darum, dass wir es allein schaffen. Es geht darum, dass wir uns mit unserem Schuldgefühl vor Gott hinstellen und sagen: „Hier stehe ich. Damit fühle ich mich furchtbar, ich hab keine Ahnung mehr, was ich tun soll. Tragen kann ich es nicht mehr. Ich komme nicht weiter. Bitte hilf mir, erlöse mich von dieser Last, dieser Lieblosigkeit!“ Am Ende des eigenen Lateins angekommen sein. Aufgeben zu meinen, es allein zu schaffen, es allein schaffen zu können oder zu müssen. Die Last weitergeben an Gott: Das primär ist für mich die Umkehr. Und dann geht es an das Umsetzen, ohne das keine Umkehr vollständig ist. Keine Umkehr ohne Gnade und keine Gnade ohne Umkehr und neues Handeln. Der Prozess der Reue geschieht auch nicht aus unserer eigenen Veranlassung: „So, denn will/muss ich jetzt mal bereuen! Ich hab zwar nicht viel Lust drauf, aber was muss, das Im Antlitz der Liebe - 266 - © Gabriele Sych muss wohl!“ Nein, im Gegenteil: Die Liebe, die nach der Umkehr durch unser Aufgeben, durch unser Aufhören des uns dagegen Wehrens, durch uns fließt, führt automatisch zu Mitgefühl, Mitleid durch Sehen und Verstehen „dualen Erlebens“. Die Fortsetzung der Reue ist die Sühne. Die Liebe fließt weiter durch uns und bewirkt, dass wir dem von unserem Handeln Betroffenen Gutes tun wollen, ohne Druck, freiwillig. Nicht wir waschen uns rein, Er tut es. Gott ist der Motor, Er befreit uns durch Umkehr, Reue, Sühne. Gott gibt uns von den Umständen frei, wenn wir die Verfehlung des Weges erkannt haben und beenden. Klar, auf unserem Pilgerweg unseres Lebens kommen wieder auf unser Ziel zu. Wir haben seinen gelben Pfeil erkannt, der Richtungswechsel ist vollzogen. 2.1.3.5 Vergebung Nicht jede Handlung führt bei jedem Gegenüber automatisch zum gleichen Schmerz. Was der eine als schmerzhaft oder verletzend empfindet, das mag dem nächsten egal sein, eventuell begrüßt ein Anderer es sogar. Das Leid des Beteiligten liegt manchmal in der leidenden Person selbst. Sie beschließt bewusst oder unbewusst, unter der Handlung zu leiden, beispielsweise wenn der andere etwas von uns will, was wir ihm wirklich nicht geben können, wenn wir ein Schuldempfinden nicht haben, sondern nur Mitleid. Was ist, wenn unser dreijähriges Kind partout auf die stark befahrene Straße rennen will? Dann halten wir es auch fest, auch wenn es schreit und tobt und leidet und auf uns stinkesauer ist. Was ist, wenn ein Mensch von uns etwas erwartet, was unseren Werten, unseren Möglichkeiten, unseren Gefühlen, unserem Wesen widerspricht? Müssen wir uns dann entschuldigen und umkehren, um Vergebung bitten, weil sich der Andere verletzt fühlt? Ich glaube, dass Gott häufig so mit uns geht. Er weiß, dass er das Rechte für uns will (der Einzige, der wirklich WEISS, was das ist!!!), uns nur den einen Weg aufmachen kann, den Weg unserer Bestimmung, unserer Verheißung. Doch was, wenn wir uns etwas – sei es irgendwelchen Quatsch, sei es die zweitbeste Alternative - noch so sehr wünschen und uns dran festklammern? Wir leiden und leiden, hadern eventuell vielleicht sogar noch mit Gott. Dabei tun wir ihm so leid. Bestimmt sagt er zu uns: „Kind, hab doch Einsehen, sei doch mal locker, lass dich führen, ich will doch was viel Besseres für dich!“ Und die beste Lösung, unsere Bestimmung, wartet und wartet, dreht Däumchen, setzt Schimmel an… Im Antlitz der Liebe - 267 - © Gabriele Sych Vor meiner Entscheidung, den Weg zur Heilpraktikerin/Heilerin, zur Pilgerei, zum wahrhaft christlich-spirituellen Leben einzuschlagen, habe ich mich sehr bemüht, in einem anderen, einen weltlichem Beruf Fuß zu fassen, der eigentlich nur ein Trittstein, eine Lehrzeit zur Professionalisierung sein sollte. Die Zeichen wurden immer deutlicher, er hat die ganze Palette an „Pfeilen“ aufgefahren, bis es dann irgendwann in meinem Büro gebrannt hat. Alles, was ich nicht mehr brauchte, was zu Ende sein sollte, das war verbrannt. Habe ich gelitten? Ja! War es schön? Nein, aber notwendig, GUT war’s und DANKE, MEIN GOTT! … Der Brand war am Schalttag des Jahres 2004, das Jahr, an dessen Jahresanfang ich mich entschied, den Jakobsweg nach Santiago de Compostela zu pilgern. Und sechs Wochen nach dem Brand lernte ich Santiago kennen, der mich wieder auf den spirituellen Pfad zurückführte. Er war mein Barnabas. Die Erklärung finden wir in Römer 8 (Hoffnung für alle): 27 Und Gott, der unsere Herzen ganz genau kennt, weiß, was der Geist für uns betet. Denn der Geist vertritt uns im Gebet, so wie Gott es für alle möchte, die zu ihm gehören. 28 Das eine aber wissen wir: Wer Gott liebt, dem dient alles, was geschieht, zum Guten. Dies gilt für alle, die Gott nach seinem Plan und Willen zum neuen Leben erwählt hat. 29 Wen Gott nämlich auserwählt hat, der ist nach seinem Willen auch dazu bestimmt, seinem Sohn ähnlich zu werden, damit dieser der Erste ist unter vielen Brüdern und Schwestern. 30 Und wen Gott dafür bestimmt hat, den hat er auch in seine Gemeinschaft berufen; wen er aber berufen hat, den hat er auch von seiner Schuld befreit. Ebenso wichtig ist die Vergebung für die betroffene Person, das Opfer. Solange sie nicht vergibt, verharrt sie im Leid, entscheidet sich – täglich - weiter für das Leid: „Ich hätte da noch was zu kriegen! Schuld, Zins und Zinseszins!“ Die Situation ist vergangen, die Vergangenheit kann faktisch nicht mehr, sondern nur noch an einem Ort verändert werden, nämlich im eigenen Herzen, in dem, wie wir darüber denken und fühlen, in der Gegenwart. Wer weiß, warum jemand anderes hat, was wir für uns beanspruchen? Vielleicht brauchte er es dringender als wir… Als wir Padrón verließen, den Ort, in dem das Schiff mit den sterblichen Überresten des heiligen Santiago in Im Antlitz der Liebe - 268 - © Gabriele Sych Spanien gelandet ist (der namensgebende Anleger-Stein – pedrón – ein römischer Meilenstein - ist immer noch unter dem Altar der Santiago-Kirche), da landeten wir nach dem Ortsausgang – zwar auf einem sehr schönen Weg - auf einer Halbinsel, vor uns nur Wasser, kein Weg. Der Platz hatte zwar eine sehr schöne Aussicht, doch länger als für eine Pause verweilen machte keinen Sinn. Obwohl wir auf dem ganzen Camino nie gern eine Strecke wieder zurückgegangen sind, weil wir uns verlaufen hatten, nun mussten wir einfach umkehren. Wir hielten einen Mann auf einem Fahrrad an, der uns dann den Weg beschrieb, wo wir auch wieder unsere Pfeile fanden. Beim Pilgern verharren geht einfach gar nicht, hinsetzen und heulen, sich im Kreise drehen oder trotzig sich verschließen hilft gar nicht, sondern nur die Realität anerkennen. Wenn man in einer Sackgasse angekommen ist, dann muss man sich umdrehen und einen anderen Weg suchen, damit man weiter auf sein Ziel zukommt, wieder einen Platz findet, an dem man wieder essen und schlafen kann, warm und satt wird und Geborgenheit findet. Und eigentlich klingt ja pedrón fast wie perdón = Vergebung, oder? Analog ist der Lebensweg. Da, wo ein Weg so für uns nicht weitergeht, wo wir sonst verhungern oder vor Kälte sterben würde, real oder im Herzen, da ist es angesagt, den alten Weg hinter sich zu lassen. Darum fordert uns das Vaterunser auf, denen zu vergeben, die uns verletzt haben, von denen wir meinen, dass sie uns gegenüber noch Schulden haben. Das spanische Wort für „vergeben“ heißt „perdonar“. „Donar“ bedeutet geben, schenken, stiften, spenden, auch zu finden in dem Camino-Wort „Donativo“. Die lateinische Präposition „per“ bedeutet durch, hindurch. Und hierin findet sich viel Wahrheit und ein ganz simpler Weg, um mit Verletzungen umzugehen. Vergeben bedeutet hindurchgeben, durch uns hindurchgeben, durchreichen an Gott. Wir sammeln von dem anderen etwas auf, was wir mittels Vergebung gleich weitergeben an Got und dort entsorgen, am besten schon bevor es uns verletzt. Wir schenken es einfach an Gott weiter, statt die unwillkommene Gabe wieder „doppelt und dreifach“ zurückzugeben, d.h. uns zu rächen. Gott nimmt uns das Gegebene ab, so dass sich dieser Strang der Verfehlung nicht fortsetzt und sich weiterentwickelt zu einem Streit etc., sondern ins Leere läuft, ausläuft, in uns seinen Abschluss findet. So wird unsere Welt immer mehr gereinigt: Handlungsstränge des Hasses, der Gewalt, des Missbrauchs, des Betruges, der Missverständnisse, der Lieblosigkeit einfach beendet, frische Handlungsstränge oder auch solche, die teilweise schon von Generation zu Im Antlitz der Liebe - 269 - © Gabriele Sych Generation in unserem Familienstammbaum am laufen sind. Wir dürfen quasi Müllleute sein, die zwischenmenschlichen Müll sich nicht aufhäufen lassen, sondern „stante pede“, unverzüglich in Gott entsorgen, wo dieser Müll sich rückstandslos in Liebe auflöst. Daher sagt Jesus uns auch in der Bergpredigt in Matthäus 5 (Lutherbibel 1984): 5 Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen. 9 Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder heißen. 39 Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel, sondern: wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar. 40 Und wenn jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel. 41 Und wenn dich jemand nötigt, eine Meile mitzugehen, so geh mit ihm zwei. 44 Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, 45 damit ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Wenn wir anderen Menschen vergeben, dann befreien wir nicht nur den anderen, sondern vor allem uns selbst und machen unsere gesamte Welt besser. Wir öffnen uns für das Neue, für die Freiheit, den Frieden im Gottesbewusstsein. Selbst wenn die Aussicht auf die Rückzahlung der Schuld noch so schön gewesen wäre, die Rache noch so süß gewesen wäre, die Erfüllung unserer Erwartung ein Hochfest: was, wenn dieses Ziel nicht erreicht wird? Was, wenn es uns nicht weiterführt, wir im Warten verdorren, verfaulen oder verschimmeln würden, oder noch sinnfreier, in der Beschäftigung mit Anwälten und Gerichten, die die Schuld eintreiben sollen, unsere Zeit verplempern? Endlich frei sein, ohne Last. Und – irgendwann werden wir wissen, wofür das alles gut war! Im Verlaufe meiner Scheidung hatte ich mit meinem Ex-Mann gerichtlich einen Ehegatten-Unterhalt vereinbart, da ich durch die Umstände die Erziehung unseres Sohnes allein übernommen habe. Er hat ihn nie gezahlt, die geschuldete Summe hat sich auf viele tausend Euro angesammelt. Ich habe in meinem Gnadenjahr auf alles verzichtet. Er schuldet mir nichts mehr. Ich hätte noch Jahre auf die schöne Aussicht des Luftschlosses dieser Geldsumme am anderen Ufer starren können, es für Meins halten können. Hätte ich jemals in dieses Schloss einziehen können? Ich habe die Bindung gelöst und mich auf meinen Glauben fokussiert. Ich lasse ihn ziehen und sein Leben leben, seine Ressourcen in sein Leben fließen. Ich gehe meinen Weg weiter. Für mein Auskommen ist mein Weg mit Gott zuständig. Vertrauen… Im Antlitz der Liebe - 270 - © Gabriele Sych Die Vergebung findet durch Gott, den Vater statt. In Ihm kommen alle Dinge in Einheit zusammen, sowohl der Fehler wie auch das, was wir stattdessen hätten tun können. Es sind zwei Pole, die in Gott in einem Punkt zusammenfallen und dort in Frieden miteinander existieren. Die Dissonanz löst sich auf. Durch das Fühlen dieses Friedens, den Gott uns bei der Vergebung ermöglicht, bewirkt das Abfallen der Last. Eine Schuld lagert sich auch als Unerledigtes, als etwas, was nicht ans Licht kommen soll, in unserem Geistkörper an. Im Moment der Vergebung, wenn wir wieder wissen, dass wir die Schuld nicht tragen müssen, wird das Schuldgefühl daraus entlassen, das kann man spüren. Es ist der berühmte Stein, der einem vom Herzen plumpst. Die Vergebung ist unsere einzige Aufgabe im Vaterunser! Den Rest macht er! Einfach durchreichen, nicht zurückschlagen, nicht mitmachen, den Ball – zack! - einfach gleich weiterwerfen an Gott. Wie geht das? In dem Moment, wo etwas passiert, was sich wie eine Verletzung anfühlt einfach diese Bitte aussprechen: „Bitte lass mich teilhaben an Deinem Heiligen Geist und Deinem Heiligen Herzen in Jesus Christus“. Das ist, was auch gemeint ist mit „Lamm Gottes, Du trägst die Sünde der Welt“. Jesus hat auch einfach durchgereicht, was er anderen abgenommen hat. Mir ist klar geworden, dass er dafür seine Gebetszeiten brauchte. In einem Rosenkranzgebet mit eigenen Geheimnissen, in dem Fall war es die Geschichte des Wandelns auf dem Wasser in Matthäus 14, da nahm ich einmal wahr, wie Jesus auf einen Berg ging, um zu beten. Im Gebet sah ich eine Art Gebetskanal, angefüllt war von Luftwirbeln und Flammenzungen, der vom Himmel aus auf Jesus gerichtet war. Dieser Wind umwehte Jesus, und ich glaube, er wurde da all das los, was er den Menschen vorher abgenommen hatte, was er vorher getragen hatte. Plötzlich richtete sich für ein paar Ave Marias dieser Gebetskanal auf mich und ich spürte etwas wie einen starken geistigen Wind um mich, der mich von oben bis unten reinigte und leicht machte. Wenn wir also etwas „durchzureichen“ haben, dann geht das entweder in der Teilhabe an Gottes Geist und Herz oder durch diesen Gebetsstrom, den wir uns auch jederzeit Im Antlitz der Liebe - 271 - © Gabriele Sych erbitten können. Darin verschwindet jede Emotion, die zu Verletzung, Streit und Rache führen könnte, in Friede und Liebe gewandelt. Dies wandelt uns zu den Friedfertigen. 2.1.3.6 Geistige Eucharistie Die tägliche Eucharistie ist eben unsere tägliche Reinwaschung, das tägliche, vollständige Durchreichen. Und wenn wir es nicht in die Kirche schaffen, so können wir auch täglich geistig kommunizieren. In der geistigen Eucharistie ist Jesus selbst der Spender, der Priester. So hat es für mich funktioniert: Wir imaginieren folgenden Text und stellen uns vor, dass Jesus uns selbst das Brot und den Kelch reicht und wir das Brot und den Wein schlucken (ich bete immer, wie beim 10. Rosenkranzgeheimnis, das Ave Maria währenddessen). Es ist eine Mischung aus Matthäus 26 und der katholischen Eucharistievorbereitung. In der katholischen Messe werden wir übrigens durch das Klingeln genau auf diesen Moment hingewiesen. Das Abendmahl Als sie aber aßen, nahm Jesus das Brot, dankte: „Gepriesen bist du Herr, unser Gott, Schöpfer der Welt. Du schenkst uns das Brot, die Frucht der Erde und der menschlichen Arbeit. Wir bringen dieses Brot vor dein Angesicht, damit es uns das Brot des Lebens werde, mein Leib. Gepriesen bist du in Ewigkeit, Herr, unser Gott." und brach's und gab's den Jüngern und sprach: Nehmet, esset; das ist mein Leib. Und er nahm den Kelch und dankte: „Gepriesen bist du, Herr, unser Gott, Schöpfer der Welt. Du schenkst uns den Wein, die Frucht des Weinstocks und der menschlichen Arbeit. Wir bringen diesen Kelch vor dein Angesicht, damit er uns der Kelch des Heiles werde, das Blut Jesu Christi. Gepriesen bist du in Ewigkeit, Herr, unser Gott." Er gab ihnen den und sprach: Trinket alle daraus; das ist der Kelch des neuen und ewigen Bundes, das ist mein Blut, das für euch und für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden. Tut dies zu meinem Gedächtnis.“ 2.1.3.7 Montañas de Engaño Von Finisterra sind wir mit dem Bus nach Noia gefahren, denn in Noia biegt der Bus von der Küstenstraße nach Santiago de Compostela ab. Die Strecke von Noia nach Padrón, dem ersten Ort auf dem Camino Portugués, ist ungefähr genauso weit wie der Weg von Santiago nach Padrón - so sahen wir Im Antlitz der Liebe - 272 - © Gabriele Sych es auf der Karte. Genauso weit stimmt so ungefähr, aber das Höhenprofil war deutlich unterschiedlich. Von Noia an ging es bergauf, encima, meist durch den Wald. Und immer wieder dachten wir, jetzt sind wir langsam oben angekommen. War aber nicht, es ging immer wieder weiter. Immer wieder tauchten neue Höhen vor uns auf, die vorher verdeckt waren: durch den Wald, durch die Hügel davor. Ich taufte diesen Berg „Montaña de Engaño“69, Berg der Täuschung. weil: Immer denkt man, man hätte es geschafft mit dem Aufstieg, doch: getäuscht! Immer noch nicht! Die besondere zeitliche Position unseres Montaña de Engaños zwischen Camino Francés und Camino Portugués zeigte auch, was ein Abweichen vom Weg für uns bedeutete: unnötige Mühsal. Nun, Montañas de Engaños hatte ich in den letzten Jahren häufig erlebt. Viel gemacht, wenig erreicht, immer wieder tauchten neue Herausforderungen vor mir auf, geruhsame, entspannte Zeiten gab es nicht. Angekommen war ich noch nicht. Würde es jetzt bald passieren, nach dem Camino? Passiert es eigentlich überhaupt irgendwann? Bei einem Vortrag über innere Heilung durch Jesus hörte ich einen ähnlichen Vergleich von einem bekannten charismatischen Priester. Man möchte eine Tasse Tee trinken, setzt die Tasse an die Lippen, aber der Tee fließt nicht aus der Tasse, der Tee gerät nicht in unseren Mund, was immer wir auch tun. Die Ursache für dieses Geschehen im Leben nannte er teuflische Bindung, die Ursache für teuflische Bindung im Leben: Todsünde70. Was ist wichtig: Wer diese Situation auch in seinem Leben kennt, der sollte intensiv nachschauen, wo er sich wissentlich, absichtlich und mit freien Willen in etwas hineinbegeben hat, was nicht mit Gottes Willen übereingestimmt hat, was nicht Liebe war. Zu den größten Sünden gehören biblisch Mord, Ehebruch und Abfall von Gott, schwere Verleumdung und Verweigerung von Hilfe in Lebensgefahr. Nicht nur Abfall von Gott, das muss ich zugeben, ist in meinem Leben passiert. So prüfe sich ein jeder, der Montañas de Engaños im Alltag schon kennen gelernt hat, ob nicht eine solche Ursache vorhanden sein kann, egal was für eine 69 Engaño ist auch eine Figur bei der Salsa, ein Antäuscher, wo der Mann so tut, als würde er seinen Arm um die Frau legen, dann aber schnell den Arm wieder zurücknimmt, um die nächste Figur einzuleiten. 70 Es gibt eine neue Aufstellung von Todsünden für die heutige Zeit, die von dem Bischof Gianfranco Girotti veröffentlicht wurde: Handel und Konsum von Drogen, Missbrauch von Kindern und Jugendlichen, Umweltverschmutzung, Abtreibung, Genmanipulationen, Profitgier, exzessiver Reichtum/Luxus. Klingt mir durchaus gut beobachtet.. Im Antlitz der Liebe - 273 - © Gabriele Sych Abweichung vom Weg. Dieser Ursache auf die Spur zu kommen kann unserem Leben eine gewaltige Wendung verschaffen, das nur als kleiner Rat am Rande. Gott ist nicht der Verursacher von Leid, das schaffen wir selbst mit unseren Gedanken, die der Widersacher dann verstärkt in seine Zielrichtung lenkt, um es immer trüber, schwieriger und in unserem Falle heißer – was haben wir an diesem heißen Sonntagnachmittag geschwitzt - werden zu lassen. Aber Er lässt es geschehen, wenn es uns insgesamt wieder auf Seinen Weg führen kann. Für unsere erste Abweichung vom Camino in Frankreich hatte er uns – als Pilgeranfänger - einen Schutzengel, nämlich Blanco geschickt, hier war der Montaña de Engaños seine Mahnung, auf dem Wege zu bleiben. In Padrón waren wir wieder auf dem Camino und hier zu bleiben, das wurde mir immer wichtiger! Und noch ein drittes Mal haben wir den Camino verlassen, nämlich um nach Fátima abzubiegen. Auch hier folgte direkt ein unerwarteter Aufstieg, nämlich der nach Alvaiázere. Jeder, der am Theater inszeniert, kann da doch nur blass werden, oder? Allerdings auch alles Asañas! 2.1.3.8 Verantwortung und Konsequenz Womit viele Menschen heute wahrscheinlich mehr anfangen können, das ist das Konzept von Verantwortung = Antwort für/auf etwas geben und Konsequenz = was auf etwas folgt, was mit etwas folgt. Vergessen wir das ganze Strafkonzept, das Kopf einziehen, die Schuldgefühle und das Verstecken, die Abscheu vor dem Wort Sünde und all seiner schreckensbesetzten Konnotationen! Stehen wir auf, stehen wir dazu. Wenn ich etwas getan habe, und es war nicht richtig, dann kümmere ich mich aktiv um die Konsequenzen, um die Dinge wieder in Ordnung, auf den richtigen Weg zu bringen. Dies tilgt den Fehler am schnellsten, die Last verschwindet; und es ist viel leichter als ein bleibendes Schuldgefühl. Wir brauchen einfach nur den Mut, auf den anderen zuzugehen und alles zu klären. Ganz sicher: danach fühlen wir uns besser, Kommunikation hilft. Und eine Umarmung auch. Strecken wir immer wieder die Hand zum Paz Christi, zum Friede sei mit Dir, zum Friede in Jesus Christus aus. Verantwortung heißt generell, für das eigene Handeln einzustehen und immer wieder an den Kreuzungen des Lebens mit Ihm die Frage zu klären: Was ist die beste Antwort für Im Antlitz der Liebe - 274 - © Gabriele Sych alle Beteiligten auf die aktuelle Situation? Folgen wir Ihm, sind wir auf dem richtigen Weg. Konsequenz heißt dann auch: Ich habe verstanden, dass etwas kein guter Weg war und lasse es von nun an – konsequent. Ich habe verstanden, was das Wesen von Gottes Reich ist und setze es kontinuierlich um – konsequent. Darüber hinaus ist es wichtig, sich nicht auf die Schuld zu fixieren und ständig sein Leben auf Gedanken über Sünde zu fokussieren, sondern viel besser auf das, was wir gut und göttlich machen, wie wir dorthin kommen, auf den guten Weg. Bleiben wir nicht auf dem Bauch und im Schmutz liegen, wenn wir gefallen sind. Stehen wir lieber auf und schauen wir jeden Tag dahin, was uns gelungen ist, was uns und andere weiter gebracht hat, verschieben wir unseren Handlungsfokus hier hin, auf die gute Botschaft, auf das, was die Früchte des heiligen Geistes hervorbringt. Genau das ist auch wichtig in der Kindererziehung. Wenn ich mich auf die Fehler meines Kindes konzentriere, darauf achte, dass es nichts falsch macht, dann mache ich es nervös, dann haben wir zwei ständig Stress miteinander und weder in mir noch in meinem Kind wächst ein positives Selbstbild. Viele kennen das mit den Sprüchen „lass mich das machen, das kannst du ja eh nicht“, „lass es lieber, das schaffst du nicht“, „mach bloß keinen Fehler“ oder „wehe, wenn du einen Fehler machst“ oder das Androhen von Strafe, wenn Fehler gemacht werden. Ein Kind mit einer solchen Erziehung bleibt unselbständig, entwickelt wenig Selbstbewusstsein, wird wenig ausprobieren, hat Lebensangst und kann nur schlecht Entscheidungen treffen. Wir beten daher auch das Ende des Ave Maria im Rosario zu vielen Zeiten auch anders, nämlich als positive Einstellung zum Leben und zum Umgang mit der Sünde. Statt „Bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes“ beten wir „Bitte für uns, die wir Kinder Gottes sind, jetzt und in der Stunde unseres Überwindens von Sünde, Krankheit und Tod.“ In diesem Moment stellen wir uns aktiv in das Gute, indem wir uns als Kinder Gottes verstehen. Gottes Name ist: Ich bin, der ich bin (da). Auch wir können immer wählen, wer wir sind! Auch wir können uns immer weiter von der Sünde lösen und alle unsere Antennen auf GUT einstellen. Sich mit dem Bösen nicht beschäftigen und es nicht direkt bekämpfen, Im Antlitz der Liebe - 275 - © Gabriele Sych denn auf seinem Feld hat es immer mehr Erfahrung als wir71. Sicherer ist es, das Böse indirekt bekämpfen durch konsequenten Fortschritt im Guten! Wir fokussieren uns nicht ständig auf unseren Tod, sondern auf all die Zeit, in der wir es schaffen können, zu lieben statt eine Sünde zu begehen, in Seinem Willen zu bleiben, auf dem Weg der Liebe zu bleiben und nicht krank zu werden oder unsere „Gäste“ freundlich und zügig wieder zu verabschieden. Wir orientieren uns auf die Zeit unserer Auferstehung in ein ewiges Leben. Während meiner Heiler-Ausbildung lernte ich eine Frau kennen, mit der ich mich anfreundete. Wir beide hatten schwierige Lebensphasen, sie stieg gerade nach 6-jähriger Elternzeit wieder in ihren Beruf als Zahnärztin ein. Auch sie hatte in ihrer Kindheit oft den Satz „lass es lieber...“ „das schaffst du eh nicht“ gehört und ihr Selbstvertrauen in ihre beruflichen Fähigkeiten war in diesem Moment sehr gering. Jeden Abend telefonierten wir in dieser Zeit – mindestens eine Stunde. Sie berichtete mir von ihren Startschwierigkeiten. Und immer wieder fragte ich sie dann: „Und, was ist dir heute gut gelungen?“ Und wenn sie es nicht wusste, dann fragte ich beispielsweise scherzhaft: „Na, du wirst doch wohl ein Glas sauber mit Wasser gefüllt haben und deinem Patienten hingestellt haben, ohne zu kleckern“. Und dann war sie dran zu erzählen, was sie gut gemacht hatte. Von Tag zu Tag fiel ihr mehr ein. Aus dieser Fokussierung auf die guten Erinnerungen und die positiven Leistungen wuchsen innerhalb weniger Wochen ihr Selbstbewusstsein und natürlich auch ihre Leistungen, zum einen, weil sie was Gutes zum Erzählen haben wollte und zum anderen, weil ihre Unsicherheit von Tag zu Tag abnahm und sie daher ihre Hände viel sicherer führen konnte. Sie entspannte sich, ihre Körpersprache änderte sich, auf ihre Patienten wirkte sie von Tag zu Tag kompetenter und sie traute sich mehr und mehr zu. Sie entdeckte, dass der Arzt, in dessen Praxis sie mitarbeitete, auch nur „mit Wasser kochte“, und sie sich neben ihm und seiner langjährigen Erfahrung mit ihren Fähigkeiten nicht verstecken musste. Heute ist sie eine freundliche, kompetente und beliebte Ärztin, die mit schlafwandlerischer Sicherheit ihre Patienten versorgt, ihren Patienten im Nu die Angst nehmen kann und auch vor schwierigen „Renovierungen“ nicht zurückschreckt. Denn darum bitten wir: „Schau nicht auf unsere Schuld, sondern auf den Glauben deiner Kirche und schenke ihr nach deinem Willen Einheit und Frieden.“ 71 Einfach mal die Versuchung Jesu in Matthäus 4 lesen, ein schönes Beispiel, wie er sich konsequent vom Spielfeld des Satans begibt. Ebenfalls interessant: Der Satan kann die Bibel auch zitieren… Im Antlitz der Liebe 2.1.4 - 276 - © Gabriele Sych Sinn von Armut und Fülle Als wir den Camino Portugués wanderten, erreichten wir in der Nacht in Ponte de Lima einen gefühlsmäßigen Tiefpunkt. Wir kamen eigentlich rechtzeitig in dieser schönen Stadt an, an die ich gute Erinnerungen hatte, weil ich dort vor 15 Jahren einmal mit meinem Ex-Ehemann einen entspannten Tag verbracht hatte, an dem ich auch den wunderbaren Vinho Verde aus Ponte de Lima kennen gelernt hatte.. Doch wir fanden keine Unterkunft. Es sollte eine Behelfsherberge geben, so hatten die Altherrenpilger uns in dem Büchlein gezeigt. Wir fanden keinen Hinweis darauf. Das Tourismusbüro war schon zu. Die Bombeiros Volontarios nahmen hier keine Pilger auf, die örtliche Jugendherberge, zu der wir noch mal 2,5 km extra laufen mussten, war uns mit 11 Euro pro Person viel zu teuer. Nach der 40-km-Etappe mit strammen Aufstiegen wollten die Füße einfach nicht mehr, und dafür hatten wir uns extra die Beine so lang gelaufen. Wir liefen am Rio Lima den breiten Platanenweg wieder zurück. Nach der vergeblichen Suche wollten wir zumindest wissen, wo denn unsere Pfeile für den nächsten Morgen waren, also zur Brücke zurück, wo der letzte Pfeil sein musste, dann zur Kirche zum Abendgottesdienst, vielleicht würde es dort Hilfe geben. Nach der Messe fragten wir eine Nonne, die konnte uns auch nicht helfen, der Pfarrer war in Sekundenschnelle verschwunden. Es war schon kurz vor acht Uhr, wir mussten zumindest noch etwas zum Abendessen einkaufen Schinken gab’s für mich und den fantastischen, örtlichen Limiano-Käse für Santiago, dazu leider nur „Pan Rico“. Das bedeutet eigentlich „reiches“ oder „leckeres Brot“, in Wahrheit ist es aber wabbeliges Tütenweißbrot. Wieder zurück zum Platanenweg! Immer wieder kamen wir hier vorbei. Als ich das letzte Mal in Ponte de Lima war, hatten wir in dem modernen Hotel direkt dort bei den Platanen übernachtet, einfach die Kreditkarte gezückt, bezahlt und waren dann noch lecker Essen gegangen, hatten Wein gekauft, wie man es als Tourist so macht. Damals arbeitete ich noch bei HP, hatte ein sechsstelliges Jahresgehalt, wir waren mit meinem großen Mercedes-Dienstwagen unterwegs. Was für ein Unterschied, das wurde mir in diesen Stunden immer wieder bewusst. Jedoch nicht, dass ich dieses Leben zurück haben wollte…was ich gerade erlebte, war so viel bedeutungsvoller, gerade dieser Punkt der Strecke enthielt für mich ein Lehrstück Gottes der Extraklasse! Im Antlitz der Liebe - 277 - © Gabriele Sych Psalm 57 (Lutherbibel 1984): 3 Ich rufe zu Gott, dem Allerhöchsten, zu Gott, der meine Sache zum guten Ende führt. Wir entschlossen uns, unsere die Flechas für den nächsten Tag zu suchen, um an der Strecke irgendwo uns ein Plätzchen zum Schlafen zu finden. Doch bald war es zu dunkel, wir sahen die Pfeile nicht mehr. Wir suchten uns also einen vor Entdeckung geschützten Platz zum draußen schlafen und fanden ein verwaistes Grundstück, in dessen Zaun wir ein großes Loch entdeckten. Wir kletterten hindurch, bereiteten uns unter Büschen ein Lager. Bei unserem Aufbruch entdeckten wir, dass es das Gelände des stillgelegten Klärwerkes war… Gegen ½ 4 Uhr morgens wurden wir von Regentropfen geweckt. Schnell packten wir unsere Sachen, damit unsere Sachen von dem sandigen Boden nicht schmierig-matschig würden, und gingen zurück zum letzten Pfeil. Etwas zurück, am Platanenweg, war ein Haus gewesen, an dem Kerzen brannten, und wo wir den letzten Pfeil gesehen hatten, vielleicht gab es dort einen Unterschlupf, so war uns zumindest. Aber Fehlanzeige! Wir setzten uns auf eine Bank unter den Platanen und deckten uns mit den Schlafsäcken zu, um im Sitzen noch ein wenig zu schlafen. Eine Zeitlang waren die mächtigen Bäume ein guter Regenschutz, doch irgendwann wurde der Regen zu stark und fand seinen Weg durch das Blätterdach. Ganz in der Nähe führte die neue Autobahnbrücke über den Lima. Und so kamen wir dazu, tatsächlich unter einer Brücke zu schlafen - auf einem winzigen Rasenplatz neben ein paar Büschen, direkt neben dem Weg, nur wenig von den Blicken möglicher Vorbeigehender verborgen. Zum Glück fanden wir beide noch 2 Stündchen Schlaf. Am Morgen, einem Samstag, brachen wir sehr früh auf, fanden unsere Pfeile wieder und machten uns auf den Weg. Wir hatten kein Brot mehr und unser Hunger auf Frühstück wuchs. Alles, was wir noch hatten, waren ein paar Schlucke Wasser, Santiago ein paar Scheiben Limano-Käse und ich 2 - 3 Scheiben Schinken. Auf der Suche nach einer Toilette fanden wir einen winzigen, uralten Laden mit Café an der Straße. Es war gar nicht ganz klar, ob er offen war oder nicht, doch ich ging hinein. Und dort erstand ich für 1,63 Euro eine Flasche Ananas-Saft, zwei Pfirsiche und – die letzten vier Brötchen, wirklich das allerletzte Stück Brot, was noch da war. Ich war so glücklich und wurde so euphorisch nach dieser Nacht – über vier Brötchen. Ich freute mich den ganzen Morgen, wir frühstückten auf einer Mauer am Wegesrand, lachten, scherzten und waren unseres Lebens wieder froh. Vier Brötchen haben unseren ganzen Morgen in die gleißende Sonne des Frohseins getaucht. Vielleicht kann man sich das nicht vorstellen, wenn man das nicht erlebt hat, doch so viel Glück für „eigentlich so wenig“ zu erleben – das war ein unvergessliches Erlebnis, ich lernte das Kleine wertzuschätzen, weil ich wenig hatte und mir unerwartet ein dringendes Bedürfnis erfüllt war : Unser täglich Brot gib uns heute… Im Antlitz der Liebe - 278 - © Gabriele Sych Vor dem Camino hatte ich die letzten Monaten, teils bewusst, teils von oben 'angeregt' in Armut verbracht. Auf dem Camino habe ich unterwegs erfahren, dass das Leben trägt. Wenn ich nichts anderes habe, als mich selbst, dann kann ich nur mich geben. Phasen der Armut haben im Leben einen segnenden Effekt, wenn man sie mit Freuden annimmt und dadurch das Reich Gottes hier auf der Welt erfährt. Das kann man an unserem Aufenthalt in Coimbra und an der Freude über die Brötchen in dem Dorf nach Ponte de Lima erfahren und in dem Geschenk der Weintrauben auf dem Weg. Wir haben in Portugal nur noch in karitativen Einrichtungen geschlafen, die am Weg auftauchten, bei der freiwilligen Feuerwehr, in Gemeindehäusern, im Kloster etc., und haben keinen Pfennig mehr für Übernachtung ausgegeben, trotzdem haben wir nur einmal draußen geschlafen. Wir haben oft etwas zu Essen geschenkt bekommen und der Höhepunkt war in Coimbra, wo wir (sogar) zwei Tage (pilgerunüblich!) in der Casa de Abrigo bei Vollverpflegung verbracht haben, im Armenhaus. Wir wurden darin trainiert, dass schon alles da ist, was man wirklich braucht und zwar genau zu dem Zeitpunkt, wo man es braucht. Wir haben tatsächlich Gottes Reich erfahren dürfen. Und wir waren an diesem Ort unheimlich glücklich. Für die anderen Bewohner des Heimes waren wir sicher auch eine besondere Erfahrung, nämlich dass es Hoffung gibt, das man einfach so auf dem Weg zu einem Ziel jenseits der Angst unterwegs sein kann, erfüllt, dankbar, zufrieden, liebevoll und miteinander vertraut. Nach der Rückkehr von meiner Pilgerreise kam es natürlich darauf an, diese Erkenntnis auch im Alltag umzusetzen und das ging erstmal gründlich schief, ich bin kurzfristig in meinen alten Trott verfallen, habe mich ehrlicherweise dabei immer wieder selbst ausgetrickst, weil ich nicht genug vertraut habe. Doch dann lernte ich, und es wurde langsam, ein stetiger Weg aufwärts. Und: Erkennend über sich selbst lachen ist gesund! 2.1.4.1 Was sagt Jesus über Reichtum und Armut Markus 10 (Lutherbibel 1984) 17 Und als er sich auf den Weg machte, lief einer herbei, kniete vor ihm nieder und fragte ihn: Guter Meister, was soll ich tun, damit ich das ewige Leben ererbe? 18 Aber Jesus sprach zu ihm: Was nennst du mich gut? Niemand ist gut als Gott allein. 19 Du kennst die Gebote: »Du sollst nicht töten; du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht falsch Zeugnis reden; du sollst niemanden berauben; ehre Vater und Mutter.« Im Antlitz der Liebe - 279 - © Gabriele Sych 20 Er aber sprach zu ihm: Meister, das habe ich alles gehalten von meiner Jugend auf. 21 Und Jesus sah ihn an und gewann ihn lieb und sprach zu ihm: Eines fehlt dir. Geh hin, verkaufe alles, was du hast, und gib's den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben, und komm und folge mir nach! 22 Er aber wurde unmutig über das Wort und ging traurig davon; denn er hatte viele Güter. 23 Und Jesus sah um sich und sprach zu seinen Jüngern: Wie schwer werden die Reichen in das Reich Gottes kommen! 24 Die Jünger aber entsetzten sich über seine Worte. Aber Jesus antwortete wiederum und sprach zu ihnen: Liebe Kinder, wie schwer ist's, ins Reich Gottes zu kommen! 25 Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als dass ein Reicher ins Reich Gottes komme. 26 Sie entsetzten sich aber noch viel mehr und sprachen untereinander: Wer kann dann selig werden? 27 Jesus aber sah sie an und sprach: Bei den Menschen ist's unmöglich, aber nicht bei Gott; denn alle Dinge sind möglich bei Gott. Das will ich gern wiederholen: aber bei Gott sind alle Dinge möglich. Mit jedem Unglauben reißen wir sein Reich wieder ein Stück ein. Hier ist die Entscheidung zu treffen. Jeder hat vielleicht einen versteckten Grund, nicht daran zu glauben, dass bei Gott alle Dinge möglich sind, doch das sollten wir mit aller Kraft herausfinden und daran arbeiten, diesen Glauben zu wandeln. Bei mir hat es sich herausgestellt, es war ein Erlebnis in der Kirche, als meine Eltern zum Abendmahl nach vorn zum Altar gingen und mich – die ich wirklich gerne mitwollte – nicht mitnahmen und mich bei meiner Tante ließen mit den Worten: Das ist (noch) nichts für dich! Daraus machte ich eine erdachte Welt: Gottes Nahrung ist für andere, aber nicht für mich. Ein großes Gefühl von abgekoppelt sein, mir wurde Gottes Nahrung / Gottes Welt vorenthalten und ich war in Gottes Welt fehl am Platz, sie ist für andere, nicht für mich. Darüber war ich auch schwermütig, fühlte mich übersehen und gleichzeitig wutentbrannt. Der Erzengel Michael hat mich wieder in Gottes Welt eingeladen mit den Worten: In Gottes Welt bist du erwünscht, ersehnt und sehr willkommen. Des Vaters Haus hat viele Wohnungen und an seiner Tafel ist immer Platz für Dich, ebenso in seiner Kleiderkammer und auch sonst. Ich kann jetzt vertrauensvoll und offen mich in dieser Welt bewegen und sanft mit mir und dieser Welt umgehen. Gottes Nahrung vervollständigt mich, sie erfrischt mich und ich fühle mich mit eingeschlossen und bedacht. Im Antlitz der Liebe - 280 - © Gabriele Sych Auch die Apostel bestätigten dies in Lukas 22 (Lutherbibel 1984): 35 Und er sprach zu ihnen: Als ich euch ausgesandt habe ohne Geldbeutel, ohne Tasche und ohne Schuhe, habt ihr da je Mangel gehabt? Sie sprachen: Niemals. Markus 10 (Lutherbibel 1984) 15 Wahrlich, ich sage euch: Wer das Reich Gottes nicht empfängt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen. Wie ein Kind bedeutet: Das Kind gibt nichts dazu, außer dass es ist, es selbst ist, sich nach seinen eigenen Kräften einbringt. Aber es empfängt doch alles aus der tätigen Sorge seiner Eltern, so wie wir aus der tätigen Sorge Gottes alles erhalten, wenn wir unseren Teil, uns mit unseren Fähigkeiten, in Gottes Welt hineinweben. Lukas 6 (Lutherbibel 1984) 20 Und er hob seine Augen auf über seine Jünger und sprach: Selig seid ihr Armen; denn das Reich Gottes ist euer. 21 Selig seid ihr, die ihr jetzt hungert; denn ihr sollt satt werden. Für die Dinge, die ich erhalte, gebe ich jedem, fast ohne Dazutun, etwas anderes zurück als Geld, etwas viel Schöneres, etwas, was viel mehr ich bin und aus mir herauskommt. Denn etwas anderes - außer mir selbst - habe ich ja momentan auch nicht zu geben. Wie ist es also mit Reichtum und Gottes Reich: Wenn man Geld hat und Sicherheit hat, dann kann Gott weniger hervortreten mit seinen Wundern, seinen Gaben. Man sorgt für sich selbst, kauft sich Sicherheit und der Zufall hat weniger Chance einen zu überraschen. Man braucht Gottes Reich nicht zu erfahren und tut es daher nicht in dem Maße wie der, der darauf angewiesen ist. Die Freude, das intensive Glücksgefühl über eine Nacht in einem Bett, ein warmes Essen - wer hat die schon, wenn er wohnt, ein Bett hat, und sich jeden Abend dort schlafen legt. Wer aber kein Bett besitzt, eines bekommt und dort warm und weich schlafen kann, ist voll des Glücks. Ich freue mich jeden Tag darüber, hier wie auch in der Zeit auf dem Camino. Im Antlitz der Liebe - 281 - © Gabriele Sych Man bittet nicht, man ruft nicht Gott um Hilfe, sondern man löst das Problem mit Geld, indem man etwas kauft, jemanden bestellt oder bezahlt. Wenn man aber darauf angewiesen ist, sich auf die Welt bzw. Gott zu verlassen, dann wird „der Tag auch für sich selbst sorgen“, wenn man sich gleichzeitig selbst um Gottes Reich bemüht, dort, in die gemeinsame Geldbörse des Himmels „einzahlt“. Da ist ja dann genug da! Lukas 12 (Einheitsübersetzung): 33 Verkauft eure Habe und gebt den Erlös den Armen! Macht euch Geldbeutel, die nicht zerreißen. Verschafft euch einen Schatz, der nicht abnimmt, droben im Himmel, wo kein Dieb ihn findet und keine Motte ihn frisst. 34 Denn wo euer Schatz ist, da ist auch euer Herz. Ganz automatisch wird durch das Erfahren des Reiches Gottes in einem selbst der Wille angefacht, auch ein Teil dessen zu sein, ebenfalls freiwillig zu geben und seine tief empfundene Dankbarkeit zu zeigen. Wenn Jesus sagt: eher wird eine Kamel durch ein Nadelöhr gehen, als dass ein Reicher in Gottes neue Welt geht, dann darum, weil ein Reicher das Gefühl der Dringlichkeit eines Bedürfnisses nicht so erfährt wie ein Armer und auch nicht das Glücksgefühl, wenn dieses Bedürfnis erfüllt wird. Paulus sagt dazu in seinem 1. Brief an Timotheus, 6 (Neues Leben): 17 Sag allen, die in dieser gegenwärtigen Welt reich sind, sie sollen nicht stolz sein und nicht auf ihr Geld vertrauen, das bald vergehen wird. Stattdessen sollen sie ihr Vertrauen auf den lebendigen Gott setzen, der uns alles reichlich gibt, was wir brauchen, damit wir uns daran freuen und es genießen können. 18 Fordere sie auf, ihr Geld zu nutzen, um Gutes zu tun. Sie sollen reich an guten Taten sein, die Bedürftigen großzügig unterstützen und immer bereit sein, mit anderen zu teilen, was Gott ihnen gegeben hat. Wichtig ist: es geht nicht darum, dass irgendwann jemand sagt: hier und ab jetzt ist das Reich Gottes da, ab jetzt sorgt Gott für mich, sondern dass der Mensch selbst entscheidet und dann selbst erfährt und merkt: Gottes Reich ist da, ich fühle es, ich lebe drin und ich stehe voll in seiner Fürsorge, ich verlasse mich darauf. Die eigene Hand aufmachen und die weltliche Sicherheit loslassen, um so mit dieser Hand Gottes Hand zu ergreifen und auf Seine Sicherheit setzen. Wer sich um Gottes Reich sorgt und dafür arbeitet, sich dafür einsetzt, jeder auf seine ganz persönliche Weise und es muss nicht mit Geld sein, für den wird gesorgt, sofern man Gottes Reich es tun lässt. Als Im Antlitz der Liebe - 282 - © Gabriele Sych Arme bekommen wir die reale Chance, dass das Vertrauen und der Glaube in Gottes Reich durch tatsächliche, tägliche Erfahrung sich festigen können. Lassen wir Johannes den Täufer hier das letzte Wort haben, auf die Frage, was wir tun können in Lukas 3 (Lutherbibel 1984): 7 Da sprach Johannes zu der Menge, die hinausging, um sich von ihm taufen zu lassen: Ihr Schlangenbrut, wer hat denn euch gewiss gemacht, dass ihr dem künftigen Zorn entrinnen werdet? 8 Seht zu, bringt rechtschaffene Früchte der Buße; und nehmt euch nicht vor zu sagen: Wir haben Abraham zum Vater. Denn ich sage euch: Gott kann dem Abraham aus diesen Steinen Kinder erwecken. 9 Es ist schon die Axt den Bäumen an die Wurzel gelegt; jeder Baum, der nicht gute Frucht bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen. 10 Und die Menge fragte ihn und sprach: Was sollen wir denn tun? 11 Er antwortete und sprach zu ihnen: Wer zwei Hemden hat, der gebe dem, der keines hat; und wer zu essen hat, tue ebenso. 2.1.4.2 Existentielle Sorgen und der richtige Zeitpunkt Es mag für uns erstmal eine riesige Angst bedeuten, in diese so andersartige Welt zu gehen und wir mögen uns viele Sorgen machen, doch ich habe auch die Erfahrung gemacht, dass das Wichtige immer genau zum richtigen Zeitpunkt da ist, nicht vorher und nicht später. Dazu nochmals diese Geschichte: Als wir aus Porto rauswanderten, waren wir beide nicht in sehr großer Laufstimmung. Wir hatten unsere gelben Pfeile ganz schnell verloren und liefen auf der Landstraße. Zwischen den Orten war kaum Wald, Feld oder Wiese, alles wirkte wie eine lang gezogene Ortschaft entlang der Landstraße. Der Verkehrslärm ermüdete mehr als alles andere, eine kilometerlange Baustelle begleitete uns und schon am Nachmittag war ich des Laufens wirklich müde. Das Wetter trübte sich ein und alles wurde grau. Wir gingen durch das Städtchen Lourosa. Nachmittags um vier entdeckte ich auf der anderen Straßenseite die Bombeiros Volontarios, die freiwillige Feuerwehr. Ich fragte Santiago, ob wir es da mal probieren wollten, war aber auf eine Absage gefasst, weil es erst vier Uhr nachmittags war. Doch er ging mit mir über die Straße und wir fragten, ob wir dort übernachten konnten. Wir bekamen grünes Licht und noch bevor wir unseren Raum gezeigt bekamen, einen unbenutzten Gemeinschaftsraum mit Bar und Schaumstoffmatratzen auf dem Fußboden, kam der Kommandante zurück und fragte uns, ob wir etwas essen wollen. Er ging mit uns schnell in das zum Komplex gehörige Im Antlitz der Liebe - 283 - © Gabriele Sych öffentlich bewirtschaftete Casino der Bombeiros, um uns dem Koch Elia vorzustellen. Als wir dabei zwei, drei Schritte ins Freie traten, da regnete es schon in Strömen. Es regnete die ganze Nacht durch wie aus Eimern bis morgens um fünf. Die Hilfe von oben kommt immer im richtigen Moment! Denn wäre die Feuerwehr früher da gewesen, hätten wir wohl noch nicht anhalten wollen, wäre sie später gekommen, wären wir klitschenass geworden. Wenn man sich keine Sorgen macht, dann kann man unbeschwert laufen und ist aufmerksam genug, genau das zu finden, was man braucht. Und: es gab ein dort Fernseher mit Fußball (Champions League) für Santiago, was er sich schon lange gewünscht hatte. Wenn wir ständig in Sorge sind, dann machen wir uns nur selbst fertig und verpassen unsere Wegweiser. Nochmals: Was wir wirklich brauchen, kommt zum rechten Zeitpunkt. Nicht zu früh, nicht zu spät. Sorge Dich nicht, lebe im Augenblick! Wenn wir zu früh etwas haben wollen, belasten wir uns unnötig. wenn wir nicht im Moment leben, präsent sind, dann verpassen wir, was für uns ist. Woher weiß ich, dass es der richtige Zeitpunkt ist? Weil da ist, was ich brauche. Woher weiß ich, dass es nicht der richtige Zeitpunkt ist? Weil das, was ich brauche, nicht da ist und/oder etwas anderes ansteht. Wir brauchen Armut und die Akzeptanz dafür, um zu erfahren, dass es auch ohne die vielen Silberlinge geht. Wenn wir etwas brauchen, dann ist es oder Geld dafür da, wenn nicht, ist es nicht die Zeit dafür oder es geht auch anders und wir sind gehalten, dieses "anders" zu finden. Und es gibt auch das "Bitte und es wird dir gegeben, klopfe an, und es wird dir aufgetan", was wir auch ausprobieren sollten. Beispiel: Wir können unsere Miete nicht zahlen und sind auf einer anderen Ebene vielleicht einsam und allein, vielleicht einfach auch nur frustriert oder deprimiert aus obigen Gründen, nehmen die Einsamkeit aber nicht wahr. Dann kann uns das zeigen, dass wir unsere Miete lieber mit jemandem teilen oder unsere Eltern zu uns nehmen sollten, bei jemand anderem einziehen, eine WG gründen, aus einer zu großen Wohnung in was kleineres umziehen oder was auch immer... Seien wir kreativ, schauen wir uns die ganze Realität an. Wenn das Geld fehlt, was fehlt uns noch oder vielleicht noch dringender? Und wenn eine Lösung mit Geld möglich wäre, welche andere Möglichkeit würde sie uns verstellen, um diese unsere Welt zu einer Im Antlitz der Liebe - 284 - © Gabriele Sych möglichen, schöneren Welt zu machen, mit mehr Wärme, Menschlichkeit, Freude, Teilen? Welche Fähigkeiten können wir dadurch entwickeln, dass wir das jeweilige Problem nicht mit Geld lösen können, sondern die Dinge selbst in die Hand nehmen oder uns jemanden suchen? Was ist das Gute daran? Dann bringt uns das Nicht-Geldhaben auch etwas, was wir mindestens genauso wenn nicht noch mehr brauchen. Doch das Handeln aus Existenzangst, dieses sich selbst Verkaufen, etwas wegen des Geldes tun: es kann durchaus sein, dass es sich dabei um eine gemeinschaftliche Trance handelt, eines dieser Gedankenmodelle einer erdachten Welt, das durch alle, die daran glauben, in die Welt gerufen ist - eine Eigenschöpfung, eine Kreation einer großen Gruppe Menschen, fern ab von Gottes Welt. Nehmen wir daran teil und es ist so in unserem Leben, gehen wir voll Überzeugung einen anderen Weg und es ist anders. Wie wir zu der festen Überzeugung kommen? Der Himmel kann uns helfen, er kann uns aus dieser Gedankenwelt umgehend herausführen, uns unsere Dornenkrone abstreifen. Ich bitte darum und - meine Welt ist anders. Denn es ist so: Lukas 9 (Lutherbibel 1984) 25 Denn welchen Nutzen hätte der Mensch, wenn er die ganze Welt gewönne und verlöre sich selbst oder nähme Schaden an sich selbst? Bitte seht mich nicht als zynisch an über das Schicksal von einer Unzahl von Menschen, die auch heute noch verhungern, dazu komme ich später. Ich rede von unseresgleichen, die sich hier arm fühlen oder in ihrer Existenz bedroht, täten sie, was sie gern tun würden. Nutzt die gute Gelegenheit, diese Zeit, Gottes Reich zu erfahren! Doch wenn sich mehr Menschen um Gottes Reich kümmern und füreinander da wären, wenn es das Ungleichgewicht zwischen Über-Fülle und Armut nicht gäbe, dann gäbe es wahrscheinlich auch dies in den anderen Regionen der Erde nicht. Wenn Ihr Eure Armut annehmen und schätzen und lieben lernt und ihre Vorteile und das in ihr erfahrbare Glück erkennt, wird sich das Leben von Grund auf verändern. Der Grimm’sche Hans im Glück war tatsächlich am Ende im Glück, er hatte alle seine Belastungen verloren und nur noch eines am Leibe, nämlich das, was er in seiner Lehre gelernt hatte und die Erkenntnis, wie belastend Habe ist. Es ist nicht schlimm, Materielles auch in größeren Mengen zu verlieren. Ich habe es erlebt, es war schnell zu verwinden, es war jedes Mal hinterher besser. Es waren Kurskorrekturen, mächtige gelbe Pfeile im Im Antlitz der Liebe - 285 - © Gabriele Sych Leben. Ich habe mich an Gott und am Sinn festgehalten und an das Gute geglaubt. Er hat sich erwiesen. Es geht mir heute viel besser als in der Zeit, als ich viel hatte, aber auch viel Last damit hatte. Ich kann dazu heute von Herzen sagen: Fürchtet Euch nicht! Ihr werdet einfach etwas anderes erleben. Und sollte jetzt eine Zeit anbrechen, in denen viele Habe verlieren, so sage ich nochmals: Fürchtet Euch nicht, sondern freut Euch, denn Ihr werdet dafür finden, was Ihr lange vermisst habt, ihr werdet Einander finden – Gemeinschaft und Freude im Teilen, im Geben und Empfangen. Und Sorglosigkeit. 2.1.4.3 Nahrungsquelle Atmung Unser Atem fließt durch uns – täglich, ständig. Wenn der Atem fehlt, dann fehlt nach kurzer Zeit das Leben, Atem erhält uns am Leben. Der Luftaustausch findet nach göttlichen Prinzipien statt, es ist immer genug da. Luft kann man nicht besitzen, keinen Grundbucheintrag dafür erwerben, sie für sich behalten, horten oder anderen vorenthalten, keiner hält die Hand auf und sagt: Sie haben geatmet, das kostet jetzt 5 Euro. Luft ist für alle da. Sie strömt überall hin, füllt alles an, jeder bekommt, soviel er braucht. Atmen ist Austausch, Atem ist Geben und Nehmen, wir nehmen den Sauerstoff und geben das Kohlendioxyd. Und die Pflanzen nehmen das Kohlendioxyd und geben den Sauerstoff. Der Austausch findet automatisch und unreguliert statt. Der Atem wird durch unser Herz an den Körper weitergegeben. Unsere Atemorgane, Lunge und Herz, sitzen gemeinsam im Zentrum des Kreuzes, da, wo sich beide Balken verbinden – im Liebeszentrum. Atem ist Liebe, Atem ist Energie, Atem ist Leben. Im Griechischen ist Atem das Wort (πνεuµα) pneuma, Nebenbedeutung Hauch, Luftstrom, Leben, Seele, Geist und dieses Wort wird auch für den Heiligen Geist benutzt πνεuµα τò άγιον (pneuma to agion). Der erste Mensch wurde durch den Hauch Gottes zum Leben erweckt: 1. Mose 2 (Einheitsübersetzung): 7 Da formte Gott, der Herr, den Menschen aus Erde vom Ackerboden und blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen. Atem ist allen frei zugänglich. Im Antlitz der Liebe 2.1.4.4 - 286 - © Gabriele Sych Feste Nahrungsquellen Für unseren zweiten Aufnahmevorgang „Essen und Verdauen“ gilt im Prinzip gottgewollt dasselbe. Noch heute lebt zum Beispiel das Volk der Hazda in Tansania so. Diese Erde bietet genügend Nahrung und Ressourcen für alle, und zwar wenn sie allen zugänglich ist und gerecht verteilt werden. Wenn jeder bekommt, was er b(r)aucht. Haben wir teil am Geist Gottes, so wissen wir einfach, die Welt, die ist für uns alle gemacht. Kleines Beispiel: Es gibt eine Torte auf dem Tisch, für jeden ist ein Stück da. Was denken wir, wenn einer sich ¾ der Torte nimmt und die restlichen 11 Leute sich ein Drittel der Torte zu teilen haben. Da kriegten wir große Augen und ein massives Ungerechtigkeitsgefühl und blieben hungrig, wenn wir zu den 11 gehören würden. Und der ein kriegt Völlegefühl und mindestens eins auf die Pfoten. Leicht zu verstehen, oder? Zu den 11 gehören übrigens nicht nur die Armen dieser Welt, sondern vor allem unsere Kinder und Kindeskinder, denen wir schamlos „die Torte wegfressen“. Was zurzeit besteht, ist ein großes Ungleichgewicht, eine große Ungerechtigkeit: 25 % aller Kinder in den USA waren lt. WHO in den 90er Jahren übergewichtig, weltweit sind 22 Millionen Kinder unter 5 Jahren übergewichtig. Dafür sterben 6 Millionen Kinder jährlich an den Folgen von Hunger und Unterernährung, alle 6 Sekunden eines, in 2008 sind laut UNO ca. 100 Millionen Menschen jährlich an Hunger gestorben. Es ist wohl nicht gerechtfertigt, einen über den Eigenbedarf hinausgehenden Teil dieser Erde für sich selbst zu beanspruchen. Diese Welt gehört Gott, damit allen Menschen, daher ist Besitz, der über die persönlichen Grundbedürfnisse hinausgeht, an sich wohl kein erwünschter Zustand, kein gerechter Zustand. In 3. Mose 25,23 (Gute Nachricht Bibel) ist von Gott zu vernehmen: 23 Besitz an Grund und Boden darf nicht endgültig verkauft werden, weil das Land nicht euer, sondern mein Eigentum ist. Ihr lebt bei mir wie Fremde oder Gäste, denen das Land nur zur Nutzung überlassen ist. Die Naturvölker wussten das und wissen das, so lebten auch die Indianer in Nordamerika und die Ureinwohner Australiens. Sie folgten der gottgegebenen Nahrung und sahen sich im Recht, vorübergehend einen Ort sorgsam zu nutzen, ihn aber auch wieder Im Antlitz der Liebe - 287 - © Gabriele Sych freizugeben, ohne ihn auszubeuten. Sie nutzten achtsam, was sie brauchten, ohne zu horten. „Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, der letzte Fisch gefangen ist, werden die Menschen feststellen, dass man Geld nicht essen kann.