musikästhetische und popkulturelle Strategien der Künstlerin M.I.A.
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musikästhetische und popkulturelle Strategien der Künstlerin M.I.A.
Zwischen Subalternität und Hegemonie musikästhetische und popkulturelle Strategien der Künstlerin M.I.A. Schriftliche Hausarbeit im Rahmen der Ersten Staatsprüfung, dem Landesprüfungsamt für Erste Staatsprüfungen für Lehrämter an Schulen vorgelegt von: David Schütte Köln, den 25.10.2012 Prof. Dr. Michael Rappe Fachbereich 5 / Musikwissenschaft, Musikpädagogik Hochschule für Musik und Tanz Köln Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 2. Story to be told - Überlieferungen einer selbstbestimmten Biographie 2.1. Flucht als Herkunft 2.2. Hintergrund im Vordergrund 2.3. Musik, Bündnisse und Produktion 2.4. Zusammenfassung 3. Begriffserklärung und Einordnung: Subaltern vs. Hegemonie 3.1. Die Begriffe nach Gramsci und bei Althusser 3.2. Weitere Entwicklungen bei Spivak, Bhabha und Ha 3.3. Schlussfolgerungen für die Praxis von M.I.A. 4. Komponentenanalyse: Bricolage, Ästhetik und popkulturelle Merkmale im Werk von M.I.A 4.1. Vokalstil 4.2. Album: Arular 4.2.1. Track und Video: Galang 4.2.2. Track: Bucky done gone 4.2.3. DIY-Ästhetik in Sound und Produktion 4.2.4. Aussagen und Lesarten 4.3. Album: Kala 4.3.1. Track: Bamboo Banga 4.3.2. Track und Video: Bird Flu 4.3.3. Track und Video: Boyz 4.3.4. Track: Hussel 4.3.5. Ästhetik der Versammlung in Sound und Produktion 4.4. Album: /\/\ /\ Y /\ 4.4.1. Track: XXXO 4.4.2. Track: Born Free 4.4.3. Neue Räume in Sound und Produktion 4.4.4. Aussagen und Lesarten 5. M.I.A. und der Weltmusikdiskurs 5.1. Die Konstruktion anderer Musik 5.2. M.I.A.s globale und politische Musik 5.3. Neue Politik 5.4. Weltmusik 2.0 ? 6. Zusammenfassung und Ausblick 7. Quellenverzeichnis 3 5 5 10 13 22 24 24 25 30 30 31 39 40 43 45 46 47 47 49 51 53 55 57 58 59 60 61 64 64 67 68 71 75 79 2 1. Einleitung M.I.A. ist eine Künstlerin, der im Verlauf der Nullerjahre im Rahmen der Populärkultur viel Aufmerksamkeit zuteil wurde. „Diskurs-Pop-Sensation“, „Agent Provocateur“, „Agrit-Pop-Künstlerin“ und „Guerilla-Goddess“ sind nur ein paar Bezeichnungen, die bei der Rezeption und Forschung über sie ins Auge fallen. In all diesen Bezeichnungen schwingt eine politische Konnotation mit, die vermuten lässt, dass sie kein Popstar der leisen Worte und Töne ist und keine Kontroversen scheut. Tatsächlich hat eine Künstlerin wie M.I.A. mit ihrer Art, politische und sozial relevante Themen in den Kontext der heutigen Populärkultur einzubetten, großen Seltenheitswert. In ihrer Lebenswirklichkeit waren Herrschaftsverhältnisse und damit verbundene Kämpfe und identitäre Festschreibungen stets präsent. Sie hat sich der Herausforderung gestellt, ihre persönlichen Erfahrungen als Flüchtling und postmigrantisches Kind einer westlichen Gesellschaft zu nutzen, um politisch drängende Themen aus einer biographischen Motivation zum Inhalt einer künstlerischen Praxis innerhalb der Populärkultur zu machen. Neue Technologien, die globale Zirkulation von Warenströmen und Massenfluchten führten zu einer nie da gewesenen Vermischung von Kulturen und Identitäten. Dies hat sich auch auf viele Bereiche des Musiklebens ausgewirkt. Besonders in den Sphären der urbanen Subkulturen sind auf der ganzen Welt dadurch neue Allianzen und Netze der Identifizierung geschaffen worden. Einzelne subkulturelle Stile wie Punk-Rock oder Hip-Hop hatten sich ursprünglich aus dem Widerstand gegen herrschende Verhältnisse entwickelt, wurden jedoch aufgrund der Absorption von subversiven Zeichen und Praktiken durch die industrielle Vereinnahmung im Popkontext in ihrer politischen und sozialen Relevanz entschärft. Die musikalischen Ecken und Kanten wurden produktionstechnisch abgeschliffen um einem angeblichen Konsumgeschmack besser zu entsprechen. Heutzutage ist es schwer im Kontext der Popkultur Musikschaffende zu finden, die dominante Strukturen auf so radikale Weise wie M.I.A herausfordern. Sie bezeichnet sich selbst nicht als Musikerin und hat die Entwicklungen der Popmusik, bezogen auf die ungemeine Ausdifferenzierung von Stilen und Verortungsmöglichkeiten, doch wie kaum jemand zuvor genutzt, um gestalterische Grenzen zu verhandeln und zu erweitern. Zu ihren verschiedenen Innovationen gehört eine individuelle Verschmelzung subkultureller Genres mit musikalischen und textlichen Referenzen, die von globalen Befreiungskämpfen und kulturellen Praxen berichten. Ihre Affinität zu transkulturellen Allianzen über nationale oder genrespezifische Grenzen hinweg, ihre Suche nach 3 Bündnissen mit anderen Musikschaffenden und ihre kooperative Herangehensweise an künstlerisches Gestaltungsmittel in der Musikproduktion sind weitere Elemente und Handlungsweisen in ihrer populärkulturellen Arbeit. Zu Beginn steht M.I.A.s Biographie im Zentrum der Betrachtung, wobei hier der Versuch unternommen wird, ihre künstlerische Motivation vor dem Hintergrund ihrer Sozialisierung im Kontext gesellschaftlicher Konflikte nachzuvollziehen. Diese Faktoren werden als Impulsgeber für ihren Wunsch nach kreativem Ausdruck als eine Möglichkeit verstanden, aus herrschaftlichen Bedingungen auszubrechen und deren dominante Ideologien und die daraus resultierenden Zuschreibungen in Frage zu stellen und zu verhandeln. Die Ausführlichkeit der Biographie liegt der Absicht zugrunde, die verschiedenen Facetten dieser Entwicklung aufzuzeigen und die Vielfalt ihrer Kooperationen und Allianzen herauszustellen. Im dritten Kapitel werden diese unterschiedlichen Faktoren in einen kulturwissenschaftlichen Dialog einbezogen. Die Cultural und Postcolonial Studies als interdisziplinäre akademische Form der kulturwissenschaftlichen Analyse von Herrschaftsverhältnissen bieten hierfür den Rahmen, um die Begriffe Subalternität und Hegemonie herzuleiten und in Beziehung zu der populärkulturellen Arbeit von M.I.A. zu setzen. Die Rolle der Populärkultur wird im Kontext der Verhandlung von Subjektpositionen unter hegemonialen Voraussetzungen erörtert. Hier werden Bedingungen von gesellschaftlicher Hegemonie und strategische Möglichkeiten und ihrer Unterminierung in der Populärkultur aufgeworfen. (Gefährdung: Standpunkt der Herrschenden gesehne) Das vierte Kapitel soll einen möglichst vielschichtigen und differenzierten Einblick in das musikalische Schaffen der Künstlerin geben. Ebenso wird der Versuch unternommen, popkulturelle und musikästhetische Strategien festzustellen, mit denen M.I.A. herrschende Vorstellungen und hegemoniale Gestaltungsvorgaben in Frage stellt. Techniken wie die Bricolage und eklektische Auswahlverfahren werden aufgeführt und erläutert, um den Charakter ihrer Herangehensweisen zu beschreiben. Klangästhetische und produktionstechnische Merkmale kommen hierbei ebenso zum tragen wie die semantische Ebene ihrer Texte und ihrer Bild- und Zeichensprache. Im fünften Kapitel steht der Diskurs um den Begriff Weltmusik im Vordergrund und wird im hinsichtlich M.I.A.s global orientierte Verfahrensweisen diskutiert. Insgesamt wird sich in dieser Arbeit der Künstlerin als zentrale Quelle auf wissenschaftliche und persönliche Weise genähert. Diese Vorgehensweise begründet auch die Methode, die informativen Aussagen aus den zahlreichen Interviews, Artikeln 4 und Diskussionen im World Wide Web zusammenzuführen und im Dialog mit akademischen Quellen und Theorien zu thematisieren. 2. Story to be told1 - Überlieferung(en) einer selbstbestimmten Biographie „Sometimes I repeat my story again and again because it’s interesting to see how many times it gets edited, and how much the right to tell your story doesn’t exist. People reckon that I need a political degree in order to go, ‘My school got bombed and I remember it cos I was ten-years-old’. I think if there is an issue of people who, having had first hand experiences, are not being able to recount that – because there is laws or government restrictions or censorship or the removal of an individual story in a political situation – then that’s what I’ll keep saying and sticking up for, cos I think that’s the most dangerous thing. I think removing individual voices and not letting people just go ‘This happened to me’ is really dangerous. That’s what was happening (...) Nobody handed them the microphone to say ‘This is happening and I don’t like it'.“2 2.1 Flucht als Herkunft M.I.A. wird am 18. Juli 1975 in Hounslow, London mit bürgerlichem Namen Mathangi (Rufname „Maya“) Arulpragasam als Kind von Kala und Arul Pragasam geboren. Beide Eltern stammen aus Sri Lanka und gehören der tamilischen Minderheit an, die seit mehreren Jahrzehnten im Konflikt mit der dortigen singhalesischen Mehrheitsregierung steht. Sechs Monate nach Mayas Geburt ziehen die Eltern mit ihr und ihrer älteren Schwester Kali zurück nach Nord-Sri Lanka in die Stadt Jaffna.3 Ihr Vater trifft diese Entscheidung, nachdem er von schweren Misshandlungen erfährt, die seinem Vater durch die staatliche Armee zugefügt worden seien. 4 Dort angekommen wird Mayas Bruder Sugu geboren und ihr Vater wird zum Mitbegründer der Eelam Revolutionary 1 Songtitel auf dem Album „ /\/\ /\ Y /\“. 2 Matthew Bennett: Agent Provocateur - M.I.A. Interview, 28.06.2010 http://www.clashmusic.com/ feature/agent-provocateur-mia-interview (20.10.12). 3 Vgl. Miranda Sawyer: M.I.A.: ,I‘m here for the people‘, 13.06.2010 http://www.guardian.co.uk/music/ 2010/jun/13/mia-feature-miranda-sawyer (17.10.12). 4 Vgl. Tobias Rapp: taz Nr. 7643 vom 19.4.2005, Seite 15, 330 Zeilen (Kommentar). 5 Organisation of Students (E.R.O.S.), einer säkularen tamilischen Befreiungsorganisation, die für die Einsetzung eines unabhängigen Staates für die tamilische Minderheit kämpft. Seitdem operiert er unter dem Namen Arular. Ab diesem Zeitpunkt verschwindet Mayas Vater in den Untergrund und ist für die Familie unerreichbar.5 Maya beschreibt ihre Kindheitserfahrungen als sehr ambivalent. Sie erinnert sich an viele glückliche Momente mit ihrer Familie und den Kindern aus der Nachbarschaft. Dennoch ist ihr Aufwachsen stark von den Begebenheiten des Bürgerkrieges gekennzeichnet. Da Mayas Vater als revolutionärer Anführer von staatlichen Institutionen verfolgt wird, muss die Familie sich oft verstecken oder gar flüchten. 6 „We lived in hiding for so long. We were just moving from village to village and from house to house. Nobody wanted to put us up; we were untouchable. Everybody knew about us in Sri Lanka, and nobody wanted to deal with us because we brought so much heat. The army would follow [us wherever we'd go]. We were living in big-time poverty, stealing mangoes off someone else’s tree,”7 Maya besucht verschiedene britische, christlich oder hinduistisch geprägte Schulen. In dieser Zeit sammelt sie ihre ersten Erfahrungen mit Bildender Kunst und entdeckt ihre darstellerische Begabung. 8 Sie kann sich mit Playback-Shows auf Nachbarschaftsfesten Geld dazuverdienen.9 Gleichzeitig wird sie an die Realität des Bürgerkrieges, die auch vor den Schulen nicht Halt machte: „The army would come down to the Tamil convent [ I attended], put guns through holes in the windows and shoot. We were trained to dive under the table or run next door to English schools that wouldn’t get shot. It was a bullying exploitation.”10 Die Familie erlebt wie der Bürgerkrieg immer stärker eskaliert. Als Maya neun Jahre alt ist wird die Schule, die sie besucht, zerbombt.11 In der Zeit, als die Familie die 5 Vgl. ebd. 6 Vgl. Miranda Sawyer: M.I.A.: ,I‘m here for the people‘, 13.06.2010 http://www.guardian.co.uk/music/ 2010/jun/13/mia-feature-miranda-sawyer (17.10.12). 7 Vgl. Ismat Mangla: Not-So Missing in Action, 04.10.2004 http://niralimagazine.com/2004/10/not-somissing-in-action/ (17.10.12). 8 Vgl. Craig McLean: Agent provocateur, 04.10.2007 http://www.telegraph.co.uk/culture/3666998/Agentprovocateur.html (17.10.12). 9 Vgl. Tom Breihan: Status Ain‘t Hood Interviews, 18.07.2007 blogs.villagevoice.com/statusainthood/ 2007/07/status_aint_hoo_28.php (17.10.12). 10 Vgl. John Fortunato: I Am M.I.A. Here‘s Me Raw, http://www.beermelodies.com/interviews/i-am-miahere%E2%80%99s-me-raw/ (17.10.12). 11 Richard Harrington: No Loss For Words, 16.09.2005 http://www.washingtonpost.com/wp-dyn/content/ article/2005/09/15/AR2005091500697_pf.html (17.10.12). 6 militärische Gewalt und politische Verfolgung vermehrt am eigenen Leibe zu spüren bekommt und Freunde sowie Verwandte im Kreuzfeuer ums Leben kommen, entschließt sich Kala, Mayas Mutter, in Großbritannien Asyl zu suchen.12 Maya ist zu diesem Zeitpunkt elf Jahre alt. 13 Wieder in England wächst Maya in Merton auf. Dieses Viertel im Stadtteil Mitcham ist eine Hochburg der rechtsgerichteten British National Front im Südwesten Londons. Die Gegend ist geprägt von Deindustrialisierung, Sozialabbau und Kriminalität. Die Familie wird dort in der Sozialbausiedlung Phipps Bridge untergebracht. Hier erlebt sie den zweiten wesentlichen Teil ihrer Sozialisation. Maya bekommt von Beginn an Ausländerfeindlichkeit und Ausgrenzung zu spüren. Als eine von zwei Familien aus dem asiatischen Raum in der Gegend ist ihre Familie sehr häufig mit rassistischen Anfeindungen konfrontiert.14 Sie werden auf der Straße als „Pakis“ beschimpft.15 Als Maya später andere Exil-Tamilen kennenlernt, wird sie wegen ihrer unweiblichen Kurzhaar-Frisur ausgegrenzt. In einem Interview berichtet sie, dass sie deswegen sogar aus dem Sitar-Unterricht ausgeschlossen wurde.16 In einem schulischen Förderprogramm verbessert Maya rasch ihre Englischkenntnisse. Ihre Begegnungen mit der Hip-Hop-Kultur in ihrer Nachbarschaft beeinflussen ihre ästhetische und kulturelle Sozialisation. Die Graffiti-Kunst und die Rapmusik üben eine starke Anziehungskraft auf sie aus. „Where I lived, there was one black family and they lived next door to us. And they had a kid who listened to hip-hop all the time with his mates. It was a bit rowdy, a bit dangerous, listening to unknown music, but eventually I wanted to hang out, and that's how I learned hip-hop - there, and on pirate radio stations, at school and at the playground." 17 12 Ismat Mangla: Not-So Missing in Action, 04.10.2004 http://niralimagazine.com/2004/10/not-somissing-in-action/ (17.10.12). 13 Miranda Sawyer: M.I.A.: ,I‘m here for the people‘, 13.06.2010 http://www.guardian.co.uk/music/2010/ jun/13/mia-feature-miranda-sawyer (17.10.12). 14 Vgl. Robert Wheaton: London Calling -- For Congo, Columbo, Sri Lanka part two, 06.05.2012 http:// web.archive.org/web/20090124220154/http://www.popmatters.com/music/interviews/mia-0505062.shtml (17.10.12). 15 Kien Nghi Ha erwähnt in seinem Buch „Ethnizität und Migration Reloaded“ eine in England populäre rassistische Praktik, die sich „Paki Bashing“ nennt (S.98). 16 Vgl. Jan Kedves: M.I.A. Militanz. Information. Apathie., 24.03.2005 http://www.intro.de/kuenstler/ interviews/23015468/mia-militanz-information-apathie (17.10.12). 17 Richard Harrington: No Loss For Words, 16.09.2005 http://www.washingtonpost.com/wp-dyn/content/ article/2005/09/15/AR2005091500697_pf.html (17.10.12). 7 Während Besuchen bei ihrer Verwandtschaft in Los Angeles macht sie Bekanntschaft mit der hybriden Identitätspolitik amerikanischer Hip-Hop-Kultur und der Möglichkeit ihrer Verortung darin. „That's exactly what happened with me. Because I spent time in L.A., too, growing up on gangster rap. My cousin was a gangster bitch, and she knew the Bloods and the Crips and she was Sri Lankan.“ 18 Auch drückt sie ihr Interesse an dieser Subkultur mit ihrem collagierenden Modestil aus.19 Diese nichtweiße Subkultur suggeriert Maya das Potenzial verschiedener Formen marginalisierter Identitäten und gibt ihr das Gefühl einer kulturellen Zugehörigkeit.20 Sie hört die Musik von Public Enemy, Eric B. & Rakim oder N.W.A. Diese sind neben Musik von Michael Jackson und Boney M., die sie bereits während ihrer Kindheit in Sri Lanka kennenlernt, ihre ersten entscheidenden Berührungspunkte mit westlicher Popkultur.21 Die Flüchtlingswelle, mit der Mayas Familie in den 1980er Jahren nach England kommt, versetzt die dortige schwarze Bevölkerung in einen verbesserten Status der ethnischen Hierarchie. Zuvor an den Rand gedrängt, erlebt sie nun die Flüchtlinge aus Asien als Menschen, deren Sprachkenntnisse des Englischen noch unvorteilhafter für deren Integrationschancen sind. 22 Die urbane subkulturelle Identität, die marginalisierte, nichtweiße Jugendliche durch die Hip-Hop-Kultur gewinnen, bietet ihr nun jedoch eine 18 M.I.A.: Kehinde Wiley (Interview), 19.11.2008 http://www.interviewmagazine.com/art/kehinde-wiley/ #_ (17.10.12). 19 Vgl. Robert Wheaton: London Calling -- For Congo, Columbo, Sri Lanka part two, 06.05.2012 http:// web.archive.org/web/20090124220154/http://www.popmatters.com/music/interviews/mia-0505062.shtml (17.10.12). 20 Im Interview mit dem Arthur Magazin gibt sie detailliert Auskunft über die Gründe sich im Kontext des HipHops zu verorten: „And because I was able to adapt to it, hip-hop gave me a home, an identity. Before, people looked at me and thought ‘Oh, she’s a Paki refugee kid who doesn’t know how to speak English.’ Now they looked and said, ‘Her trousers are so baggy, she’s got bleach in her hair, her Walkman’s on too loud.’ These kinds of [bigotries] were easier to deal with. If you’re alienated because of the type of music you listen to, it’s okay because you have a tribe of people who understand it, and I knew that in little holes all over the world, there were kids picking up on that shit, joining the secret club. That’s how you feel as a teenager. It was an outsider culture, for those who didn’t have a sense of belonging in the mainstream. I was already used to that thinking, being a Tamil, a guerilla. Hip-hop was the most guerilla thing happening in England at the time. You had Public Enemy fronting it, and that felt like home, and I could dance while I was feeling shitty. It had a whole aesthetic to it – it was being really crass with pride.“ Arthurmagazine: Interview with M.I.A., 05.2005 http://www.arthurmag.com/2007/02/11/interview-withmia-from-arthur-magazine/ (20.10.12) 21 Arthurmagazine: Interview with M.I.A., 05.2005 http://www.arthurmag.com/2007/02/11/interview-with-mia-from-arthur-magazine/ (19.10.12) 22 Vgl. Arthurmagazin: Interview with M.I.A., 05.2005 http://www.arthurmag.com/2007/02/11/interview-with-mia-from-arthur-magazine/ (17.10.12) 8 zugänglichere Verortungsperspektive in den britischen Kontext als es die Infrastruktur von Bildung und Ökonomie zu leisten vermag.23 Gleichzeitig ist die Identifizierung mit Hip-Hop eine Erfahrung differenzierter Identität, die popkulturell, global und ethnisch ambivalent operiert. „It was the first thing that didn’t make me feel like I had to know Shakespeare back-tofront to fit in. Plus, it was something new, which I knew about but other people at school didn’t, something that gave me a sense of belonging“ (...) „I started meeting Sri Lankans in England whose families lived in England all their lives, cousins that were into hip-hop. Me and my sister thought they were so cool, living in a black neighborhood, wearing silk tracksuits, acting black, while I was wearing my polka-dot leggings. Within a year and a half of returning to England, me and my sister were both as black as you can get.“ 24 Maya hat zu diesem Zeitpunkt bereits erfahren, dass ihr Vater noch lebt und als Freiheitskämpfer für die tamilische Organisation E.R.O.S. aktiv ist. Sie hat jedoch nach wie vor keine Möglichkeit Kontakt mit ihm aufzunehmen.25 Eine weitere Subkultur prägt Maya in den 1990er Jahren. Die elektronische Tanzmusik gewinnt an Einfluss und ihre Anhänger versammeln sich in Clubs und geheimen, so genannten Off-Spaces zu Raves. Hier vermischen sich die Möglichkeiten zur Identifizierung zwischen nichtweißen und weißen Jugendlichen. Maya sieht auch in der Ravekultur einen zugänglichen, informellen und rebellischen Kontext, in dem eine Wissensproduktion zu Gunsten der Ermächtigung des persönlichen und gemeinsamen Ausdrucks erfahrbar ist. „The XR2 {Anm.: Version des Ford Fiesta} is a car that we used to drive in. And it's how we dressed and the attitude of it. I just remember rave music made you feel really amazingly competent in your little bottle of shit that was going on. We used to drive around in little XR2 cars with bass-tubes, and it was really noisy and crazy. Nobody liked us, and everyone was coming home at eight in the morning, still high off ecstasy and shit.“ 26 23 Vgl. ebd. 24 Ebd. 25 Maya:"I came to England with the understanding that he didn't really play a part in my life anymore, (...). And that's how I survived and why I've been really independent and getting on with life." Richard Harrington: No Loss For Words http://www.washingtonpost.com/wp-dyn/content/article/2005/09/15/ AR2005091500697_pf.html (17.10.12). 26 Tom Breihan: Status Ain‘t Hood Interviews, 18.07.2007 http://blogs.villagevoice.com/statusainthood/ 2007/07/status_aint_hoo_28.php (17.10.12). 9 2.2 Hintergrund im Vordergrund Nachdem sie die Schule erfolgreich beendet hat, wird sie auf dem Central Saint Martins College of Art and Design in London aufgenommen. Sie erzählt, wie sie den Direktor des Colleges in einem Telefonat dazu überredet, sich für das Studium für Film und Video einschreiben zu dürfen. „I really wanted to study art and the only place I wanted to go is St. Martin’s cause it’s the best one [in England], and I didn’t have any qualifications. So I got the name of the head of the art department. (...) I told him, I’m not going to go study anywhere else, so I’m just better off becoming a hooker, that I’d rather do anything than compromise my education. (...) So eventually he let me in (...) He said I’ve got chutzpah.“ 27 Während ihres Studiums lernt sie viele andere Kunstschaffende kennen. Sie stellt jedoch schnell fest, dass für sie das l‘art pour l‘art-Verständnis der meisten ihrer KommilitonInnen nicht die Motivation, die Substanz ihres künstlerischen Handelns sein konnte.28 „By the time I left St. Martin’s, I could not justify myself being an artist at all, because I did not meet anyone there who was doing interesting art that was also getting through to everyday people. [Students there were] exploring apathy, dressing up in some pigeon outfit, or running around conceptualizing. My life did not allow it: My mom was getting evicted, my brother was going to jail, I’d get my first phone call from my dad in twelve years confirming he’s still alive. So making ripples in the water, to aesthetically represent beauty, just didn’t make sense [to me ].“ 29 Maya wendet sich nun Genres zu, die eine radikale künstlerische Praxis verwirklichen wollen. Sie beschäftigt sich mit dem Dokumentarfilmkonzept des Radical Cinema der 60er und 70er Jahre und dem Dogma 95-Kino, dem Regisseur Harmony Korine und dem Musikvideo- und Filmemacher Spike Jonze.30 Ihre Ausbildung zur bildenden Künstlerin am St.Martin College wird zu einer Brücke für ihre ersten Begegnungen mit kreativer musikalischer Arbeit. Während ihres Studiums freundet sie sich mit Studierenden der Fakultäten Mode- und Grafikdesign an und taucht in die Subkultur der Londoner Party-, Mode- und Musikszene ein.31 27 Arthurmagazin: Interview with M.I.A., 05.2005 http://www.arthurmag.com/2007/02/11/interview-withmia-from-arthur-magazine/ (17.10.12). 28 Vgl. ebd. 29 Ebd. 30 Vgl. Contactmusic: M.I.A. once eyed a carrer as a filmmaker, 04.10.2005 http:// www.contactmusic.com/news-article/mia-once-eyed-a-career-as-a-film-maker (17.10.12). Vgl. http://www.washingtonpost.com/wp-dyn/content/article/2005/09/15/AR2005091500697_pf.html (17.10.12). 10 31 Über den Musiker Damon Albarn (Blur, Gorillaz) lernt sie dessen Freundin, die Musikerin Justine Frischmann, kennen.32 Diese beauftragt Maya im Jahr 2000 ein Cover für das neue Album ihrer zwischen Post-Punk und Brit-Pop angesiedelten Band Elastica zu gestalten. Kurze Zeit später bittet Frischmann Maya um ein weiteres Art Design für eine Single und nimmt sie mit auf eine USA-Tournee. Maya soll eine VideoTour-Dokumentation gestalten. Dort begegnet sie der kanadischen ElectroclashSängerin und postfeministischen Ikone „Peaches“, die für die Konzerte von „Elastica“ in den USA der Support Act ist, und verfolgt jeden ihrer Auftritte.33 “It was the first time I'd come across the concept of someone doing a gig or a show on stage with nothing, (...) It was the most liberating thing I'd ever seen. It puts the emphasis on the artist. I really loved that sense of bravery. I thought if I started with something as minimal as that, I could work on myself. ”34 „Peaches“ führt Maya während der Tournee die Roland Groovebox MC-50535 vor und motiviert sie Musik zu machen: „Peaches hat mir gezeigt, dass man nur eine Frau, ein Mikrofon und eine Beatbox braucht, dann ist alles möglich“.36 Nachdem Maya wieder in London eintrifft, vollendet sie jedoch vorerst ihr Studium am St. Martin‘s College. Im Juni 2001 erhält sie ihren Abschluss. Genau an diesem Tag erfährt sie, dass ihr Cousin - wie ihr Vater Mitglied im tamilischen Untergrund - in der Hauptstadt Sri Lankas ein Selbstmordattentat verübt haben soll.37 "We were partners in crime when we were kids, soul mates. At ten, I left. He stayed and joined the Tigers. He died the same week I graduated with a fine-arts degree. At that time, for me, everything was London, London, London. You know, Stella McCartney, fashion. Then you get a phone call, that your cousin died for a cause. How do you communicate that to anyone in London, dying for a cause? It was just amazing to me that someone my age, who had the same start I did, who was better in school than I was - I would always copy off his papers - he ended up dead. And I didn't." 38 32 Craig McLean, Agent provocateur, 04.10.2007 http://www.telegraph.co.uk/culture/3666998/Agentprovocateur.html (17.10.12). 