“ (kanadische Cree-Indianer) Und wenn der Besitz dann noch dazu verwandt wird, andere Menschen damit auszunehmen und die Erde auszubeuten, schlägt die Gnade dieser Erde zum Gegenteil um. Der Seite www.oekosystem-erde.de entnahm ich diese Information. „In der Summe betrug der globale Ressourcenverbrauch im Jahr 2002 fast 53 Milliarden Tonnen; für das Jahr 2020 werden 80 Milliarden Tonnen erwartet. Die Jäger und Sammler hatten einen Verbrauch von etwa 1 Tonne natürlicher Rohstoffe pro Kopf und Jahr, der Einwohner eines Industrielandes verbraucht heute zwischen 15 und 35 Tonnen Rohstoffe im Jahr. Da zudem die genutzten Produkte heute in der Regel aufwendig hergestellt werden und während der Kette weitere Rohstoffe verbraucht werden, liegt der Verbrauch in den Industrieländern bei Berücksichtigung dieser Vorstufen tatsächlich sogar zwischen 40 und 80 Tonnen pro Kopf und Jahr.“ Mit welcher Berechtigung plündern wir diese Erde in den jetzigen Generationen aus, wie es nie vorher getan wurde. Weil es möglich ist? Weil wir es brauchen? Brauchen wir wirklich alles, was wir haben? Das sehe ich nicht. Weil es unser Recht ist, weil wir es bezahlen? Wir opfern dem Gott Mammon und erhalten dafür von ihm den Ablass? Jeder, der sein Herz diesem Thema öffnet, der wird nach kurzer Zeit wissen, dass wir die Welt gerade jetzt im Eiltempo an die Wand fahren, uns selbst gleich mit. 2.1.4.5 Die Ethik des Geldes Im Antlitz der Liebe - 288 - © Gabriele Sych Das, was die meisten hier unter Sicherheit verstehen: ein fester Job, eine geregelte Arbeit, ein Haus, ein Auto, eine Altersversorgung, Horten, Halten, Haben, das ist genau der Weg, Sicherheit gänzlich zu verlieren. Man wiegt sich in Sicherheit, doch was ist, wenn in wenigen Jahren die Wahrheit, die jetzt schon abzusehen ist, eintritt. Was ist diese Sicherheit dann noch wert? Und macht uns diese Lebensform, das Konsumieren, das Haben denn generell glücklich und zufrieden mit dieser Welt? Eher nein: Der Anteil depressiv-erkrankter Menschen liegt derzeit lt. WHO bei 121 Millionen weltweit, Voraussagen der WHO sehen die Depression als zweitverbreitetste Krankheit in 2020, an Depression sterben jährlich 850.000 Menschen. Doch bekanntermaßen geht die Depressionsrate zurück, wenn die Existenz nicht gesichert ist, das hat sich in Kriegszeiten gezeigt. Wer immer anfängt, das reichlich vorhandene Datenmaterial über diese Erde auszuwerten, der wird eindeutig zu dem Schluss kommen, dass wir als Menschheit derzeit definitiv nicht auf dem Weg der Liebe sind - im „mehr, mehr, mehr“ kann kein Ziel liegen -, dass wir uns mit offenen Augen und freiwillig in den Untergang hineinsteuern, eben durch ♥ bewusste Aufrechterhaltung des Hungerelends ♥ Bewirken und Zulassen von Umweltverschmutzung ♥ Bewirken und Zulassen der Klimakatastrophe ♥ unfassbare Ressourcenvergeudung Es ist fassbar, es ist begreifbar, dass etwas gemacht werden muss, ist es machbar? Können wir den Tanker noch umsteuern? Ich werde manchmal gefragt, ob wir uns denn ins Mittelalter zurückbegeben sollten. Definitiv nicht! Jetzt, wo wir globale Kooperation entwickelt haben, da ist ein globaler Weg möglich, der vom Einzelnen ausgeht. Keine Inquisition, keine Kreuzzüge, keine Gegner, keine Feinde, keine Schwerter, alle sind im selben Boot und alle wissen jetzt voneinander. Dieser Weg kann sich nur freiwillig, friedlich, gewaltfrei und aus der Liebe heraus entwickeln. Im Antlitz der Liebe - 289 - © Gabriele Sych Aus einer Studie der UN-Universität “Weltforschungsinstitut für Wirtschaftsentwicklung“ in Helsinki stammen diese Zahlen (basierend auf Zahlenmaterial aus dem Jahr 2000): Ein Erwachsener braucht nur 2138 $, um zu den Top 50 der reichsten Menschen der Erde zu gehören, mehr als 61.000 $ werden gebraucht, um zu den Top 10 zu gehören und 510.000 $ ermöglichen die Zugehörigkeit zum Top 1 Prozent der reichsten Menschen der Welt zu gehören. „Reicher Mann und armer Mann Standen da und sahen sich an. Und der Arme sagte bleich: Wär ich nicht arm, wärst Du nicht reich.“ (Bertolt Brecht, Gedichte [1933-1938]) Die Schätzung der Reichtumsanteile zeigt auf, dass die reichsten 2 Prozent der Weltbevölkerung mehr als die Hälfte des weltweiten Reichtums besitzen, das reichste Prozent besitzt allein 40 % des Besitzes. Die damit verbundene Zahl für die Top 5 Prozent beträgt 71 % und die Top 10 Prozent beträgt 85 %. Im Kontrast dazu: die unteren 50 Prozent der Weltbevölkerung besitzen kaum 1 % des weltweiten Reichtums. Mitglieder der Top 10 Prozent sind 400 mal reicher im Durchschnitt als die genannten 50 % am unteren Ende der Reichtumsskala, und die Top 1 sind fast 2000 mal reicher. Malen wir doch mal eine Torte: Prozentuale Verteilung des Reichtums in der Menschheit 14% 1% 40% 14% 21% 10% Es gibt zur Zeit ca. 6,8 Mrd. Menschen auf der Erde. Das bedeutet: Im Antlitz der Liebe - 290 - © Gabriele Sych ♥ 1 % der Menschheit, d.h. 68 Mio. Menschen behalten das blaue Tortenstück für sich, das ist ungefähr die Bevölkerung von Westdeutschland. ♥ 2 % der Menschheit, d.h. 136 Mio. Menschen behalten das weinrote Tortenstück für sich. ♥ 3 % der Menschheit, d.h. 204 Mio. Menschen behalten das weiße Tortenstück für sich. ♥ 5 % der Menschheit, d.h. 340 Mio. Menschen behalten das grüne Stück für sich. ♥ 40 % der Menschheit, d.h. 2.720 Mio.Menschen teilen sich das lila Tortenstück. ♥ Das winzige orangene Tortenstück müssen sich 50 % der Menschheit teilen, d.h. 3.400 Mio. Menschen. Kann einer den Hunger jetzt sehen? Und - warum kriegt hier keiner auf die Pfoten? Adolf Eichmann, Holocaust-Beauftragter Hitlers, wird dieser Satz zugesprochen: „10 Tote sind eine Tragödie, 100 Tote eine Katastrophe, doch 6 Mio. Tote nur noch Statistik.“ Ist das so, soll er Recht behalten? Auch heute noch? Wir regen uns über den Holocaust und den Völkermord an den Juden im 3. Reich auf und lassen jährlich genauso viele Kinder in dieser Welt am Hunger sterben? Das zu akzeptieren, das zuzulassen, da nicht drüber sofort in Tränen auszubrechen und dann zu handeln, da haben wir sie nicht mehr alle! Das ist globaler, kollektiver Irrsinn, Wahnsinn, ohne Sinn! Wir haben sie nicht mehr alle, weil nicht alle haben. Wie werden wir gemeinsam zur Besinnung kommen? Wie werden wir gemeinsam aufwachen können? Warum trifft uns das nicht? Woher kommt diese Gefühllosigkeit, diese Hartherzigkeit? Was gibt uns die Berechtigung für dieses unser Handeln? Weil wir es bezahlen? Geld ist Recht!? Was gibt den Mengen von Kinderschändern die Berechtigung, in Asien mit kleinen Mädchen und Jungen ihre sexuellen Phantasien auszuleben? Weil sie es bezahlen?! Das giergesteuerte Ausnutzen der Bedürftigkeit der Armen: Männer kaufen Frauen, Männer kaufen Männer, Frauen kaufen Männer. Was gibt Menschen das Recht, weite Teile der Welt Anderen vorzuenthalten? Weil sie es bezahlen?! Wie kann ein Mensch das Recht erhalten, sich herausnehmen, mehr zu nehmen, als er braucht? Dies ist keine Rechtschaffenheit, hier wird mit Geld Recht bezahlt und gekauft. Die ethische Frage wird nur selten gestellt. Jesus in Lukas 16 (Neue Genfer Übersetzung): Im Antlitz der Liebe - 291 - © Gabriele Sych 14 Das alles hörten auch die Pharisäer, die sehr am Geld hingen, und sie lachten über ihn. 15 Da sagte er zu ihnen: Ihr redet den Leuten ein, dass ihr gerecht seid; aber Gott kennt euer Herz. Denn was die Menschen für großartig halten, das ist in den Augen Gottes ein Gräuel. Mir auch. Wem noch? Bitte mal Hand hoch… Lukas 6 (Lutherbibel 1984) 24 Aber dagegen: Weh euch Reichen! Denn ihr habt euren Trost schon gehabt. Beispielsweise: Was gibt den ausländischen Ölgesellschaften in Ecuador die Berechtigung, den Regenwald und die artenreichen Feuchtgebiete und die Lebensgrundlage indigener Völker durch Umweltverschmutzung zu zerstören? Weil sie bezahlen?! Matthäus 24 (Lutherbibel 1984): 12 Und weil die Ungerechtigkeit überhand nehmen wird, wird die Liebe in vielen erkalten. Von Ordnung ist hier keine Spur. Wann und wie kommt die Welt wieder in Ordnung? Kann sich das irgendeiner vorstellen, kann sich irgendeiner den Weg dahin vorstellen? Also: Wie kann der Tanker umgesteuert werden? Der Kommunismus - das hat nicht geklappt, aus verschiedenen Gründen, der Kapitalismus und die Marktwirtschaft auch nicht, das ist heute deutlich zu sehen. Wir haben das alles lange genug ausprobiert, um deutlich zu diesem Schluss zu kommen. Haben wir schon aufgegeben in der Einstellung „Was kann ich denn schon dazu tun, was kann ich denn daran schon verändern?“ Ja, wie kann es geschehen, dass die Menschen, die haben, sich entscheiden, so lange zu geben, bis alle genug haben, nämlich das, was jeder braucht, den symbolischen Denar vom Weinbergsbesitzer, egal, zu welcher Uhrzeit man dort angefangen hat? Teilen, verteilen, das geht nur freiwillig, aus Liebe, aus Mitleid, aus einem Gerechtigkeitssinn, der alle betrifft, nicht nur das Meine und die Meinen, dem Gefühl heraus, dass Im Antlitz der Liebe - 292 - © Gabriele Sych Ordnung und Harmonie existiert, wenn alle haben, was sie brauchen. Ich glaube, da haben wir alle noch viel zu lernen, ich nehme mich nicht aus. Es ist an der Zeit: Ein weltweites, gemeinsames Leben nach den Regeln von Gottes Reich. Die Bedienungsanleitung haben wir schon seit 2000 Jahren im Neuen Testament. Der Messias war schon da! Es gibt keinen Grund, es weiter aufzuschieben. 2.1.4.6 Nochmals: Nimm nicht, sondern nimm an… Als ich zurückkam, machte ich mir große Gedanken um mein wirtschaftliches Auskommen, das nach einigen fetten Jahren schon seit 2 - 3 Jahren recht mager gewesen war. Da ich nun in der Nachfolge leben wollte, kam ich in einen großen Konflikt mit meinem Gewissen und einigen Passagen aus dem neuen Testament: Johannes 2 (Lutherbibel 1984) 14 Und er fand im Tempel die Händler, die Rinder, Schafe und Tauben verkauften, und die Wechsler, die da saßen.15 Und er machte eine Geißel aus Stricken und trieb sie alle zum Tempel hinaus samt den Schafen und Rindern und schüttete den Wechslern das Geld aus und stieß die Tische um 16 und sprach zu denen, die die Tauben verkauften: Tragt das weg und macht nicht meines Vaters Haus zum Kaufhaus! Matthäus 10 (Einheitsübersetzung) 1 Dann rief er seine zwölf Jünger zu sich und gab ihnen die Vollmacht, die unreinen Geister auszutreiben und alle Krankheiten und Leiden zu heilen…5 Diese Zwölf sandte Jesus aus und gebot ihnen: Geht nicht zu den Heiden und betretet keine Stadt der Samariter, 6 sondern geht zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel. 7 Geht und verkündet: Das Himmelreich ist nahe. 8 Heilt Kranke, weckt Tote auf, macht Aussätzige rein, treibt Dämonen aus! Umsonst habt ihr empfangen, umsonst sollt ihr geben. 9 Steckt nicht Gold, Silber und Kupfermünzen in euren Gürtel. 10 Nehmt keine Vorratstasche mit auf den Weg, kein zweites Hemd, keine Schuhe, keinen Wanderstab; denn wer arbeitet, hat ein Recht auf seinen Unterhalt. 11 Wenn ihr in eine Stadt oder in ein Dorf kommt, erkundigt euch, wer es wert ist, euch aufzunehmen; bei ihm bleibt, bis Im Antlitz der Liebe - 293 - © Gabriele Sych ihr den Ort wieder verlasst. 12 Wenn ihr in ein Haus kommt, dann wünscht ihm Frieden. 13 Wenn das Haus es wert ist, soll der Friede, den ihr ihm wünscht, bei ihm einkehren. Ist das Haus es aber nicht wert, dann soll der Friede zu euch zurückkehren. 14 Wenn man euch aber in einem Haus oder in einer Stadt nicht aufnimmt und eure Worte nicht hören will, dann geht weg und schüttelt den Staub von euren Füßen. Apostelgeschichte 8 (Lutherbibel 1984) 9 Es war aber ein Mann mit Namen Simon, der zuvor in der Stadt Zauberei trieb und das Volk von Samaria in seinen Bann zog, weil er vorgab, er wäre etwas Großes. … 13 Da wurde auch Simon gläubig und ließ sich taufen und hielt sich zu Philippus. Und als er die Zeichen und großen Taten sah, die geschahen, geriet er außer sich vor Staunen. …. 17 Da legten sie die Hände auf sie und sie empfingen den Heiligen Geist. 18 Als aber Simon sah, dass der Geist gegeben wurde, wenn die Apostel die Hände auflegten, bot er ihnen Geld an 19 und sprach: Gebt auch mir die Macht, damit jeder, dem ich die Hände auflege, den Heiligen Geist empfange.20 Petrus aber sprach zu ihm: Dass du verdammt werdest mitsamt deinem Geld, weil du meinst, Gottes Gabe werde durch Geld erlangt. 21 Du hast weder Anteil noch Anrecht an dieser Sache; denn dein Herz ist nicht rechtschaffen vor Gott. Mir war nicht klar, wie ich nun in Übereinstimmung mit dem Wort mein Leben bewerkstelligen sollte, wenn ich mich Vollzeit um die auf dem Camino empfangene Gabe kümmern sollte. Ewig drängelte die Krankenkasse, der Vermieter möchte sein Geld und zu Essen brauche ich auch etwas. Lange Zeit habe ich mich damit beschäftigt, um eine Klärung gebetet. Ich habe viel versucht. Zunächst etwas anderes nebenbei zu machen, was mir als Cash Cow diente. Dann habe ich sehr moderate Preise angeboten und mir überlegt, zumindest den Teil Ausbildung so anzubieten, dass außer eventuellen Raum- oder Sachkosten kein Teilnahmebeitrag fällig wird. Dennoch war der Konflikt noch nicht behoben. Ich fand auch keinen Christen hier, der mir dazu einen Weg aufzeigte, ich sah kein Beispiel An einem Sonntag – das Thema war gerade wieder aktiv, kam im Gottesdienst in der Lesung die Geschichte vom Fallestellen der Pharisäer mit der Steuer. Matthäus 22 (Einheitsübersetzung) 15 Damals kamen die Pharisäer zusammen und beschlossen, Jesus mit einer Frage eine Falle zu stellen. 16 Sie veranlassten ihre Jünger, zusammen mit den Anhängern des Herodes zu ihm zu gehen und zu sagen: Meister, wir wissen, dass du immer die Wahrheit sagst und wirklich den Weg Gottes lehrst, ohne auf jemand Rücksicht zu nehmen; denn Im Antlitz der Liebe - 294 - © Gabriele Sych du siehst nicht auf die Person. 17 Sag uns also: Ist es nach deiner Meinung erlaubt, dem Kaiser Steuer zu zahlen, oder nicht? 18 Jesus aber erkannte ihre böse Absicht und sagte: Ihr Heuchler, warum stellt ihr mir eine Falle? 19 Zeigt mir die Münze, mit der ihr eure Steuern bezahlt! Da hielten sie ihm einen Denar hin. 20 Er fragte sie: Wessen Bild und Aufschrift ist das? 21 Sie antworteten: Des Kaisers. Darauf sagte er zu ihnen: So gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört! Da stand ich nun mal wieder. Nach dem Gottesdienst, bei meinem Verabschiedungsgebet hörte ich in mir die Worte: Nimm nicht sondern nimm an. Es geht darum, dass ich keine Forderungen stelle, sondern annehme, was ich freiwillig bekomme. Manche wollen mir mehr geben, als ich fordern würde. Doch wenn wir einen Preis festsetzen, untergraben wir das. Wir nehmen ihnen auch die Freude am Geben, weil es zur Pflicht wird. Eine junge Frau mit geringem Einkommen gab mir gern von dem, was sie hatte, und sagte: „Na, dann bezahl ich jetzt für jemanden mit, der sich das nicht leisten kann. Da hab ich auch was Gutes getan.“ So kommen andere mit in den Kreislauf hinein, können sich am wahren Geben beteiligen, nicht am Bezahlen. Das, was wir nicht freiwillig bekommen, ist noch nicht reif für uns, eine saure Traube. Und das gilt nicht nur für finanzielle Beziehungen, sondern auch für alle anderen Beziehungen. 2.1.4.7 Parasiten und der Zusammenhalt der Gemeinschaft Parasiten sind Wesen, die einem Anderen Lebenskraft entziehen, um sich selbst zu stärken. Wir erleben heutzutage bei einem der wichtigsten Nutztiere der Welt, der Biene, einen weit verbreiteten Befall durch den Parasiten Varroa-Milbe. Diese Milben befallen die Brut des Bienenvolkes, indem sie sich von ihrem Leib ernähren, so dass viele missgestaltete Jungbienen entstehen, die durch ihre Behinderung das Volk schwächen. Im Winter gehen aufgrund der Brutpause die Milben auf die erwachsenen Bienen über, indem sie ihren Panzer durchbrechen und ihren Lebenssaft aussaugen. Die Milbe gab es ursprünglich nur in Asien, wo sie hauptsächlich die Drohnenbrut befiel, also die männlichen Bienen, die nach der Begattung der Königin sowieso das Bienenvolk verlässt. Bienen werden gebraucht für die Bestäubung Äpfeln, Birnen, Beeren wie Himbeeren, Erdbeeren, Johannis- und Stachelbeeren, Gurken, Kirschen, Kürbissen und Melonen, Im Antlitz der Liebe - 295 - © Gabriele Sych Mandeln, Pfirsichen, Sojabohnen, insgesamt ca. 100 Obst- und Gemüsearten, unseren Grundnahrungsmitteln und Vitalstoff-Spendern. Wenn sie nicht mehr da sind, dann werden lebenswichtige, gesunde Nahrungsquellen einfach entfallen. Der Mensch ist von der Biene weitaus abhängiger als die Biene vom Menschen. Wir hätten ein tödliches Ernährungsproblem. Meine Mutter, inzwischen über 80, lebt seit 30 Jahren freiwilllig in sehr einfachen Verhältnissen. Sie gehörte zu den Aussteigern der frühen 80er Jahre. In der Nachkriegszeit hatte sie eine Ausbildung zur Imkermeisterin durchlaufen, nun wollte sie diesen Teil ihres Daseins, diese Liebe nach ihrer Familienzeit wieder neu aufleben lassen. Mit 50 brach sie mit einem Wohnwagen auf, um auf einer griechischen Insel das Leben in der und mit der Natur zu leben. Sie parkte den Wohnwagen 50 m vom Meer entfernt, dort steht er bis heute, von einer befreundeten Künstlerin mit Olivenbäumen bemalt. Inzwischen sind weitere Räume hinzugekommen: eine Küche aus Natursteinen, ein Holzhäuschen, in dem die Honigschleuder und alle weiteren Bienensachen untergebracht sind, ein begehbarer Blechcontainer zur Aufbewahrung von Werkzeug und Material und ein winziges Einzimmer-Fertighaus als Schlafzimmer in der Sommershitze. Sie lebt einen großen Teil des Jahres ohne fließend Wasser und Stromanschluss. Das Wasser pumpt sie aus einer nahe gelegenen Quelle. Eine kleine Solaranlage lädt ihr eine Autobatterie für ihre Strombedürfnisse auf, mit Gas aus der Flasche wird gekocht. Die Toilettenverhältnisse sind wie zu Großvaters Zeiten, auch wenn es kein Herz in der Tür gibt. An einem Brunnen wird die Wäsche gewaschen, dort ist auch eine Solardusche installiert: in ein dunkel angemaltes Fass pumpt man das Wasser, das die Sonne zum Duschen zügig aufheizt. Auch hier können wir aus ihrer nun 30-jähriger Erfahrung sagen: Es geht! Auch ein die bürgerliche Zivilisation vollständig gewöhnter Mensch kann dieses Leben zufrieden annehmen. Viele Jahre erforschte sie hier die biologische Bienenzucht. Als die Bienen durch die Varroa-Milbe befallen wurden, suchte sie nach Möglichkeiten, diesen ohne den Einsatz von Giften zu bekämpfen, damit nicht die Bienen und der Honig in Mitleidenschaft gezogen wurden, was die deutschen Veterinäre vorschrieben. Sie wollte, dass ihr Honig weiterhin Bioqualität aufwies. Sie entwickelte die thermische Behandlung, mit der durch Hitze die Milben so geschwächt wurden, dass sie von den Bienen herab fielen und so aus dem Bienenstock entfernt werden konnten. Sie behandelte ihre Bienen darüber hinaus mit Reiki und stellte auch fest, dass die Anwesenheit anderer Tiere (Kohabitation) einen positiven Einfluss auf die Gesundheit des Bienenvolkes hatte. Ihre griechischen, recht wilden Bienen waren dabei von der Im Antlitz der Liebe - 296 - © Gabriele Sych Varroa deutlich weniger befallen als die Bienen deutscher Imker, mit denen sie in Kontakt stand. Denn sie veröffentlichte regelmäßig in Bienenzeitschriften und besuchte internationale Bienenkongresse. Auch weiteren Bienenprodukten wie z.B. Propolis und Bienengift widmete sie sich ausführlich. Propolis ist für den Menschen ein natürliches (Wund)-Desinfektionsmittel und kann bei vielen entzündlichen Prozessen des Körpers genutzt werden. Bienengift kann bei Muskel- und Gelenkschmerzen eingesetzt werden, um durch die Durchblutungsförderung und als Antirheumatikum. Es wirkt blutdrucksenkend, blutverdünnend und beugt Blutgerinseln und als Folge davon Schlaganfällen und Herzinfarkten vor, der Zivilisationskrankheit Nr. 1. Irgendwann erreichte sie die Erkenntnis, dass die Varroa-Milbe auch ein Gast der Bienen als Botschafter für UNS war. Der wahre Parasit der Bienen ist der Mensch! Die Imker hatten dem Wildtier Biene über die Jahrhunderte hinweg durch Selektion die Aggressivität und Verteidigungsbereitschaft weggezüchtet, damit sie am Bienenstock einfacher arbeiten konnten. Diese Selektion machte die Biene anfälliger für ihre Feinde und damit auch gegen die Varroa, schwächte insgesamt das Immunsystem der Bienen. Er nimmt ihnen den Honig und gibt ihnen z.B. billigen Zuckersaft oder Maissirup. Das kann man sich auf uns Menschen übertragen so vorstellen: Wir laufen den ganzen Tag fleißig herum und kaufen für uns und unsere Kinder im Bioladen ganz wunderbares Obst und Gemüse, Brot, Joghurt und Marmelade und verstauen unseren Einkauf sorgfältig in selbstgefertigten Behältern im Kühlschrank. Wenn wir zurückkommen, da finden wir plötzlich in unserem Kühlschrank billige, schadstoffreiche, nährstoffarme Discounterware wieder. Wie würden wir das finden? Ist das fair und gerecht? Für ein kleines Glas Honig müssen die 16800 km fliegen, also fast die halbe Erde umrunden. (von einer Postkarte vob berlinerhonig). Darüber hinaus schädigt der Mensch die Bienen gleichzeitig auf verschiedene Weisen, nämlich durch Pflanzenschutzgifte und die Zunahme der elektromagnetischen Strahlung. Die Varroa-Milbe ist ein Krankheitsengel der Bienen, um auf das unmäßig parasitäre Handeln des Menschen an den Bienen, an der Natur aufmerksam zu machen, um uns schon mal fühlen zu lassen, was passieren kann, wenn wir Menschen unser zerstöreri- Im Antlitz der Liebe - 297 - © Gabriele Sych sches Handeln gegenüber den Bienen fortsetzen. Wir setzen unsere eigenen Nahrungsquellen aufs Spiel! Menschliche Parasiten kennen wir natürlich auch für die gesamte Menschheit. Das sind die, die von der Lebenskraft anderer Menschen leben, ihnen den Lebenssaft aussaugen, im Kleinen wie im Großen, die Trittbrettfahrer des Lebens. „Pavear“ nennt man das in Ecuador, den „Truthahn“ machen. Wen halten wir für Trittbrettfahrer, für Truthähne, wer sind sie, die modernen Zöllner und Wegelagerer? Shareholder? Banker? Steuertrickser? Sozialleistungsbetrüger? Wo sind wir selbst Parasiten? Wo saugen wir den Lebenssaft anderer aus, wo die Lebenskraft und die Ressourcen unserer Erde? Denken wir einmal nach! Machen Sie jetzt eine Pause und denken einmal nach. Im Antlitz der Liebe - 298 - © Gabriele Sych Was hilft gegen Parasiten? Die Bienen zeigen es uns jetzt. Es ist zum einen der innere Zusammenhalt und die Verteidigungsbereitschaft des Volkes, der Gemeinschaft, das füreinander da sein. Ein Bienenvolk meiner Mutter war besonders stark und konnte den Varroa-Milben immer recht gut widerstehen. Sie hatten einen Weg gefunden, der sich mir beim Behandeln der Bienen erschloss. In der Zeit, da die Milben auf die erwachsenen Bienen übergingen, da suchten insbesondere die alten Bienen, deren Zeit gekommen war, die milbenreichen Stellen im Bienenstock auf, um sich mit Absicht befallen zu lassen. Auf ihrem letzten Flug, ihrem Todesflug, von dem sie nicht in den Stock zurückkehrten, nahmen sie die Milben mit aus dem Stock heraus und entsorgten sie auf diese Weise. Wie kann uns dieses Vorgehen weiterhelfen? Identifizieren wir die Parasiten und die parasitären Systeme unter den Menschen und lassen wir sie ins Leere laufen! Alles das, was jetzt in unserer Gesellschaft dran ist zu sterben: werfen wir es den Parasiten zum Fraß vor, damit sie so in das Ende ihres Parasiten-Daseins getragen werden. Auch persönliche Parasiten, Menschen, die unsere Lebenskraft ausnutzen, können wir so loswerden. Werfen wir ihnen unsere Eigenschaften zum Fraß vor, die von uns gehen können, ob dies nun Geldgier, Bequemlichkeit, Konflikt-, Verlust- oder Existenzangst, irrige Glaubenssätze oder Süchte oder was auch sonst immer sein mögen! Lassen wir sie gehen, verzichten wir auf das Geld, die Bequemlichkeit, setzen wir Grenzen, schließen wir uns mit anderen durch gegenseitige Unterstützung zusammen. Die Gemeinschaft auf Gegenseitigkeit ist die Keimzelle des Widerstandes gegen die Parasiten. Wir beobachten diese gemeinnützigen Gemeinschaften heute wie früher die Kirchen und Klostergemeinschaften der auf Armut gegründeten Orden. Einige Beispiele aus neueren Tagen: Wikipedia, das Wissensportal, dass aus freiwilligem Handeln durch Millionen von Wissenden aus der ganzen Welt parallel und schnell aufgebaut wird, das durch einen Selbstverwaltungsmechanismus seine Qualitätssicherung erreicht. Was wurde zum Fraß vorgeworfen? „Wissen ist Macht!“, „Wissen kostet“. Im Antlitz der Liebe - 299 - © Gabriele Sych OpenSource Initiative72, eine weltweite Gemeinschaft von Softwareentwicklern, die das Betriebssystem Linux gemeinsam weiterentwickeln. Das Ausschlaggebende an dieser Gruppe ist die Intention des Teilens mit allen und der Zusammenarbeit. Alle, die Beiträge leisten, verpflichten sich dazu, dass die Software ♥ in einer lesbaren und verständlichen Form weitergeben wird, ♥ beliebig kopiert, verbreitet und genutzt werden kann ♥ verändert werden darf und in der veränderten Form verbreitet werden darf Das Betriebssystem entsteht als ein Produkt der Gemeinschaft, und zwar ziemlich schnell. Welchem modernen Zöllner wird hier das Handwerk gelegt, der die Hand bei fast jedem Computerkauf aufhält? Dem 13 Jahre lang reichsten Mann der Welt. Große Geldgeber, so auch der deutsche Staat, investieren inzwischen mit viel Sinn lieber in dieses Gemeinschaftserzeugnis als in kommerzielle Produzenten. Was wurde zum Fraß vorgeworfen: Verzicht auf Profit und Gewinnmaximierung, Monopole und Geheimniskrämerei zur Schaffung von Wettbewerbsvorteilen. Couch-Surfing.com ist ein Portal einer Gemeinschaft von Menschen, die, auf Gegenseitigkeit beruhend, anderen Menschen auf Reisen vorübergehend ihre Couch zum Schlafen, ihre Wohnung als Aufenthalt, zur Verfügung stellt. Indem sie bereit sind, andere Menschen aufzunehmen, haben sie selbst die Chance, selbst mit geringem Kostenaufwand zu reisen. Dabei haben beide Seiten mehr vom Reisen: Der CouchBesitzer bekommt mehr Leben „in seine Bude“, der Reisende erlebt authentische Menschen, das Alltagsleben im besuchten Land, in der besuchten Stadt kennen und hat schon mal einen natürlich menschlichen Anlaufpunkt und nicht nur die oft künstliche, genormte Welt der kommerziellen Hotels. Was wurde zum Fraß vorgeworfen? „My home is my castle!“ 2.1.4.8 Aufwachen: Die Welt mit dem Herzen sehen Wenn ich die große Bedrohung der gesamten Menschheit durch Umweltkatastrophen und Klimawandel sehen, die vielen Hungertoten und die seelisch so Hungrigen in unseren Breitengraden sehe, so habe ich 72 Wer mehr über das Gedankengerüst hinter OpenSource wissen möchte, der lese „Die Kathedrale und der Bazar“, ein Essay von Eric Steven Raymond. Im Antlitz der Liebe - 300 - © Gabriele Sych sehr oft das Gefühl, dass Gott uns massiv schüttelt und sagt: „Wach doch mal auf, Mensch, wach doch mal auf!!! Wie tief schlaft Ihr eigentlich!!! Schau doch mal hin, da kann doch was nicht stimmen mit dem, was Ihr macht! Macht es anders, ich habe Euch doch schon gesagt, wie es geht! WACHT AUF! Wie groß soll ich es denn Euch noch in den Himmel schreiben und auf der Erde zeigen? Wie groß muss der Vorschlaghammer noch werden, mit dem ich Euch aufwecken muss? Wieviel eiskaltes Wasser muss ich Euch noch ins Gesicht kippen? Ich liebe Euch, ich will das doch gar nicht!“ Wie wäre es denn, wenn wir das Aufwachen und damit die Veränderung auf viel mehr Ebenen fortsetzten, wenn wir nicht verrückt wären, sondern rechtschaffen, genügsam und barmherzig? Wir würden unser Leben anschauen und feststellen, was wir wirklich brauchen. Den Rest abgeben. Künftig nicht mehr als das nehmen. Auf dem Camino waren wir zwei Monate mit dem Rucksack unterwegs, und dort ist wenig brauchen nicht nur eine Tugend, sondern eine schlichte Notwendigkeit, sich zu beschränken. 7 – 8 Kilo, dazu die tägliche Wegzehrung, das ist das maximale, was man dabei haben sollte, sonst schleppt man sich kaputt, versaut sich durch Haben alle Tage. Und ich merkte, wie wenig ich wirklich brauche. Nach dem Camino, meine Sachen waren noch alle eingelagert, da habe ich vier Monate aus einer Kommode mit 5 Schubladen gelebt, in denen meine persönliche Habe verstaut war. Und dann hatte ich noch meinen Computer und meinen Drucker. Das hat über eine längere Zeit genügt. Es funktionierte prima! Der Rest war weiterhin eingelagert. Viele Wohnungen, die ich in dieser Zeit besuchte, waren für mich zwiespältig zu ertragen, weil sie so sehr voll gestellt waren. Als ich meine Praxis einrichtete, da kamen meine Liege, ein Regal und drei Stühle und ein paar Bilder in meinen Praxisraum, in einem Abstellraum stehen noch ein Tisch und Klappstühle für Veranstaltungen. Als ich wieder eine eigene Wohnung bezog, da habe ich meinen restlichen Besitz aus dem Lager geholt und nur das behalten, was ich wirklich brauche, das – möglichst gebraucht – gekauft, was ich brauchte. Ich habe viel gespendet, versteigert und weggeworfen, was keiner mehr haben wollte. Übrig ist noch ein Stapel Bücher, den ich gern verkaufen oder sonst wie loswerden möchte. Am heutigen Tage fehlt mir nur noch ein Teppich. Und mehr möchte ich nicht mehr haben. Es wird nur noch bei Defekt ersetzt und Verbrauchs- und Arbeitsmaterial angeschafft. Und gut ist’s. Es geht, ich vermisse nichts – versprochen. Und es ist immer noch viel im Vergleich mit den Schwestern aus dem Orden von Mutter Theresa, die hatten: zwei Saris, ein Blecheimer zum Spülen der Saris, ein Paar Sandalen, ein Gebetbuch, in hiesigen Breiten noch zwei Paar Socken und eine Strickweste, bzw. ein Mantel für den Winter. Im Antlitz der Liebe - 301 - © Gabriele Sych Sicher wird ein solches Umdenken zu massiven Veränderungen an unserem Wirtschaftssystem führen, zu anfänglicher auch größerer Verunsicherung, zu elementaren Umbrüchen in unserem eigenen Leben, im Tagesablauf und in unseren Besitzverhältnissen, manchmal wird es uns auch erschrecken, doch nur Mut, es ist auch eine Befreiung. Es werden Dinge verschwinden, deren Zeit gekommen ist. Gut so! In der Kriegs- und Nachkriegszeit ist das alles von außen auf uns zugekommen, die Menschen haben es überlebt und Gemeinschaft erfahren. Warum nicht dies jetzt aus eigenem Antrieb einleiten, unsere Gesellschaft evolutionär umgestalten? Wie wäre es, statt Gottes Reaktion auf unser sichtbar irrsinniges Verhalten abzuwarten, ihn einzuladen in den Weg der Veränderung: Sieh Herr, wir wollen es jetzt so machen, wie Du es uns damals vorgeschlagen hast, weil wir gesehen haben, dass unser bisheriges Handeln uns an den Abgrund gebracht hat. Alles beginnt mit der Berührung im Herzen, lassen wir uns berühren! Lieben wir unseren Nächsten wie uns selbst! Wenn wir jetzt genug haben, dann sorgen wir jetzt dafür, dass auch andere genug haben. Leben ist dienen, für andere da sein: Matthäus 20 (Lutherbibel 1984) 26 So soll es nicht sein unter euch; sondern wer unter euch groß sein will, der sei euer Diener; 27 und wer unter euch der Erste sein will, der sei euer Knecht, 28 so wie der Menschensohn nicht gekommen ist, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und gebe sein Leben zu einer Erlösung für viele. Und wenn wir irgendwann einmal weniger haben als wir brauchen, umso eher kann es dann wahrscheinlich sein, dass uns jemand gibt. Unser aktuelles Sozialsystem tut so etwas schon. Doch die Perspektive geht weiter, es geht nicht nur um unser Land, sondern jeden Menschen dieser Erde, denn alle gehören dazu, jeder ist unser Nächster. Es geht um die freiwillige Selbstbeschränkung, es geht auch um die zukünftige Weltbevölkerung, um unsere nachgeborenen „Nächsten“. Mir geht es auch nicht nur um Geld, um finanzielle Ressourcen, sondern auch um unsere Zeit und liebevolle Zuwendung, dass sie wieder denen zufließt, die sie benötigen – unseren Kinder und Kindeskinder, unseren Eltern, unserem soziales Umfeld, den Bedürftigen – denen, die uns brauchen. Und es wird einen Unterschied, den Unterschied machen! Matthäus 25 (Lutherbibel 1984): Im Antlitz der Liebe - 302 - © Gabriele Sych 32 Und alle Völker werden vor ihm versammelt werden. Und er wird sie voneinander scheiden, wie ein Hirt die Schafe von den Böcken scheidet, 33 und wird die Schafe zu seiner Rechten stellen und die Böcke zur Linken. 34 Da wird dann der König sagen zu denen zu seiner Rechten: Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt! 35 Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen. 36 Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen und ihr seid zu mir gekommen. 37 Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dir zu essen gegeben, oder durstig und haben dir zu trinken gegeben? 38 Wann haben wir dich als Fremden gesehen und haben dich aufgenommen, oder nackt und haben dich gekleidet? 39 Wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen? 40 Und der König wird antworten und zu ihnen sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan. 41 Dann wird er auch sagen zu denen zur Linken: Geht weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln! 42 Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir nicht zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir nicht zu trinken gegeben. 43 Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich nicht aufgenommen. Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich nicht gekleidet. Ich bin krank und im Gefängnis gewesen und ihr habt mich nicht besucht. 44 Dann werden sie ihm auch antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig gesehen oder als Fremden oder nackt oder krank oder im Gefängnis und haben dir nicht gedient? 45 Dann wird er ihnen antworten und sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan. 46 Und sie werden hingehen: diese zur ewigen Strafe, aber die Gerechten in das ewige Leben. Um das Bild der ewigen Strafe zu verdeutlichen und nicht wieder den Zeigefinger rauszuholen: Es ist das Leben ohne Glaube, Liebe und Hoffnung, das Leben in Angst und Misstrauen, in Gleichgültigkeit und Kälte, in Sinnlosigkeit und Depression. Ein Reicher weiß nicht, ob er geliebt wird oder sein Geld. Sein Geld macht seinen Glauben scheinbar obsolet, macht er noch echte Glaubenserfahrungen? Weil er alles Kaufbare jederzeit haben kann, wird es irgendwann langweilig, keine Sehnsucht, kein Wandeln von Essig in Honig, kein Brennen, kein Verlangen, kein Glücksgefühl – ausgelöst von nur Im Antlitz der Liebe - 303 - © Gabriele Sych vier Brötchen. Oder immer größere, gewaltigere, kostspieligere Reize sind dafür notwendig, siehe Steve Fossett oder Richard Branson. Am Ende steht das Alles-SattHaben, die Depression. Das ist wirklich eine Hölle. Prediger 5 (Lutherbibel 1984): 9 Wer Geld liebt, wird vom Geld niemals satt, und wer Reichtum liebt, wird keinen Nutzen davon haben. Das ist auch eitel.10 Denn wo viele Güter sind, da sind viele, die sie aufessen; und was hat ihr Besitzer mehr davon als das Nachsehen? 11 Wer arbeitet, dem ist der Schlaf süß, er habe wenig oder viel gegessen; aber die Fülle lässt den Reichen nicht schlafen. 12 Es ist ein böses Übel, das ich sah unter der Sonne: Reichtum, wohl verwahrt, wird zum Schaden dem, der ihn hat. Und nicht, dass wir in 30 Jahren oder so genug haben werden, wer weiß, ob unsere Habe dann überhaupt noch existiert. Man kann es an der momentanen Finanzkrise ja sehr schön sehen, ob sich unsere Habe nicht einfach in der Unendlichkeit der Datenwelt aufgelöst hat oder Spekulanten es sich in die Tasche gesteckt haben. Brauchen die es? Und: Kennen Sie die meisten dieser Spekulanten? Wir alle sind es! Weil wir Zinsen erwarten von unseren Ersparnissen, weil wir beträchtliche Erträge von unseren Fonds erwarten, von unseren Lebensversicherungen. Es werden doch hauptsächlich die Fonds gekauft, die eine gute Performance haben, Quartal für Quartal, bei jedem Test der Stiftung Warentest. Wie viele Menschen kaufen Nachhaltigkeits-Fonds? Wer beauftragt denn die Banken mit Profitorientierung? Wir selbst! Weil wir die beste Anlage kaufen wollen. In 2008 exisitierte in Deutschland im Umlauf ein Wertpapiervermögen inländischer Emittenden von 3.250.195.000.000 Euro. Dieses Geld steckt in unserem Wirtschaftssystem. Wir selbst sind diese Shareholder, die auf einem vernünftigen Shareholder Value aus der Finanzkraft der Unternehmen Wert legen. Wer erhöht denn unsere Benzinpreise, die wir an der Tanksäule als moderne Wegelagerei erfahren? Sind das nur die Ölmultis? Auch, aber nicht nur: das sind oft bankeneigene und freie Anleger und Spekulanten z.B. mit Hedge Fonds, mit denen unsere normalen Fonds kurzfristig ihre Zahlen, ihre Performance aufbessern können. Da werden gute Zahlen gebraucht, da werden durch Rohstoff-Spekulation gute Zahlen geschaffen, die wir z.B. an der Tanksäule bezahlen. Wo kommt denn die Rendite für die Zukunft her? Aus unseren heutigen Portemonaies. Rechte Tasche zahlt an linke Tasche… Im Antlitz der Liebe - 304 - © Gabriele Sych Wer sorgt denn für die Einsparungspläne mit Massenentlassungen und Verlagerung von Produktion ins Ausland? Wer setzt denn unsere Arbeitsplätze aufs Spiel? Wer sind denn die Quartalsdenker, die so ziemlich jede nachhaltige Unternehmensstrategie so schnell zu Fall bringen? Ebenso wir selbst, durch unser Konsumverhalten, durch unser Investitionsverhalten bei Finanzprodukten jeder Art und mittelbar über die Rentenversicherungen und die Refinanzierungsstrategien der Banken für das Wirtschaftsbankwesen. Die Ratingunternehmen, die Boni-zahlenden Banken, die jung-dynamischen73 Unternehmensberatungen, das sind nur unsere Erfüllungsgehilfen, von uns beauftragt, fast genötigt, tolle Zahlen zu produzieren, meist exzellent bezahlt, auf Kosten der anderen Wirtschaftsteilnehmer. Doch diese tollen Zahlen, was bedeuten sie im realen Leben? Denn wir sehen lediglich den Prozentsatz für Performance unserer Geldanlage, das ist so weit weg, so unpersönlich, dass wir damit nicht die Härte und den Druck in Verbindung bringen, die von dieser Zahl ausgeht und damit von uns ausgeht. Wir wundern uns nur oder jammern, wenn diese Härte uns selbst oder Mitmenschen trifft, bei denen die Anonymität der Zahl sich wieder in reale Gesichter, Schicksale wandelt. Wenn jemand entlassen wird, Sparplänen, Umstrukturierungen, Verlagerung von Unternehmensbereichen ins Ausland zum Opfer fällt, gemobbt wird, vor Stress und Überforderung krank wird, weil er zwei oder sogar drei Jobs gleichzeitig macht, das Gefühl hat, machen zu müssen. Da sorgen wir also auch selbst dafür. Der mit ca.1,6 Billiarden verschuldete deutsche Staat soll uns ebenfalls für unsere Anleihen eine schöne Rendite zahlen, d.h. so sorgen wir ebenfalls für unsere ebenso „schöne“ Steuerlast, an der der Kapitaldienst inzwischen im Bund ca. jeden 5. Euro ausmacht, d.h. 20 % unserer Steuerzahlungen geht in unsere Rendite. Wieder: Rechte Tasche zahlt an linke Tasche…. Zum anderen leisten wir uns heute damit einen Lebensstil, den wir uns von unseren Kindern und Enkeln ohne deren Zustimmung borgen, indem wir ihnen diese Schulden hinterlassen, ihren Gemeinschaftsrucksack unendlich voll packen, schwer machen. Macht das Sinn? Wie kann das unser Anstand eigentlich gutheißen, wenn wir das Beste für unsere Kinder wollen? 73 Als ich mich einmal bei einer großen, weltweiten Unternehmensberatung bewarb, da nannten sie mir das Durchschnittsalter ihrer Mitarbeiter in Deutschland: 28 Jahre. Das Durchschnittsalter der englischen Tochter dieses Unternehmens lag bei 24 Jahren. DAS gab mir zu denken. Natürlich war ich auch zu alt… Im Antlitz der Liebe - 305 - © Gabriele Sych Ich bin kein apokalyptischer Reiter, ich sehe inzwischen einfach hin. Wollen wir einfach darauf warten, dass die Konsequenz unseres Handelns, die sich jetzt schon berechenbar abzeichnet, über uns hereinbricht? Und dann heulen und mit den Zähnen klappern? Matthäus 24 (Neues Leben): 45 Wer ist also ein vertrauenswürdiger und kluger Diener, dem der Herr sein Haus und die Versorgung seiner Familie anvertrauen kann?46 Wenn der Herr zurückkommt und feststellt, dass der Diener seine Aufgabe zu seiner Zufriedenheit erfüllt, ist der Diener glücklich zu schätzen. 47 Ich versichere euch: Der Herr wird diesem Diener die Verantwortung für seinen gesamten Besitz übertragen. 48 Doch wenn der Diener böse ist und glaubt, `Mein Herr wird ja erst einmal eine Weile fort sein´, 49 wenn er anfängt, die anderen Diener schlecht zu behandeln, und Trinkgelage veranstaltet - 50 dann wird sein Herr unangemeldet und völlig überraschend zurückkehren. 51 Und er wird diesen Diener davonjagen und dorthin schicken, wo auch die Heuchler sind. Und an jenem Ort werden sie weinen und mit den Zähnen knirschen.« Was wir heute freiwillig tun, wird nicht in der Zukunft über uns hereinbrechen, was wir heute freiwillig aufgeben, wird uns nicht später in eine Opferposition, ein erzwungenes Abgeben führen, sondern zu freiwillig Rechtschaffenden machen: Handeln in und aus Liebe, ohne Zwang, ohne Angst. Ich weiß aus Erfahrung: Leben ohne Haben kann genauso schön oder schöner sein als Leben mit Haben. So auch der Apostel Paulus in 1. Timotheus 6 (Einheitsübersetzung): 7 Denn wir haben nichts in die Welt mitgebracht, und wir können auch nichts aus ihr mitnehmen. 8 Wenn wir Nahrung und Kleidung haben, soll uns das genügen. 9 Wer aber reich werden will, gerät in Versuchungen und Schlingen, er verfällt vielen sinnlosen und schädlichen Begierden, die den Menschen ins Verderben und in den Untergang stürzen. 10 Denn die Wurzel aller Übel ist die Habsucht. Nicht wenige, die ihr verfielen, sind vom Glauben abgeirrt und haben sich viele Qualen bereitet. … Auch Politik ist nur insoweit handlungsfähig, als dass die Menschen mitziehen, auf die Politiker lohnt es sich nicht zu zeigen. Als Beispiel möchte ich die Steuerlüge im 1990er Wahlkampf der Regierung Kohl anführen zur Zeit der Wiedervereinigung. Es war ganz klar, dass es viel, viel Geld kosten würde, unserem Nächsten im eigenen Land zu geben, Im Antlitz der Liebe - 306 - © Gabriele Sych was er brauchte. Wie viele Jahre hatten wir auf die Wiedervereinigung gehofft und gewartet? „Aus der Portokasse“ sollte plötzlich die Einheit finanziert werden… Wir haben es doch gewusst, dass das nicht geht, oder? Und es wurde der gewählt, der versprach, uns unsere Pfründe zu erhalten. Die traditionelle Gemeinschaftsvermögenseinnahmequelle, die Steuer, wurde dann umbenannt in Solidaritätszuschlag, um zu verschleiern, dass die Steuererhöhungen doch notwendig geworden waren. Doch ob das Finanzamt nun Steuer oder Solidaritätszuschlag einnimmt: es ist nur ein anderes Etikett, ein anderer Name. Wodurch werden denn am häufigsten gute Ansätze in der Politik verwässert? Durch die Lobbyisten der Betroffenen, die ihre Pfründe schrumpfen sehen, durch uns selbst, weil wir nicht mitziehen. Wir sind es selbst, da gibt es kein Vertun, keiner sonst, Du und Ich, mein Nächster wie auch Ich. Geben wir diese Pfründe doch einfach freiwillig auf, aus Einsicht und aus Liebe, damit nicht alle 11 Sekunden ein Mensch an Hunger oder Unterernährung stirbt, damit der Verschwendung von Ressourcen, der Umweltverschmutzung ein Ende geschaffen wird. Sagen wir ja, stimmt schon, machen wir das! Das macht Sinn! Überzeugen wir uns selbst davon, fangen wir selbst damit an, auch wenn unser Nachbar das noch nicht tut. Auch nicht nur Kosmetik, oberflächlich, sondern durchgängig! Aufräumen können wir am besten bei uns selbst, nur für uns selbst können wir die Entscheidung treffen; nicht für unseren Nachbarn. Doch er hat dann einen weniger, auf den er zeigen kann: „Wieso ich denn, der macht es doch auch nicht!“ Wie schön, wenn er bald keinen mehr dafür hat… Ein Imagewandel ist fällig. Nicht der hat Erfolg, der mehr hat als andere, der im Überfluss lebt, sondern der, der es schafft, glücklich und zufrieden mit dem zu leben, was er braucht und den Rest in den Zeiten seiner Stärke in die Gemeinschaft investiert. Der kann dann vertrauen, dass andere es tun, wenn er selbst braucht, schwach ist. Wer mehr hat als andere in dieser Welt, ob nun Top 1, Top 5 oder Top 10, der ist derjenige, der anderen etwas wegnimmt oder vorenthält. „Der Teufel scheißt immer auf einen großen Haufen“ heißt ein altes Sprichwort in Deutschland. Wer viel hat, der sollte sich vielleicht mal fragen, ob die beste Quelle ihm denn dieses erschlossen hat. Es kommt wirklich nur auf unsere Sichtweise an. Es kostet keinen Cent, diese zu verändern. Im Antlitz der Liebe - 307 - © Gabriele Sych In der Bundesrepublik gibt es lt. Wikipedia ca. 50 Millionen Christen, weltweit gibt aus laut Encyclopædia Britannica 2005 2,1 Milliarden Anhänger der christlichen Religionen, das sind ca. 1/3 der Weltbevölkerung. Wenn all diese einfach die Bibel als Bedienungsanleitung für diese Welt wirklich ernst nähmen und ihr Leben danach rechtschaffen umstellen würden, freiwillig und aus Überzeugung, wer könnte dem dann noch widerstehen? Können, wollen wir als Christen das mal gemeinsam stemmen? Ich bin sicher, Gott würde sich über die Christenheit freuen. Und so könnte der Weg – auch nach dem Gleichnis der Arbeiter im Weinberg aussehen: Hier in Deutschland gibt es schon die Petition für das bedingungslose Grundeinkommen. Entscheiden wir uns doch einfach freiwillig dafür, mit diesem Grundeinkommen zu leben, denn dieser Betrag ist auch gleichzeitig das Maximaleinkommen, d.h. keiner hat mehr, als er braucht. Der Rest wird abgegeben. Waren, die gebraucht werden, werden hergestellt, alles andere nicht, was gut für unser Lebensrucksäcke, unsere Weltressourcen, und unsere Umwelt ist. Familien mit Kindern haben dann mehr Geld als Ehepaare ohne Kinder, denn sie brauchen es ja, weil sie mehr Menschen sind, sie brauchen mehr Wohnraum, mehr Essen etc. Alle anderen Mittel werden zunächst dazu genutzt, um staatliche Schulden zu tilgen, wo das notwendig ist. Na sicher würde so ein großer Teil der Wirtschaft zusammenbrechen, aber genau der, den wir nicht brauchen. Jeder tut, was er für richtig für die Gemeinschaft hält und nicht das, was bezahlt wird. Alle anderen Themen, die uns in der Einheit der Christen dann noch auseinanderdividierten, würden wahrscheinlich ob der Größe dieser Aufgabe als Peanuts mit einem Schulterzucken nebenbei erledigt werden, das würde Er uns dann einfach schenken. Und danach, wenn wir uns selbst gewandelt haben, wenn wir durch unser eigenes Leben überzeugen können, dass es geht, dann können wir öffentlich, gemeinschaftlich tätig werden, nämlich da, wo wir meinen, am rechten Platz zu stehen, was uns liegt, was uns am meisten am Herzen liegt, wo wir den Wandel vorantreiben können, wo wir richtig gut sind. Wo wir uns freiwillig engagieren, da müssen wir uns nicht bewerben oder werben, da erhalten wir keine Absagen, das können wir uns aussuchen, nach Lust und Laune. Schön, oder? Lukas 12 (Lutherbibel 1984) Im Antlitz der Liebe - 308 - © Gabriele Sych 34 Denn wo euer Schatz ist, da wird auch euer Herz sein. Scheren wir aus der Herde aus, wählen wir einen neuen Weg und andere werden uns folgen! Keine Revolution von oben, kein Kampf, kein Krieg, keine Enteignung von außen, nein, gebraucht wird ganz viel Liebe, die Entwicklung der Fähigkeit, mit dem Herzen zu sehen und zu handeln und eine Evolution in uns, eine Enteignung von innen heraus, umfassende Diät, Mensch für Mensch, Haushalt für Haushalt, Land für Land: Keimzellen, aus denen sich die Welt erneuert, das Bild des Sauerteiges. Daraus entwickelt sich eine Welt der Hoffnung, der wir gern angehören werden, eine Welt, in der die Depression verschwindet, weil jeder Sinn und Teilhabe findet – die Gabe des Heiligen Geistes. Und wenn noch mal jemand fragt: Warum ist so viel Leid, so viel Hunger, diese Umweltkatastrophe in der Welt? Dann noch mal: Damit wir auf dem jetzigen Weg einhalten, umkehren und mit dem Herzen sehen, fühlen und handeln lernen . Damit wir jetzt Gottes Reich konsequent errichten. 2.1.4.9 Und die Fülle? Psalm 16 (Einheitsübersetzung): 11 Du zeigst mir den Pfad zum Leben. Vor deinem Angesicht herrscht Freude in Fülle, zu deiner Rechten Wonne für alle Zeit. Epheser 3 (Gute Nachricht Bibel): 19 Ihr sollt die Liebe erkennen, die Christus zu uns hat und die alle Erkenntnis übersteigt. So werdet ihr immer umfassender Anteil bekommen an der ganzen Fülle des Lebens mit Gott. Auf unserem Weg will uns Gott immer mehr öffnen für die Fülle an Glaube, Liebe und Hoffnung und uns befreien von Angst, Überregulierung, Absicherung und Selbstbescheidung aufgrund mangelnden Selbstwertgefühls …mehr ist für mich wohl nicht drin, ich bin ja viel zu "Wasauchimmer" und zu wenig "Wasauchsonstnoch"... Er will nicht, dass wir uns mit einer mittelmäßigen Liebe, mit einem Halbwegs-Glauben und einer Manchmal-Hoffnung zufrieden geben. Nein, er hat uns geschaffen für die Im Antlitz der Liebe - 309 - © Gabriele Sych vollendete Liebe, für den Glauben jenseits allen Zweifels und die grenzenlose, nie endende Hoffnung. Und manchmal machen wir schwere Zeiten durch, damit wir uns endlich öffnen für die ganze Fülle, anstatt uns nur mit dem Zipfel der Wurst zu begnügen. Bis wir kapieren: Ich kann ja viel mehr haben, viel mehr an Gutem in meinem Leben zulassen als bisher. Glauben wir nicht nur gemäß Glaubensbekenntnis an den Heiligen Geist, nein, lassen wir ihn ständig uns erfüllen, dauerhaft Licht in unseren ganzen Tag bringen! Das ist unsere Bestimmung, das ist das Ziel! Die Fülle des Lebens wird denen gegeben, die sich im Kleinen als verantwortlich und würdig erwiesen haben. Und dann kann man schauen, ob sie sich auch im Großen als würdig erweisen. Kanalisieren sie die Fülle zu denen hin, die brauchen, oder in ihr eigenes Leben, in ihre eigene Absicherung, ins Horten? Lukas 16: Von der Treue 10 Wer im Geringsten treu ist, der ist auch im Großen treu; und wer im Geringsten ungerecht ist, der ist auch im Großen ungerecht. 