33 Richard Harrington, No Loss For Words, 16.09.2005 http://www.washingtonpost.com/wp-dyn/content/ article/2005/09/15/AR2005091500697_pf.html (17.10.12). 34 Lily Moayeri, M.I.A., 01.03.2005 http://www.emusician.com/news/0766/mia/141165 (17.10.12). 35 Die Roland MC-505 Groovebox ist ein Gerät, das Möglichkeiten von MIDI-Sequencer, Drum Machine und Synthesizer vereinigt. Neben dem LFO, dem VCF, diversen Effekten und den Envelope-Funktionen gibt es einen Echtzeit-Arpeggiator. Vgl. Wikipedia, http://en.wikipedia.org/wiki/Roland_MC-505 (17.10.12). 36 Vgl. Artikel, Florian Sievers: Im Mash der Kulturen, Groove, http://www.groove.de/titel.php (19.4.05). 37 Vgl. ebd. 38 http://www.rollingstone.com/music/news/m-i-a-guerilla-goddess-20051229#ixzz21MqnHDWY (17.10.12). 11 Sie beschließt nach Jaffna zu reisen, um die Umstände des Todes ihres Cousins zu untersuchen und darüber einen Dokumentarfilm zu drehen, den sie M.I.A. (Akronym für Missing in Action) nennen will.39 Maya sammelt dazu Filmmaterial, das die Lebensumstände der Bevölkerung im Bürgerkriegszustand dokumentiert. Als sie sieht wie eine Frau auf offener Strasse von zwanzig Männern vergewaltigt wird, möchte sie auch dieses Ereignis mit der Kamera festhalten. Ihre Mutter Kala unterbricht ihre Dreharbeiten aus Angst um ihre Tochter. Als sie merkt, dass sie Maya wohl nicht von ihrem Vorhaben abbringen können wird, sperrt sie sie für eine Woche in das Nähzimmer im Haus der Großmutter, wo sie für die Dauer ihres Aufenthalts wohnen.40 Zurück in London beginnt sie die gewonnenen Eindrücke und Aufnahmen, die sie noch tätigen konnte, künstlerisch zu verarbeiten. Das unfertige Dokumentarfilmmaterial und ihre Erfahrungen im Bürgerkrieg in Sri Lanka geben ihr die Inspiration und die Grundlage für ihre neuen Werke. Sie gestaltet eine Ikonografie aus Motiven, die sie den Stills (Standbildern) des Videomaterials entnimmt. Diese überträgt sie mit Hilfe von Stencils (Papierschablonen) mit Sprühfarben auf verschiedene Oberflächen. Symbole der Guerilla Bewegungen des tamilischen Befreiungskampfes und Szenen staatlicher militärischer Repression werden mit Technik und Bildsprache der Graffiti-Street-Art kombiniert. So versetzt sie urbane und periphere Subversionsstrategien in einen gemeinsamen Kontext. 41 Der für ihren Dokumentarfilm vorgesehenen Titel M.I.A. wird ihr Künstlername, den sie als Signatur für ihre Bilder in Ausstellungen und für einen Werkkatalog verwendet, der beim Londoner Kunstbuch-Verlag Pocko erscheint. 42 2.3. Musik, Bündnisse und Produktion Während eines Urlaubs im Jahre 2002, den sie gemeinsam mit Justine Frischmann auf der karibischen Insel Bequia verbringt, erweitert sich ihr musikalischer Horizont. Nach einer Einführung durch Frischmann experimentiert sie zum ersten Mal selbständig mit 39 http://www.telegraph.co.uk/culture/3666998/Agent-provocateur.html (17.10.12). 40 Maya erzählt, dass sie nach drei Tagen in der Kammer beginnt aus den Gardinen die dort vor dem Fenster hingen, Kleidungstücke zu entwerfen und anzufertigen. Mark Binelli: M.I.A.: Guerilla Goddess, 29.12.2005 http://www.rollingstone.com/music/news/m-i-aguerilla-goddess-20051229 (17.10.12). 41 Vgl. Richard Harrington: No Loss For Words, 16.09.2005 http://www.washingtonpost.com/wp-dyn/ content/article/2005/09/15/AR2005091500697_pf.html (17.10.12). 42 Vgl. Craig McLean: Agent provocateur, 04.10.2007 http://www.telegraph.co.uk/culture/3666998/ Agent-provocateur.html (17.10.12). 12 der Groovebox MC-505 von Roland. Zusätzlich macht sie sich mit Gospel Musik, Diwali-Jungle-Rhythmen und der Soundsystemkultur vertraut, mit der sie auf Bequia zum ersten Mal persönlich in Berührung kommt.43 “I started going out to this chicken shed with a sound system. You buy rum through a hatch and dance in the street. They convinced me to come to church where people sing so amazingly. But I couldn’t clap along to hallelujah. I was out of rhythm. Someone said, ‘What happened to Jesus? I saw you dancing last night and you were totally fine.’ They stopped the service and taught me to clap in time. It was embarrassing.” 44 Zurück in London bastelt sie in ihrem Appartement, welches sie gemeinsam mit Frischmann bezieht, an ihren ersten Beats und Tracks. Ihre Werkzeuge sind die MC-505, ein billiges Mikrophon und ein Secondhand 4-Spur Kassettenrecorder. Sie kreiert ihr erstes Demo-Tape, auf dem Songs wie „Lady Killa“, „M.I.A.“ und „Galang“ zu finden sind.45 Den Track „Galang“ vollendet sie zusammen mit dem Produzententeam „Cavemen“, bestehend aus Ross Orton und dem Bassisten der Band „Pulp“ Steve Mackey. Nachdem „Galang“ auf vielen subkulturellen Veranstaltungen und Fashionshows gespielt wird und auch von internationalen Radio-DJs in ihre Tracklisten aufgenommen, unterschreibt Maya einen Plattenvertrag mit dem Musiklabel „XL-Recordings“. Sie beginnt mit der Produktion ihres ersten Albums.46 Sie arbeitet an ihrem Vierspur-Recorder an den Rohfassungen weiterer Tracks und begibt sich auf die Suche nach Produzenten, mit denen sie sich eine Zusammenarbeit vorstellen kann.47 Sie kontaktiert den DJ und Produzenten „Diplo“, dessen Mixe ihre Aufmerksamkeit erregen und reist zu ihm nach Philadelphia. Gemeinsam produzieren sie ein von Dancehall- und Dirty-South-Hip-Hop-Elementen geprägtes Mixtape mit dem Namen „Piracy Funds Terrorism Vol. I“. Der vom brasilianischen Baile-Funk geprägte Track „Bucky Done Gone“ sowie der Titel „M.I.A.“, den sie gemeinsam mit ihrem Bruder Sugu schreibt, werden ebenfalls von Diplo produziert und auf ihrem Debutalbum veröffentlicht.48 Er begleitet sie auch als DJ auf ihrer ersten Album-Tour. 43 Vgl. John Fortunato: I Am M.I.A. Here‘s Me Raw http://www.beermelodies.com/interviews/i-am-miahere%E2%80%99s-me-raw/ (17.10.12). 44 Ebd. 45 Vgl. Craig McLean: Agent provocateur, 04.10.2007 http://www.washingtonpost.com/wp-dyn/content/ article/2005/09/15 AR2005091500697_pf.html (17.10.12). 46 Vgl. Artikel, Tobias Rapp: taz Nr. 7643 vom 19.4.2005, Seite 15, 330 Zeilen (Kommentar). 47 Vgl. Artikel, Florian Sievers: Im Mash der Kulturen, Groove, http://www.groove.de/titel.php, (19.4.05). 48 Ebd. 13 Die Tracks „Amazon“, „Hombre“ und „10 Dollars“ erarbeitet sie mit dem Produzenten Richard X. Dave „Switch“ Taylor und Paschal Byrne aus der UK-House-Szene steuern den Beat zu „Pull up the People“ bei. 49 Sie gibt ihrem ersten Album den Namen „Arular“, den Namen, mit dem ihr Vater in der Führungsriege der tamilischen Befreiungsorganisation operiert. Ihre Texte beziehen sich, wie auch ihre bildende Kunst und ihr musikalisches Auswahlverfahren, auf eine Lebenswirklichkeit, die von urbanen und peripheren Kämpfen gekennzeichnet ist. Nach der Single „Galang“ veröffentlicht sie am 5. Juli 2004 die nächste Single „Sunshowers“. Zu den beiden Tracks entstand auch ein Musikvideo. Der Clip zu „Sunshowers“ wurde bereits kurz nach der Veröffentlichung von Youtube gesperrt und aus den Rotationen der großen Musikfernsehsender (MTV) entfernt, da der Text sich auf die palästinensische Befreiungsorganisation PLO bezieht.50 Am 22. März 2005 wird “Arular“ veröffentlicht51, woraufhin sich Mayas Vater nach Jahren bei seiner Tochter per Email mit der Botschaft meldet: „I'm very proud of you, but you have to change the name of the album. Dad.“ Sie kam diesem Wunsch nicht nach. In einem Interview begründet sie dies mit den Worten: "What can you do? (...) There's many things I'm not pleased about that he's done, so hey...“ 52 Nach der Veröffentlichung von „Arular“ lädt die US-amerikanische Hip-Hop-Künstlerin Missy Elliott Maya ein, an ihrer Single „Bad Man“ für ihr Album „The Cookbook“ mitzuarbeiten.53 Zudem geht sie im Laufe der Jahre 2005 und Anfang 2006 auf Tour und absolviert diverse Live-Auftritte in Nord-Amerika, Süd-Amerika, Kanada, Europa und Asien. Sie wirkt als Support Act unter anderem für „Roots Manuva“, „LCD Soundsystem“ und Gwen Stefani. Die meisten Shows bestreitet sie mit dem DJ „Diplo“, der die Beats für ihre Performance auflegt.54 49 Vgl. „Arular“, CD-Inlet. 50 Vgl. Richard Harrington: No Loss For Words, 16.09.2005 http://www.washingtonpost.com/wp-dyn/ content/article/2005/09/15/AR2005091500697_pf.html (17.10.12). 51 Vgl. metacritic.com http://www.metacritic.com/music/arular/mia (17.10.12). 52 Vgl. Richard Harrington: No Loss For Words, 16.09.2005 http://www.washingtonpost.com/wp-dyn/ content/article/2005/09/15/AR2005091500697_pf.html (17.10.12). 53 Vgl. Will Simmons: M.I.A. Interview, 07.11.2007 http://web.archive.org/web/20060329170246/http:// www.stylusmagazine.com/feature.php?ID=1941 (17.10.12). 54 Vgl. Corey Moss/ Shari Scorca: Coldplay, NIN Top Coachella With Emotional Performances, 02.05.2005 http://www.mtv.com/news/articles/1501113/coldplay-nin-play-emotional-sets-atcoachella.jhtml (17.10.12). 14 Ende 2005 plant Maya ein neues Album. Maya beginnt in den USA Fuß zu fassen. Sie bezieht ein kleines Appartement in Brooklyn, New York. Bei einem Konzert lässt sie verlauten, dass sie ihre zweite Platte in Zusammenarbeit mit dem Produzenten „Timbaland“ zu gestalten gedenkt.55 Aus verschiedenen Gründen kommt dieses Vorhaben jedoch nicht zur Stande. Zu diesem Zeitpunkt wird auch ihr Visum für die USA aberkannt. Die Ursachen hierfür werden zwar nie bekannt, jedoch liegt die Vermutung nahe, dass ihr aufgrund der familiären und politischen Nähe zu den Tamil Tigers, die in Amerika als terroristische Vereinigung geführt werden, sowie wegen ihrer unmissverständlich kritischen und provokativen Liedtexte, ein längerer Aufenthalt in Amerika versagt wird. 56 Ihre Eindrücke schildert sie in verschiedenen Interviews: “Initially, I didn’t get formally rejected for a visa. They let me into the US for a bit—a couple of months. I was there to work with Timbaland, but then the visa ran out and I had to come back to the UK.“ 57 “After the ‘Arular’ album I had financial freedom but I couldn’t have the other sort of artistic freedom, because people sort of like scrutinizing the words I said, and I couldn’t get a visa because of it,” 58 Dies ist einer der wesentlichen Gründe, warum Maya die Entscheidung trifft, für ihr neues Album Produktionsorte zu suchen, die sich über die ganze Welt verteilen. Sie bereist verschiedene Kontinente mit dem Vorhaben und dem Wissen, nur selten große und moderne Studios nutzen zu können. Gemeinsam mit dem Produzenten Dave „Switch“ Taylor und ausgerüstet mit minimalem technischem Equipment begibt sie sich für viele Aufnahmen auf die Straßen und in die Peripherie der jeweiligen Länder.59 Ihr Bestreben ist es, in einer Umgebung, in der sie ihre künstlerische Freiheit und Auswahlverfahren nicht beschnitten sieht, nach Klängen und musikalischen Praxen zu suchen. Auf diese Art kann sie kulturelle Freiheit als Merkmal eines Kontextes zum Vorschein bringen, in der Gestaltungsmöglichkeiten von Menschen in einen popkulturell nicht repräsentierbaren Zustand versetzt worden sind. 55 Vgl. Nick Sylvester: Culture Clash, 05.09.2007 http://thephoenix.com/Boston/Music/46609-Cultureclash/?page=2 (17.10.12). 56 Vgl. The Associated Press, 21.08.2007 http://today.msnbc.msn.com/id/20379484#.UA_TrXChw7A (17.10.12). 57 The fader, Video+Interview: M.I.A., „Jimmy“, 07.08.2007 http://www.thefader.com/2007/08/07/videointerview-mia-jimmy/#ixzz27Hgow5R3 (17.10.12). 58 The Associated Press, 21.08.2007 http://today.msnbc.msn.com/id/20379484#.UA_TrXChw7A (17.10.12). 59 Vgl. Joe Cellini: Dave „Switch“ Taylor: Producing M.I.A., http://www.apple.com/logicpro/in-action/switch/?sr=hotnews (17.10.12). 15 „The thing is, an American voice, in every shape, form, size, is getting heard on the planet all over the world. If you go to a mud hut in Africa, they are listening to an American voice, [But] a two-way exchange can exist.”60 Hierfür verbringen Maya und ihr Aufnahme-Team eine gewisse Zeit in dem vom Krieg zerrütteten Land Liberia und mit Aborigines in Australien. Sie arbeitet mit einer Trommelgruppe in Indien zusammen und mit Musikschaffenden und Produzenten in Trinidad und Jamaica, um von diesen Orten Erfahrungen und Perspektiven in ihre Musik mit einfließen zu lassen.61 „I think traveling really helps. I know some musicians who have studios in Trinidad. (...) It's neat to see that - [people] not led by money or pretentiousness. It's a small community, but you really have the space to observe and digest the culture. You go to a place where social commentary is rare and important and you can serve people. That's what's inspiring to me - finding someplace where people haven't already seen themselves in a certain light.“ 62 Entsprechend sind auf ihrem zweiten Album einige Live-Einspielungen mit traditionellen lokalen Musikpraxen zu hören. Gemeinsam mit „Switch“ fertigt Maya während ihrer Aufenthalte in den verschiedenen Ländern Tonaufnahmen vieler zeremonieller Gesänge und Tanzrhythmen an. 63 Ihr erster Aufnahmeort ist Indien. Sie nimmt Kontakt mit dem bekannten indischen Komponisten und Sänger A.R. Rahman auf, mit dem sie auf künstlerischer Ebene allerdings nicht zusammenkam. 64 Er stellt jedoch sein Studio für sie bereit, in dem wichtige Teile des Albums entstanden sind. Hier wird auch die 22-30-köpfige Trommelgruppe aufgenommen.65 Diese Aufnahmen liefern das Samplematerial für einige Tracks auf dem kommenden Album. „But it turned out that [Rahman] was really busy and it was really weird to communicate my weird ideas to him. It just naturally ended up that he was like, ‘Take all of my musicians, and here’s my contacts. Do what you want to do with them.’ So it just became 60 The Associated Press, 21.08.2007 http://today.msnbc.msn.com/id/20379484#.UA_TrXChw7A (17.10.12). 61 Vgl. ebd. 62 M.I.A.: Kehinde Wiley (Interview), 19.11.2008 http://www.interviewmagazine.com/art/kehinde-wiley/ #page2 (17.10.12). 63 Vgl. Lily Moayeri: Out On A Whim, 01.09.2007 http://www.emusician.com/news/0766/out-on-awhim/142834 (17.10.12). 64 Vgl. the fader, Video+Interview: M.I.A., „Jimmy“, 07.08.2007 http://www.thefader.com/2007/08/07/ video-interview-mia-jimmy/ (17.10.12). 65 Vgl. Joe Cellini: Dave „Switch“ Taylor: Producing M.I.A. http://www.apple.com/logicpro/in-action/ switch/?sr=hotnews (17.10.12). 16 that I had more control. We started producing it, and then [UK producer] Switch came over and we began composing stuff.“ 66 Im Februar 2007 veröffentlicht Maya den Song „Bird Flu“, allerdings nur in Verbindung mit dem Musikvideo über ihre Myspace-Seite. Die erste offizielle Auskopplung des neuen Albums ist im Juni 2007 die Single „Boyz“, für die Maya gemeinsam mit dem Produzenten Jay Will auch ein Video gestaltet.67 Kurz danach wird auch die Single „Jimmy“ veröffentlicht.68 Im August 2007 wurde das komplette Album auf den Labels „XL Recordings“ und „Interscope Records“ vorgestellt.69 Maya gab dem Album den Namen ihrer Mutter „Kala“. „This one is about my mom and her struggle—how do you work, feed your children, nurture and love them and give them the power of information? The numerous wars being fought right now run parallel to the destruction that plagues the home. The lack of structure, role models and time for family is a tragedy.“ 70 Neben „Switch“ arbeitet „Diplo“ an einigen Tracks des Albums mit. Diese beiden DJs und Produzenten waren schon maßgeblich an der Entstehung des Albums „Arular“ beteiligt. Den Song „Paper Planes“ komponiert Maya gemeinsam mit „Diplo“.71 Er wird im Februar 2008 als Single-Auskopplung veröffentlicht. Unter anderem gehört der Song zum Soundtrack des Oscar prämierten Films „Slumdog Millionaire“. Maya startet ihre „Kala“-Tour im Mai 2007, auf der sie Konzerte in Europa, NordAmerika, Kanada und Asien gibt. In einigen Shows tritt sie gemeinsam mit „African Boy“ auf, der bei dem Song „Hussel“ als Gast auf ihrem Album zu hören ist. Maya bestreitet während ihrer Tour unter anderen auch gemeinsame Auftritte mit „Santigold“, „Rye Rye“, „Buroka Som Sistema“ und eine Eröffnungsshow für „Björk“.72 66 The fader, Video+Interview: M.I.A., „Jimmy“, 07.08.2007 http://www.thefader.com/2007/08/07/videointerview-mia-jimmy/#ixzz22ZWFpdsI (17.10.12). 67 Vgl. Wikipedia, http://en.wikipedia.org/wiki/Boyz_%28song%29 (17.10.12). 68 Vgl. KIIS FM, M.I.A. Interview, 09.11.2009 http://www.youtube.com/watch?v=_H6tEjNdhQk&feature=relmfu (17.10.12). 69 Vgl. http://web.archive.org/web/20070809112524/http://www.miauk.com/info/?m=200705 (17.10.12). 70 Dirty South Joe: What‘s up with ... M.I.A.?, 06.09.2006 http://web.archive.org/web/20071013165645/ http://philadelphiaweekly.com/view.php?id=12933 (17.10.12). 71 Vgl. http://www.guardian.co.uk/music/2011/jun/16/mia-paper-planes (17.10.12). 72 Vgl. http://web.archive.org/web/20070701062748/http://www.pitchforkmedia.com/article/news/43913mia-adds-us-dates-to-summer-tour (17.10.12). 17 Ihre zweite Tour „People vs. Money“ startet im April 2008 um „Kala“ weiter vorzustellen. Sie tritt jedoch nur in den USA und in Kanada auf und sagt die weiteren Auftritte in Europa mit der Begründung ab, sich anderen Projekten widmen zu müssen und eine Pause zu brauchen.73 Im Herbst 2008 gründet Maya ihr eigenes Label „N.E.E.T.-Recordings“ (Akronym für Not in Education, Employment or Training)74 und gibt bekannt, dass sie gemeinsam mit ihrem sieben Jahre jüngeren Verlobten Benjamin Bronfman ein Kind erwartet. Zuvor besucht sie jedoch mehrere TV-Shows, in denen sie auf eine kommende Offensive der singhalesischen Regierung gegen die tamilische Bevölkerung aufmerksam macht und dazu aufruft, den drohenden Genozid zu verhindern. Am 8. Februar nimmt sie noch hochschwanger an der Grammy-Verleihung 2009 teil, auf der sie gemeinsam mit den US Rappern und Produzenten „Jay Z“, „Lil Wayne“ und „Kanye West“ auftritt und ebenfalls versucht, die Aufmerksamkeit auf den drohenden Völkermord zu lenken. Am 13. Februar 2009 wird ihr Sohn Ikhyd Edgar Arular Bronfman geboren.75 Während dieser Zeit verfolgt sie vornehmlich den Aufbau ihres N.E.E.T. Labels als Plattform für unterschiedliche Kunstschaffende und deren Kollaborationen. Die Rapperin „Rye Rye“, mit der Maya die Songs „Sunshine“ und „Tic Toc“ gestaltet hat, ist eine der ersten Künstlerinnen, die sie auf dem Label platziert.76 Weiterhin gewinnt sie den Rapper, DJ und Produzenten „Blaqstarr“, sowie die Indie-Rockband „Sleigh Bells“.77 Die Zusammenarbeit mit diesen Künstlern wird zu einem wichtigen Impulsgeber für Maya und spielt auch bei den Produktionen für das neue Album eine entscheidende Rolle. Ende 2009 wird auch der Fotograf und Bildende Künstler Jaime Martinez von Maya auf ihrem Label unter Vertrag genommen.78 Sechs Monate nach der Geburt ihres Sohnes im August 2009 beginnt sie an ihrem dritten Album zu arbeiten. Ihre Pläne, die USA zu verlassen und wie für „Kala“ ihre 73 Vgl. http://www.spin.com/articles/mia-rebel-yell (17.10.12). 74 Vgl. Sasheem Reid: M.I.A. has a fan in Kanye West, 08.09.2008 http://www.mtv.com/news/articles/ 1594197/t-pain-proves-his-rap-skills-on-pr33-ringz-mixtape-monday.jhtml (17.10.12). 75 Vgl. NME, Slumdog Millionaire‘ composer: ,M.I.A. wants to play Oscars‘, 17.02.2009 www.nme.com/ news/mia/42835 (17.10.12). 76 Vgl. beatsandbombs, Rye Rye ft. M.I.A. - „Bang“ (Prod. Blaqstarr), 16.03.2008 http:// www.beatsandbombs.com/tag/neet-records/ (17.10.12). 77 Vgl. Cam Lindsay: Sleigh Bells Talk Spike Jonze, M.I.A. and Being Years Ahead of Their Dreams, 07.06.2010 http://exclaim.ca/News/ Sleigh_Bells_Talk_Spike_Jonze_MI_Being_Years_Ahead_of_Their_Dreams (17.10.12); http:// drownedinsound.com/in_depth/4140724-dis-meets-sleigh-bells (17.10.12). 78 Vgl. Malik Meer: M.I.A. takes on Google, Youtube and Wikipedia, 07.08.2010 http:// www.guardian.co.uk/music/2010/aug/07/mia-google-youtube-wikipedia (17.10.12). 18 Soundrecherche für das neue Album global zu verfolgen, kann sie aus aufenthaltsrechtlichen Gründen nicht verwirklichen, da ihr Visum nicht verlängert wird.79 Ihre Inspirationen sammelt sie daher in Amerika. Die meisten Aufnahmen entstehen in ihrem eigenen Studio in einem Haus, dass sie gemeinsam mit Ben Bronfman und ihrem Sohn bewohnt. 80 Maya betont, dass sie ihrem neuen Album ein Gefühl von Intimität verleihen möchte. Sie gestaltet es in einem überwiegend persönlichen und familiären Rahmen: „It was made at home in a commune environment, just because at the moment, that's what was possible to me. I had a child, and the baby monitor only goes for 200 meters or whatever, so I couldn't go further than that (...) I built a room under the house that was kind of like a cave; you had to go down into it. And then I just sort of made it as creative as possible for me — I was just sort of making the furniture and making the pictures, covered all the walls with stuff that I made, (...)“ 81 Sie arbeitet viel mit den Produzenten und Komponisten „Blaqstarr“ und „Rusko“ zusammen. Ihre langjährigen Mitstreiter „Diplo“ und „Switch“, sowie ihr Bruder Sugu Arulpragasam als Songwriter und Produzent, sind ebenso beteiligt an der Entstehung der Platte. 82 Neben Mayas Haus war „Ruskos“ Studio auf Hawaii die zweite Produktionsstätte des Albums.83 Im Januar 2010 veröffentlicht Maya ein Video zu ihrem Song „Space“.84 Zur gleichen Zeit arbeitet sie an der Komposition des Songs „Elastic Love“ für Christina Aguileras neues Album „Bionic“ mit.85 Am 26. April 2010 taucht im Internet ein Video zu ihrem neuen Song „Born Free“ auf. Es ist ihre erste Zusammenarbeit mit dem Video-Künstler Romain Gavras, der bei 79 Vgl. Jian Ghomeshi: Interview with M.I.A. on QTV, 18.10.2010 http://www.youtube.com/watch? v=uaK0YBA8Lss (17.10.12) 80 Vgl. MTV Newsroom, M.I.A.‘s New Album Was Made In A Cave, 13.07.2010 http:// newsroom.mtv.com/2010/07/13/mia-new-album/ (17.10.12) 81 Ebd. 82 Vgl. Matthew Bennett: M.I.A.‘s spectacular third album has much to offer an inquisitive and open mind., 24.06.2010 http://www.bbc.co.uk/music/reviews/2cb6 (17.10.12) 83 Vgl. Georgie Rogers: M.I.A.‘s call for titel help, 27.04.2010 http://www.bbc.co.uk/6music/news/ 20100427_mia.shtml (17.10.12) 84 Vgl. Julianne Escobedo Shepherd: We Think M.I.A. Just Posted a New Song/Video But We‘re Not 100% Positive, 12.01.2010 http://www.thefader.com/2010/01/12/we-think-mia-just-posted-a-newsongvideo-but-were-not-100-positive/ (17.10.12) 85 Vgl. Rap-Up, Christina Aguilera Wraps New Album, Collaborates With Flo-Rida, www.rap-up.com/ 2009/10/01/christina-aguilera-wraps-new-album-collaborates-with florida/ (17.10.12) 19 diesem kurzfilmartigen Videoclip Regie führte.86 Der Titel „Born Free“, den Maya mit Dave „Switch“ Taylor komponierte und produzierte, war die erste Auskopplung und Vorschau ihres neuen Albums. „Born Free“ ist eine Reaktion auf die im ersten Halbjahr 2009 von der singhalesischen Regierung verübten Massenmorde an der tamilischen Bevölkerung. In dem Video greift sie am Beispiel der Verfolgung und Ermordung rothaariger Jugendlicher das Motiv ethnischer Säuberungen auf, um diese politisch anzuprangern. 87 Nachdem sie Mitte des Jahres erfahren hatte, dass inzwischen 50.000 Menschen innerhalb der tamilischen Zivilbevölkerung ermordet wurden, twittert sie fast täglich Weblinks, Bilder und Videos, auf denen die reale Gewalt des Krieges zu sehen ist, mit denen sie die schwer zugängliche Berichterstattung über den Genozid öffentlich weiterleitet. 88 In einem Interview spricht M.I.A. über die Bewegründe und ihre Motivation, Titel wie „Born Free“ auch visuell radikal umzusetzen: „The real execution video I twitted, like, 2 months before, no one even really twitted back to me (…) they were totally down for watching naked dead bodies being shot in the head, blindfolded and with arms tied behind and executed bodies lying on the field. And no one even gave a shit, no one even talk about it. - Two weeks later I refilmed that with some ginger people and some fake blood from china, and it‘s the most horrific thing that people have seen“ 89 Kurz nach der Veröffentlichung wurde das Video von der Internet - Plattform Youtube gesperrt. Zu den angegebenen Gründen gehören die explizite Darstellung von Nacktheit und Gewalt.90 Maya wird von MedienvertreterInnen vorgeworfen, Provokation als Selbstzweck zu betreiben und reagiert darauf mit Gegendarstellungen. Sie führt eine öffentliche Auseinandersetzung mit der New York Times, deren Korrespondentin Lynn Hirschberg ihre Aussagen in einem gemeinsamen Interview falsch zitiert und 86 Vgl. NME, M.I.A. releases violent video for new song ,Born Free‘, 26.04.2010 http://www.nme.com/ news/mia/50823 (17.10.12) 87 Vgl. Jian Ghomeshi: Interview with M.I.A. on QTV, 18.10.2010 http://www.youtube.com/watch? v=uaK0YBA8Lss (17.10.12). 