11 Wenn ihr nun mit dem ungerechten Mammon nicht treu seid, wer wird euch das wahre Gut anvertrauen? Psalm 62,11 Fällt euch Reichtum zu, so hängt euer Herz nicht daran. Beispiele für Füllegeschehen anhand von Buchautoren: Joanne K. Rowling, die Schöpferin von Harry Potter, die Liebe als Schutz gegen das Böse des Lord Voldemorts setzte, die die Liebe siegen ließ. Sie lebte zur Zeit des Schreibens des 1. Buches als allein erziehende Mutter von sehr wenig Geld. Heute redet man von Millionen Pfund Einnahmen. Was passiert mit dem Geld, das sie mit Harry Potter eingenommen hat? Neale Donald Walsh, Autor der Trilogie „Gespräche mit Gott“ und anderen Büchern über Gott. Wie lebt er heute? Was hat er aus seinem finanziellen Erfolg gemacht? Paulo Coelho, unter anderem Autor des Buches „Der Alchimist“ und „Auf dem Jakobsweg“ und vieler weiterer meist spiritueller Bücher. Er gilt als einer von 10 Autoren, die weltweit die meisten Bücher verkaufen. Welche Frucht hat er getragen? Im Antlitz der Liebe - 310 - © Gabriele Sych Sie alle hatten Zeiten der Wüste, der Ebbe und der Armut, Sie kennen diesen Ort gut. Was haben sie daraus gemacht? Wohin haben sie ihre Einnahmen kanalisiert? Behalten sie, was sie zum Leben brauchen und geben sie den Rest an die Bedürftigen? Haben sie die erwünschte Frucht getragen, ihre Talente gemehrt und diese Mehrung dem Großen, Ganzen gewidmet? Ich will diese Frage nicht erforschen, sie hier nicht beantworten, nur aufwerfen, forschen Sie mal selbst! Die Autoren selbst werden es wissen, Gott weiß es. Die wahre Fülle entsteht meiner Erfahrung nach erstaunlicherweise in der Beschränkung. In der Vereinigung der Gegensätze – Friede. In der freiwilligen Beschränkung wird das Kleine groß, das Feine überwältigend, weil alles seinen Platz findet in unserer Zeit und in unserem Raum und so Tiefe gewinnt. Wir können alles intensiv genießen und auskosten, auf was wir uns fokussieren. Oft genug Nein gesagt zur Zerstreuung ergibt ein großes Ja. Das ist zum Beispiel das Glück der Ehe und Treue. Einem Menschen so nah kommen zu können, dass man einander ganz nah kommt, einander ganz erfährt, in allen Facetten erfasst und genießt. Psalm 112 3 Reichtum und Fülle wird in ihrem Hause sein, und ihre Gerechtigkeit bleibt ewiglich.4 Den Frommen geht das Licht auf in der Finsternis von dem Gnädigen, Barmherzigen und Gerechten. 5 Wohl dem, der barmherzig ist und gerne leiht und das Seine tut, wie es recht ist! 6 Denn er wird ewiglich bleiben; der Gerechte wird nimmermehr vergessen. 7 Vor schlimmer Kunde fürchtet er sich nicht; sein Herz hofft unverzagt auf den HERRN. 8 Sein Herz ist getrost und fürchtet sich nicht, bis er auf seine Feinde herabsieht. 9 Er streut aus und gibt den Armen; / seine Gerechtigkeit bleibt ewiglich. Was wird die Fülle derer, die sich bewusst beschränken und ihre Lebenszeit dem Reich Gottes widmen? Ich kann nur von mir reden. Das erfüllt mich mit viel Freude, das ist meine Fülle: ♥ Ich habe für alles so viel Zeit bzw. kann mir soviel Zeit nehmen, wie es nun mal braucht. Für jeden Menschen, der zu mir kommt, plane ich zunächst zwei Stunden, manchmal mehr ein. Ich will nicht gehetzt werden, weil bald der Nächste kommen würde. Und keiner soll sich bei mir gehetzt fühlen. Ich will Im Antlitz der Liebe - 311 - © Gabriele Sych einen Ort der Ruhe und des Friedens und der Wertschätzung haben und bieten. Ich lasse mir selbst Zeit für einen entspannten Morgenanfang. Alles funktioniert besser, wenn ich entspannt bin. ♥ Es gibt keine Prioritäten. Alles, was ich tue, hat gleiche Priorität, weil es alles dem Reich Gottes dient. Ob ich nun Menschen behandle, Essen für meine Familie koche und den Haushalt mache, meinem Kind bei den Hausaufgaben helfe, bete, für einen eigenen ruhevollen oder gesunden Zustand in mir sorge, diese Welt als Gottes Geschenk genieße und liebe, an diesem Buch schreibe, in der Kirche für Obdachlose mitarbeite. Alles ist gleich viel wert, weil es in Gottes Reich investiert ist, in das höchste Gesetz. ♥ Ich liebe, was ich tue, es macht mir Spaß und erfüllt mich mit viel, viel Freude. Ständig lerne ich Neues. Ich sehe Sinn darin, mein Leben macht Sinn. Ich lerne viele Menschen kennen, denen ich helfen kann, ich fühle mich nützlich. Nur noch ganz selten fühle ich Sorge, denn für mich wird gesorgt. Ich habe keine Angst um meine materielle Existenz. ♥ Die Liebe zu den Menschen wächst in mir und macht mich meistens ausgeglichen. Viele Menschen umarmen mich spontan, und ich sie. Das ist schön! Liebe steht für mich im Vordergrund, sie ist das Wichtigste. ♥ Ich kann mich an so vielen kleinen Dingen freuen, weil bei mir heute einfach schon kleine Reize für die Freude genügen. Ich habe Muße, sie in Tiefe wahrzunehmen. Ich bin zufrieden. ♥ Wenn Probleme auftreten, dann habe ich immer jemanden, an den ich mich wenden kann und der mir hilft, sie zu lösen. Kein Problem fühlt sich so unlösbar an – und sie lösen sich auch, Stück für Stück, mal schnell, mal allmählich. Ich vertraue. Die Fülle in Gottes Reich, das ist Liebe, Freude, Sinn, innere Freiheit, Sicherheit, Sorglosigkeit, Vertrauen – unbezahlbar. Sprüche 8 verheißt diese Fülle: 17 Ich liebe, die mich lieben, und die mich suchen, finden mich. 18 Reichtum und Ehre ist bei mir, bleibendes Gut und Gerechtigkeit. 19 Meine Frucht ist besser als Gold und feines Gold, und mein Ertrag besser als erlesenes Silber. 20 Ich wandle auf dem Wege der Gerechtigkeit, mitten auf der Straße des Rechts, 21 dass ich versorge mit Besitz, die mich lieben, und ihre Schatzkammern fülle. Im Antlitz der Liebe 2.1.4.10 - 312 - © Gabriele Sych Kredite auf das Leben Der Zauberer kommt nicht zu früh und nicht zu spät, sondern genau zum richtigen Zeitpunkt. Gandalf in „Der Herr der Ringe“, J.R.R. Tolkien Psalm 145 (Luth 15 Aller Augen warten auf dich, und du gibst ihnen ihre Speise zur rechten Zeit. 16 Du tust deine Hand auf und sättigst alles, was lebt, nach deinem Wohlgefallen. 17 Der HERR ist gerecht in allen seinen Wegen und gnädig in allen seinen Werken. 18 Der HERR ist nahe allen, die ihn anrufen, allen, die ihn ernstlich anrufen. 19 Er tut, was die Gottesfürchtigen begehren, und hört ihr Schreien und hilft ihnen. 20 Der HERR behütet alle, die ihn lieben. Das Leben hat die Chance, auf stetigen Bahnen seinen Weg zu nehmen. Wir lernen etwas, probieren es aus und dann werden wir – Stück für Stück – in die Lage versetzt, dies, was wir gelernt haben, an den Mann oder die Frau zu bringen. Dieses ist der natürliche Zyklus und fand sich lange Zeit im Leben der Menschen wieder: Der Weg vom Lehrling zum Gesellen zum Meister. Man kann sich Dinge selbst beibringen und sie durch Üben vervollkommnen oder man kann in die Lehre gehen – und manchmal hat man einfach auch wirklich Talent, das man ausprobieren und ausbauen kann. Auf jeden Fall berücksichtigt dieser Weg die Form des menschlichen Lernens vom Versuch und Irrtum bis zur Erfahrung. Es gibt Lehr- und Wanderjahre, es gibt einfach Zeiten, die sind keine Herrenjahre, nämlich mindestens die Einstiegsjahre. Es gibt Zeiten der Aussaat und Zeiten der Ernte. Genauso ist es mit den anderen Dingen im Leben. Wir setzen uns ein Ziel, z.B. eine Anschaffung, und gehen darauf los. Wir sparen so lange, bis wir unser Ziel erreicht haben und uns kaufen können, was wir wollen. Auf diesem Wege haben wir auch alle Zeit festzustellen, ob wir das wirklich brauchen und wollen und uns leisten können. Wir haben Zeit, uns darauf zu freuen und unsere Vorstellungen festigen unser Wissen und unser Wollen. Dies ist wie bei einer Lehre eine Zeit der Prüfung, hier können wir noch vor dem Vollzug der Anschaffung unsere Meinung ändern und auf etwas anderes sparen oder etwas anderes anschaffen, wir haben alle Zeit der Welt, uns zu informieren, was wir haben wollen. Woher weiß ich, dass ich im Moment etwas nicht für mich ist? Weil dafür kein Geld ist. Im Antlitz der Liebe - 313 - © Gabriele Sych Ebenso ist dies so in einem Leben, das einen langsamen und stetigen Aufstieg in den Leistungen nimmt. Wir leisten soviel, wie es uns gut tut – und nicht mehr. Wenn wir Ruhe oder eine Pause brauchen, dann hören wir auf. Wir machen zur vereinbarten Zeit Feierabend, damit wir für die anderen Aktivitäten in unserem Leben, unsere Liebsten, unseren Körper die Zeit haben, die ihnen zusteht. Wenn wir Anfänger sind, geben wir uns als solches zu erkennen und scheinen nicht mehr, als wir sind. Wenn wir etwas brauchen, was wir uns nicht dauerhaft leisten können, dann können wir es mit anderen gemeinsam anschaffen und teilen oder mieten. Wenn wir so vorangehen, dann schulden wir niemandem etwas. Grow as you go – wachsen, während wir vorangehen, so viel investieren, wie wir haben, das war zu meiner Zeit bei Hewlett-Packard ein finanzieller Leitgedanke bei meinem damaligen Arbeitgeber. Schulden entstehen immer dann, wenn wir etwas vorausnehmen; wenn wir im Voraus etwas nehmen, was wir noch gar nicht haben. Vorwärts-Sparen nannte eine Bank das einmal. Eine Schuld ist eine Verpflichtung für unsere Zukunft. Wir legen eine geplante, oft dauerhafte Last auf unsere Zukunft. Obwohl wir nicht wissen können, wie diese Zukunft wird, ob unsere Voraussagen eintreffen. Wenn wir etwas teilen, dann können andere es nutzen, wir stärken uns gegenseitig, wenn wir etwas mieten, dann können wir z.B. die Mietsache jederzeit in der Regel mit einer kurzen Frist zurückgeben. Wenn wir etwas kaufen und wollen es wieder loswerden, müssen wir auf jeden Fall warten, bis wir einen Käufer finden. Das kann sofort sein, das kann aber auch eine Weile dauern oder nie sein. Kalkulieren können wir dies nicht. Daher sollten wir uns zu diesem Punkt nur das leisten, was wir haben. Wenn wir etwas mittels Schulden kaufen und dann verkaufen wollen oder müssen, dann können wir nicht wissen, wann wir die Schulden und damit die Last wieder los sind. Ich will etwas haben: spare ich oder nehme ich einen Kredit auf? Eine ganz normale Überlegung. Häufig wird z.B. bei Wohneigentum gerechnet: Die Kreditkosten gegen die Miete. Und das sieht dann häufig sehr ähnlich aus. Ist es aber nicht! Jesus Sirach, 21 (Einheitsübersetzung) 8: Baut einer sein Haus mit fremdem Geld, sammelt er Steine für einen Schutthaufen. Im Antlitz der Liebe - 314 - © Gabriele Sych Ja, es ist recht einfach, immer einen neuen Kredit aufzunehmen, aber gar nicht selten drücken einem zunehmend die Kredite den Hals zu. Die Kredite verpflichten einen, eine bestimmte Menge an Geld zu verdienen, damit diesen Kreditverpflichtungen nachgekommen werden kann. Dies kann aber keiner für immer gewährleisten, vor allem in der heutigen Zeit nicht. Wie schnell zieht man in eine andere Stadt oder wird versetzt, wie schnell kann man seine Arbeit verlieren, wie schnell kann heute eine Beziehung enden und sich damit die finanzielle Basis der Betroffenen ändern, wie schnell können gesundheitliche Einschränkungen von heute auf morgen die komplette Lebensgestaltung verändern? Wie schnell ändern sich heute die Bedürfnisse? Und was ist mit der Idee, die ich in drei Jahren haben könnte, die mein ganzes Leben auf den Kopf stellen wird? Werde ich auf sie aufgrund der heute getroffenen Verpflichtung verzichten? Kann man da wirklich guten Gewissens einen Vertrag über viele Jahre, ja sogar Jahrzehnte abschließen? Und zwar im Bezug auf sich selbst, im Bezug auf das eigene Leben? Will man diese stark bindende Festlegung wirklich treffen: „Ich stehe dafür gerade, dass ich die nächsten 30 Jahre jeden Monat so viel Geld zur Verfügung habe, dass ich diesen Verpflichtungen nachkommen kann. Ich belaste mein Leben mit dieser Hypothek. Ich packe dies in meinen Lebensrucksack und werde dies die nächsten 30 Jahre tragen.“ Exkurs: Dürfen wir wirklich so viel Staatsschulden anhäufen, wie wir es derzeitig tun? Sind wir uns im Klaren darüber, ob das jemals zurückgezahlt werden kann? Zahlen und Meinungen aus dem Tagesspiegel Meine Meinung dazu: Jeder von uns sollte jetzt, so wie er kann, mindestens seinen Anteil an den Staatsschulden zurückzahlen, statt in private Dinge zu investieren. Mit welchem Recht beladen wir die Lebensrucksäcke der folgenden Generation mit diesem unvorstellbar großen Schuldenberg. Ich freue mich schon auf den Tag, an dem ich das kann. Wenn ich frei sein will für das Leben, das zu mir gehört, das ich mir erträume, das ich mir erfühle, dann behindern solche Lasten immens. Sie behindern mich dabei, im Fluss des Lebens mit zu schwimmen und zu lernen. Ich muss probieren und scheitern und wieder neu aufstehen können. Wenn ich mir aufgrund früherer Verpflichtungen diese Möglich- Im Antlitz der Liebe - 315 - © Gabriele Sych keiten nehme, mich zu schwer mache, dann schaffe ich automatisch Druck und Last. Davon werden meine Leistungen und mein Leben nicht besser. Es gibt Verpflichtungen, an die binde ich mich auch freiwillig und zwar aus Liebe: Eine Ehe und vor allem an Kinder. Setze ich ein Kind in die Welt, so bin ich die nächsten 20 Jahre verpflichtet, dieses Kind groß zu ziehen, sein körperliches, seelisches und geistiges Wachstum zu unterstützen, für dieses Kind Verantwortung zu übernehmen, es zu ernähren, zu kleiden, und ihm in dieser Welt Raum zu geben. Doch hier habe ich die Freiheit, mit diesem Partner und diesen Kindern das WIE immer wieder neu zu verhandeln und gestalten, sie auch mitzunehmen. Wenn ich z.B. wirklich einen Lebenstraum realisieren will oder eine Chance wahrnehmen will, kann die Familie daran partizipieren, vor allem, wenn ich sie mitträumen lasse und daraus ein gemeinsamer Traum entsteht, der von allen gemeinsam dann auch in die Welt geholt wird. Sie können sich mit verändern, sie können den Weg mitgehen. Wollen wir nicht irgendwann am „Ich muss!“ scheitern, wenn es wirklich darauf ankommt, dann sorgen wir für leichtes Gepäck! Das habe ich insbesondere auf dem Jakobsweg gelernt. Ein leichter Rucksack ist auch für den Lebensweg ein großes Glück! Unter Druck durch zu vollen Lebensrucksack – Cartoon von Johanna Fritz Doch Kredite können auch auf andere Weise aufgenommen werden, nämlich auf die Zeit und auf die Körperkraft. Wenn wir immer wieder unser Zeitkonto überziehen, und Zeit von den Bereichen abziehe, die unsere Lebenskraft und Lebensfreude stärken, dann legen wir damit auch eine Last auf unsere Zukunft. Wir nehmen dann zwar keinen materiellen Im Antlitz der Liebe - 316 - © Gabriele Sych Kredit auf, sondern einen Kredit auf unsere Gesundheit, doch wir entfernen uns dabei ebenso von uns und unseren zukünftigen Möglichkeiten. Wenn wir unsere Kraft nicht erhalten, dann müssen wir den Kredit auf dem Zeitkonto und der Körperkraft irgendwann zurückzahlen. Hier geht es nicht um die Last im Rucksack, sondern um die Schwächung des Trägers, der den Rucksack trägt. Es ist ja egal, ob ich die Last nicht tragen kann, weil die Last zu schwer ist oder ich zu schwach bin. Als ich bei Hewlett-Packard arbeitete, legte ich mir lange Zeit eine 60-Stunden-Woche auf, weil ich meinte, alles schaffen zu müssen. Weil ich nicht NEIN sagen konnte. Weil subjektiv durch das variable Gehalt und die Umsatzziele ein großer Druck auf mir lastete. Dieses zeitliche Überziehen hinterließ große Schäden bei mir an Körper, Geist und Seele. Durch einen Burnout habe ich diesen Kredit zurückzahlen müssen, Stunde für Stunde, Tag für Tag, Woche für Woche.. Die Rückzahlung kann durch Krankheiten, durch Unfälle, durch Auszeiten und durch Müdigkeit und Erschöpfung, z.B. Burnout oder Depression „ausgeglichen“ werden. Der Körper holt sich irgendwann seine Zeit und seine Zuwendung zurück, das habe ich am eigenen Leib erlebt. Ob dies in einem Moment passiert, den wir selbst wählen würden? Müdigkeit und Erschöpfung lassen jede neue Idee schal werden, die eigentlich zu erwartende Freude kann nicht durchkommen. Hinzu kommt oft das schlechte Gewissen, ein neuer Kredit: ich müsste eigentlich mich besser um … meine Kinder, meinen Partner, meinen Körper, meine Familie, meine Freunde, Gott und die Welt, mich … kümmern. Und so entsteht oft noch mehr Druck, da ich dann ja auch noch den Wunsch habe, mein schlechtes Gewissen zu kompensieren. Mir ist da ein Beispiel im Sinn, bei dem mir sofort die Idee von diesem Kredit kam. Ich weiß nicht, ob dies wirklich so war. Was ich jetzt schildere, sind nur meine Gedanken, es muss nicht die Realität sein. Vor einiger Zeit verstarb ein Geschäftsführer eines deutschen Unternehmens im Alter von 47 Jahren an Herzversagen. Von Mitarbeitern, die ihn kannten, hörte ich, dass sie von diesem Chef zu jeder Tagesund Nachtzeit und am Wochenende E-Mails und Anrufe erhielten. Er muss ständig aktiv gewesen sein, sich ständig für das Unternehmen eingesetzt haben. Zugegeben, das Unternehmen stand in einer Krise, ausgelöst durch ein Projekt, dessen Realisierung zu großen Problemen führte und im Kreuzfeuer der öffentlichen Kritik stand. Er starb während seines Urlaubs. Er war verheiratet und ließ Frau und Kinder zurück. Im Antlitz der Liebe - 317 - © Gabriele Sych Nur mein Gedanke: Kann es nicht so gewesen sein, dass hier ein Zeitkonto so intensiv überzogen wurde, vielleicht ja aus den nobelsten Gründen, dass dieses Leben mit 47 schon erschöpft, der komplette „Betrag“ bereits abgehoben war? Auch wenn ich ein neues Unternehmen gründen will, und keinen materiellen Kredit aufnehmen will, deswegen aber gleichzeitig neben meiner bisherigen Tätigkeit das neue Unternehmen aufbaue, d.h. zwei Jobs zur gleichen Zeit übernehme, nehme ich auch in diesem Fall ein Kredit auf meinem Zeitkonto auf. Welches Risiko ist kalkulierbarer? Nach meiner Erfahrung kann eine Tätigkeit noch so interessant und befriedigend sein: sobald sie in Überforderung ausartet, weil ich mich nicht gut um mich als das wichtigste Werkzeug des Vorhabens kümmere oder eines meiner Konten überziehe, wird sie sich irgendwann als Belastung, Druck und Pflicht anfühlen, das Gegenteil von Liebe. 2.1.4.11 Was brauchen wir wirklich? Wenn wir etwas sehen, was wir haben möchten, dann sollte die 1. Frage sein: Brauche ich das? Und wenn ich das nicht von ganzem Herzen fühlen kann, dann brauche ich es nicht. Warum sollte ich es dann haben wollen? Wenn wir ständig mit allen Ressourcen unserer Welt so umgehen würden, dann hätten wir von allem genug, dann hätte jeder von allem genug. So hat es über viele Jahrtausende hin funktioniert. Ein schönes Beispiel gibt es dafür auch in 2. Buch Mose 16, im Exodus, mit der Speisung der Israeliten in der Wüste durch Manna, wie im Kapitel 1.5.7 “In der Wüste sein und der Ausblick auf das gelobte Land“ zu lesen war. Und dasselbe finden wir auch im Vaterunser. Wir beten: Unser täglich Brot gib uns heute! Gib uns heute das, was wir heute brauchen. Um den Rest sorgen wir uns nicht. Weil auch morgen wir wieder darum bitten werden, wir leben ja jeden neuen Tag mit Gott. Es geht nicht um das Brot für die nächste Woche. Samstag dürfen wir schon für Sonntag mit vor sorgen, damit wir uns am Sonntag Raum und Zeit schaffen für Gott, das ist alles. Doch unsere Realität ist ganz anders, die Gedankenwelt und der Wunsch nach Haben der meisten Menschen geht weit über das Brauchen hinaus. Es gibt den Spruch des heiligen Im Antlitz der Liebe - 318 - © Gabriele Sych Augustinus: Weniger brauchen ist besser als mehr haben. Mehr haben wollen, als man braucht, das ist ebenfalls das Bauen auf Sand, das Dienen eines anderen Gottes und das Überfüllen des Lebensrucksack, so dass unser Leben immer schwerer, unflexibler und unbeweglicher wird. Gott in seiner wunderbar unnachahmlichen Konsequenz zeigt uns immer wieder, dass es so ist. Und so kann es sein, wenn wir etwas wirklich brauchen: Auf dem Wilsnack-Weg aus Fehrbellin heraus kam ich über längere Zeit in keinen Ort, der Pilgerweg umging sie alle. Ich war kurz nach sieben Uhr aufgebrochen. In der Nacht zuvor hatte es stark geregnet und alles war pitschnass. Nach drei Stunden Wanderung hatte ich Frühstückshunger, denn ich war ohne zu essen losgegangen, so hatten wir es immer gehalten. Ich wollte mich gern setzen, aber es gab keine Bank und keine andere Sitzgelegenheit auf diesem Weg durch die brandenburgische Luchlandschaft. Und so sprach ich immer wieder aus: Ich brauche jetzt eine Bank, ich brauche jetzt mein Frühstück, ich habe Hunger, ich brauche jetzt eine Bank. Und ich hörte in mir die Worte: Du bekommst gleich deine Bank. Und dann sah ich in der Entfernung etwas, das wie eine wunderschöne, weiße Bank aussah, es hätte aber auch ein Schild sein können. Ich ging auf dieses weiße Etwas zu und tatsächlich - es war eine Bank, aber was für Eine! Überdimensional groß und wunderschön, so groß, dass ich mich an die Seitenlehne besser anlehnen konnte und dafür auch noch meine geplagten Füße hochlegen konnte – auch ein Pilgersegen. Ich habe ein Bank gebraucht und ich habe ein Bank bekommen, eben die größte und schönste, die ich je gesehen habe. Ich habe voller Dankbarkeit auch herzlich und noch eine ganze Weile gelacht darüber. Wenn wir etwas wirklich brauchen, dann bekommen wir es, wenn wir es von ganzem Herzen für angemessen halten. Um die Notwendigkeit festzustellen, brauchen wir nur die Hand auf unser Herz zu legen und den Satz aussprechen: „Ich brauche …..“ Wenn wir es wirklich brauchen, dann ist kein Zweifel in uns. Wenn wir es nicht brauchen, dann wird es uns ganz schnell offenbar. Im Antlitz der Liebe 2.2 2.2.1 - 319 - © Gabriele Sych Der Weg der Liebe Der Wegweiser: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben 2.2.1.1 Der Weg ist das Ziel? Zu Himmelfahrt 2008 machte ich mich wieder auf zum Pilgern, die Strecke Berlin – Bad Wilsnack, also Pilgern direkt von der Haustür aus. Ich war so voller Lust auf frische Luft, Sonnenschein, Natur, Baumblüte, die Stiefel anziehen und laufen, mit Ihm an meiner Seite, das Festmahl, das absolute Glück des Frühlings. Ich wollte mir bewusst mal wieder Zeit nehmen für ein paar Tage mit Ihm und für das Wunder der Schöpfung, ich wollte Ihm Raum geben. Egal, wie viel ich momentan zu tun hatte, wie viel liegen bleiben mochte an Pflichten und Dringlichem, was der Alltag mir so einreden mag. Aber da war mir vorher dieser Bibelstelle begegnet, ich habe alle Bedenken beiseite geschoben und alles andere hintangestellt: Lukas 14 (Einheitsübersetzung) 16 Jesus sagte zu ihm: Ein Mann veranstaltete ein großes Festmahl und lud viele dazu ein. 17 Als das Fest beginnen sollte, schickte er seinen Diener und ließ den Gästen, die er eingeladen hatte, sagen: Kommt, es steht alles bereit! 18 Aber einer nach dem andern ließ sich entschuldigen. Der erste ließ ihm sagen: Ich habe einen Acker gekauft und muss jetzt gehen und ihn besichtigen. Bitte, entschuldige mich! 19 Ein anderer sagte: Ich habe fünf Ochsengespanne gekauft und bin auf dem Weg, sie mir genauer anzusehen. Bitte, entschuldige mich! 20 Wieder ein anderer sagte: Ich habe geheiratet und kann deshalb nicht kommen. 21 Der Diener kehrte zurück und berichtete alles seinem Herrn. Da wurde der Herr zornig und sagte zu seinem Diener: Geh schnell auf die Straßen und Gassen der Stadt und hol die Armen und die Krüppel, die Blinden und die Lahmen herbei. 22 Bald darauf meldete der Diener: Herr, dein Auftrag ist ausgeführt; aber es ist immer noch Platz. 23 Da sagte der Herr zu dem Diener: Dann geh auf die Landstraßen und vor die Stadt hinaus und nötige die Leute zu kommen, damit mein Haus voll wird. 24 Das aber sage ich euch: Keiner von denen, die eingeladen waren, wird an meinem Mahl teilnehmen. Ich habe also seine Frühlings-Einladung angenommen, „Hinaus in Gottes schöne Welt“ zu ziehen, und genau dies zu erleben: Die Luft ist blau und grün das Feld, ich wandere mit dem Sonnenschein, ins weite Im Antlitz der Liebe - 320 - © Gabriele Sych Land hinein, an meinem Wege fließt der Bach, ach Gott da wird so eigen mir, so milde weh'n die Lüfte hier, als wär's ein Gruß von Dir (Julius von Rodenberg). Und auch das: Wem Gott will rechte Gunst erweisen, Den schickt er in die weite Welt, Dem will er seine Wunder weisen In Berg und Wald und Strom und Feld Die Trägen die zu Hause liegen, Erquicket nicht das Morgenrot, Sie wissen nur von Kinderwiegen, Von Sorgen, Last und Not um Brot. Die Bächlein von den Bergen springen, Die Lerchen schwirren hoch vor Lust, Was soll ich nicht mit ihnen singen Aus voller Kehl und frischer Brust? Den lieben Gott lass ich nun walten, Der Bächlein, Lerchen, Wald und Feld Und Erd und Himmel will erhalten, Hat auch mein Sach aufs best bestellt. Text: Joseph Freiherr von Eichendorff. Stimmt genau, Herr Eichendorff! In dem Storchendorf Linum besichtigte ich unter der Führung von Schwester Anneliese die sehr schöne Kirche, an deren Altarseite der Aaronitische Segen gemalt ist: Der HERR segne dich und behüte dich; der HERR lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig; der HERR erhebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden. Schwester Anneliese ist eine kleine, sehr entschiedene Dame und sie wies mir die erste Bankreihe zu und sagte resolut zu mir: „Setzen Sie sich hin! Was halten Sie von dem Satz „Der Weg ist das Ziel“?“ Ich antworte: „An dem Satz ist viel Wahres dran. Denn mein Ankommen ist nur so viel wert wie das, was ich auf dem Weg an Erfahrungen und Fähigkeiten gewonnen und mitgenommen habe.“ „Falsch!“ sagt sie. „Jesus ist das Ziel, sonst nichts!“ Da ist ihr nun nicht viel zu widersprechen, vor allem, da mir noch die Im Antlitz der Liebe - 321 - © Gabriele Sych Worte aus dem vorher besuchten Himmelfahrtsgottesdienst im Ohr klangen: „Jesus ist am Ziel angekommen.“ Und so sagte ich ihr auch meine Intention des Pilgerns „Ich stelle mir beim Pilgern immer mal wieder vor, mit jedem Schritt auf Jesus zuzugehen.“ „Wieder falsch!“ sagt sie. „Nicht wir gehen auf Jesus zu, sondern er kommt auf uns zu. Wir müssen uns ihm nur öffnen. Die Macht liegt bei ihm.“ Noch Fragen? Irgendjemand? Auf dem weiteren Weg ist er spürbar an meiner Seite mit mir gewandert und hat mir die Sache mit dem Weg und dem Ziel erklärt. Jeder Weg, den wir gehen, gehen wir mit Jesus, wenn wir ihn mit Liebe gehen, ihn gern gehen, ohne Pflichtgefühl und ohne „ich muss“. Wenn ich meinen Weg so nicht gehen kann, wenn er ohne Liebe ist, dann ist es nicht mein Weg. Und so ist tatsächlich nicht allein der Weg das Ziel, sondern der Weg mit Jesus das Ziel, der Weg der Liebe, der Weg in Liebe. Es ist also essentiell, immer wieder ins Herz zu spüren, auf unserem Weg unser Herz liebend zu spüren. Sprüche 4 (Neues Leben) 23 Vor allem aber behüte dein Herz, denn dein Herz beeinflusst dein ganzes Leben. 2.2.1.2 Der Weg des Kreuzes ist der Weg des Herzens Und so ist für mich auch sein Weg der Kreuzigung, des Kreuzes, zu verstehen. Jesus hätte alle himmlischen Heere zu Hilfe rufen können und sich mit Gewalt den Weg ebenen können, um sein Reich zu gründen, eine neue Ordnung zu schaffen, eine Revolution, ein Machtakt, ein Staatsstreich. Das ist nicht der Weg des Herzens, sondern sein Gegenteil, Machtausübung ist es nie. Der Weg des Herzens ist der Weg der Einsicht, des freiwilligen Wollens, der inneren Überzeugung, das Folgen des Weges der Barmherzigkeit, der Weg mit Gott, der Weg der Akzeptanz, der grundsätzlichen Gütevermutung in allem Geschehen. Jesus ging diesen Weg, den Weg der Gewaltlosigkeit, um zu zeigen und uns aus seinem Beispiel lernen zu lassen – ein evolutionärer Weg. Jesus ging den Weg zum Kreuz freiwillig, aus ganzem Herzen, auch wenn selbst er Angst hatte. Er hat bis in seinen Tod und darüber hinaus geglaubt, dass dieser Weg zum Guten führt. Jedes „ich muss“ ist ein Schritt von Gott weg, ein Abweichen vom Weg der Liebe. Das was ich liebe, das tue ich immer aus freien Stücken, das muss ich nicht tun, das will ich tun. „Lieber Gott, soll ich das (…was auch immer…) jetzt tun?“ ist nicht zielführend, nicht die richtige Frage. Ich tue, weil ich überzeugt bin und es gern tue. Meine freiwillige Im Antlitz der Liebe - 322 - © Gabriele Sych Entscheidung dafür ist das Zeichen meiner Liebe, lesen wir es – freundlich gemeint und ohne erhobenen Zeigefinger verstanden - in Römer 12 (Einheitsübersetzung): 6 Wir haben unterschiedliche Gaben, je nach der uns verliehenen Gnade. Hat einer die Gabe prophetischer Rede, dann rede er in Übereinstimmung mit dem Glauben; 7 hat einer die Gabe des Dienens, dann diene er. Wer zum Lehren berufen ist, der lehre; 8 wer zum Trösten und Ermahnen berufen ist, der tröste und ermahne. Wer gibt, gebe ohne Hintergedanken; wer Vorsteher ist, setze sich eifrig ein; wer Barmherzigkeit übt, der tue es freudig. 9 Eure Liebe sei ohne Heuchelei. Verabscheut das Böse, haltet fest am Guten! 10 Seid einander in brüderlicher Liebe zugetan, übertrefft euch in gegenseitiger Achtung! 11 Lasst nicht nach in eurem Eifer, lasst euch vom Geist entflammen und dient dem Herrn! 12 Seid fröhlich in der Hoffnung, geduldig in der Bedrängnis, beharrlich im Gebet! 13 Helft den Heiligen, wenn sie in Not sind; gewährt jederzeit Gastfreundschaft! 14 Segnet eure Verfolger; segnet sie, verflucht sie nicht! 15 Freut euch mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden! Die Liebe schenkt uns die Kraft, die Ausdauer, die Freude und die Sorgfalt, vertrauen wir darauf bei jeder Aufgabe. Wenn wir eine von unseren Aufgaben nicht lieben können, dann können wir darum bitten, sie lieben zu lernen oder sie aufgeben, wenn es geht, oder sie mit jemand anderem tauschen, der sie von Herzen tut. Das Volk Israel wird immer als „widerspenstiges Volk“ beschrieben., so z. B. in Ezechiel 12 (Einheitsübersetzung): 1 Das Wort des Herrn erging an mich: 2 Menschensohn, du wohnst mitten unter einem widerspenstigen Volk, das Augen hat, um zu sehen, und doch nicht sieht, das Ohren hat, um zu hören, und doch nicht hört; denn sie sind ein widerspenstiges Volk. Doch warum hat Gott eine so widerspenstige Menschheit geschaffen, warum hat er sich ein so widerspenstiges Volk erwählt? Das muss doch einen Sinn haben. Mit seinen Engeln hätte er eine perfekte Welt der Liebe schaffen können, Wesen, die von jetzt auf gleich von sich aus gut sind und Gottes Willen unbedingt folgen. Doch was hätte das über die Kraft der Liebe, über die Größe Gottes gesagt? Wenn er es schafft, ein so widerspenstiges Volk wie uns, die Menschheit, ohne Machtgebrauch, nur durch den Weg der liebevollen Einsicht, zur Liebe und zu dauerhaft barmherzigen und gemeinschaftsorientiertem Handeln gemäß dem höchsten Gesetzes zu führen, gemäß der Anleitung zu Im Antlitz der Liebe - 323 - © Gabriele Sych Gottes Reich, zeigt sich darin erst die wahre Größe Gottes und die Kraft der Liebe. Ein jeder Einzelne von uns ist ausgestattet mit einem freien Willen und aller Macht, seinen eigenen Weg zu wählen. Und alle wählen – irgendwann – jeder für sich und alle gemeinsam – konsequent das höchste Gesetz. Dann sind wir angekommen. Die Nachfolge ist dies: Wir verhalten uns dauerhaft nach dem großen Gesetz, Gott zu lieben und den nächsten wie sich selbst zu lieben. So kann man auch das Kreuz deuten. Am Anfang steht eine klare Verbindung vom Himmel zur Erde, der senkrechte Strich, die feste, liebende Verbindung zwischen Gott und uns, der kontinuierlich seine Liebe in uns ausschüttet. Und dann kommt der waagerechte Strick, der aufzeigt, dass wir die Hände in Liebe zu den anderen ausstrecken, einander die Hände reichen und zwischeneinander die Liebe fließen lassen, einander – alle Wesen dieser Welt umarmen, lieben können. Durch Wort und Werk. Die Kreuzung von beiden befindet sich in unserem Herzen, dass wir uns auch selbst lieben als das von Gott geschaffene, von ihm schon ewig genau so gewollte Wesen, das wir sind. Dieses Kreuzesgeheimnis erschließt uns auch das Tor der Liebe durch das höchste Gesetz. Auf den drei Wegen ♥ Liebe zu Gott ♥ Liebe zu unserem Nächsten, vor allem auch zu unserem geliebten Partner ♥ Liebe zu uns selbst, unserer Geschaffenheit (Ich bin der ich bin) können wir unsere Liebe vertiefen, die Liebe wirkt gleichzeitig immer auf allen drei Ebenen. Wenn in unserer Partnerschaft Lieblosigkeit fühlbar ist, können wir genauso gut darin ansetzen, unsere Entscheidung für Gott und unsere Liebe zu ihm, zu seinem Weg zu vertiefen und wir kommen auch in unserer Partnerschaft voran. Denn Gott ist die Liebe an sich. Wenn wir in unsere Partnerschaft ganz viel Liebe fließen lassen, dann bringt uns das gleichzeitig in unserem Glauben voran. Wenn wir uns gestatten, authentisch und unverhüllt der zu sein, der wir wirklich sind, wachsen gleichzeitig unser Glaube und die Liebe in der Partnerschaft, weil wir dadurch Missverständnisse, Lüge, Verstellung, kognitive Diskrepanzen und Unaufrichtigkeit aus der Welt schaffen. Unser Partner fühlt das. Im Antlitz der Liebe - 324 - © Gabriele Sych Voller Vertrauen in die Liebe Gottes geh voran. Was auch immer passiert, wir nehmen es in Dankbarkeit an. Kein Verhalten eines anderen Menschen bringt uns von diesem Weg ab, es gibt kein „wie du mir, so ich dir“. Unsere Liebe ist nicht an eine Wohlverhaltensforderung gemäß unserer Privatnorm an den anderen Menschen, sogar nicht einmal irgendeiner Gesellschaftskonvention geknüpft – weder für uns noch für unseren Nächsten. Was nicht bedeutet, dass unsere Bedürfnisse nicht relevant sind. Wir dürfen Sie aussprechen und wir haben selbst natürlich auch Liebe und Akzeptanz verdient. Jeder Mensch hat das Recht, so zu sein und zu handeln, wie er ist, im Rahmen seiner Freiheit, die genau an den Grenzen der Freiheit des Anderen endet. Wir selbst auch. Auch unser Sein, unser Raum und seine Grenzen als Teil des gemeinsamen Raums sind zu respektieren. Es ist einfach: Wenn wir Gefühle haben wie Ärger, Zorn, Eifersucht, Enttäuschung, Sorge, Angst, dann schauen wir uns an, welche Gefahr besteht: Gilt es im Moment, Schaden für Leib und Seele von uns oder einem anderen Wesen abzuwenden? Ist der Zorn berechtigt, um notwendige Grenzen zu setzen? Wenn nicht, lösen wir uns davon und bitten um Heilung und vielleicht sogar um Vergebung dafür und zwar so lange, bis das Gefühl abklingt. Diese Gefühle sind nicht Gott, sie sind Erinnerungen an Vergangenes. Die Energie, die mit dem Zorn mitkommt, können wir so effektiver nutzen. Und: Heute ist heute Exkurs: Es gibt sogar hirnorganische Grundlagen für diese So-Sein, unsere sinnvolle Geschaffenheit mit einem Überlebensmechanismus. Das menschliche Gehirn besteht aus verschiedenen Teilen, die sich im Laufe der Entwicklungsgeschichte des Menschen und seiner Vorgänger nach den wachsenden Erfordernissen gebildet haben. Es ist so, dass ein Teil unseres Gehirns für unser logisches Denken zuständig ist und ein Teil unseres Gehirns für unsere Gefühle. Und es macht Sinn, dass es beide Teile gibt. Des Pudels Kern, um das Menscheln zu verstehen, ist der Mandelkern (oder die Amygdala). Wenn wir Sinneseindrücke aufnehmen, dann werden sie zum großen Teil auf die Nervenbahn an den Neokortex geschickt. Eine zweite Leitung führt jedoch zum Mandelkern. Und diese Leitung ist doppelt so schnell wie die zum Neokortex. Und wenn wir eine Wahrnehmung haben, die als Muster in unserem Mandelkern als extrem unangenehm oder gefährlich gespeichert ist, dann reagiert der Mandelkern sofort und schickt unmittelbar Handlungsanweisungen durchs Nervensystem: Flucht, Im Antlitz der Liebe - 325 - © Gabriele Sych Angriff, Adrenalinausschüttung, Emotionsausdruck, z.B. Drohgebärde, Unterwerfung, Tot stellen – 1 x 1 des Überlebens. Und wenn dann noch Zusatzinformationen zum Tragen kommen, entstehen überschießende Reaktionen, die wir manchmal hinterher nicht verstehen und für uns akzeptieren können. Sinn dieser Verknüpfung ist es natürlich, unser Leben zu retten, wenn wir uns wirklich in Gefahr befinden, sie hat eine wichtige Warn- und Abwehrreaktion. Wenn sie nicht mehr funktioniert, dann haben wir keine Angst mehr und keine Aggression. Doch so viele Gefahren, wo dieses 1 x 1 des Überlebens sinnvoll ist, gibt es heutzutage in unserer zivilisierten Gesellschaft gar nicht mehr, nur hinter wenigen Ecken lauern noch gestreifte Säbelzahntiger und gemusterte Giftschlangen, sondern eher zu schnelle Autos und emotionale und psychologische Vorfälle. Doch natürlich hat auch in unserer eigenen Lebensgeschichte unser eigener Mandelkern seine eigene Entwicklung genommen. Das Auffüllen des emotionalen Speichers beginnt sehr früh, lange vor der Sprachentwicklung. Es ist so: Über was wir nicht reden können, können wir auch nicht logisch denken. In diesem Speicher liegen viele Dinge, Schreckliches und Schönes, das wir erlebt haben, als wir uns in einem Entwicklungsstand mit völlig anderen Ressourcen als heute befanden. Ein Kind hat einfach mehr Gefahren und weniger Erfahrungen und Ressourcen in seinem Leben als ein Erwachsener. Für ein Kind wäre es unerträglich und lebensbedrohlich, aus dem Familienverband zu fallen. Ein Kind liebt seine Eltern und hält das für Liebe, was von ihnen als Zuwendung zurückkommt. Erhält es Liebe, wird es Liebe für Liebe halten, erhält es Aggression oder Abweisung als Zuwendung, so wird es dies für Liebe halten. So unsinnig es für uns in unseren rationalen Gedanken erscheinen mag! Und diese Art von Zuwendung wird es sein Leben lang suchen, solange „dieses Kind“ sich nicht dieser Eigenheit bewusst wird. Und selbst dann wird diese Erinnerung an „diese Art von Liebe“ bleiben. Natürlich lernt der Mensch mit der Zeit, dass dort eine Diskrepanz besteht zwischen dem eigenen Erleben und dem, was allgemein über Liebe erfahrbar ist. Und er wird die Diskrepanz erleben, dass das, was er für Liebe hält, ihm nicht unbedingt gut tut. Und so befindet er sich permanent zwischen zwei bis drei Im Antlitz der Liebe - 326 - © Gabriele Sych Stühlen: was andere für Liebe halten, was er über Liebe rational denkt und was sein Mandelkern für Liebe hält. Destruktive Beziehungen sind ein lebendes Beispiel dafür: warum leben Frauen mit Männern und lassen sich immer wieder verprügeln und kehren immer wieder zu Mißhandlern zurück. Dies sind ehemalige Kinder, die, wenn sie Zuwendung bekamen, negative Zuwendung in Form von Gewalt erhielten. Oder solche, die von Ihren Eltern zunächst geschlagen und dann – z.B. aus Schuld oder Schamgefühlen heraus – mit Zärtlichkeiten überschüttet wurden. Natürlich schätzt auch eine solche Frau Zärtlichkeit, Zuvorkommenheit, Rücksichtnahme, aber es fehlt ihr vielleicht etwas. „Er muss mich doch schlagen, wenn er mich liebt bzw. er liebt mich nicht genug, um mich zu schlagen, er hat ja gar nicht die starken Emotionen, was mich angeht, ich bin ihm wohl egal.“ Wohlgemerkt ist dies kein bewusster Gedanke, sondern ein unbewusstes Vergleichen im Innern. Und so besitzen wir in unserem Innern einen See von emotionellen Erinnerungen, der so tief ist, dass wir uns seinen Inhalt nur langsam erschließen können. Alle Sinnesauswertungen werden immer schnell an den Mandelkern geschickt. Wenn dieser Speicher irgendetwas ähnliches findet, was an die Qualität des Vergangenen erinnert, wird er aktiv und leitet Aktionen ein, die dem Alter entsprechen, in dem die Erinnerung gebildet wurde. Oft wissen wir nicht, warum. Wir denken nur, der andere, der der Auslöser war, muss etwas ganz Schreckliches gemacht haben, weil wir uns so fühlen. Manchmal finden wir eben nicht mal Worte dafür. Manchmal tun wir Dinge, die wir hinterher für kindisch halten. Wenn wir uns spontan den vom Mandelkern eingeleiteten Aktionen hingeben, agieren wir eben nicht spontan und situationsbedingt, sondern folgen unseren alten, programmierten Verhaltensmustern, unserem Notprogramm. Es ist eben genau das Gegenteil von spontan. Zum Glück dauert ein plötzlicher Aufruhr, der vom Mandelkern ausgelöst wird, nicht Im Antlitz der Liebe - 327 - © Gabriele Sych sehr lange. Nach ca. 6 – 10 Sekunden ist die Information auch vom Neokortex verarbeitet, in dem Sie eine bewusste Entscheidung treffen können. Doch es gibt eine gute Nachricht, wir können uns auch wieder entprogrammieren. Atmen wir also tief durch, wenn wir „es“ kommen spüren und zählen wir bis 10, bevor wir reagieren. Lernen wir unsere „psychoallergischen“ Punkte kennen, nehmen wir sie in Liebe an, um sie zu heilen. Unsere Amygdala kann neu traniert werden. Es geht um die stetige, bewusste Entscheidung zur Liebe, die Konzentration auf den Weg des Herzens, was unsere animalischen Überlebensmechanismen überwindet. Für die Bewältigung dieser Gefühle sind wir selbst verantwortlich, niemand sonst. Sie sind auch immer ein Produkt des Unglaubens, und zwar, in dem wir nicht an die Güte glauben. Doch es gab ja tatsächlich Situationen, wo wir das nicht verstehen konnten. Ein aktueller Auslöser von Amygdala-Aktivität kann ganz neue Folgen haben, die unser Vertrauen und unsere Offenheit verdienten. Wir können nicht wissen, warum ein anderer Mensch etwas tut, unsere Interpretationen und Deutungen sind kein Fundament, auf das wir unser Verhalten bauen sollten. Wir haben keinen Anspruch auf die Erfüllung unserer Erwartungen. Erzählen wir uns einfach keine „böse“ Geschichte. Es ist nicht die Realität. Zum einen können wir immer Realität herstellen und fragen. Und wenn uns etwas schwer ankommt, dann frage sich jeder: was könnte das Gute daran sein. Und wenn uns nur ein Grund einfällt, dann könnte es dieser sein oder ein anderer, den wir einfach noch nicht kennen. Wie bei den sauren Trauben, es ist noch nicht Zeit zum Ernten und Keltern. So lieben wir Gott. Einmal hatte ich mit Santiago ein schwerwiegendes Problem, mit dem ich mich selbst sehr verletzt habe. Ich betete einen Rosenkranz um die Lösung des Problems. Da erschien mir vor innerem Auge Santiago plötzlich im Zustand der „Verklärung“, sein Gesicht auf Jesus Körper. D.h. mir wurde seine Göttlichkeit, Jesus in Ihm, vor Augen geführt. Hinter seiner menschlichen Figur gibt es zugleich seine göttliche Natur und seine Boteneigenschaft. Jesus wirkt durch ihn, um mich zu leiten. Je mehr wir einen Menschen lieben, umso intensiver sind wir gewillt, der Führung zu folgen, auch ungewohnte oder angstbesetzte Wege zu gehen, damit alles wieder in Ordnung kommt. Liebe ist Psychotherapie. Ein Beispiel für die Freiwilligkeit: Im Antlitz der Liebe - 328 - © Gabriele Sych Apostelgeschichte 4 (Gute Nachricht Bibel) 32 All die vielen Menschen, die zum Glauben an Jesus gefunden hatten, waren ein Herz und eine Seele. Niemand von ihnen betrachtete etwas von seinem Besitz als persönliches Eigentum; alles, was sie besaßen, gehörte ihnen gemeinsam….34 Es gab unter ihnen auch niemand, der Not leiden musste. Denn ´wenn die Bedürfnisse es erforderten,` verkauften diejenigen, die ein Grundstück oder ein Haus besaßen, ihren Besitz und stellten den Erlös ´der Gemeinde` zur Verfügung. Und nun zitiere ich einmal etwas ganz anderes, nämlich das kommunistische Manifest. Zunächst bietet es uns etwas ganz Christliches an, nämlich das miteinander Teilen, dass die, die haben, denen geben, die brauchen: „Ihr entsetzt euch darüber, dass wir das Privateigentum aufheben wollen. Aber in eurer bestehenden Gesellschaft ist das Privateigentum für neun Zehntel ihrer Mitglieder aufgehoben; es existiert gerade dadurch, dass es für neun Zehntel nicht existiert. Ihr werft uns also vor, dass wir ein Eigentum aufheben wollen, welches die Eigentumslosigkeit der ungeheuren Mehrzahl der Gesellschaft als notwendige Bedingung voraussetzt.“ Das ist nicht falsch, genau so ist es noch heute. Doch: „Es gibt zudem ewige Wahrheiten, wie Freiheit, Gerechtigkeit usw., die allen gesellschaftlichen Zuständen gemeinsam sind. Der Kommunismus aber schafft die ewigen Wahrheiten ab, er schafft die Religion ab, die Moral, statt sie neu zu gestalten, er widerspricht also allen bisherigen geschichtlichen Entwicklungen.“ Wenn ich das oben Beschriebene auf die erlebte Realität des Kommunismus anwende, dann fehlte meines Erachtens nach definitiv, diesen Weg mit Gott zu gehen und ihn auf Freiwilligkeit, auf Einsicht und auf der Grundlage der Barmherzigkeit zu gehen, aus Überzeugung und Gerechtigkeit alles zu teilen, bis jeder genug hat. Darum ist wohl der Kommunismus gescheitert, darum hatte er keinen Bestand. Wenn alle aus Liebe und Einsicht handeln, da braucht es keine Stasi, keinen KGB, keine Securitate, keinen Zwang und keinen antifaschistischen Schutzwall, bei dem die Minen und Selbstschussanlagen doch irgendwie auf der falschen Seite waren. Keine Revolution, keine Führer und keine Im Antlitz der Liebe - 329 - © Gabriele Sych Machthaber! Keine Schweine, die irgendwie gleicher sind, um im Bild der Farm der Tiere zu sprechen. Keine gottesgemäße Gemeinschaft entsteht per „Verordnung“, sondern durch Einsicht, das vorbildhafte Leben einzelner und die Lust, an einer solchen Gemeinschaft teilzuhaben. Nochmals: Es ist das Prinzip des Sauerteiges, wie Gottes Reich entsteht, in kleinen Keimzellen, die sich ausdehnen, bis alles erfasst ist. Es gibt keinen anderen Weg, als dies aus tiefstem Herzen zu wollen und dann so zu leben, diese Lebensform aus tiefstem Herzen zu lieben, sie daher nie wieder aufzugeben. Die urchristliche Gemeinschaft war eine, die auf dem Teilen der Habe bestand, aus der besten Nutzung der Fähigkeiten und Ressourcen aller Mitglieder der Gemeinschaft. Am Anfang mag es ungewohnt und nicht ganz einfach sein, weil wir umlernen und neue Erfahrungen erst sammeln. In der Fülle ist Teilen recht einfach. Wenn es Zeiten des Mangels gibt, eine Zeit in der Wüste, dann wird es schon schwerer, in der Liebe zu bleiben, wenn es wirklich an die eigene Haut geht. Dann kann man wirklich in sich selbst die kleinen ekligen geizigen Ecken und Kanten aufspüren. Mir ging es im Ernstfall auch so, und ich habe mich gewundert, wie tief es bei mir zu einer bestimmten Zeit ging. Doch beim nächsten Gottesdienst kam als Lesung genau die Speisung der 5000. So hat er mir die Hand geboten, Seinen Weg wieder besser zu verstehen, mich immer mehr einzulassen. Das, was da ist, reicht für alle, wenn wir es segnen, danken und teilen. Wir können sagen: „Bitte mehre meine Habe, damit ich teilen kann.“ Es kommt darauf an, dabei zu bleiben, sich zu erkennen und in Liebe zu wandeln, was noch nicht von Liebe erfüllt ist. Es ist wie das „auf dem Camino zu laufen“ bestehen, statt sich im allgemeinen Strom auf die Landstraße zu begeben. Wir leben unsere Überzeugung in diese Lebensform, egal, was die anderen dazu sagen oder uns raten. Sie tun es oft aus Liebe oder Sorge um uns. Es gibt diesen Weg, es ist möglich, so zu leben, mit Gott sind alle Dinge möglich, auch wenn dies das „enge Tor“ ist. Matthäus 7 (Hoffnung für alle) 13 »Geht durch das enge Tor! Denn das Tor zum Verderben ist breit und ebenso die Straße, die dorthin führt. Viele sind auf ihr unterwegs. 14 Aber das Tor, das zum Leben führt, ist eng und der Weg dorthin schmal. Nur wenige finden ihn.« Im Antlitz der Liebe - 330 - © Gabriele Sych Am leichtesten ist der Weg zu finden und wird mit tiefer Überzeugung beschritten, wenn man endlich anfängt, sein Herz wirklich zu spüren, wie ich es in Kapitel 1.5.12 „ Der Tag, als ich zu meinem Herz durchkam" beschrieben habe. Wenn man die Welt ansieht und dann vor Mitleid und Entsetzen erschrickt, wie tief die Patsche ist, in der die Welt sitzt; wie ich im vorherigen Kapitel beschrieben habe. In tiefster Essenz weiß ich dann, dass dringend etwas getan werden muss und was ich tun muss. Das waren die globalen Dinge, hinzu kommt das Leid der Menschen, die uns umgeben, das, was wir ganz aktuell und direkt vor Ort tun können. Die wichtigste Frage ist: Was kann ich tun? Was ist das Wirksamste, was ich jetzt tun kann, um die Not der Welt und die meiner Mitmenschen auf barmherzige Weise zu lindern? Was kann ich tun? Was tue ich? Zum Beispiel: Ich fühle, es ist mein Weg, ♥ dazu beizutragen, die Heilung durch Gott wieder zu verbreiten; ♥ Gottes Reich und den Weg der Nachfolge zu begreifen und anderen verständlich zu machen; ♥ anderen Menschen in diesem Teil der Welt wieder Zugang zu ihrem Herzen zu verschaffen, damit sie die Welt mit dem Herzen sehen; ♥ dem „Gott Mammon“ durch mein Lebensbeispiel die Kraft zu entziehen; ♥ dadurch den Weg zu mehr Gerechtigkeit, zum gerechten Teilen in der Welt aufzuzeigen, weil Menschen wieder dazu übergehen, lediglich zu nehmen, was sie brauchen; ♥ zu lieben, zu lieben und noch einmal zu lieben. Während meiner Tätigkeit als Vertriebsbeauftragte habe ich immer wieder gelernt, dass es Sinn macht, an die niederen Instinkte der Menschen zu appellieren, sich zu überlegen: was hat X, was hat Y für einen persönlichen Nutzen davon, und ihnen dies zu kommunizieren, um X und Y ins Boot zu bekommen. Ich glaube, jetzt geht es darum, an die höheren Instinkte, an das Herz des Menschen zu appellieren, auf die höheren Instinkte zu setzen, ein Appell an die Liebe und den Sinn. 2.2.1.3 Jesus Anleitung zur Liebe in den 7 Ich-Worten Im Antlitz der Liebe - 331 - © Gabriele Sych Jesus kann uns beibringen, wie man den Weg der Liebe geht. Er erklärt sich uns in den sieben Ich-Worten des Johannes-Evangeliums. Er sagt uns, was er tut und wie wir mit ihm leben können. 1. Er sorgt für uns und steht für uns ein. ICH BIN der gute Hirte; der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe. (Joh. 10,11) 11 Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe. 12 Der Mietling aber, der nicht Hirte ist, dem die Schafe nicht gehören, sieht den Wolf kommen und verlässt die Schafe und flieht - und der Wolf stürzt sich auf die Schafe und zerstreut sie -, 13 denn er ist ein Mietling und kümmert sich nicht um die Schafe. (Ein Mietling ist z.B. ein Arbeitgeber, der so lange für uns sorgt, wie er uns braucht. Klar, er mietet uns bzw. unsere Zeit. Braucht er uns nicht mehr oder in Krisenzeiten entlässt er seine Schafe. Wir haben keine Sicherheit). 14 Ich bin der gute Hirte und kenne die Meinen und die Meinen kennen mich, 15 wie mich mein Vater kennt und ich kenne den Vater. Und ich lasse mein Leben für die Schafe. (Meiner Meinung nach steht da: ich lege meine Seele oder Lebenskraft über die Schafe, d.h. er gibt uns seine Kraft, die unendlich ist.) 16 Und ich habe noch andere Schafe, die sind nicht aus diesem Stall; auch sie muss ich herführen, und sie werden meine Stimme hören, und es wird "eine" Herde und "ein" Hirte werden. 17 Darum liebt mich mein Vater, weil ich mein Leben lasse, dass ich's wieder nehme. 18 Niemand nimmt es von mir, sondern ich selber lasse es. Ich habe Macht, es zu lassen, und habe Macht, es wieder zu nehmen. Dies Gebot habe ich empfangen von meinem Vater. … 24 Da umringten ihn die Juden und sprachen zu ihm: Wie lange hältst du uns im Ungewissen? Bist du der Christus, so sage es frei heraus. 25 Jesus antwortete ihnen: Ich habe es euch gesagt und ihr glaubt nicht. Die Werke, die ich tue in meines Vaters Namen, die zeugen von mir. 26 Aber ihr glaubt nicht, denn ihr seid nicht von meinen Schafen. 