88 Vgl. M.I.A. twit vom 11. 01.2010 http://twitter.com/MIAuniverse (17.10.12). 89 Vgl. Jian Ghomeshi: Interview with M.I.A. on QTV, 18.10.2010 http://www.youtube.com/watch? v=uaK0YBA8Lss (17.10.12). 90 Vgl. Stuart Muckton: M.I.A.‘s radical clip banned by YouTube in the US, 03.03.2010 http:// www.greenleft.org.au/node/43936 (17.10.12). 20 kontextualisiert.91 92 Als Reaktion auf die Behauptung, sie versuche lediglich mediale Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, konfrontiert sie die Zeitung mit deren Nichtzurkenntnissnahme des Genozids in Sri Lanka und greift deren Darstellung des Landes als empfehlenswertes Urlaubsziel mit dem Hinweis an, ihrer journalistischen Verantwortung nicht gerecht zu werden. Sie veröffentlicht ihre eigenen Tonmittschnitte des Interviews und zwingt die New York Times zur Richtigstellung von Aussagen und Kontext.93 Am 10. Mai 2010 veröffentlicht Maya den Titel „XXXO“ als digitalen Download. 94 Im September 2010 erscheint der offizielle Videoclip zu diesem Titel. Anschließend werden die Songs „Steppin Up“, „Tell me why“ und „Teqkilla“ ebenfalls als Vorschau auf das neue Album zum Download bereitgestellt. Ihr 3. Album „/\/\ /\ Y /\“ („Maya“) wird am 23. Juni 2010 auf ihrem eigenen Label „N.E.E.T“, auf „XL Recordings“ und „Interscope Records“ veröffentlicht.95 Auf dem Album thematisiert Maya den heutigen Einfluss der Medien. Sie versucht auch auf visueller Ebene die Mängel in deren Repräsentationsfähigkeit, beispielsweise durch die Schreibweise des Albumtitels darzustellen. Gemeinsam mit Jaime Martinez entwickelt sie auch gif-animierte 3D-Fotografien, die sie zur Signatur der visuellen Darstellung ihres künstlerischen Profils machen will. Am 31.12.2010 veröffentlicht Maya ein neues Mixtape mit dem Namen „Vicki Leekx“ auf dem bereits der Titel „Bad Girls“ zu finden ist. 96 Am 3. Februar 2012 erscheint die Single „Give me all your lovin‘“ von „Madonna“, die Maya gemeinsam mit der Rapperin „Nicki Minaj“ featured, und die auch von ihnen mitgeschrieben wurde.97 Bei der gemeinsamen Performance des Songs während der Halbzeitshow des amerikanischen Super Bowl im Februar 2012 verursacht Maya großes Aufsehen, indem 91 Vgl. Pearson: M.I.A.‘s radical Music & Postmodern Absorption, S.14 ff. 92 Link zum Artikel von Lynn Hirschberg, M.I.A.‘s Agitprop Pop, 30.05.2010: http://www.nytimes.com/ 2010/05/30/magazine/30mia-t.html?pagewanted=all&_r=0 (17.10.12). 93 Vgl. Pearson: M.I.A.‘s radical Music & Postmodern Absorption, S.16 94 Vgl. Zane Lowe: Hottest Record - M.I.A. - XXXO, 11.05.2010 http://www.bbc.co.uk/blogs/zanelowe/ 2010/05/hottest_record_mia_xxxo.html (17.10.12). 95 http://pitchfork.com/news/38757-mia-names-lp-bumps-release-date/ (17.10.12). 96 Vgl. http://pitchfork.com/reviews/tracks/12074-bad-girls/ (17.10.12). 97 Vgl. Homepage MADONNA, The Material Girl Is Back On The Dancefloor, http://madonna.com/ news/title/the-material-girl-is-back-on-the-dance-floor (17.10.12). 21 sie ihren Mittelfinger in die Kamera hält.98 Angeblich habe diese Geste ihrem ExPartner und Vater des gemeinsamen Kindes Benjamin Bronfman gegolten.99 Das Video zu ihrem Song „Bad Girls“, dass sie wieder gemeinsam mit dem Regisseur Romain Gavras erarbeitet, wird Anfang Februar 2012 auf verschiedenen Webplattformen veröffentlicht.100 Es wurde in Marokko gedreht und zeigt sie und verschleierte Personen beim so genannten Drifting, eine akrobatische Technik aus dem Motorsport, die von Frauen und Männern in Marokko unter Einsatz von Lebensgefahr betrieben wird. "It was dope to have so many people from so many different backgrounds speaking so many different languages come together to create something that we believed in. I thought I was gonna die on the shoot when I saw the drifting. (...) In my mind I was thinking how I was gonna deliver the video to Vice with no legs." 101 2.4 Zusammenfassung In diesem Kapitel wird nicht der Versuch unternommen M.I.A.s Biographie als gelungene Integration eines Flüchtlings in den westlichen und popkulturellen Repräsentationsmodus nachzuvollziehen. Die Biographie sowie die folgende Kontextualisierung und Interpretation ihres Schaffens im Rahmen dieser Arbeit soll vielmehr den Versuch eines Menschen beschreiben, unter widrigen Umständen Möglichkeiten des gemeinschaftlichen und selbstbestimmten Ausdrucks zu finden. M.I.A. erlebt seit ihrer Geburt viele lebensgefährdende und freiheitsbeschränkende Formen von Herrschaft, staatliche Repression gegen Minderheiten und andere Staaten, wirtschaftliche Not, Xenophobie und patriarchale Strukturen. Die verschiedenen Konstellationen, in denen ihr Herrschaft und Gestaltungsvorgaben einer dominanten Ideologie begegnen, haben wesentlichen Einfluss auf ihre Sozialisation. Dennoch trifft sie in jeder Nische der Marginalisierung auf kulturelle Praxen, die hegemoniale Normen und Gestaltungsvorgaben zu ignorieren versuchen, in Frage stellen oder gar konstruktiv außer Kraft setzen. 98 Vgl. Sasha Frere-Jones: M.I.A. Shouldn‘t Have Apologized, 06.02.2012 http://www.newyorker.com/ online/blogs/culture/2012/02/im-sorry-mia-apologized.html (17.10.12). 99 Vgl. MTV.UK, M.I.A. Love Split To Blame For Super Bowl Finger Gesture? http://www.mtv.co.uk/ news/mia/346536-madonna-mia-super-bowl-middle-finger-love-split?s_cid=424 (17.10.12). 100 Vgl. Luke Slater: Watch: New M.I.A. video for ,Bad Girls‘, 03.02.2012 http://drownedinsound.com/ news/4144435-watch--new-m-i-a-video-for-bad-girls (17.10.12). 101 Ebd. 22 In ihrer Kindheit erlebt sie den Ausbruch des Bürgerkriegs in Sri Lanka, verbunden mit den Konflikten zwischen der tamilischen Minderheit und der singhalesischen Regierung. Doch finden Angehörige des tamilischen Untergrunds und deren Familien sich zu Nachbarschaftstreffen zusammen, auf denen M.I.A. die Runde mit musikalischen Darbietungen unterhält. Während ihrer Jugendzeit in England ist es zunächst das Abhängen mit anderen Jugendlichen in Mitcham im Rahmen der Hip-HopKultur und ihrer hybrid identitätsstiftenden Qualität. Diese Kultur gibt ihr eine Zuflucht und Verortungsperspektive im Alltag in England, wo sie mit Rassismus und Ausgrenzung konfrontiert ist. Zudem erfährt sie aufgrund patriarchaler Strukturen Zurückweisungen durch andere Flüchtlinge. Ihre Möglichkeiten der Identifizierung werden durch ihr Eintauchen in unterschiedliche Sphären der Subkulturen erweitert. Sie erlebt die Rave-Kultur als weiteren Einflussbereich, in der sich Menschen verschiedener identitärer Verortung zum gemeinsamen Feiern versammeln. In ihrer Zeit an der Kunsthochschule St. Martin sucht sie den Kontakt zu Menschen, die ihr den Eindruck einer erfolgreichen künstlerischen Arbeit vermitteln, und verschafft sich so einen Zugang in den Kontext kreativer Bereiche wie Mode, Musik und Design. Dafür begibt sie sich auf kulturelle Veranstaltungen und in die Londoner Clubszene. Das politische Desinteresse und die konsumorientierte Beliebigkeit, die ihr Umfeld während ihrer Ausbildung als Künstlerin prägen, kollidieren mit der politischen und persönlichen Realität, als ihr Cousin als Tamil Tiger auf Sri Lanka stirbt; mit dem Erinnertwerden an das Leben, wie es auch hätte verlaufen können. Dies schafft für sie eine Perspektive, die nach neuen Ausdrucksformen verlangt, nach einer gemeinsamen Räumlichkeit zwischen den Entfernungen auf der Landkarte, zwischen den Leerstellen im Ausdruck und zwischen den verschiedenen Positionen im weltweiten hegemonialen Gefüge. Anhand ihrer Biographie werden jedoch die Diskrepanzen gerade zwischen widersprüchlichen Positionen deutlich. Um ihre Verortung näher zu beschreiben, nehmen im Rahmen dieser Arbeit die Begriffe subaltern und Hegemonie eine zentrale Rolle ein. Die theoretischen Grundlagen, aus denen diese beiden Begriffe hervorgehen, sollen im folgenden Kapitel näher erläutert werden. Dabei werden sie in ihren akademischen Kontext eingebettet und darauf folgend auf die Arbeit von M.I.A. bezogen. 23 3. Begriffsklärung und Einordnung: Subaltern vs. Hegemonie Um Dynamiken der Identitätsfindung und Fremdbestimmung unter den Bedingungen von gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnissen herauszufinden, werden die Begriffe Hegemonie und subaltern im Bereich der Cultural-, Postcolonial- und EthnicStudies verwendet. Sie begreifen Kultur als ein Konfliktfeld, in dem Bedeutungen zugeschrieben, errungen und verhandelt werden, und mit diesen gesellschaftliche Positionen hergestellt, beherrscht und in ein Verhältnis zueinander gesetzt werden. Die Populärkultur wird als ein besonderer Austragungsort von Kämpfen um Macht, Einflussnahme und Repräsentation innerhalb herrschaftlicher Strukturen identifiziert.102 In diesem Kontext untersuchen die Cultural Studies auch die Möglichkeiten, jene in Frage zu stellen oder in ihrer Wirkung einzuschränken. Dazu schreibt Grossberg: „Folglich sind ihre Projekte immer politisch, immer parteiisch, aber ihre Politik ist immer kontextuell definiert. Darüber hinaus versuchen Cultural Studies nicht nur die Strukturen der Macht, sondern auch die Möglichkeiten des Kampfes, des Widerstands und der Veränderung zu verstehen.“ 103 Die Cultural Studies beziehen sich auf Antonio Gramsci, der die Begriffe Hegemonie und Subalterne in seinen Schriften entwickelte.104 Auf dieser theoretischen Grundlage untersuchen sie konstituierende Faktoren für den Machterhalt einer herrschenden Schicht oder Klasse über die Gesellschaft, ohne auf direkte Formen der Repression oder Gewalt angewiesen zu sein.105 Demzufolge ist Hegemonie als ein Herrschaftsverhältnis zu verstehen, welches nicht nur auf gewaltmäßiger Machtausübung, sondern auch auf der Zustimmung der Beherrschten beruht. Es legitimiert sich also auch durch einen gesellschaftlichen Konsens, der bei Gramsci durch organische Intellektuelle vermittelt wird, unter denen er eine breite Schicht der in gesellschaftlichen Organisationen wie 102 Vgl. auch Marchart: Cultural Studies. S. 51-56. 103 Grossberg: Was sind Cultural Studies? In: Hörning/Winter (Hrsg.) Widerspenstige Kulturen, S.55. 104 Diese militärischen Formulierungen waren auch der Tatsache geschuldet, dass diese Texte im Gefängnis einer faschistischen Militärdiktatur entstanden und wohl deren Zensur entgehen sollten. (Gramsci, Antonio: Selections from the Prison Notebooks, London 1971). Gramsci spricht von einer Herrschaft die auch in der Zustimmung durch die Beherrschten zum Ausdruck kommt. 105 Vgl. Schultze: Hegemonie In: Nohlen, Dieter; Schultze, Rainer-Olaf: Lexikon der Politikwissenschaft. Bd. I: A-M, 3.Aufl., München: C. H. Beck, S. 336-337 http://www2.leuphana.de/ medienkulturwiki/medienkulturwiki2/index.php/Hegemonie (24.10.12) 24 Parteien, Behörden, Vereinen, Medien usw. tätigen Akademiker versteht.106 Unter dieser Form herrschaftlicher Integration versteht Althusser in ähnlicher, aber politisch prononcierter Weise existenzsichernde und Ideologische Staatsapparate (ISAs):107 Eine Gruppe von Institutionen organisiert die Bereitstellung von materiellen und lebensnotwendigen Ressourcen wie beispielsweise Lebensmittel, Energie oder Wohnraum; eine andere Gruppe (ISAs) besteht aus sozialen Institutionen, dem Bildungssystem sowie administrativen, politischen und konfessionellen Einrichtungen und nimmt Einfluss auf die Gestaltung von Medien.108 Die ISAs vermitteln die ökonomische und soziale Funktionslogik einer Gesellschaft und prägen durch die Form ihrer Zugänglichkeit und Machtausübung die Sprache und das Verhalten. Die vermittelten Wertvorstellungen und Weltanschauungen werden zu Bedingungen für eine gelungene gesellschaftliche Integration und erhalten durch ihre scheinbare Alternativlosigkeit einen quasi naturwüchsigen Charakter.109 Die hier erworbenen Kompetenzen zur Repräsentation fungieren als Bedingung für wirksames Sprechen und Handeln. Nicht in dieser Sprache repräsentierte Positionen und Ausdrucksformen werden im Rahmen der Postcolonial Studies als subaltern identifiziert. Der Begriff subaltern hat sich seit seiner erstmaligen Kontextualisierung durch Antonio Gramsci in verschiedenen Diskursen weiterentwickelt, verändert und hat eine Mehrdeutigkeit erlangt. Der Terminus wird heute oft synonym für unterdrückte und/oder marginalisierte Gruppen verwendet.110 Während Gramsci in seinen Schriften die Gruppen als subaltern beschreibt, denen der Zugang zu hegemonialen Teilen der Gesellschaft verschlossen ist, charakterisiert beispielsweise Gayatri Chakravorty Spivak in ihrem Essay „Can the subaltern speak?“ mit Subalternität einen Zustand der durch Herrschaft verursachten Sprachlosigkeit.111 Die subalterne Position ist demnach jene Stelle, von der aus eine Repräsentation in ein hegemoniales Verständnis nicht gelingen kann oder soll.112 106 Vgl. Haug: Hegemonie. In: o.A.: Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus, S. 1-25 http:// www2.leuphana.de/medienkulturwiki/medienkulturwiki2/index.php/Hegemonie (24.10.12). 107 Vgl. Fiske: Die britischen Cultural Studies. In: Winter, Rainer/Mikos, Lothar (Hg.): Die Fabrikation des Populären. Der John Fiske Reader S.20. 108 Ebd. 109 Ebd. 110 http://userpage.fu-berlin.de/~glossar/de/view.cgi?file=dat_de@168&url=/~glossar/de/menu3.cgi? l1=workarea@@ (17.10.12) 111 Vgl. Spivak: Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation. 112 Vgl. auch Ebd., S. 106. 25 Spivak identifiziert einen herrschaftlichen Sprachgebrauch in der Transparenz einer hegemonialen Subjektposition. Diese Position entstehe durch das Unsichtbarmachen des Selbst bei dem Versuch das Andere zu betrachten. Die Transparenz sei das Mittel herrschaftlicher Konstruktion des Anderen.113 Das Subjekt der Hegemonie schafft so keine gemeinsame Gestaltungssphäre, sondern verfolgt die Absicht, Sachverhalte und Möglichkeiten gemäß hegemonialer Repräsentationsmodi zu identifizieren und hervorzubringen. „Ausserhalb (wenn auch nicht gänzlich) des Kreislaufs der internationalen Arbeitsteilung gibt es Menschen, deren Bewusstsein wir nicht erfassen können werden, solange wir unser Wohlwollen mit Konstruktionen eines homogenen Anderen verriegeln, die lediglich auf unseren eigenen Platz an der Stätte Desselben oder des Selbst verweisen. (...) Ihnen ins Auge zu sehen heißt nicht, sie zu repräsentieren (vertreten), sondern zu lernen uns selbst zu repräsentieren (darstellen)“. 114 Spivak unterscheidet zwischen zwei verschiedenen Repräsentationsmodi; der Darstellung als ein Sprechen von und Vertretung als ein Sprechen für.115 Sie sieht den Versuch hegemoniale Unterdrückung zu überwinden nicht in der Repräsentation unterdrückter Positionen im hegemonialen Kontext. Stattdessen schlägt sie eher einen selbstbewussten Dialog vor. Der sprachliche Raum, der so entsteht, soll die eigene Subjektposition ins Spiel bringen, anstatt sie hinter der dominanten Ideologie zu verbergen oder sie lediglich aus der Abgrenzung zu dem Anderen hervorzubringen. Dies bietet eine Möglichkeit herrschaftliches Sprechen zu boykottieren und nichtherrschaftliches Handeln vorstellbar zu machen. Sie verdeutlicht dabei die Notwendigkeit, die Sprache der Herrschaft zu verlernen, die das Gegenüber zum Gegenstand der Betrachtung und zum Objekt benötigter Repräsentation erklärt. „In dem die postkolonialen Intellektuellen zu lernen versuchen zu dem historisch zum verstummen gebrachten Subjekt der subalternen Frau zu sprechen (anstatt ihm zuzuhören, oder für es zu sprechen), „verlernen“ sie systematisch die Privilegierung des weiblichen. Dieses systematische Verlernen schließt auch mit ein, dass man den postkolonialen Diskurs mit den besten Mitteln, die er zur Verfügung stellt, zu kritisieren lernt, anstatt einfach die verlorene Figur der kolonisierten einzusetzen.“ 116 113 Ebd., S. 39-42. 114 Ebd., S. 60. 115 Vgl. Varela, Maria Do Mar Castro/Dhawan, Nikita: Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, S.73. 116 Ebd. S. 75. 26 Sie beschreibt das Objekt der benötigten Repräsentation am Beispiel der sogennanten „Frau der Dritten Welt“.117 Ein Umbau der hegemonialen narrativen Struktur, die das Erzählen des Anderen als ein Nicht-Erzählen des Selbst festschreibt, kann nur durch die Hervorbringung des Selbst im Dialog bewerkstelligt werden. Dieser kann dann als die Quelle einer gemeinsamen Wissensproduktion angesehen werden. Hall beschreibt eine andere Möglichkeit diesen sprachlichen Raum aus seiner Forschungsperspektive zu betreten. Er nutzt dafür fiktionale Techniken, die an die Möglichkeiten differenzierter, kollektiver Formationen appellieren. „Nun, ich weiß nicht, ob es organische Intellektuelle im Sinne Gramscis überhaupt noch geben kann (...). Aber ich habe stets die Fiktion aufrecht erhalten, als ob es immer noch organische Intellektuelle gäbe. Schreiben und denken, als ob es noch (...) kollektive Tendenzen gäbe, als ob das Geschriebene materielle Konsequenzen in der politischen Welt nach sich ziehen würde “ 118 Der von Gramsci geprägte Begriff der organischen Intellektuellen kann nach Hall so verstanden werden, dass auch Menschen in den nicht herrschenden Klassen intellektuell arbeiten. Diese sind, obwohl sie in der Sprache der Hegemonie nicht als Intellektuelle gelten, strategisch wirksame und kompetente VertreterInnen ihrer kulturellen Kontexte. Anhand der organischen Intellektuellen, die für eine subalterne Position im hegemonialen Sprachgebrauch stehen, wendet er sich an ein Gegenüber, in welchem er eine Instanz vermutet, die offen für Bündnisse ist. Homi K. Bhabha, ein weiterer Vertreter der Postcolonial Studies, setzt mit seinem Konzept des Dritten Raums ebenfalls eine Form von neugedachter sprachlicher Räumlichkeit als Schauplatz der Überwindung herrschaftlicher Zuschreibungen und Hierarchien voraus. „Das Dazwischentreten des dritten Raumes der Äußerung, das die Struktur von Bedeutung und Referenz zu einem ambivalenten Prozess macht, zerstört diesen Spiegel der Repräsentation, der kulturelles Wissen gemeinhin als integrierten, offenen, sich ausdehnenden Code zeigt. Die Einführung dieses Raumes stellt unsere Auffassung von der historischen Identität von Kultur als einer homogenisierenden, vereinheitlichenden Kraft (...) sehr zu recht in Frage.“ 119 Wie Spivak schließt Bhabha die Repräsentation als Praxis wirksamer Veränderung hegemonialer Verhältnisse aus. Vielmehr beschreibt er einen Dritten Raum, der die 117 Vgl. Spivak: Can the Subaltern Speak?, S. 74. 118 Ebd. S. 121. 119 Vgl. Bhabha: Die Verortung der Kultur, S. 56. 27 selbstbestimmte und gemeinsame Verhandlung hegemonialer Gestaltungsvorgaben umreißt, selbst als eine Sphäre, die in der hegemonialen Sprache nicht vorkommt. „Eben jener dritte Raum konstituiert, obwohl „in sich“ nicht repräsentierbar, die diskursiven Bedingungen der Äußerung, die dafür sorgen, das die Bedeutung und die Symbole von Kultur (...) neu belegt, übersetzt, rehistorisiert und gelesen werden können.“ 120 Die Populärkultur als Austragungsort von Kämpfen um Macht und Bedeutungen bildet in diesem Sinne eine Schnittmenge zwischen der Praxis des hegemonialen Sprechens und der von Spivak und Bhabha angedeuteten Sphäre des Nichtrepräsentierbaren und deren Verhandlung mit all ihren Widersprüchen und Möglichkeiten. So ist die Popkultur als Bereich der Populärkultur heute sowohl Sinnbild der hegemonialen Vereinnahmung von kulturellen Praktiken als auch Spielfeld neuer Ausdrucksformen, die sich zwischen dem Akt der Repräsentation und der Präsenz der Gemeinschaft verorten. Bhabha sieht in dieser Zwischenräumlichkeit einen „Schwellenraum zwischen den Identitätsbestimmungen, die den Prozess symbolischer Interaktion“ als die Bedingung der „Möglichkeit einer kulturellen Hybridität [eröffnet], in der es einen Platz für Differenz ohne eine übernommene oder verordnete Hierarchie gibt.“ 121 Der Politikwissenschaftler Kien Nghi Ha führt Beispiele des Gebrauchs populärkultureller Strategien auf, um die Produktion von Zuschreibungen und identitärem Essentialismus zu durchbrechen. Durch einen spielerischen Umgang mit Grenzen und Konnotationen gelingt es nach seiner Darstellung, die kapitalistisch organisierte Kulturindustrie im Sinne von Bhabhas Drittem Raum und Spivaks solidarischem Sprechen sowie im Sinne Halls fiktionaler Annahme der Möglichkeit zur gemeinsamen Verortung zu nutzen, wenn nicht sogar zu unterwandern. Er zitiert beispielsweise den Ethnologen Lipsitz in seinen Ausführungen über die feministische Künstlerin Marisela Norte. „Obwohl Norte sich vor ihrem besonderen ethnischen Hintergrund begreift gehört das ethnische für sie lediglich mit zu einer komplexen stets wandelbaren Identität. In ihrer Welt erscheinen die Wertigkeiten ethnischer Herkunft, Geschlecht und Klasse rein situtional bestimmt, und die Grenzen der Solidarität können - je nach Bedürfnissen und Wünschen - innerhalb oder zwischen ethnischen Gruppen gezogen werden.“ 122 120 Ebd., S.57. 121 Vgl. Bhabha: Verortungen der Kultur. In: Hybride Kulturen. Bronfen/Marius/Steffen (Hrsg.), S. 126/127 122 Vgl. Ha: Ethnizität und Migration Reloaded, S. 129. 28 Ha stellt in diesem Kontext auch die Künstlerin Gloria Anzaldua als Referenz vor. „Andere KulturarbeiterInnen wie Gloria Anzaldua, die in und zwischen verschiedenen kulturellen Geographien aufgewachsen ist und heute mit mehreren kollektiven Geschichten und Sprachen als lesbisch-feministische Chicana lebt, haben an dem sich durchdringenden und sich vereinigenden Schnittflächen der Grenzbereiche einen dritten Raum eröffnen können.“ 123 In dem Schaffen von Künstlerinnen wie Norte oder Anzaldua kommt der Einsatz von Bricolage zum tragen. Die Bricolage ist eine Technik, bei der verschiedene kulturelle Zeichen, Stile und Praktiken zusammengeführt und in ihrer Bedeutung mitunter radikal umgestellt, unterminiert und erweitert werden.124 Durch improvisierte Kombinationen derselben kann ein völlig neuer Sinngehalt entstehen. Sie scheint in der Form des kulturellen Wirkens ein wichtiges Werkzeug zu sein, um einerseits Zuschreibungen in einen neuen Kontext zu stellen und andererseits inhaltliche und strukturelle Innovation zu betreiben. Somit kann Bricolage als strategisches Mittel eingesetzt werden, um hegemoniale Gestaltungsvorgaben zu unterminieren. Spivak beschreibt ihr Verhältnis zu dieser Technik in Bezug auf ihre geisteswissenschaftliche Arbeit: „Ich wähle indisches Material, weil mir der Zufall von Geburt und Bildung, ohne das ich über eine disziplinenspezifische Ausbildung verfügen würde, ein Gefühl für den historischen Gesamtzusammenhang, sowie die Kenntnis einiger der relevanten Sprachen an die Hand gibt, die für einen Bricoleur hilfreiche Instrumente sind, besonders dann, wen man mit einem marxistischen Skeptizismus bezüglich der konkreten Erfahrung als letztgültiger Instanz (...) bewaffnet ist.“ 125 M.I.A. nutzt die Technik der Bricolage in einer vergleichbaren Weise, um hegemoniale Vorstellungen und Vorgaben in der Populärkultur in Frage zu stellen und um Möglichkeiten des selbstbestimmten und dialogfähigen Ausdrucks zu verwirklichen. Sie nutzt ihre persönlichen Erfahrungen und die Zuschreibungen, mit denen sie konfrontiert ist, als Aufforderung ihr gestalterisches Werk in einer Opposition zu den herrschenden Verhältnissen zu formulieren. Zusammenfassend lässt sich also schlussfolgern, dass eine hegemoniale Praxis über dominante Ideologien (bzw. ISAs) ein herrschaftliches Gefüge herstellt, in dem bestimmte Formen des Lebens und des Ausdrucks sich nicht entwickeln oder zum 123 Ebd., S. 129. 124 Hebdigde: Subkultur - Die Bedeutung von Stil, Abschnitt Stil als Bricolage http://www2.hu-berlin.de/ fpm/texte/subcult.htm (24.10.12). 125 Spivak: Can the Subaltern Speak?, S. 43. 