27 Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie und sie folgen mir; 28 und ich gebe ihnen das ewige Leben, und sie werden nimmermehr umkommen, und niemand wird sie aus meiner Hand reißen. 29 Mein Vater, der mir sie gegeben hat, ist größer als alles, und niemand kann sie aus des Vaters Hand reißen. 30 Ich und der Vater sind eins. Sicherheit, Versorgtsein, Freiheit, Zugehörigkeit, Einheit Im Antlitz der Liebe - 332 - © Gabriele Sych Wer Jesus einmal wirklich zu uns durchgekommen ist, wir „seine Stimme gehört haben“, dann folgen wir ihm auf dem Weg der Liebe, wir können gar nicht mehr anders. Es ist keine Fron, sondern Bedürfnis, es ist leicht. Er verlässt uns nicht und steht an unserer Seite in guten und gerade auch in schlechten Tagen, immer! Er breitet seine Seele über uns aus, gibt uns alles, geht an alle Grenzen und darüber hinweg. Es gibt für Ihn keine Wirtschaftlichkeitsüberlegungen noch Wertungsbilanz. Er ging sogar so weit, dass er sein Leben freiwillig aufgab, um uns zu zeigen, dass nichts schlecht ist, was von Gott kommt. Dass aus dem, was wir für das Schlimmste halten, sich wieder Heil ergeben kann. Er ist unsere Sicherheit, unsere Existenz, er setzt sich vollständig für uns ein, immer. Wenn wir uns auf etwas verlassen wollen, dann auf ihn. Er eint uns Menschen und macht uns bewusst, dass es nur den einen Gott gibt. Er sucht und findet uns, holt uns ab, manchmal auch an den verrücktesten Orten. Als ich einmal auf dem Jakobusweg in Hessen pilgerte, kam ich am Nachmittag in Steinau vorbei. Rechts am Weg von mir sah ich eine Kirche. Noch während ich darüber nachdachte, ob ich sie mir auch anschaue, da wurde es Viertel-Drei, die Kirchenglocke machte einmal deutlich „Ping“. Mir war so, als ob Er mir sagen wollte: „Komm ruhig!“. „Na gut!“ dachte ich, „Ich komm ja schon!“ Ich ging in die Kirche und fand – wie sollte es auch anders sein - in einer Ecke eine wunderschöne Herz-Jesu-Statue. Wir redeten eine Weile miteinander über selbstgesetzte Ziele und wie man sich damit selbst schaden kann. Nach einer Viertelstunde verließ ich die Kirche wieder. Als ich auf die Straße trat, sah ich, dass in der Zwischenzeit ein wahrer Wolkenbruch niedergegangen sein musste, so triefend nass war alles. Wäre ich weitergegangen, ich hätte anhalten und mich unterstellen müssen wie die drei Radfahrer, die ich unmittelbar darauf traf und die sich unter dem Vordach einer Garage schräg gegenüber Schutz gesucht hatten. Sie fragten mich: „Sagen Sie mal, regnet es bei Ihnen gar nicht?“, weil ich trocken war und keinerlei Regenkleidung trug. „Nee, der Pilger wird von Gottes Hand persönlich geschützt.“ Und was der gute Hirte tut, das ist in Psalm 23 aufgeführt, komplett steht er hier: 2.1.2.2 Die Erbsünde, wie ich sie verstanden habe, wer nochmals nachlesen möchte. 2. Er weist uns in unserem Handeln an und schenkt uns eine feste Anbindung: ICH BIN der wahre Weinstock und mein Vater ist der Weingärtner. (Joh. 15,1) 1 Ich bin der wahre Weinstock und mein Vater der Weingärtner.2 Eine jede Rebe an mir, die keine Frucht bringt, wird er wegnehmen; und eine jede, die Frucht bringt, wird er reinigen, dass sie mehr Frucht bringe. 3 Ihr seid schon rein um des Wortes willen, Im Antlitz der Liebe - 333 - © Gabriele Sych das ich zu euch geredet habe. 4 Bleibt in mir und ich in euch. Wie die Rebe keine Frucht bringen kann aus sich selbst, wenn sie nicht am Weinstock bleibt, so auch ihr nicht, wenn ihr nicht in mir bleibt. 5 Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun. 6 Wer nicht in mir bleibt, der wird weggeworfen wie eine Rebe und verdorrt, und man sammelt sie und wirft sie ins Feuer und sie müssen brennen. 7 Wenn ihr in mir bleibt und meine Worte in euch bleiben, werdet ihr bitten, was ihr wollt, und es wird euch widerfahren. 8 Darin wird mein Vater verherrlicht, dass ihr viel Frucht bringt und werdet meine Jünger. 9 Wie mich mein Vater liebt, so liebe ich euch auch. Bleibt in meiner Liebe! 10 Wenn ihr meine Gebote haltet, so bleibt ihr in meiner Liebe, wie ich meines Vaters Gebote halte und bleibe in seiner Liebe. 11 Das sage ich euch, damit meine Freude in euch bleibe und eure Freude vollkommen werde. 12 Das ist mein Gebot, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch liebe. 13 Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde. 14 Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch gebiete. 15 Ich sage hinfort nicht, dass ihr Knechte seid; denn ein Knecht weiß nicht, was sein Herr tut. Euch aber habe ich gesagt, dass ihr Freunde seid; denn alles, was ich von meinem Vater gehört habe, habe ich euch kundgetan. 16 Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt und bestimmt, dass ihr hingeht und Frucht bringt und eure Frucht bleibt, damit, wenn ihr den Vater bittet in meinem Namen, er's euch gebe. 17 Das gebiete ich euch, dass ihr euch untereinander liebt. Verbundenheit, Kraftstrom, Fruchtbarkeit, Liebesfähigkeit Wir sind gar nicht in der Lage, allein zu existieren und zu wirken. Jesus zeigt uns hier auf, wie wir am besten unsere Wege angehen. Wenn wir Jesus kontinuierlich verbunden bleiben, dann können wir in Liebe und Freude wandern, wir gehen den Weg der Liebe. Er leitet einen ständigen Kraftstrom der Lebendigkeit in unser Leben, Er ist wirklich die Kraftquelle, damit wir schaffen können. Wir müssen nichts allein tun. Was wir tun, macht uns Spaß und wir tun, was wir tun, weil wir es gern tun, nicht weil wir es müssen. Wir lieben einander und nehmen die Bedürfnisse des anderen so ernst wie unsere eigenen und sorgen gern füreinander. Bei dem, was wir tun, kommt etwas heraus, über das wir uns freuen können. Wer nicht aus Liebe handelt, der hat Stress und unangenehme Gefühle (brennen, ins Feuer geworfen werden) – über kurz oder lang, irgendwann Tag für Tag, das Leben ist anstrengend. Im Antlitz der Liebe - 334 - © Gabriele Sych Zwei Mal bin ich ein paar Tage allein gepilgert. Immer wieder wurde ich dabei – vor allem von Frauen – gefragt, ob ich denn keine Angst hätte – so allein, vor allem im Wald. Nein, hatte ich nicht (oder fast nicht, s.u.)! Ich habe immer das Kreuz meines Rosarios hochgehalten und geantwortet: „Ich bin doch nicht allein, der Herr ist mit mir!“ Einige haben erstaunt geschaut, doch viele, vor allem ältere Frauen bekamen dann einen warmen Glanz in den Augen und sagten wie bestätigend: „Ja, stimmt schon, der Herr ist mit uns!“ Allerdings: einmal hatte ich tatsächlich Angst. Ich hatte mich am Rande eines Dorfes am Feldesrain zum Schlafen hingelegt. Plötzlich hörte ich ganz in der Nähe lautstark Wildschweine. Trotz aller Engel habe ich meine Sachen wieder zusammen gepackt und bin in das Dorf zurückgelaufen. Manchmal reicht es bei mir halt auch nicht, bin ja noch auf dem Weg. Das Dorf hatte ich mir vorher in der Dämmerung angeschaut. Vor der dortigen Kirche stand ein altes, unbewohntes Haus. Hinter dem Haus war eine dunkle, windstille Ecke, direkt neben einer Mauer, die mich von der anderen Seite vor Blicken schützte. Dort legte ich mich beruhigt unter klarem Sternenhimmel schlafen. Am nächsten Morgen war Feiertag: Maria Himmelfahrt. Die Kirche, vor der ich geschlafen hatte, trug denselben Namen wie der Tag: Maria Himmelfahrt. Ich war überrascht, musste lachen, war gleichzeitig betroffen und nachdenklich. Ich bin tatsächlich verbunden… 3. Er nährt uns: ICH BIN das Brot des Lebens; wer zu mir kommt, wird nicht hungern und wer an mich glaubt, wird nie mehr dürsten. (Joh. 6,35) 32 Da sprach Jesus zu ihnen: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Nicht Mose hat euch das Brot vom Himmel gegeben, sondern mein Vater gibt euch das wahre Brot vom Himmel. 33 Denn Gottes Brot ist das, das vom Himmel kommt und gibt der Welt das Leben. 34 Da sprachen sie zu ihm: Herr, gib uns allezeit solches Brot. 35 Jesus aber sprach zu ihnen: Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern; und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten.36 Aber ich habe euch gesagt: Ihr habt mich gesehen und glaubt doch nicht. 37 Alles, was mir mein Vater gibt, das kommt zu mir; und wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen. 38 Denn ich bin vom Himmel gekommen, nicht damit ich meinen Willen tue, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat. 39 Das ist aber der Wille dessen, der mich gesandt hat, dass ich nichts verliere von allem, was er mir gegeben hat, sondern dass ich's auferwecke am Jüngsten Tage. 40 Denn das ist der Wille meines Vaters, dass, wer den Sohn sieht und glaubt an ihn, das ewige Leben habe; und ich werde ihn auferwecken am Jüngsten Tage. 41 Da murrten die Juden über ihn, weil er sagte: Ich bin das Brot, das vom Himmel gekommen ist, 42 und sprachen: Ist dieser nicht Jesus, Josefs Sohn, dessen Vater und Im Antlitz der Liebe - 335 - © Gabriele Sych Mutter wir kennen? Wieso spricht er dann: Ich bin vom Himmel gekommen? 43 Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Murrt nicht untereinander. 44 Es kann niemand zu mir kommen, es sei denn, ihn ziehe der Vater, der mich gesandt hat, und ich werde ihn auferwecken am Jüngsten Tage. 45 Es steht geschrieben in den Propheten (Jesaja 54,13): »Sie werden alle von Gott gelehrt sein.« Wer es vom Vater hört und lernt, der kommt zu mir. 46 Nicht als ob jemand den Vater gesehen hätte außer dem, der von Gott gekommen ist; der hat den Vater gesehen. 47 Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer glaubt, der hat das ewige Leben. 48 Ich bin das Brot des Lebens. 49 Eure Väter haben in der Wüste das Manna gegessen und sind gestorben. 50 Dies ist das Brot, das vom Himmel kommt, damit, wer davon isst, nicht sterbe. 51 Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel gekommen ist. Wer von diesem Brot isst, der wird leben in Ewigkeit. Und dieses Brot ist mein Fleisch, das ich geben werde für das Leben der Welt. 52 Da stritten die Juden untereinander und sagten: Wie kann der uns sein Fleisch zu essen geben? 53 Jesus sprach zu ihnen: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr nicht das Fleisch des Menschensohns esst und sein Blut trinkt, so habt ihr kein Leben in euch. 54 Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, der hat das ewige Leben, und ich werde ihn am Jüngsten Tage auferwecken. 55 Denn mein Fleisch ist die wahre Speise, und mein Blut ist der wahre Trank. 56 Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, der bleibt in mir und ich in ihm. 57 Wie mich der lebendige Vater gesandt hat und ich lebe um des Vaters willen, so wird auch, wer mich isst, leben um meinetwillen. 58 Dies ist das Brot, das vom Himmel gekommen ist. Es ist nicht wie bei den Vätern, die gegessen haben und gestorben sind. Wer dies Brot isst, der wird leben in Ewigkeit. Nahrung, Ewiges Leben Jesus nährt uns durch die Eucharistie in unserem Geistleib und das führt immer mehr dazu, dass unsere wichtigsten inneren Bedürfnisse befriedigt werden: nach Liebe, Nähe, Zugehörigkeit, Wandlung, Anerkennung und Sinn. Sie ist eben auch ein Mittel, das „Durchreichen“ zu bewirken. Wir fühlen uns immer weniger einsam, sinnentleert, sehnsüchtig und verloren, sondern innerlich angefühlt und zufrieden. Und wer innerlich angefüllt ist, ist offen, bereit, erst in der Lage zu geben, sich zu geben, der ist nicht stetig in seiner Bedürftigkeit, seinen Ängsten und Sorgen verfangen. Wer die Wirkung der Eucharistie auf seinen Geistleib fühlen kann, der spürt Licht, Liebe und Stärkung, Freiheit und Verbundenheit, eben Lebenskraft, die im Nu den ganzen Körper anfüllt. Durch die Lebenskraft werden wir gesund, klar, gereinigt. Die Eucharistie hilft uns, die Wandlung zu vollbringen. Je gesünder und reiner der Geistleib, umso gesünder ist auch Im Antlitz der Liebe - 336 - © Gabriele Sych unser materieller Körper. Die Eucharistie ist sowohl Gesundheitsvorsorge wie auch ein Erfülltwerden unserer Gaben, unseres Gabenpotentials. Sie ist die Wandlungskraft an sich, sie ermöglicht uns ein heilsames Leben. Erfüllt sein, emotional satt sein, nicht emotional zu verhungern, ist der beste Schutz gegen Krankheit, Süchte und Ersatzbefriedigungen, auch die der Ernährung, und gegen die Einflüsterungen des Widersachers. Siehe auch meine Erfahrungen zur Wirkung der Eucharistie in 2.1.3.4 Wir sind ja nicht allein! Das tägliche Brot des Lebens, das uns stark macht, dem Anderen unsere Hand zu reichen. Im Sommer nahm ich mir eine Woche Zeit, um auch in Deutschland auf einem Jakobusweg zu pilgern. Ich wählte die Strecke von Eisenach bis zum Kreuzberg in der Rhön, mein Pilgerabschluss war in Volkersberg. Das wunderbare an diesem Weg ist, dass er von vielen christlichen Haltestationen geprägt ist. Die Kirchen sind in der Regel offen und es gibt viele Mariengrotten. Im Kloster Hünfeld fand ich ein „sprechendes“ Labyrinth und eine wunderschöne, goldene Marienstatue, in Rothenbach sogar eine Rosenkranztreppe, das ist eine Treppe, die an einem Kreuz beginnt und aufgebaut ist wie ein Rosenkranz. Erst eine Treppenstufe, dann 3 Treppenstufen, dann 1 Treppenstufe, dann 10 Treppenstufen und dann wieder eine Treppenstufe und das 5 Mal. Ist man oben an der Treppe angekommen, steht man vor einer kleinen Marienkapelle. Bewegtes Beten, ein wundervoller Ort. Und an jedem Ort nahmen Jesus und Maria das Gespräch mit mir auf, so deutlich wie selten in der Zeit vorher. Fünf, sechs mal am Tag gab es intensive Gespräche. Ich war am Ende der Woche fast bis zum Platzen angefüllt, mit Liebe, Sinn, Ruhe, Verständnis und neuen Ideen. Am letzten Tag, bei meiner letzten Station in Volkersberg konnte ich nicht mehr, hisste die weiße Flagge, war am Ende meiner Aufnahmekapazität. Sie können so stark auf uns zu kommen! Man kann so geliebt werden! Ich weiß jetzt, wenn ich mich nur selbst öffnen kann, dann kann ganztägig der Kontakt da sein. Noch kann ich es nicht auf Dauer halten. Nicht immer, aber immer öfter! Es ist ein Gewöhnungsprozess, so viel zu empfangen. Ich leb ja noch ein Weilchen auf dieser wunderbaren Erde: Wird schon! Noch lange habe ich von dieser einen Woche gezehrt. Ich habe anschließend meine Arbeitsweise nochmals mehr für den Einfluss Jesu geöffnet, alles vor ihn gestellt und dann jede Menge Hilfe bekommen. 4. Er öffnet unsere Herzen und ruft uns: ICH BIN die Tür; wenn jemand durch mich hineingeht, so wird er errettet werden und wird ein- und ausgehen und die Weide finden. (Joh. 10,9) 1 Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer nicht zur Tür hineingeht in den Schafstall, sondern steigt anderswo hinein, der ist ein Dieb und ein Räuber. 2 Der aber zur Tür Im Antlitz der Liebe - 337 - © Gabriele Sych hineingeht, der ist der Hirte der Schafe. 3 Dem macht der Türhüter auf, und die Schafe hören seine Stimme; und er ruft seine Schafe mit Namen und führt sie hinaus. 4 Und wenn er alle seine Schafe hinausgelassen hat, geht er vor ihnen her, und die Schafe folgen ihm nach; denn sie kennen seine Stimme. 5 Einem Fremden aber folgen sie nicht nach, sondern fliehen vor ihm; denn sie kennen die Stimme der Fremden nicht. 6 Dies Gleichnis sagte Jesus zu ihnen; sie verstanden aber nicht, was er ihnen damit sagte. 7 Da sprach Jesus wieder: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ich bin die Tür zu den Schafen. 8 Alle, die vor mir gekommen sind, die sind Diebe und Räuber; aber die Schafe haben ihnen nicht gehorcht. 9 Ich bin die Tür; wenn jemand durch mich hineingeht, wird er selig werden und wird ein- und ausgehen und Weide finden. 10 Ein Dieb kommt nur, um zu stehlen, zu schlachten und umzubringen. Ich bin gekommen, damit sie das Leben und volle Genüge haben sollen. Berufung, Seligkeit, Zusage, Befreiung aus der Sklaverei Jesus öffnet uns, den Weg der Liebe zu gehen, in Liebe das zu tun, was uns anzieht und selig macht. Wir brauchen uns nur zu öffnen und Einsicht, etwas tun, weil wir es selbst wollen. Wenn wir bereit sind, auf jeden Fall eine Sache zu tun, ob sie nun Geld bringt oder nicht, dann sind wir in unserer Berufung angekommen. Wer das tut, wozu er sich berufen fühlt, der hat sie Zusage, dass es ihn auch nährt. Wir sind an diesem Ort unverwechselbar, einzigartig, unersetzlich, es ist der Weg aus der „Sklaverei“. Wer versucht, uns zu einem Handeln zu bewegen mit anderen Mitteln als Einsicht und Liebe, der wird kein Glück haben. Wer uns beispielsweise mit Geld motiviert, aus uns selbst Mietlinge macht, dem folgen wir nur so lange, wie er uns Geld dafür bezahlt. Er nimmt uns unsere Lebenszeit für seine eigenen Zwecke und Ziele. Wenn wir ihm nicht mehr nützlich sind oder in schlechten Zeiten, da werden wir entlassen. Wer uns mit seiner Macht dazu bewegt, erzwingt, der kauft unsere Lebenszeit für sich, der wird sein Ziel nur erreichen, so lange er seine Macht ausübt. Sobald er das nachlässt, werden wir damit aufhören, zu tun, was er will. Macht, die man ausübt, schwindet dadurch.74 Eine andere Seite der Türfunktion ist, dass wir im Gebet durch Jesus Christus uns Gott dem Vater, der in der Ewigkeit lebt, annähern können und eine Ahnung der Ewigkeit und des Friedens bekommen. Wenn wir hier im Gebet verweilen, erfüllt uns der Friede und tiefe Ruhe. So können wir schon heute immer wieder selig werden. 74 Siehe hierzu von R. Emerson sein Werk zur „Social Exchange Theory“ Im Antlitz der Liebe - 338 - © Gabriele Sych Als ich noch nicht bei meiner Berufung angekommen war, da war ich auswechselbar. Wenn ich es nicht tat, war schnell ein anderer da, der dasselbe machen konnte. So ist es. So schreiben wir Bewerbungen und erhalten Zusagen und Absagen, manche Hunderte davon. Wir bewerben unser Produkt oder uns als Produkt. Doch alles Werben und Bewerben hat ein Ende, wenn wir berufen sind und gerufen werden, wenn genau wir erwünscht sind, wenn wir empfohlen werden. Dann geschieht alles wie von selbst. Die Kunden, Klienten, Arbeitgeber kommen auf uns zu, genau in dem Maße, wie wir es bewältigen können. Das ist mir passiert, als ich bereit war, die neue Methode anzuwenden, dasselbe ist Santiago passiert, als er wieder auf seinen Weg des Musikers, des Künstlers zurückkehrte. 5. Er zeigt uns die Wahrheit und weist uns den Weg: ICH BIN der Weg, die Wahrheit und das Leben, niemand kommt zum Vater als nur durch mich. (Joh. 14,6) 5 Spricht zu ihm Thomas: Herr, wir wissen nicht, wo du hingehst; wie können wir den Weg wissen? 6 Jesus spricht zu ihm: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich. 7 Wenn ihr mich erkannt habt, so werdet ihr auch meinen Vater erkennen. Und von nun an kennt ihr ihn und habt ihn gesehen. 8 Spricht zu ihm Philippus: Herr, zeige uns den Vater und es genügt uns. 9 Jesus spricht zu ihm: So lange bin ich bei euch und du kennst mich nicht, Philippus? Wer mich sieht, der sieht den Vater! Wie sprichst du dann: Zeige uns den Vater? 10 Glaubst du nicht, dass ich im Vater bin und der Vater in mir? Die Worte, die ich zu euch rede, die rede ich nicht von mir selbst aus. Und der Vater, der in mir wohnt, der tut seine Werke. 11 Glaubt mir, dass ich im Vater bin und der Vater in mir; wenn nicht, so glaubt doch um der Werke willen. 12 Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer an mich glaubt, der wird die Werke auch tun, die ich tue, und er wird noch größere als diese tun; denn ich gehe zum Vater. 13 Und was ihr bitten werdet in meinem Namen, das will ich tun, damit der Vater verherrlicht werde im Sohn. 14 Was ihr mich bitten werdet in meinem Namen, das will ich tun. 15 Liebt ihr mich, so werdet ihr meine Gebote halten. 16 Und ich will den Vater bitten und er wird euch einen andern Tröster geben, dass er bei euch sei in Ewigkeit: 17 den Geist der Wahrheit, den die Welt nicht empfangen kann, denn sie sieht ihn nicht und kennt ihn nicht. Ihr kennt ihn, denn er bleibt bei euch und wird in euch sein. 18 Ich will euch nicht als Waisen zurücklassen; ich komme zu euch. 19 Es ist noch eine kleine Zeit, dann wird mich die Welt nicht mehr sehen. Ihr aber sollt mich sehen, denn ich lebe und ihr sollt auch leben. 20 An jenem Tage werdet ihr erkennen, dass ich in meinem Vater bin und ihr in mir und ich in euch. 21 Wer meine Im Antlitz der Liebe - 339 - © Gabriele Sych Gebote hat und hält sie, der ist's, der mich liebt. Wer mich aber liebt, der wird von meinem Vater geliebt werden, und ich werde ihn lieben und mich ihm offenbaren. 22 Spricht zu ihm Judas, nicht der Iskariot: Herr, was bedeutet es, dass du dich uns offenbaren willst und nicht der Welt? 23 Jesus antwortete und sprach zu ihm: Wer mich liebt, der wird mein Wort halten; und mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm nehmen. 24 Wer aber mich nicht liebt, der hält meine Worte nicht. Und das Wort, das ihr hört, ist nicht mein Wort, sondern das des Vaters, der mich gesandt hat. 25 Das habe ich zu euch geredet, solange ich bei euch gewesen bin. 26 Aber der Tröster, der Heilige Geist, den mein Vater senden wird in meinem Namen, der wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe. Das brennende Herz, seiner Wahrnehmung trauen, direkte Verbindung, direkte Führung Der Weg der Liebe und Einsicht ist der wahre Weg, alle anderen Wege sind Teile, jedoch nicht das Ganze. Alle anderen Beweg-Gründe (Geld, Angst, Sorge, Zorn, Gier, Imagefragen) führen in eine Sackgasse, erweisen sich irgendwann als Fehlschlag. Er schlägt uns immer, immer wieder vor, uns in die Gemeinschaft einzubringen. Wer so handelt, zu dem kommt Gott automatisch, in dem wohnt Gott. Er schenkt uns dafür die Gegenwart des heiligen Geistes. Wer nach dieser Anleitung handelt, in dem ist der Heilige Geist aktiv, der wird mit Seinen Charismen beschenkt, mit denen alles Handeln sehr, sehr viel leichter wird, bis irgendwann alles möglich ist. Das obige Ich-Wort ist mein Konfirmationsspruch. Mit dieser Aufgabe war ich wohl betraut, meinen Glauben wieder neu zu bestätigen, diese Worte durch mein Leben zu „konfirmieren“. Mein Leben lang war ich eine Suchende, habe ich alle möglichen spirituellen Praktiken ausprobiert, schon mit 17 habe ich auf Anregung meiner Mutter Autogenes Training gelernt und mich mit dem Thema Reinkarnation beschäftigt. Nach einer Weile des Herumprobierens hatte ich mir angewohnt, alle diese Praktiken danach zu bewerten, ob sie für mich funktionierten. Geht es mir besser damit? Verändert sich mein Leben, meine Gesundheit, meine Umgebung zum Guten? Ist das geistige Konzept verständlich, nachvollziehbar, stimmig, vollständig und in sich einfach? Wirklich: „funzt“ es? Ich habe viel ausprobiert, weitergemacht, was funktionierte, gelassen, was nicht so erfolgreich/folgenreich war: asiatische Methoden wie Meditation verschiedenster Art, Akupunktur, Reiki, Yoga; den Schamanismus; Naturheilkunde und Homöopathie, Steine, Bachblüten, Essenzen; Astrologie und andere Divinationsmethoden; Psychologie und Psychotherapie verschiedenster Schulen, moderne Im Antlitz der Liebe - 340 - © Gabriele Sych Psychotrends wie NLP, The Work, Aufstellungen. Alles hat mir etwas geholfen, wobei Reiki lange Zeit für mich das Griffigste und Universellste war, ebenso mag ich The Work sehr. Alles hat mir geholfen, meine Heilung weiter voranzutreiben, meine Wahrnehmung zu trainieren und zu schärfen, meinen Kopf zu befreien, gedankliche Grenzen zu sprengen. Ich bereue nicht unbedingt, alle diese Wege ausprobiert zu haben, keiner sollte sie grundsätzlich verteufeln. Ich hätte mir allerdings Umwege auch ersparen können, am schädlichsten halte ich persönlich Diviniationstechniken. Doch: Nichts war so wirksam, nichts hat mir so umfassend Veränderung und Heilung ermöglicht wie die Zeit mit Jesus Christus seit meiner Wiedergeburt in Barcelona 2006. Nichts war jemals so deutlich seelisch, geistg und körperlich spürbar. Faßbar, zuverlässig, eindeutig, klar. Kein Konzept ist so vollständig, kein anderes System gibt auf alle Fragen eine Antwort. Keines ermöglicht so radikale Änderungen in Richtung Liebe und Lebendigkeit. Keines ist so menschenfreundlich wie die Lehre von Gottes Reich. Ich kann es Dir heute bestätigen, konfirmieren: Jesus Christus, Du bist der Weg, die Wahrheit und das Leben, der direkte Weg. Allem Anderen fehlt vor allem der Segen, die Gnade, das Getragensein, das Erbarmen und die Allgegenwärtigkeit Gottes, dass wir es nicht allein in Ordnung zu bringen haben. Ein Versprechen, das auch gehalten wird. Jesus Christus, Du bist spürbar ein Teil des dreifaltigen Gottes. Du bist der Königsweg zu Gott. Amen, ich glaube. 6. Er ermöglicht, dass wir sehen, wahrnehmen können ICH BIN das Licht der Welt; wer mir nachfolgt wird nicht in der Finsternis wandeln, sondern wird das Licht des Lebens haben. (Joh. 8,12) 12 Da redete Jesus abermals zu ihnen und sprach: Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben.13 Da sprachen die Pharisäer zu ihm: Du gibst Zeugnis von dir selbst; dein Zeugnis ist nicht wahr. 14 Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Auch wenn ich von mir selbst zeuge, ist mein Zeugnis wahr; denn ich weiß, woher ich gekommen bin und wohin ich gehe; ihr aber wisst nicht, woher ich komme oder wohin ich gehe. 15 Ihr richtet nach dem Fleisch, ich richte niemand. 16 Wenn ich aber richte, so ist mein Richten gerecht; denn ich bin's nicht allein, sondern ich und der Vater, der mich gesandt hat. 17 Auch steht in eurem Gesetz geschrieben, dass zweier Menschen Zeugnis wahr sei. 18 Ich bin's, der von sich selbst zeugt; und der Vater, der mich gesandt hat, zeugt auch von mir. 19 Da fragten sie ihn: Wo ist dein Vater? Jesus antwortete: Ihr kennt weder mich noch meinen Vater; wenn ihr mich kenntet, so kenntet ihr auch meinen Vater. Klare Sicht, keine 2. Meinung notwendig, Licht in der Finsternis Im Antlitz der Liebe - 341 - © Gabriele Sych Das Licht geht voran, wir brauchen nur dorthin zu folgen, wo es leicht ist, wo es sich für uns hell anfühlt. Wir können an eine gute Welt glauben. Jesus spricht von Gottes Reich, das so menschenfreundlich ist. Leben wir nach seinen Regeln, so ist unser Leben leicht. Vertrauen wir, so gibt es immer Hoffnung. In all unsere Gedanken verstrickt, in unserer Selbstbezogenheit haben wir oft keine klare Sicht auf die Realität. Wir beurteilen, wir richten, oft ohne die wirklichen Hintergründe zu kennen. Wenn wir uns nur über das, was wir denken, fragen würden: „Ist das wirklich wahr? Und: Können wir wissen, dass es wahr ist?“75, dann würden wir häufig ganz schnell merken, dass unsere Beurteilung jeglicher Grundlage entbehrt und nur aus unserer Beurteilung unserer Erinnerungen gefärbt ist. Mit der grundsätzlichen Gütevermutung sehen wir klar, ist alles Licht, ist immer Hoffnung da, die das Licht ist, zumindest der Silberstreif am Horizont. Und selbst wenn keines da ist, dann können wir an das Licht glauben am Ende der Nacht, es uns genau dort vorstellen, denn immer wieder kommt ein neuer Tag. Eine meiner Klientinnen hatte eine schwere Situation durchzustehen, sie musste einen langgehegten Wunsch, eine Illusion loslassen. Sie hatte wahrhaftig das Gefühl, dass etwas in ihr starb, sie selbst partiell starb, für ein paar Tage in das Reich des Todes hinabzusteigen. Die große Entdeckung, die sie dort machte, war, dass Jesus uns dort ein Licht hinterlassen hat. Da verstand ich voller Dankbarkeit: Das Reich des Todes ist seit seinem Aufenthalt dort nicht mehr die vollständige Finsternis, sondern das Licht, das er dort hinterlassen hat, ermöglicht uns allen die Auferstehung. And when the night is cloudy there is still a light that they will see, shine until tomorrow: Let it be! Paul McCarney, Beatles Als ich aus Spanien zurückkam, schrieb ich zunächst alles auf, was mir so reichlich zufloss. Dann wandte ich mich an die katholische Kirche, die Kirche, die ich in Spanien kennen gelernt hatte. Doch dort fand ich zunächst niemanden, der mir erklären konnte, was mir geschehen war, der mir half, mich mit meinem Erleben zurecht zu finden, mich auszusortieren. Was ich bekam, das waren ein Haufen Vorschriften und alle meine Fehler und Unmöglichkeiten „aufs Brot geschmiert“, jemand nannte es so nett „Wasser in den Wein gießen“. Ich erhielt einen Kurs im 1x1 des Glaubens für bisher Ungetaufte, ich war im falschen Film. Zumindest konnte ich feststellen, dass nichts, was ich empfangen hatte, verkehrt gewesen war. Gesucht hatte ich nach echter Führung nach diesem „Glaubenseinbruch“ in 75 Fragen aus der wunderbaren Technik von The Work von Byron Katie, der Autorin von „Lieben was ist“ Im Antlitz der Liebe - 342 - © Gabriele Sych meinem Leben, irgendwie: Ist das denn Realität, was mir da passiert ist oder spinne ich? Kann das sein? Ich, warum ich? Ich wurde auch an niemanden weiterverwiesen, kein „ich habe dafür leider keine Zeit, aber … kann ihnen helfen“ oder „ … ich kenn mich mit so was nicht so aus, doch … könnte sich vielleicht ihrer annehmen“. Und ich stand da, gehalten, das Evangelium umzusetzen und fand zum einen keinen, der das lebte, was da stand. Zum anderen fand ich auch keinen, der mir sagen konnte, wie denn das geht. Ich vertiefte mich ins Gebet, bat immer wieder um Führung, suchte nach religiös-erfahrenen Menschen, und fand: JESUS. Er holte mich wieder zurück und erklärte mir, er wolle mich direkt führen, immerhin hätte ich ja inzwischen die Fähigkeit ihn wahrzunehmen. Bis ich das geglaubt und wirklich danach gehandelt habe, das hat lange gedauert. Bis ich wirklich meiner Wahrnehmung und dem geglaubt habe, was mir unterwegs und später im Alltag geschehen war. Dass ich einfach als wahr annahm und der Verbindung zu Jesus traute. Ich fühlte an meinem Körper, dass zuverlässig immer etwas geschah. Ich traute meiner Heilungsarbeit, ja, vielen Menschen ging es durch das, was zwischen uns geschah viel besser. Ich hatte genug Anlass zu glauben. Ich war ja dabei, Zeuge, ich weiß, was mir passiert ist. Jetzt glaube ich und es ist mir egal, was andere denken oder ob sie an mir zweifeln. Nochmals: Amen, ich glaube. 7. Er bringt uns in die Einheit Gottes zurück. ICH BIN die Auferstehung und das Leben; wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er gestorben ist. (Joh. 11,25) 25 Jesus spricht zu ihr (Marta): Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt;26 und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben. Glaubst du das? 27 Sie spricht zu ihm: Ja, Herr, ich glaube, dass du der Christus bist, der Sohn Gottes, der in die Welt gekommen ist. 28 Und als sie das gesagt hatte, ging sie hin und rief ihre Schwester Maria heimlich und sprach zu ihr: Der Meister ist da und ruft dich. 29 Als Maria das hörte, stand sie eilend auf und kam zu ihm. 30 Jesus aber war noch nicht in das Dorf gekommen, sondern war noch dort, wo ihm Marta begegnet war. 31 Als die Juden, die bei ihr im Hause waren und sie trösteten, sahen, dass Maria eilend aufstand und hinausging, folgten sie ihr, weil sie dachten: Sie geht zum Grab, um dort zu weinen. 32 Als nun Maria dahin kam, wo Jesus war, und sah ihn, fiel sie ihm zu Füßen und sprach zu ihm: Herr, wärst du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben. 33 Als Jesus sah, wie sie weinte und wie auch die Juden weinten, die mit ihr gekommen waren, ergrimmte er im Geist und wurde sehr betrübt 34 und sprach: Wo habt ihr ihn hingelegt? Sie antworteten ihm: Herr, komm und sieh es! 35 Und Im Antlitz der Liebe - 343 - © Gabriele Sych Jesus gingen die Augen über. 36 Da sprachen die Juden: Siehe, wie hat er ihn lieb gehabt! 37 Einige aber unter ihnen sprachen: Er hat dem Blinden die Augen aufgetan; konnte er nicht auch machen, dass dieser nicht sterben musste? 38 Da ergrimmte Jesus abermals und kam zum Grab. Es war aber eine Höhle und ein Stein lag davor. 39 Jesus sprach: Hebt den Stein weg! Spricht zu ihm Marta, die Schwester des Verstorbenen: Herr, er stinkt schon; denn er liegt seit vier Tagen. 40 Jesus spricht zu ihr: Habe ich dir nicht gesagt: Wenn du glaubst, wirst du die Herrlichkeit Gottes sehen? 41 Da hoben sie den Stein weg. Jesus aber hob seine Augen auf und sprach: Vater, ich danke dir, dass du mich erhört hast. 42 Ich weiß, dass du mich allezeit hörst; aber um des Volkes willen, das umhersteht, sage ich's, damit sie glauben, dass du mich gesandt hast. 43 Als er das gesagt hatte, rief er mit lauter Stimme: Lazarus, komm heraus! 44 Und der Verstorbene kam heraus, gebunden mit Grabtüchern an Füßen und Händen, und sein Gesicht war verhüllt mit einem Schweißtuch. Jesus spricht zu ihnen: Löst die Binden und lasst ihn gehen! 45 Viele nun von den Juden, die zu Maria gekommen waren und sahen, was Jesus tat, glaubten an ihn. Wunder: Alles ist möglich, sogar Auferstehung von den Toten Wenn wir glauben, unbedingt glauben, dann kann alles passieren, dann IST GOTT. LEBEN IST. Leben ist: ewig, weil keine Tiefe mehr so schlimm sein kann, dass man sie für nicht überwindbar hält. Wunder gehören zur Tagesordnung. Leben ist in JEDER Situation liebenswert, wir können immer wieder aufstehen und unseren Blick zum Himmel erheben, egal, was geschehen ist, egal wo und was wir dann sind. In dem Weihnachtslied „Es kommt ein Schiff gefahren“ gibt es ein paar Worte, die es uns ebenfalls verständlich machen. „Danach mit ihm auch sterben und geistig auferstehen“ Ja, unser altes Leben lassen wir sterben, um geistig aufzuerstehen, spirituell neu geboren zu werden, uns spirituell neu auszurichten. Es geht nicht um den endgültigen Tod mit Beerdigung und so, sondern den Tod in einem Leben, das am Materiellen, Götzlichen statt am Spirituellen, Göttlichen ausgerichtet ist. Und: Wenn die eigene Zeit zum Übergang kommt, dann sind wir gewiss, dass eine einfach eine neue Zeit anfangen wird: Eine Tür geht zu, eine andere auf. Im Antlitz der Liebe - 344 - © Gabriele Sych An meinem 49. Geburtstag telefonierte ich nachmittags mit meiner Freundin, die hochschwanger war. Sie hatte das Gefühl, schon die ersten Wehen zu haben, dass es wohl bald „losginge“. Am nächsten Tag hatte ich am Nachmittag das dringende Gefühl, eine Aufforderung zum Beten zu hören. Ich ging nach Hause und setzte mich hin, fragte, wofür ich denn jetzt meinen Rosenkranz beten sollte. Ich hörte in mir: Für das Kind. Also betete ich für das Kind meiner Freundin. Während meines persönlichen Jesusgebetes erschien in meiner Bitte immer wieder zusätzlich das Wort „resurrección“ = Auferstehung. Ich bat intensiv um Auferstehung, schickte Segenswunsch um Segenswunsch, damit der neue Erdenbürger auch spirituell-seelisch auf dieser Welt einen warmen Empfang bekäme. Den dreifaltigen Gott bat ich und die Mutter Jesu, sich dieses Kindes besonders anzunehmen. Dann …passierte erstmal nichts. Von meiner Freundin hörte ich nichts, keine Geburtsanzeige, kein Anruf, nichts. Ich dachte mir, ok, ich lasse sie erstmal ein paar Tage in Ruhe. Man hat ja mehr zu tun nach so einer frischen Geburt, als an die Freunde zu denken, ich wollte nicht stören. Bei mir war das auch so gewesen. Kaiserschnitt, Komplikationen, einige Tage im Krankenhaus, da wollte ich mich auch nur um das Kind und mich kümmern. Nach 10 Tagen ohne Nachricht rief ich sie an. Von ihrem Mann hörte ich, sie war noch im Krankenhaus mit ihrem neugeborenen Sohn. Die Geburt hatte am Abend meines Geburtstages begonnen, doch es hatte auch hier Komplikationen gegeben. Zu der Zeit, als ich für das Kind betete, hatten die Ärzte gerade um das Leben des Säuglings gekämpft. Mit dem Gebet habe ich sie unterstützt. Ihr Sohn ist am Leben geblieben, ist ein gesundes Kind, ein ganz Lebhafter! Gott hat gewirkt. 2.2.1.4 Wegweiser, Zeichen und Entscheidungen Eine wichtige Sache beim Pilgern als ein Spiegel des Lebens ist das Auffinden der Zeichen. Der ungeübte Pilger geht nach dem Buch und der Karte, dem Wissen und Erleben der Anderen. Beim geübten Pilger schaltet sich an Abzweigungen die Aufmerksamkeit für die Zeichen ein. Ist das Zeichen gefunden, dann weiß man, welcher Weg einzuschlagen ist, und man kann sich wieder Gottes schöner Welt zuwenden. Und dann gibt es immer wieder die Pilgerengel, die auf einen zukommen, wenn man den falschen Weg eingeschlagen hat. Setzen wir uns keine eigenen Ziele und Zwischenziele außer dem, mit Gott zu leben, dann kommen die Zeichen immer wieder, z.B. ein Ruf, eine Nachricht, ein Buch, eine Neuinszenierung auf der Bühne unseres Lebens, irgendetwas, das unsere Aufmerksamkeit - hoffentlich - erreicht. Das einfachste ist die Anziehung wirken zu lassen und sich ihr hinzugeben. Wir folgen der Bewegung in unserem Herzen, einfach von Herzen zu wissen, von ganzem Herzen zu handeln. Im Antlitz der Liebe - 345 - © Gabriele Sych Körper, Geist und Seele sind ebenso wenig getrennt zu "sehen" wie wir selbst vom Ganzen. Wir sind gemeinsam ein Organismus: Die Menschheit. Ein Organismus hat eine Steuereinheit, die Steuereinheit der Menschheit ist Gott. Lassen wir die viele Denkerei, so ist unsere Aufmerksamkeit offener für die göttliche Führung, die immer da ist. Es geht so einfach, es ist ja jemand da, der uns mit absoluter Weisheit koordiniert. Der will sich ja durch unsere Erfahrungen erweitern. So wie wir uns und der Welt durch Erfahrung bewusst werden, wird die Gesamterfahrung aller sich auch in Summe bewusst, kostet die ganze Bandbreite qualitativer Erfahrung der gesamten Menschheit aus und wächst damit genau wie wir weiter. Diese qualitative Bandbreite gibt es ebenso zwischen Sein und Tun, wir brauchen keins von beidem präferieren, alles hat seine Zeit. Prediger 3 (Lutherbibel 1984): 1 Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: 2 geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit; 3 töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit; abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit; 4 weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit; klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit; 5 Steine wegwerfen hat seine Zeit, Steine sammeln hat seine Zeit; herzen hat seine Zeit, aufhören zu herzen hat seine Zeit; 6 suchen hat seine Zeit, verlieren hat seine Zeit; behalten hat seine Zeit, wegwerfen hat seine Zeit; 7 zerreißen hat seine Zeit, zunähen hat seine Zeit; schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit; 8 lieben hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit; Streit hat seine Zeit, Friede hat seine Zeit. 9 Man mühe sich ab, wie man will, so hat man keinen Gewinn davon. 10 Ich sah die Arbeit, die Gott den Menschen gegeben hat, dass sie sich damit plagen. 11 Er hat alles schön gemacht zu seiner Zeit, auch hat er die Ewigkeit in ihr Herz gelegt; nur dass der Mensch nicht ergründen kann das Werk, das Gott tut, weder Anfang noch Ende. Wie leben wir diese Hingabe? Wie führt uns Gott? Kommen wir im Alltag in eine Entscheidungssituation, an eine Wegkreuzung, so fragen wir uns: ♥ Was ist das Offensichtliche? (Wahrnehmung der Umgebung, des Naheliegenden und Augenfälligen und der inneren Stimme) ♥ Wer bin ich und wo stehe ich? ♥ Welche Aufgabe steht an? Schauen wir vor uns, was es zu tun gibt! Welche Aufgabenstellung, welche Verwirklichung ist an der Zeit? Im Antlitz der Liebe - 346 - © Gabriele Sych ♥ Was kann ich gut, wo zieht es mich hin? (Wahrnehmung, was wird gebraucht? Liebe, Anziehung, Unternehmenslust und Kreativität) ♥ Was mag wohl mein Anteil daran sein? Wofür bin ich geschaffen, wofür wird jemand wie ich mit meinem Fähigkeitenmix und Erfahrungshintergrund gebraucht? Wo passe ich hin? ♥ Wie kann ich dem Gesamten dienen? Was ist für alle Beteiligten das Beste? ♥ Was fällt mir zu? Das ist für mich! Was verschwindet gerade? Das lasse ich los! ♥ Wofür ereilt mich ein Ruf? Die schönste und hilfreichste Frage dazu, die hat sich, wie ich hörte, auch Mahatma Ghandi gestellt: Was würde Jesus tun? Zum Einen: Würde er beispielsweise alle unsere Bedenken teilen? Würde er sich überlegen, womit er am meisten Geld verdienen kann? Würde er sich vor Armut fürchten, würde er an seine Altersversorgung denken? Würde er sich fragen, was die Anderen den von ihm denken würden, wenn er macht, was ihm richtig erscheint? Wäre ihm Sicherheit und Bequemlichkeit wichtig? Würde er sich vor Spott, Hänselei, Ablehnung oder sogar Verfolgung und Internierung fürchten? Würde er an seinen eigenen Nutzen denken? Würde er sich fragen, ob er das überhaupt kann? Ja, was würde er sich fragen? Was ist Gottes Wille? Was ist das Wichtigste? Wer ist in Not? Wer braucht was? Was ist für alle gut? Was wäre sein Ziel? Aus welcher Motivation heraus würde er handeln? Schauen wir zunächst auf das Einfache, was sich uns bei diesen Fragen erschließt, schauen wir auf den drängenden Impuls in uns. Was sagt uns unser Herz dazu? Treffen wir jede Entscheidung nur aus einem Zustand der Liebe heraus, andere Entscheidungen haben keinen Bestand. Und wenn es grad nichts sagt? Dann ist es ein guter Zeitpunkt für einen Moment der Stille. Jesus zog sich in solchen Fällen auf einen Berg zurück. Ich zücke meinen Rosario. Eine Methode namens Heart Math76 empfiehlt: Legen wir unsere Hand aufs Herz und 76 Heart Math oder HerzIntelligenz, diverse Bücher von Doc Childre und dem HeartMathInstitute Im Antlitz der Liebe - 347 - © Gabriele Sych erinnern uns an einen besonderen Moment der Liebe in unserem Leben, lassen wir uns ganz darauf ein und stellen uns dann die Frage erneut und hören auf die leise Stimme. Und wenn man damit anfängt: Theresa von Ávila sagte dazu „Abgesehen von eurem hilfreichen Gebet solltet ihr nicht gleich der ganzen Welt beistehen wollen, sondern denen, die mit euch zusammenleben.“(aus: Moradas del castillo interior).“ Ja, genau dort können wir anfangen, wir sind aber nicht dazu angehalten, auch dort aufzuhören, hat Theresa auch nicht gemacht, sie hat 17 Klöster gegründet. Es gibt genug zu tun, Wunderbares und Einfaches (und manchmal ist es dasselbe)! 2.2.1.5 Kritik, Kontrolle und Zwang Die erste Etappe von Lourdes nach Asson war 24 km lang. Für mich eine wirklich ausreichende Entfernung, meine Oberschenkel taten mir gegen Ende weh, dass ich dachte, gleich springen mir die Oberschenkelknochen aus den Hüftpfannen. Ich konnte noch nicht einschätzen, welche Auswirkungen solche Schmerzen auf den nächsten Pilgertag haben. Daher war ich nicht bereit, weiter zu laufen, vor allem, da der Küster von Asson mich schon am Dorfanfang auf die Übernachtung angesprochen hatte. Santiago wollte jedoch weiter, denn unsere körperliche Fitness war deutlich unterschiedlich. An diesem ersten Tag hätten wir uns fast schon getrennt, doch er lenkte ein und blieb mit mir in Asson. Auch am nächsten Tag wollte er weit laufen, weiter als der Etappenvorschlag angab. An diesem Tag lenkte ich ein und ging mit ihm weiter, als ich mir zunächst vorgestellt hatte. Meine Oberschenkelknochen waren noch in ihren Hüftpfannen, der Schmerz war weg. Doch aus Liebe und als Anerkennung seines Einlenkens am Tag davor habe ich mir diese Extrameilen „abgerungen“, damit auch er Freude am Weg hatte. Das habe ich immer wieder aus Liebe getan und war bald selbst erstaunt über meine gewachsene Leistungsfähigkeit. Kein Mensch lernt und handelt wirklich nachhaltig durch Kritik, durch Ermahnung, durch Kontrolle, durch Zwang, durch Pflicht. Dies sind unwirksame Werkzeuge und Wegbegleiter auf dem Weg des Herzens, sie verursachen Anspannung, Verkrampftheit, Widerstand, Unlust und Unwillen. In Römer 12 (Gute Nachricht Bibel) finden wir den Rat: 8 …Übt jemand Barmherzigkeit, so tue er's gern….17 Vergeltet niemandem Böses mit Bösem. Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann. 18 Ist's möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden. 19 Rächt euch nicht selbst, meine Lieben, Im Antlitz der Liebe - 348 - © Gabriele Sych sondern gebt Raum dem Zorn Gottes; denn es steht geschrieben (5.Mose 32,35): »Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr.« 20 Vielmehr, »wenn deinen Feind hungert, gib ihm zu essen; dürstet ihn, gib ihm zu trinken. Wenn du das tust, so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln« (Sprüche 25,21-22). 21 Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.77 Pflicht und Zwang sind das Gegenteil von Liebe. Sie mögen eine Zeit lang funktionieren, doch irgendwann richtet sich das Leben gegen sie. Unterstelle einen Körper der Pflicht, dem Zwang, der Kontrolle und er wird über kurz oder lang sich widersetzen oder krank werden. Wir kennen alle die Diäteffekte, bei denen man sich plötzlich vollgefuttert vor dem Kühlschrank wieder findet, aus einer Trance erwachend „Ich wollte doch gar nichts mehr essen!“ Unser Wachbewusstsein wird einfach ausgeblendet und schon ist es passiert! Man kann eine Weile auch ein Volk dem Zwang, der Kontrolle und der Pflicht unterwerfen, doch irgendwann wird es aufbegehren und jemandem folgen, der ihnen Freiheit verspricht. Die Geschichte hat es gerade im letzten Jahrhundert mit dem Hitlerreich und Sozialismus/Kommunismus mehr als deutlich erwiesen. Keine Diktatur ist von Dauer. Wird ein Alkoholiker auf unsere gut gemeinte Ermahnung: „Trink besser nicht!“ damit aufhören? Wird ein Raucher auf einen solchen Rat hin sagen: „Ja, Du hast recht!“, seine Zigaretten weglegen und fürderhin nicht mehr rauchen? Hat das schon mal 77 Etwas ähnliches finden wir auch im I-Ging (Übersetzung von R. Wilhelm) beim Zeichen 43: Die Entschlossenheit. „Für den entschlossenen Kampf des Guten zur Beseitigung des Bösen gibt es aber bestimmte Regeln, die nicht außer acht gelassen werden dürfen, wenn man Erfolg haben will. 1. Entschlossenheit muss auf einer Vereinigung von Stärke und Freundlichkeit beruhen. 2. Ein Kompromiss mit dem Schlechten ist nicht möglich; es muss unter allen Umständen offen diskreditiert werden. Ebenso dürfen auch die eigenen Leidenschaften und Fehler nicht beschönigt werden. 3. Der Kampf darf nicht direkt durch Gewalt geführt werden. Wo das Böse gebrandmarkt ist, da sinnt es auf Waffen, und wenn man ihm den Gefallen tut, es Schlag gegen Schlag zu bekämpfen, so zieht man den Kürzeren, weil man dadurch selbst in Hass und Leidenschaft verwickelt wird. Darum gilt es, beim eigenen Haus anzufangen: persönlich auf der Hut zu sein vor den gebrandmarkten Fehlern. Dadurch stumpfen sich die Waffen des Bösen von selbst ab, wenn sie keinen Gegner finden. Ebenso dürfen auch eigene Fehler nicht direkt bekämpft werden. Solange man sich mit ihnen herumschlägt, bleiben sie immer siegreich. 4. Die beste Art, das Böse zu bekämpfen, ist energischer Fortschritt im Guten.“ P.S. Ich habe übrigens eine ganze Menge Übereinstimmung zwischen dem I-Ging und der Bibel entdeckt. Im Antlitz der Liebe - 349 - © Gabriele Sych jemand erlebt? Die schreiben inzwischen die dollsten Todesdrohungen auf die Zigarettenpackungen. Trotzdem werden sie gekauft und konsumiert. Der Weg aus allen Süchten, die Umkehr, ist in diesem Punkt gleich. Der Weg aus der Sucht ist immer der eigene, der freiwillige Weg, die Umkehr aus eigenem Impuls, aus eigenem Willen, aus Einsicht. Kein Mensch kann einen anderen Menschen aus seiner Sucht befreien, das produziert bei dem nur die so genannte Co-Abhängigkeit. Jeder, der eine Sucht oder eine schlechte Gewohnheit aufgibt, tut es aus eigener Einsicht, und zwar dann, wenn er seinen persönlichen Umkehrpunkt, meist sein „in der Gosse landen“ erlebt, der Zustand, in dem das deutliche innere „Nein, das werde ich mir (oder einem anderen) ab heute nicht mehr antun!“ stärker wird als das Suchtmittel. Niemand kann in uns Selbstbeherrschung installieren. Sie kann nur vom Selbst ausgehen. Und dies ist nicht nur der Weg aus den Süchten, sondern aus jeglicher Krankheit, der Weg jeglicher nachhaltiger Heilung. Auch in der Depression kommt einmal der Punkt, wenn einem dieser Zustand so leid ist, dass alles andere besser ist, als in Trübsal und Erstarrtheit zu verharren, sich auf den Weg zu machen in ein Leben, das man wieder lieben kann und gerne lebt – langsam aber sicher. Oder geht (an die 15 % der schwer Erkrankten). In schwierigen, zwischenmenschlichen Situationen können wir unbedingt auf Gott setzen. Wenn der Andere in Gottes Augen falsch handelt, dann wird er durch das „duale Erleben“ eines Besseren belehrt wie auch wir, wenn wir uns im Irrtum befinden. Die spanische Version des Vaterunsers macht es deutlich: Bitte vergib uns, wenn wir Grund zum Anstoß geben, angreifen, verletzen, kränken, beleidigen, wie auch wir denen vergeben, die uns Grund zum Anstoß geben, angreifen, verletzten, kränken, beleidigen. Das Maß liegt in seiner Hand. Wir: können Gott trauen, dass er unseren Mitmenschen gut führt und lehrt auf dem Weg der Liebe, unbedingt besser jedenfalls, als wir es könnten…weil er Verhalten erfahrbar, fühlbar macht: „Was du nicht willst, was man dir tu, das füg auch keinem Andern zu.“ Wir können in Situationen, in denen wir uns verletzt fühlen, unseren Schmerz sichtbar machen und wir können Grenzen setzen, das heißt in Augenhöhe bleiben, aber nicht zurückschlagen. Wenn gerade keine Gemeinsamkeit möglich ist, können wir auf unseren eigenen Weg fokussieren und dort das tun, was gerade wichtig ist. Wir müssen nicht um Im Antlitz der Liebe - 350 - © Gabriele Sych Liebe betteln, Liebe ist freiwillig. Mit dem Zurückschlagen begeben wir uns wieder auf das Spielfeld, auf dem wir nur verlieren können. Wirklich, dort verlieren wir, aber nur jedes Mal. Mit einer Ich-Botschaft können wir uns, unsere Gefühle, unsere Verletzlichkeit zeigen. Wenn wir jedoch mit Worten und Taten versuchen, den anderen zu verändern, mit Wertungen, Du-Botschaften, Urteilen, wenn wir uns über ihn stellen, als ob wir besser wüssten, was das Richtige ist, dann passiert - na, das kennen wir doch, das haben wir doch alle schon erlebt -: Der Andere macht dicht, fühlt sich seinerseits angegriffen und damit gleichzeitig umso mehr im Recht mit seinem Verhalten. Gewonnen hat in diesem Fall nur einer: die trennende Schlange, der Widersacher. Gehen wir auf das andere Spielfeld, das Spielfeld der Liebe, der Vergebung und des Vertrauens in Gottes Führung, damit lassen wir uns als erstes selber frei. Damit wir auf dem Spielfeld der Liebe bleiben können, sagt er uns überdeutlich in 5. Mose 32 (Lutherbibel 1984): 31 Denn unserer Feinde Fels ist nicht wie unser Fels; so müssen sie selber urteilen. (Wer selber urteilt, überlässt das Urteil nicht Gott, sie maßen sich das Urteil selbst an – die Erbsünde), 32 Denn ihr Weinstock stammt von Sodoms Weinstock und von dem Weinberg Gomorras; ihre Trauben sind Gift, sie haben bittere Beeren, 33 ihr Wein ist Drachengift und verderbliches Gift der Ottern. (Das Urteilen ist das Gift des Widersachers. Wer Traube seines Weinstocks ist, bringt bittere Trauben, erfährt Bitterkeit.) 34 Ist dies nicht bei mir verwahrt und versiegelt in meinen Schatzkammern? 35 Die Rache ist mein, ich will vergelten zur Zeit78, da ihr Fuß gleitet; denn die Zeit ihres Unglücks ist nahe, und was über sie kommen soll, eilt herzu. (Wenn sie selbst nicht auf der „Täterseite“, sondern auf der „Opferseite“ sind innerhalb des „dualen Erlebens“. Das kommt so sicher, wie das Amen in der Kirche)36 Denn der HERR wird seinem Volk Recht schaffen, und über seine Knechte wird er sich erbarmen. (Wer in Gottes Augen recht handelt, rechtschaffen ist, der wird nicht dem „dualen Erleben“ ausgesetzt, klar! Doch können wir selbst in jeder Situation wissen, ob wir es sind oder der Andere? Steht uns das Urteil zu oder Gott?) ) Denn er wird sehen, dass ihre Macht dahin ist und es aus ist mit ihnen ganz und gar. (Im „dualen Erleben“ wird jeder sein Handeln erkennen können, wenn er auf der „Täterseite“ war und anschließend auf der „Opferseite“ ist.)37 Und er wird sagen: Wo sind ihre Götter, ihr Fels, auf den sie 78 In der griechischen Übersetzung wird das Wort ανταποδωσω = antapodoso benutzt, das auch „gegenteiliges bewirken“, „entsprechen lassen“, „entgegengesetzt schaffen“ heißt. Das „duale Erleben“, das Gott schafft, ist in dieser Wortbedeutung nachvollziehbar, auffindbar. Im Antlitz der Liebe - 351 - © Gabriele Sych trauten, 38 die das Fett ihrer Schlachtopfer essen sollten und trinken den Wein ihrer Trankopfer? Lasst sie aufstehen und euch helfen und euch schützen! (Wird in diesem Moment der Widersacher, der Herr der Lieblosigkeit, aufstehen, ihm zur Seite stehen und ihm helfen und ihn schützen? Wohl kaum, die Lieblosigkeit gilt von dessen Seite jedem! Der Widersacher tritt im entscheidenden Moment hämisch grinsend beiseite und lässt ihn – plumps - ins Leere fallen.) 39 Sehet nun, dass ich's allein bin und ist kein Gott neben mir! Ich kann töten und lebendig machen, ich kann schlagen und kann heilen, und niemand ist da, der aus meiner Hand errettet. (Gott steht uns auf beiden Seiten zur Seite, weil allein er uns hilft, auf den Weg der Liebe zu finden. Schlagen bedeutet, „auf die Opferseite stellen“, heilen (Leben schaffen) bedeutet, durch die Erfahrung des „dualen Lebens“ auf der Opferseite uns heilsames Denken und Handeln beizubringen). Der Urtext klingt zunächst natürlich rabiat, doch wenn ich ihn aus der Perspektive des Verständnisses des „dualen Erlebens“ lese, das nur Gott bewirken kann und will, damit ♥ wir selbst auf dem Weg der Liebe bleiben können ♥ wir uns nicht die Hände schmutzig machen müssen, ♥ wir nicht auf das Verlierer-Spielfeld müssen, d.h. ♥ wir nicht erst eine reinkriegen und dann noch zusätzlich verlieren müssen, ♥ das auch wirklich stimmt und der andere nicht nur einer unserer fixen Ideen zum Opfer fällt. dann ist mein Gott doch ganz der liebe Gott und kein strafender. Er klingt vielleicht ein wenig genervt, vielleicht waren die damals genauso wenig wach wie wir… oder vielleicht entspricht das eher dem kulturellen Pathos dieser Gegend und dieser Zeit. Santiago sagt von sich „Soy espiritual pero no huevon!“ (“Ich bin spirituell aber ich eiere nicht herum/bin kein Weichei!“. Auf Jesus kann diese Aussage auch zutreffen. Er war klar, machte klare Ansagen, handelte konsistent zu seinen Ansagen und konsequent. Man konnte sich an ihm reiben, wenn man sich an der Wahrheit rieb. So können wir auch sein: Klar in den Worten und wahr im Handeln, doch was der Andere daraus macht, das stellen wir ihm frei. Leben wir zunächst Gottes Reich im Innern, dann in unserem engsten Kreis. Schritt für Schritt, jeder in seinem eigenen Tempo. Seien wir wie ein Stein, der ins Wasser fällt und dessen Sein und Handeln durch die Anregung anderer sich wie die Wellen ausdehnt. Im Antlitz der Liebe - 352 - © Gabriele Sych Wenn es heute noch nicht geht, zwingen wir uns nicht dazu, kritisieren uns nicht (machen uns nicht selber fertig!). Seien wir sanft mit uns. Wir beginnen als Kinder in Gottes Reich, lassen wir das Pflänzchen nicht an unseren eigenen hohen Ansprüchen eingehen. Tun wir es nur, wenn wir es mit Liebe können, wenn wir es wollen. Ansonsten bitten wir darum, es lieben zu können. Vielleicht brauchen wir einfach nur noch ein wenig mehr Ruhe und Entspannung. Vielleicht brauchen wir selbst noch ein wenig mehr liebevolle Zuwendung, ein paar Gottes-Erfahrungen mehr. Es ist immer Zeit da, diesen Zwischenschritt einzulegen und diese Bitte wahr werden zu lassen. Ich kann aus Erfahrung sagen: das ist ein wahrer, ein guter Anfang. Nehmen wir die Anderen dadurch auf den Weg mit, dass wir ihn gehen und durch unsere Liebe, unsere Begeisterung und unsere Erlebnisse in ihnen die Einsicht wächst - oder sie uns auf dem anderen Weg vermissen. Kritisieren, zwingen und kontrollieren – das ist nicht der Weg der Liebe. Wenn wir gefragt werden, dürfen wir natürlich unser subjektives Feedback geben, doch erst dann. Alles, was ich schreibe, ist immer eine Einladung, keine Verhaftung, keine Drohbotschaft, keine Kritik, keine Ermahnung, immer eher ein Bild meines persönlichen Brennens, meiner Begeisterung für den Weg der Liebe, vielleicht ein Weckruf für diesen Weg. Und wenn ich bisher anders verstehbar war: Ich bitte um Nachsicht! Bin selber noch am Üben, schon einigermaßen verstanden, aber noch kein Meister. Doch vielleicht ist es auch so: Wenn Sie dieses Buch freiwillig lesen und bisher nicht aus der Hand gelegt haben, wollen Sie dann nicht gerade meine Rückschlüsse aus meinen Erfahrungen wissen? 2.2.1.6 Gott Raum schaffen Eine andere wichtige Aufgabe besteht darin, Ihm den Raum zu geben, auf uns zuzukommen. Und komisch, ein paar Nächte vor der ersten Tour nach Bad Wilsnack hatte Er mich gefragt: „Wie würdest du denn empfinden, geliebt zu werden, wie würdest du fühlen, von mir geliebt zu werden?“ Und aus tiefstem Herzen hatte ich geantwortet: „Ich würde es daran spüren, dass die Menschen und die Dinge auch auf mich zukommen, mich einladen, zu mir kommen, ich erwünscht bin.“ Und er gab mir dann auf der Wanderschaft zu verstehen: „Dann höre auf, auf die anderen zu intensiv zuzugehen und gib ihnen genauso auch die Möglichkeit dazu, zu dir zu kommen. Gib uns den Raum, auf dich zuzugehen. Wenn du immer auf alles zugehst oder dein Leben, dein Kopf zu voll ist, kannst du Im Antlitz der Liebe - 353 - © Gabriele Sych die Erfahrung nicht machen. Du hast momentan so viel zu tun, um deine Basis neu einzurichten, da hast du gar keine Zeit dazu, große neue Dinge mit der angemessenen Aufmerksamkeit zuzulassen. Es gibt immer genug Zeit. Überlege dir, was momentan aktuell ansteht, schau dich um und erledige es. Und wenn dann Raum ist, dann kann das Andere auf Dich zukommen. Keiner will dich überfordern und alle Dinge wollen gern in Liebe getan werden.“ Und so gab ich Ihm den Raum, für mich zu sorgen, indem ich nicht für mich sorgte. In der ersten Nacht fand ich ein wunderbares Bett im Stroh. Zum genau richtigen Zeitpunkt war da ein Heuschober, in dem ich wunderbar geschützt und superweich auf meinem Strohbett schlafen konnte. In der zweiten Nacht schlief ich im Gästezimmer der katholischen Kirche in Fehrbellin, das auf demselben Flur wie die kleine Kirche lag, direkt im Hause des Herrn. Diese Übernachtung hatte mir übrigens Schwester Anneliese bestellt… Und auch der dortige Diakon war schon wie wir in Lourdes gewesen. Wir hatten ein sehr intensives Gespräch über das Pilgern. Der Diakon fragte mich, warum ich mich für die katholische Kirche entschieden hatte. Meine Antwort war diese: „Ich bin in meinem Herzen mehr berührt, ich fühle mich in der Gemeinschaft der Gläubigen besser aufgehoben, die rituellen Gottesdienste erreichen mich auf einer tieferen Ebene. Und zum Anderen: mir ist das weibliche Element der Heiligen Jungfrau Maria wichtig. Sie fehlt mir in der evangelischen Kirche. Die Mutter ist das Tor zur Welt und sie ist elementar wichtig, weil Mütterlichkeit genauso wichtig ist wie Väterlichkeit.“ Der Diakon meinte dann: „Es ist schön, wenn ein Mensch das ausspricht, was man tief im Herzen spürt…“. Er gab mir als Nachtlektüre sein wunderbares Buch zu lesen, dass von all den vielen Weisen handelte, wie die Menschen mit Gott und der Welt unzufrieden sind „In der Bibel steht’s geschrieben“. Eine sehr wichtige Form, Ihm Raum zu geben, ist es, die eigenen Gefühle von Schwäche und Unzulänglichkeit, von Angst und Nicht-Vertrauen ihm und sich eingestehen können. Denn in diesem Moment kann Er uns helfen, das Vertrauen wieder zu gewinnen und ihn wieder besser verstehen zu können, uns helfen zu lassen. Gott will uns dienen. Er kann uns am besten dienen, wenn wir seine Hilfe auch brauchen. Wenn wir mutig unseres Weges gehen, ohne Bedenken, dann brauchen wir ihn nicht so sehr, als wenn wir mit vor Angst schlotternden Knien den Weg gehen. Daher können wir uns an immer für uns Im Antlitz der Liebe - 354 - © Gabriele Sych mutigere Dinge heranwagen, speziell so kann Gott uns mit seiner Stärke begleiten, wir können Ihn seine Stärke ausspielen und für Viele augenscheinlich machen. Wir beide sind uns einig, dass für uns der Portugiesische Weg der Eindrucksvollere war. Das lag nicht an der Landschaft, die sowohl in Spanien wie auch in Portugal uns Augen, Herz und Seele erfüllte. Den spanischen Jakobsweg will ich mal vergleichen mit einem festen Monatsgehalt, mit dem wir in jedem Monat eben fest rechnen können. Der spanische Jakobsweg ist exzellent organisiert und schon mit unserer Liste der Herbergen waren wir sicher, alle paar Kilometer unterkommen zu können, einfach ankommen ohne zu fragen, einfach erst unser Credencial und dann den Rucksack auspacken. Auf dem Portugiesischen Weg in Portugal waren wir jeden Abend darauf angewiesen, an einem fremden Ort etwas zu finden – ohne die Gewissheit zu haben, dass dort für den Pilger schon etwas vorbereitet ist. Wir waren auf die Barmherzigkeit der Menschen, der Kirche, der Feuerwehr, des Volkes angewiesen und so war jedes Finden wieder ein Moment großer freudiger Erregung, Dankbarkeit und Begeisterung, das Gefühl, wieder die Gnade Gottes zu erfahren. Vielleicht ist das ohne Pilgererfahrung schwer nachzuvollziehen. Doch hier im Alltag ist es dasselbe: In jedem Monat, den ich als Selbständige - vor allem jetzt ohne Preisliste, ohne finanzielle Forderung - ein Einkommen habe, ohne am Monatsanfang zu wissen, woher es denn kommen mag, fühle ich mich wieder in Gottes Gnade, ist überschäumende Dankbarkeit, Freude und Begeisterung da, dass für mich gesorgt wird. Das feste Monatsgehalt mag zwar eine Beruhigung sein, das lebendigere Leben, das intensivere Gottesempfinden hat man jedoch ohne diese Sicherheit. So hat er jeden Monat den Raum und die Chance, uns zu zeigen, dass er da ist. Ein weitere Form des Raumgebens ist unser innerliches oder nach Außen gerichtetes Ausdrücken der Bereitschaft zur Nachfolge oder zumindest, ein bestimmtes Vorhaben mit Jesus Christus zu tun. Dazu gehört auch Geduld, Demut und das Vertrauen, dass mit Gott alle Dinge möglich sind, auch wenn am Horizont nichts erkennbar ist – wie bei dem kleinen Ort Hontanas in der Meseta. Durch meine frische, dynamische und erlebnisreiche Annäherung an Jesus im Frühjahr vor dem Pilgern festigte sich in mir der Wille, auf das Handauflegen im christlichen Kontext umzusteigen, zur Quelle des Christentums zurückzukehren. Ab diesem Zeitpunkt geschahen, im Rückblick für mich erst erkennbar, immer mehr Zeichen, die darauf hindeuteten, dass dies nun auch geschehen würde. Mein Laptop ging kaputt, alle Daten gingen verloren. Wenn ich damals schon umgestiegen wäre, hätte ich all die Daten auch einfach nicht mehr gebraucht. Auf der Reise hätte ich vielleicht schon von Anfang an stärker nach der neuen Methode nachfragen können, anstatt die alte aus Gewohnheit zu verwenden. Direkt nach der Im Antlitz der Liebe - 355 - © Gabriele Sych Rückkunft hätte ich mich allein diesem Bestreben widmen können, anstatt im alten System noch eine wirtschaftliche Versorgung als Cash Cow zu suchen. Ich habe Schritt für Schritt alles Alte losgelassen und mich inzwischen vollständig auf das Neue eingestellt. Oft frage ich mich, ob ich nicht, wenn ich früher konsequenter und mutiger gewesen wäre, die Zeichen der Zeit erkannt und angenommen hätte, schon viel früher in den Genuss dieser Gnade, dieses segensreichen Schaffens gekommen wäre. Ja, ich denke, es hätte mich bereits viel früher getragen und mir wohl diverse schmerzhafte Zusammenstöße mit dem Sackgassenschild erspart. Einsicht sprudelt in mir nur allmählich…doch die Erkenntnis ist eindringlich. Oft hindert uns Angst – bis hin zu Panik – daran, Gott Raum zu schaffen durch Leere in unserem Leben und unserem Kopf. Auszuhalten, wenn wirklich nichts da ist, das Leben sich entfalten lassen. Das ist der Moment, in dem wir am meisten in der Lage sind zu empfangen – eben weil wir leer sind und damit bereit für unerwartete Gaben. 2 Samuel 22 (Lutherbibel 1984) 33 Gott stärkt mich mit Kraft und weist mir den rechten Weg. 34 Er macht meine Füße gleich den Hirschen und stellt mich auf meine Höhen. … 37 Du gibst meinen Schritten weiten Raum, dass meine Knöchel nicht wanken. Und auch unser Inneres will ihm geöffnet sein. In einem Vortrag über Jesus wurde ein Bild gezeigt, dass Jesus klopfend vor einer Tür zeigte. Uns wurde erklärt, dass Jesus erst eintritt, wenn wir ihm freiwillig die Tür von Innen aufmachen. Mein Leben ist seit Santiago eine Herausforderung, weil es ja so viel zu Lernen gibt, wie ich eben mit Gott lebe. Durch die Inszenierungen auf meiner Lebensbühne passiert enorm viel, und manches ist anfangs nicht leicht zu verstehen, es, Er schüttelt mich auch immer wieder, damit danach wieder etwas neu in die Ordnung fallen kann. Und anfangs mag es genügen, ihm die Tür aufzumachen. Doch irgendwann will Jesus uns auf ganzer Ebene uns erreichen und klopft an allen unseren Zimmertüren, bis wir ihn einlassen. Auch andere Menschen begannen, Gott Raum zu schaffen. Im Laufe der Zeit hatte ich mehrere Räume, in denen ich praktizierte, die mir andere Menschen kostenfrei zur Verfügung stellten. In einem davon standen vier Bilder stehen, die nicht mir sondern dem Raumspender gehörten, die ich dort aber gerne hatte. Es waren darunter drei Holzschnittte: Die Ankündigung des Engels bei Maria, Jesu Geburt und Jesus und die Kinder. Und ein Bild, das Jesus klopfend vor der Tür zeigte. An einem Wochenende war ich mit Jesus in einer Heilungssitzung, in der er mir klar machte: „Du hast mir zwar deine Haustür Im Antlitz der Liebe - 356 - © Gabriele Sych geöffnet, aber es gibt einfach bei dir noch so ein paar Rumpelkammern, an die du mich nicht ranlässt, die du schön verschlossen hälst. Wenn du dieses Thema heilen willst, dann musst du mich auch in deine Rumpelkammern lassen.“ In einer Geste der Verzweiflung ob meiner Heilungsbedürftigkeit reichte ich ihm einen Schlüssel und sagte: „Ok, hier ist mein Generalschlüssel. Nimm und schließ alles auf, was Du willst. Wir werden alle Rumpelkammern aufräumen, wenn das notwendig ist.“ In den Wochen danach kamen auch ein paar richtig „eklige“ Themen an die Oberfläche. Ich wanderte durch ein paar finstere Täler, Schattentäler meiner Seele: Opferbewusstsein, Umgang mit starkem Willen anderer, Selbstbetrug durch Anpassung, bestimmte Themen aus der Liebe heraushalten wollen, doch „Er war bei mir, sein Stecken und Stab schützten und trösteten mich.“ Doch am Tag nach dieser „Schlüsselübergabe“ kam ich in den Praxisraum und das Bild mit Jesus vor der Tür war weg. Ich brauchte es nicht mehr. Ich verstand nun, dass es vorher tatsächlich für mich dort gestanden hatte. Nach ein paar Tagen traf ich meinen Raumspender und fragte ihn nach dem Bild. Er sagte, er wäre an dem Wochenende zu Exerzitien in einem Kloster gewesen und hätte dort innerlich das Bild gesehen. Nun wollte er sich dran machen, das mit der Tür zu optimieren. Daher hatte er das Bild zu sich geholt. Exkurs: Aus dieser Geschichte kann man noch mehrere Dinge erkennen: ♥ Was da ist, ist tatsächlich für uns. ♥ Wenn wir ein Thema erledigt, uns verändert haben oder eine Entscheidung getroffen haben, dann ist er in der Lage, in anderen Menschen und unserer Umgebung sogleich etwas auszulösen. ♥ Wir sind auf so komplexe Weise miteinander verbunden, dass mein Raumgeber und ich zum gleichen Zeitpunkt das gleiche Thema bearbeiteten. Ich habe das Thema abgeschlossen und er hat sich im gleichen Moment diesem Thema zugewandt. ♥ Wie gigantisch kann man sich das vorstellen, wie Gott unseren Partner neu führen kann, wenn wir uns selbst in seinem Sinne verändern! Im Antlitz der Liebe 2.2.1.7 - 357 - © Gabriele Sych Obras - Werke Ja, Jesus wünscht sich unsere Werke. Wer nur ganz wenig offensichtlich tun kann, der kann es inwendig tun, da möchte ich an die große Theresa und die kleine Theresa erinnern. Die große Teresa, die Spanierin Teresa von Ávila lag lange Zeit danieder, wurde schon fast für tot gehalten, erlernte in dieser Zeit das innere Gebet in aller Tiefe und gesundete. Sie gründete den Orden der unbeschuhten Karmeliterinnen und darin insgesamt 17 Klöster. Sie schrieb viele Bücher, die den Weg zu Gott beschrieben. Sie rief zu Werken auf und sagte: „Bete nicht um leichtere Lasten, sondern um einen starken Rücken.“ Die kleine Teresa, die junge Französin Therese von Lisieux, war selbst häufig krank und verstarb schon mit 24 Jahren. Gerade in ihrer Armut, sowohl geistlich wie körperlich, sah sie die Chance, sich – mit leeren Händen vor Gott stehend – sich von ihm alles schenken zu lassen. Aus dieser Armut wuchs in ihr die Barmherzigkeit und ihre Werke waren die Fürbitte und der Lehre ihres „kleinen Weges“ für andere. Die allerkleinsten Dinge in Liebe tun. Auch im Stillen sitzen und für andere Beten ist ein Werk. Beide wurden zu Kirchenlehrerinnen ernannt. Doch so lange wir können, können wir auch genauso gut unsere Zeit und unsere Schaffenskraft christlichen Werken widmen, da erinnere ich wieder an die Worte von Parocco López Losada aus Triacastela: „Um eine bessere Welt zu schaffen, werden wir alle gebraucht.“ Eines Tages fiel mir in der Kirche aus einem Gesangbuch ein kleiner Zettel mit folgendem Text entgegen, ich kenne da keinen Autor etc. Christus hat keine Hände, nur unsere Hände, um seine Arbeit heute zu tun. Er hat keine Füße, Im Antlitz der Liebe - 358 - © Gabriele Sych nur unsere Füße, um Menschen auf Seinen Weg zu führen. Christus hat keine Lippen, nur unsere Lippen, um Menschen von Ihm zu erzählen. Er hat keine Hilfe, nur unsere Hilfe. Wir sind die einzige Bibel, die die Öffentlichkeit noch liest. Wir sind Gottes letzte Botschaft, in Taten und Worten geschrieben. Jesu Unterscheidungsmerkmal in Matthäus 25 79 (Lutherbubel 1984) wird sein: 40 Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan… 45 Was ihr nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan. Jesus nennt, so wie ich es verstanden habe, auch die Werke die Früchte als Ausdruck liebenden Handelns, die ein Mensch bringt. Er wünscht sich immer wieder, dass wir diese Früchte hervorbringen, als die, die am wahren Weinstock angewachsen sind (siehe Johannes 15 in Kapitel 2.2.1.3 Jesus Anleitung zur Liebe in den 7 Ich-Worten) Warum es nicht tun? Sich die Frage stellen: Bin ich hier, um MICH, MIR, MEIN zu mehren, um mein Potenzial zu meinem eigenen Nutzen auszuleben oder dem Ganzen zu nützen, das Ganze zu fördern, am Ganzen teilzuhaben? Mein Potenzial, meine Talente zum Besten, zum Nutzen aller Menschen, und hier vor allem den Schwachen, zur Verfügung zu stellen? Denn ich habe einmal zu den Schwachen gehört und irgendwann werde ich auch wieder zu den Schwachen gehören. Eine kontinuierliche Liebespraktik… Sich auf diese Werke etwas einzubilden oder sie mit der Intention zu vollbringen, um etwas zu erreichen, wenn ich A mache, dann folgt B, hilft nicht. Wir brauchen niemanden beweisen: ich habe das und das und das getan, daher gehöre ich zu den „Guten“ oder „jetzt habe ich mir das Himmelreich aber verdient“. Ersparen wir uns das durch Demut. 79 Der gesamte Text dieser Bibelstelle befindet sich in 2.1.4.8 Aufwachen: Die Welt mit dem Herzen sehen Im Antlitz der Liebe - 359 - © Gabriele Sych Es geht darum, dass wir hinterher wahrhaftig aus ganzem Herzen „Gern geschehen!“ sagen. Und auch Pilgern ist ebenso ein Werk, das habe ich unterwegs wirklich gemerkt, das ist ist auch durch die Botschaft von Lourdes und Fátima. Der Ruf nach Penitencia, nach Buße. In der Kirche von Albergaria-a-Velha erhielt ich diese persönliche Botschaft von Maria: „Jeder Kilometer, den ihr lauft, jeder Rosario, den ihr betet, kommt der Welt zugute, weil es ein Akt des Glaubens ist, zu keinem anderem Nutzen als dem Leben des Glaubens an Gott.“ Buße zum Guten aller Menschen war eine der Botschaften der Kinder aus Lourdes und Fátima, uneigennützige Werke. Luther spottete über Santiago de Compostela: "Lauf nicht dahin, man weiß nicht, ob Sankt Jakob oder ein toter Hund daliegt". Der Pilger widmet diese Lebenszeit nur Gott, nur der Erfahrung von Gott. Er macht sich schwach, mittellos (jedenfalls fast) und heimatlos z. B. wie Olivier aus Albi, unseren Engel des Rosarios, um Gott und seine Gnade in dieser Welt erfahren zu können. Und er macht die Erfahrung, wie es sich anfühlt, wenn man so lebt und entfacht dadurch seine eigene Hilfsbereitschaft, da erinnere ich an unsere Begegnung mit Christophe in Buzy. Der Pilger setzt sich Gefahr und den Naturgewalten aus, wie sie kommen. Er gibt die Kontrolle auf. Er verschafft sich und Gott Zeit und Raum für gemeinsame Sinneserfahrung und dafür, die eigene Umkehr im Leben anzugehen. In der Regel kommt der Pilger mit einem prall gefüllten Rucksack an neuen Erfahrungen zurück, wie gut es sein kann, wenn man vertraut. Er hat darüber hinaus auch etwas von Jesu Weg erfahren gemäß Lukas 9 (Lutherbibel 1984): 58 Der Menschensohn aber hat nichts, wo er sein Haupt hinlege. 2.2.2 Das Leben sich entfalten lassen Häufig sahen wir auf dem Weg Pilger, vor allem Deutsche, die mit einem Reiseführer unterwegs waren, auf dem Weg sich immer danach richteten, ihn auf dem Weg in der Hand hielten und in den Herbergen darin lasen. Um ehrlich zu sein: ich hatte das auch vorgehabt. Doch Santiago war schon in der Vorbereitungszeit strikt dagegen: „Das Ziel ist doch klar: Santiago. Ich will keinen Camino aus zweiter Hand erleben, so wie ein anderer ihn schon gelaufen ist und aufgeschrieben hat. Ich will meinen ganz individuellen Weg laufen und selber sehen und finden, was für mich da ist.“ Also liefen wir ohne Buch, nur nach den gelben Pfeilen und Jakobsmuscheln. Für Frankreich hatten wir noch eine Karte und in Im Antlitz der Liebe - 360 - © Gabriele Sych Spanien zwei Zettel, einen mit den Höhenprofilen der Etappen, den anderen mit den Herbergen. Für den portugiesischen Weg bekamen wir im Pilgerbüro in Santiago de Compostela eine Liste der Orte, durch die wir kommen würden. Wir haben den Weg gefunden, jeden Tag von neuem, wir sind so weit gelaufen, wie wir wollten oder konnten, oder sogar noch weiter… Es machte gar keinen Sinn sich am 10. Tag schon zu wissen zu wollen, wie man die Etappe vom 16. Tag bewältigen würde, wo wir dann schlafen würden und welchen Tag wir in Santiago de Compostela oder Fátima ankommen. Wir hätten ja gar nicht gewusst, wo wir am 16. Tag loslaufen und wo wir ankommen. Und – ehrlich gesagt – im normalen Alltag ist das auch so. Unser Weg beginnt mit unserer Geburt und das Ziel ist der Weg mit Gott, zur Liebe. Wie könnte das jemand planen und vorab in Etappen einteilen? 2.2.2.1 Ziele setzen und Wünschen Auf meiner Pilgertour in Hessen habe ich mir vorab zwei Übernachtungen gebucht, im Kloster in Hünfeld und im Kloster in Fulda, was ich noch nie vorher beim Pilgern gemacht hatte. Wie kam ich dazu? Ich hatte einfach vorher bei den Klöstern nachgefragt, ob sie Pilger aufnehmen und wie viel das kosten würde. Sofort wurde ich gefragt, wann ich denn käme. Ich überschlug mal die Kilometer und nannte einen Tag. Für die erste Wegstrecke hatte ich eine Kilometerangabe, aber nicht für den Tag der Ankunft in Hünfeld, wo ich bis spätestens 18.30 Uhr anzukommen hatte, die Kloster-Pforte würde sonst geschlossen. Ich wusste nur, zwischen Vacha und Hünfeld bis Fulda ist ein Weg mit Jakobsmuscheln markiert. In einem Routenplaner war die Entfernung für Fußgänger mit 27 km angegeben, das ist eine schaffbare Tagesetappe. Ich rechnete mit ca. 30 km oder kurz darüber, das schaffe ich auch. In Vacha fragte ich in einem Buchladen nach, der Buchhändler stempelte auch mein Credencial. Ich befragte ihn über die Strecke und meine vermutete Länge von 30 km. Er sagte, die ersten 10 km wären gut markiert, vielleicht hatte er es selbst getan, und für die restlichen 20 vermutete er dasselbe. Gegen ½ 10 machte ich mich nach einem ausführlichen Rosario auf den Weg. Das Wetter war außerordentlich pilgertauglich, nicht zu heiß, nicht zu kalt. Der Weg war ein einziger Genuss, ein Augenschmaus, toll zu laufen, still, weitab der Straßen. Gottes schöne Welt in Reinkultur!! Gegen Mittag war ich noch nicht in Bremen angekommen. Am Rande des kleinen Ortes Otzbach traf ich auf ein älteres Ehepaar und erzählte ihnen, dass ich auf dem Jakobusweg pilgere. Der Mann sagte: „Na, den Rhönklub kenne ich! Gehen Sie mal an der Wegkreuzung mit dem Holzunterstand rechts den geschotterten Weg nach Bremen und nicht den markierten Weg.“ Noch wusste ich nicht, was er meinte. Aber bald. Im Antlitz der Liebe - 361 - © Gabriele Sych Als ich in Bremen ankam, ich hatte den Wegvorschlag des älteren Herrn nicht umsetzen können, weil ich mir nicht sicher war, da war es schon zwei Uhr durch. Die markierte Hauptstraße in Bremen war eine einzige Baustelle, doch wenn ich da nicht entlang lief, wie sollte ich meinen Weg weiterfinden? Mit den Worten: „Wo kommen SIE denn her?“ sprach mich der Bauleiter an. „Aus Vacha komme ich und will nach Hünfeld!“ „Um Gottes Willen“, sagte er, „was haben Sie sich denn da vorgenommen? Das schaffen Sie nicht mehr heute, das sind noch 25 Kilometer! Kommen Sie, mein Mitarbeiter fährt jetzt nach Geisa, der nimmt sie mit. Und dann laufen sie von dort weiter!“ Eigentlich geht das ja völlig gegen meine Pilgerehre. Doch gerade in diesem Moment setzte ein heftiger Platzregen ein. So ließ ich mich in den Kleinlaster bugsieren und fuhr die 6 km in wenigen Minuten mit nach Geisa. Wundersame Wegvermehrung! Um Klarheit zu gewinnen, wie es von Geisa aus weiter ging, betrat ich im Rathaus das Tourismusbüro. Dort drückte mir der zuständige Bearbeiter einen Kurzprospekt des Jakobusweges von Bremen bis Herbststein in die Hand. Danach waren es noch 20 km bis nach Hünfeld. Ich fragte den Herrn, wie ich denn nun am schnellsten zu Fuß nach Hünfeld käme. Er erklärte mir einen Weg, der nur 15 km lang war, weil ich mir damit Point Alpha und die zugehörige Bergbesteigung ersparen würde. Dann sagte er, in einer Mischung zwischen gönnerhaft und altväterlich: „Die 15 km, die schaffen Sie in einer Stunde! Wir machen das immer so!“ 15 km in einer Stunde! Wie das denn? Das schaffe ich noch nicht mal auf ebener Strecke und ohne Rucksack in einer Stunde, das schaffen olympiareife Geher auf gerader Fläche und ohne Rucksack, aber keine Pilger den ganzen Tag lang! Und hier war Rhön, Mittelgebirge. Nur in Gedanken zeigte ich ihm einen Vogel, ein Pilger ist ja höflich und bescheiden. Es war schon 3 Uhr, als ich das Rathaus verließ. Am liebsten hätte ich jetzt einen Kaffee getrunken. Aber 15 km, da musste ich mich beeilen, es noch bis 18.30 Uhr bis Hünfeld ins Kloster zu schaffen. Ich folgte meinen Notizen. Aber schon nach einem Kilometer fand ich mich damit nicht mehr zurecht, als ich auf der Landstraße die notierte Abkürzung suchte, legte mir innerlich die Karten. Kurz entschlossen gab ich auf und beschloss, zum zweiten Mal an diesem Tag „schummelzupilgern“. Ich hielt den Daumen raus und SOFORT hielt ein rotes Auto. Eine Frau in meinem Alter lud mich ein, mich nach Hünfeld zu bringen. „Wir Katholiken müssen uns untereinander ja helfen!“ sagte sie. Bei Aldi in Hünfeld hätte sie noch was umzutauschen, da könnte sie mich mitnehmen. Ich wollte nicht ganz bis Hünfeld mitfahren, sondern von Haselstein aus weiterlaufen, um nicht zu viel zu schummeln. Sie schlug mir vor, kurz mit zu ihr nach Hause zu kommen. Wir könnten ja noch einen Kaffee trinken, sie sagt dann ihrem Mann Bescheid und dann ginge es weiter. Super, Kaffeepause, das war ganz in meinem Im Antlitz der Liebe - 362 - © Gabriele Sych Sinne, auch meine unausgesprochenen Wünsche werden immer wieder erhört – was man so braucht! Hilfe von Glaubensgenossen! Während der Kaffeepause, sogar mit Kuchen, erfuhr ich, dass sie auch längere Zeit in Berlin gelebt hatte und im Krankenhaus Friedrichshain als Krankenschwester gearbeitet hätte, das sind sogar nur ca. 2 km Luftlinie von meiner Wohnung, Sie kannte auch einen der Mönche im Kloster Hünfeld und trug mir auf, ihn zu grüßen, falls ich ihn sähe. Wir fuhren wieder los, sie setzte mich in Haselstein ab. Das war eine schöne Begegnung, danke! Von Haselstein sollten es laut Plan nochmals 9 km sein. Das würde ich schaffen, ich hatte ja eine erholsame Pause gehabt. In Haselstein brauchte ich eine Weile, um meine Markierungen wieder zu finden, lief fast zweimal um den Berg herum, bis mir klar war, wo der Weg weiter ging. Ein Stück hinter Haselstein traf ich auf einen Wegweiser: nach Haselstein 1,2 km und nach Hünfeld entweder 5,5 km oder 6,7 km als Fahrradweg über Großenbach. OK, 5,5 km, den nahm ich, noch etwas über eine Stunde. Der Weg war unfassbar schön, Wald, Bergwiesenblumen und Gräservielfalt satt , weich geschwungene Bergkuppen in der Distanz, ein, Panoramaausblick zum Sattsehen, Natur so weit man blicken konnte, die Wegführung weitab von Straßen und Ortschaften. Gott und die Welt: Ein Traum! Nach einer Stunde kam ich an einen anderen Wegweiser. Hier waren es 5,5 km bis nach Haselstein und 4,5 km nach Hünfeld. Ich war doch nicht nur einen Kilometer gelaufen! Wiederum wundersame Wegvermehrung. Nur sehr schade, dass ich immer wieder zwischendurch, anstatt nur zu genießen, innerlich mit dem Weg, der wundersamen Wegvermehrung und dem Herrn in Geisa rumzickte. Wirklich schade! Da wurde mir bewusst: Wenn ich mich wieder, wie sonst, mich ohne festes Ziel allein dem Weg hingegeben hätte, dann wäre der Tag viel stressfreier, viel, viel schöner gewesen und ich hätte alles noch viel mehr genießen können. So kann es kommen. Wenn wir den Weg nicht kennen, dann können wir auch Im Antlitz der Liebe - 363 - © Gabriele Sych das tägliche Zwischenziel und die Etappe nicht von uns aus festlegen. Es ist ja so! Wir kennen den Weg unseres Lebens nicht, wir wissen ja gar nicht, was alles dazu gehört, welche Zwischenschritte, welche Ausblicke und Perspektiven, welche Erfahrungen. Vielleicht werden wir an etwas ganz besonders Schönem vorbeigeführt, zu purem Genuss, wofür wir Zeit brauchen. Er kann irgendwo eine wichtige Lektion, eine bedeutsame Begegnung für uns bereithalten. Es mag zwar nicht auf dem direkten Weg zwischen A und B liegt, sondern in der Nähe. Doch anscheinend sollen wir es auf keinen Fall verpassen sollten. Leben ist jetzt. Auf jeder Etappe, an jedem Tag. Jede Etappe ist wichtig, jeder Tag ist wichtig, Genauso wichtig wie die Zieletappe, genauso wichtig wie der Zieltag. Erst um 18.00 Uhr konnte ich Hünfeld von oben sehen. Da ich um einen großen Gefängniskomplex herumlaufen musste, war ich erst kurz nach 18.30 Uhr in Hünfeld. Ja, das war mir auch ein Zeichen. Wir sperren uns manchmal in unseren Zielen wie in einem Gefängnis ein. Haben dann keine Chance auf Rundumblick, um vollständige Wahrnehmung, nach rechts oder links zu schauen, nur ein kleines Fensterchen nach draußen… Im Zentrum von Hünfeld angekommen tauchte neben mir ein Steinkreuz aus rotem Sandstein auf. In goldenen Lettern stand auf dem Sockel: Es ist vollbracht! Bitte halte mich keiner ob der Kreuzigung Jesu für pietätlos, doch in diesem Moment prustete ich los vor Lachen. Es war mir, als ob Jesus mir von dort oben zuzwinkerte und flüsterte: „So, es ist vollbracht. Hast’s endlich geschafft für heute!“ Mehr als 9 Stunden unterwegs, da ich ja ein Stück vor Vacha geschlafen hatte. Später sah ich mir im Routenplaner nochmals die Route an: fast 50 km, d.h. ich war trotz meiner Schummelpilgerei ca. 35 km gelaufen, eine kapitale Etappe. Auch mein Körper sagte mir an diesem Abend ebenfalls deutlich Bescheid, weil ich – wie schon einmal auf der Wilsnack-Tour – einen steifen Hals bekam. Auch dort konnte ich aus Zeit- bzw. Kilometerdruck, damals von Santiago, nicht mehr rechts noch links schauen. Dabei geht es doch gerade Im Antlitz der Liebe - 364 - © Gabriele Sych beim Pilgern um das umfassende Erleben von Gottes schöner Welt: Wachsein, sie wahrnehmen, sie erfahren. Ich bat um Heilung. Für den Rest der Tour nahm ich innerlich den Fuß vom Gas, um mir mehr Zeit für all das zu nehmen, was Gott mir zeigen wollte. Und das war sehr viel! Und was hatte es mit den Markierungen des Rhönclubs auf sich, die der Herr bei Otzbach ansprach? Man merke den feinen Unterschied: Ich pilgerte den Jakobusweg, der durch den Rhönclub markiert ist als ein Weg, der die Spuren des Jakobus/Santiago in der Region aufzeigt, was mir vorher nicht klar war und was im Internet auch so nicht beschrieben war. Und der Rhönclub markiert anscheinend die schönsten Wege. Das bedeutet, dass der Weg mit vielen Schleifen zu jeder noch so kleinen Jakobusfigur oder Jakobuskirche in der Umgebung führt, darüber hinaus viele andere religiöse Stationen aufsucht wie Mariengrotten und -kapellchen, Steinkreuze, Orte der lokalen Volksfrömmigkeit wie den Steinhauck in Rothemann. Wer ihn als Jakobsweg, als Zubringerweg nach Santiago de Compostela benennt oder sieht, der wird hier viele Umwege hinnehmen müssen und viele Berge hochklettern, die dafür "nicht sein müssten". An einem Gartenzaun nahe Döllbach sagte mir ein Mann, der ein Teilstück markiert hatte: "Ob das nun der alte Weg ist, das weiß ich nicht. Aber wenn in Büchenberg eine Jakobuskirche ist, da muss man den Weg doch da auch vorbeiführen." In Strecke gerechnet waren das statt notwendiger 3 km schon mal 7 km, ganz nach dem Motto: die Rhön ist schön... Ist sie auch, ganz gewiss! Auf dem Weg steht nahe Oberweißenbrunn am Jakobsbrunnen als Entfernung nach Santiago: 2385 km. Wenn alle so den Jakobsweg markieren würden, dann wären es vielleicht 4000 km nach Santiago... „Mein“ Teilstück des Jakobusweg lohnte sich sehr als lokaler Pilgerweg, auf dem sich hier vor Ort schnell durch ein Einlassen auf die Frömmigkeit vor Ort erfüllende Tage erleben ließ, je intensiver, je mehr man sich entschleunigte und geschaffte Kilometer keine Rolle spielen. Ich wollte ja diesmal gar nicht nach Santiago! Auf diesem Jakobusweg konnte ich direkt hier vor Ort "ankommen" und erleben, was ich für meine Seele brauchte. Ich vollzog die Erfahrung des Herrn Goethe nach: Willst du immer weiter schweifen? Sieh, das Gute liegt so nah. Lerne nur das Glück ergreifen, Denn das Glück ist immer da. Wenn wir jedoch die Augen permanent auf ein Ziel, eben auf unser persönliches Santiago gerichtet haben, sind wir wohl schnell mal konfrontiert von wundersamer Wegvermehrung und überraschenden Im Antlitz der Liebe - 365 - © Gabriele Sych Wundern am Weg, so viel Gnade kann vor unseren Füßen ausgebreitet werden. Die Führung Gottes ist so fantastisch, das durfte ich erfahren, doch eigene Ziele lassen uns mit dieser Führung, diesen Wundern sogar unzufrieden werden, sie können zu bitteren Enttäuschungen führen. Diese Unzufriedenheit, diese Enttäuschung schaffen wir uns selbst. Lassen wir uns durch jeden einzelnen Tag führen! Beim Pilgern, in unserer Arbeit, in unserer Beziehung, in unserem Glauben... Ich selbst hatte in diesem Jahr ein Wunschziel gehabt, es jedoch nicht erreicht. Es stimmt, ich war enttäuscht gewesen, vielleicht habe ich zu wenig genossen und gewürdigt, was tatsächlich da war, vielleicht habe ich sogar einiges verpasst in meiner Orientierung auf mein Ziel. Ab diesem Zeitpunkt war die Enttäuschung wie weggeblasen und ab diesem Zeitpunkt habe ich mir mein Leben leichter gemacht. Was war das Endziel dieses Weges? Statt Santiago, der Stadt des Apostels der Spanier, war es diesmal Fulda, der letzten Ruhestätte des Heiligen Bonifatius, den man auch den Apostel der Deutschen nennt! Es geht gar nicht darum, uns selbst so weit in die Zukunft zu werfen, die doch in Gottes Hand liegt. Was wir in der Hand haben, ist eine „ab heute“-Entscheidung, ein Prinzip anzuwenden. En volles Commitment, ein ausschließliches Ja zu einer Haltung, einem Glauben, einer Aufgabe, einer Person, einer Lebensweise. Vollendete Hingabe - wie katholisch Heiraten - bis dass der Tod uns scheidet, in guten wie in schlechten Tagen keine Lebensabschnittspartnerschaft, kein Versuch, kein sowohl als auch, kein "Schaun wir mal". Paulo Coelho hat dies in seinem Buch „Der Alchimist“, Diogenes Verlag, so beschrieben: "Bevor ein Traum in Erfüllung geht, prüft die Weltenseele all das, was auf dem Weg gelernt wurde. Sie macht das nicht aus Bosheit, sondern damit wir mit unserem Traum auch die Lektionen in Besitz nehmen, die wir auf dem Pfad dorthin gelernt haben. Das ist der Moment, wo die meisten aufgeben. In der Sprache der Wüste nennen wir das "verdursten, wenn die Palmen am Horizont sichtbar werden". Im Antlitz der Liebe - 366 - © Gabriele Sych Eine Suche beginnt immer mit dem Anfängerglück. Sie endet immer mit der Prüfung des Eroberers." Schauen wir einfach mal nach, wenn wir die Dringlichkeit spüren, uns ein Ziel zu setzen, wir nicht viel besser mit einem Commitment für ein Prinzip bedient sind, ob gerade dies in unserem Leben ansteht. Welches mag es sein? Oder welche? Denn manchmal steht dies sogar auf mehreren Ebenen gleichzeitig an: Einem Glauben, einem Menschen, der eigenen Geschaffenheit und einer Aufgabe. Ein Ziel, hinter dem immer wieder ein neues folgt, ist kein Ziel, dem man sich committed, denn man geht ja weiter, darüber hinaus. Es ist ein Ziel, auf das man sich zwar einstellt, das man aber dann hinter sich läßt. Wie viele endgültige Ziele gibt es, hinter denen kein neues folgt? Meines Erachtens nach eben genau eines, auch wenn wir ihm viele Namen geben mögen. Einer davon heißt "Ich bin der ich bin". Was ich meine, das heißt beispielsweise: Ab jetzt gehe ich meinen Weg mit xy, egal, wo es hinführen mag, kein Netz und kein doppelter Boden. Wir entscheiden ab jetzt gemeinsam, was wir zusammen angehen und wann es dran ist, wann es für uns beide gut ist, selbst wenn ich manchmal auch warte. Prinzip: Allein ist man schneller, gemeinsam kommt man weiter. Oder ein: Ab jetzt beschränke ich mich auf das, was ich wirklich brauche. Ich nehme keinen Kredit mehr auf, ich zahle alle meine Schulden zurück, komme mit dem aus, was ich habe, entsorge alles, was ich nicht brauche. Und wenn zufällig mal mehr auf mich zukommt, als ich brauche, dann gebe ich es dem, der es braucht. Das Prinzip heißt: Weniger brauchen ist besser als mehr haben. Oder ein: Ab heute werde ich ausnahmslos nach den Prinzipien des Anstandes, der 10 Gebote, - des Win-Win - der goldenen Regel, mein Leben, alle meine Geschäfte Im Antlitz der Liebe - 367 - © Gabriele Sych führen. Wenn ich irgendetwas als Ziel mir setze, dann setze ich es in die Distanz, in die Zukunft. Wenn ich mich jemandem oder etwas hingebe, dann beginnt es sofort, dann bin ich schon da, mitten drin, Gegenwart. Ich wende dieses Prinzip treu und zuverlässig auf alles an, auch auf kommende Pläne. Gott schweigt eben manchmal, Phasen der sog. Trockenheit, bis wir Ihm endlich die Antwort geben, die Reife zeigen, die er braucht, um uns etwas Neues zu geben. Erst wenn diese Hingabe in tiefem inneren Wissen geschehen ist und wir bereit sind, diese Richtung einzuschlagen, koste es, was es wolle, dann geht die nächste Tür auf. In letzter Zeit geht vor allem ein ganz starker Trend in die Nutzung der Gedankenkraft, um eigene Ziele, Wünsche und Vorstellungen zu realisieren: The Secret, The Miracle, Law of Attraction, Bestellungen beim Universum. Dafür gibt es inzwischen Anleitungen der verschiedensten Art, um das Universum oder Gott dazu zu bringen, nach eigenem Plan zu funktionieren: Wenn ich A tue, dann passiert B. Aber nur wenn ich C. Man hat das Gefühl, sie hätten den Schöpfercode entschlüsselt, hätten das Passwort herausgefunden und könnten alles erreichen, was sie sich vornehmen. Man wünsche sich etwas und es wird erfüllt oder nicht erfüllt oder es gibt noch eine Zeit zu warten. Die Essenz klingt in meinen Ohren wie in dem Lied: Heut kommt der Hans nach Haus, freut sich die Lies. Kommt er aber über Oberammergau oder aber über Unterammergau oder ob er aber überhaupt nicht kommt, ist nicht gewiss. Ich habe diese Techniken auch einmal eine Weile auf unterschiedlichste Weise probiert und ich fand es sehr anstrengend, meinen Geist so stark zu fokussieren. Und egal, welches System ich auch anwendete, es gab keine Sicherheit, dass eintraf, was ich mir wünschte, vorstellte oder plante. Was ich immer bekam, war das, was ich wirklich brauchte. Und wenn ich bekam, was ich mir wünschte, dann habe ich hinterher oft festgestellt, dass ich mir völligen Quatsch gewünscht habe. Ein Beispiel: Im Antlitz der Liebe - 368 - © Gabriele Sych Zu Silvester war ich bei meiner Freundin zu Besuch und wir malten gemeinsam jeder ein Bild über unsere Wünsche für das neue Jahr. Das vergangene Jahr war anstrengend gewesen, ich hatte mich die ganze Zeit wie ein Hamster im Rad gefühlt. Und eine Schlag nach dem Anderen: Mein Vater verstarb, mein Haus wurde mit Riesenverlust verkauft, ich hatte eine Lungenentzündung und zwei Operationen im Krankenhaus, ich hatte ein superanstrengendes, superstressiges Projekt am Hals, eine Beziehung zerbrach, mein bester Freund verschwand aus meinem Leben, ich nahm zu und obwohl ich sehr viel Geld verdiente, blieb nichts übrig. Da nach meinem Gefühl die Uhr unerbittlich mit ihrer Peitsche das Jahr beherrscht hatte, wollte ich für das neue Jahr ihre Macht brechen und mir ein harmonisches Leben mit genug Zeit für alles einrichten, was mir wichtig schien. Ich wollte genug Zeit für mich, Zeit für mein Kind, Zeit für meine Arbeit und Zeit für Freizeitaktivitäten und die Liebe. So teilte ich es in meinem Irrsinn wunderbar in vier Viertel ein, und endete: FRUSTRIERT. Denn was passiert, wenn man die Liebe seines Lebens trifft und dann nur ein Teil eines Viertels Zeit mit ihr verbringen kann, weil man unbedingt ein Viertel seiner Zeit allein verbringen wollte. Das fühlt sich in einem solchen Moment nicht an wie die „gemütliche, entspannte Zeit für sich“, sondern Sehnsucht und Einsamkeit, ich erkrankte an einer Depression. Und es war bestimmt nicht leicht für Gott, eine Liebe in ein so vorgegebenes Zeitmanagement unterzubringen. Ich hatte nur im ersten Halbjahr Aufträge, und davon viel, und mein Kind bei mir, dann brach alles schlagartig weg, und im zweiten Halbjahr hatte ich Zeit mit mir allein und für die Freizeitaktivitäten inklusive der Liebe, aber keine Arbeit, kein Kind. Was für ein vollendeter Blödsinn! Im Antlitz der Liebe - 369 - © Gabriele Sych «Denn die Wünsche verhüllen uns selbst das Gewünschte; die Gaben kommen von oben herab in ihren eignen Gestalten» Herrmann und Dorothea, Johann Wolfgang von Goethe Solche Erfahrungen nenne ich den Wunschdoktor, der uns gesünder wünschen lehrt. Als ich mich einmal durch eine Glaubenssatzbehandlung80 mich von den Ratschlägen anderer unabhängig machen wollte, wählte ich den zu Satz: „Ich weiß selbst nicht, was für mich am besten ist.“ Und dieser Satz änderte sich NICHT, das heißt: Ich weiß wirklich nicht, was für mich das Beste ist. Ich weiß wirklich nicht, was das Beste für mich ist, das weiß jemand anderes viel besser, nämlich der, von dem ich ein Teil bin. Wenn wir alle Teil von ihm sind, dann sollten wir es ihm überlassen, unsere Gemeinschaft zu organisieren. Und daher wende ich mich an ihn und bete, Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auch auf Erden. Für mich wird eins immer deutlicher: Es geht auch ohne Nachdenken, die Aktivierung unserer Gedankenkraft. Ich bin fest davon überzeugt, dass unser Kopf primär für die Wahrnehmung da ist, nicht für das Nachdenken, nicht für das gedankliche Programmieren von Zielen. Bleiben wir offen für die Wahrnehmung dessen, was er von uns will, den natürlichen Gang der Dinge. Was gerade anliegt und gebraucht wird. Lauschen wir Seiner Stimme, folgen wir Seinen Zeichen. Das Leben wird einfacher, wir haben den Kopf frei, weniger Sorge, weniger Stress, weniger Last, weniger Druck. Wenn ich eine Frage habe, dann stelle ich sie im Stillen. Entweder höre ich die Antwort gleich in mir oder ich nehme mir Zeit für eine intensive Unterhaltung mit Jesus oder ich erfahre im Leben eine Parabel um die Frage und ihre Antwort. Manchmal dauert es natürlich seine Zeit, weil die Antwort komplex ist und dafür ist Aufmerksamkeit gut. Manchmal lässt er mich dann auch einfach die Erfahrung machen, er lässt mich die Folgen fühlen, so dass ich weiß. Und nicht nur, dass ich weiß, sondern dass ich das Tor sogar für andere „aufschließen“ kann. Oder er schickt mir Menschen, die mir die Antwort auf genau das erzählen, was ich gefragt habe, ohne dass ich sie gefragt habe. 80 Therapeutische Übung, bei der beim Patient ein irriger Glaube identifiziert wird, z.B. „Keiner liebt mich“ „Ich bin und bleibe ein Versager“ und in einen realistischeren und gesünderen Glauben umgewandelt wird. Im Antlitz der Liebe - 370 - © Gabriele Sych Ich war über Ostern 2008 mit meinem Sohn in Barcelona. Er ist kein so ein Kirchenafficionado wie ich, doch ich wollte auch gern etwas von der spanischen Semana Santa, der spanischen Karwoche und ihren Riten miterleben. Am Karfreitag starteten wir unsere Tagesetappe am unteren Ende der Ramblas, weil wir an den Strand wollten und am Tag vorher hatten wir unsere Tour ebendort dort am Columbus-Denkmal aufgehört. Da fiel mir ein, ihm die Kirche La Merced zu zeigen, in der es einen sehr schönen Erzengel Michael gibt, den mein Sohn toll findet, er wird nämlich oft mit einem Schwert gezeigt. Die Kirche – sie war nur 2, 3 Ecken entfernt, war offen, wir gingen rein, in dem Moment betraten gerade die Padres den Altarraum und es folgte die Lectura der Via Crucis, des Kreuzweges, mit allem drum und dran, so ergreifend. Ich konnte dabei sein, mein Sohn ging fotografieren. Alsdann spazierten wir beide über die Ramblas del Mar und das Mare Magnum an den Strand von Barceloneta bis zum Olympischen Hafen. Unterwegs gönnten uns ein Eis, sammelten Muscheln, setzten uns in die Sonne, lasen unseren Harry Potter 7 weiter, gingen mit den Füßen ins Wasser. Von Ciutadella Vila Olimpica aus nahmen wir die gelbe Linie der Metro wieder zurück, als es kühler wurde. Die Station, die unserer Unterkunft am nächsten lag, war Fontanas. Doch dann: spontane Idee, wir steigen am Passeig de Grácia nicht um in die grüne Linie nach Fontanas, sondern bleiben in der gelben Linie bis Joanic in die Nähe unserer Unterkunft und schauen uns noch die Umgebung an und laufen etwas länger als sonst. So kamen wir also am anderen Ende der Straße an, in der wir wohnten. Dort sahen wir wieder eine sehr schöne Kirche, St. Joanic eben, wieder offen. Wir gingen hinein. Auch hier kamen wieder gerade in dem Moment die Padres in die Kirche und der Gottesdienst mit dem Erleben des Todes Christi beginnt. Ich drücke meinem Sohn die Schlüssel für unsere Unterkunft in die Hand, er läuft die Straße runter nach Hause, weil er - so sind sie halt - keine Lust mehr auf Kirche und Gottesdienst hatte und dieser war auch noch in katalanischer Sprache. Ich bin dabei, es ist atemberaubend, besonders der Moment, als in der Lectura der Satz "y expia...." (er hauchte seinen Atem aus), gefolgt von dem schweigenden Gedenken kam. Ich hatte keinen Plan, ich Im Antlitz der Liebe - 371 - © Gabriele Sych hatte keinen Stress, zu irgendeiner Zeit irgendwo sein zu wollen: Ich war einfach zur rechten Zeit am rechten Ort. Ich wurde geführt. Er wollte mich dabei haben...zweimal an einem Tag. Mein Wunsch war auf wunderbare Weise erfüllt worden. Wieder ein Moment der Gnade. Sich Ziele setzen, Planen ist für mich oft eine Form der Angstvermeidung, von eben nicht Raum geben, eine Getriebenheit, ein sich nicht auf das Geführtwerden einlassen. „Ich muss doch was machen!!!“ Es verhindert und verzögert die Momente der Erfahrung von Gottes Gnade. Als ich nach der Reise und der 1. Schreibphase offenbar wieder mehr praktizieren sollte und das Geschriebene auszuprobieren, rief mich eine Ärztin an und bot mir einen Raum in ihrer Praxis an, der gut zu mir passte. Beim Salsa-Tanzen konnte ich Geführtwerden gut üben. Als Salsera bleibe man locker und aufmerksam und im Rhythmus / in Verbindung mit der Musik und habe keinen eigenen Plan, sondern nehme die Führungszeichen des Salseros wahr und reagiere auf das, was man spürt, mache das, wozu man den Hinweis bekommst. Dann kann die Frau einfach nur die Musik genießen und muss sich keinen Kopf machen, was als nächstes dran ist, eben nicht denken, sondern fliegen mit den Füßen. Dann geht alles gut. Ansonsten bricht man sich den Arm, hat nur Stress mit dem Partner, es macht überhaupt keinen Spaß, es fließt nicht und es sieht natürlich überhaupt nicht gut aus. Sehr schön auch als Beispiel ist der Film Kate & Leopold. Meg Ryan als Kate wollte unbedingt Vizepräsidentin in der New Yorker Werbe-Agentur werden, in der sie arbeitete, sie setzte alles daran, war dabei, sich selbst zu verkaufen. Doch in dem Moment, als sie es wurde, gab sie mit Leichtigkeit ihr bisheriges Ziel auf, weil das Leben ihr im gleichen Moment etwas viel, viel Schöneres geschenkt hatte, etwas, worauf sie auch bei allerschärfstem Nachdenken nicht hätte kommen können. Im Antlitz der Liebe - 372 - © Gabriele Sych Und genau das ist es: Es gibt so viele Dinge in der Welt, so viele Wege, die beschreitbar sind, die aber keiner kennt, für die es keine Landkarte, keine Ausbildung, keine Prozessund keine Stellenbeschreibung gibt. Dinge, die wir vorab nicht wissen können. Ich habe den Überblick nicht, kann ihn nicht haben. Unsere eigenen Ziele bringen uns vom Weg ab, denn: Ich habe keine Kontrolle über den Weg und mein Leben, wie auch? Wirklich: wir können das Leben nicht kontrollieren! Wir sind nicht der Schöpfer sondern das Geschöpf. Vielleicht können wir uns das so wie beim Billard vorstellen. Wir wissen ja als Kugel gar nicht, wie viele andere Kugeln in unserem Rücken über wie viele Banden gespielt werden, bis uns die eine trifft und in eine neue Richtung lenkt. Ich habe in meinem Leben lange nicht gewusst, was ich werden will, was nicht heißt, dass ich „nichts geworden bin“. Im Gegenteil: Es gab bestimmte Anziehungen, wo ich sagte, „Na ja, das würde ich gerne machen!“ oder: „Na, DAS kann ich auch!