29 Vorschein kommen können. Der Begriff subaltern bezieht sich in diesem Kontext auf jene Positionen im hegemonialen Gefüge, die von der Möglichkeit des Ausdrucks, (des Sprechens nach Spivak) und der Repräsentation ausgeschlossen werden. Die Annahme ist, dass es M.I.A. durch ihre Strategien im popkulturellen Kontext gelingt, das Verhältnis zwischen subalternen und hegemonialen Positionen zu untergraben. Hierzu gehört es auch, die Rolle hegemonialer Gestaltungsvorgaben zu verhandeln. Sie verkörpern jene überdeterminierten Vorgaben, nach denen die Repräsentation eines Ausdrucks im hegemonialen Kontext gelingt und dort seine Wirkung entfaltet. Diese werden insbesondere von der nach europäisch-amerikanisch tradierten Werten und Normen agierenden transnationalen Musikindustrie etabliert. Statt der hierbei erzeugten Vermassung steht im Kontext von M.I.A.s Schaffen eine Form der Versammlung. Letztere geht aus einem Verständnis populärkultureller Praktiken hervor, die das künstlerische Potential enthalten, Zuschreibungen aufzuheben, zu verhandeln und Versammlung zu ermöglichen. In ihrem Werk bedeutet dies zudem, die Popkultur als ein Ort zu begreifen, in dem Identitäten spielerisch verhandelt werden. Dazu gehören beispielsweise Techniken wie die Bricolage, die Zeichen, Praktiken und Ressourcen zu Konstellationen zusammenführen, welche die Möglichkeiten des Ausdrucks in der Repräsentation aufzeigen. Lipsitz beschreibt passend dazu in einem Vortrag, dass künstlerische Arbeit verstanden werden kann, als eine Möglichkeit Segregation in Versammlung zu verwandeln.126 4. Komponentenanalyse: Bricolage, Ästhetik und popkulturelle Merkmale im Werk von M.I.A. In diesem Kapitel werden Teile von M.I.A.‘s Werk auf musikästhetischer, produktionstechnischer und inhaltlicher Ebene betrachtet und analysiert. Dabei werden, im Kontext der hergeleiteten Begriffe, strategische Aspekte ihres Schaffens untersucht und beleuchtet. Die Technik der Bricolage gilt seit langem als geeignetes Mittel um Aussagen zu treffen, die in der Sprache der Hegemonie nicht für eine Artikulation vorgesehen sind. Sie kann auch diesen Einfluss der Hegemonie auf Ausdrucksmöglichkeiten 126 George Lipsitz at the L.A. Xicano Symposium, 06.11.2011 http://www.youtube.com/watch?v=Pmmh9pSd6yA (20.10.12). 30 thematisieren und zu verstehen geben. Hebdige zitiert hierzu Max Ernst um die soziopolitische Dimension dieses selbstbestimmten Bastelns mit Zeichen zu erläutern: „Der Bricoleur der Subkultur veranstaltet die gleiche typische « Gegenüberstellung von (...) scheinbar unvereinbaren Realitäten (...) auf einer scheinbar unpassenden Skala ... und genau dort findet--der explosive Zusammenschluß statt.»“ 127 In diesem Kapitel soll diese Methodik in M.I.A.s Schaffen nachvollzogen werden. Hier wird gezeigt, dass die Zusammenstellung nicht bloß im und für den subkulturellen Rahmen erfolgt, sondern auch Zeichen der Popkultur selbst in den Verhandlungskontext mit einbezogen werden. Dabei wird die eklektische Erscheinungsform ihrer Werke nicht nur auf eine Weise gelesen, welche ihre individuelle Vermischung von Stilen und Genres zurückverfolgt. Darüber hinaus findet hier der Versuch statt ihre Zusammenführung als Rekontextualisierungen und semiotische Neuschöpfungen zu verstehen, die erweiterte Perspektiven auf soziale Realitäten ermöglichen. Die methodische Verwendung von Ästhetik als Mittel der Kommunikation, Wissensproduktion, sowie der selbst-bestimmten und gemeinsamen Gestaltung von Zusammenhängen wird hier in den Dialog mit M.I.A.s Texten und deren semantischen Gehalt gestellt. 4.1 M.I.A.s Vokalstil In diesem Kapitel werden die Vokaltechniken von M.I.A. beleuchtet. Im weiteren Verlauf der Arbeit wird dieses Thema wieder angesprochen, insbesondere wenn im Rahmen der jeweiligen Alben spezifische Merkmale des Vokalstils in Erscheinung treten. M.I.A. versucht sich zu Beginn ihres musikalischen Schaffens im Kontext verschiedener Vokalstile populärer Musikrichtungen zu verorten. Bereits im Kindesalter in Sri Lanka hatte sie Zugang zu den dort populären Musikstilen vor Ort 128, und rituelle und brachte diese im familiären Kreis zur Darbietung.129 Durch die Hip-Hop-Kultur, die sie in ihrer Jugend prägte, machte sie sich mit dem Vokalstil des Rap und mit der Identität des Master/Mistress of Ceremony (MC) vertraut. 127 Hebdigde: Subkultur - Die Bedeutung von Stil, Abschnitt Stil als Bricolage http://www2.hu-berlin.de/ fpm/texte/subcult.htm (24.10.12). 128 Zum Beispiel Popmusik aus Bollywoodfilmen, vgl. Cam Lindsay, M.I.A., 09.2007 http://exclaim.ca/ Interviews/WebExclusive/mia (17.10.12) und rituelle Tempelmusik, vgl. http://exclaim.ca/Interviews/ WebExclusive/mia (17.10.12). 129 Vgl. Cam Lindsay, M.I.A., 09.2007 http://exclaim.ca/Interviews/WebExclusive/mia (17.10.12). 31 Das ermöglichte ihr, ihren Flüchtlingshintergrund nicht als Mangel, sondern als potentielle Kompetenz zu begreifen. Dank dieser Einflüsse konnte sie selbstbewusst, ohne eine schulisch-traditionelle Gesangsausbildung, einen Vokalstil generieren, der ihr die Möglichkeit gab, die appellierenden und zusammenbringenden Anteile populärer Gesangspraktiken sowohl tonal als auch verbal in sich zu vereinen.130 Zu den verschiedenen musikkulturellen Einflüssen, die sich aus ihrem Vokalstil vernehmen lassen, gehören Elemente der transnationalen und urbanen Hip-Hop-Kultur wie dem US-amerikanischen Rap, dem englischen Grime und dem karibischkreolischen Dancehall. Ihr Vokalstil zitiert traditionelle südasiatische Gesangstechniken und in ihre Aussprache des Englischen mischt sich mit Akzente der Sprachräume, die mit den aufgezählten Stilen in Verbindung gebracht werden. Desweiteren ist die Übertragung von synthetischen Sounds aus der elektronischen Tanzmusik in der klanglichen Inszenierung ihrer Stimme zu hören. Ebenso spielen die technischen Möglichkeiten moderner Musikproduktion eine wichtige Rolle. 131 Hieraus ergibt sich eine eklektische Vorgehensweise aus der sich ihr individueller und innovativer Vokalstil entwickelt hat, in dem die Grenzen zwischen Rap und tonalen Gesang teilweise stark verschwimmen. Die Einordnung ihres Vokalstils in die Praktik des Toasting132 , Deejaying133 und Rappens ist besonders an dem Sprachgebrauch ihrer Texte identifizierbar. In ihrem Track „Galang“ auf dem Album „Arular“ lassen sich beispielsweise sowohl musikalische Zitate, als auch Hinweise in den Lyrics auf die oben genannten Genres nachvollziehen. Mit dem Ausdruck „Galang“ kodiert sie die Möglichkeit einer Wortschöpfung, die durch die musikalische und orale Popularisierung zu einem übergreifenden Sprachgebrauch führen kann. Neben der tamilischen Vokabel, die das Wort „Galang“ darstellt, bildet es zusätzlich eine Verkürzung von go along, einem Idiom, das im jamaikanischen Rasta-Slang 130 Vgl. Pearson: M.I.A.‘s radical Music & Postmodern Absorption, S.4. 131 Vgl. ebd. 132 Toasting ist die Bezeichnung für den Sprechgesang im Reggae, beziehungsweise Dancehall. Vgl. Rappe: Under Construction Band 2, S. 149. 133 „(...) diese Terminologie führt häufig zu Verwirrung, denn im Rest der Welt ist der DJ der Plattenaufleger, während man (die Person) mit dem Mikrophon je nach Genre eher als MC (Master of Ceremony), Sänger oder Rapper bezeichnen würde (...) der Deejay (DJ) moderiert, animiert, erzählt, singt mit, (toastet) (...) kommentiert die Platten und feuert das Publikum an – er kann das entscheidende Markenzeichen eines (jamaikanischem) Soundsystems und Bindeglied zum Publikum sein.“ Aus: Lorenz Rhode: „Remix in der Dance-Musik – Ursprünge, Entwicklung und heutiger Stand“, Diplomarbeit, September 2010. 32 benutzt wird.134 Beschrieben wird damit eine Herangehensweise, die im Kontext mit dem Konsum von Cannabis eine subversive Haltung der Gelassenheit affirmiert.135 Wie beim Toasting des Dancehall DeeJays adressiert sie eine Menge (crowd) um, mit dieser Gemeinschaft den Gebrauch eines Begriffs zu reflektieren, der ein gemeinsames Lebensgefühl beschreibt. Die umgangssprachliche Betrachtung eines Sachverhalts gewährleistet den Zugriff auf Ambivalenzen, die dem hegemonialen Repräsentationsmodus verschlossen bleiben. „London Calling / Speak the slang now / Boys say what / Girls say what what ... / What slang? / Galang Galang Galang ...“ 136 Gemäß der jamaikanischen Deejay-Tradition vermittelt sie weiterhin eine Botschaft, die dazu dienen soll, eine Form der Zusammenkunft zu ermöglichen und das daraus entstehende Ereignis zu feiern. Neben dem Toasting orientiert sie sich an den performativen Gestaltungsmöglichkeiten der Hip-Hop-Kultur und einem typischen umgangssprachlichen Wortgebrauch des Rap: „Who the hell is huntin' you? / In the BMW / How the hell they find you? / 1 4 7'd you / Fed´s gonna get you / Pull the string on your hood / One paranoid youth / Blazin‘ through the hood“ 137 Hip-Hop-MCs bedienen sich des Slangs üblicherweise als Authentizitätsmittel, mit dem sie sich als Sprecher einer subkulturellen Gemeinde identifizieren. M.I.A. nutzt den Slang darüber hinaus auch als terminologischen Fundus, um lokale und transglobale Phänomene festzustellen und von diesen in einem neuen Zusammenhang berichten zu können. Sie vermittelt diese Phänomene in ihrem Vokalstil, in dem sie urbane und transnationale Kodes zusammenwirken lässt. Auf diese Art kann sie distinktiv zum Beispiel mit dem Begriff galang mehr sagen, als ihn zu beschreiben oder bloß zu verwenden. Sie kann vielmehr von der Komplexität und den Widersprüchen eines solchen Begriffes aus einer Welt heraus berichten, in der sich dessen Wirksamkeit entfaltet und erschließt. 134 Vgl. Pearson: M.I.A.‘s radical Music & Postmodern Absorption, S.4. 135 Vgl. urbandictionary.com (online slangwörterbuch), Einträge „Galang“ http:// www.urbandictionary.com/define.php?term=galang (19.10.12). 136 Album 137 „Arular“: Titel 12 „Galang“ (ab 0:14). Ebd. (ab 0:47). 33 Eine weitere musikalische Ausdrucksform, die ihren Vokalstil prägt und in deren lokalen Kontext sie sich aufhält, ist der Anfang der Nullerjahre in Großbritannien entstandene Grime. Im Gegensatz zum US-Hip-Hop bedient sich dieser Rapstil des britischen Cockney-English und wird von gebrochenen, Up-Tempo-Beats (um 130 bpm) unterlegt.138 Der rohe und avantgardistische Charakter dieser Musik taucht in M.I.A.s Kompositionen auf. Zusätzlich sind in ihrem Vokalstil Einflüsse des für dieses Genre typischen Rap-Flows zu erkennen. Grime verbindet für M.I.A. die Hip-Hop Kultur mit der Rave-Kultur, die für sie einen wichtigen Sozialisationsrahmen mit dem Kontext der elektronischen Tanzmusik darstellte. In ihrem Song „XR2“ zeichnet sie eine direkte Spur zwischen dem Lebensgefühl des Grimes und dem des Raves nach: „Brick lane massive / We were like grime / Labrynth, world dance / Bagleys time / High top fades / We aint never paid / Roll up jeans e 's lucozade / Versaci jeans shades and chains / We roll in there like we late / Dj mcs private raves / Keep it secret, light it mate.“ 139 Ein weiteres musikalisches Beispiel für den Einfluss des Grime auf M.I.A.s Vokalstil ist der Song „Teqkilla“ auf dem Album „/\/\ /\ Y /\“. Die Refrainzeile „I got sticky sticky ikky ikky weeed / I got a shot of tequila in me“ intoniert sie in einer stiltypischen Weise, in dem sie die Worte in einem hohen Stimmenregister artikuliert/ausspricht und das Silbenende von „(we)-ed“ 140 in einer Art kurzem Glissando hochpitcht. In ihrem Werk verwendet sie diese Vokal-Technik, die von David Pearson „pitching“ genannt wird.141 Er beschreibt diese Technik als eine Art tonalen Knick nach oben zum Silben- oder Versende hin.142 Diese Technik kann als ein Markenzeichen von M.I.A. angesehen werden und findet, wie bereits beschrieben, auch im Vokalstil des Grime Anwendung. Zudem übernimmt sie Funktionen eines Synthesizers mit ihrer Stimme und nutzt diese Effekte, um neben der verbalen auch zur rhythmischen Akzentuierung des Beats beizutragen. In ihrem Song „Pull Up the People“ nimmt ihre Stimme direkt zu Beginn in einem rhythmischen Zwiegespräch mit den Synthesizersounds und dem Beat eine 138 Vgl. scribd.com (online lexikon) http://www.scribd.com/doc/2389520/Grime-Music-Explained. 139 Album 140 „Arular“: Titel 12 „Galang“ (ab 1:06). Ebd. (ab 1:17). 141 Weitere Beispiele: Album „Arular“: Titel 10 „10 Dollars“ (ab 1:20), Titel 2 „Pull up the People“ (ab 1:05), Titel 3 „Bucky done gone“ (ab 0:28); ,,Album „Kala“, Titel 8 „World Town“ (ab 0:00), Titel 1 „Bamboo Banga“ (ab 0:10), etc. 142 Vgl. Pearson: M.I.A.‘s radical Music & Postmodern Absorption, S.2. 34 instrumentale Funktion ein.143 Gesangsfetzen erhalten auch durch die rhythmische Anordnung und Intonation von Konsonanten eine perkussive Qualität, die phasenweise an einen Drum Computer erinnert. Diese werden wie Samples benutzt, um mit anderen rhythmischen Bausteinen sogenannte Layers zu bilden.144 Die Stimme wird so in ihrer hybriden Funktion als Instrument und Sprachrohr Teil der musikalischen Gesamtkomposition. Der Titel „Pull up the People“ veranschaulicht diese Strategie bereits zu Beginn ihres Debut Albums. Die Refrainzeile selbst („Pull up the People, pull up the poor“) verzeichnet einen jähen tonalen Anstieg, der sich bei dem Wort people durch einen Oktavsprung alarmierend zuspitzt. 145 Der tonale Anstieg beziehungsweise das pitching kann mit den Bearbeitungsmöglichkeiten der Klangerzeugung eines Synthesizers verglichen werden. M.I.A. vollzieht diese Funktionen in ihrem Vokalstil nach. Die Technik des pitchings ist auch angelehnt an die Funktion Glide, die ein Glissando zwischen den manuell oder digital angesteuerten Stimmen eines Synthesizers produziert. Eine andere Bearbeitungsmöglichkeit stellt das switchen durch verschiedene Oktaven desselben gehaltenen Tons mit Hilfe eines Drehreglers dar. Der Einsatz beider Funktionen kann genutzt werden, um an den alarmierenden Charakter einer Sirene zu erinnern. Dieser Effekt findet häufig Anwendung als dissonanter, energetischer, anheizender Impuls im Kontext der elektronischen Tanzmusik und als Soundeffekt mit einer starken Signalwirkung in diversen Hip-Hop Beats. 146 Eine typisches Element in ihren Songs sind auf Silben basierende Hooks.147 Hier findet sich eine Verbindung zur südasiatischen Musik, in deren Tradition die Repetition von Silben verwendet wird, um rhythmische und melodische Konzeptionen begreifbar zu 143 Album Arular: Titel 2 „Pull up the People“ (0:00). 144 Die Technik des Layering, oder auch Multi-Layering in der modernen Musikproduktion, bezeichnet das Schichten von verschiedenen Klängen, Samples oder Loops. Dies kann simultan auf einzelnen Zählzeiten, durch die Kombination von Klängen geschehen, oder auch durch die polyphone Anordnung von mehreren Audiospuren erreicht werden. Ein Beispiel: Eine Snare-Drum klingt wie eine Snare-Drum, sie kann jedoch ein Klang aus verschiedenen übereinandergestapelten Klängen sein. Diese Technik findet besonders in Produktionen des Hip-Hops und der elektronischen Tanzmusik Verwendung. 145 Album Arular: 146 Titel 2 „Pull up the People“ (0:30) Beispiel Hip-Hop: Missy Elliott - „Work it“ 147 Beispiele: Album „Arular“ Titel 12 „Galang“ (ab 2:30), Titel 8: „Hombre“ (ab 0:37), Titel 10 „10 Dollars“ (ab 0:16); Album „Kala“: Titel 9 „The Turn“ (ab 0:43), Titel „Far Far“ (ab 0:53); Album „Maya“ Titel 3„XXXO“ (ab 0:43) etc. 35 machen.148 Diese Technik erleichtert den Zugang zu den musikalischen Strukturen und der Praxis des gemeinsamen Musizierens. M.I.A. gestaltet Hooklines und Refrainmelodien eingängig, so dass sie ins Ohr gehen, beziehungsweise leicht nachzusingen sind. Zudem erschafft sie Klangräume, die auf unterschiedliche Schauplätze subkultureller Wirkungsbereiche verweisen. Mit dieser Strategie entwickelt sich die Konzeption einer Kollektivität und des gemeinschaftlichen Ausdrucks. Ihr Aufwachsen im südasiatischen Kulturraum machte sie zudem mit dem Selbstverständnis von Mikrotonalität in der Musik vertraut. Daher ist die Gestaltung ihres Vokalstils in Bezug auf Mikrotonalität vermutlich auf deren intuitive Kenntnis zurückzuführen. Beispielsweise geben der Song „The Turn“ auf dem Album „Kala“ und der Umgang mit der Technik des phasenverschobenen Unisono-Overdubbings (Erläuterung folgt) Hinweise darauf. M.I.A.s vokale Performance ist zudem geprägt von technischen und computerbasierten Aufnahme- und Bearbeitungsmöglichkeiten der Produktion und Postproduktion149 im Studio. M.I.A.s Produzenten150, die teilweise an allen drei Alben beteiligt waren, entwickelten in Zusammenarbeit mit der Künstlerin ein immer vertrauteres Gefühl für den produktionstechnischen Umgang mit ihrer Stimme. 151 Zunächst fallen beim Hören der Soundrepräsentation der Stimme Praktiken der Verdopplung bzw. Vervielfältigung der Vokalspuren auf. Bestimmte Doppelungen werden eingesetzt, um rhythmische und inhaltliche Akzente zu setzen, beispielsweise durch die Betonung eines Versendes.152 Bei einer mehrfachen Überlagerung wird eine Vielstimmigkeit erzeugt. Dies tritt in M.I.A.s Schaffen besonders häufig in den bereits beschriebenen Refrainmelodien und Hooklines auf. Durch diese Technik des „Overdubbings“ wird die Wirkung erzielt, wie wenn ein größerer Klangkörper (Chor) diese Melodien unisono vorträgt. Gleichzeitig erwecken die von ihr eingesetzten 148 Album Samples, shouts und die call and response-Technik den „Kala“, Titel 12 „Come Around“ (0:25), Album „Kala“, Titel 3 „Boyz“ (0:21). 149 In diesem Zusammenhang umfasst Postproduktion sämtliche Arbeitsschritte der Nachbearbeitung in Musikproduktionen. 150 Hier ist besonders Dave „Switch“ Taylor hervorzuheben, auf dessen Zusammenarbeit mit M.I.A. im Kapitel „Kala“ noch näher eingegangen wird. 151 Vgl. Lily Moayeri: Out On A Whim, 01.09.2007 http://www.emusician.com/news/0766/out-on-awhim/142834 (17.10.12). 152 Beispiel: Album „Maya“, Titel 3 “XXXO“ (Text:„thinking about“) (0:24). 36 Eindruck eines Raumes in dem weitere Stimmen anwesend sind und resonieren.153 Neben der textlich immer wieder auftretenden Verwendung der erste Person Plural gelingt ihr und ihren Produzenten durch diese Form der Vielstimmigkeit möglicherweise auch akustisch die Vermittlung eines Wir-Gefühls. Bei der Technik des Overdubbing werden beim Aufnahmeverfahren mehrere Vokalspuren derselben Silben, Wörter oder Phrasen durch ein- bis mehrmalige Wiederholung angefertigt. Werden diese Spuren gemischt, beziehungsweise übereinandergelegt und gemeinsam abgespielt, entstehen phasenverdoppelnde oder phasenverschobene Überlagerungen der Stimme, die einen Effekt hervorbringen der Phasing oder Flanging genannt wird. Die Stimme klingt dadurch insgesamt „dynamischer, räumlich breiter und voluminöser“. 154 Diese Effekte können auch digital erzeugt werden, um einzelne aufgenommene Vokalspuren in der Postproduktion mit diesen Überlagerungseffekten zu versehen. Der Gebrauch der Dopplungseffekte ist ein gängiges Mittel innerhalb der modernen Popmusikproduktion. In der Regel geht es dabei hauptsächlich um eine gefällige Verbreiterung bzw. Verdichtung der Stimme. Je nach Grad der Phasenverschiebung der verdoppelten Stimme entsteht ein stärkerer oder schwächerer Effekt. M.I.A. reizt dieses Prinzip insofern aus, als dass die zweite eingesungene Stimme soweit phasenverschoben ist, dass die mikrotonalen Schwebungen sehr breit sind. Teilweise liegen die beiden Stimmen um einen ganzen Viertelton auseinander. Die Grenzen der Einstimmigkeit werden dadurch auf extreme Weise ausgereizt, wodurch diese an vielen Stellen sehr dissonant erscheint. Ihre vokale Performance bekommt somit einen sehr eigenen und intensiven bis verstörenden Charakter. Dies spiegelt sich sowohl bei eher gesprochenen Passagen wie auch bei eher gesungenen Passagen wieder.155 M.I.A. gestaltet ihren Vokalstil unter Verwendung dieser Effekte, wodurch er an Kraft und Eindringlichkeit gewinnt. Die Verbindung dieser Bearbeitungsmöglichkeiten der Postproduktion mit ihren Texten und ihrer individuellen musikalischen Stilbricolage ermöglichen Gefühle und Assoziationen, die ihre Tracks zwischen Dancefloor und Untergrund verorten und ihnen einen anheizenden und politisierenden Charakter verleihen. 153 Beispiele: Album „Arular“ Titel 10: „10 Dollars“ (ab 1:36); Album „Kala“, Titel 1: „Bamboo Banga“ (ab 0:48), Titel 2: „Bird Flu“ (0:19), Titel 4: „Jimmy“ (ab 2:27) etc. 154 155 Rappe: „Under Construction“ Band 1, S. 206. Beispiele für Sprechgesang: Album „Arular“, Titel 2: „Pull up the People“ (ab 1:05), Titel 10:„10 Dollars“ (ab 1:04) Album „Kala“ Bamboo Banga (ab 0:10......), etc. Beispiele für Gesang: Album „Kala“ (Special Edition), Titel 2: „Far Far“ (ab 0:15), Titel 4 „Jimmy“ (ab 2:11), etc. 37 Im Laufe ihres Schaffens kamen auch neue Aspekte in ihrem Vokalstil zum tragen. Auf dem zweiten Album „Kala“ und dem dritten Album „ /\/\ /\ Y /\ “ entwickelt sich der ästhetische und technische Umgang des Klangs ihrer Stimme in manchen Punkten, insbesondere durch andere Ansätze bei der Produktion im Studio. Während auf dem ersten Album „Arular“ die Stimmdoppelungen sehr präsent sind, wird diese Technik auf den anderen beiden Alben strategischer, beziehungsweise bewusster, als Effekt eingesetzt. Auf dem Album „Kala“ entstehen im Zusammenhang mit den ständig wechselnden Orten und Situationen der Produktion eine Vielzahl von den „Outdoor“-Aufnahmen, die ausschlaggebend für den räumlichen Klang ihrer Stimme sind.156 Insgesamt wird auf „Kala“ mehr mit der Räumlichkeit in Bezug auf M.I.A.s Stimme gespielt, sowohl die gegebenen Aufnahmesituationen/-Räume betreffend, als auch durch den Einsatz von Effekten die künstlich Raum erzeugen, wie etwa Hall und Delay. Dies findet seine Zuspitzung auf dem Album „/\/\ /\ Y /\“, wo mit dem natürlichen Klang ihrer Stimme gespielt wird. Dieser wird in der Nachbearbeitung produktionstechnisch teilweise stark verändert und gewinnt phasenweise einen maschinellen Charakter.157 Dies ist auf die überbordende Anwendung von Effekten auf diesem Album zurückzuführen. Neben der vermehrten Verwendung von Hall- und Delay-Effekten kommt der Autotune-Effekt 158 häufiger zum Einsatz, der die Stimme artifiziell und computerverzerrt erscheinen lässt und sie nahezu unkenntlich macht.159 Hinzu kommt eine Erweiterung ihres Vokalstils auf „/\/\ /\ Y /\“. Während sie sich auf „Arular“ und „Kala“ mehr ihrer speziellen eklektischen Technik des Sprechgesangs widmet, gibt es auf ihrem dritten Album deutlich mehr gesungene Parts oder Songs, in denen ein melodiöserer Einsatz ihrer Stimme vernehmbar ist. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass eine Entwicklung ihres Vokalstils über die Zeitspanne der drei Alben zu verzeichnen ist. Auf „Arular“ etabliert sich ihr distinktiver Rapstil - pur und zur rohen Ästhetik des Albums passend. Der wesentliche Effekt auf dem Album ist die Dopplung ihrer Stimme. Auf „Kala“ wird bewusster mit Räumlichkeit und Effekten umgegangen. 156 Vgl. Lily Moayeri: Out On A Whim, 01.09.2007 http://www.emusician.com/news/0766/out-on-awhim/142834. 157 Beispiele: Album „/\/\ /\ Y /\“, Titel 2: „Steppin Up“ (ab 0:07), Titel 9: „Born Free“ (ab 0:37) 158 Der Autotune-Effekt wurde ursprünglich dafür entwickelt Intonationskorrekturen bei der Postproduktion von Vokalaufnahmen zu vollziehen. Durch Überreizung dieses Effekts wird der Stimme ihre Natürlichkeit genommen und sie klingt artifiziell und synthetisch. 159 Zum Beispiel: Album „/\/\ /\ Y /\“, Titel 2: „Steppin‘-Up“ (ab 1:05), Titel 7 „It takes a muscle“ (ab 0:43), Titel 12: „Space“ (ab 1:45). 38 So facettenreich das Album „/\/\ /\ Y /\“ ist, so variabel ist auch ihr Umgang mit verschiedenen Vokaltechniken. Ihre Vocals klingen mitunter aggressiv und anpeitschend, teilweise zart und kindlich gesungen und dann wieder distinktiv und ihrem individuell-eklektischen Rapstil angepasst. Zudem kommen in besonderem Maße produktionstechnische Verfahrensweisen in Bezug auf die Stimme mit einem breiten Spektrum an Modulations-, Raum- und maschinenartigen Verzerrungs-Effekten zum Einsatz. 4.2 Arular M.I.A. kreiert mit ihren Produzenten einen individuellen Sound, der sich in eklektischer Weise aus einer Vielzahl von musikalischen Genres zusammensetzt, die hauptsächlich in einem subkulturellen und urbanen Kontext zu verorten sind. Sie erschafft eine ganz eigene Version elektronischer Clubmusik, die als „Konferenzschaltung globaler Ghettosounds“ 160 einer translokalen und urbanen Basskultur angesehen werden kann.161 Zu den wesentlichen Einflüssen, die sich seit Beginn ihres musikalischen Schaffens durch ihr gesamtes Werk ziehen, gehören der jamaikanische Dancehall, Hip-Hop, Grime und Elemente elektronischer Tanz- und Popmusik. Die Inspirationen und Gestaltungsgrundlagen ihres ersten Albums lassen sich anhand ihrer postmigrantischen Sozialisation in und um London und ihrer Eindrücke von der Reise in die Karibik mit Justine Frischmann nachvollziehen. London gilt in der westlichen Welt als Schmelztiegel unterschiedlicher Kulturen und Musikstile. Im Kontext von M.I.A.s frühem musikalischen Schaffen ist dabei besonders die Tatsache hervorzuheben, dass sich in der Hauptstadt Großbritanniens eine kollektive, nichtweiße Identität unterschiedlicher Ethnizitäten herausgebildet hatte.162 Die musikkulturellen Einflüsse aus karibischen, afroamerikanischen und asiatischen Herkunftsländern trafen in dieser Subkultur zusammen und erweiterten ihre soziale und kulturelle Vielfalt. Dies sorgte darüber hinaus für die Entstehung und Ausdifferenzierung einer Vielzahl von Genres und Musikpraktiken.163 Aus diesem Grund sind „Arular“ und London untrennbar miteinander verbunden, denn M.I.A. hat diese verschiedenen innovativen Genres und die polyglotten Stile und 160 Vgl. Tobias Rapp: taz Nr. 7643 vom 19.4.2005, Seite 15, 330 Zeilen (Kommentar). 161 Vgl. ebd. 162 Vgl. George Lipsitz: Dangerous Crossroads, S.191. 163 Vgl. auch ebd., S.178 ff. 39 Sounds der Stadt absorbiert und in ihr kompositorisches und kompilierendes Schaffen einfließen lassen.164 Auf ihrem Debut-Album „Arular“ lässt sich bereits dieser „global Mash of Sounds“ identifizieren, der in verschiedenen Formen in ihrer Musik zum Ausdruck kommt. Neben den bereits erwähnten musikalischen Einflüssen sind auf „Arular“ Einwirkungen der Stile Reggaeton165, Electro, dem brasilianischen Baile-Funk und Samples von Videospielen und Spielzeuginstrumenten zu bemerken, die zu einer Lo-Fi Soundästhetik beitragen.166 Einem Großteil der Songs liegen typische Rhythmen/Beats aus dem Dancehall oder Reggaeton zugrunde. 4.2.1 Galang Auf dem Track „Galang“ wird einer der typischen Grundrhythmen des Dancehall von Beginn an etabliert.167 Zusätzlich werden die von einer Snare-Drum gespielten Zählzeiten von einer zweiten, verzerrten, eindeutig lauteren Bass-Drum am Ende jeder Zwei-taktigen Phrase überlagert und dadurch akzentuiert. Dieses rhythmische Motiv wird auch von anderen Instrumenten wie dem Synth-Bass und einer Cowbell aufgenommen und zieht sich als roter Faden durch den gesamten Track. 168 Der basale Dancehallbeat wird mit teilweise gefilterten beeps/bleeps und mit perkussiv anmutenden Sounds von analogen Synthesizern sowie Handclaps unterlegt, die rhythmisch in Post-Diwali-Manier169 eingesetzt werden. 170 Am Ende des Songs (2:30) stoppt der Beat und es erhebt sich ein Chor aus weiblichen Stimmen zu einer eingängigen und kraftvollen Melodie (Hook) (“Ya ya heeey, woy oy ee yo oh oh ya ya yey.“). Der Beat setzt wieder ein und begleitet diese Melodie bis zum 164 Vgl. Richard Harrington: No Loss For Words, 16.09.2005 http://www.washingtonpost.com/wp-dyn/ content/article/2005/09/15/AR2005091500697_pf.html (17.10.12). 165 Raggaeton ist eine Mischung aus Reggae, Dancehall, Hip-Hop und Merengue-Hip-Hop. 166 Vgl. Richard Harrington: No Loss For Words, 16.09.2005 http://www.washingtonpost.com/wp-dyn/ content/article/2005/09/15/AR2005091500697.html (17.10.12). 167 Die Zählzeiten Eins und Drei werden in der Regel von einer Bass-Drum gespielt. Desweiteren gehören die um eine sechzehntel vorgezogene Zwei und die Zwei-Und zu den wesentlichen Akzenten, die des Öfteren von der Snare-Drum von Handclaps oder Bongoartigen Samples ausgefüllt werden. 168 Vgl. Michaelangelo Matos: Stormy, Tipsy, Mya, M.I.A.,17.03.2004 http://www.seattleweekly.com/ 2004-03-17/music/stormy-tipsy-mya-m-i-a/ (17.10.12). 169 Post-Diwali bezeichnet eine bestimmte Verwendung von rhythmisch komplexen Handclap-Loops. Entwickelt wurden diese ursprünglich in gewissen Dancehall-Riddims Als typisches Beispiel für den Einsatz von Post-Diwali-Handclaps ist der Beat aus dem sehr erfolgreichen Song "Get Busy" von Sean Paul zu nennen. Vgl.ebd.. 170 Vgl. ebd. 40 Ende des Songs. Sasha Frere-Jones beschreibt in einer Rezension in der Zeitschrift NewYorker diesen Teil des Liedes als eine musikalische Innovation, die das Gefühl hervorruft, dass Konfliktfähigkeit und Lebensfreude eine gemeinsame Projektionsfläche teilen. „It isn’t a pop chorus, or any sound that you’d hear on American radio, even if the station were playing, you know, world music. It’s a voice from a place where kids throw rocks at tanks, where people pull down walls with their bare hands. It could be the sound of a carnival, or a riot.“ 171 Das Musikvideo172 zu ihrer Debut-Single "Galang" unter der Regie von Ruben Fleischer ist ein gutes Beispiel für die Verwendung von Bricolage-Techniken in ihrem Werk. Zu Beginn des Videos wird M.I.A. vor dem Hintergrund animierter Schablonenmotive gezeigt, die sie bereits im Rahmen ihrer Arbeit als Bildende Künstlerin erstellt hatte. Es handelt sich dabei um die Abbildung von Kriegspanzern, Palmen und Explosionen. Diese Darstellungen werden immer wieder unterbrochen von ebenso gestencilten Schriftzügen, die den Namen Arular - den Namen des Albums und von M.I.A.s Vater in typografisch lateinischen Buchstaben zeigen. Daneben taucht auch die Abkürzung M.I.A. sowie der Ausdruck Galang selbst auf. Die weiterhin durchweg schablonengesprühten animierten Motive wechseln zwischen urbanen und dschungelartigen Szenerien. Zebrastreifen verschwimmen mit dem Hintergrund und ein Tiger, Symbol für die tamilische Rebellion, rennt unbeirrt von fallenden Gitterstäben durch das Bild. Die dargestellten Symbole sind neben den Kriegsgeräten auch Megaphone und Fallschirme, die in Form von floralen Ornamenten angeordnet werden. Die grafischen Methoden der Streetart waren für M.I.A. Berührungspunkte mit Kunst, die ihr, wie auch ihre musikalischen Einflüsse, nicht nur translokal oder -kulturell zugänglich erschienen. Auch über zeitliche Grenzen hinweg identifiziert sie diese Praxis als Möglichkeit des gemeinschaftlichen Ausdrucks, wie es in dem Katalogtext ihres Bildbandes zu lesen ist: „Wall paintings are man's oldest art form. Throughout human history we expressed ourselves in public spaces. Graffiti speaks the language of the street and is used to approach a wide range of issues.“ 173 171 Vgl. Sasha Frere-Jones: Bingo In Swansea - Maya Arulpragasam‘s world., 22.11.2004 http:// www.newyorker.com/archiv2004/11/22/041122crmu_music#ixzz26Xl4wMrw (17.10.12). 172 M.I.A. „Galang“ Musikvideo, 29.10.2007 http://vimeo.com/365227 (17.10.12). 173 M.I.A.: Maya Arulpragasam. London, Pocko-Editions. 41 Aber auch das Collagieren subversiver politischer Zeichen innerhalb westlich urbaner Gesellschaften wird in dem Katalogtext bereits thematisiert: „Camouflage and Che have become the uniform of the highstreet, interchangeable with any other act of decadence.“ 174 M.I.A.s Absicht in Sri Lanka als postmigrantische Londoner Künstlerin das Schicksal ihres als Freiheitskämpfer bei einem Selbstmordattentat verstorbenen Cousins dokumentarisch nachzuvollziehen, scheitert an der für sie lebensbedrohlichen Situation in Sri Lanka. Sie verwendet die visuellen Motive aus ihrer abgebrochenen Videorecherche und kombiniert sie mit weiteren Motiven. So erschafft sie einen Zeichenkontext, der durch die Auswahl der politisch dringlichen und relevanten Motive einerseits und die ästhetische Konnotation der urbanen Street Art andererseits, die Akte widerständiger Kunst im westlichen transurbanen Raum als alliierte Zeichen weltweiter Befreiungskämpfe zusammenführt. M.I.A. tritt in der Funktion einer Mistress of Ceremony auf, die mit ständig wechselnder, auffälliger Kleidung, modischer Variationen von Frisuren, Make-Up und Accessoires, die Vortragsweisen einer medial bewussten Jugendkultur zitiert. Die Neonfarben aus dem Sprühlack der Streetart kehren in ihren preiswert und second-hand erscheinenden Trainingsanzügen und Hootchie175 -Kostümen wieder. Sie spielt mit dem Vorwurf der Geschmacklosigkeit eines Modestils, der durch kulturelle und mediale Gestaltungsvorgaben möglicherweise als kitschig oder provozierend bezeichnet wird. Zudem zitiert M.I.A. die performativen Verfahrensweisen zur Darstellung eines Stars (modische Individualität, protagonistische Inszenierung, eigener Tanz- oder Bewegungsstil), ohne die scheinbaren Imperative der Hochwertigkeit in einer kapitalistischen Kulturindustrie nachzuvollziehen. Sie tut dies, indem sie die augenscheinliche Auffälligkeit ihrer Mode nicht unter Gesichtspunkten der kommerziellen oder markengebundenen Hochwertigkeit und deren Zeichensystem auswählt und präsentiert. Vielmehr bedient sie sich eines Auswahlverfahrens das, wie die Wahl ihrer bildenden und musikalischen künstlerischen Mittel, auf Zugänglichkeit fixiert bleibt. Die Zugänglichkeit zu Kampf- und Ausdrucksmitteln kulminiert in der Identität der postmigrantischen Künstlerin und ihrem Ringen um Gestaltung. 174 175 Ebd. Das online Slang Wörterbuch urbanDictionary.com beschreibt hootchies als lustige und selbstbewusste Frauen, denen es gefällt sich sexy zu fühlen und Spaß zu haben, aber nicht alles mitmachen. http://www.urbandictionary.com/define.php?term=hootchies 42 Zum Ende des Videos hin löst sich M.I.A. aus dem singulären Image der MC und wird als tanzende Menge in den Raum multipliziert. Währenddessen singt sie im Chor die beschriebene Hookline, die zum Ende des Liedes zu hören ist. Diese zerstreut den zentralen Protagonismus der MC-Funktion in einen Raum versammelter Stimmen, die gemeinsam mit den arrangierten Schablonenmotiven eine hybride dezentrale Landschaft bilden. 4.2.2 Bucky done gone Der Track „Bucky done gone“ ist auf musikalischer Ebene dem Baile-Funk zuzuordnen. Dieser Stil entwickelte sich auf Tanzveranstaltungen in den brasilianischen Favelas und wird von seinen RepräsentantInnen als „legitime Nachfolgerin der SambaBewegung“176 angesehen. Es handelt sich hierbei um ein Amalgam aus Funk, Electro, Miami Bass und Samples afrobrasilianischer Rhythmen. Als metrische Hintergrundstruktur fungiert der Numbers-Breakbeat.177 Baile Funk wird mit einfachen Produktionsmitteln und -techniken aus einer Subkultur heraus gestaltet, deren Lebensbedingungen von knappen Ressourcen und Überlebenskämpfen gekennzeichnet ist.178 Die rohe Energie des Klangs und die subversive Sprengkraft der mit diesem Stil verbundenen Subkultur tragen den rohen Sound und die Lo-Fi-Klangästehtik des Albums „Arular“ mit. M.I.A. und ihr musikalischer Wegbegleiter und Produzent Wesley Pentz alias „Diplo“ teilten die Affinität zu diesem Musikstil.179 „Bucky done gone“ war ihre erste gemeinsame Zusammenarbeit und erschien nach der Singleveröffentlichung auch auf ihrem Mixtape „Piracy Funds Terrorism“. 180 Als Inspirationsquelle für diesen Track diente der Song „Injezao“ von Deize Tigrona, der einen Großteil des musikalischen Materials liefert. So kann „Bucky done gone“ als eine weiterverarbeitete Version dieses Stückes angesehen werden. 181 Die stiltypischen 176 Rappe: Numbers. Anmerkungen zum globalisierten Gebrauch eines Breakbeats, S. 6. 177 „Der Numbers-Breakbeat basiert auf dem Stück „Nummern“ von Kraftwerk“. Michael Rappe hat in seinem Aufsatz die weltweite Reise dieses Beats als Grundlage für verschiedene Genres nachvollzogen. Siehe Rappe: Numbers. Anmerkungen zum globalisierten Gebrauch eines Breakbeats 178 Vgl. ebd. 179 Vgl. http://pitchfork.com/article/feature/14685-interview-diplo/)(http://en.wikipedia.org/wiki/Diplo_ %28DJ%29 (17.10.12). 180 Vgl. http://www.lastfm.de/music/Diplo/M.I.A.+-+Piracy+Funds+Terrorism+Volume+1 (17.10.12). 181 Rapp: Numbers. Anmerkungen zum globalisierten Gebrauch eines Breakbeats, S.6. 43 perkussiven Patterns des Stückes, die gesampelten Trompetenfanfaren aus dem Titelthema des Spielfilms „Rocky“ (verändert angeordnet, teilweise gepitched) und der transformierte „Numbers“-Breakbeat werden durch gehaltene, wummernde Subbässe und repetitive Synthesizer-Figurationen ergänzt. Zusätzlich werden Gewehrschüsse als Samples eingesetzt. Diese Mischung dient M.I.A. als Grundlage für ihren distinktiven Rapstil. Sie nutzt die rohe Energie des Originals um ihre eigene Definition der Rolle von Waffen und der Rolle der MC dem herkömmlichen Verständnis dieser Begriffe im Hip-Hop hinzuzufügen. Sie knüpft an die innerhalb dieses Genres entwickelte Terminologie an und appelliert an die Bedeutung der Waffe als Metapher für musikalische skills und styles und deren politische Aussagekraft sowie an die Vorstellung von MCs als Sprachrohr der „Gleichen“. „Time to spit new shit / I'm rocking on this new bit / I'm hot now you'll see / I'll fight you just to get peace (...) Can I get control / Do you like me vulnerable / I'm armed and I'm equal / More fun for the people“ 182 Auf die Frage was der Titel „Bucky done gone“ bedeutet antwortet M.I.A: "I don’t know!! [Laughs] I really don’t know. At the time, the concept that I was thinking of was how far we are going to go with gangster culture in rap music. That’s really what I was thinking about. I was thinking about 50 Cent. It started off as Public Enemy and ended with 50 Cent. What was that journey [for rap music] and how did that happen? In London, Bucky is a slang word for gun. It’s a real British, grime word. So I was thinking, what is the aftermath of gangster rap? Were they going to get into therapy?" 183 Die strategische Verwendung von Genres beschreibt auch eine ihrer Herangehensweisen an die Popmusik. Ihre Verwendung einer popkulturellen Infrastruktur, Zeichensprache und Ikonographie geht, wie auch ihr Verständnis vom Hip-Hop, über eine dominante Lesart hinaus. Sie spürt die Verbindung von subkulturellen Kodes zu den jeweiligen politisch drängenden Themen auf und appelliert in diesem Sinne an die Eigenschaften kultureller Praxen, Bündnisse und Zusammenkünfte zu ermöglichen. Deren Reichweite umgreift durch den informellen Charakter kultureller Wirkungsbereiche sowohl persönliche, als auch politische Dimensionen. 182 Album „Arular“, Titel 3 „Bucky done Gun“ Lyrics. 183 Ashlene Nand: M.I.A. Real Refugee, 2006 http://www.desiclub.com/desimusic/desimusic_features/ music_article.cfm?id=202 (17.10.12). 44 Zu Beginn des Tracks ruft sie in MC-Manier die Orte London, New York, Kingston und Brasilien auf zu schweigen, um ihrer Stimme und Darbietung Raum zu geben. Sie ruft die großen Produktionsstätten subkultureller Populärmusik in den musikalischen battle und nimmt einen Platz unter ihnen ein, indem sie sie spielerisch herausfordert und zitiert. 4.2.3. DIY-Ästhetik als Sound und Produktion Ein wesentliches ästhetisches Element von Arular ist der rohe Charakter und die unbehandelte Energie, die durch die Herangehensweise do it yourself (DIY) und den Produktionsstil hervorgerufen wird. Dies verleiht dem Album einen Eindruck von Unmittelbarkeit. Die Rohfassungen und Skizzen einiger Songs auf der Platte sind in einem intimen Umfeld entstanden, während sie sich allein und mit befreundeten Musikerinnen mit der MC-505 beschäftigte. 184 185 M.I.A. und ihre Produzenten versuchen durch ihren Umgang mit der DIY-Ästhetik, dem Lo-Fi-Gedanken eine erneuerte Akzeptanz und Aufmerksamkeit zu verleihen. In den letzten Dekaden sind diese Praktiken und Strategien subkultureller Stile wie Punkrock und Hip-Hop im Mainstream der Populärmusik aufgegangen. Pearson stellt die Behauptung auf, dass sich solche selbstbestimmten, intuitiven und zugänglichen Herangehensweisen in diesen Stilen spätestens seit den Nullerjahren durch die Absorption von Widerständigkeit und Subversion in die Verwertungslogik der transnationalen Musikindustrie ins Gegenteil verkehrt haben. Dies sei einhergegangen mit einem Verlust an Kreativität, der Loslösung von politischen Inhalten und dem fehlenden Bedürfnis sozialgesellschaftliche Themen wie Rassismus, Armut und Ungerechtigkeit aufzugreifen.186 Anstelle einer solchen Motivation rückt nun eine Arbeitsteilung von Musikschaffenden, Produzenten und dem zugehörigen Distributionsapparat ins Blickfeld, deren Aufgabe es sein soll, Inspiration, Gefühl, Kreativität und Provokation in die kulturindustrielle Warenform zu integrieren. Die Zugänglichkeit und Rohheit subkultureller musikalischer Ausdrucksformen arriviert zu einem kosmetisch aufbereiteten fertigen Sound, der suggerieren soll, für den Erfolg geeignet zu sein. 184 Vgl. Sasha Frere-Jones: Bingo In Swansea - Maya Arulpragasam‘s world., 22.11.2004 http:// www.newyorker.com/archive/2004/11/22/041122crmu_music (17.10.12). 185 „(...) on Arular, I was in my bedroom for six months writing the album, and then I went out to different producers and got beats and just worked on it.“ Vgl. John Polly: Exclusive M.I.A. Interview! On Jamaican „Boyz“, New Music, Old Love & Gays!, 25.07.2007 http://www.newnownext.com/exclusive-m-i-a-interview-on-jamaican-boyz-new-music-oldlove-gays/07/2007/ (17.10.12). 186 Vgl. Pearson: M.I.A.‘s radical Music & Postmodern Absorption, S.1. 45 M.I.A. und ihre Produzenten finden - wie auch andere DIY-Künstler - auf „Arular“ Möglichkeiten um Wege aus dieser Dynamik aufzuzeigen und zu umgehen. Die Akzeptanz, die M.I.A. für die Möglichkeit des Selbermachens und des gemeinsamen Bastelns an Musik mit Produzenten herstellt, vermittelt Intimität zu der Musik und den Eindruck einer Chance auf selbstbestimmte Gestaltung. Die Reflexion und Integration der verschiedenen Einflüsse in ihrem Leben, die zum Entstehen des Albums beigetragen haben, beschreibt sie als Resultat ihrer eigenen Offenheit und der Zugänglichkeit der Quellen, die ihr zur Verfügung standen.187 4.2.4. Aussagen und Lesarten M.I.A. verfolgt in ihrem Debutalbum eine Zeichenpolitik, die von dem Wunsch geprägt ist, subversive Praktiken moderner Gesellschaften in den Dienst drängender transglobaler Aufgaben zu stellen. Ihr Zugang zur Kunstszene in London, den sie über ihre subkulturelle Sozialisation erreichte, und ihre persönliche Beziehung zu Befreiungskämpfen um existenzielles und politisches Überleben brachte sie in eine Position, von der aus sie die Möglichkeit hatte, in einer westlichen urbanen Gesellschaft auf diese Kämpfe aufmerksam zu machen. Sie nutzt dieses Wissen, um mit den Mitteln der popkulturellen Ästhetik die Konzepte eines weltweiten politischen Untergrunds und eines subkulturellen Undergrounds wieder zusammenzudenken. Mit ihrem musikalischen Auswahlverfahren knüpft sie an einen Bereich des Clubsounds an, der bereits mit widerständigen politischen Positionen assoziiert wird. Sie nutzt die Schlagkraft dieser Beats um die Geschichten der Unterdrückten und deren Strategien in ihrer Ambivalenz zu erzählen. So stellt sie zwischen den radikalen und revolutionären politischen Kämpfen unterdrückter Menschen und der subkulturellen, urbanen Sphäre in transnationalen Kontexten die Möglichkeit einer Interessengemeinschaft her.188 4.3 Kala Ihr zweites Studioalbum „Kala“ entsteht in einem gänzlich anderen Kontext. Da sie aufgrund der Einreisebestimmungen durch die repressiven Maßnahmen der USBehörden nicht auf ihre Materialien und Skizzen in Brooklyn zurückgreifen kann, 187 "I had to draw from influences from lots of places and bring together how life is for me. You do hear variations of genres and variations of cultures and identities, and I just felt like I was a walking sponge, and that's what I regurgitated." Carolyn E. Davis: Her Name May Be M.I.A.- But Her Career Is Anything But, 01.03.2005 http:// www.mtv.com/news/articles/1497639/worldly-singer-mia-anything-but.jhtml (17.10.12). 188 Vgl. Pearson: M.I.A.‘s radical Music & Postmodern Absorption, S.8. 46 beschließt sie, ihre Recherche für das Album neu zu beginnen.189 Sie begibt sich auf die Suche nach Klängen sowie lokalen und traditionellen Musikpraktiken in Indien, Sri Lanka, Jamaika, Bequia, Saint Vincent und den Grenadinen, Trinidad und Tobago, Liberia und Australien.190 „Kala“ ist das Resultat dieser weltweiten Klangreise oder globalen Sampling-Tour und den damit verbundenen Redaktions- und Produktionsbedingungen. Mit „Kala“ erweitert M.I.A. die eklektizistische Herangehensweise ihres musikalischen Schaffens. Auf „Arular“ waren die Stile Dancehall und Reggaeton maßgeblich für die rhythmische Gestaltung der Beats verantwortlich. Auf „Kala“ ist die Auswahl der Beats insgesamt vielseitiger und genreunspezifischer. Auf diesem Album werden Rhythmen und Stilelemente aus Sri Lanka, Indien, Afrika und der Karibik mit Komponenten des afroamerikanischen Hip-Hop und der elektronischen Tanzmusik kombiniert. 4.3.1. Bamboo-Banga In dem Eröffnungstitel „Bamboo-Banga“ wird eine konventionelle Liedstruktur mit der Linearität eines tanzbaren Clubsound vermischt. Der Track ist inspiriert von einem Bambus-Stock-Tanz, der Tinikling genannt wird und der auf den Philippinen eine bekannte und traditionelle Praxis darstellt.(Quelle) Der Grundrhythmus dieses Tanzes, erzeugt durch auf den Boden und aneinander geschlagene Bambusstöcke, wird mit einem houseartigen Beat und einer synkopierten Handclap-Figur kombiniert und bildet die rhythmische Textur dieses Songs. 191 „Bamboo-Banga“ erhält ein zusätzliches narrativ-illustratives Kolorit durch Effektsamples von einem in rasender Geschwindigkeit vorbeifahrenden Auto und von bellenden Tieren. Desweiteren nimmt M.I.A. Bezug auf den Song „Roadrunner“ von Jonathan Richman, dessen Liedtext und Intonationsmuster und/oder Gesangsrhythmus (flow) sie hier aufgreift und variiert.192 Als Samplequelle dient zusätzlich der Song „Kaattukkuyilu“ vom Soundtrack des indischen Films „Dalapathi“, in dem unter anderem von sozialen Unruhen in einem indischen Slum erzählt wird. In „Bamboo-Banga“ tauchen Drum- und Vocalsamples des 189 Dazu M.I.A.: „I haven’t been able to get in [since]. So it wasn’t my own choice or actions that led me to become more worldly—I mean I live in the US. My apartment’s there. I don’t have any of my artwork, any of the songs that I’ve been working on. I don’t have my clothes. So everything [on Kala] is built out of wherever I’ve gone.“ the fader: Video+Interview: M.I.A., „Jimmy“, 07.08.2007 http://www.thefader.com/ 2007/08/07/video-interview-mia-jimmy/#ixzz28eiQkg4P (17.10.12). 190 Vgl. Lily Moayeri: Out On A Whim, 01.09.2007 http://www.emusician.com/news/0766/out-on-awhim/142834 (17.10.12). 191 Vgl. Cam Lindsay: M.I.A., 09.2007 http://exclaim.ca/Interviews/WebExclusive/mia/Page/2 (17.10.12). 192 Vgl.http://www.whosampled.com/sample/view/7413/M.I.A.-Bamboo%20Banga_Jonathan %20Richman-Roadrunner/ (17.10.12). 47 Soundtracks auf.193 Begleitend zur Textzeile „M.I.A. is coming back with power power“ setzt ein schwerer Big-Beat ein, der dem Song zusätzlich Druck verleiht. Den Enden dieser und vieler weiterer vokalen Phrasen wird durch gerufene Backgroundstimmen („power power“) im Verlauf des ganzen Song Emphase und Akzentuierung verliehen und ein Raum der Vielstimmigkeit evoziert. Auf inhaltlicher Ebene bezieht sich M.I.A. mit diesem Song zunächst auf nationale Kontexte, in denen die Bevölkerung mit Hunger, Unterdrückung, Krieg und Flucht konfrontiert ist. Sie benennt diese in einer Aufzählung zu Beginn der ersten Strophe („Somalia, Angola, Ghana Ghana Ghana“). Der Clubsound und die urbane Hip-HopSprache stellen die dortigen menschlichen Schicksale in einen subkulturellen Kontext, der zwischen verschiedenen Formen der globalen Prekarisierung eine Verbindung anklingen lässt. In dem Vokal-Sample aus dem Soundtrack von "Dalapathi" ist ein Vokalchor zu hören und im Vordergrund - die Leitstimme ablösend - eingesetzt, um die Stelle zu markieren, in der der Track die Liedstruktur um den Dialog mit den gesampelten Stimmen erweitert. Dies evoziert ein Gefühl von Mehrstimmigkeit und unterstreicht die textlich in der ersten Person Plural dargestellte Kollektivität. Der Text des Liedes kann so interpretiert werden, dass er die Rückkehr von M.I.A. verkündet (mantrische Rezitation der Zeile „M.I.A. is coming back with power“), also sowohl das neue Album der Künstlerin meinen kann, als auch eine Identifikation mit verschollenen Kämpfenden (Alle, die „Missing in Action“ sind). Deren Eigenschaften sammeln sich - durch M.I.A. vermittelt - in Bildern des Aufbegehrens. („Yeah I'm knocking on the doors of your hummer hummer“). M.I.A. beschreibt das Tempo und den Lebenswillen, mit dem die Abgehängten aufholen. Diese beschreibt sie als Horden hungriger Tiere, als eine Mehrzahl die kommt um zu feiern und einzufordern. („And we're hitting our records like a tennis player yeah we‘re hungry like the wolves huntin‘ dinner dinner / And we're moving with the packs like hyena ena“). So charakterisiert sie den „Bamboo Banger“ als Allegorie, Sound und vereinendes Ereignis. 4.3.2. Bird Flu In dem Track „Bird Flu“ kommen die in Indien angefertigten Tonaufnahmen der 30köpfigen Trommelgruppe zum Einsatz, die der Produzent und Komponist A.R. 193 Vgl. http://www.whosampled.com/sample/view/26386/M.I.A.-Bamboo%20Banga_S.%20P. %20Balasubramaniam%20and%20K.%20J.%20Yesudas-Kaattukuyilu/ (17.10.12). 48 Rahmann an sie weitervermittelt hatte.194 Diese Gruppe spielte auf so genannten Urumee-Trommeln, die bereits seit zweitausend Jahren Verwendung finden und in der tamilischen Gaana-Musik zum Einsatz kommen.195 Die traditionellen Schlag- instrumente werden vorwiegend in Tempeln tamilischer Ortschaften gespielt und besitzen einen sehr druckvollen, metallischen aber auch bassigen Klang. In einem Interview beschreibt M.I.A. eindrückliche Kindheitserinnerungen an diese Musikpraxis, welche die Aufnahmen inspirierten.196 Der rhythmisch komplexe Beat des Tracks besteht aus Loops die aus dem aufgenommen Material zusammengestellt wurden und sich zu einem krachenden TribalBeat vereinen.197 Nahezu das komplette musikalische Material dieses Tracks besteht aus den eigens angefertigten Tonaufnahmen aus lokalen Kontexten, (ungefilterten / ursprünglich/teilweise spontan) musikalischen Praktiken und auch spontanen Situationen innerhalb Indiens.198 Neben der Trommelgruppe und anderen perkussiven Elementen haben M.I.A. und ihr Team verschiedene vokale und instrumentale Samples aufgenommen.199 Zu M.I.A.s Vocals gesellen sich in wiederkehrenden Formteilen des Tracks laute Kinderstimmen, die ihr affirmative und anfeuernde shouts und Textfragmente zurufen.200 Zudem intonieren die Kinderstimmen in anderen Passagen ein gemeinsames na, dass wiederholt und in synkopischer Form ein perkussives staccatoartiges Rhythmuselement bildet. Ebenso werden zahlreiche aufgenommene 194 Vgl. the fader: Video+Interview: M.I.A., „Jimmy“, 07.08.2007 http://www.thefader.com/2007/08/07/ video-interview-mia-jimmy/ (17.10.12). 