“ Dann habe ich mich beworben, ja und schon hatte ich einen neuen Beruf, den ich vorher gar nicht kannte. Alle größeren Richtungswechsel geschahen durch einen Ruf, von außen angeregt. Ein Ruf führte mich sogar in den Deutschen Bundestag – damals noch in Bonn, wo ich zum Jahreswechsel 1986/1987 bei den allerersten Computer-Schulungen für die Abgeordneten-Büros mitwirkte und kurz darauf ein paar Monate im ersten BenutzerService des Bundestages arbeitete und dabei die Büros z.B. von Franz Müntefering, Rudolf Dressler und Ludwig Stiegler mitbetreute. Auch für meine Zeit bei HP erhielt ich einen Ruf, ebenso zum Beginn meiner Selbständigkeit als Unternehmensberaterin. Mein Weg machte viele Wendungen, doch heute im Rückblick gesehen war jede dieser Stationen notwendig und sinnvoll. Es war ein ganz gerader Weg auf das zu, was ich heute bin. Gott macht einfach Sinn, auch wenn dieser sich uns nicht immer sofort erschließt. Häufig war es so, dass ich mir eine Fähigkeit erwerben, eine Erfahrung machen und dann die Situation wieder loslassen sollte, um zur nächsten „Lektion“ zu kommen, in die nächste Klasse zu gehen. Das war nicht immer einfach, oft denkt man ja, dass eine gewisse Routine, ein geregelter Alltag und vorhersehbare Einnahmen für ein sicheres, angenehmes Leben sorgen. Doch dafür war ich wohl nicht geschaffen. Ohne Widerstand loszulassen ist in solchen Fällen immer am einfachsten. Es kommt schon etwas Neues. Im Antlitz der Liebe - 373 - © Gabriele Sych Oft war es auch so, dass ich lernte, wie ich mir Wissensgebiete, Fähigkeiten und Kompetenzen selbst erschließe, ohne menschliche Lehrer, ohne strukturierten Lehrplan, ohne abgeschlossenes Studium und Diplom: Ungegangene Wege finden, gehen und sie dadurch begehbar machen. Und – manchmal wollte ich sogar etwas lernen, wofür ich nur wenig natürliches Talent besaß, was ich aber schön oder spannend fand, eben z.B. Salsa tanzen. Diese Musik liebe ich! Doch: Ich bin motorisch einfach nicht sehr begabt. Während es manchen ganz leicht fällt, die Schultern zu schütteln und dabei gleichzeitig den Po still zu halten und die Füße in unterschiedlichen Schritten zu bewegen, brauchte ich ein halbes Jahr dafür. Weil ich nur langsam lernte, Schritt für Schritt, durch viel Übung und Praxis, durch Versuch, Irrtum und schließlich Erfolg, wurde mir jeder notwendige Lernschritt bewusst. Dadurch konnte ich diesen Weg dann wieder für andere aufschließen, meine Lehrfähigkeit ausbilden. Dasselbe erlebte ich mit dem tiefen Begehren, Gott wahrzunehmen, zu hören…anfangs hatte ich diese Fähigkeit Anderen zu außersinnlicher Wahrnehmung für „des Kaisers neue Kleider“ gehalten. 2.2.2.2 Der Mensch denkt – Gott lenkt Wenn wir durch eigene Denkaktivitäten uns beschäftigen, dann fällt es uns sehr schwer, Gottes Willen und die Realität aufzunehmen. Doch wie es tatsächlich ist, das ist hier gut beschrieben (in Klammern und kursiv = meine Deutung zur Verdeutlichung): Sprüche Salomo 16 (Hoffnung für alle): Der Mensch denkt - Gott lenkt 1 Der Mensch denkt über vieles nach und macht seine Pläne, das letzte Wort aber hat Gott. 2 Der Mensch hält sein Handeln für richtig, aber Gott prüft die Motive. 3 Vertraue Gott deine Pläne an, er wird dir Gelingen schenken. 4 Alles hat Gott zu einem bestimmten Zweck geschaffen - der Gottlose ist für das Verderben gemacht. (Nichts, was passiert, ist ohne Sinn.) 5 Gott verabscheut die Hochmütigen (= der meint, ihr Leben selbst durch Denken und Kontrolle zu gestalten versuchen, die die göttliche Führung nicht anerkennen, Ihn nicht zu brauchen meinen). Du kannst sicher sein: Keiner entkommt seiner gerechten Strafe! (= sie erleben, was sie durch ihr Wünschen, Denken und Handeln auslösen) 6 Wer Gott treu ist und Liebe übt (= Gott durch sich handeln lässt und sich an der Realität orientiert und stets Ihm dankbar ihren Sinn annimmt), dem wird die Schuld vergeben (= der verfehlt nicht, der kommt nicht vom Weg ab); und wer Gott gehorcht (= Gottes Wegweisungen und Handlungen ausführt), der meidet das Böse. (= handelt im göttlichen Sinne und das kann nicht böse sein) 7 Wenn dein Handeln Im Antlitz der Liebe - 374 - © Gabriele Sych Gott gefällt, bewegt er sogar deine Feinde dazu, sich mit dir zu versöhnen. (wenn man keine Angriffsfläche bietet, weil kein Widerstand da ist und so auch kein Streit aufkommt, z.B. die zweite Wange anbieten, um dem anderen die Sinnlosigkeit seines Tuns vor Augen zu führen) 8 Besser wenig Besitz, der ehrlich verdient ist (= Gott gibt uns alles, was wir brauchen), als großer Reichtum, durch Betrug erschlichen (= mehr zu nehmen, als wir brauchen, Selbstbetrug durch das Anhäufen von Gütern). 9 Der Mensch plant seinen Weg, aber der Herr lenkt seine Schritte.(= Der Mensch mag sich im Glauben befinden, dass er seinen Weg plant, doch das ist eine Illusion, denn Gott lenkt sie) 10 Der König spricht in Gottes Auftrag, darum irrt er sich nicht, wenn er Recht spricht. (Der rechte Mensch spricht das aus, was Gott durch ihn sagen will, und tut dies auch, wenn er das als eigene Wahrheit ansieht, ausspricht und nicht lügt.) 11 Gott möchte, dass die Waage richtig eingestellt wird und dass die Gewichte stimmen, denn er selbst hat diese Ordnung aufgestellt. (= Gott ist in der Lage, zwischen allen und allem die vollkommene Balance herzustellen, wenn man ihn durch sich handeln lässt. Sobald man dies in sich selbst zulässt, stellt sich für einen selbst schon diese Balance ein. Durch das eigensinnige Handeln der Menschen entsteht das Ungleichgewicht, das wir heute in dieser Welt kennen.) Aus der aktuellen Wissenschaft, vor allem der Hirnforschung, gibt es inzwischen mehrere Hinweise darauf. Zum einen die Forschungen rund um Antonio Damasio, der aufzeigte, dass der Körper und die Intuition viel schneller funktionieren als bis der Verstand etwas durchschaut. Dann die Experimente des Wolfgang Singer, der feststellte, dass der Impuls zum Handeln schon ausgelöst war, bevor der Mensch sich bewusst dafür entschieden hat. Die Naturwissenschaftler werten dies als Abwesenheit des freien Willens und damit der Nichtexistenz von Gott. Doch es ist eher umgekehrt: eben Gott lenkt, und der Mensch denkt nur, er denkt und steuert sich. Auch Arthur Schopenhauer hat dies erkannt mit den Worten: „Der Mensch kann zwar tun, was er will, aber er kann nicht wollen, was er will.“ Dann gibt es die Feststellung, dass bei Problemlösungen die besten Lösungen nicht durch intensives Nachdenken, sondern erst in einer Phase der Entspannung und der Ruhe und des Nichtnachdenkens uns „einfallen“, „zufallen“. Dann ist nämlich in unserem Hirn der Platz, dass wir Seine Stimme wahrnehmen können (es aber meistens uns selbst zurechnen). In unserem Geistleib stehen in der oberen Hälfte alle geistigen Informationen zur Wahrnehmung zur Verfügung. Kommen sie nicht zu uns durch, gibt es Stau. Werden sie nicht verdaut, dann auch. Im Antlitz der Liebe - 375 - © Gabriele Sych Zum anderen heißt das natürlich, dass wir durch Nachdenken versuchen, mit einem Wahrnehmungsorgan zu verdauen. Doch gerade die Umgangssprache gibt den Hinweis, nämlich dass Wissen „aus dem Bauch heraus“ kommt. Viele philosophische und spirituelle Richtungen sagen uns, dass der heilsamste Moment der ist, in dem wir nicht denken, sondern nur das Hier und Jetzt wahrnehmen. Erst als ich durch eine Übung mit dem Erzengel Raphael – nämlich einen Nachmittag lang nicht zu denken - erfuhr, dass das Hirn nicht zum Denken da ist, wurde mir dies nicht nur ungemein verständlich sondern sofort wieder erfahrbar. Die Übung funktioniert so: Wir nehmen uns Zeit, unser Gehirn immer wieder in seiner Funktion als Wahrnehmungsorgan zu nutzen. Wenn wir wieder Gedankenenergie bemerken und außerhalb der Gegenwart sind, dann überlassen wir uns wieder dem Zustand der Wahrnehmung. Wenn uns das schwer fällt, dann können wir den Erzengel Raphael bitten, uns bei jeder Abweichung wieder auf diesen Zustand aufmerksam zu machen. Wann immer wir denken, dann hören wir die Stimme: Das Gehirn als Wahrnehmungsorgan nutzen! Oder so etwas Ähnliches. Dies ist Meditation im Alltag. Übung macht auch hier den Meister. Und: es fühlt sich gut an. Als ich diese Übung das erste Mal machte, nahm ich wahr, dass ich etwas, was ich für meine Arbeit brauchte, im Auto liegen gelassen hatte. Ich ging also schnell die Treppe hinunter zu Straße. Dummerweise verwickelte ich mich dabei wieder in Gedanken, zickte mit irgendjemandem innerlich rum und war nicht beim Wahrnehmen, schaute nicht auf den Weg. Und zack – trat ich in einen frischen Hundehaufen: Auch eine Möglichkeit, mich wieder aufmerksam zu machen! Auch Engel haben Humor, fast dachte ich, ich hörte ein Lachen… Öffnen wir uns voll Vertrauen seinem Geist, überlassen wir ihm die Steuerung und funken wir nicht mehr dazwischen, sondern lassen wir Gott durch uns sehen, hören, fühlen und dann handeln. Wenn wir die Störfeuer unseres Denkens aufgeben, das ewige Geschnatter von Gedanken, dann hat diese Welt unendlich zu gewinnen. Schauen wir sie uns nur an, dann kann es uns nur klar werden. Indem wir uns Gott hingeben, schaffen wir in uns das Reich Gottes und das „Dein Wille geschehe, im Himmel wie auf Erden“. Und je mehr Menschen dies geschehen lassen, ihr Leben sich entfalten lassen, dann im Äußeren. So einfach ist das. Leicht. Unanstrengend. Psalm 127 (Lutherbibel 1984) Im Antlitz der Liebe - 376 - © Gabriele Sych 2 Es ist umsonst, dass ihr früh aufsteht und hernach lange sitzet und esset euer Brot mit Sorgen; denn seinen Freunden gibt er es im Schlaf. 2.2.2.3 Das Puzzle des Lebens Bei einer Behandlung einer jungen Frau, die sich intensiv um die Entfaltung ihres schöpferischen Potenzials bemühte, habe ich als heilende Worte ein Gleichnis bekommen: das Puzzle des Lebens. Wir können uns unser Leben wie ein großes Puzzle vorstellen: Jeder Tag ist ein Teil. Das sind bei einer Lebenserwartung von 80 Jahren ca. 30.000 Teile. Ganz schön groß! Wenn alle Teile zusammengesetzt sind, dann, und erst dann haben wir ein vollständiges Bild unseres Lebens, dessen was wir sind. Jeden Tag bekommen wir ein neues Puzzleteil, das wir zu den schon bestehenden Teilen hinzufügen können. Nur dieses eine, mehr nicht. Wir haben den ganzen Tag Zeit, uns mit diesem einen Teil zu beschäftigen, es anzusehen und seinen Platz, seinen Sinn zu finden, uns selbst zu vervollkommnen, das gesamte Potenzial dieses einen Puzzle-Teils auszuschöpfen… das Leben entfaltet sich eben einfach von Tag zu Tag. Psalm 23 (dieser und die folgenden Verse aus Lutherbibel 1984): 5 Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde. Es macht keinen Sinn, sich an einem Tag um zusätzliche Teile zu kümmern, zu bemühen, die jetzt noch nicht dran sind, weil wir sie ja noch gar nicht anlegen können. Das heißt: sich um die Zukunft zu sorgen macht keinen Sinn, weil wir sie nicht kennen, weil wir nicht wissen, was auf den nächsten Puzzleteilen drauf ist. Genau da wird ja kommen, was wir brauchen, was als nächstes dran ist. Potential entfalten bedeutet eher: ganz intensiv das Potenzial eines jeden Puzzlestücks, eines jeden Tages zu entfalten. Psalm 23: 1 … Der HERR ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. 2 Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser. Verpassen können wir nur heute etwas, wenn wir uns um ungelegte Eier/Puzzlestücke den Kopf zerbrechen. Dann kümmern wir uns vielleicht um das heutige Teil nicht ausreichend sorgfältig und mit Liebe. So kommt vielleicht Unordnung und Lieblosigkeit in unser Leben, vielleicht versäumen wir es, aktuelle Puzzlestücke überhaupt anzulegen oder anzusehen und auszuwerten. Oder wir setzen das Puzzle falsch zusammen, so dass wir es mit Seiner Hilfe zu einem späteren Zeitpunkt wieder mit ihm neu ordnen, wieder Im Antlitz der Liebe - 377 - © Gabriele Sych neu zusammensetzen können (Heilung / Seelsorge / Psychotherapie), bis alles wieder an seinem Platz ist. Da kann es sein, dass es dann viel zu fühlen und nachzuempfinden geht, dass es anstrengend werden kann, wir Zeit zum Nachreifen brauchen. Psalm 23: 3 Er erquicket meine Seele. Vieles, was uns zustößt, verstehen wir nicht und hadern daraufhin mit dem Schicksal, mit unserem Gott. Aber auch das ist müßig, warten wir eine Weile und wir werden auf unserem Puzzlebild schon etwas erkennen, vielleicht erkennen wir schon Teilaspekte, sehen ein Blume, ein Schnecke, einen Weg, ein Brot, eine Sonne oder einen Regenbogen. Das ist der Moment des Reifens, wo bisher saure Trauben oder Äpfel süß werden. Man versteht, was da mit den einzelnen Teilen zusammengesetzt wurde. Für sich isoliert war es an dem einen Tag nicht zu erkennen. Je älter wir werden, umso eher kann man schon eine Vorstellung von dem Gesamtbild bekommen, von dem „Werden, der ich bin“ und willig und friedvoll Tag für Tag entgegen nehmen, weil wir den übergeordneten Sinn schon erkennen. Das Bild, das Gott mit und durch uns malt. Glauben wir also: Psalm 23: 6 Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang, und ich werde bleiben im Hause des HERRN immerdar. Es macht keinen Sinn, uns auf den Weg zu machen, sich zu fragen, was soll ich denn werden, denn wir sind ja schon da, schon auf dem Weg, wir werden ja schon, wir werden geführt, unser Puzzle ist ja schon im Zustand des Zusammengesetztwerdens. Wenn wir dann in uns den Impuls haben: ich will tanzen und zu meinem Weg gehört Tanzen, na, dann fange ich an zu tanzen, trainiere, übe, vervollkommene mich. Von dort aus geht es weiter. Wenn ich tief in mir merke, Musik ist mein Ding, dann fange ich an, Musik zu machen und dann finde ich als Musiker andere Menschen, die Musik machen oder bekomme einen Ruf an einen Ort, wo ich als Musiker gebraucht werde. Ist das steuerbar, unter Kontrolle zu bekommen? Nein, wie denn auch! Psalm 23: 3… Er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen. Genauso wenig Sinn macht es, sich Ziele zu setzen, denn das Ziel ist schon vorgegeben, das vollständige Bild des Puzzles, wir selbst als Schöpfung, als das Werk, an dem wir natürlich mitarbeiten, unseren Teil beitragen, unsere Teile zusammenfügen, vollständig Im Antlitz der Liebe - 378 - © Gabriele Sych werden, uns dem Schöpfungsprozess hingeben. Und je intensiver wir uns hingeben, gern hingeben, umso farbiger wird das Bild, umso weniger leiden wir. Danken wir jeden Tag morgens dafür, dass wir noch einen neuen Tag bekommen und danken wir abends dafür, dass wir ihn erleben durften. Und nicht jedes Teil, nicht jeder Tag kann hell und bunt sein, auf einem vollständigen Bild können immer auch dunkle Teile auftauchen, da wo Licht ist, da gibt es auch Schatten. Wenn wir also dunkle Tage oder dunkle Perioden haben, so gehören sie nur dazu, das Bild zu vervollständigen, ihm mehr Tiefe zu geben, es eindrucksvoller zu machen. Wir können uns natürlich dafür entscheiden, massiv unter dem Dunklen zu leiden, doch vielleicht erinnern wir uns hieran: Psalm 23: 4 Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich. Gott lässt sich mit dem Puzzle auch nicht überrumpeln. Wenn wir ihm an einem Tag mehr als ein Teil aus der Hand schlagen wollen z.B. mit Divinationstechniken81 in die Zukunft schauen wollen, so wird er uns in der Regel eben Teile zeigen, die noch nirgends dazu passen, die wir noch gar nicht anlegen können, was uns meist mehr verwirrt als Klarheit schafft, uns vielleicht in sinnfreie und unangenehme Grübelei versetzt. Wir sehen vielleicht Farben und Formen, aber wozu sie gehören, das wissen wir noch nicht. Was Divinationsmethoden allerdings tun, das ist das: sie lenken uns von dem ab, was gerade unser heutiges Puzzlestück ist, wir können den Fortschritt und die Aufgabe des aktuellen Tages, das Naheliegende nicht angemessen würdigen. Wir fühlen die Gefühle und Impulse nicht, erhalten die Erkenntnis und das Wissen nicht, die unser aktuelles Geschehen sonst offenbar werden lassen, bestimmen würde. Schaden wir uns also nur selbst mit solchem Verhalten. Inzwischen gibt es schon viele Menschen, die divinationssüchtig sind und sich damit nicht nur seelisch, sondern auch finanziell ruinieren, unsicher werden und kein Schritt mehr sich zutrauen ohne Divination. 81 Divinationstechniken: Astrologie, Kartenlegen, Orakel. Erinnern wir uns an den Mythos des Orakel von Delphi mit dem Spruch an den König Krösus: „Wenn du den Halys überschreitest, wirst ein großes Reich vernichten.“ Er dachte, damit er würde das feindliche Perserreich zerstören, gemeint und hinterher zerstört war jedoch sein eigenes großes Reich. Im Antlitz der Liebe - 379 - © Gabriele Sych Wenn wir ein größeres Bild bekommen sollen, dann werden wir es erhalten, dann wird uns eine Vision, eine Verheißung, eine Botschaft geschickt. Woher kann ich also wissen, ob etwas dran ist, bzw. was gerade dran ist? Weil ich es auf dem Tisch habe, weil es offensichtlich vor mir liegt, weil ich alle notwendigen Ressourcen dafür habe, weil ich einen Ruf erhalte, weil ich spürbar gebraucht werde, weil ich einen inneren Impuls fühle, weil ich wirklich Lust darauf habe, weil mein Herz es mir sagt, ich es von Herzen weiß: Keine schwierigen, endlosen Entscheidungen mehr, nur noch Aufmerksamkeit. Viel Spaß und Erfolg mit Ihrem persönlichen Puzzle, Ihrer Schöpfung! Psalm 23: 5… Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein. 2.2.3 Der Segen der Liebe Liebe ist die größte Macht auf dieser Welt. Nichts kann ihr widerstehen, sie besiegt alles. Liebe ist das Öl in unserer Welt. Wenn nichts mehr weiter geht, dann hilft Liebe, es wieder in Gang zu bekommen. Sie kann alles kitten – wenn wir bereit sind zu lieben und uns der Liebe hingeben. Wenn ich meinen Partner liebe, dann ist jeder Tag etwas besonders, weil ich sein Gesicht auf dem Kopfkissen neben mir beim Aufwachen sehen darf, in seine Augen am Tisch blicken darf, seine Stimme hören zu können, mich auf ihn freuen können, wenn er weggeht, ihn strahlend zu begrüßen, wenn er wiederkommt, und mich über ihn freuen können, wenn er da ist. Wir müssen ganz häufig ganz unvermittelt lachen, wenn wir uns wieder sehen Und wenn ich dann den Tag ganz nah an ihn geschmiegt beenden darf, dann bin ich wunschlos glücklich, dann ist jeder Ort, wo wir schlafen, ein gesegneter Ort, auf dem Fußboden, in Wald und Feld, im Armenhaus, in einem Raum mit 100 anderen Menschen oder im weichsten Bett. Ein Blick in seine Augen als letzter Gruß des Tages lässt mich in tiefer Freude einschlafen. Der Platz zwischen seinen Armen ist mein Paradies und dort empfinde ich alle Gefühle in höherer Intensität, von Glück angefüllt. Ruhe ist intensiver Ruhe, wenn sie in seinen Armen stattfindet, Leidenschaft tiefer, alle Last fällt von mir ab. Meine Hände können nicht lange still bleiben und wollen ihn immer berühren und ihm wohl tun. Alles, was ich für ihn tue, möchte ich möglichst liebevoll und für ihn angenehm tun, es soll ihm das Herz und die Sinne erfreuen. Ich möchte ihm Im Antlitz der Liebe - 380 - © Gabriele Sych meine Erkenntnisse schenken und seine geschenkt bekommen, damit wir uns immer besser verstehen können und unsere Innigkeit vertiefen zu können. Wenn ich mein Kind liebe, dann ist mir keine Stunde zu lang, die ich nachts an seinem Bett verbringe, ein Weg nicht zu langsam gegangen, den ich an seiner Seite entlang tippele, weil es unterwegs in Ruhe die Welt entdecken will, keine Frage zuviel und jede Antwort, die ich ihm geben kann, meine Möglichkeit mit ihm zu lernen und die „rechten“ Wege in dieser Welt zu entdecken. Ich kann mich meinem Kind geben und finde dann irgendwann in seiner Gestalt und in seinem Wesen die Früchte meiner Hingabe. Alles, was ich meinem Kind gebe, gebe ich automatisch und gleichzeitig auch dem Kind in mir und egal, wie dieses Kind in mir aufgewachsen ist, kann es an der Liebe zu meinem Kind Heilung und Trost finden, weil es dann weiß, wie es sein kann und diese Liebe dann mitempfängt. Ein Kind zu haben gehört für mich zu den wichtigsten Erfahrungen im Leben, um bedingungslose Liebe in sich zu entdecken und leben zu können. Wer darauf freiwillig verzichtet, sei es aus religiösen, aus finanziellen oder sonstigen Gründen, nimmt eines der größten Geschenke Gottes nicht an. Als mein Sohn 8 Monate alt wurde, begann er, des Nachts alle zwei Stunden aufzuwachen und bitterlich zu weinen. Das hielt an, bis er fast 1 ½ Jahre alt war. Für mich sorgte es dafür, dass ich Nacht für Nacht zu seinem Bett eilte. Ich war von Liebe erfüllt, aber nie genervt oder zu müde oder ungehalten. Das Kind wieder trösten und beruhigen und ihm Frieden und Nähe schenken, das war für mich das einzige Wichtige. Und so stillte ich ihn 1 ½ Jahre lang und ich legte ihm viele Stunden durch das Halten die Hände auf. Nach diesen zehn Monaten hatte ich das Gefühl, selbst sehr von dieser Zeit profitiert zu haben. So, wie ich mein Kind gehalten habe, so habe ich mich auch selbst gehalten und in dieser trauten Zweisamkeit mehr eigenen Frieden gefunden. Wenn ich meine Eltern liebe, dann nehme ich sie einfach so, wie sie sind und bin dankbar: dass sie mir mein Leben geschenkt haben, für die Zeit, die sie mir gewidmet haben, Im Antlitz der Liebe - 381 - © Gabriele Sych für ihre Sorge und Zuwendung. Sie haben mich geprägt. Gerade die Generation vor uns, die noch den Krieg und die anschließenden Notzeiten miterlebt hat, hat es besonders schwer gehabt. In der Psychologie nennt man sie auch manchmal „die schweigende Generation“, besonders weil sie über die Probleme nicht redet, sondern sie bewusst in der Vergangenheit belässt. Trotzdem tragen sie noch heute eine große Last an traumatischen Erfahrungen von Lebensgefahr, Hungersnot, existenzieller Bedrohung, Gewalt, Angst. Können wir uns wirklich vorstellen, wie es sich im Schützengraben anfühlte, dass ständig ein jeder Tag der letzte sein könnte? Im Luftschutzkeller? Unsere Pubertät ist vorbei. Wenn wir unsere Eltern lieben, so tragen wir ihren Rucksack, ihre Lasten in Liebe auch mit. Wir heilen auch ihre Wunden mit, was sie uns durchgereicht haben, indem wir unsere wie auch ihre Ängste und Sorgen mit bewältigen. Wir müssen nicht tun, was sie wollen, doch wir können Verständnis gewinnen und ihnen mit Freundlichkeit und Sanftmut begegnen. Härte haben sie genug erlebt. Wenn ich meine Arbeit liebe, dann ist jede Stunde Freude, Staunen, neugierige Aufmerksamkeit, müheloses Lernen, immer weiter gehendes Verstehen. Ich finde mich in dem, was ich schaffe und habe die Chance, mit jeder Minute, die ich das tue, was ich tue, diese Welt immer mehr in Gottes Reich zu verwandeln. Wenn eine Sache mit Liebe geschaffen wurde, dann enthält sie immer göttliche Eigenschaften: Schönheit, Klarheit, Freude, Zufriedenheit, Wärme, Frische, Verbindlichkeit, Gegenseitigkeit, Heilung, Harmonie, Faszination, Nützlichkeit, Sinn, Sinnlichkeit, Rhythmus, Individualität, Unverwechselbarkeit… Wenn ich mich selbst liebe, dann freue ich mich, mich und meine Werke der Welt hinzugeben. Ich weiß, dass ich für diese Welt eine Bereicherung bin und mache mich auf, diesen Reichtum zu teilen. Ich bin glücklich, dass mein Geliebter einen wunderbaren Menschen an seiner Seite hat und mein Kind auf liebevolle Weise aufgezogen wird. Wenn ich diese Welt liebe, will ich ihr gerne angehören, Mensch sein, menschlich sein eben, unter Menschen sein, mich beteiligen und einbringen. Gott in der Welt finden, in allem Alltäglichen und in allem Besonderen. Ich finde die Welt so, wie sie ist, einfach genial und erlebenswert, voller Schönheit und voller wunderbarer Chancen zu verstehen. Die Liebe macht mich bereit, sie zu schützen und für ihr Wohlergehen und Schutz auch Diskomfort und Extrameilen hinzunehmen, sie mit Achtung und Sorgsamkeit zu bewohnen. Im Antlitz der Liebe - 382 - © Gabriele Sych Wenn ich meinen Feind liebe, dann kann ich seine Andersheit mit Wertschätzung aufnehmen und dann verschwindet die Feindschaft und löst sich wie Schnee in der Sonne auf. Wenn ich die Realität liebe, dann bin ich im Fluss und trage keinen Widerstand mehr in mir. Die Realität schenkt mir den Blick darauf, wie das Leben erfahrbar ist und was ich wirklich brauche. Sie zeigt mir immer, was ich durch mein Handeln bewirke, damit ich immer besser lerne, was recht und was nicht recht ist. Wenn ich Gott liebe, dann liebe ich Seine Schöpfung. Ich gebe mich gern mit all meiner Schaffenskraft, meine Gefühlen und Gedanken, meiner Zeit und meiner Kraft hin, sein Reich für alle offensichtlich zu machen und ihnen den Eintritt und das Leben und das damit verbundene Glücksgefühl und die Sorglosigkeit darin zu ermöglichen und zu erleichtern. Einfach meinen Teil, das, was ich am besten kann, ihm zur Verfügung zu stellen, damit er es in seinem Sinne zum Besten aller verwenden kann. Als ich über das Heilen von Jesus lernte, war es z.B. wichtig zu bestimmten Zeiten auch zu leiden, damit ich die heilende Wirkung der mir offenbarten Methoden und Behandlungen am eigenen Leibe spüren konnte, damit ich sie vollständig beschreiben kann. Da bekam Leiden eine ganz andere Perspektive und ich nahm das Leid nun gern an, damit ich Ihm besser dienen kann und eine praxiserprobte und auf realen Erfahrungen basierende Lehre weitergeben kann. Liebe ist Verzückung, Begeisterung, Anziehung, Freude, die den ganzen Körper erfasst, Wärme, die sanft durch den Körper rieselt bis hin zur Hitze, die alles verdrängt außer dem Bild des Geliebten, sei es nun geliebter Partner, Kind, Gott oder Werk. Aus dem Hohelied Salomo 8 (Lutherbibel 1984): Denn Liebe ist stark wie der Tod und Leidenschaft unwiderstehlich wie das Totenreich. Ihre Glut ist feurig und eine Flamme des HERRN, 7 sodass auch viele Wasser die Liebe nicht auslöschen und Ströme sie nicht ertränken können. Wenn einer alles Gut in seinem Hause um die Liebe geben wollte, so könnte das alles nicht genügen. Liebe ist das höchste Gebot, siehe Markus 12 in 2.1.2.2 Die Erbsünde, wie ich sie verstanden habe. Im Antlitz der Liebe - 383 - © Gabriele Sych Und wieder, wieder, wieder: 1. Korinther 13 (Lutherbibel 1984) 1 Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte die Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle. 2 Und wenn ich prophetisch reden könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, sodass ich Berge versetzen könnte, und hätte die Liebe nicht, so wäre ich nichts. 3 Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und ließe meinen Leib verbrennen1 und hätte die Liebe nicht, so wäre mir's nichts nütze. 4 Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht auf, 5 sie verhält sich nicht ungehörig, sie sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu, 6 sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sie freut sich aber an der Wahrheit; 7 sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles. 8 Die Liebe hört niemals auf, wo doch das prophetische Reden aufhören wird und das Zungenreden aufhören wird und die Erkenntnis aufhören wird. 9 Denn unser Wissen ist Stückwerk und unser prophetisches Reden ist Stückwerk. 10 Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören. 11 Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und dachte wie ein Kind und war klug wie ein Kind; als ich aber ein Mann wurde, tat ich ab, was kindlich war. 12 Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin. 13 Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen. Ich bin sicher, dass Gott uns in Jesus den absoluten Höhepunkt der Liebe geschenkt hat, er hat uns sein Allerliebstes geschenkt, sein Herz. Er ist die Liebe. Und ich bin ebenso sicher, dass Jesus das Thema Ehe, Sexualität und Ehebruch so ernst genommen hat, weil er Liebe für so göttlich hält, dass er auch nicht möchte, dass wir Liebe auf die leichte Schulter nehmen, sondern alle Chance haben, sie in ihrer ganzen Süße zu erfahren. Dass die allerhöchste Vereinigung in tiefer Liebe eingebettet passiert. Der Moment höchster Intensität im Körper, der Moment, in dem keiner denken kann, der Orgasmus, ist genau der Moment, wo wir Gott ganz nah sein können und ihn unheimlich intensiv spüren können - und der Moment, indem wir mit ihm gemeinsam Einheit spüren und Leben schaffen können, der Moment, in dem wir mit einem anderen Menschen, einem von Gott geschaffenen Wesen ebenso "ein Wesen/Einheit" sind und das auch empfinden, was wir wirklich sind, nämlich alle gemeinsam ein Wesen im Organismus Gott. Im Antlitz der Liebe - 384 - © Gabriele Sych Diesen Moment hält er – so wie ich ihn verstehe - für so heilig, den er nicht durch „ob das jetzt Liebe ist oder nicht, es tut gut“ entweiht sehen will sondern als Gottesdienst und Gottesempfinden und höchste Weihe zwischen Mann und Frau. Gott hat im Paradies das Paar, Mann und Frau geschaffen, daher halte ich das für den natürlichen Seinszustand. Doch eines sagte Jesus mir auch: wenn er zwischen zwei Menschen Liebe entzündet, dann ist diese Liebe Gott selbst. Und er tut nichts ohne Sinn. Er scherzt nicht mit der Liebe und er hat auch nicht vor, dieses Paar zu quälen, weil es nicht zueinander kommen darf. Liebe ist zum Lieben und zum Erleben der Liebe, zum Erleben von Gott da. Ein Gebet zum Lieben: Ich bin wie ich bin, denn Du, mein Gott, Du hast mich so geschaffen, wie ich bin, seit Urzeiten hast Du mich genau so geplant und gewollt. Jetzt bin ich da, ich bin von Herzen erwünscht auf dieser Erde. Ich bin glücklich, dass Du mir mein Leben geschenkt hast, ich danke für mich und mein So Sein, und liebe mich, wie ich bin. Ich spüre, wie sehr Du mich liebst. Du bist wie Du bist, denn der Herr, unser Gott, Er hat Dich geschaffen, wie Du bist. Seit Urzeiten hat er Dich genau so geplant und gewollt. Jetzt bist Du hier, Du bist von Herzen erwünscht auf dieser Erde. Ich bin glücklich, dass Gott Dir Dein Leben geschenkt hat. Ich danke Gott für Dich und Dein So Sein. Und liebe Dich, wie Du bist. 2.2.3.1 Den Weg gemeinsam gehen In einem Jakobswegforum schrieb ich einmal: „Viele Jakobspilger vertreten die Meinung, man sollte - der Wirkung wegen - allein laufen. Ich will hier mal eine Lanze für das Laufen zu Zweit brechen, doch jeder wähle die Erfahrung, die er gerade braucht. Die reine Selbstfindung allein mit sich oder das sich finden auch im Anderen und gerade mit dem Anderen. Wir sind zwei Monate zu zweit gelaufen, 7 Tage die Woche, 24 Stunden am Tag. Auch dies war eine Erfahrung für das Leben und es ist wirklich eine generische, grundlegende Schule der Zwischenmenschlichkeit. Im Antlitz der Liebe - 385 - © Gabriele Sych Was war das Schöne daran? ♥ Geteilte Freude ist doppelte Freude! Wie schön war es, die tollen Ausblicke gemeinsam zu genießen, sich gegenseitig das Schöne zu zeigen, sich bei besonderen Anlässen (z.B. beim Pilgergottesdienst in Santiago) gegenseitig die Hand zu drücken und starke Leistungen mit High 5 zu quittieren. Sich überall gegenseitig fotografieren zu können J Es macht auf die Dauer einfach mehr Spaß und man lernt auch zusammen andere Pilger kennen. ♥ Gemeinsam die Pfeile zu suchen geht schneller. Jeder geht in eine andere Richtung los, und wer den Pfeil findet, der pfeift. Vier Augen sehen mehr als zwei. ♥ Beim draußen Übernachten fühlt man sich zu Zweit einfach sicherer und man hat es in kühlen Nächten wesentlich wärmer. ♥ Man lernt, aufeinander einzugehen und füreinander da zu sein, auch eine wichtige Fähigkeit in der heutigen Zeit. Für den Schnelleren: auch mal abzuwarten oder früher als dem eigenen Bedarf entspricht, den Pilgertag zu beenden. Für den Langsameren: auch einfach mal sich selbst herauszufordern und einfach weiterzugehen, als man denkt man kann. Kann man nämlich und man wächst über sich hinaus! So hab ich nach einer Tagesetappe von knapp 30 km von Cacabelos bis Vega de Valcarce zum Nachtisch sozusagen noch den Cebreiro bestiegen, 11,5 km Wegstrecke mit ca. 700 Höhenmetern, weil Santiago, der aus den Anden kommt, einfach nicht unten am Berg oder sonst irgendwo vor dem Gipfel anhalten konnte. ♥ Freundschaft/Gefährtenschaft/Liebe vertiefen, Teilen, Treue, sich einigen, Konflikte beilegen, Synergie finden, etwas wirklich ausdiskutieren, sinnvolle Kompromisse schließen, die Aufteilung der Last, intensive Gespräche, für die man sonst nie in dem Maße Zeit hat, gegenseitige Ermunterung und Ermutigung, Hilfestellung, gemeinsame Geschichte schaffen. Wir waren eben oft wie Frodo und Sam und - es war gut so. Was den Camino positiv überlebt, hat Langzeitbestand. Das wahre Wesen eines Menschen kann auf dem Camino nicht verborgen bleiben. Man kann nicht ausweichen. Was man hier im Umgang miteinander lernt, gibt einem das Zutrauen und die Gewissheit, ganz viel gemeinsam schaffen zu können. ♥ Wir konnten den Rosario unterwegs zusammen beten, abwechselnd, so wie das in den Kirchen gemacht wird. Zu zweit kann man sich besser dazu anhalten und es hat mehr Intensität. Der Im Antlitz der Liebe - 386 - © Gabriele Sych gemeinsame Gottesdienstbesuch verbindet ebenfalls und man kann das Gehörte gemeinsam diskutieren. ♥ Das Paradies kann man – so heißt es - nur zu Zweit betreten. Auch Gott kann sich einem zu Zweit offenbaren, gerade zu Zweit, auch oft gegenseitig ineinander. ♥ Zu zweit kocht es sich besser, man kann sinnvoller einkaufen und wirtschaften. ♥ Man verfolgt ein gemeinsames Ziel und die Gemeinsamkeit macht stark! Abwechselnd ja nach Tagesform zieht der eine den anderen mit. ♥ Und das Ultimative: Die gemeinsame Erinnerung: "Weißt Du noch, die deutsche Herberge mit dem tollen Innenhof mit dem Wandbild? Wo war das doch gleich? Da, wo wir die Hospitaleros aus Los Arcos wieder getroffen haben" "In Hospital d'Orbigo, und weißt Du noch, da vorn auf dem Brunnen gab’s doch die leckeren Reneclauden. Das war wirklich ne schöne Herberge, aber der Weg aus León raus war schon heftig, oder!" Was waren die größten Herausforderungen dabei? ♥ Den anderen so zu lassen, wie er ist. Sich selbst aber auch! Den anderen auch mal ziehen zu lassen oder zurückzulassen in der Gewissheit der Gemeinschaft. ♥ Zu einem gemeinsamen Ergebnis/Erlebnis beizutragen. ♥ Sich der Gemeinschaft hinzugeben. Sich selbst zu geben. ♥ Über den eigenen Schatten springen lernen. ♥ Anpassung an Gemeinsamkeit bei Selbstbewahrung/Treue zu sich selbst (man kann sich nicht einen ganzen Camino aufopfern oder zurückstellen!) ♥ Sich vollständig zu stellen, einzulassen und wahr zu machen und nicht davon zu laufen, wenn es mal schwierig ist. Im Antlitz der Liebe - 387 - © Gabriele Sych Was hat uns am meisten dabei geholfen? Zwei Dinge: Die Liebe und La Paz: Im katholischen Gottesdienst unterwegs haben wir das Ritual des Paz Christi lieben gelernt. Man reicht sich die Hand oder umarmt sich zum Frieden in Jesus Christus. Wenn es schwierig wird, sich - wie im Gottesdienst - mit den Worten „La Paz“, "Paz Cristi" oder auf deutsch "Der Friede Christi sei mit dir" die Hand reichen und Bereitschaft zum Frieden und zur Kooperation ausdrücken. Und dann kommt Er auch und hilft, das Aktuelle auszusortieren und zu klären und zu einem friedvollen und gottvollen Ergebnis zu führen. Einfach mal ausprobieren (hilft im Alltag natürlich auch jederzeit!)“ Die Geste, das Ritual des „La Paz“ entstammt der Bergpredigt, Matthäus 5 (Lutherbibel 1984) 23 Wenn du deine Opfergabe zum Altar bringst und dir dabei einfällt, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, 24 so lass deine Gabe dort vor dem Altar liegen; geh und versöhne dich zuerst mit deinem Bruder, dann komm und opfere deine Gabe. 25 Schließ ohne Zögern Frieden mit deinem Gegner, solange du mit ihm noch auf dem Weg zum Gericht bist. Wenn ich im Gottesdienst mehrfach: „Der Friede sei mit dir!“ gesagt bekommen habe, dann fühle ich mich ganz leicht. Der Friede ist in diesem Moment tatsächlich mit mir, eine wundervolle Erfahrung. Je länger ich darin verweilen kann, umso besser für mich und die ganze Welt. Der Friede des Herrn sei allezeit mit Dir, der Du dies gerade liest! Ich glaube, was ich schrieb, gilt auch für den Alltag, für jede Ehe und Familiensituation. Die meisten Ärgersituationen in Beziehungen zu geliebten Menschen, Partner und Familie, sind – vor allem im längerfristigen Rückblick betrachtet – recht nichtig, sie schreien nicht nach Recht haben oder einem Richter oder nach Konfrontation, sondern nach Klärung, Vereinbarung, einem Dank oder einer Bitte und Nachsicht und Einsicht, nach dem Verstehen des anderen, nach dem sich selbst Verstehen – oder einfach Zeit, dass man fühlen kann: Muss uns der Grund des Ärgers trennen? Wie wichtig ist mir der Andere? Was kann ich statt mich Ärgern tun? Im Antlitz der Liebe - 388 - © Gabriele Sych Lassen wir den Ärger abziehen, atmen wir ihn aus, geben wir uns zuerst die Hand zum Friedensgruß, zum Frieden Christi und dann – was jeweils nötig ist. Spätestens vor dem Schlafengehen desselben Tages ist es an der Zeit, oder? 2.2.3.2 Vernunft! Vernunft? Philipper 4 (Lutherbibel 1984) 4 Freuet euch in dem Herrn allewege, und abermals sage ich: Freuet euch! 5 Eure Güte lasst kund sein allen Menschen! Der Herr ist nahe! 6 Sorgt euch um nichts, sondern in allen Dingen lasst eure Bitten in Gebet und Flehen mit Danksagung vor Gott kundwerden! 7 Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Das Wort Vernunft in der Bibel wird zum einen mit dem griechischen Wort σοφια = Sofia ausgedrückt, das heißt eigentlich Geschicklichkeit, Gewandheit oder Kunstfertigkeit, im übertragenen Sinne dann Verstehen, Kenntnis, Einsicht, (Lebens-)Klugheit, Weisheit. Zum anderen ist es das Wort γνωσις = Gnosis, das heißt Erkenntnis, Einsicht, Denken und Wollen, ebenfalls das Wort νοος = Noos mit der Bedeutung Sinn, das Vermögen geistiger Wahrnehmung, daher auch Einsicht, Verstand, Vernunft, Aufmerksamkeit; das Vermögen des Wollens, d.h. Absicht, Gedanke, Zweck; das Empfindungsvermögen, d.h. Gesinnung Sinnesart, Gemüt, Seele, Herz, in Verbindung mit dem Wort „wach“, „Wächter“ (hier im o.g. Philipperbrief). Ist es das, was wir heute gemeinhin unter Vernunft verstehen? Es ist gar nicht so schwer, in einem Leben sich zurecht zu finden, wir hatten das hier schon. Es gibt so viele Zeichen, die uns damit weiterhelfen, für uns zu finden, was gut und was nicht gut für uns ist. Es stehen im Vordergrund zunächst unsere Gefühle. Das ist ganz einfach. Das was uns anzieht, ist das, was er für uns darbietet, und das, was uns kalt lässt oder abstößt, ist für andere da. Dann unsere Wahrnehmung dessen, was ist, was er vor unsere Füße, unsere Augen stellt: Das, was da ist, ist für uns, das was nicht da ist, ist nicht für uns. Und unsere Einsicht: Was stellt sich als gesund und lebbar heraus? Und es leben! Was macht uns krank? Und es lassen! Im Antlitz der Liebe - 389 - © Gabriele Sych Das mag zunächst ganz ungewohnt klingen, denn wir haben ja meist eine ganz andere Erfahrung gemacht während unserer gesamten Kindheit: Vernunft ist, was die Erwachsenen wollen. Vernünftig ist, wozu wir keine Lust haben, und wo wir nicht so sein können, wie wir sind. Wir waren gehalten zu lernen, damit später aus uns was wird. Und selbst, wenn wir keine Lust zum Lernen haben, dann sollten wir uns dazu zwingen. Und einfach weiterlernen. Disziplin, Wille, Ehrgeiz, Leistungsstreben. Das ganze System ist danach ausgelegt. Morgens aufstehen und zur Arbeit oder zur Schule gehen. Den ganzen Tag irgendeine Arbeit erledigen, vom Brötchen backen bis zur Vorstandssitzung. Unsere Lebenszeit verkaufen. Abends nach Hause kommen und uns ausruhen, denn morgen geht das ja wieder los. Das alles scheint seinen Sinn zu haben. Hat es auch. Doch was für einen Sinn hat es wirklich? Ist die Art, wie wir leben, was gemeinhin vernünftig genannt wird, was uns normal und richtig erscheint, wirklich sinnvoll und vernünftig? Die Frage, die wir uns als erstes stellen können: Macht das, was alle denken, Sinn, ist es geprägt von Einsicht, Weisheit, Lebensklugheit, Herz, Seele, Aufmerksamkeit, Wachheit? So, wie es heutzutage ist: Macht es Sinn, einen Beruf zu haben, bei dem man sich 8 Stunden an eine andere Stelle begibt, sich von den Seinen trennt, dann noch einige Zeit in irgendeinem Verkehrsmittel verbringt, um dann völlig erledigt zuhause wieder zu erscheinen, wo einen alle erwartungsvoll ansehen und Zuwendung und Aufmerksamkeit wollen, obwohl diese längst an alle anderen Begegnungen im Laufe des Tages verteilt wurde. Was bekommen denn die von uns, die uns am meisten lieben, die wir am meisten lieben? Einen von der Arbeit verbrauchten Menschen. Einen, der eher ihre Aufmerksamkeit und ihre Zuwendung nötiger als alles hat, weil er sich leergearbeitet hat. Vernunft?? Nööö!!! Cartoon von Johanna Fritz Im Antlitz der Liebe - 390 - © Gabriele Sych Nochmals: Ist dies richtig? Ist dies sinnvoll? Ist dies weise? Fördert dies die Liebe und Freude im Leben? Was ist unsere Einsicht? Sind wir sicher, dass Gott dies für uns gewollt hat? Sind wir sicher, dass wir das für uns gewollt haben? Können wir uns ein schöneres Leben vorstellen? Können wir uns ein Leben vorstellen, in dem wir das, was wir am meisten lieben, in den Vordergrund stellen? Das wir uns mit dem beschäftigen, was wir am meisten lieben, dass wir die Menschen um uns haben, die wir am meisten lieben? Das wir beispielsweise so frei sind, die Tage nutzen zu können, an denen die Sonne scheint, um hinauszugehen, in die Sonne zu gehen, und anderen Tage zu nutzen, um uns um die Dinge im Innern zu kümmern: sauber zu machen, Briefe zu schreiben, Dinge zu erledigen, die erledigt werden wollen. Du fragst: Ja und was werden wir denn essen und wo werden wir wohnen, wenn wir dies bisherige Leben nicht mehr weiterverfolgen, wenn wir einfach das tun, was wir in diesem Moment gerade tun mögen? Wie werden wir mit anderen zusammen kommen, um gemeinsam die Dinge zu erledigen, die wir nicht mehr allein erledigen können? Wie soll denn das gehen? Wir könnten uns auf nichts mehr verlassen! Das Leben ist doch so entstanden, weil wir es so brauchen, weil es so sein muss! Ist das wahr? Können wir wirklich wissen, dass dies wahr ist? Unser Manual dieser Welt, die Bibel, sagt etwas anderes…Wie viele Jahre gibt es diese Welt in dieser Form? Ist alles zum Besseren gelangt, weil wir in dieser Art und Weise denken und handeln? Und wie sieht es aus mit der Liebe? Nehmen wir uns wirklich die Zeit für die Liebe, die sie verdient? Schauen wir uns doch an, was wir wirklich brauchen. Wenn die Liebe das Wichtigste ist auf dieser Welt, das, was alles andere zusammen hält, das zu leben, was der Sinn dieses Planeten ist: Was tun wir dafür? Setzen wir uns wirklich täglich mit ganzem Herzen dafür ein? Ist unser Geliebter, unsere Geliebte an erster Stelle in unserem Leben? Was tun wir täglich für die Liebe, für unseren Geliebten, den wir ein ganzes Leben zu lieben schwören? Haben wir Zeit füreinander? Beginnen wir den Morgen, indem wir die Liebe zueinander feiern? Oder sind wir schon in Eile? Verbringen wir unsere schönsten und kraftvollsten Stunden miteinander oder unsere schwächsten und kraftlosesten? Und wenn es letzteres ist, wie wirkt sich das auf unsere Liebe aus? Stehen unsere geliebten Kinder für uns im Vordergrund? Oder treten sie zurück an eine Stelle, in der sie zwar mit uns leben, aber nur einen Bruchteil unserer Aufmerksamkeit Im Antlitz der Liebe - 391 - © Gabriele Sych bekommen, sie von hauptsächlich von anderen Menschen erzogen werden? Liegt unsere Liebe hauptsächlich in ihrer materiellen Versorgung? Geben wir ihnen unser Bestes oder das, was übrig bleibt, wenn alles andere geschehen ist? Wie wird heutzutage Familienarbeit geschätzt? In der so genannten Positivliste für 1-Euro-Jobs werden Tätigkeiten aufgeführt, deren Ausführung „unbedenklich“ sind für den 1. Arbeitsmarkt, d.h. den Arbeitsmarkt, bei dem Leistung gegen Entlohnung ins Verhältnis der „Wertschätzung“ gesetzt wird. Die in der Positivliste aufgeführten Tätigkeiten sind alles Dinge, die einer persönlichen Wertschätzung unterliegen, d.h. die von einem anderen als ausgesprochene Wohltat empfunden werden, die ausdrücklich Liebe von einem Menschen zum anderen Menschen transferieren können. Schwache fühlen sich unterstützt. Diese Arbeit dient dazu, dass Menschen sich in schwierigen Situationen weniger alleingelassen und auf sich gestellt fühlen. Sie dienen dazu, die uns anvertrauten Menschen besser zu fördern und zu begleiten. Und diese Tätigkeiten werden pro Stunde mit 1 Euro wertgeschätzt, während jede andere Tätigkeit eine höhere Wertschätzung erhält. Und wie wird sich das für den Empfänger anfühlen, wenn diese Tätigkeiten aus reinem Pflichtgefühl, sogar vielleicht mit Abscheu getan werden? Die Erkenntnis der Wertschätzung wird sich meist erst dann ergeben, wenn wir selbst dieser Hilfe bedürfen, wenn wir selbst merken, wie wichtig uns ein Mensch an unserer Seite ist, wenn wir selbst klein, ängstlich, verlassen, krank,. verpflichtet, zeitlos, gestresst fühlen. Es ist wie Balsam auf der Seele, wenn dann ein Mensch da ist, der mit Ruhe und Zeit uns begleitet, uns die Hand hält und solange ausharrt, bis dieser schwache Moment wieder vorbei ist. So ging es mir: Vor einigen Jahren spürte ich beim Duschen einen Knoten in meiner rechten Brust. Ich bekam riesige Angst, mein ganzer Körper begann sofort zu zittern, das Wort Krebs flammte blitzartig in meinem Geist auf. Ich fühlte mich in Lebensgefahr, mein ganzes Leben, meine ganzen Pläne schienen in sich zusammenzufallen. In diesem Moment war mir alles egal, keine Bedenken, mich lächerlich zu machen: ich packte meine Sohn ein und fuhr sofort ins Krankenhaus, es war Sonntagvormittag. Im Notdienst untersuchte mich eine junge Ärztin oberflächlich. Sie empfahl mir die umgehende Abklärung durch Ultraschall und Röntgen und Gewebsentnahme, was sonntags jedoch leider nicht möglich war. Ich konnte nicht mehr schlafen, ich konnte nicht mehr essen, ich war nicht mehr ich selbst, ich lief herum wie Im Antlitz der Liebe - 392 - © Gabriele Sych Falschgeld. Mit aller Kraft und allen verfügbaren Mentaltechniken versuchte ich, meine Panik zu bändigen, doch nur mit mäßigem Erfolg. Am Montag rief ich sofort im Krankenhaus an und bekam für Dienstag einen Termin für die Untersuchung. Am Dienstag fuhr Santiago mich ins Krankenhaus – was für ein Segen, nicht selbst fahren zu müssen. Freundlich plaudernd lenkte er mich die zwei Stunden ab, die ich trotz Termin noch warten musste, hielt mir die Hand, drückte mir die Daumen und lächelte mir zu, kurz bevor sich die Tür zum Untersuchungsraum hinter mir schloss. Was wären diese zwei Stunden ohne Begleitung für eine Qual gewesen! Zum Glück konnte ich mit einem völlig beruhigenden Ergebnis nach der Untersuchung wieder nach Hause gehen. Er teilte begeistert meine Erleichterung, wir lachten und feierten. Wie ich diese Erfahrung wertschätze? Sie ist eigentlich unbezahlbar, sie ist die beste Unterstützung und das große Glück in einem solchen Moment der Tiefe. Wie wäre dies allein gewesen? Einfach mal diese Situation nachfühlen! Sie werden wissen, was ich meine! Ein solches Erlebnis ist ein Meilenstein der Emotion, der Vertiefung der Verbundenheit zu einem anderen Menschen. Welch eine Verschwendung, solche Verbundenheit nicht wahrzunehmen, anzunehmen durch: Ach, das schaffe ich schon! Ach, das schaffst du doch auch allein! Welche eine Verschwendung, sie nicht immer wieder zu verschenken! Was sind die Worte, die unsere Kinder von uns am meisten hören: Sei doch vernünftig! Bitte sei leise! Nun stell Dich nicht so an! Nun mach doch mal endlich! Beeil Dich! Oder hier ein Auszug aus der Web-Seite, die ich einmal gefunden habe: http://www.kraetzae.de/erziehung/sprueche/, aufgeschrieben von Mike Weimann: Kannst du mir mal sagen, was das soll Sei ordentlich Geh da weg Das ist nichts für Kinder Du kriegst keine Extrawurst Wer nicht will der hat schon Hör mit dem Geplärr auf Entschuldige dich Warum isst du schon wieder nichts Dazu bist du noch zu klein Woher hast du das Da führt nun mal kein Weg dran vorbei Das glaubst du doch selber nicht Das ist doch kein Umgang für dich Hör auf dich wie ein Kind zu benehmen Sieh mich an, wenn ich mit dir rede Das tut doch gar nicht weh Du wirst mir noch mal dankbar sein Wer nicht hören will muss fühlen Brav Du musst noch ruhiger werden Sitz gerade So spricht man nicht mit seinen Eltern Du brauchst nicht traurig zu sein Benimm dich Räum auf Lass das Stell dich nicht so an Heulsuse Ich hab dir schon hundertmal gesagt Sag Dankeschön Weshalb kommst du so spät nach Hause Kommt überhaupt nicht in Frage Wo warst du schon wieder Du solltest dich schämen Wenn du nur einen Funken Verstand hättest Mach bitte nicht so ein Gesicht Hoffentlich hast du mal ein Kind wie dich Du brauchst keine Angst zu haben Hast du keine Ohren Es wird gegessen, Im Antlitz der Liebe - 393 - © Gabriele Sych was auf den Tisch kommt Denk doch mal an später…. Das geht da noch mindestens eine Seite so weiter, dortselbst nachzulesen. Tut weh, oder? Klingt für mich eher nach: „Sei so, wie ich es erwarte! Sei so, dass du mich nicht nervst! Sei so, dass ich dich aushalten kann. Sei so, dass mein Leben trotz dir funktioniert.“ Das ist der Weg in die „Vernunft“? Ist dort Liebe drin? Was man gemeinhin als Vernunft in der jetzigen Welt zu betrachtet, fühlt sich an nach „sich von seinen Sinnen abzutrennen und sich anzupassen“. Das ist nicht gesund. Unser heutiger Weg hat für mich nichts, aber gar nichts mit Vernunft im Sinne von Einsicht, Sinnhaftigkeit und Weisheit zu tun. Es ist maximal die Vernunft der Angstvermeidung. Wir sind paralysiert vor Angst über alle möglichen Dinge, so dass wir uns fast nur noch um Absicherung bemühen. Wir sind bar jeden Vertrauens, wenn wir nach heutigen Maßstäben „vernünftig“ leben. In meiner Praxis tauchen Menschen auf, die an der Anpassung an diese scheinbare Vernunft schier kaputt gehen. Sie fühlen sich permanent im falschen Film, wenn sie ganz richtig etwas als völlig falsch fühlen, was heute der Norm entspricht, was heute ein Mensch bewältigen sollte. Ich treffe Frauen, die der Härte des heutigen Berufslebens nicht gewachsen sind und an dieser Härte zerbrechen. Sie fühlen die Ansprüche an die verschiedenen „Hüte des Lebens“: berufliche Karriere und Erfolg, Selbstverwirklichung, Sinnfindung, Aussehen, Image und Status, Familie, Kinder. Sie haben das Gefühl, das alles auch auf die Reihe bekommen zu müssen, scheitern in ihrer Sensibilität an diesem Joch, fühlen sich als Versager und völlig daneben. Die Forderung nach Anpassung ist so groß, dass dabei immer wieder die Persönlichkeit der Menschen zerbricht. Suizidalität allenthalben! Sie fühlen richtig, konform mit ihrer Seele und Gottes Willen für uns und kriegen gesagt, dass sie nicht in Ordnung sind. Bekommen zusätzlich die Aufgabe, sich endlich „mal in Ordnung zu bringen“, damit sie wieder „funktionieren“, damit die Anhänger der scheinbaren Vernunft nicht umdenken müssen. Wenn so viele, viele scheitern, es so viele Menschen krank macht, wie kann es richtig sein? Unsere jetzige Welt ist schreiende Unvernunft. Doch die Schreie verhallen – Im Antlitz der Liebe - 394 - © Gabriele Sych in der Regel ungehört – im Innern des Individuums, im Nebel der Psychopharmaka82 und anderer Drogen und wenn es ganz schlimm kommt – in der Psychiatrie. Gott, bitte hilf den „Hungernden nach OK sein“, bitte setze dieser schreienden Unvernunft ein Ende! Danke! 