195 Cam Lindsay, M.I.A., 09.2007: „I went to different places for different reasons. The reason why I went back to Chennai [India],..., was this sound that you could get from there. Like it wasn’t in Bollywood songs or Bhangra music, so I went to all of the old Tamil folk music that I knew from having lived in Sri Lanka for ten years and I used to wake up to it every morning because the temples used to play the drums. So I went and drew from what I knew, I wanted to go and record temple drums because when I was a kid it was the sound that I heard every day, and it is kind of what gave me the sense of rhythm.“ http://exclaim.ca/Interviews/WebExclusive/mia (17.10.12). 196 Vgl. Cam Lindsay: M.I.A., 09.2007 http://exclaim.ca/Interviews/WebExclusive/mia (17.10.12). 197 Vgl. the fader: Video+Interview: M.I.A., „Jimmy“, 07.08.2007 http://www.thefader.com/2007/08/07/ video-interview-mia-jimmy/ (17.10.12). 198 Lily Moayeri schreibt in einem Artikel über die Produktion von „Bird Flu“: “Arul (Maya) procured the talents of some children from four doors down — getting permission from their parents, who dressed them in their best outfits — for the handclaps on “BirdFlu.” From there, Switch and Arul created a track that trembles with African-sounding tribal chants, bursting with the intensity and ferociousness of a burning desert.“ Lily Moayeri: Out On A Whim, 01.09.2007 http://www.emusician.com/news/0766/out-on-a-whim/ 142834 (17.10.12). 199 Vgl. Joe Cellini: Dave „Switch“ Taylor: Producing M.I.A. http://www.apple.com/logicpro/in-action/ switch/index2.html (17.10.12). 200 Die hier zugehörigen Textfragmente konnten nicht recherchiert werden. Das Wort „Maya“ ist jedoch unmissverständlich zu verstehen. 49 Samples von kollektiven und rituellen Gesängen oder Ausrufen in den Track eingefügt, wie etwa Hintergrundvocals, die durch den Gebrauch von Flatterzungentechnik Töne produzieren; hinzu kommen gesamplete Hennenrufe. (siehe auch Video Bird Flu).201 202 Diese Elemente korrespondieren mit dem Rhythmus und den Wirbelfiguren der Schlaginstrumente. Zusätzlich taucht ein Subbass auf, der - einmal angeschlagen - mit einem absteigenden Glissando im Trubel des Trommel-, Schlag,- und Stimmengewitters verschwindet. Dieser Subbass ist wohl das einzige Element, das nicht zu den angefertigten Aufnahmen der Sampling-Tour gehört und erst bei der Arbeit im Studio beigefügt wurde. Durch die zusammengestellten, vielfach geschichteten vokalen, rhythmischen und perkussiven Elemente wird in hohem Maße ein Gefühl von Vielstimmigkeit und damit auch von Gemeinsamkeit erzeugt. M.I.A. sagt selbst in einem Interview, dass die Vielzahl von Menschen, die bei der Entstehung dieses Tracks involviert waren, eine wichtige Inspiration für der Gestaltung des Liedes gewesen ist.203 Dies wird eindrucksvoll durch das dazugehörige Musikvideo unterstrichen. Hier zeigt sich M.I.A.s Bestreben bestimmte Positionen von Lebenswirklichkeiten und musikalischen Praktiken nicht in einen hegemonialen Repräsentationszusammenhang zu integrieren, sondern durch die selbstbewusste Kooperation mit den Menschen gemeinsame Lebensumstände anzudeuten und innerhalb der Popkultur zu thematisieren. M.I.A beschreibt diese Form der Zusammenarbeit am Beispiel eines Kindes, welches die maßgebliche Inspiration für den Tanz und den Namen des Titels beigesteuert hat: „We discovered an amazing boy who can out dance anything I‘ve ever seen. He invented me the bird flu dance. I called this bird flu because this beat gonna kill everyone!"204 Die alltäglichen Praktiken und Räume, die Blicke, Tänze und Zusammenkünfte von Menschen, ihre Straßen, werden mit Zitaten popkultureller Darstellungsweisen 201 Vgl. Pearson: M.I.A.‘s radical Music & Postmodern Absorption, S.6. 202 Auf der Internetseite des Computerherstellers Apple befindet sich ein Bericht über die Erfahrungen von „Switch“ bei der Aufnahmeexpedition im Rahmen von „Kala“: „Other promising accidents followed M.I.A. and Taylor in from the streets, where they recorded the voices of children they’d asked to sing hooks, hairdressers they pulled out of a barbershop, and a group of disbanded Cricket players. “We were just there to collect ideas,” says Taylor, “but the songs would progress as we’d stumble across something, or something would jump out on us.” Joe Cellini: Dave „Switch“ Taylor: Producing M.I.A., http://www.apple.com/logicpro/in-action/switch/ index2.html (17.10.12). 203 Vgl. the fader: Video+Interview: M.I.A., „Jimmy“, 07.08.2007 http://www.thefader.com/2007/08/07/ video-interview-mia-jimmy/ (17.10.12). 204 Tourdates.com: M.I.A. unveils ,Bird Flu‘ beat, 26.09.2006 http://www.tourdates.co.uk/news/8600-miaunveils-bird-flu-beat (17.10.12). 50 collagiert. Popkulturelle Praktiken dienen hier einer Strategie der Versammlung von Stimmen, Motiven, Techniken und Botschaften, die im bestehenden Komplex der transnationalen Musikindustrie einer Vermassung und Konformität des Sounds entgegensteht. 4.3.3 Boyz Der Song „Boyz“ ist vom chutney-soca Musikstil beeinflusst, der sowohl west-indische als auch karibische Wurzeln besitzt und sich besonders auf der Insel Trinidad großer Beliebtheit erfreut, wo auch die Postproduktion des Songs stattfand. 205 In dem Titel „Boyz“ kommen die in Indien angefertigten Tonaufnahmen, insbesondere die der Urumee-Trommeln, ebenfalls zum Einsatz. Loops der Urumee mischen sich mit anderen perkussiven Samples (Tamburin etc.) und mit Vokalsamples südasiatischer Sängerinnen.206 Hinzu kommen Samples von Trompeten und Klänge von Synthesizern. Alle diese Elemente fügen sich zu einem Uptempo Dance-Song mit straighten Baltimore-House-Anteilen und gebrochenen Beats zusammen.207 Die Bass-Drum ist gelayert und stammt zum Teil von einer Roland TR-909, die wiederum durch einen Sampler geschickt und gefiltert wurde, um ihren Sound an die tieffrequenten UrumeeTrommeln anzugleichen.208 Durch den Einsatz einer Atmo-Spur, die den gesamten Track mit der Tonaufnahme einer feiernden und anfeuernden Menschenansammlung untermalt, wird dem Song eine geschäftige und eventhafte Atmosphäre verliehen. Das auf Jamaika gedrehte Musikvideo zu der Single zeigt M.I.A. im Vordergrund einer Gruppe von tanzenden afrokaribischen Männern. Die Machart des Videos invertiert bewusst die typische Bildsprache von Rapvideos männlicher Hip-Hop-Stars, in denen der Protagonist in vielen Fällen vor einem Hintergrund gezeigt wird, in dem übersexualisiert dargestellte, tanzende Frauen abgebildet werden.209 Eine weitere Inversion besteht im billigen Chic des Videos. Dazu gehören neben der einfachen bunten Kleidung auch die skizzenartigen grafischen Effekte, die als farbig animierte Ornamente und Schriftzüge mit den Namen von Titel und Künstlerin die 205 Vgl. Tom Breihan: Status Ain‘t Hood Interviews, 18.07.2007 http://blogs.villagevoice.com/ statusainthood/2007/07/status_aint_hoo_28.php (17.10.12). 206 Vgl. Sukant Chandan: M.I.A.: Representing the World Town, 25.01.2008 http://www.greenleft.org.au/ node/38912 (17.10.12). 207 Vgl. Lily Moayeri: Out On A Whim, 01.09.2007 http://www.emusician.com/news/0766/out-on-awhim/142834 (17.10.12). 208 Vgl. ebd. 209 Vgl. Pearson: M.I.A.‘s radical Music & Postmodern Absorption, S. 6. 51 abgefilmten Sequenzen überfluten. Diese zwischen Graffiti und anderen Visuals mit DIY-Ästhetik oszillierenden Animationen vermitteln dem Video eine Stimmung spielerischer Ausgelassenheit. Diese konterkariert den aufbereiteten, arrivierten Chic, mit dem in anderen teuer produzierten Rap- und R‘n’B Videos die hochwertigen Requisiten, Kostüme und Effekte inszeniert werden. M.I.A. erfüllt die MC-Funktion als einzige Frau in den Reihen dieser Männer und scheint mit ihnen gemeinsam jene boyz zu thematisieren und präsentiert sich dabei nicht als Frau mit einem sexuellen oder genderspezifischen Appell. M.I.A. hat sich bewusst für Jamaika als Drehort entschieden, wo Frauenfeindlichkeit und Homophobie insbesonders die Stile Dancehall und Ragga stark geprägt haben. 210 Dies charakterisiert ihre Strategie des Gebrauchs von Populärkultur, die ihre Kritik dadurch zum Ausdruck bringt, dass sie die multilaterale Verfassung von Konfliktsituationen zu durchbrechen versucht. Durch ihre Interpretation von musikalischen, visuellen und verbalen Zeichen eines Konflikts in ein gemeinsames künstlerisches Projekt setzt sie Spannung und Dialog an die Stelle von dichotomen und alternativlosen Grenzkämpfen. Dadurch wird die Frage aufgeworfen, ob die beteiligten Akteure und die Populärkultur das Problem sind, oder nicht eher die identitäre Festschreibung dieser Personen (beispielsweise als homophobe Sexisten oder als Opfer sexistischer Objektivierung) und die popkulturelle Verbreitung dieser Identitäten und Begehrensstrukturen durch normative Vorgaben der Unterhaltungsindustrie. Immer mehr wird sichtbar, dass jeder weitere Verzicht auf identitäre Festschreibung die Varianten im Spiel mit der Identität vermehrt. Ebenso vergrößert sich die Anzahl der Menschen und kulturelle Praktiken, die in solch einem Kontext Raum finden 4.3.4 Hussel Zu Beginn des Tracks „Hussel“ verwendet M.I.A. das eigens angefertigte Sample eines Gesangs, der in einem Teil Indiens dafür vorgesehen ist, das Zuwasserlassen von 210 In einem Interview beschreibt M.I.A. ihre Beweggründe hierzu: „I just thought it was interesting - or subversive - to go to Jamaica and get 100 boys in the video… First of all, I want to be the only chick in the video, and I want to treat men the way they treat us. So, there’s no girls in the video; it’s just 100 guys. And it’s interesting that they are dancing and singing along to “How many, how many boys there?” and singing about boys. So… You know what I mean? So we were kind of subverting things and making them say something or accept something that they wouldn’t otherwise. So I felt like I’d achieved something with that. They don’t know that. [Laughs.] If you print it, they’re gonna find out!“ John Polly: Exclusive M.I.A. Interview! On Jamaican „Boyz“, New Music, Old Love & Gays!, 25.07.2007 http://www.newnownext.com/exclusive-m-i-a-interview-on-jamaican-boyz-new-music-oldlove-gays/07/2007/ (17.10.12). 52 Fischerbooten zu begleiten.211 Neben den Raps von M.I.A. und dem anglo- nigerianischen Gastrapper African Boy bestehen die musikalischen Komponenten dieses Tracks aus einem schweren Tribal-Beat, von den Urumee-Trommeln gespielt, und dem flächigen Leadsound eines digital klingenden Synthesizers, der stark an typische moderne Rn‘B- und Hip-Hop-Produktionen aus den USA erinnert, wie sie in den Studios der Produzenten Timbaland oder Lil Jon (zum Beispiel Ushers Titel „Yeah“) entwickelt wurden und ab den Nullerjahren prägend für den Sound dieser Genres waren. Eine weitere Anlehnung an diese Produktionen ist die synthetische, vocoderartige Stimmenverzerrung einzelner Vokalpassagen. Diese Effekte und Sounds antizipieren bereits den Klang ihres dritten, ausschließlich in Amerika produzierten Albums „/\/\ /\ Y /\“, auf dem diese verstärkt zum Einsatz kommen. Auffällig in dem Track ist die Hektik, die durch geschnittene, sich wiederholende Samplefetzen und die vielen echoartigen und submarinen Klänge evoziert wird. Letzteres lässt sich auf ein Bild zurückführen, das M.I.A. bei der Entstehung des Tracks in ihrem Kopf hatte. In einem Interview beschreibt sie: „It [began as] a photo in my head first. The idea for the song was that you have the bottom deck of a boat: two hundred people getting smuggled in boat, coming over as refugees. If they banged that beat on the side of a boat, what would it sound like? That’s why it’s all echo-y and submarine-y. It was refugees coming over on a boat, and we tried to get that out in music.”212 Die angesprochene Hektik kann auf die textliche Bedeutungsebene dieses Tracks bezogen werden. Der Begriff hustle ist ein typisches Idiom aus der Hip-Hop-Sprache; das englische Verb heißt übersetzt „drängen, schnell erledigen“.213 In den afroamerikanischen Hip-Hop-Slang übersetzt ist ein hustler ein Kleinkrimineller214 oder jemand, der schnellstmöglich Geld verdienen möchte. Viele Rapper assoziieren damit Reichtum, Ruhm und die Gunst von Frauen.215 Diese Bedeutung des Status im Hip-Hop kennzeichnet ein problematisches Verhältnis zum Selbstbewusstsein, welches die strukturelle Diskriminierung gegenüber marginalisierten Kulturen und Menschen 211 Vgl. http://www.thefader.com/2007/08/07/video-interview-mia-jimmy/#ixzz26pYyIEhK (17.10.12). 212 John Polly: Exclusive M.I.A. Interview! On Jamaican „Boyz“, New Music, Old Love & Gays!, 25.07.2007 http://www.thefader.com/2007/08/07/video-interview-mia-jimmy/#ixzz26pYyIEhK (17.10.12). 213 Vgl. Online Wörterbuch Leo, http://dict.leo.org/ende? lp=ende&lang=de&searchLoc=0&cmpType=relaxed§Hdr=on&spellToler=&search=hustle (23.10.12). 214 Vgl. Rappe: „Under Construction“ Band 2, S. 149. 215 Vgl. Pearson: M.I.A.‘s radical Music & Postmodern Absorption, S.7. 53 hervorgebracht hat. M.I.A. und African Boy geben dem Begriff eine weitere Bedeutung. Sie beschreiben den Begriff des hustling als den schieren Kampf ums Überleben, der für viele Menschen, insbesondere Flüchtlinge, innerhalb der globalen Ökonomie Realität ist. Beispiele hierfür sind die Textzeilen: M.I.A.: „We do it cheap / Hide our money in a heap / Send it home to make them study / Fixing teeth ...“ 216 African Boy: „You can catch me on the motorway / Selling sugar, water and paper ...“ 217 Sie kritisieren eine globale Ökonomie, die Menschen zum Schuften zwingt, nicht indem sie die Statussymbolkultur im Hip-Hop-Geschäft angreifen, sondern aus der Hip-HopKultur heraus deren sozioökonomische Wissensproduktion im Slang nutzen, um die subkulturell geschaffenen Begriffe in einem anderen Kontext zu verwenden. Dadurch erweitern sie die Inhalte und Rezeption dieser Begriffe mit neuen Perspektiven. Die Möglichkeiten der Hip-Hop-Kultur, umgangssprachliche und hegemonial nicht repräsentierte Berichte und Positionen zu überliefern, werden angenommen und umgesetzt. Eine vollständige Assimilation der Hip-Hop-Kultur in die kapitalistische oder jegliche hegemoniale Verwertungslogik erscheint wiederum als eine inhaltliche Frage. Es ist die Frage danach, ob ein Genre oder eine Ausdrucksform dazu benutzt werden kann, um subalterne Positionen zur Sprache zu bringen, oder ob das subversive Potential eines solchen Genres verloren geht, sobald es durch die transnationale Musikindustrie und ihre globalen Distributionsmechanismen im popkulturellen Kontext aufgeht. 4.3.5. Die Ästhetik der Versammlung in Sound und Produktion Während „Arular“ von der Rohheit der Energie durch die DIY- und Lo-Fi-Ästhetik gekennzeichnet ist, lebt „Kala“ von einer enormen Kraft, die durch die aufgenommenen lokalen Musikpraktiken in Kombination mit M.I.A.s Stimme Ausdruck findet. Der Klang des zweiten Albums wirkt insgesamt elaborierter, voller und räumlicher gegenüber dem Sound auf „Arular“. Ein Grund dafür sind neue Techniken der Postproduktion, die das Klangbild auf dem Album beeinflussen. Die vielfach 216 Album 217 „Kala“, Titel 5, „Hussel“ Lyrics (0:40). Ebd. (1:32). 54 bearbeiteten Samples und Loops, des an den verschiedenen Orten der globalen Klangreise eigens angefertigten und auf dem Album omnipräsenten Aufnahmematerials, schaffen auf musikalischer und soundästhetischer Ebene eine Kontinuität.218 Es ist erstaunlich, dass trotz der Vielzahl an Produktionsorten und der Menge an unterschiedlichen Soundquellen eine deutliche Kohärenz in der Klangästhetik zu bemerken ist. Dies ist maßgeblich darauf zurückzuführen, dass M.I.A. in Dave „Switch“ Taylor ihren verbündeten Produzenten gefunden hatte, der sowohl bei den Soundrecherchen und Tonaufnahmen sowie der Postproduktion eine wichtige Stütze des Projektes darstellte. Die Zusammenarbeit und die gemeinsamen Vorstellungen von M.I.A. und „Switch“ hatten großen Einfluss auf die Realisierung der Klangästhetik des Albums.219 220 „Switch“ entwickelte auch einen elaborierten und durch persönliche Erfahrung geprägten Umgang mit M.I.A.s vokaler Performance sowohl die Aufnahmesituation betreffend als auch bei der anschließenden Postproduktion unter Verwendung von Equalizern, Kompressoren und Modulationseffekten.221 Gemeinsam suchten und entwickelten sie Verfahrensweisen bei der Produktion, die eine große Bedeutung für den Klang des Albums hatten. Hierbei ist im Besonderen die Menge der Außenaufnahmen beachtenswert, die natürlich eine gewisse Mobilität des technischen Equipments voraussetzte.222 218 „Like so many other tracks on the album „Boyz" has cut-up samples of South Asian singers, and Asian and African percussion, which gives the album a cohesion and continuity throughout.“ Sukant Chandan: M.I.A.: Representing the World Town, 25.01.2008 http://www.greenleft.org.au/node/ 38912 (17.10.12). 219 vgl. Joe Cellini: Dave „Switch“ Taylor: Producing M.I.A. http://www.apple.com/logicpro/in-action/ switch/?sr=hotnews (17.10.12). 220 „And as co-producer, she was an unerring guide to what was working best. ,If you get lost going round for an hour listening to a beat loop, you can turn around and look at her and she’ll give you an honest judgment. She’s really important in the studio.‘” („Switch“ über die enge Zusammenarbeit mit M.I.A. während der Produktion von „Kala“) Joe Cellini: Dave „Switch“ Taylor: Producing M.I.A. http://www.apple.com/logicpro/in-action/switch/ index2.html (17.10.12). 221 Vgl. Lily Moayeri: Out On A Whim, 01.09.2007 http://www.emusician.com/news/0766/out-on-awhim/142834 (17.10.12). 222 Die Journalistin Lily Moayeri beschreibt in einem Bericht in der Zeitschrift Electronic Musician die Szenerie einer Aufnahmesession mit Maya, „Switch“ und ihrem Team folgendermaßen: „Switch confirms the best performances from Arul (Maya) are when she feels the bone-shatteringly loud bass. That ties in with her affinity for the gaudy jangle of street sounds. The noisy blare of horns and the rings, trills and shouts of third-world cities' claustrophobic bustle are at the heart of every track on (her Album) Kala. More often than not, Arul has to be pulled out of the street where she has run screaming: “I really need to, like, get the sound,” she says. “I'm like, ‘Can we just record in the street? What's wrong with you? Come on, let's go. Let's go now!’” But she got her way some of the time. Switch, armed with a laptop, a microphone and a MOTU soundcard, was better able to approach the sounds heard outside and capture them. Other times, they used a simple portable recorder in search of “the dirt and the accidents,” Switch says.“ Lily Moayeri: Out On A Whim, 01.09.2007 http://www.emusician.com/news/0766/out-ona-whim/142834 (17.10.12). 55 Die Vermischung von Außen- und Innenaufnahmen des vielschichtigen Aufnahmematerials223 sorgen für die besondere Atmosphäre auf dem Album. Die Umstände für M.I.A.s Vokalaufnahmen wurden in diesem Zusammenhang den gegebenen räumlichen Bedingungen und Situationen gemäß ermöglicht und angepasst.224 Der druckvolle und hervorragende Klang der rhythmischen Elemente auf „Kala“ ist auf verschiedene Faktoren zurückzuführen. Zum einen gehörte zu der Aufnahmestätte in Indien ein Team von fähigen Toningenieuren und Technikern.225 Hierdurch war die Möglichkeit hochqualitativer Aufnahmen der Trommelgruppen gegeben. Die Arbeit der Produzenten, insbesondere die von „Switch“, während der Postproduktion war durch Techniken wie dem Multi-Layering, dem Re-Sampling und dem Re-Equalising gekennzeichnet. 226 Diese Techniken sind ebenfalls ein Grund für den besonderen und vielschichtigen Klang des Albums. Der Einsatz der Postproduktion auf „Kala“ dient nicht der objektivierenden Glättung des Materials, sondern verleiht dem Album Verdichtung und Profil. Daraus lässt sich schließen, dass der Umgang mit Produktionstechniken weit über die Funktion als hintergründig kosmetisches Mittel zur Professionalisierung des Klanges hinausgeht und deutlich grundlegende, künstlerische Anteile in sich trägt. 4.4. /\/\ /\ Y /\ Auf dem dritten Album „/\/\ /\ Y /\“ kommen neue inhaltliche und thematische sowie klangliche, produktionstechnische und genrespezifische Aspekte zum tragen. Das 223 Es wurden neben den perkussiven Elementen und den Stimmen auch Atmos und zahlreiche Geräusche aufgenommen. Switch legte besonderen Wert darauf, die Aufnahme oft laufen zu lassen, um Zwischenfälle und „Accidents“ und „Dirtyness“ auffangen zu können. Vgl. Lily Moayeri: Out On A Whim, 01.09.2007 http://www.emusician.com/news/0766/out-on-a-whim/ 142834 (17.10.12) und Vgl. Joe Cellini: Dave „Switch“ Taylor: Producing M.I.A. http://www.apple.com/logicpro/in-action/ switch/?sr=hotnews (17.10.12). 224 „Switch“ beschreibt Herangehensweisen und Techniken bei der Zusammenarbeit mit M.I.A. während der Vokalaufnahmen: „She sounds so fantastic when she doubles up on herself after it has been processed, and she can hear how she sounds once it's been mixed and embedded into the record. That was the blueprint for all of the songs. Once I got my RØde to sound good with her voice, I tended to make her voice sound different with each track from within the mix. As soon as I had a clean string of her — a lot of the vocals were recorded outside, hotel rooms, terraces — and once we had that thread running through it to make it sound really raw, it was then more about getting a really good take of her voice.” Lily Moayeri: Out On A Whim, 01.09.2007 http://www.emusician.com/news/0766/out-on-a-whim/ 142834 (17.10.12). 225 226 Vgl. ebd. „Switch“ beschreibt seine produktionstechnischen Vorgehensweisen folgendermaßen: „A lot of the drums are multilayered, sampled, dropped into another and re-EQ'd. That's where the more electronic feel, like a speed-garage/UK-garage vibe, comes from. It has a similar processing applied to it.” Joe Cellini: Dave „Switch“ Taylor: Producing M.I.A. http://www.apple.com/logicpro/in-action/switch/ index2.html (17.10.12). 56 Album „Kala“ war sehr stark geprägt durch M.I.A.s Exilstatus zu diesem Zeitpunkt und den gesammelten Aufnahmen der lokalen Musikpraktiken in vielen Teilen der Welt. Die Stücke auf „/\/\ /\ Y /\“ sind in einem anderen Kontext komponiert und produziert worden. M.I.A. plante ursprünglich wieder auf globale Soundrecherche zu gehen, sah sich aber aufgrund von Ausreiseregelungen und auch wegen ihrer Schwangerschaft gezwungen, ihr Album in den USA zu produzieren.227 Sie lebte zu der Zeit in einem Haus in Los Angeles und richtete dort ihr Studio ein.228 Die Vermischung der Genres und die Entwicklung neuer klanglicher Räume erreichen einen konzeptionellen und perspektivischen Wendepunkt. Die Kompilation von Musikstilen wie Dub-Step, Hip-Hop, Reggae, Dance, Synth- oder Space-Pop wird zu einer eigens interpretierten Form von Cyberrock/-punk oder Industrial-Pop. Sie erweckt den Eindruck einer elektrifizierten Kompilation verschiedenster Klangwelten in einem digitalen (post-) populärmusikalischen Gewand. Rohe Energie und berstende Klänge im Dialog mit radikalen Produktionskonzepten weisen auf ein politisches Projekt der Überbrückung begrenzter Gestaltungsvorgaben und Ausdrucksmöglichkeiten hin. Insgesamt vollziehen sich heftige und unvermittelte musikalische Stimmungswechsel. Zum einen radikalisiert sie ihre Musiksprache in Titeln wie „Steppin‘ Up“ und „Born Free“, in denen Geräusch-, Verzerrungs-, Effekt-, und Synthesizerkaskaden eingesetzt werden. Zum anderen sind Songs wie, „XXXO“ und „It takes a muscle“ strukturell so nah am Konzept des Popsongs zu verorten wie selten eines ihrer Lieder davor. Diese Tracks werden aber mit Texten gefüttert, die stereotype Darstellungen von Romantik und Hoffnung über die Grenzen ihrer hegemonialen Lesart hinaustreiben. 4.4.1. XXXO Der Track „XXXO“ 229 bezieht seine musikalischen und stiltypischen Komponenten aus dem Synth-Pop und dem Industrial und vermischt diese zu einem Sound, der tendenziell 227 Vgl. Jian Ghomeshi: Interview with M.I.A. on QTV, 18.10.2010 http://www.youtube.com/watch? v=uaK0YBA8Lss&noredirect=1 (17.10.12). 228 “I built a room under the house that was kind of like a cave; you had to go down into it. And then I just sort of made it as creative as possible for me.” MTV Newsroom: M.I.A.