2.2.4 Alltagspraktiken für Hilfe durch Jesus Christus Jesus Christus mit seinem heiligen Herzen kann uns helfen, die mit unserer eigenen Liebesfähigkeit voran zu kommen, damit wir weder neue Energien von Ärger, Trauer oder Enttäuschung in uns einlagern, noch die alten immer wieder auskramen müssen, damit wir wach werden können und uns gestatten, so zu sein, wie wir sind. 2.2.4.1 Ein Gebet vom Wegesrand Meine einwöchige Pilgertour auf dem Jakobusweg in der Rhön beendete ich mit einem kleinen Abstecher auf dem Marienweg in der Wallfahrtskirche von Volkersberg/Bad Brückenau. Dort fand ich ein kleines Gebet, mit dem wir immer wieder eine kleine Pause für uns einleiten können, um uns wieder aufzutanken. Ich bin jetzt hier, Jesus, bei Dir in der Stille. Ich bin vor Dir und schaue Dich an und Du schaust mich an. Dein Blick ist zärtlich und mild; er beruhigt mich; er tut mir gut. Es ist schön, bei Dir zu sein und Deine Gegenwart zu spüren Herr, nimm mich in Deine Arme. Amen. 82 Weltweit wurden in 2007 ca. 20 Mrd. Dollar für Antidepressiva ausgegeben. (Quelle IMS Health Marktforschung). Ungefähr ebenso viel wird mit Antipsychotika umgesetzt. Unter den Top 10 der umsatzstärksten Arzneimittel befinden sich drei Psychopharmaka. Im Antlitz der Liebe 2.2.4.2 - 395 - © Gabriele Sych Jesus in sein Herz einatmen/im Herzen vorstellen Wir stehen aufrecht und breiten unsere Arme aus. Dann stellen wir uns Jesus vor, der vor uns steht. Mit jedem Atemzug atmen wir dieses Bild in unser Herz ein. Wir können auch ihn umarmen oder uns umarmen lassen. Alternativ können wir uns auch sein Herz mit Kreuz, Flamme und Dornenkrone in unserem Herzen vorstellen, es in unser Herz platzieren und dort wirken lassen. 2.2.4.3 Das Jesusgebet/Herzgebet Es gibt eine wunderbare Form, das Atmen mit dem Gebet zu verbinden – das Jesusgebet. Dieses Gebet können wir mit jedem Atemzug sprechen. Alternativ kann man dieses Gebet auch im Takt des Herzschlages beten. Es enthält immer eine Bitte an Jesus und kann verschiedene Formen annehmen: Jesus Christus (Beim Einatmen) – erbarme Dich meiner (Beim Ausatmen) Jesus Christus (Beim Einatmen)– ist der Herr (Beim Ausatmen) Jesus Christus (Beim Einatmen) – erlöse mich (Beim Ausatmen) Jesus (Beim Einatmen) – ich liebe dich (Beim Ausatmen) Damit laden wir unseren Atem mit dem Verbindungswunsch zu Jesus auf und diese Verbindung tritt dann ein. Gerade die letzte Formel dient im Besonderen der Entwicklung der Liebesfähigkeit. Wie oft wir wiederholen? So lange wir wollen und können, stundenlang, tagelang. Man kann die Wiederholungen auch zählen und sich eine bestimmte Zahl vornehmen, anfangs 50 oder 100 Male, später aber auch 500, 1000, 3000, nach oben gibt es quasi keine Grenzen, es kann auch zu einem permanenter Seinszustand werden, siehe auch 1. Thessalonicher 5 (Neues Leben): 16 Seid immer fröhlich. 17 Hört nicht auf zu beten. 18 Was immer auch geschieht, seid dankbar, denn das ist Gottes Wille für euch, die ihr Christus Jesus gehört. Im Antlitz der Liebe 2.2.4.4 - 396 - © Gabriele Sych Heilung durch Abgeben und Loslassen im Heiligen Herzen Jesu Oft gibt es das Problem, dass man eine verletzende Situation so fest umklammert hält, so dass man sich immer weiter verletzt. Oder man handelt vorsätzlich „eigentlich schon“ so, dass man die Situation loslässt, jedoch verweilt man ganz angespannt dabei, wie um direkt hinter der Tür zu lauschen und zu schmulen, ob sich nicht doch das Erwünschte einstellt, was man durch das Loslassen erreichen will. Doch diese Anspannung hält uns nervös, unruhig, macht uns wankelmütig oder ängstlich, ob sich nun alles zum Guten wendet. Loslassen heißt loslassen und im gleichen Moment sich der aktuellen Realität vollständig zuzuwenden, keinen Gedanken mehr an das Losgelassene mehr verschwenden, ist aber für viele sehr oft schwer. Indem wir nun die Situation vertrauensvoll dem Heiligen Herz übergeben, kann sich die ganze Situation dort in Liebe klären, die Anspannung fällt ab und wir gewinnen wieder Klarheit. Es ist leichter, konsequent zu sein und sich am Wirklichen orientiert den weiteren Weg voranzugehen. Und so funktioniert die Übung: Zunächst identifizieren wir die Situation, die es loszulassen gilt. Das kann ein Mensch sein, eine Verhaltensweise, aber auch eine Angst oder Sorge, materiell oder persönlich, z.B. auch um eine Krankheit. Zunächst identifizieren wir das, was wir aus unserem Herzen herausnehmen wollen, nehmen es deutlich für uns wahr83. In der Vorstellung nimmt man mit beiden Händen die Person, die Krankheit oder die Situation symbolisch aus dem eigenen Herzen und legt sie in das flammende, heilige Herz Jesu Christi und bitten Ihn, sich dessen in Liebe anzunehmen. Dasselbe wiederholt sich anschließend dann für den Solarplexus. Auch hier führen wir beide Hände zum Solarplexus und entnehmen Person, Krankheit oder Situation und vertrauen sie ebenfalls dem heiligen Herzen an. Legen wir anschließend noch ein wenig die Hände auf unser Herz und unsern Solarplexus, damit sie mit Wärme gefüllt werden. Bei einer Behandlung beschrieb eine meiner Klientinnen mal den Stolz, den sie Jesus übergeben wollte: wie Edelstahl oder eine glänzende Metalliclackierung, von der Konsistenz her glatt, wie ein himmelhoher Schornstein über einer schmutzigen Werkhalle, in der hart gearbeitet wurde, Geräusche von 83 NLP-Fähige können eine vollständige VAKOG-Beschreibung bilden. Im Antlitz der Liebe - 397 - © Gabriele Sych Metallbearbeitung. Doch als wir zum Geruch kamen, war ihre Wahrnehmung ein Schwefelgeruch. Da wussten wir sofort, zu wem der Stolz gehört und dass wir ihn besser jetzt als gleich loswerden wollten... Übergeben wir ihm die Lösung, hören wir aber sogleich auch auf, uns weiter einen Kopf darum zu machen, weiter zu grübeln, weiter zu leiden, weiter unsere Wunden immer neu aufzukratzen und zu prüfen, ob noch Blut kommt. Wir haben es in diesem Moment abgegeben und: Gut ist es! Irgendwann kommt wieder etwas zu uns zurück, ob nun als Erkenntnis oder als Reaktion eines anderen. Hiob 5 (Neues Leben): 8 An deiner Stelle würde ich mich an Gott wenden und meine Sache in seine Hände legen. 9 Denn er tut große Dinge, die niemand begreifen kann. Er vollbringt unzählige Wunder. Im Antlitz der Liebe 2.3 - 398 - © Gabriele Sych Der Weg der Hoffnung Als ich am vorletzten Tag in der Kathedrale in Madrid saß, fragte ich Santiago: Was genau ist eigentlich der heilige Geist? So wenig wie ich hatte er eine konkrete Vorstellung davon. Da beschloss ich, mich in Berlin ausführlich mit dem Heiligen Geist zu beschäftigen. Mit Gott, dem Vater, hatte ich meinen Weg begonnen, Jesus war mir in Barcelona mit Macht und Deutlichkeit begegnet und aus meinem Leben nicht mehr wegzudenken. Der dritte Schritt zur Ergründung der Dreifaltigkeit Gottes war der Heilige Geist. Die weiße Taube, das war mir gegenwärtigste das Bild. Unterwegs waren mir bewusst zweimal weiße Tauben begegnet: Eine weiße Taube an der Schleuse von Fromista, als sich Santiago von mir getrennt hatte, zwei weiße Tauben in Portugal an dem Tag auf dem Weg nach Anádia, kurz nachdem Santiago auf den Camino zu mir zurückgekehrt war. Und so begann ich meine „Forschung“ nach dem Heiligen Geist und damit nach der Gesamtheit der Trinität Gottes. Hoffnung, das sind die Kraft und das Geschenk des heiligen Geistes. Hoffnung ist Kraft. Es ist soviel Energie in der Welt, als Hoffnung drin ist. Albert Schweitzer, (1875 - 1965), deutsch-französischer Arzt, Theologe, Musiker und Kulturphilosoph Hoffung ist die Karotte, die – vor unserer Nase baumelnd - uns im Leben unseren Weg in die Zukunft verheißt, uns immer weiter gehen lässt. Hoffnung ist unser Tor zur Zukunft. Hoffnung ist der Glaube, dass alles gut wird, dass Liebe ist, dass egal, wie tief die Nacht unseres Lebens gerade sein mag, ein neuer Morgen naht. Sprüche 13 (Lutherbibel 1984): 12 Hoffnung, die sich verzögert, ängstet das Herz; wenn aber kommt, was man begehrt, das ist ein Baum des Lebens. Für mich ist der Heilige Geist der Geist der Heilung von Menschen und Situationen, oft wurde er der Tröster genannt. Er schenkt uns den stetigen Wandel (die Wanderung), damit jede Situation, sei sie auch noch so schwierig, erlöst wird; er bewirkt immer wieder neue Lebendigkeit, neuen Lebenswillen und Regeneration auf allen Ebenen. Durch seine Charismen/Gaben lässt er uns Gottes teilhaftig werden. Im Antlitz der Liebe 2.3.1 - 399 - © Gabriele Sych Gott der Trinität / Dreifaltigkeit, Raum und Zeit In einer Dreifaltigkeitskirche bin ich getauft. Als wir in Fátima waren, wurde gerade anlässlich des 90. Jahrestages der Erscheinung die „Igreja da Santissima Trindade“ eingeweiht, die Kirche der allerheiligsten Dreifaltigkeit, eine kreisrunde Kirche. Über die Dreifaltigkeit Gottes gelang es, den Heiligen Geist mir zu erschließen. Ich will das folgende eine Privatoffenbarung durch Jesus, eine private Lehrstunde nennen, wie er mir in der Zeit nach dem Camino geholfen hat, den dreifaltigen Gott zu verstehen: Mit der Trinität / Dreifaltigkeit / Dreiheit wird dargestellt, dass Gott und Gottes Reich komplett aus der Dreiheit besteht. Diese Dreiheit gehört zusammen und kann nicht voneinander getrennt werden (außer in einer hier beschriebenen Form). Es heißt, dass der dreifaltige Gott aus drei Wesenheiten besteht, die gemeinsam eine Einheit bilden. Unteilbar heißt auf Griechisch atomos. Und tatsächlich ist auch das Atom ein Modell bzw. die Manifestation der Trinität. Es besteht aus: ♥ einem neutralen Element, dem Neutron, der Punkt, in dem sich beide Pole ausgeglichen an einem Ort befinden, ist in der Trinität Gott-Vater. Er enthält beides in sich, beide Pole, beide Qualitäten, alles in einem Punkt, alle Zeiten zu einer Zeit. Er ist die vollendete Einheit. Friede. Die beiden anderen Teile sind der Eintritt in die Polarität, der unterschiedlichen Ladung, und zwar: ♥ dem Proton, Gott-Sohn=Jesus, der das Herz Gottes darstellt und den Atomkern mitbildet, zur Rechten des Vaters, El Sagrado Corazón de Jesus, das heilige Herz Jesu, die materielle Manifestation Gottes, seines Willens, Materie, das statische und feste, die materielle und spirituelle Anziehung, Gravitation und ♥ dem Elektron, der Heilige Geist, Sein Bewusstsein, Seine Schöpfungskraft, die Lebendigkeit, die Bewegungskraft Gottes, was sich auf Bahnen um den Kern bewegt. Wir wissen, es ist da, doch zu keiner Zeit können wir seinen genauen Aufenthaltsort bestimmen. Gleichzeitig ist es das Element, das Raum schafft, denn durch die Atomhülle, die es durch seine Bewegung schafft, gibt es uns die Im Antlitz der Liebe - 400 - © Gabriele Sych Illusion von Raum, von Ausdehnung des Atoms, obwohl es sich immer nur an einer winzigen Stelle des ganzen Raumes, der ganzen Atomhülle befindet. Und mit dem Raum entsteht auch die Zeit, denn nur durch die Bewegung im Raum entsteht Zeit. So offenbart sich Gott in allem, was ist, so, wie es in der Bibel benannt ist. (Alle 3 Zitate aus Lutherbibel 1984) 1. Kor. 15,28 28 Wenn aber alles ihm untertan sein wird, dann wird auch der Sohn selbst untertan sein dem, der ihm alles unterworfen hat, damit Gott sei alles in allem. 1. Epheser 22 Und alles hat er unter seine Füße getan und hat ihn gesetzt der Gemeinde zum Haupt über alles, 23 welche sein Leib ist, nämlich die Fülle dessen, der alles in allem erfüllt. 1.Kolosser 16 Denn in ihm ist alles geschaffen, was im Himmel und auf Erden ist, das Sichtbare und das Unsichtbare, es seien Throne oder Herrschaften oder Mächte oder Gewalten; es ist alles durch ihn und zu ihm geschaffen. 17 Und er ist vor allem, und es besteht alles in ihm. Alle drei Wesenheiten sind gemeinsam Gott und das Leben, Gott-Vater, Gott-Sohn und der Heilige Geist. So erklärt sich, dass Gott-Vater nicht Gott-Sohn ist und nicht der Heilige Geist und so weiter. Damit Gott sich selbst erfährt, um von uns Menschen erfahren werden zu können, mussten alle Dinge von dem einen Punkt Ewigkeit in den Raum und in die Zeit aufgefächert werden, in die Polarität eintreten, damit sie hintereinander und nicht alle gleichzeitig erfahren werden. Nur so ist Erfahrung wirklich erfassbar, sogar tief greifend und verständlich. Das kennen wir sogar auf einfachster Ebene aus dem Alltag: wenn alles auf ein Mal kommt oder wenn alle durcheinander reden, kriegt man gar nichts mit. Gemeinsam bilden sie ein ewiges Kontinuum: Einheit – Manifestation – Bewusstsein, das ständig durchlaufen wird. Es dient der Erfahrbarkeit Gottes, sich selbst für sich selbst, der Mensch für sich und für Gott. Denn solange keine Tätigkeit, keine Ursache und Folge entsteht, kann Gott sich selbst und seine Macht und seine Liebe nicht erfahren, entfalten, nicht erfahrbar machen. Wir ihn und uns auch nicht. Im Antlitz der Liebe - 401 - © Gabriele Sych Somit ist auch der Zusammenhang da und klar: Der Mensch und alles, aus dem diese Welt unter den Bedingungen von Raum und Zeit besteht, besteht vollständig aus der Trinität, nämlich aus Atomen. So sind wir Gott und Gott ist alles, was ist. Und alles, was geschaffen ist, ist Gott und Gott ist alles, was geschaffen ist. Er schafft sich als Trinität in allem, was wächst und entsteht und vergeht immer wieder neu. Die Ewigkeit, die Einheit, das ist ein Zustand ähnlich dem schwarzen Loch, an dem die Anziehung, die Gravitation so unendlich ist, dass alles wieder in Gott-Vater, das All-Eine übergeht. Wo auch der Heilige Geist in diesem Punkt ist und somit der Raum für einen Bruch in der Zeit verschwindet. Das sichtbare, wie wir meinen fassbare Universum ist eine Art Ausstülpung, Ausdehnung der All-Einheit in Raum und Zeit. Wir sind Sinnes- und Wahrnehmungsorgane, die Erfahrungen machen, diese Erfahrung wahrnehmen und uns des Wahrgenommenen bewusst werden, so zum gesamten Bewusstsein beitragen. Das einzige Atom, in dem nicht die Trinität abgebildet ist, ist das Wasserstoffatom vom Typ Proton, das nur aus Proton und Elektron besteht. Der Wasserstoff und das Wasser sind die Promotoren des Lebens, durch sie entsteht der Wandel und die Bewegung. Erst wenn ein Samenkorn vom Wasser und von Geist benetzt wird, entsteht wieder Leben. Der Kreislauf kommt erneut in Bewegung. Gott ist der Schöpfer und er gibt sein Herz und seinen Geist zusammen in die Welt, damit er sie erfahren kann. Johannes 3 (Lutherbibel 1984): 5 Jesus antwortete: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn, dass jemand geboren werde aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen. Gott-Vater trennt sich von Gott-Sohn, um Leben zu ermöglichen. Johannes 3 (Lutherbibel 1984): 16 Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. Mir fallen auch dabei zwei große Besonderheiten des Wassers auf. Wasserstoff, Wasser in Verbindung mit Geist sind das Perpetuum Mobile des Lebens. Durch die Anomalie des Wassers, die höchste Dichte bei +4 Grad zu haben, vereisen/erstarren unsere Ozeane nicht dauerhaft und erhalten die Lebendigkeit des Lebens unseres Planeten. Und allein Im Antlitz der Liebe - 402 - © Gabriele Sych das Wasser fällt vom Himmel herab, kommt auf die Erde, um uns zu reinigen und zu nähren und steigt dann wieder zum Himmel auf, um sich am Himmel für den erneuten Regen zu sammeln. Auch Jesus stieg vom Himmel herab, nährte und reinigte uns und fuhr anschließend wieder in den Himmel auf. Und bei seiner Taufe mit Wasser fiel der Heilige Geist vom Himmel herab auf ihn. Der Heilige Geist ist das Bewusstsein Gottes, in das wir uns „einklinken“ können. Hesekiel 36 (Einheitsübersetzung): 25 Ich gieße reines Wasser über euch aus, dann werdet ihr rein. Ich reinige euch von aller Unreinheit und von allen euren Götzen. 26 Und ich will euch ein neues Herz und einen neuen Geist in euch geben und will das steinerne Herz aus eurem Fleisch wegnehmen und euch ein fleischernes Herz geben. 27 Ich will meinen Geist in euch geben und will solche Leute aus euch machen, die in meinen Geboten wandeln und meine Rechte halten und danach tun. Die Schöpfung, wie ich sie verstanden habe: Das war vor dem Urknall: Gott war alles in einem, alle Eigenschaften, alle Materie ohne Ausdehnung in einem Punkt vereint Bildlich gesehen: der Punkt ohne Ausdehnung, an dem alles ist. Und dann traf Er die Entscheidung, das Leben zu schaffen. Und dies begann mit dem Urknall. Und das war der Urknall: Um Leben zu schaffen (d.h. die Welt lieben) Gott zog sich (das Neutron) von seinem Sohn (dem Proton) im Wasserstoffatom zurück und zerschmetterte die Einheit und sich in kleinste Teile und bildete dadurch den Zeit Raum Geist und sämtliche Elektronen, die vom Proton angezogen einen Raum projizieren und durch Bewegung für unsere Wahrnehmung bilden. In der Mitte des Universums der Qualität zeitlose und raumlose Gott, der Ursprung, der sich in Raum und Zeit projiziert, ausdehnt, entfaltet. Bildlich gesehen: aus dem Punkt werden die beiden Pole „herausgeschossen“, das Dreieck bildet sich, ein vielfach gezeigtes Bild der Trinität. Die Trinität ist die Schaffung der aus der Einheit hervorgehenden Manifestation in der Polarität. Gott bewirkt durch den Sohn und den Heiligen Geist die Polarität und schafft dadurch Raum und Zeit. Jesus hat sich in Materie manifestiert. Der Heilige Geist ist das Bewusstsein Gottes wie auch das Licht. Er stellt Raum und Zeit her, weil zwischen den Im Antlitz der Liebe - 403 - © Gabriele Sych Polen Ausdehnung durch verschiedene Qualitäten entsteht. Die Liebe - im Sagrado Corazón de Jesus manifestiert, offenbart und erlebbar - ist in der Gemeinschaft mit dem Vater die wahre Schwerkraft des Universums und im unteilbaren Raum Teil des Atomkernes, um sie herum kreist das Elektron, dass durch die Anziehungskraft der Liebe in seinen Bahnen gehalten wird. Alles existiert gleichzeitig: Dass es alles existiert und gleichzeitig nicht existiert. Alles wechselt permanent vom Zustand Alles-in-Einem (GottVater) zu Manifestation/Materie/Raum und Zeit (Gott-Sohn, der Menschgewordene/ Materialisierte) zu Geist im Sinne von Bewusstsein, erlebte Wahrheit, Weisheit, Verstehen „was ist“, Sinn und daraus resultierendem Glauben (Heiliger Geist). Es stellt sich im Trinitätssymbol im Uhrzeigersinn dar, ein Kreis/Zustand Vater, ein Kreis Sohn, ein Kreis heiliger Geist und so weiter, nur in einer Geschwindigkeit, die wir natürlich nicht wahrnehmen können bzw. wir können den Zustand Materie und Bewusstsein (Energie/Licht) voneinander maximal unterscheiden. Die Reihenfolge ist wichtig. Gott schafft, manifestiert und durch das Erleben der so unendlich liebevollen, wundervollen Manifestation ergibt sich das Bewusstsein Gottes, dass alles gut ist, ergeben sich die Charismen, weil die erlebte Liebe und die erlebten Wunder uns den Glauben schenken, dass alles möglich ist. In diesem Zustand klinken wir uns in den heiligen Geist als Gottes Bewusstsein ein und können daher prophezeien, deuten, Erkenntnisse erklären, heilen. Anders herum, gegen den Uhrzeigersinn84, geht es eben schief: Wenn wir aus unserem eigenen Bewusstsein heraus versuchen zu manifestieren (The Secret etc.), dann ist unser begrenztes Bewusstsein auch der Schöpfer, und damit – genau ! – wird etwas „Begrenztes“ geschöpft. Etwas wird aus unserer Perspektive geschöpft, nicht aus der Einheit der gesamten Menschheit. Den Überblick haben wir einfach nicht. Den Zustand All-Einheit können wir zumindest physikalisch (momentan?) nicht feststellen. Er ist ohne Zeit, es ist nicht messbar ist, es ist einfach.. Wenn wir daher 84 Ich habe das Logo der Trilateralen Kommission gesehen, eine Vereinigung Reicher und Mächtiger. Es ist ähnlich, läuft aber gegen den Uhrzeigersinn, wie die eingebauten Pfeile anzeigen. Hier versuchen Menschen zu manifestieren. Im Antlitz der Liebe - 404 - © Gabriele Sych spirituell eine geistige Verbindung, Raum und Zeit überschreitend, aufnehmen, geht dies alles durch den Mittelpunkt des Alles-in-Einem, wo alles ja auf einem Fleck vorhanden ist, sowohl zeitlich wie örtlich. Eine Einheitserfahrung ist daher die Wahrnehmung des Momentes, wo wir uns im Zustand Alles-in-Einem befinden. Alle Materie an einem Ort ohne Ausdehnung, Höhepunkt der Schwerkraft. Doch dieser Ort ist das „Wurmloch“ zu anderen Orten und Zeiten, weil hier alles zusammen ist. Auch wir selbst bestehen daraus: unsere Seele ist unser Seinszustand in der Einheit, unser Wissen, welcher Platz unserer ist im großen Plan Gottes, der Wille Gottes, der sich dann in uns, in unserer Geschaffenheit manifestiert. Unser Geistkörper ist unser gesamtes Bewusstsein, es bietet Raum für unsere Teilhabe am Geist Gottes. Je stärker unser Bewusstsein auf Gottesbewusstsein basiert, umso reiner ist unser Geistkörper. Wer sich mal in das Bewusstsein Gottes einklinken konnte, der hat erfahren, dass dort Ruhe, Friede und Unendlichkeit herrscht. Aus der Bewusstewerdung heraus gehen wir in den nächsten Schritt, Herzschlag, Atemzug, die nächste Phase der Erfahrung der Schöpfung, von Einheit und Manifestation über, aus der sich wieder Bewusstsein bildet. Die manifesten Wunder in unserem Leben schaffen unser Gottesbewusstsein, so lange wir sie dafür halten. Und im Großen findet auch das statt, auch hier entzieht es sich unserer Wahrnehmung, dass das Universum pulsiert zwischen All-Einheit, Manifestation, Gottesbewusstsein. Zur Zeit nehmen wir eine Ausdehnung des Universums wahr, aber wir können das Zusammenziehen momentan nicht wahrnehmen und dass alles an einem Punkt sein wird zu einem Zeitpunkt, einfach, weil unsere eigene Größe, unsere eigene Lebenszeit, unser eigenes Raumverständnis dafür zu begrenzt sind. Aber wir können es glauben. Die Zeit stellt sich in dem Kontinuum auch in den Qualitäten Glaube, Liebe und Hoffnung dar: Der Glaube in Gott und seine Güte ist die ewige Gottesverbindung, die die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umschließt mittels Liebe und Hoffnung. Die Liebe, das ist für gut halten, was war = geschaffen wurde und was ist, eben Gütevermutung und Güteempfinden für Vergangenheit und Gegenwart. Und die Hoffnung ist die feste Gütevermutung in das, was in Zukunft kommen wird. Hier ist die poetische Form der Schöpfungsgeschichte davon aus dem 1. Buch Mose 1 (dieser und die folgenden Verse alles aus Lutherbibel 1984): Im Antlitz der Liebe - 405 - © Gabriele Sych 1 Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. In heutiger Sprache übersetzt: Gott entscheidet sich, die Erde, das fassbare Universum zu schaffen, womit hier auch Materie gemeint ist. 2 Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser. Also zog Gott sich aus dem Wasser zurückzog (das Neutron) und in den heiligen Geist zerschmetterte (die Elektronen). Die Trennung von Wasser und Geist ist, was genau Leben ermöglicht. Hier ist der Zustand, wo Materie entstanden ist, alle Materie ist zunächst flüssig. 3 Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht. Das ist das explosive, lichtemitierende Element des Urknalls. Und der heilige Geist erhielt zusätzlich die Eigenschaft des Lichtes, die andere Form der Existenz, Licht und Welle zu sein. 4 Und Gott sah, dass das Licht gut war. Da schied Gott das Licht von der Finsternis 5 und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht. Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag. Da es nun Raum gab, schuf in diesem Moment Gott die Zeit; hier wird die erste Zeiteinheit eingeführt. 6 Und Gott sprach: Es werde eine Feste zwischen den Wassern, die da scheide zwischen den Wassern. 7 Da machte Gott die Feste und schied das Wasser unter der Feste von dem Wasser über der Feste. Und es geschah so. Und da zum Anfang alles flüssig war, bildete sich die feste Materie (da machte Gott die Feste), flüssige Materie (Wasser unter der Feste) und das Gas / Wolken (Wasser über der Feste), d.h. alle drei Aggregatszustände entstehen (Etwas Besonderes an Wasser ist, dass Im Antlitz der Liebe - 406 - © Gabriele Sych es in allen drei Aggregatszuständen natürlich auf der Erde anzutreffen ist: gasförmig, flüssig und fest.) 8 Und Gott nannte die Feste Himmel. Und die Feste (Materie) über dem Wasser, d.h. das Gasförmige, das nannte er Himmel. Ein jeder mag die Schöpfungsgeschichte in diesem Sinne vielleicht mal lesen und wird ihre bildhafte Wahrheit erkennen in den Zeitaltern unseres Universums. Sicherlich kann ein Physiker das besser erklären als ich und ich denke, sie tun es. Denn dies ist ein Glaubens- und Heilbuch und keine Physikstunde. Lebendiges bedarf des Wassers und des Geistes. Ein toter Mensch unterscheidet sich von einem Lebendigen durch die Abwesenheit von Geist. Auf rein physischer Ebene sind sie im Moment vor dem Tod und in dem Moment nach dem Tod gleich. Jakobus 2 (Lutherbibel 1984) 26 Denn wie der Leib ohne Geist tot ist, so ist auch der Glaube ohne Werke tot. In diesem Verständnis zeigt sich: alles Materielle ist von Gott geschaffen, und zwar, indem sich Gott mit Hilfe des Geistes schafft. Indem sich die Trinität immer wieder neu manifestiert, schafft sie Gottes Welt und Gott ist gleichzeitig alles, Festes, Flüssiges, Gasförmiges, Sichtbares und Unsichtbares. Die göttliche Trinität zeigt sich und ihre Natur auch im Atom. Der Körper ist aus der Trinität gebildet und somit göttlich. Durch den Samen der Trinität wird das Bewusstsein, der Heilige Geist wieder angefacht, dass wir Gott sind, dass Liebe immer da ist und in ausreichender Menge, die Seele erfährt die Hoffnung, dass sie wieder in Gottes Welt aus Liebe und nicht in einer erdachten Welt leben kann. Durch die Wiederbelebung und Aktivierung der Trinität wird diese Erinnerung geweckt, die Hoffnung geweckt, dass doch alles so gut sein kann, wie Jesus es verkündet. Gott ist alles und alles ist Gott. 2.3.2 Einheit und Trennung, Liebe und Leid Im Antlitz der Liebe - 407 - © Gabriele Sych Wir sind ca. 1500 km von Lourdes nach Fátima in zwei Monaten gelaufen. Dieselbe Strecke hätte man auch in einem Flugzeug innerhalb von 1,5 Stunden zurücklegen können, in Lichtgeschwindigkeit sind das sogar nur eine 1/200 Sekunde. Hätten wir da all die Erfahrungen durchleben und verstehen können, von denen wir in diesem Buch berichten? Wohl kaum! So war es Gotteserfahrung, Gottes Liebe und Fürsorge Tag für Tag erleben. Die Einheit, Gott, ist für uns Menschen schwer erfahrbar, weil sie alles in allem umfasst, zu einer Zeit, an einem Ort, der überall ist. Erfahrungen können in Raum und Zeit durchlebt, gesammelt werden, und zwar dann, wenn die Einheit in eine Zeitabfolge aufgespaltet wird, in einen Prozess und damit einzelne Prozessschritte getrennt wird. In Wissenschaft, Wirtschaft und Verwaltung ist dies gängige Praxis, um zu einheitlichem Handeln zu kommen. Die Arbeitsprozesse werden in Schritten dokumentiert, in FlowCharts visualisiert, in Software programmiert, im Arbeitsalltag institutionalisiert. Erfahrungsprozesse sind ähnlich strukturiert, vom Schöpfer! Als Lebensprozess mit auf einander folgenden Einzelerfahrungen können wir das Lebendige und die Liebe verstehen und erleben, können wir mitbekommen, was und wie die Gaben Gottes sind, können zu unserem Ziel: Gott kommen. Nochmals das Beispiel aus der Musik. Wenn ich alle Töne einer Melodie und gleichzeitig alle Pausen in einem Moment abspiele, kann ich die Melodie nicht erkennen. Wenn viele Menschen gleichzeitig reden, dann kann ich nichts verstehen. Wir sind mit der Einheit meist schlicht überfordert, weil sie so umfassend ist. Wir können manchmal in einer mystischen Erfahrung eine Impression der Einheit erhaschen, das ja! Beispiele: ♥ Das Gefühl, mit allem verbunden zu sein, vom Fuß in den Teppich zur Wand und weiter fort bis in das Unendliche, es wird alles als ein Körper wahrgenommen, wir selbst dem zugehörig. ♥ Das Gefühl der Glückseligkeit einer Gotteserfahrung, wenn unser ganzer Körper, unser Geist und unsere Seele in Liebe brennen. (Nur irgendwann lässt einer dann die Zahnpastatube offen…) ♥ Das Erlebnis der Bekehrung, wenn wir in Jesus Christus in unser Heil „stürzen“, endlich merken, dass wir, so wie wir sind, doch in Ordnung, so geschaffen und gewollt sind, auch fehlerhaft geliebt zu sein, Vergebung erfahren. Das tiefe Im Antlitz der Liebe - 408 - © Gabriele Sych Aufatmen in den Momenten der Gnade durch den dreieinigen Gott und die damit einhergehende unendliche Dankbarkeit. ♥ Das atemberaubende Gefühl auf dem Gipfel eines Berges stehend, wenn wir bis zu einem klaren Horizont in die Weite sehen können, die Größe der Welt und Gottes und die „Nichtigkeit“ und „Unwichtigkeit“ unserer alltäglichen Sorgen und Nöte erkennen. ♥ Der nächtliche Sternenhimmel, wenn wir begreifen, dass dies alles von Gott geschaffen ist, wenn wir seine Größe begreifen. Wenn wir einen Berg erstiegen hatten und über die Gipfel schauen konnten, dann konnten wir die ganze Landschaft erkennen, die wir zu durchqueren hatten, sahen vielleicht eine Stadt in der Ferne, die wir erst am nächsten Tag erreichen würden, der Weg war über eine weite Strecke erahnbar. Sobald wir wieder im Tal angekommen waren, war dieser Überblick nicht mehr da und wir brauchten unsere gelben Pfeile in kontinuierlicher Reihenfolge, um dem Camino folgen zu können, dann war jeder Pfeil, das Detail eben auch nicht unwichtig. Natürlich existiert in Gott die Dualität als eine der unendlichen Möglichkeiten, die in ihm sind. Das ist ja gerade der Effekt der Trennung, die wir als Menschen erfahren. Gott hat die Trennung neben der Einheit ja nicht ohne Absicht herbeigeführt. Was in der Einheit eine Qualität ist, wird in der Dualität als verschiedene Ausprägungen dieser Qualität – oft zwischen zwei Polen – dargeboten. Was in Gott vereint ist, das lässt sich auch trennen. Dafür werden ja gerade Raum und Zeit geschaffen, damit man, was es zu erfahren gibt, konsekutiv, hintereinander und eben nicht gleichzeitig erfahren kann, unterscheidbar, eben auch in verschiedenen Polaritäten erfahren, Unterschiede schmecken kann. Damit Erfahrungen ausgekostet werden können, nicht alle Töne eines Liedes in einem Moment ertönen. Wir haben immer die Chance, die Trennung wieder aufzuheben und in die Einheit zurückzukehren. Doch die Trennung ist der Motor des Lebens, der Grund für die Chance auf Erfahrungen, der Grund für die irdische Inkarnation, damit man sich immer wieder neu entscheiden kann. In Gott existiert natürlich alles gleichzeitig, daher kann beispielsweise auch Geist Raum und Zeit überschreiten. Jeder Ewige - wie die Engel und Im Antlitz der Liebe - 409 - © Gabriele Sych Maria - kann an jeden Ort und jeden Zeitpunkt der dualen Welt wie durch eine Tür kommen, zu vielen Menschen und an vielen Orten gleichzeitig. Die höchsten Gaben Gottes, Glaube, Liebe und Hoffnung, das ist es, was an uns ist, hier in diesem Erdenleben zu erfahren, dabei ist die Liebe das höchste der drei. Das höchste Gebot: Lieben! Doch wie können wir Liebe erfahren? Was verschafft uns diese Wahrnehmung? Wann fühlen wir uns geliebt, wann fühlen wir uns liebend? In einem tiefen Moment, z.B. in einem Orgasmus mit dem Geliebten, in einem dauerhaften Gefühl, einer Verbundenheit, die ein ganzes Leben dauert, wenn man miteinander durch dick und dünn geht? Und woher wissen wir, dass der andere mit uns und wir mit ihm durch dick und dünn beieinander bleiben? Nur in der langfristigen gemeinsamen Erfahrung von Liebe, Freud und Leid. Die intensivsten Erfahrungen von Liebe machen wir doch, wenn wir vorher vor Sehnsucht fast eingegangen sind und dann die Liebe in unser Leben tritt. So ist es auch mit Gott! Wenn er uns aus unserer tiefsten Not holt, wenn wir endlich die Klappe aufmachen und ihn anrufen, um Hilfe bitten, wenn wir endlich aufgeben, ihm unsere Tür öffnen, weil wir es einfach nicht allein schaffen! Wie viele Menschen lernt man doch kennen, die sich uns in unseren Phasen des Lichts, des Erfolges, der Bedeutung nähern, freundschaftlich tun und verschwinden, wenn uns dieses Licht, dieser Erfolg, diese Bedeutung verlassen. Wer auch in unseren schwachen und dunklen Stunden, unseren Niederlagen bleibt, der ist ein wahrer Freund. Das ist Liebe. Das verspricht uns Jesus explizit in „Endmatthäi“: Matthäus 28 (Lutherbibel 1984) 20 Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende. Wie können wir erfahren, dass er bei uns ist alle Tage? Indem wir ihn brauchen! Indem wir uns von ihm abhängig machen, keine eigenen Sicherheitsnetze aufbauen. Indem wir ihn jeden Tag suchen, anrufen, um Hilfe bitten und auch seine Impulse für unsere für Hilfestellung wahrnehmen und wahr machen. Indem wir Ihn jeden Tag brauchen! Wenn wir nichts ohne Ihn tun! Wenn es ohne Ihn nicht geht! Indem wir die Einheit mit Ihm wünschen, suchen und brauchen. Wir nehmen Ihn wahr in Höhen und in Tiefen, in Liebe, Dankbarkeit und in Angst. Und vor allem in den Tiefen, weil wir auf ihn besonders angewiesen sind. Jede dieser Tiefen ist Teil des Prozesses „Die Liebe Gottes erfahren!“ Wenn wir diese zunächst als Paradoxon erscheinende Realität wahrnehmen, Im Antlitz der Liebe - 410 - © Gabriele Sych dann können wir am tiefsten Punkt die unendliche Größe Seiner Liebe erfahren. Wenn wir uns in diesem Moment zu einem DANKE, ICH LIEBE DICH AUCH durchringen und dann unser Leid mit ihm teilen, an ihn abgeben können, dann haben wir das Geschenk der Erfahrbarkeit der Liebe, der Gnade verstanden und können es schnell erfahren und annehmen. Dann sind wir in echtem Glauben verwurzelt, das ist Wandeln auf den Wassern des Lebens. Wir sind in Gottes Reich zu Hause und die Erbsünde los. Psalm 30: Dank für Rettung aus Todesnot (Lutherbibel 1984) 1 "Ein Psalm Davids, ein Lied zur" "Einweihung des Tempels." 2 Ich preise dich, HERR; denn du hast mich aus der Tiefe gezogen …. 3 HERR, mein Gott, als ich schrie zu dir, da machtest du mich gesund. 4 HERR, du hast mich von den Toten heraufgeholt; du hast mich am Leben erhalten … 5 Lobsinget dem HERRN, ihr seine Heiligen, und preiset seinen heiligen Namen! 6 Denn sein Zorn währet einen Augenblick und lebenslang seine Gnade. Den Abend lang währet das Weinen, aber des Morgens ist Freude. 7 Ich aber sprach, als es mir gut ging: Ich werde nimmermehr wanken. 8 Denn, HERR, durch dein Wohlgefallen / hattest du mich auf einen hohen Fels gestellt. Aber als du dein Antlitz verbargest, erschrak ich. 9 Zu dir, HERR, rief ich, und zum Herrn flehte ich: 10 Was nützt dir mein Blut, wenn ich zur Grube fahre? Wird dir auch der Staub danken und deine Treue verkündigen? 11 HERR, höre und sei mir gnädig! HERR, sei mein Helfer! 12 Du hast mir meine Klage verwandelt in einen Reigen, du hast mir den Sack der Trauer ausgezogen und mich mit Freude gegürtet,13 dass ich dir lobsinge und nicht stille werde. HERR, mein Gott, ich will dir danken in Ewigkeit. Und wenn wir es noch nicht können, so werden wir im Zeitablauf erkennen, dass die Zeit und damit Gottes Heiliger Geist die Wunden heilt, der Tröster ist, der Schmerz nachlässt, wir irgendwann wieder lächeln können. Tom Hanks als Sam beschreibt diesen Vorgang sehr berührend in dem Film „Schlaflos in Seattle“, wie er über die Trauer über den Tod seiner Frau hinwegkommt. Er beschreibt, dass er jeden Morgen aufsteht und ein- und ausatmet und irgendwann sich nicht mehr daran erinnern muss, jeden Morgen aufzustehen und ein- und auszuatmen und ständig daran zu denken, dass er es mal eine Zeit lang großartig und perfekt hatte. Zeit tröstet. Psalm 126 (Lutherbibel 1984): 5 Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten. 6 Sie gehen hin und weinen und streuen ihren Samen und kommen mit Freuden und bringen ihre Garben. Im Antlitz der Liebe - 411 - © Gabriele Sych Wer sich in seinem Leben allein versucht, wer denkt, alles selbst unter Kontrolle zu haben und auch haben zu müssen, der wird diesen täglichen Liebesbeweis, die tägliche Liebeserfahrung nicht wahrnehmen können. Es hilft auch nicht, sich allein durch dieses Wissen, den Glauben, aus den eigenen Gefühlen katapultieren zu wollen, denn es geht darum, sich auch wahrhaftig helfen zu lassen. Denn solange uns etwas Angst, Ärger, Trauer, Hadern, Mulmigkeit verursacht, kommt auch mit dem Gefühl etwas Altes, vorher Geschehenes heraus, ans Tageslicht und in die Wahrheit. Heilung geschieht. Man kann die Aufteilung der Einheit in die Zeitspanne mit einem spannenden Roman vergleichen. Wenn wir die letzte Seite, die Auflösung schon gelesen haben, dann ist das Buch langweilig, dann packt es uns nicht, dann können wir es auch halb gelesen weglegen. Unser Lebensroman ist jedoch genau für uns gestaltet, ist essentiell für uns. Wenn wir uns hingegen auf das Ungewisse einlassen, mitzittern, mitlachen, mitweinen und mitfiebern, auch in unserem Leben durch Zittern, Lachen,Weinen und Fiebern, die ganze Palette unserer Emotionen gehen, ist das Buch unseres Lebens, ist unser Leben für uns ein Gewinn. Dann erleben wir auch, ob wir selbst lieben/nicht lieben oder ob wir uns das selbst nur eingeredet, eingedacht haben. Wir erleben, was Lieben bedeutet. Wenn wir den anderen auch mit, in seinen Schattenseiten lieben, als der er ist, geschaffen oder von seinem Leben geprägt, es Liebe ohne Einschränkung ist. Santiago und ich haben uns oft in schwierigen Situationen, im Streit eingeredet, dass wir es auch allein schaffen würden, doch wir haben immer wieder gemerkt, dass wir uns nicht trennen können. Kaum gingen ein paar Tage ins Land, das Leben entfaltete sich, da war alles Geschehene klein und nichtig gegen die Sehnsucht, die wir für den anderen empfanden. Dann wussten wir: lieber vergeben, uns neu konfigurieren, als diese Sehnsucht ungestillt aushalten zu müssen. Wenn wir lieben, dann merken wir das durch die Erfahrung der Trennung, wenn wir nicht lieben, auch. Ich habe das durchaus auch schon gespürt, dass mich früher eine Trennung nach dem Vergehen des ersten Schmerzes erleichtert hat, als das Leben sich entfaltete. Durch Rationalisierungen des Verstandes enthalten wir uns sonst wichtige Erfahrungen vor. Am intensivsten behalten wir die Dinge, die von starken Emotionen während des Merkvorganges begleitet sind. Im Antlitz der Liebe - 412 - © Gabriele Sych Eine Klientin von mir erlebt eine traumatische, massiv Angst und Trauer erzeugende Situation mit ihrem Partner. Gleichzeitig erlebt sie von vielen Menschen spontanen Beistand und intensive Hilfeleistung, von denen sie es nicht erwartet hätte oder die sie vorher gar nicht gekannt hatte, die zu diesem Zeitpunkt als Engel in ihr Leben geschickt wurden. Ohne diese Situation hätte sie die Güte der Menschen und das Aufgefangenwerden nicht im gleichen Maße kennen gelernt. Dies verschafft ihr und anderen Mut und Vertrauen, dass uns in schweren Zeiten schon geholfen wird.. Und je tiefer wir gefallen sind, umso intensiver ist die Gotteserfahrung, umso intensiver können wir die Liebe fühlen, umso mehr bedürfen wir ihrer, umso intensiver kann uns geholfen werden. Jesus hat dies im Gleichnis mit der salbenden Sünderin in Lukas 7 (Lutherbibel 1984) anschaulich gemacht: 37 Und siehe, eine Frau war in der Stadt, die war eine Sünderin. Als die vernahm, dass er zu Tisch saß im Haus des Pharisäers, brachte sie ein Glas mit Salböl 38 und trat von hinten zu seinen Füßen, weinte und fing an, seine Füße mit Tränen zu benetzen und mit den Haaren ihres Hauptes zu trocknen, und küsste seine Füße und salbte sie mit Salböl. 39 Als aber das der Pharisäer sah, der ihn eingeladen hatte, sprach er bei sich selbst und sagte: Wenn dieser ein Prophet wäre, so wüsste er, wer und was für eine Frau das ist, die ihn anrührt; denn sie ist eine Sünderin. 40 Jesus antwortete und sprach zu ihm: Simon, ich habe dir etwas zu sagen. Er aber sprach: Meister, sag es! 41 Ein Gläubiger hatte zwei Schuldner. Einer war fünfhundert Silbergroschen schuldig, der andere fünfzig. 42 Da sie aber nicht bezahlen konnten, schenkte er's beiden. Wer von ihnen wird ihn am meisten lieben? 43 Simon antwortete und sprach: Ich denke, der, dem er am meisten geschenkt hat. Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geurteilt. 44 Und er wandte sich zu der Frau und sprach zu Simon: Siehst du diese Frau? Ich bin in dein Haus gekommen; du hast mir kein Wasser für meine Füße gegeben; diese aber hat meine Füße mit Tränen benetzt und mit ihren Haaren getrocknet. 45 Du hast mir keinen Kuss gegeben; diese aber hat, seit ich hereingekommen bin, nicht abgelassen, meine Füße zu küssen. 46 Du hast mein Haupt nicht mit Öl gesalbt; sie aber hat meine Füße mit Salböl gesalbt. 47 Deshalb sage ich dir: Ihre vielen Sünden sind vergeben, denn sie hat viel Liebe gezeigt; wem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig. 48 Und er sprach zu ihr: Dir sind deine Sünden vergeben. 49 Da fingen die an, die mit zu Tisch saßen, und sprachen bei sich selbst: Wer ist dieser, der auch die Sünden vergibt? 50 Er aber sprach zu der Frau: Dein Glaube hat dir geholfen; geh hin in Frieden! Im Antlitz der Liebe - 413 - © Gabriele Sych So ging es mir auch. Ich bin weit weg gewesen, habe ein paar „kapitale Böcke geschossen“ in meinem Leben, habe bestimmt eine interessante Seite im großen Sündenregister. Ich habe so viel Unterschiedliches probiert, an was sich ein kirchengebundener Christ wahrscheinlich gar nicht wagen würde, wovor die Kirche warnt. Und ich BIN wieder beim Gott der Christenheit gelandet, habe festgestellt, dass ich im christlichen Glauben am deutlichsten, kraftvollsten und dauerhaftesten Heil erfahre. Es hat mich überzeugt. Er hat mich überzeugt, durch Leben von Neuem konfirmiert. Nichts ist größer und mächtiger, sinnvoller, glaubhafter, liebevoller, heilsamer, hoffnungsspendender als der allmächtige, dreifaltige Gott. Mir ist viel vergeben worden, ich habe viel Gnade, viel Liebe erhalten, denn ich hatte viel Gnade, viel Liebe nötig. Danke! Daher liebe ich jetzt auf intensive Weise, brauche und schätze die Präsenz von Jesus in meinem Leben, suche ihn immer wieder auf. Auf wundersame Weise habe ich während dieser Zeit des Ausprobierens auch viel Schutz erhalten, vielleicht durch meine Taufe. Und ich weiß jetzt, was diese Methoden bewirken, was nützt und was dem Leben mit Gott, was heilendem Leben, Leben im Heil entgegenwirkt. Wir brauchen Erfahrungen, Impulse, den Verdauungsvorgang von Erlebnissen für die wichtigen Wendungen in unserem Leben, sonst wären sie nicht da! Wir wissen lange nicht, wofür wir eine Erfahrung brauchen, doch eines Tages wird sich uns der Sinn erschließen, wenn wir in ihr einen gelben Pfeil erkennen. Plötzlich wissen wir etwas, wo wir vorher entschieden haben, meinten (uns) trennen zu müssen. Denn es geht nie darum, Entscheidungen zu treffen, die Dinge zu scheiden, zu trennen, Alternativen zu haben, sondern den Weg zu erkennen, aus unserer Erfahrung zu schöpfen, mit uns und Ihm in Einheit zu sein, irgendwann unseren Weg zu wissen und zu wollen. Wenn wir durch eine Erfahrung hindurchgegangen sind, dann haben wir unseren gelben Pfeil erhalten. Wir wissen, in welche Richtung unser Weg führt. Die Auftrennung der Einheit in „verstehbare, erfahrbare Häppchen“ durch Raum und Zeit liegt in der Hand des Heiligen Geistes. Wenn wir nur die Einheit anstreben und die Trennung nicht ebenso als den Weg des Heils würdigen, der die Anziehung zu Gott erzeugt, dann würdigen wir den Heiligen Geist nicht, und das ist unverzeihlich. Das kann sich darin zeigen, dass wir den Sinn von Leid oder schwierigen Lebenssituationen nicht verstehen und daher ablehnen, hadern. Gott umfasst die Einheit und die Trennung, ist die Schaffung der Möglichkeit eines Weges zu Gott, der Erfahrung von Glaube, Liebe und Hoffnung. Im Antlitz der Liebe - 414 - © Gabriele Sych Matthäus 12 (Lutherbibel 1984): 31 Darum sage ich euch: Alle Sünde und Lästerung wird den Menschen vergeben; aber die Lästerung gegen den Geist wird nicht vergeben. 32 Und wer etwas redet gegen den Menschensohn, dem wird es vergeben; aber wer etwas redet gegen den Heiligen Geist, dem wird's nicht vergeben, weder in dieser noch in jener Welt. 2.3.3 Der Körper ist Heil Vor einiger Zeit, als ich noch als Reiki-Lehrerin arbeitete, hatte ich eine 70jährige Teilnehmerin in einem Seminar für das Heilen durch Handauflegen. Sie war wunderbar: natürlich, humorvoll und liebenswürdig. Beim Kennenlernen zu Kursbeginn hatte sie eine Überraschung für mich bereit, denn sie hatte nur einen Arm. Wir erfuhren, dass sie den anderen vor 60 Jahren bei einem Flüchtlingstransport verloren hatte. Mir war nicht sofort klar, wie ich damit bei den Einweihungen umgehen sollte, doch während ich dann die Theorie erklärte, bekam ich plötzlich die Eingebung von oben. Der Arm ist ja energetisch noch da und ich kann beide Hände einweihen. Und ich selbst stelle mir auch immer wieder vor, dass ich beim Handauflegen mehr Hände habe, wenn ich mal mehr als zwei brauche. Also weihte ich dann ganz explizit beide Arme ein und ermutigte sie, mental immer beide Hände aufzulegen. Nach ein paar Wochen erhielt ich von ihr eine wundervolle Email, in der sie mir mitteilte, dass nicht nur sie selbst, sondern auch andere jetzt beide Hände spüren. Sie hat ihren zweiten Arm zurückbekommen. Sie sagt, für sie ist das mehr als ein Wunder. Und da hat sie doch wirklich recht! Bei der Heilung ist eines immer wichtig: Der Körper an sich ist immer heil, gesund und unversehrt, denn er ist aus der Trinität gebildet und somit göttlich geschaffen. In der Phase der Einheit ist er vollständig. Durch die Energie uns kränkender Gedanken manifestiert sich – gottgewollt - im Körper dann zusätzlich veränderte Materie, die die Krankheit und den Schmerz zeigt, den die Seele durch Entfernung bzw. Trennung vom Kern, nämlich von Gott, Glaube, Liebe und Hoffnung erfährt. Der Heilige Geist schafft einen „Heilen Geist“. Im Antlitz der Liebe 2.3.3.1 - 415 - © Gabriele Sych Kranheitsursachen In unseren Breiten, wo wir weniger an materiellen Mangelkrankheiten leiden, weil wir genug haben, leiden wir oft an geistigen und seelischen Mangel- oder auch Füllekrankheiten. Krankheit entsteht hier durch die eigenen Gedanken und die eigene Emotionalität, nämlich sich selbst kränkende Gedanken, durch Beurteilung, durch das Werten: das ist gut, das ist böse und den darauf sich aufsattelnden Gefühlen. Ganz einfach kann man das feststellen mit den Techniken der Kinesiologie. In meinen Kursen verwende ich dieses Beispiel: Ein Proband, dessen Muskelstärke wir mit dem kinesiologischen Armtest austesten, stellt sich beim Test nacheinander sein Lieblingsessen vor und anschließend das, was er gar nicht gern isst. Das heißt, er produziert lediglich Gedanken, nämlich die Vorstellung, die das Essen dieser Speisen einbeziehen, Geschmack, Geruch, Aussehen, Gefühl beim Kauen und Schlucken; die Speisen an sich sind nicht da. Es war noch nie anders, als dass der Gedanke an die Lieblingsspeise den Probanden stark sein ließ, so dass sein Arm jedem Druck standhielt. Der Gedanke an die verabscheute Speise lässt ihn in der Regel so schwach sein, dass der Arm schon geringem Druck nachgibt und vom Probanden einfach nicht in der Waagerechten zu halten ist. Dieser einfache Test, den jeder ausprobieren kann, zeigt uns, dass jeder Gedanke auf unseren Körper wirkt und zwar – je nach Qualität - uns stärkt oder schwächt. In einer Studie durch die amerikanische Psychiaterin J. Ciecolt-Glaser und ihrem Mann R. Glaser, einem Immunologen, hat man Ehepaaren vor einer Sitzung kleine Verletzungen der Haut am Arm zugefügt. Anschließend hatten sie die Aufgabe, miteinander wohlwollend über die gemeinsame Beziehung zu sprechen. Die Wunde wurde 8 Tage lang genau beobachtet. Nach zwei Monaten wurde die Verwundung ein zweites Mal ausgeführt, diesmal jedoch ging es darum, über ein strittiges Thema ihrer Beziehung zu diskutieren. Die Wundheilung dauerte diesmal ein bis zwei Tage länger als bei dem wohlwollenden Gespräch. Unser Körper dient als Anzeiger für das, was uns kränkt und was wir in unserem Leben verändern sollten. Es ist wie in dem Spruch: Sag du es ihm/ihr, sagte die Seele zum Körper, auf mich hört er/sie nicht. Im Antlitz der Liebe - 416 - © Gabriele Sych Es gibt Landkarten des Körpers, aus denen wir von der Krankheit auf das zugrunde liegende Gedankengut schließen können, das zur Heilung ansteht. Besonders die Autoren Louise Hay und Thorwald Detlefsen/Rüdiger Dahlke85 stellen dafür entsprechende Literatur zur Verfügung, wie Krankheiten von Organen, Körperregionen und ihre Form gedeutet werden können. Man kann sich aber auch einfach die Funktion und Arbeitsweise des Körperteils bzw. des Organs anschauen, und davon auf die geistige Bedeutung schließen. Zusätzlich können wir Informationen gewinnen, z.B. aus der Nähe des Krankheitsherdes zu den Meridianverläufen auf Organe schließen, ebenso durch das befallene Organ auf die Störung im Denken. 86 2.3.3.2 Die Krankheit als Gast Doch wir sind nicht krank, wir sind nicht die Krankheit, die Krankheit ist nicht einer unserer Wesensanteile, sondern wir haben eine Krankheit, sie ist bei uns Gast, Bote, Engel, der bei uns wohnt und uns begleitet, und zwar solange, bis wir im Heilungsprozess von ihm alles aktuell Notwendige über uns gelernt und das Gelernte in unserem Leben umgesetzt haben. Hebräer 13 (Neues Leben) 2 Vergesst nicht, Fremden Gastfreundschaft zu erweisen, denn auf diese Weise haben einige Engel beherbergt, ohne es zu merken! 85 Louise Hay, Heile Deinen Körper, Lüchow-Verlag, Rüdiger Dahlke: Krankheit als Symbol 86 Beim intuitiven Handauflegen kann man ganze Geschichten aus den Positionen erzählen und damit das Gedankenmuster, das der Krankheit oder Befindlichkeitsstörung zugrunde liegt, identifizieren. Je leichter und reiner unser Geistkörper, umso besser fühlen wir uns, umso weniger Gedanken löst er in uns aus, umso weniger beschäftigen sie uns. Man merkt es deutlich beim Handauflegen, dass die Pausen zwischen den Gedanken länger werden, zusehends Gedanken harmonischer und freundlicher werden, dass Gedanken sich von pessimistisch zu optimistisch ändern. Energiewahrnehmungen beim Heilsegnen wandeln sich von kurzwellig / spitz / hart / heiß / schmerzhaft zu langwellig / rund / weich / warm / angenehm. Im Antlitz der Liebe - 417 - © Gabriele Sych Wenn wir krank sind, dann schauen wir uns am besten die Krankheit an und können dann verstehen, was sie uns sagen will und warum wir diesen Gast durch unseren Lebenswandel zu uns eingeladen haben. Ich möchte von einem Beispiel berichten. Sich überdehnen, natürliche Regungen unterdrücken, schräge Wünsche Während eines sehr anstrengenden internationalen Beratungsprojektes hatte ich zusätzlich die Trennung von meinem aktuellen Freund hinzunehmen, über dessen Verhalten bei der Trennung ich sehr zornig war. Ich war erschöpft, ich pfiff auf dem letzten Loch, konnte aber wegen vertraglicher Verpflichtungen nicht pausieren. Ich hatte mein Kind vernachlässigt und alle Bänder überdehnt, um voranzukommen. Immer wieder antwortete ich auf die Frage „Wie geht’s?“ mit: „Ich brauch dringend zwischen heute und morgen 3 Wochen Urlaub.“ Am Tage nach dem Abschluss dieses Projektes, ich wollte mit meinem Sohn Karten für die HarryPotter-Buchveröffentlichungsparty besorgen, endlich wieder was Schönes mit ihm unternehmen, da stürzte ich im Treppenhaus und zog mir einen Bänderriss im rechten Bein zu. ICH HATTE MEINE BÄNDER IM MATERIELLEN (rechts) VORANSCHREITEN (Fuß) ÜBERDEHNT, und jetzt war es gerissen. Und nun – wo ich wieder ins normale Leben zurückkehren wollte, war ich weitestgehend zum Nichtstun verdonnert. Der Zeitkredit war zurückzuzahlen Nach ein paar Tagen kamen zum dick geschwollenen, schmerzenden Fuß auch noch Bauchschmerzen rechts oben am Rippenbogen mit dazu. Der erste Notarzt hatte den Verdacht auf Magenentzündung, doch die MagenTabletten halfen nicht. Als zweites kam dann nachts, als die Schmerzen immer intensiver wurden und auch durch Handauflegen nicht verschwanden, eine erfahrene alte Ärztin. Sie sah mich an und sagte: „Das könnte auch die Leber sein. Gehen sie mal umgehend ins Krankenhaus.“ Da mein Sohn im Nebenzimmer schlief, war mir das unmöglich. Ich wartete bis zum nächsten Morgen und brachte ihn bei Freunden unter und ließ mich ins Krankenhaus fahren. Dort wurde durch Ultraschall festgestellt, dass ich Gallensteine hatte, die sich jedoch nicht in der Gallenblase, ihrer üblichen Heimat befanden, sondern im Gallengang, d.h. der Verbindung zwischen Leber und Darm, durch die der Gallensaft von der Leber in den Darm fließt, um die Fettverdauung zu ermöglichen. Bei meinem Sturz waren die Gallensteine in den Gallengang gestürzt und hatten diesen verstopft. Der recht aggressive Gallensaft konnte nicht mehr von der Leber in den Darm und staute sich in die Leber zurück. Das war in mir seit meinem Sturz geschehen. Im Antlitz der Liebe - 418 - © Gabriele Sych Was ist die Galle? Die Leber produziert den Gallensaft, die Gallenblase ist quasi nur ein Auffangbehälter, in dem überschüssiger Gallensaft gespeichert wird, bis wir eine Menge Fett zu verdauen haben und mehr Gallensaft als üblich benötigt wird. Das war besonders früher notwendig, als die Nahrungsversorgung noch etwas unregelmäßig war. Da wurde, wenn mal wieder ein Tier erlegt wurde und daher viel gegessen werden konnte und mangels Kühlschrank auch musste, viel Gallensaft benötigt. Heute haben wir meist zu Weihnachten noch den Bedarf dazu. Galle kennen wir aus zahlreichen Sprichwörtern: Jemand spuckt Gift und Galle. Mir kommt die Galle hoch! Das griechische Wort für Galle ist Cholé, aus dem auch das Wort Choleriker abgeleitet ist. Das Grundthema ist also Wut, Zorn und Groll, eine aggressive Mischung, wie der Gallensaft. Als Choleriker wird ein Mensch bezeichnet, der Gift und Galle spuckt, d.h. unbeherrscht in seiner Wut, jähzornig ist, seine Wut nach außen ablässt. Gallensteine bilden sich allerdings eher bei anderen Menschen, bei den Sanften, den Leisen, die die Wut nicht nach draußen ablassen, sondern sie hübsch in sich hineinfressen, sich speichern und fest werden lassen, die nur innerlich knurren, bis die Wut eben zu Groll, kaltem Zorn werden, bis er fest und massiv wird und dann sich als Gallenstein in der Galle manifestiert. Menschen, die ihren Zorn für sich behalten. Konfliktscheu, wie ich bin, gehörte ich auch zu diesem Club, hatte aber nicht um diese Langzeitwirkung gewusst. Wie oft hatte ich – gerade in meiner Ehe, um sie angeblich nicht zu gefährden - meinen Zorn unterdrückt und stundenlang gehadert, in stundenlangen Selbstgesprächen um meinen Ärger gekreist, mich in dunkle Wolken gehüllt, es aber nicht zum reinigenden Gewitter kommen lassen oder an Gott abgeben können. Ja, da hatte ich also mein Fett weg. Ich wurde schon am nächsten Morgen operiert, denn der in die Leber rückgestaute Gallensaft hatte schon die Leber angegriffen. Die Folgen des angestauten Zorns vergifteten mich, griffen mich selbst an, legten mein internes Kraftwerk, die Leber, lahm. Die Operation war ein echtes Erlebnis. Der Operateur, wie man mir sagte, eine absolute Koryphäe auf diesem Gebiet, sah aus wie ein Fleischer: in Gummistiefeln, weißer Plastik-Schürze und Blaugestreiftem. Mir wurde ein Schlauch durch den Mund in den Hals und weiter geschoben, mit dem Luft durch mein Verdauungssystem geblasen wurde. Und so, wie ich es verstanden habe, war in der Mitte dieses Schlauches ein kleiner Greifer, der von außen steuerbar war. Mit diesem konnte der Chirurg die Gallensteine einsammeln. Unverhoffterweise wachte ich mitten während der Operation auf. Ich hörte den Operateur richtig Spaß haben, er sah wohl auf den Monitor, sammelte mit dem Greifer die Steine ein und bei jedem sagte er immer wieder: „Und Schuß! Und ….Schuß! Und …Schuß!“ Krieg den Steinen! Für meinen Körper war es jedoch wie Exorzismus. Die Luft kam oben und unten raus, ich rülpste tief und laut aus der Tiefe meines Körpers heraus, mein Körper knurrte - wie ein Tier - unfassbar laut, Im Antlitz der Liebe - 419 - © Gabriele Sych bäumte sich auf, und auch am Darmausgang waren die unflätigsten Geräusche zu hören, mein Körper ließ laut die Luft ab, die sich seelisch so lange angestaut hatte. Es war mir total peinlich, aber da ich nicht sprechen konnte und zudem festgeschnallt war, um unter dem Röntgengerät zu bleiben und mich nicht durch die Gerätschaften selbst zu verletzen, gab es nichts, was ich tun konnte, außer es zuzulassen. Der Operateur fuhr mich noch an: „Nun reißen sie sich doch mal zusammen!“, aber wie denn, wenn der Mund durch einen fetten Schlauch zwangsgeöffnet ist. Durch diesen Eingriff trat all das zutage, was ich so viele Jahre vermieden hatte: mir im rechten Moment mir Luft zu machen, wenn ich zornig war, laut zu werden, und natürlich besonders, meinen Zorn zu verdauen, zu vergeben, abzugeben, durchzureichen. Dadurch, dass mein Körper laut und durchaus animalisch Zeichen des Zorns ausdrückte, die ich nicht mehr unterdrücken konnte, war Heilung möglich, wurde der Druck aus meinem Körper und gleichzeitig meinem Geistleib gelöst und freigegeben. Und der Urlaub? Nach der Operation wurde mir empfohlen, dass ich mir auch die Gallenblase herausoperieren lassen sollte, um die Neubildung von Gallensteinen zu vermeiden. Ich stimmte zu, da ich aufgrund meines Bänderrisses sowieso stillgelegt war. Die Operation sollte dann zwei Tage später sein. Am Morgen, an dem die zweite Operation angesetzt war, kam der Stationsarzt auf mich zu. „Wir können Sie heute nicht operieren heute, ihre Leberwerte sind dazu noch nicht gut genug, das Risiko ist zu hoch.“ Und so ging es dann von Tag zu Tag weiter, bis die Operation dann schließlich nach 8 Tagen Krankenhausaufenthalt stattfand – ohne Komplikationen. So hatte ich also meinen Urlaub, knapp drei Wochen zwischen heute und morgen, ich konnte im Bett liegen, bekam mein Essen ans Bett und netten Besuch, hatte Zeit zum Lesen und konnte mich entspannen und ausruhen, was ich sonst im Urlaub gemacht hätte. Ich behandelte mich ausführlich, meine Schwester las mir am Telefon die Bedeutung der Galle aus psychosomatischer Sicht vor, damit ich meinen Gast verstehen konnte. Keiner konnte etwas von mir wollen, da ich ja im Krankenhaus war. Alle meine beruflichen Verpflichtungen konnten pausieren – höhere Gewalt –, vertraglich gesehen also zwischen heute und morgen. Was für ein Urlaub - unglaublich teuer bezahlt, oder? Was für ein entsetzlich dummer Wunsch! Und dann stand ich da, ohne Galle, ohne die Fähigkeit, Zorn zu speichern. Mein Ex-Freund erhielt nach dem Krankenhaus einen Brief von mir, in dem ich meinen ganzen Zorn, meine ganze Enttäuschung über sein Verhalten förmlich ausspuckte, viele Seiten lang. So einen Brief hatte ich noch nie in meinem Leben geschrieben! Das Erstaunliche daran für mich war, dass ich – nach dem Ausdrücken des Zorns – schon einen Monat später innerlich meinen Frieden mit ihm schließen, vergeben konnte, auch wenn er selbst nach dem Brief noch nicht so weit war. Naja, den besten Weg hatte ich noch nicht gefunden… Im Antlitz der Liebe - 420 - © Gabriele Sych Mit diesem Beispiel will ich dem Zorn nicht zum Munde reden, doch er ist eine elementare Emotion, er bewirkt starke körperliche Reaktionen. Ihn zu unterdrücken, das macht keinen Sinn, wohl aber, ihn ernst zu nehmen, ihn zeigen, ihn sich selbst zeigen und dann seine Energie zu nutzen um herauszufinden, worüber man SICH ärgert, damit man wieder zu Gottes Welt, zur Sicht des Guten zurückfinden kann, vergeben kann. Meine Gäste waren in diesem Falle: ♥ Zorn zu verstehen, Umgang mit Zorn lernen, ♥ zu mir selbst zu stehen, ♥ mich und meine Emotionen ausdrücken, ♥ Grenzen setzen, vergeben lernen, ♥ die Bereitschaft aufzugeben, dauerhaft weit über meine Kräfte zu gehen, um meine Existenz-Angst um mein professionelles Image und damit Existenzerhalt ruhig zu stellen, ♥ Selbstverleugnung, aufzugeben, ♥ der Retter meiner Gesundheit, die ich für Geld aufs Spiel zu setzen bereit gewesen war, ♥ und der „Wunsch-Doktor“ Doch wenn wir uns wieder aus unseren manchmal wirklich abstrusen Gedankenreichen entlassen, dann können wir uns Gottes Reich zuwenden. Unsere Seele erfährt die Hoffnung, dass sie wieder in Gottes Welt aus Liebe und nicht in einer erdachten Welt leben kann, die sie quält und uns körperlich überfordert. Die Krankheit ist immer das Gleichnis der erdachten Welt, das wir uns solange anschauen und fühlen können, bis wir den Eingang in Gottes wahre Welt suchen und wieder finden. Jede Krankheit wird also eingeladen durch den eigenen Geist, nämlich sich selbst kränkende Gedanken, durch Beurteilung, durch das Werten. Wie fühlt sich der Energieabfluss an? Unser Körper reagiert auf jeden unserer Gedanken mit einer biochemischen Reaktion, die ihn eben stärken oder schwächen kann. Im Antlitz der Liebe - 421 - © Gabriele Sych Schwächende Gedanken wirken sich zunächst in unserem Geistkörper aus und beeinflussen unsere Stimmung. Der reagiert sehr schnell auf unsere Emotionen und Stimmungen, so können wir eine schwächende Reaktion manchmal deutlich durch Symptome wahrnehmen, z.B. durch ♥ Erschrecken, ♥ Nervosität, ♥ Kraftlosigkeit, ♥ Herzklopfen, Herzrasen, erhöhter Puls, ♥ feuchte Hände, Schweißausbrüche, Kälteempfinden, ♥ weiche Knie, schwere Beine, ♥ einen Druck im Hals, ♥ Magendruck, Magenbrennen ♥ Nebel im Kopf, ♥ Verkrampfung des Zwerchfells, flache Atmung. Auch im Volksmund finden wir das wieder. Eine Situation schlägt uns auf den Magen, oder wir fühlen uns wie vor den Kopf geschlagen. Sind wir unklar, dann wird uns schwindlig. Wenn wir etwas nicht aussprechen wollen, dann haben wir plötzlich einen Kloß oder einen Frosch im Hals, der zunächst durch keine organische Krankheit bewirkt wurde. Bleiben wir jedoch dabei, dass wir etwas zu sagen hätten, es jedoch nicht aussprechen, dann stellen sich gerne echte Halsschmerzen und Halsentzündungen ein. Liebeskummer, aber auch Verliebtheit können wir deutlich im Herzen spüren, frische Im Antlitz der Liebe - 422 - © Gabriele Sych erotische Neigungen sorgen für die Schmetterlinge im Bauch und bedrohliche Situationen führen zu weichen Knien. Oft findet diese Schwächung unterhalb unserer Wahrnehmungsschwelle statt, was jedoch nicht bedeutet, dass sie nicht stattfindet. Alle diese Schwächungen addieren sich und bestimmen unsere Befindlichkeit. Und unsere Befindlichkeit bestimmt dann wieder unsere Leistungsfähigkeit. Wenn so bestimmte Gedankenmuster durch ständiges Wiederholen, beispielsweise Grübeln oder Hadern mit dem eigenen Schicksal, tagelang, wochenlang, monatelang, jahrelang mit biologischen Stressreaktionen und Abbau statt Aufbau und Stärkung auf den Körper einwirken, dann tritt der Gast ein, die Krankheit. Das biologische Körperklima verändert sich. Es gibt Zahlen, wie viel Gedanken wir am Tag durchschnittlich so durch unser Energiesystem bewegen. Wenn von beispielsweise 60.000 Gedanken, die z.B. Deepak Chopra, Mediziner und spiritueller Autor, nennt, die Hälfte schwächende Gedanken sind, dann hat das eine starke Auswirkung. Durch diese Schwächung können zum Beispiel ♥ Vitalwerte wie Temperatur, Säure-/Basen-Zustand etc. sich verändern, dadurch können Bakterien und Viren ein günstiger Nährboden bereitet werden, Krankheits-Erregern wird Tor und Tür geöffnet (z.B. Infektionen); ♥ das Immunsystem geschwächt werden und externe Erreger nicht mehr mit voller Kraft abwehren kann; ♥ bestimmte Körperregionen schwächen, die die Emotionen zu verarbeiten haben, die durch das schwächende Denken ausgelöst werden (z.B. Magenprobleme, ausgelöst durch Ärgern oder Angst: Ich kann es so nicht mal anfangen zu verdauen!); ♥ durch die Produktion und den Abbau von Stresshormonen wertvolle Vitamine/Vitalstoffe verbraucht werden. Vitaminmangel führt dann wieder zu weniger gesunden, kraftvollen Zell-, Gewebe- und Knochenstrukturen; ♥ durch geschwächte Organe verändert, verlangsamt, verfälscht sich das fein abgestimmte Erneuerungssystem des Körpers, der Körper arbeitet insgesamt mit weniger optimalem „Ausgangsmaterial“; ♥ durch Verhaltensweisen, die Organe oder Körperregionen schwächen, (z.B. Rauchen, Trinken, Essen von gesundheitsschädlicher, Zuwenig oder Zuviel an Kost); Im Antlitz der Liebe - 423 - © Gabriele Sych ♥ durch Gedanken wir Situationen anziehen, die Körperregionen schädigen (z.B. Unfälle) Dabei geschieht nichts durch Zufall. Auch Unfälle passieren nicht einfach so, irgendwann sind sie vorher – bewusst oder unbewusst – in unseren Gedanken real. Vor ein paar Jahren war ich wirklich verzweifelt. Ich wünschte mir sehr einen Partner und es gelang mir gar nicht, jemanden zu finden, der mit mir klar kam (wie ich es in dem Moment empfand). Ich dachte, mit mir wäre etwas grundsätzlich falsch. Heute würde ich von Glück sprechen, dass sie nicht blieben, weil sie ja auch einfach nicht passten, deshalb kamen sie ja nicht klar. Doch in der Situation war ich natürlich nicht so klar, sondern tief verirrt in einer irrealen Welt und traurig, eben verzweifelt und auch deutlich lebensmüde – mit dem trennenden Gedanken „was an mir ist so schrecklich, dass ich es nicht schaffe, einen Mann zu halten, ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr“. Ich fühlte mich einsam, alleingelassen, mit meiner Situation überfordert, unfähig, schrecklich. An einem Abend gab es mal wieder eine unerwartete Trennung, die mich traf wie ein Eimer eiskaltes Wasser. Am nächsten Tag fuhr ich mit dem Auto von Berlin nach Hannover zu einem Seminar. Und auf der Strecke zwischen Wolfsburg und Hannover sah ich mir immer wieder Bäume, Brückenpfeiler und ähnliches an mit dem Gedanken: Sollte ich da nicht draufhalten, dann ist es zu Ende mit der Leiderei! Immer wieder... Ich kam in Hannover an und nahm an dem Seminar teil, das sehr viel Praxis im Handauflegen enthielt und mir half, wieder in einen harmonischeren, geistigen Zustand zu gelangen, mein Interesse an einem Selbstmord auf der Autobahn hatte sich entschieden gelegt. Außerdem gab es ja noch meinen Sohn, dem ich das nicht antun wollte. Auf der Rückfahrt holte ich meinen Sohn aus Wilhelmshaven ab und wollte mit ihm über Hamburg nach Berlin fahren. Durch einen Zufall bog ich am Bremer Kreuz durch eine Baustelle dann doch in Richtung Hannover ab. Als wir zwischen Hannover und Wolfsburg waren, setzte ich bei dreispuriger Fahrbahn aus der mittleren Fahrspur zum Überholen an. Gerade, als ich links rüberziehen wollte, bemerkte ich neben mir ein weißes (!) Fahrzeug, das sehr viel schneller war als ich, das ich wohl im toten Winkel übersehen hatte und lenkte schnell wieder in meine Spur zurück. Da dies bei ca. 150 km/h stattfand, begann mein Wagen sich aufzuschaukeln und er drehte sich. Zum Glück hatte ich mal ein Sicherheitstraining absolviert. Ich handelte: lenkte geistesgegenwärtig gegen und bremste, um dann quer zur Autobahn auf dem Standstreifen zu stehen kommen, etwa einen Meter vor Beginn der Leitplanke, die nach ein paar Meterchen in einen Brückenpfeiler überging. Hätte ich langsamer reagiert, hätten wir am Brückenpfeiler geklebt, hätte ich ein paar Sekunden später die rechte Spur gekreuzt, wäre ich von einem Lastwagen Im Antlitz der Liebe - 424 - © Gabriele Sych überrollt worden. So ist außer einem Schrecken gar nichts passiert. Mein Sohn hatte geschlafen und daher nichts mitgekriegt, außer, dass wir plötzlich standen. Ich hatte durch diese suizidalen Gedanken, diese Frage nicht nur mich, sondern auch mein Kind in den Tod befördern können. Wir hatten starke Schutzengel, doch zusätzlich hatte ich wieder Lebenswillen gefasst und reagierte instinktiv und rechtzeitig, statt auf den Brückenpfeiler zuzuhalten. Mir war das eine Warnung vor der Kraft destruktiver Gedanken und ich nutze seither die Technik des Gedankenstopps, um ähnliche Gedanken sofort wieder aus meinem System zu entlassen, nehme aber die Warnung ernst und arbeite seither dann sofort an meiner Heilung. Denn diese Gedanken deuten ja darauf hin, dass sich wieder etwas anbahnt, dass ich mich wieder eine irreale Welt begeben habe, in der das Leben nicht schön und göttlich ist. In dem Moment, wenn wir ganzheitlich wieder in Gottes Welt zurückkehren, damit wieder Einheit schaffen, dort ist Heilung möglich. Denn wir sind genial von unserem Schöpfer geschaffen, der Körper kann sich vollständig wieder regenerieren, wenn unser Gast sein Ziel erreicht hat, seine Nachricht uns bewusst machen konnte und uns verlässt. Durch das Weglassen kränkenden Denkens und Verhaltens ist der Abbau in Aufbau, die Schwächung wieder in Stärkung umgehend möglich. Diese Erkenntnis gab es schon im Buch der Weisheit 2 (Einheitsübersetzung): 1 Sie tauschen ihre verkehrten Gedanken aus und sagen: Kurz und traurig ist unser Leben; für das Ende des Menschen gibt es keine Arznei und man kennt keinen, der aus der Welt des Todes befreit. 2 Durch Zufall sind wir geworden und danach werden wir sein, als wären wir nie gewesen. Der Atem in unserer Nase ist Rauch und das Denken ist ein Funke, der vom Schlag des Herzens entfacht wird; 3 verlöscht er, dann zerfällt der Leib zu Asche und der Geist verweht wie dünne Luft. …21 So denken sie, aber sie irren sich; denn ihre Schlechtigkeit macht sie blind. 22 Sie verstehen von Gottes Geheimnissen nichts, sie hoffen nicht auf Lohn für die Frömmigkeit und erwarten keine Auszeichnung für untadelige Seelen. 23 Gott hat den Menschen zur Unvergänglichkeit erschaffen und ihn zum Bild seines eigenen Wesens gemacht. 24 Doch durch den Neid des Teufels kam der Tod in die Welt und ihn erfahren alle, die ihm angehören. Durch die Zuwendung zur Seele und der göttlichen Dreifaltigkeit wird diese Erinnerung geweckt, die Hoffnung geweckt, dass doch alles so sein kann, wie Jesus es verkündet hat. Gottes Reich ist möglich – hier und jetzt. Im Antlitz der Liebe 2.3.3.3 - 425 - © Gabriele Sych Der Herzvergiftung vorbeugen Wenn wir einmal wieder dabei sind, uns in schwierigen Situationen des Lebens selbst das Herz zu brechen und die Gedanken zu vergiften, dann hilft aus meiner Erfahrung, zunächst - so absurd es zunächst klingt - Gott für diesen Moment, diese Gabe zu danken. Und dann bitten wir Jesus intensiv, dass wir uns selbst, den anderen Menschen oder die Situation aus der Perspektive seines heiligen Herzen fühlen können. Wir bitten darum, am heiligen Herzen teilzuhaben. Wenn wir den anderen dann in göttlichem Licht sehen, fließt plötzlich ein warmes, weites Gefühl in unser Herz und wir können tatsächlich Großherzigkeit spüren, die Worte zu fühlen und zu hören, die wir großherzig uns selbst und dem Anderen auch sagen könnten, die Gefühle, die wir uns oder ihnen stattdessen entgegen bringen könnten. Plötzlich kommen ganz andere Sicht- und Verhaltensweisen vor unsere Augen. Wir lassen Gefühle zu, verdrängen sie nicht, doch wir holen uns dafür das Höchstmaß an Liebe in unser Herz, aus DEM Herz der Herzen. Einfach mal probieren, wenn es das nächste Mal so weit ist! Hesekiel 36 (Einheitsübersetzung) 26 Ich schenke euch ein neues Herz und lege einen neuen Geist in euch. Ich nehme das Herz von Stein aus eurer Brust und gebe euch ein Herz von Fleisch. Bleiben wir auf dem Weg, den Jesu Herz, den diese neue Einsicht schenkt, dann lösen sich Konfliktsituationen, Schmerzen und Verletzungen in Luft auf, und wir vermeiden dadurch Tage z.B. ♥ der inneren Generalprobe und des anschließenden „wir Zwei haben zu reden!“ ♥ des Schmollens und Grollens, wenn es nur bei der Generalprobe bleibt, ♥ des Rückzuges, des Abhauens und mutwilligen Verlassens, um Angstgefühle und Reue beim anderen auszulösen, ♥ der atmosphärischen Vergiftung der Beziehung, der Familie oder des Arbeitslebens, ♥ des lauten Streites oder des stillen Leidens – der Opferhaltung -des Schuldgefühle Auslösens: „sieh doch nur, wie weh du mir tust“, ♥ des Stresses durch Verdrängungsmaßnahmen, Im Antlitz der Liebe - 426 - ♥ des Frustfressens, -trinkens oder sonstiger Betäubungsversuche, ♥ suizidaler Gedanken. © Gabriele Sych Der Mensch, dem wir am meisten dabei kränken und wehtun, sind tatsächlich wir selbst. Davor kann uns Jesus heiliges Herz bewahren, ich danke dafür so sehr! Denn wenn ein anderer Mensch auf eine bestimmte Weise handelt, dann wird ihn nichts, aber auch gar nichts davon abhalten, genau so zu handeln, außer seiner eigenen Einsicht. Und die geschieht nur durch eigenes Fühlen, inneres Wissen durch Erfahrung. Was passiert denn, wenn wir einige der obigen Verhaltensweisen, die oft Manipulationsversuche sind, einsetzen? Der Andere wird entweder nichts ändern oder wird Lippenbekenntnisse abgeben oder unwillig das tun, was wir wollen, doch bei nächster Gelegenheit passiert genau wieder dasselbe. Siehe auch 2.2.1.5 Kritik, Kontrolle und Zwang Vater unser, Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auch auf Erden. Doch Lippenbekenntnisse wie beispielsweise ein erzwungenes „Ich liebe Dich“, das fühlt sich schal an, gerät für uns auch ins Gegenteil dessen, was wir uns erhofft haben, darauf können wir nicht setzen, das sind die sauren Trauben, zur Unzeit gepflückte Trauben. Lassen wir uns selbst und unsere Mitmenschen reifen, bis sie freiwillig und aus eigenem Antrieb handeln, dann sind die Trauben süß. Wenn sie es nicht tun, sind sie noch nicht reif, so zu handeln. Doch haben wir immer noch uns selbst, denn wie gut geht es uns, wenn wir selbst durch das heilige Herz süß werden. Dann ist die Süße definitiv bei uns! Lukas 24 (Lutherbibel 1984): Über Jesu Worte zu den Emmaus-Jüngern nach der Auferstehung 32…Brannte nicht unser Herz in uns, als er mit uns redete auf dem Wege und uns die Schrift öffnete? Und wenn es denn gar zu schwer wird, wenn Situationen und Krankheiten unerträglich werden, unsere Mitmenschen einfach nicht reifen wollen und wir uns selbst zu diesem Thema von allen Seiten angesehen und nach unseren eigenen Möglichkeiten austherapiert Im Antlitz der Liebe - 427 - © Gabriele Sych haben, dann gibt es immer noch das Loslassen und das Abgeben wie in Kapitel 2.2.4.4 „Heilung durch Abgeben und Loslassen im Heiligen Herzen Jesu“ beschrieben Markus 11 (Lutherbibel 1984): 22 Und Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Habt Glauben an Gott! 23 Wahrlich, ich sage euch: Wer zu diesem Berge spräche: Heb dich und wirf dich ins Meer!, und zweifelte nicht in seinem Herzen, sondern glaubte, dass geschehen werde, was er sagt, so wird's ihm geschehen. 24 Darum sage ich euch: Alles, was ihr bittet in eurem Gebet, glaubt nur, dass ihr's empfangt, so wird's euch zuteil werden. 25-26 Und wenn ihr steht und betet, so vergebt, wenn ihr etwas gegen jemanden habt, damit auch euer Vater im Himmel euch vergebe eure Übertretungen. Im Antlitz der Liebe 2.3.4 - 428 - © Gabriele Sych Die Gedankenkrankheit Die Gedankenkrankheit, Comic von Johanna Fritz Das Maß an Gedankenaktivität, die ich bei jedem wahrnehme, dessen Kopf ich beim Handauflegen berühre, ist erschreckend. Und das fängt schon bei so jungen Menschen an, viele Köpfe fühlen sich an wie ein Bienenkorb, manchmal senden die Köpfe richtige harte Wellen aus, manche glühen, manche sirren, mancher Gedankenkranz hat sich wie ein Panzer um den Kopf gelegt. Aus meinem eigenen Kopf kenne ich das natürlich auch und ich habe viele Jahre gebraucht, um zu einem freieren Kopf zu gelangen. Ich nenne das „Gedankenkrankheit“ und halte sie für den Auslöser von Krankheiten und Süchten. Im Antlitz der Liebe - 429 - © Gabriele Sych Ich bin mir sicher: die meisten Menschen reden nicht über diese Belastung durch die eigenen Gedanken, die für sie die größte Qual im Leben ist. Der Kopf einer meiner Klientinnen, sie hatte Multiple Sklerose im Anfangsstadium, fühlte sich geradezu elektrisch an. Ich fühlte deutlich ein Sirren bei ihr wie das, was wir um eine Hochspannungsleitung wahrnehmen. Bei der Behandlung hatte ich die Vision einer Drahtseilwinde, die so hart gespannt wurde, dass einzelne Drahtseelen rissen. Und was ist Multiple Sklerose? Die Nervenbahnen des ZNS werden nach und nach zerstört. Kranke so genannte T-Zellen des Immunsystems überwinden die Blut-Gehirn-Schranke, was sie im gesunden Zustand nicht könnten, und greifen dort die Schutzschicht der Nerven an und zerstören sie, was dann irgendwann natürlich auch die Nerven selbst schädigt. Nervenimpulse werden so langsamer bis überhaupt nicht mehr weitergeleitet. Das führt zu Sehstörungen, Fehlern bei der Ausführung von Bewegungen, Gleichgewichststörungen, gestörte Nervenempfindungen z.B. Taubheit oder permanenter Blasendrang. Zumindest bei dieser Klientin lag die psychosomatische Ursache der Erkrankung in einem übermäßigen Gedankendruck, der durch schon seit der Kindheit bestehendem Leistungsdruck und dem Willen zu bedingungslosem Funktionieren ausgelöst war, um die Mutter nicht zu belasten. Das ist das Gesunde am einfachen Leben, in dem man sich auf etwas konzentrieren kann und dafür einfach einen freien Kopf hat. Man ist ganz da, wo man gerade ist. Auf (zu) vielen Hochzeiten tanzen, innerlich abwesend sein, quasi immer im Hintergrund und/oder real einen Zettel machen zu müssen, was alles noch ansteht und was wann zu erledigen ist, ist an sich unnötig und lediglich Ursache von Lebensentwürfen, die das Sein zersplittern. Das Reduzieren der Hüte, die man sich aufsetzt, Entschleunigung, oder der Aufruf des „Simplify your life“ zeigen einen realen Weg zur Heilung von der Gedankenkrankheit auf. Ganz einfach zeigt es sich hierin, wozu es führt, wenn man mehr als eine große Sache verfolgt: Matthäus 6 (Lutherbibel 1984) 24 Niemand kann zwei Herren dienen: Entweder er wird den einen hassen und den andern lieben, oder er wird an dem einen hängen und den andern verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon. Im Antlitz der Liebe - 430 - © Gabriele Sych Das Denken ist die Beschäftigung der Menschen, die uns davon abhält, die Welt, wie sie ist, wahrzunehmen und das Notwendige zu sehen und zu erledigen. Das Denken beschäftigt und hält unsere Aufmerksamkeit im Bann, damit nicht klar wird, was sich uns gerade direkt vor unseren Augen offenbart. Sonst müssten wir uns in vielen Situationen sofort damit beschäftigen, notwendige Veränderungen einzuleiten. Um dies zu vermeiden, um unbewusst zu bleiben, läuft das Denken in langen, weiten Schleifen, teilweise angenehm und schön, oft auch anstrengend, schwächend und nervtötend. Dass Denken, Bildung und Kopflastigkeit nicht unbedingt zu Gott führt, darauf hat uns auch Jesus in Matthäus 11 (Hoffnung für alle) hingewiesen 25 Jesus betete: "Mein Vater, Herr über Himmel und Erde! Ich danke dir, dass du die Wahrheit vor den Klugen und Gebildeten verbirgst und sie den Unwissenden enthüllst. Ja, Vater, so entspricht es deinem Willen.“ Im Geist Gottes ist Ruhe und Gegenwärtigkeit. Die Wahrheit ist kein Produkt des Denkens, des Abwägens, sondern eine Enthüllung, ein Impuls, eine Gabe Gottes, die wir wahrnehmen können. Offenheit, Wahrnehmungsfähigkeit, Aufmerksamkeit erschließt sie uns – NICHT DENKEN. Oft ist auch die Flucht in geistige Beschäftigung z.B. Folge unserer Furcht vor dem Ausgesetztsein der inneren Stimme, Seiner Stimme, die uns wirklich fragt: Ist das richtig und sinnvoll, was da gerade passiert? Es kann die Furcht sein vor dem Aufsteigen unangenehmer Erinnerungen, die wir lieber vergessen oder verdrängen würden: Gedanken an Schuld, Scham, unangenehme Situationen, Gefahr, Schmerz, Pein. Gedanken an die Liebe und wie sie sein könnte und was wir daraus machen oder gemacht haben. All diese Gefühle will keiner wieder erleben und durch sie hindurchgehen, sie bearbeiten. Also wird der Geist beschäftigt. Daher empfinden wir oft Arbeit als so angenehm. Der Geist kann sich an etwas festhalten. Er kehrt nicht mehr zum Kern des Unwohlseins zurück. Wir brauchen uns nicht mit uns zu beschäftigen, weil etwas außerhalb von uns unsere Aufmerksamkeit fordert. Sogar etwas, das alle für sinnvoll, vernünftig, praktisch und lobenswert gehalten haben, nämlich eine vernünftige Arbeit mit einem vernünftigen Gehalt. Im Antlitz der Liebe - 431 - © Gabriele Sych Ich habe mich um Dinge kümmern können, die ich als Arbeitsauftrag erhielt, konnte meine Fähigkeiten und meine Gestaltungskraft darauf verwenden, diesen Arbeitsauftrag ordentlich, sinnvoll und aussagekräftig zu gestalten. Danach habe ich mich dann auch selbst sinnvoll gefühlt, war dankbar und im positiven Sinne geschafft, nämlich die Herrin eines Werkes, das ich stolz weitergeben konnte. Ähnlich verhielt es sich beim Schreiben einer globalen Vertriebsmethodologie für ein großes Unternehmen. Auch dort konnte ich mich in dieser Welt verlieren und habe die aktuelle Welt nicht wahrgenommen, war völlig im Fluss in einer Welt, die nicht meine war bzw. es nicht mehr war. Ich setzte mich morgens um 8 Uhr an meinen Schreibtisch und kam um 14.00 Uhr das erste Mal wieder zu mir, wenn der Magen knurrte. Meine eigene Lebenssituation zu diesem Zeitpunkt: schlicht eine Katastrophe. Selbstvergessenheit – das ist ein zweischneidiges Schwert. Sie wird allgemein gelobt, wenn wir uns einer höheren Sache, der Gemeinschaft, den Bedürftigen widmen. Doch wir sind immer Teil der Situation, wir gehören immer dazu. Die eigene Beteiligung erst gibt dem Werk, das wir erstellen, Farbe und Leben. Wenn wir das Leben um uns herum wahrnehmen, dann erfahren wir nebenbei so viel Beiwerk durch die kleinen Dinge, die uns am Wegesrand begegnen können. Wichtiges Wissen, sinnvolle Impulse können uns so wie von selbst zufallen. Immer wieder habe ich das Gefühl, Nachdenken ist überhaupt die dümmste Idee, eine Frage zu lösen. Sprüche 26 (Hoffnung für alle): 12 Wenn du einen siehst, der sich weise dünkt, da ist für einen Toren mehr Hoffnung als für ihn. Das Nachdenken hat ein großes Manko. In den Gedanken befindet man sich nicht in einer realen Welt, vor allem nicht, wenn man sich mit Situationen rumschlägt, die durch Nachdenken gar nicht gelöst werden können. Es ist, als ob man mit einem Handtuch schneiden wollte, mit einem Hammer Schrauben rausdrehen. Was sagt uns denn, was uns gut gehen lässt? Unsere Wahrnehmung, unsere Sinne, unsere Intuition, unsere Emotion! Etwas, was wir nicht steuern und kontrollieren können, was einfach kommt. Gedanken können schön klingen, sie können faszinieren, ja sogar kurzfristig berauschen, flashen, geistige Orgasmen. Doch überprüfbar, ob das Gedachte in der Praxis hält, funktioniert erst, wenn wir uns in die Situation hineinversetzen und ausprobieren, wie es sich anfühlt. Wie wir darin leben können. Uns die Situation farbig ausmalen und sie detaillieren, das Träumen. All die anderen Entscheidungsmechanismen, die auf logischen Im Antlitz der Liebe - 432 - © Gabriele Sych oder mathematischen Modellen basieren, funktionieren einfach nicht, also Pro- und Kontra-Listen und Bewertungsmodelle. Nachdenken bei schwierigen Situationen ist eine nicht adäquate Verhaltensweise. Nachdenken hilft maximal dabei, die Grundsituation zu analysieren und die Fragestellungen, anhand derer man vorgeht, die das Grundgebäude der Situation darstellen. Was denke ich eigentlich? Was erzähle ich mir denn da gerade? Gehe ich überhaupt von den richtigen Voraussetzungen aus? Stimmen meine Grundannahmen? Kann ich das wissen? Entsprechen sie der menschlichen Natur? Führen sie uns in Richtung Barmherzigkeit? Gefühle können nicht logisch gelöst werden, sie wollen ihren natürlichen Ausdruck finden. „Ich denke, ich fühle mich jetzt mal wohl, ich denke, ich bin jetzt mal nicht traurig!“ ist kein Weg, um zum Wohlfühlen zu kommen oder Traurigkeit zu beenden. Gefühle können nicht durch Vernunft kompensiert oder gelenkt werden, sondern nur ausgedrückt werden. „Es ist jetzt nicht vernünftig, traurig zu sein!“ beendet unsere Traurigkeit ebenso wenig. Das ist nicht Vernunft, dass ist einfach nur sinnfrei. Achtung Unterscheidung! Es gibt Gefühle, die entstehen aus unserem aktuellen Erleben, aus unseren Sinnen, unserer Wahrnehmung. Wir sehen z.B. ein kleines Kind oder einen Sonnenuntergang oder das Leid eines Menschen und sind zu Tränen gerührt. Ein Traumapatient kann einen Flashback erleben. Wir erleben tiefe Freude. Diese Gefühle können nicht gelenkt, gestoppt werden, sondern nur ausgedrückt werden. Und es gibt Gefühle, die basieren auf unseren Gedanken, unseren eigenerfundenen Geschichten, z.B. denken wir, jemand anderes hat uns verletzt mit dem, was er neulich gesagt hat. Und das macht uns traurig. Diese Gedanken können durch einen Gedankenstopp umgehend beendet werden und dann ist auch das zugehörige Gefühl obsolet. Genau hier funktioniert der Stopp, weil sie keine Wahrheit besitzen. Wenn erstere Gefühle unser Überlebensprogramm sind, dann ist die gedankliche Anfachung oder Lenkung der Gefühle ein Virus in diesem Programm. Das funktioniert einfach nicht, dabei läuft man früher oder später auf einen Fehler. Wenn unangenehme Gefühle aus aktuellem Erleben immer wieder auftauchen, wenn wir immer wieder das Gleiche erleben, dann ist Heilung der Lebensumstände der Weg, dann haben wir uns unerträgliche Lebensumstände geschaffen, egal, wie „vernünftig“ sie sein mögen. Im Antlitz der Liebe - 433 - © Gabriele Sych Hinter unseren Gedanken liegt der Schlüssel zum Reich Gottes und die Antwort. Denn es ist ständig da, doch häufig nehmen wir es nicht wahr, weil wir uns mit Denken vom wahren Leben ablenken. 2.3.4.1 Aufwachen: Aufmerksamkeit und Wahrnehmung Wer sich den ganzen Tag von seiner inneren Stimme, seinen Sinneseindrücken, seinen inneren Impulsen und der Wahrnehmung seiner Gefühle abtrennt, verstopft die „Poren“ seiner Sinne. Diese „Poren“ sorgen dafür, dass wir eine Situation gänzlich wahrnehmen können. Sie sorgen dafür, dass uns alle Nuancen auffallen können, sie können uns diese Informationen zur Verfügung stellen. Man kann dies nennen: jedem Moment mehr Tiefe geben, jeden Moment mehr auskosten. Das ist jedoch nur möglich, wenn wir für unsere Sinneswahrnehmungen offen sind. Eine Beschreibung des Zustandes in Matthäus 13/Jesaja 6 (Lutherbibel 1984) 14 Und an ihnen wird die Weissagung Jesajas erfüllt, die da sagt (Jesaja 6,9-10): »Mit den Ohren werdet ihr hören und werdet es nicht verstehen; und mit sehenden Augen werdet ihr sehen und werdet es nicht erkennen. 15 Denn das Herz dieses Volkes ist verstockt: Ihre Ohren hören schwer und ihre Augen sind geschlossen, damit sie nicht etwa mit den Augen sehen und mit den Ohren hören und mit dem Herzen verstehen und sich bekehren, und ich ihnen helfe.« Je häufiger wir jedoch unseren Sinneswahrnehmungen im Alltag kein Gehör schenken, umso mehr sind unsere Sinne in unserem Geistkörper umspült von Emotionen und Ausdrucksnotwendigkeiten, die eben nicht in ihrer ursprünglichen Situation nach außen getreten sind. Unsere Sinne nehmen die Informationen wohl auf, können sie aber nicht an das Bewusstsein weitergeben, weil dies durch andere Aktivitäten belegt ist, eben häufig Denken, Denken, Denken. Der Körper reagiert jedoch trotzdem auf die Reize mit Wohloder Unwohlsein und möchte dieses Wohl- oder Unwohlsein gern ausagieren und an unser Bewusstsein weitergeben. Dies kann Atem, Bewegungen, Emotionen, Worte oder Laute sein, oder einfach die Gelegenheit, sich diesem Sinneseindruck hinzugeben, ihn durch und durch zu fühlen, um zu einer Erkenntnis zu kommen. D.h. oft stehen vor unserem Bewusstsein unheimliche Schlangen an Eindrücken, die wahrgenommen werden wollen. Passiert dies nicht, dann werden unsere Sinneskanäle langsam aber sicher Im Antlitz der Liebe - 434 - © Gabriele Sych verstopft bzw. verkümmert, weil sie nicht „ausgelesen“ werden, etwa ein schmollendes sich Abwenden „ich kann ja sagen, was ich will, mich hört ja doch keiner“. Dies kann man sich wie ein Sieb vorstellen, bei dem sich Stück für Stück die Löcher zusetzen. Oder wie trockene Erde, in die Wasser nicht vordringen kann. In feuchter Erde befinden sich Unmengen kleiner Kanäle, Kapillaren, in denen das Wasser aufgenommen und gespeichert wird. In trockener Erde sind diese Kapillaren nicht mehr vorhanden, sie haben sich zusammengezogen. Erst, wenn die Erde über längere Zeit wieder mit Wasser bedeckt ist, bilden sich die Kapillaren wieder neu. Genauso ist das auch mit dem Körper. Wenn ich über lange Zeit zuwenig Wasser getrunken habe, dann bilden sich auch die Kapillaren in meinem ganzen Körper zurück. Und wenn ich dann wieder anfange, mehr zu trinken, dann muss ich einfach viel häufiger auf die Toilette, weil der Körper anfangs das Wasser noch gar nicht wieder speichern kann. Erst nach längerem verstärkten Wassertrinken, d.h. Wochen und Monate, bilden sich die Kapillaren wieder verstärkt aus und das Wasser wird im Körper gespeichert, bis es wieder gebraucht wird. Die Erfahrung kennen wir vielleicht auf einer anderen Körperebene, wenn uns irgendwelche Glieder „eingeschlafen“ sind. Wir haben Nerven durch unsere Haltung eingeklemmt, die Glieder fühlen sich irgendwann taub an. Die Nerven geben keine korrekte Information mehr an das Hirn weiter. Wenn dann der Nerv wieder durchgängig wird, dann treten Schmerzen auf. Dies ist meist nicht nur unangenehm, das tut oft richtig weh, und zwar so lange, bis der Stau beseitigt und die Informationen wieder richtig ausgewertet werden können. So ist dies auch auf der Gefühlsebene. Wenn das Maß der ausgewerteten Sinneseindrücke und damit die Wahrnehmung der damit verbundenen Emotionen sich wieder erhöht und alles bewusst wird, dann bemerken wir in der Regel erst einmal, wie unerträglich es ist, dies alles zu spüren. Denn wenn es nicht so unerträglich wäre, warum hätten wir uns ansonsten von diesen Gefühlen abgewandt oder abgespalten? In der Regel haben wir uns in einem Leben eingerichtet, das uns nicht wirklich zuträglich ist. Es ist uns nicht zuträglich, dass wir uns von unserem Erleben abwenden, es ist wichtig, uns dem zuzuwenden, was wir fühlen. Unsere Gefühle sind für uns ein ganz wichtiger Gradmesser, sie sorgen dafür, dass unser Leben lebenswert wird. Sie achten auf uns, sind unser Überlebensmechanismus. Sie möchten unserem Bewusstsein gern immer mitteilen, Im Antlitz der Liebe - 435 - © Gabriele Sych wenn eine Situation für uns nicht angebracht ist. Ihre Funktion tritt lange vorher ein, bevor wir einen Schaden intellektuell bemerken. Sie warnen uns vor körperlich und seelisch unzuträglichen Situationen. Dies ist auch eine klare Erkenntnis der Hirnforscher wie z.B. des Neurologen Antonio Damasio:87 „Alle Emotionen haben eine regulatorische Funktion und führen in der einen oder anderen Weise zur Entstehung von Umständen, die vorteilhaft für den Organismus sind, der das Phänomen zeigt. Emotionen haben mit dem Leben eines Organismus zu tun, seines Körpers, um genau zu sein, und ihre Aufgabe besteht darin, dem Organismus zu helfen, am Leben zu bleiben.“ 2.3.4.2 Starke und schwache Reize Wenn wir dann auf leichte Signale einfach nicht mehr reagieren, dann werden die Signale stärker. Dies können intensivere Gefühlszustände sein wie Gereiztheit, Ärger, unvermeidbare Tränenausbrüche, Einsamkeit, Verzweiflung, Gehetztheit, jedoch auch Körperwahrnehmungen: Schmerzen (Kopfschmerzen, Magenschmerzen, Schulter- und Nackenschmerzen, Rückenschmerzen), An- und Verspannung, Erschöpfung, Müdigkeit, irgendwann chronische Schmerzen. Wenn wir auch darauf nicht reagieren, dann dauert es ein wenig und die Signale werden noch stärker. Werden auch diese überhört und das signalauslösende Verhalten wird fortgesetzt, dann wird die Sinnesleitung abgeschaltet. Die Wiederanschaltung ist dann nicht einfach, sie dauert entweder sehr lange – wie etwa bei einem Sieb, bei dem wir die verstopften Löcher entweder einzeln durchstechen müssen, d.h. mit jedem bisher verdrängten, ignorierten Teilaspekt auseinandersetzen müssen. Oder dies kann mit großen Schmerzen, starken Gefühlen oft insbesondere Ängsten verbunden sein, wie etwa, wenn wir unser Sieb eine Weile in Wasser legen, d.h. uns mit Gefühlen ausagieren, fluten, bis sich das verfestigte Material wieder löst. Was in den Organismus rein kommt, das muss auch wieder raus, die Energie der Erlebnisse bleibt jedenfalls so lange im oder beim Körper erhalten, bis eine Bewusstwerdung und die zugehörige Reaktion stattgefunden hat. Irgendwann muss man sich stellen. Mir ist es in psychotherapeutischen Sitzungen häufiger so gegangen, dass bei der Bewältigung von Problemen plötzlich an irgendeiner Stelle am Körper sich etwas wie ein unsichtbares Gewicht wie in Luft auflöste und mich erleichtert zurück ließ. 87 Antonio Damasio: Ich fühle, also bin ich, List Verlag, Seite 68 Im Antlitz der Liebe - 436 - © Gabriele Sych Was wir jedoch alternativ gern tun: wir verschieben unsere Aufmerksamkeit dahin, dass wir uns so sehr mit anderen Dingen beschäftigen, damit wir die Signale ignorieren können. Was bedeutet, dass wir uns ständig und dauerhaft beschäftigen müssen, damit die Nachrichten nicht durchkommen. Das führt natürlich zu zusätzlichem Stress, Anstrengung, der Anhäufung von Aktivitäten, der Suche nach intensiven Glücksgefühlen, Kaufrausch, zu Überbrückungsaktivitäten in jeglichen Ruhephasen: z.B. das Lesen von Zeitungen, Arbeitsmaterialien, Fachbüchern oder alternativ möglichst spannender Literatur, damit keine Freiräume entstehen und zwar beim Essen, in der UBahn, in den Pausen, vor dem Einschlafen, auf dem Klo, an der Kasse im Supermarkt, im Wartezimmer. Ich habe jedoch schon mangels sinnvoller Literatur Inhaltsangaben von Putzmitteln gelesen, damit ich überhaupt etwas zu lesen hatte. Ja, richtig, dies klingt so: es hat Suchtcharakter. Ich begebe mich in eine andere Welt, weil meine eigene Welt für mich nicht aushaltbar, interessant, gefühlvoll, angemessen, geborgen, sicher, überhaupt mir entsprechend genug ist. Und: weil ich die Tür zuhalten will, damit dieses Übermaß an Eindrücken nicht zu mir durchdringt. Auch andere alternative Aktivitäten können Suchtcharakter zum Zwecke des Nichtspürens und Zeitüberbrückens annehmen: Fernsehen, Radio bzw. Musikhören, Internet-Surfen, Computerspiele (vor allem virtuelle Daueraufenthaltsorte wie Second Life, World of Warcraft etc. und das Mitleben fremder Leben wie z.B. Twitter, Facebook) Telefonieren, Essen, Naschen, Orakeln, Übungen/sportliche Aktivitäten, Zwangshandlungen. Und schließlich tatsächlich: Verdrängung durch Suchtstoffe wie Alkohol, Tabletten, Drogen, Chemikalien. Wir mögen uns überall aufhalten, nur nicht in unserem Leben. Wenn man diese Verhaltensweise einmal aufgegeben hat, dann ist es eine riesige Erleichterung, z.B. nicht mehr lesen zu müssen. Und wenn man dann wirklich etwas lesen sollte, fällt es einem manchmal schwer, sich wieder für ein Buch zu interessieren, weil das, was gerade in der Realität passiert oder die Sinne einem vermitteln, so viel interessanter und spannender ist. Als Beispiel: Betrachten wir einmal den Unterschied, ob ich in einem Ferrari mit 300 km/h von Berlin nach Rom rase oder mit dem Fahrrad fahre oder sogar zu Fuß pilgere. Alle die Ein- Im Antlitz der Liebe - 437 - © Gabriele Sych drücke, die ich sammeln kann, sind beim Pilgern so viel intensiver, sprechen so viel mehr Sinne an. Wenn ich dann nach der Pilgerwanderung – von vielen Tagen und Wochen – in Rom dann ankomme, bin ich an Leib und Seele erfrischt, habe den Weg wahrhaft erfahren, habe tausenderlei erlebt, viele Menschen kennen gelernt, viele unterschiedliche Speisen erlebt, Wetter wahrgenommen, Landschaften durchquert und genossen, hatte einen Wechsel zwischen Aktivität und Passivität. Ich habe den Duft von Blumen und Bäumen gerochen, habe Tiere und Landschaften gesehen, habe süße Früchte am Weg gesammelt, hatte sicher unzählige Erlebnisse, habe viel dabei erfahren und gelernt, habe eine unvergessliche Zeit hinter mir. „Ja, aber soviel Zeit habe ich ja gar nicht, um nach Rom zu laufen!“ Wenn der Vergleich zum Ferrari steht: Die Zeit, die ich brauche, um mir den „Ferrari“ zu verdienen, die Spritkosten, die Versicherung usw. kann ich auch für das Laufen, für die direkte Erfahrung, die vertiefte, alle Sinne integrierende und auswertende Erfahrung nutzen. Und die Zeit, die ich brauche, um mir den „Ferrari“ zu verdienen, wie ist die für mich? ♥ Genieße ich sie oder nutze ich sie zur Verdrängung? ♥ Fühle ich mich dabei wohl oder muss ich mich hinterher davon erholen? ♥ Fühlt sie sich wie Strafe oder Last an und muss ich mich hinterher dafür belohnen, dass ich sie durchgehalten habe? ♥ Tue ich etwas, was ich wirklich will und für sinnvoll halte oder benutze ich diese Tätigkeit als Mittel zum Zweck? Wofür? Wenn ich leichte Reize im Alltag dauerhaft ignoriere, dann brauche ich irgendwann starke Reize, um mich überhaupt zu spüren. Dann reicht oft ein positiver feiner Reiz nicht aus, um mich glücklich und zufrieden zu machen. Ich brauche mindestens drei Wochen Urlaub, um meine übers Jahr angesammelten Defizite wieder aufzufüllen. Dann muss es eine Urlaubsreise nach Bali oder in die Karibik sein, Aktivitäten wie Fallschirmspringen, Heli-Skiing und Yachting, da genügt eine Radtour zum nächsten See für einen gemütlichen und fröhlichen Nachmittag nicht aus, dann muss es ein Sportwagen, die Manolos, der Designeranzug, der Riesenfernseher etc. sein. In meiner ganz schlimmen Phase mit 60-Stunden-Woche hatte ich ein Abonnement für die Philharmonie in Berlin. In diesen zwei Stunden hat keiner etwas von mir gewollt, sogar ich selbst nicht, ich konnte einfach nur da sitzen. Da habe ich mich dann auf hohem Niveau entspannen können, der Im Antlitz der Liebe - 438 - © Gabriele Sych Klangteppich hat sich meiner Seele angenommen, und erst nach einer halben Stunde wich dieses summende Spannungsgefühl, was mich ständig umgab, und ich konnte die Musik hören. Merken konnte ich sie mir nie… Alternativ kann die Begründung auch heißen: „Nee, im Urlaub, da will ich mich ausruhen, da will ich nicht auch noch laufen oder Fahrrad fahren, da bin ich viel zu „platt“ dafür. Da will ich mich einfach nur noch an den Strand legen, nichts tun und maximal noch abends Party machen.“ Warum wohl? Warum macht mich das Leben so platt? ♥ Weil ich nicht auf die Signale höre, die sagen: jetzt ist es genug! Pause! ♥ Weil ich mich nicht gut um mich kümmere, für mich sorge (nahrhaftes Essen, Ausgleich durch Bewegung, Freude, Balance zwischen Aktivität und Ruhe, „nährende“ Beziehungen) ♥ Weil ich meine Zeit so weit verkauft habe, dass ich über mein Leben nicht mehr genug Entscheidungsfreiheit habe, als dass ich selbst entscheiden könnte, wann ich aufhöre. ♥ Weil meine Ängste, Vorstellungen und Ziele mich dazu treiben, mich und meine Kräfte zu überdehnen, um ♥ meine Erwartungen und Vorstellungen oder die anderer an mich/von mir nicht zu enttäuschen, bzw. ♥ Misserfolge oder Kritik zu vermeiden oder ♥ mir mein Wunsch-Image nicht anzuknacksen, vielleicht weil ich souverän, zuverlässig, professionell, stark, verantwortlich, reif für Was-auch-immer scheinen will, ♥ die Aufgaben zu erfüllen, die ich versprochen habe, auch wenn ich dazu nicht in der Lage bin. ♥ Weil ich auf verschiedenen Ebenen auf Kredit lebe und meine Kreditraten jetzt und in Zukunft sicherstellen muss. ♥ Weil ich an meine Altersversorgung denke, die ich jetzt ja einzahlen muss. ♥ Weil ich meine sichere Stelle nicht verlieren will. ♥ Weil: Ich muss! (Zumindest denke ich das!) Das letzte Postulat ist ein sicheres Zeichen, dass ich gegen mein Gefühl arbeite. Im Antlitz der Liebe - 439 - © Gabriele Sych Mensch, lass Dich von Deinem Gefühl retten! Nimm sie wahr! All die Zeit, die wir uns heute gegen unser Gefühl stellen, werden wir irgendwann brauchen, um uns nach dem Zeitpunkt, an dem wegen dieser Ignoranz in unserem Körper oder unserer Seele etwas reißt oder wie ein Gummiband überdehnt wird, wieder neu zu justieren und uns neu in Schwung zu setzen. Und dies kann Wochen, Monate und sogar Jahre dauern. Wenn es denn geht… Woher ich das weiß? Aus Erfahrung – nicht nur meiner! Siehe auch 2.1.4.10 Kredite auf das Leben. Wir können anhalten und uns wieder sensibilisieren für unsere Gefühle und um das alltägliche Glück zu erkennen. Dies ist das wahre Glück, denn es ist ständig da und in der Regel preiswert bis kostenlos: ein gleißend-roter Sonnenuntergang, ein Blick auf ein schlafendes oder ins Spiel vertiefte Kind, mildes Wetter im Oktober, ein Herbstspaziergang in bunten Blättern, tanzende Lichter auf einem See, das Schnurren eines Katers, ein tiefer Blick in die Augen des geliebten Menschen, frisch gefallener Schnee, ein Lächeln, ein Moment geruhsamer Stille, ein freier Kopf, die ersten Schneeglöckchen, der erste Frühlingshauch, duftende Baumblüte im sanften Frühlingswind, ein frisches Brötchen, ein reifer Apfel gemeinsam in Muße genossen. Wer schon mal gefastet hat, der weiß, wie gut ein Apfel schmecken kann. Kleiner heilpraktischer Exkurs: Urlaub, Erholung, das heißt für viele Sonne, Strand und Meer. Warum ist das so erholsam? ♥ Die Sonne ist unser Kraft- und Energiespender und Vitaminquelle. Licht ist ein natürliches Antidepressivum. Und: In der heißen Sonne ist Denken oft nicht mehr möglich! Also endlich Kopf-PAUSE! ♥ Zum anderen der Kontakt zur Erde, barfuss laufen und auf der Erde liegen, Erdung. Hier können überschüssige Energien an die Erde abgegeben werden. Die Erde entlastet uns von Nervosität, Ungeduld und Hast. Schon mal versucht? Bei Gartenarbeit kann man sich nicht beeilen! Im Antlitz der Liebe - 440 - © Gabriele Sych ♥ Und das Wasser, in der Elementelehre das Gefühl, das Aufweichen und Abwaschen aller Verschmutzungen. Besonders wirksam ist dabei auf der köperlichen und seelischen Ebene das salzige Meerwasser wie auch die mit Meerwasser angereicherte Meeresbrise. Das wirkt wie das homöopathische Mittel „Natrium Chloratum bzw. Muriaticum“ (Kochsalz), was verordnet wird für den „unterdrückten Seelenschmerz“. Es ist der in den modernen Industriegesellschaften am weitesten verbreitete homöopathische Konstitutionstyp88. Natrium Chloratum wird genutzt für all die zurückgehaltenen Emotionen, bei Traurigkeit, Nervosität und Ruhelosigkeit, Kopf- und Rückenschmerz, Müdigkeit und Mattigkeit. Das Meerwasser und die Salzluft sind die Medizin, die wir für unsere verstopften „Sinnesporen“ brauchen, damit wir uns wieder besser wahrnehmen können. Salzige Tränen sind oft eine sinnvolle Abbauform für den unterdrückten Seelenschmerz. Natrium Chloratum reguliert den Körperflüssigkeitshaushalt, kann dafür sorgen, dass alles wieder ins Fließen kommt. 2.3.5 Wunder des Lebens: Stärke und Schwäche In unserer Welt ist oft die Stärke modern und Schwäche wird verachtet. Viele nennen das: Leistungsgesellschaft. Wir versuchen, unsere Stärken zu verstärken und unsere Schwächen auszumerzen. Und doch haben wir zu allen Lebenszeiten gottgegeben Perioden der Stärke und der Schwäche und das mit Sinn. Das ist ein Wunder, die Gnade des Lebens. Wir haben die Zeit der Kindheit, in denen wir schwach sind und auf die Stärke anderer angewiesen sind und wir haben die Zeit des Alters, wo wir uns mit d