‘s New Album Was Made In A Cave, 13.07.2010 http://newsroom.mtv.com/ 2010/07/13/mia-new-album/ (17.10.12). Das Kofferwort XXXO, ein Amalgam aus dem zärtlichen gemeinten "Hugs and Kisses"(xoxo) und XXX der Chiffre für Pornographie oder sexuelle Inhalte. M.I.A. twitterte einmal „excess, sex, oh“ nachzulesen bei www.twitter.com/MIAuniverse. 57 229 an Songs von R‘n’B Größen wie Rihanna erinnert.230 Ganz zu Beginn des Songs wird der Hörer durch einen krachenden, industrial-angehauchten Uptempo-Beat (120 bpm) im Unklaren gelassen, in welche Richtung sich der Titel entwickeln wird. Der Beat steht im 4/4-Takt und erinnert an die Rhythmen einer Marching-Band. Spätestens ab dem Einsatz der Singstimme und dem raumgreifend-ostinaten Synth-Bass, der in Discotypischen Oktavsprüngen angeordnet ist, verdichten sich diese Komponenten und die produktionstechnisch erzeugte kalte Atmosphäre zu einem düsteren Popsong. Ab dem ersten Refrain verbreitert sich der Gesamtklang durch im Hintergrund erklingende ostinate, arpeggierte Synthesizer-Sequenzen und eine gelayerte, unisono vorgetragenen Linie bestehend aus einer E-Gitarre und einer Backgroundstimme. Diese Linie ist einer volkstümlichen, tamilischen Melodie nachempfunden. 231 Zu Beginn der zweiten Strophe erklingen Synthesizersounds, die an moderne digitale R‘n’B- und Popproduktionen erinnern. Der formale Ablauf des Titels, eingeteilt in Strophe-BridgeRefrain, gibt zusätzlich Hinweise auf konventionelle Strukturen eines gängigen Popsongs. Die düstere Atmosphäre des Liedes wird durch verschieden Faktoren hervorgerufen. Zum einen ist dies die phrygische Skala, die der Basslinie zugrunde liegt. Der typische Halbtonschritt zwischen dem zweiten und ersten Ton der Skala wird vom Synth-Bass am Ende der viertaktigen Phrase in Strophe und Refrain gespielt. Die Melodiestimme und die Synthesizer-Sequenz bedienen sich jedoch einer anderen Skala, wodurch an beschriebener Stelle eine Reibung entsteht, die eine Dissonanz hervorruft, die dem Grundgefühl des Songs einen subtil-disharmonischen Charakter verleiht. Zum Anderen sind viele der einzelnen musikalischen Komponenten, insbesondere die Gesangsstimme und der Beat, stark mit Effekten wie Hall und Delay versehen, die dem Song eine räumliche Tiefe verschaffen. 4.4.2. Born Free Der Track „Born Free“ repräsentiert auf musikästhetischer Ebene die andere, radikale Seite des Albums. Wieder ist zu Beginn unklar, in welche Richtung sich der Song entwickelt. Snaredrum-Schläge verdichten sich von Einzelschlägen zu einem schnellen Trommelwirbel, der mit dem Beginn der anderen Instrumente stoppt. Der UptempoBeat (96 bpm) ist in einem rock- oder punktypischen Double-time-feel gespielt und 230 Vgl. Spin Magazine: Juni 2010 http://books.google.co.uk/books? id=V7_Ar8QHqxcC&pg=PA84&dq=MIA+XXXO&hl=en#v=onepage&q=MIA%20XXXO&f=false (17.10.12). 231 Vgl. Wikipedia: Eintrag „XXXO song“ http://en.wikipedia.org/wiki/XXXO (17.10.12). 58 wird begleitet durch ein stark verzerrtes, ostinates, sich stetig wiederholendes Bass-Riff, das aus dem Song „Ghost Rider“ der Protopunk Band „Suicide“ aus dem Jahr 1981 übernommen wurde.232 Ein durchgehender, stampfender 4/4 Impuls und der digital übersteuerte Grundsound verleihen dem Beat einen technoiden, fast schon Gabberartigen Charakter. Der Track erinnert von seinem Gestus an die subversive Energie von Digital Hardcore Bands wie Atari-Teenage-Riot.233 M.I.A.s Stimme ist beinahe bis zur Unkenntlichkeit mit Effekten versehen und ihre Inszenierung erinnert an Lautsprecheransagen auf Massenveranstaltungen. Besonders die digitale Übersteuerung und ein verzerrtes Reverb und Delay sorgen für den aggressiven Grundklang der Stimme. Der Textzeile „Born Free“ wird durch die getreckte Artikulation („Born“ ... Akzent auf „Free“) von M.I.A. und durch die teilweise roboterartige Wiederholung der ersten Silbe „Bo-“, zusätzlich Ausdruck verliehen. Diese Komponenten führen zu einem starken Gefühl von Hektik, Wut und Raserei. Das zu diesem Lied produzierte Musikvideo entstand unter der Regie von Roman Gavras. Es zeigt Soldaten in US-Uniformen, die in Sozialwohnungen eindringen und unter Einsatz von roher Gewalt rothaarige Männer zusammentreiben und sie in Busse zwängen. Diese werden von ihnen in eine Wüste gebracht. Dort wird zunächst ein Junge unter ihnen ausgewählt und exekutiert und die anderen rothaarigen jungen Männer werden mit Gewehrschüssen über Tretminen gejagt. M.I.A. bezieht das Video auf den Genozid an der tamilischen Bevölkerung in Sri Lanka.234 Die Internetplattform Youtube zensierte das Video wegen seiner Darstellung von Gewalttätigkeit umgehend. Presseberichte reagieren auf das Video mit dem Vorwurf der Provokation zu Karrierezwecken. Die Journalistin der New York Times Lynn Hirschberg nennt den Film „ausbeuterisch und hohl“ und „im besten Falle politisch naiv.“235 Aber auch andere Lesarten des Videos mit Bezug auf realexistierende Gewalt, so genannte „ethnische Säuberungen“ und paranoide „Hexenjagden“, gerade im Kontext der von M.I.A. oft thematisierten Flüchtlingspolitik, werden durch die Rezeption inspiriert. Pearson recherchiert Sachverhalte, bei denen die US-Uniform in dem Clip nicht allein allegorisch gelesen werden muss: 232 http://www.whosampled.com/sample/view/32236/M.I.A.-Born%20Free_Suicide-Ghost%20Rider/ (17.10.12). 233 Vgl. Matthias Manthe: Pop, politics & Provokation um des Anliegens willen, 09.Juli 2010 http:// www.laut.de/M.I.A.-UK/Maya-%28Album%29 (17.10.12). 234 Jian Ghomeshi: Interview with M.I.A. on QTV, 18.10.2010 http://www.youtube.com/watch? v=uaK0YBA8Lss (22.10.12). 235 Vgl. Pearson: M.I.A.’s Radical Music & Postmodern Absorption, S.15. 59 „Given the recent passage of a law in Arizona legalizing racial profiling of Mexicans, Obama’s ordering of the National Guard to the US-Mexico border, and the recent US Border Patrol killing of a 15-year-old Mexican boy, one has to ask Hirschberg how the “Born Free” video is anything but a dramatic depiction of the present reality for immigrants in Western democracies?“ 236 Auch stellt sich die Frage, warum die Thematisierung realer Gewalt in Kunst und Musik den Jugendschutzbestimmungen unterliegt während die zu Unterhaltungszwecken produzierten Darstellungen von physischer Grausamkeit gerade auf Youtube oftmals frei zugänglich sind. Youtube hat nach Protesten das Video für erwachsene, registrierte Benutzer wieder freigegeben. 237 4.4.3. Neue Räume in Sound und Produktion M.I.A. entwirft mit ihrem Produzententeam ein erweitertes und verändertes Soundkonzept. Verzerrte E-Gitarren, Störgeräusch-Beats, übersteuerte Synthesizer, die Klänge einer sanften Reggae-Orgel oder wabernde Soundflächen treffen auf Anhäufungen von effektbeladenen Instrumenten-, Geräusch- und Vokalspuren. Die Stimme klingt an manchen Stellen sehr künstlich und maschinell übermittelt. Dies wird in einigen Stücken besonders durch die Stimmentransformation des Autotune-Effekts ausgelöst (siehe hierzu Abschnitt 4.1.). Das Technologiemotiv zeigt sich auch in Werkzeugklängen, die zu Samples und rhythmischen Bausteinen werden. 238 Diese Elemente bilden die extrem unterschiedlichen klanglichen Facetten des Albums. Auf dem Album ist ein deutlicher Dubstep-Einfluss zu hören, der mitverantwortlich ist für die teilweise morbide und dunkle Atmosphäre. Dies ist in erster Linie auf die erstmalige Zusammenarbeit mit dem Produzenten Christopher Mercer alias „Rusko“ zurückzuführen, der durch seine musikalische und produktionstechnische Arbeit beispielsweise den Tracks „Steppin-Up“, „Teqkilla“ und „Story to be told“ eine düstere Klangfärbung aus der Subkultur des Dubstep beifügt.239 236 Ebd. 237 Stern.de - Clip, Skandal-Video: „Born free“ von M.I.A. http://www.youtube.com/watch? v=jqIl2vR9wb0 (22.10.12). 238 Auf dem zweiten Track des Albums, „Steppin‘ Up“, kommen Samples einer Bohrmaschine (ab 0:00) als rhythmisches Elment des Beats zum Einsatz. 239 Rusko über das Album „/\/\ /\ Y /\“: „,It sounds like a rock band trying to play dubstep songs,‘ he said of the album backstage at Coachella Festival in the States earlier this month.” Georgie Rogers: M.I.A.‘s call for titel help, 27.04.2010 http:// www.bbc.co.uk/6music/news/20100427_mia.shtml (17.10.12). 60 Man kann auf diesem Album von der Transformation einer Lo-Fi-Ästethik sprechen. Während auf „Arular“ der Lo-Fi-Sound noch von einem spielerischen und analog klingenden Charme geprägt war, drückt sich dieses Moment auf „/\/\ /\ Y /\“ durch computergenerierte Übersteuerung und vorsätzliche Dekonstruktion der Klänge aus. Dies führt zu einer Art effektbeladener Trash-Ästhetik in digitalem Gewand. Der überbordende und häufig wechselnde Einsatz von Klangbearbeitungsmöglichkeiten, wie digitalen Hall-, Delay-, und Modulations-Effekten, trägt zu einer konfusen, verstörenden Atmosphäre bei und unterstreicht die vielen musikalischen Stimmungswechsel. 4.4.4. Aussagen und Lesarten Die Klangästhetik des Albums korreliert mit den neuen Themen und Aussagen in den Texten. M.I.A. beschreibt ihr Album später als das Produkt eines Zeitgeistes der Überwinterung, der kritischen Reflexion und der Wachsamkeit: „If you like the record (…) it’s like, one of those things, it’s not like you can get up (...) and drum on this sound and be like ,it’s so fucking great!‘ It's just not. These are the times we are going through, you know, people like me and you (…). This time is a type of time of Hibernation to rebuilt, reboot. I think this time is not as great and optimistic as it is written.“ 240 Dies lässt darauf schließen, dass sich der Kontext während der Entstehung und die Inhalte des Albums für sie in einem Kampf ausdrücken, der sich nun auch im Inneren abspielt und nach Imagination und neuen Raumvorstellungen verlangt. Sie beschäftigt sich viel mit digitalen Medien und mit ihnen produzierter Kontexten und Räumlichkeiten. Sie versucht persönlich und künstlerisch in diese Räume hineinzuwachsen und trifft auch auf den virtuellen und realen Einfluss hegemonialer Gestaltungs-vorgaben. In einem Interview erzählt sie von der Entwicklung des Albums „/\/\ /\ Y /\“ als intermediales Werk, das eine Vielzahl von Geschichten mit Bildern, Musik und virtueller Realität verknüpfen sollte: „I never saw this record as a record like this, its really 3D you know, I made like special web 3D moving pages (...) I tried to build an all encomposing sort of reflection of what I was going through..“ 241 240 Jian Ghomeshi: Interview with M.I.A. on QTV, 18.10.2010 http://www.youtube.com/watch? v=uaK0YBA8Lss (17.10.12). 241 Ebd. 61 Die künstlerische Darstellung sollte auch einen Eindruck von Räumlichkeit vermitteln, die mediale Gestaltungsgrenzen sprengen kann. Hierzu gehörte auch ein Plan Pressefotos neu zu gestalten, der jedoch von Management und Publizisten abgelehnt wurde: „I shot my own photos with my artist, I signed to my lable - Ramir Martinez - and he only takes 3D photographs. And I was like, I want all my press photos to be 3D because people are only gonna see them on the internet.‘ And I didn’t want all my record industry money for press promos to be spended on hiring a ,really good photographer‘. They just needed to go and pitch the cheap photos they made - and they looked ten times better and it is for the internet. - And I asked: ,Can we got with it?‘ But even the blogs - all of the blogs - were like: ,No we wanna go with the flat 2 D images‘. But we dont have to !“ 242 Die Verhandlung um eine neue Räumlichkeit zwischen Menschen, die durch digitale Ressourcen (Internet, Kommunikationstechnologien, virtuelle soziale Netzwerke) geschaffen und unterbrochen wird, ist sowohl in den Texten als auch in den Soundlandschaften des Albums nachzuvollziehen. Der Kampf um Erweiterung des persönlichen Ausdrucks gemeinsam mit der Technologie deutet auch die Möglichkeit einer Nähe an. Dies wird von ihr in Songs wie „XXXO“ und „Space“ textlich und musikalisch nachvollzogen. Einen weiteren Teil der virtuellen Realität, in dem M.I.A. die räumliche Verbindung zwischen Menschen umkämpft sieht, bildet die Frage um die Macht über das Internet. In den Texten und Soundarrangements wird das Ungleichgewicht in der Möglichkeit von Einflussnahme im Bereich der digitalen und virtuellen Realität thematisiert. Dies bringt M.I.A In dem Eröffnungstitel „The Message“ bringt. durch folgende Zeilen auf den Punkt: "Headbone connects to the armbone / Armbone connects to the handbone / Hand-bone connects to the internet / Connects to the Google / Connected to the government" 243 Die Verbreitung hegemonialer Strukturen im Internet bewertet M.I.A. als symptomatisch für ein System, das Anpassungsfähigkeit produziert: „ Owner ship of the Internet has changed hands,“ (...) „Eventually we all get told to sort of squish it into that mould that fits the, you know, the system that is already in place.“ 244 242 Ebd. 243 Album „/\/\ /\ Y /\“, Titel 1 „The Message“ Lyrics. 244 Jian Ghomeshi: Interview with M.I.A. on QTV, 18.10.2010 http://www.youtube.com/watch? v=uaK0YBA8Lss (17.10.12). 62 In einem Interview äußerte sie sich zu den Potentialen der Realitätsverzerrung durch den Einfluss hegemonialer Politik im World Wide Web: „You can Google the words "Sri Lanka" and it doesn't come up that all these people have been murdered or bombed, it's pages of: ‘Come to Sri Lanka on vacation, there are beautiful beaches.‘ You're not gonna get the truth 'til you hit like page 56....“ 245 Ihre Auseinandersetzung mit diesem Thema drückt sich auch in ihrer Sympathie für die Arbeit des Wikileaks - Gründers Julian Assange aus.246 Die durch hegemoniale Einwirkung erzeugten räumlichen Leerstellen zwischen menschlichem Ausdruck und der Möglichkeit ihn zu teilen, drückt sich auch in der Leetspeak 247- Schreibweise des Albumtitels „/\/\ /\ Y /\“ aus. M.I.A. gibt ihrem dritten Album ihren Rufnamen auf eine Art, der ihn nicht googlebar macht, d.h. sich durch die Suchmaschine nicht aufrufen lässt.248 Sie spielt mit den Grenzen der Repräsentationsfähigkeit einer hegemonial geprägten Populärkultur und versucht in dieser Maschine einen Dritten Raum zu erkämpfen, in welchem in Homi K. Bhabhas Sinne die Zeichen und Werte gemeinsam neu verhandelt werden, und wo das persönliche Ziel sich mitzuteilen und zueinander vorzudringen durch den selbstbestimmten und kreativen Umgang mit Identitäten und den neuen virtuellen Räumen gelingen kann. Die Entwicklung einer solchen Kompetenz hält auch Spivak im Zusammenhang mit den digitalen Ressourcen für eine wichtige Voraussetzung, um einen humanen Gebrauch damit zu gewährleisten oder deren Möglichkeiten zu nutzen, auf menschliches Leid aufmerksam zu machen und es zu verhindern: „I think more and more, since I‘m not a technophobe, I think we ought to be able to use the resources of the digital and so on for advancing humanity‘s education. I felt that, strangely enough, in order to be ready to use the resources for the world as we find it now, we should also focus on training the imagination in a way that could help the world remain ready, also for ethical intervention.“ 249 245 Nate Denver: Back in Action (2010 Cover Story), 20.04.2012 http://www.complex.com/music/ 2012/04/mia-2010-cover-story/page/3 (17.10.12). 246 Vgl. Jason MacNeil: M.I.A. Attended Julian Assange‘s Wikileas Speech at Ecuadorian Embassy, Defends Him Against Rape Accusations, 22.08.2012 http://www.spinner.com/2012/08/22/m-i-a-julianassange-wikileaks/?utm_source=dlvr.it&utm_medium=twitter (17.10.12). 247 „Leetspeak bezeichnet im Netzjargon das Ersetzen von Buchstaben durch ähnlich aussehende Ziffern sowie (... )Sonderzeichen.“ http://de.wikipedia.org/wiki/Leetspeak (17.10.12). 248 Vgl. Malik Meer: M.I.A. takes on Google, Youtube and Wikipedia, 07.08.2010 http:// www.guardian.co.uk/music/2010/aug/07/mia-google-youtube-wikipedia (17.10.12). 249 Gayatri Spivak on An Aesthetic Education in the Era of Globalization, 20.01.2012 http://www.youtube.com/watch?v=YBzCwzvudv0 (17.10.12). 63 5. M.I.A. und der Weltmusikdiskurs „,World music‘ is a category that does nobody any favors. Entirely disparate performers, like the dapper Brazilian singer-songwriter Caetano Veloso and the African blues guitarist Ali Farka Toure, get lumped together in American record stores simply because they don’t sing exclusively in English. Also, European and American pop have saturated the world to such an extent that Kylie Minogue and Tupac are now more world music than, say, the Malian singer Oumou Sangare. Finally, most of what you find in the worldmusic section tends toward the gentle, melodious, and uplifting, as if the world were that way.“250 5.1. Konstruktion anderer Musik Die exotistischen und klischeeproduzierenden Perspektiven auf nicht-weiße Kultur und deren Aneignungen im Sinne einer (weißen) dominanten Ideologie haben eine lange Tradition. Diese begründet die Stagnation bei den Bemühungen „die tiefsitzende Strömung des weißen Überlegenheitsgefühls, das unter den oberflächlichen Pluralismen und Assimilationen liegt“, aufzudecken und zu verändern, beziehungsweise zu bekämpfen.251 Maureen Maisha Eggers spricht von einer hierarchisierenden Positionierungspraxis, in der weiße Positionen erst aufgrund und durch die „Markierung und Setzung von rassistisch markierten Anderen definiert werden“. 252 In dem Gefüge der Hegemonie, das damit beschrieben wird, bedeutet weiß eine nichtmarkierte, in Spivaks Sinne transparente Position. Auch Lipsitz führt am Beispiel der USA an, dass die Konstruktion einer weißen Identität immer abhängig sei von der Identifikation des Weißen mit den Anderen. Dies sei tief in der Geschichte Amerikas verankert, wobei er als Beispiel die Praxis des Black Facings in den Minstrel-Shows anführt, die im Laufe des 19. Jahrhunderts einen großen Zulauf verzeichneten.253 Auch nachdem die MinstrelShow als Gattung der Volksbelustigung verschwunden ist, sei der US-Popkultur nach wie vor das Bedürfnis schwarze Kultur aufzunehmen und zu kontrollieren inhärent.254 250 Sasha Frere-Jones: Bingo In Swansea - Maya Arulpragasam‘s world., 22.11.2004 http:// www.newyorker.com/archive/2004/11/22/041122crmu_music#ixzz29eIfp7j9 (22.10.12). 251 Lipsitz: Dangerous Crossroads, S. 101. 252 Vgl. Eggers: Rassifizierte Machtdifferenz. Mythen Masken & Subjekte, S. 61. 253 Vgl. Lipsitz: Dangerous Crossroads, S. 102 ff. 254 Lipsitz: Dangerous Crossroads, S. 103, führt hierzu ein bemerkenswertes Beispiel an: Es sei der amerikanische Gesellschaft gelungen, weiße Musiker an die Spitze von Musikstilen zu inthronisierten, die von Schwarzen geschaffen wurden: „Paul Whiteman als „König des Jazz“, Benny Goodman als „König des Swing“ und Elvis Presley als „König des Rock‘n‘Roll“. 64 Diese Prägung liegt der westlichen Popkultur zugrunde, die über die kapitalistische, transnationale Musikindustrie und die Medien das weltweite Geschehen auf dem Musikmarkt bestimmen. Dies führt zu der Erkenntnis, dass die globalen und lokalen nicht-weißen Musikpraktiken nur das Potential haben, im Strom dieser Musikindustrie populär zu werden, wenn sie sich dem internationalen Sound, unter der Verwendung des vorherrschenden Ton- und Rhythmussystems, angleichen oder von westlichen Popgrößen unter Verwendung des Stempels Weltmusik mit einbezogen und somit repräsentiert werden.255 Während der letzten Jahrzehnte hat sich in vielen Teilen der westlichen Demokratien eine Art liberaler Multikulturalismus herausgebildet. In diesem lebt jedoch die Vorstellung fort, dass verschiedene Kulturen nicht in einer Verbindung, sondern nebeneinander her existieren. Dies erhält sowohl die Vorstellung ethnischer Festschreibung und exotisierender Stereotypen, als auch die Transparenz moderner Gesellschaften, die ihre neutrale, integrierende Rolle über die essentialistische Konstruktion des Anderen generieren. Diese Vorstellung von Toleranz und wohltätigem Interesse für die nichtwestlichen Kulturen hat jedoch tatsächlich zu einer Verschleierung der Ursachen unterschiedlicher Positionen im globalen Herrschaftsverhältnis zwischen westlichen Demokratien und ehemals kolonialisierten Ländern geführt. 256 Unter der Prämisse der Völkerverständigung findet eine weitverbreitete, musikalische Aneignung nicht-westlicher Elemente durch westliche MusikerInnen statt, wie anhand von Popstars und deren Alben wie Paul Simons „Graceland“ und David Byrnes „Rei Momo“ beispielhaft festzustellen ist.257 Hierbei entsteht ein Bild von Weltmusik, das ein konfliktfreies, fast schon zärtliches Verhältnis zwischen den unterschiedlichen (Hoch-) Kulturen evoziert. 258 Häufig ist dabei zu beobachten, dass die Zusammenarbeit an eine Vorstellung karitativen Handelns appelliert, die auf der einen Seite die distributiven Rahmenbedingungen der Popkultur offenbart und andererseits genutzt wird, um den Kontext der Popkultur als ethnisch eigene Kultur zu generieren. Dies bewirkt eine Position, die sich auf eine transparente Weise dem entwicklungs- und integrationsbedürftigen Anderen gegenüber verortet. Die Musikpädagogin Dorothee Barth spricht davon, dass eine „hartnäckig tradierte ethnische Bestimmung von fremden (Musik-) 255 Vgl. Lipsitz: Dangerous Crossroads, S.113. 256 Pearson: M.I.A. s Radical Music & Postmodern Absorption. 257 Lipsitz: Dangerous Crossroads, S.106. 258 Pearson: M.I.A. s Radical Music & Postmodern Absorption. 65 Kulturen auch in einer ethnisch bestimmten Sichtweise der eigenen (Musik-)Kultur gründet.“ 259 Diese Erkenntnis lässt die Schlussfolgerung zu, dass auch VertreterInnen moderner Musik, sobald sie sich dem Folkloristischen, Exotischen und Ethnischen zuwenden, in sich selbst indigene VertreterInnen einer Ethnie des Modernen vermuten. Die Moderne wiederum wird von der abendländischen, westlichen Tradition als Produkt ihrer Geschichtsschreibung und Aufklärung gehandelt. Diese Vorstellung einer geographischen Lokalisierbarkeit des Modernen impliziert ebenfalls einen zeitlichen Vorsprung einer Kultur gegenüber jenen, die sich anderswo aufhalten. M.I.A. untergräbt diese Vorstellung nicht nur, indem sie in vermeintlich zeitlich und kulturell rückständigen Kontexten hochwertige Quellen für moderne Musik vermutet. Sie spricht von Musik, die nicht der westlichen Tradition der Moderne zugerechnet wird, als einer Musik, die progressiver sei als die des Westens selbst. „We have such a preconceived idea of a kid in Africa, like all they listen to is cultural music, like african drums and the dudes wear african clothes (...) Like, sitting under the tree with a stick or something!? But it‘s not like that. It’s way more progressive. And it’s way more progressive than music in the west.“ 260 M.I.A. betritt mit ihrer Musik einen Weg, der diese liberale Haltung des Multikulturalismus von sich weist, indem sie sich offen den bestehenden Antagonismen stellt und die Kämpfe zwischen unterdrückten Positionen, kulturellen Praktiken und Menschen und den dominanten Machtstrukturen thematisiert und weltweit verortet.261 Pearson geht davon aus, dass ihre Herkunft und ihr Aufwachsen im Kontext des Befreiungskampfes inmitten des Bürgerkrieges in Sri Lanka M.I.A. gelehrt habe, die Welt als einen Ort zu begreifen, in dem Unterdrückung und Herrschaft ausgeübt wird.262 Diese Sensibilität für globale Hierarchien und autoritäre Repression motiviert sie, in ihrer Musik politische Dringlichkeit zum Ausdruck zu bringen, mit der sie eine Form der Ausgewogenheit anstrebt. Diese Ausgewogenheit bezieht sie nicht nur auf die nichtwestlichen Quellen, sondern auch auf die Rolle der modernen Produktionstechniken, mit deren Akteuren sie einen künstlerischen Austausch auf Augenhöhe sucht. Insgesamt 259 Vgl. Barth: Ethnie, Bildung oder Bedeutung?, S. 110. 260 Spike Jonez: Spends Saturday with ... M.I.A., 08.11.2008 http://www.youtube.com/watch? v=_MC2TmFIkNM&feature=relmfu (18.10.12). 261 Vgl. Pearson: M.I.A. s Radical Music & Postmodern Absorption. 262 Vgl. ebd. 66 erwächst aus dieser Vorgehensweise das Gefühl, sie beziehe sich nicht auf ethnische, sondern auf musikalische und inhaltliche Quellen. 5.2. M.I.A.s globale und politische Musik Am Beispiel eines ihrer längeren Interviews mit dem Arthur Magazin lässt sich zeigen, dass M.I.A.s Motivation politische und persönliche Verhältnisse zum Gegenstand künstlerischer und ästhetischer Verhandlung zu machen, sie dazu befähigt, Vorschläge anzubieten, anstatt bei den Identitätspolitiken der Race- und Genderdiskurse stehen zu bleiben. „Whereas in film, we were still working with [texts from] the 1970s, lecturers coming in to talk about being black, gay, or feminist in Britain and how that felt. I could not take it anymore. I thought: ‘Why don’t you go out and do something exciting and break all those stereotypes? Don’t teach us to whine about our problems, tell us to be excited about trying to solve our problems.“ Bereits auf ihrem ersten Album „Arular“ erstellt sie einen Zusammenhang, indem sie eine Allianz zwischen Subkulturen westlicher Gesellschaften und den Positionen von Menschen andeutet, die global von Repression betroffen sind. Auf ihrem Album „Kala“ gelingt es ihr darüber hinaus, auch weltweit nach musikalischen Quellen zu fahnden, die sie in einen Dialog mit den musikalischen Ausdrucksformen westlicher Subkultur einbinden konnte. Dabei wirkt ihre Vermischung von nichtwestlicher Musik mit Musikstilen transglobaler Subkulturen in Verbindung mit ihrem Vokalstil und den politisch aufgeladenen Texten nicht erzwungen. Nach der Lektüre von Erfahrungsberichten ihres Produzententeams und aus Interviews mit M.I.A. entwickelt sich eher der Eindruck, dass der subjektive Geschmack, der aus ihrer Lebenserfahrung und Sozialisation entspringt, im Resultat einer gemeinschaftlichen global orientierten Arbeit zum Ausdruck kommen kann.263 Große Teile der Produktion des Albums spielen sich in einem transitären Rahmen ab, den M.I.A. folgendermaßen beschreibt: „On this one, because I was having all the visa issues and stuff, I’d record all the drums in India, and then I’d be in Trinidad and record a different layer, and then I’d go somewhere else. So every song is recorded in layers, and each layer is a different country, and then I 263 Vgl. Lily Moayeri: Out On A Whim, 01.09.2007 http://www.emusician.com/news/0766/out-on-awhim/142834; Joe Cellini, Dave „Switch“ Taylor: Producing M.I.A. http://www.apple.com/logicpro/inaction/switch/; the fader, Video+Interview: M.I.A., „Jimmy“, 07.08.2007 http://www.thefader.com/ 2007/08/07/video-interview-mia-jimmy/ (17.10.12). 67 cut it into songs. It was like making a big layered marble cake. And then I separated it out into songs and stuff.“ 264 Wenn sie sagt, dass jede Ebene ein anderes Land darstellt, meint sie also nicht eine ethnische Repräsentation des Landes, sondern die Repräsentation der lokal vollzogenen Arbeitsschritte, seien es Tonaufnahmen, redaktionelle Prozesse oder die Postproduktion. Die weltweite Suche nach Klängen und Musikpraktiken ist für M.I.A. nicht die Suche nach integrierbaren Exoten, sondern die Möglichkeit von Begegnungen und Zusammenarbeit, die aus dem Wunsch heraus entstehen, sich von etwas Unbekanntem angesprochen zu fühlen und darauf zu antworten. Ihre Herangehensweise ist von Neugier und dem Interesse an kreativen und hilfreichen Beziehungen motiviert. Lily Moayeri schreibt in ihrem Erfahrungsbericht zur Produktion von „Kala“: „Arul collected individuals with no set ideas about what she wanted to do with them (...) Not shedding her propensity to drag people off the street for their contributions, Arul (Maya) procured the talents of some children from four doors down — getting permission from their parents, who dressed them in their best outfits — for the handclaps on “BirdFlu.”265 5.3 Neue Politik M.I.A. entdeckt durch ihren subkulturellen Zugang zur Populärkultur diese als einen Fundus performativer und identitärer Produktion, deren Versatzstücke in beliebiger Anordnung einen unterhaltenden und versammelnden Charakter vermitteln. Hier bestände die Möglichkeit künstlerisch auch politische Sachverhalte auf eine Weise auszudrücken, dass sie von vielen Menschen vernommen und kulturell verhandelt werden können. Sie bezieht sich auf die Populärkultur mit ihren Kanälen und der Möglichkeit, transglobale Allianzen zu schaffen als Ort der Verhandlung und der Gestaltung. Lipsitz beschreibt die Populärkultur in diesem Zusammenhang folgendermaßen: „Die Mainstream-Kultur ist nicht einfach eine euroamerikanische Mittelschichtskultur, sondern eher ein kreativer und oft sehr inhaltsreicher Dialog zwischen all diesen Gruppen, der jeden ermutigt, seine Subjektposition zu verschieben, in wie geringem Maße auch immer, um von den anderen gehört zu werden“ 266 264 John Polly: Exclusive M.I.A. Interview! On Jamaican „Boyz“, New Music, Old Love & Gays!, 25.07.2007 http://www.newnownext.com/exclusive-m-i-a-interview-on-jamaican-boyz-new-music-oldlove-gays/07/2007/ (17.10.12). 265 Lily Moayeri: Out On A Whim, 01.09.2007 http://www.emusician.com/news/0766/out-on-a-whim/ 142834 (17.10.12). 266 Lipsitz, Dangerous Crossroads, S. 105. 68 In seinem Buch „Dangerous Crossroads“ beschreibt er die Praktiken und Strategien vieler Musikschaffender unterschiedlichster Stile und Genres. Sie nehmen die kapitalistisch-industrielle Warenkultur als gegeben hin und nutzen diese um durch ihre Musik eine Botschaft zu verbreiten, die politische und identitätsverhandelnde Ansprüche hat.267 „In einer Welt, die von Zirkulation von Warenströmen geprägt ist, kann die kommerzielle Kultur ein effizientes Mittel darstellen, um Botschaften auf unerwartete Weise zu senden wie zu empfangen.“ 268 Lipsitz spricht hier von einer neuen Politik, die sich Kunstschaffende marginalisierter Positionen auf der ganzen Welt zueigen machen.269 Für sie besteht die Herausforderung darin, sich mit ihrer Musik aus einer marginalisierten Position zwischen einer gesättigten kommerziellen Kultur und der Entstehung neuer öffentlicher Sphären zu verorten. Die Musik, die sie dabei produzieren, erreicht ihr popkulturelles Potential oftmals, nicht um dem Warenbetrieb zu entsprechen, sondern um zu zeigen, dass die Auseinandersetzung und Begegnung mit marginalisierten Positionen sich auch im Zentrum der öffentlichen Wahrnehmung und des Lebens ereignen kann. Diese Kunstschaffenden nutzen dabei oftmals die globalen Kanäle der Warenproduktion und -zirkulation der transnationalen Musikindustrie. Hierbei geht es ihnen darum, neue Bedeutungen zu schaffen, Orte der Begegnung zu erzeugen und für sie zu arbeiten.270 Bhabhas Vorstellung des Dritten Raumes als Vorgang und Sphäre, wo kulturelle Zeichen selbstbestimmt und in Beziehung zu einander geschaffen, kontextualisiert und verhandelt werden, kommt in dieser Praxis ebenso zum Vorschein, wie auch in der Bricolage. Künstlerinnen wie M.I.A. nutzen die globale Zirkulation neuer öffentlicher Sphären in erster Linie als Möglichkeit, neue semiotische Kontexte zu ermitteln und zu verbreiten. Die Priorität der persönlichen und politischen Aussage gegenüber dem Anspruch, sogenannte kommerzielle warenförmige Musik zu liefern, widerspricht dabei nicht der popkulturellen Erscheinungsform. Diese soll dabei in den Dienst der Verbreitung jener Erkenntnisse gestellt werden, die marginalisierte Positionen über ihre identitäre Verhandlungen mit der Masse in Erfahrung bringen. Diese neue Politik ist in M.I.A.s 267 Ebd., S. 53. 268 Ebd. 269 Vgl. ebd., S. 53. 270 Vgl. ebd., S. 52. 69 Schaffen erkennbar. Sie berichtet über diese Kanäle von den zeichenpolitischen Freiräumen, die es ermöglichen, die Kämpfe unterdrückter Menschen und Ausdrucksformen mit den versammelnden Qualitäten populärkultureller Praktiken zusammenzudenken. Eines der besten Beispiele ist ihre Single „Paper Planes“, die zur Hymne des oskarprämierten Films „Slumdog Millionaire“ geworden ist. In diesem Song drückt sie die alltäglichen Auseinandersetzungen und Kämpfe von Flüchtlingen von einer Position her aus, die deren Handlungen und Strategien als Kompetenzen begreifen, die unter widrigen Umständen erkämpft wurden und sich in der Sprache des Pop beinahe schon als Superkräfte darstellen lassen. („I fly like paper (...)/ If you catch me at the border I got visas in my name“). Gerade eine Künstlerin wie M.I.A., die, selbst nachdem sie internationale Bekanntheit erreicht hat, weiter mit aufenthaltsrechtlichen Hürden kämpfte, weiß um die Macht nationaler Autorität. Sie bezeichnet sich in dieser Hinsicht als ewigen Flüchtling.271 Thomas Burkhalter beschreibt in seinem Artikel Weltmusik 2.0: „Klänge und Klangformen mögen weltweit schweifen, aber für die Musiker ist noch immer die nationale und politische Grenze bindend. Im Visa- und Passbüro entscheidet sich, ob ein Künstler aus Afrika, Asien oder Lateinamerika auch physisch in der weltweit vernetzten Szene der Weltmusik 2.0 mitmachen kann – oder ob er bloß ein Lieferant von Sound-Samples bleibt.“ 272 M.I.A.s Fall macht deutlich, dass selbst eine Musikerin, die es von Asien über England in die USA geschafft hat, trotzdem nicht davor gefeit ist, Probleme mit ihrem Visum zu bekommen, gerade wenn sie - im Sinne von Burkhalter - die neue Weltmusik 2.0 mitprägen will. 5.4. Weltmusik 2.0? 273 Burkhalter vollzieht in seinem Artikel Weltmusik 2.0 eine Neu-, beziehungsweise ReDefinierung des Begriffes Weltmusik. Er subsummiert eine Reihe neuer musikalischer Werke die sich auf nichtwestliche Produktionsstätten, Praktiken und Ikonographien beziehen unter dem Titel Weltmusik 2.0. Den Musikpraxen dieser Strömung weist er eine Definition des Avantgarde-Begriffs zu: 271 Jian Ghomeshi: Interview with M.I.A. on QTV, 18.10.2010 http://www.youtube.com/watch? v=uaK0YBA8Lss (17.10.12). 272 Thomas Burkhalter: Weltmusik 2.0, 27.01.2011 http://norient.com/academic/weltmusik2-0/ (17.10.12). 273 Dieses Kapitel ist ein essayistischer Entwurf und Beitrag zum Weltmusikdiskurs und bezieht sich auf den Artikel von Thomas Burkhalter: Weltmusik 2.0, 27.01.2011, http://norient.com/stories/ weltmusik20/ (17.10.12). 70 „Laut dieser suchen Avantgarde-Künstler den Bruch mit dem jeweils dominanten musikalischen Kanon; sie wollen Musik (und Kunst) neu in der Gesellschaft positionieren; und sie re-definieren die Rolle von Musik zyklisch neu – mal ist Musik Abbild des realen Lebens, mal eine Form von Protest, dann setzt sie entweder auf Schocktherapie oder Ironie, und schliesslich dient sie als Flucht in imaginäre Welten.“ 274 Die Kunstschaffenden seien damit Teil einer „weltumspannenden multi-lokalen Avantgarde“ 275 des 21. Jahrhunderts, die selbstbewusste nach-koloniale Positionen zeigen, sich andererseits aber auch immer wieder gefangen in den alten post-kolonialen Strukturen befinden. Auf der künstlerischen Ebene kennzeichnet er diese an einem dialektischen Umgang mit Exotika, Gewalt und Krieg als Konstrukt einer postkolonialen Ästhetik. Dennoch erkennt er in der musikalischen Praxis die Etablierung einer Kunst des Alltags, „die Geräusche ihrer lokalen Umgebungen und ihrer technologisierten, post-industriellen Medienwelt beinhaltet“ 276 und isoliert so diese Anteile als „postmoderne Ästhetik“ von den Aspekten die auf soziale Missstände und koloniale Ikonographien hinweisen. Burkhalter grenzt die beiden Weltmusikbegriffe 1.0 und 2.0 voneinander ab. Weltmusik 1.0 sei immer für das „westliche Mittelklasse-Ohr“ konzipiert worden. Sie würde „unversehrte musikalische Formen und Idiome hochleben lassen, mische dann aber Sounds der vollständig kommerzialisierten Gegenwart mit der pseudohistorischen „Patina“ anderer Zeiten und Orten“.277 Resümierend stellt er fest, dass die alte, saubere und sanfte Weltmusik attackiert werde und durch neue, unbequemere Sounds ersetzt würde. Er formuliert seine Bedenken, in dem er konstatiert, dass die „Vision einer Welt der multiplen Modernen weiterhin ihre Risse hat“ und auf den „alten Machtstrukturen“ eines hegemonial-normierenden „Westens“ aufbaut. Burkhalter sieht diese beispielsweise in den kommerziellen und urheberrechtlichen Erfolgschancen der Kunstschaffenden im Kontext der globalisierten Ökonomie. Dabei sei das Thema der wirtschaftlichen Ausbeutung nach wie vor akut.278 Anschließend formuliert er eine Kritik an den Weltmusik 2.0 -Musikschaffenden: „Im Fall der Weltmusik 2.0 sind das oft nicht zwingend Marketingabteilungen, sondern Musiker, die versuchen, mittels Strategien ihre eigenen Karrieren voranzutreiben. Der 274 Ebd. 275 Ebd. 276 Ebd. 277 Vgl. ebd. 278 Vgl. ebd. 71 neue Fokus auf Exotika kann aus dieser Perspektive auch als ein strategischer Essentialismus verstanden werden. (...) Der Trend zur Inszenierung von Krieg und Gewalt provoziert ähnliche Fragen. M.I.A. und Mazen Kerbaj sind zwei von vielen Beispielen: Die jamaikanische Sängerin Terry Lynn zum Beispiel inszeniert sich auf ihrer CD «Kingstonlogic 2.0» als stolze Slum-Bewohnerin mit Pistole in der Hand. Sie rappt über tiefe Subbässe, Gewehrschüsse und abstrakte Beats.“ 279 Durch die Feststellung eines strategischen Essentialismus unterstellt er den Kunstschaffenden, anhand des Gebrauchs exotistischer Zeichen, persönliche Erfolgszwecke zu verfolgen. Durch die „internationale“ Perspektive, die Burkhalter in seinem Aufsatz wiederholt aus der ersten Person Plural heraus sprechen lässt, vermeidet er eine Selbstverortung in der neuen globalen Sphäre und beteiligt sich an der Konstruktion anderer Musik. Auf die gleiche Weise schafft er eine Distanz zu den Lebenswirklichkeiten der Kunstschaffenden, indem er die Thematisierung von Krieg und sozialem Elend aus seiner „internationalen“ Perspektive als exotisch markiert. Diese Perspektive erweckt selbst den Eindruck eines strategischen Essentialismus. Hier wird der analytische Versuch unternommen den Musikpraxen Kategorien oder einen kanonisierten Überbau zuzuweisen. Dabei drängt sich die Frage auf, ob diese Vorgehensweise nicht von dem ablenkt was Musikschaffende thematisieren wollen, oder auf welche Möglichkeiten der Selbstbestimmung sie hinweisen. Er identifiziert „den Krieg“ als neues strategisches Mittel des Erfolgs: „Aus der internationalen Perspektive haben Musiker wie Kerbaj das exotische Element der Weltmusik 1.0 (die orientalische Musik) durch ein neues exotisches Element ersetzt, den Krieg. Im Libanon hingegen bricht Kerbaj mit einem Tabu, indem er öffentlich über den libanesischen Bürgerkrieg diskutiert. Und er verarbeitet traumatische Erfahrungen.“ 280 Lynn Hirschberg übt dieselbe Kritik wie Burkhalter an M.I.A. In ihrem New YorkTimes - Artikel unterstellt sie ihr eine kommerzielle Strategie durch Provokation verfolgen zu wollen. Hirschberg betrachtet zudem die Verbindung zwischen politischem Inhalt und tanzbaren Beats als höchst fragwürdig. Es scheint nicht so recht in die Vorstellung einer Unterhaltungsindustrie zu passen, die Professionalität als Verzicht auf künstlerischen Ausdruck jenseits einer Spaßkultur versteht. Die Paradoxie liegt in der Unterstellung kommerzieller Strategien und Erfolgsmodelle, die den Kunstschaffenden ausgerechnet dann vorgeworfen werden, wenn sie sich unbehaglichen Themen 279 Ebd. 280 Ebd. 72 zuwenden. Gerade Themen, die in einer Verdrängungsgesellschaft unpopulär sind, sollen in den Verdacht geraten populistisch instrumentalisiert zu werden. Weder Burkhalter noch Hirschberg reflektieren den politischen Gehalt der Kunst und stellen ihn mitunter als bloße Behauptung dar. „Im Video zum Track „Born Free“ - von der 2010 erschienenen CD «Maya» - inszeniert M.I.A als Aktivistin radikalste Gewalt, indem sie rothaarige Männer exekutieren lässt stellvertretend für Gefangene im Bürgerkrieg von Sri Lanka, wie sie behauptet.“ 281 M.I.A. selbst wird dabei sowohl mit dem Vorwurf der Eigennützigkeit konfrontiert, als auch mit der Frage, warum sie nach ihrem internationalen Durchbruch keine popkulturelle Massenware produziert, sondern, wie Burkhalter es ausdrückt, avantgardistische Kunst. In einem Interview gibt sie darauf folgende Antwort: „I don't understand why I have to represent my success in the same way as a corperations growth, I don't see it like that. Growth to me is growth to me in my own way. (...) You expect music to be a personal thing“ 282 Auf der anderen Seite übt Burkhalter eine Kritik an den neuen globalen Netzwerken, die sich an mangelnden Erfolgschancen ihrer Protagonisten in der herrschenden Industrie orientiert, anstatt die Vertriebsbedingungen dieser Industrie in Frage zu stellen und deren Einfluss auf die Kunst zu thematisieren. Er ermittelt stattdessen Erfolgsmodelle , die sich auf die Vermarktbarkeit von Musik beziehen, spricht aber beispielsweise nicht über den politischen oder künstlerischen Erfolg einer Botschaft oder ästhetischen Verfahrensweise. „Das Musizieren ohne Copyright-Beschränkungen fördere Austausch und Kreativität: Dieses oft gehörte Argument stimmt nur, wenn sich die Künstler des Nordens und Südens auf Augenhöhe treffen – wenn etwa Schlachthofbronx aus München, Spoek Mathambo und Gnucci Banana aus Südafrika und ihr Label Man Recordings ihren Track «Ayoba» offiziell freigegeben: Jetzt finden wir auf der Plattform Soundcloud über 100 Remixe des Tracks. Eine zeitgemässe Erfolgsstrategie.“ 283 M.I.A. und anderen Kunstschaffenden ein Desinteresse an ökonomischer Sicherheit nachzusagen wäre bestimmt nicht richtig. Jedoch äußert M.I.A. sich in Interviews positiv über die Bootlegkultur, und das es für eine Künstlerin wie sie wichtig sei, dass ihre Werke Verbreitung finden und einem größeren Publikum zugänglich werden. Eine 281 Ebd. 282 Jian Ghomeshi: Interview with M.I.A. on QTV, 18.10.2010 http://www.youtube.com/watch? v=uaK0YBA8Lss (24.10.12). 283 Ebd. 73 ihrer Tourneen hieß gar „Bootleg vs. Download“. Ein aktueller Tweet von ihr lautet: „The heart of art is make it / the art of art is share it.“ 284 Der Artikel von Burkhalter ist eine sehr gut recherchierte Zusammenstellung der „neuen“ globalen Musikpraxen und Vorgehensweisen von Musikschaffenden aus den Zentren Afrikas, Asiens und Lateinamerikas. Er gibt einen detailgetreuen Einblick in die Arbeit der, wie er sie selbst zusammenfasst, „selbstbewussten nach-kolonialen“ Vertreter. Der Fokus auf der Identifizierung einzelner Phänomene und deren kategorialer Festschreibung scheint jedoch die Annäherung an die Intention von Kunstschaffenden und deren Werk zu blockieren. Die Leerstellen, die durch die Zusammensetzung von Zeichen in diesen Arbeiten entstehen, erwirken eine Deutungsaufforderung, mit der diese Kunst zu einer selbstbestimmten Beantwortung herausfordert. Diese Beantwortung bleibt aus der Perspektive des Artikels aus, stattdessen werden die Verfahrensweisen der Kunstschaffenden vergegenständlicht und nicht mit einer strategischen Intention in Verbindung gebracht, die außerhalb einer kommerziellen Erfolgsabsicht liegen könnte. Diese Kunst selbst aber bezieht ihre Kraft aus dem Spiel mit den Zuschreibungen. Sie zeigt auf, dass der selbstbestimmte Umgang mit Zeichen in einen Kontext führen kann, in dem spielerisch und gestalterisch mit Identität verfahren wird. Durch einen eigenen strategischen Bezug auf identitäre Ressourcen kann auch die Sensibilität für die Botschaften wachsen, die hinter „fremden“ und „anderen“ symbolischen Konstellationen stehen und diese motivieren. Das wiederum stärkt die Kritikfähigkeit gegenüber hegemonialen Gestaltungsvorgaben und ermöglicht es, sich der eigenen und „anderen“ Positionen anzunähern und diese konstruktiv zu verhandeln. Der souveräne Umgang mit der Identität, die selbstbestimmte Gestaltung und Anordnung von Zeichen und Kontexten, setzt allerdings auch ein Bewusstsein für die eigene Perspektive voraus. Die Cultural Studies haben in ihrer Art, kulturelle Phänomene zu untersuchen in dieser Hinsicht einen wichtigen Beitrag geleistet. Lipsitzs Identifikation einer neuen wirksamen Politik, die er in der Arbeit global und sozial bewußt arbeitender Kunstschafffenden feststellt, ist ein Versuch der Kulturarbeit eine Wertschätzung entgegenzubringen, die ihre ProtagonistInnen in ein kollegiales Verhältnis zur akademischen Wissensproduktion rücken möchte. In unserer Zeit stützen Politik und Ökonomie ihre Entscheidungen immer mehr auf Sachzwänge, und Handlungen in diesem Kontext werden eher administrativ als gestalterisch begründet. Dies wirft die Frage auf, wo dann politische und ökonomische 284 https://twitter.com/MIAuniverse (24.10.12). 74 Verhältnisse eine Dringlichkeit erzielen, reflektiert werden und menschliche Handlungen motivieren. Burkhalters Artikel zeigt, dass die Kultur weltweit ein Ort ist, wo diese Dringlichkeit zumindest beginnt, eine vernehmbare Gestalt anzunehmen und verhandelt zu werden. M.I.A.s Werk ist neben vielen anderen ein Beispiel für den Versuch, Populärkultur nicht als Verdrängungs- oder Absorptionssphäre zu begreifen,die verwendet wird, um sich von der Realität zu erholen oder sie distanziert betrachten zu können. Hier wird die Popularisierung als die Bevölkerung der Kultur durch die Menschen verstanden, als Stunde der Begegnung und Stelle der Versammlung. Die Authentizität dieser Einladung gelingt gerade deshalb, weil es nicht das Ziel einer solchen Kultur ist die gegenseitigen Realitäten auszublenden oder sich in gesicherte Lebenswirklichkeiten und Positionen zurückzuziehen. Die Möglichkeit einer wirklichen Annäherung wird hier gefeiert und tanzbar gemacht. Auch wenn viele Kunstschaffende Gefahr laufen, aus einer „internationalen“ Perspektive nicht ernst genommen zu werden, wird es aus einer globalen Perspektive zunehmend schwierig, sie zu ignorieren. 6. Zusammenfassung und Ausblick Der Kontext in dem M.I.A. aufgewachsen ist, war geprägt von einem tiefsitzenden Ungleichgewicht der Machtverhältnisse. Während ihrer Zeit in Sri Lanka inmitten des Bürgerkriegs und ihrer Sozialisation in England, bekommt sie dies zu spüren. Ihre Biographie zeigt auf, wie sich ihre Zerrissenheit zwischen den Kulturen entwickelt hat und an welchen Stellen ihrer identitären Entwicklung sie Verortungsperspektiven findet und Allianzen schmiedet um diesen repressiven Verhältnissen zu entkommen. Der Tod ihres Cousins löst letztlich ihren Willen aus, an Möglichkeiten ihrer Infragestellung und Veränderung zu arbeiten. An diesem Punkt ist die Populärkultur ihre Wirkungs- und Ausdrucksstelle. Hier entwickelt sie ihre persönliche Darstellungsweise und Handschrift für eine konstruktive Konfrontation mit hegemonialen Strukturen innerhalb ihres populär-kulturellen Kontextes. Anhand der Betrachtung und Analyse von M.I.A.s Schaffen wurden Vorgehensweisen und Strategien aufgezeigt, mit denen die Künstlerin sowohl spielerisch wie auch radikal Vorstellungen und Gestaltungsvorgaben im Bereich der Popkultur zur Diskussion stellt. Hier wurde deutlich, wie an verschiedenen Stellen hegemonial-narrative Normen von ihr hinterfragt und unterminiert wurden. 75 Die Techniken der Bricolage und eklektische Vorgehensweisen sind dabei ihre Werkzeuge. Dies geht aus der Konzeption ihres Vokalstils hervor sowie aus ihrer kooperativen und innovativen Zusammenstellung von Musikstilen und -praktiken. Zusätzlich entwickelt sie eine selbstbestimmte Art mit der kodierten Sprache und den Texten von Subkulturen umzugehen. Dies kommt in der Musik, den Lyrics und ihrer videographischen Bildsprache zum Vorschein. Im Besonderen sei in diesem Zusammenhang auf die besprochenen Tracks und den dazugehörigen Videos „Galang“, „Bucky done gone“, „Hussel“ oder „Boyz“ hingewiesen. In der Analyse wurde dabei ein individueller und innovativer Umgang mit Begriffen und Zeichen festgestellt. Auf diese Weise erreicht sie eine Erweiterung der vorgesehenen Bedeutungszusammenhänge und Zuschreibungen. Es gelingt ihr so, eine Neuverhandlung von Themen wie Gewalt, Unterdrückung und Rollenverteilungen ins Spiel zu bringen und durch eine kontroverse Position zum Umdenken anzuregen. Ihre vielschichtige Sozialisation in den Wirren des Bürgerkriegs auf Sri Lanka, zwischen den Sozialbauten der Londoner Peripherie und dem urbanen Zentrum London selbst hat ihr ein einzigartiges multidimensionales Verständnis von globalen Gesellschaften gegeben.285 Hieran lässt sich ein weiterer wichtiger Aspekt ihres Schaffens aufzeigen. Bei der Arbeit an ihrem zweiten Album „Kala“, verbunden mit der globalen Soundrecherche, realisiert M.I.A. ihre Vorstellungen von einer globalen Musik. Ihr Enthusiasmus subalterne Stimmen mit einzubeziehen und unterschiedlichste kulturelle Praxen und Stimmen als nennenswerte Quellen zu begreifen, zeugen von einer Neugier auf kooperative Ausdrucksmöglichkeiten und ihre Motivation Interaktion und Austausch zu fördern. M.I.A.s Musikerkollege, der anglo-nigerianische Flüchtling Afrikan Boy drückt es im Kontext des Albums so aus: „ (...) the reason, it is becoming so large, is that because nobody is doing what Maya is doing. No one is expanding their musical knowledge to other cultures.“ 286 Ihr globales Verständnis verbunden mit ihrer Zerrissenheit liefert auch die Begründung für ihr schrankenloses/entgrenztes Denken bei der Vermischung von Stilen und ihrer Herangehensweise an moderne Musikproduktionstechniken mit ihren verbündeten Produzenten. Auf ihrem dritten Album „Maya“ ist diesbezüglich ein Höhepunkt erreicht. Durch ihren wilden Stilmix, den unvermittelten Stimmungsbrüchen und 285 Vgl. Pearson: M.I.A. s Radical Music & Postmodern Absorption, S.8. 286 Vgl. Spike Jonez: Spends Saturday with ... M.I.A., 08.11.2008 http://www.youtube.com/watch? v=_MC2TmFIkNM&feature=relmfu (22.10.12). 76 (massiven) Störklängen, spielt sie mit den Grenzen des Geschmacks und der Strapazierfähigkeit von Rezipienten innerhalb der Popkultur. Hier werden sukzessiv Geschmacksgrenzen und -empfindungen in Frage gestellt. Hörer werden dadurch in ihrer Wahrnehmung irritiert und angeregt, sich mit normativen Vorgaben innerhalb der Popmusik auseinanderzusetzen und dem industriellen Angebot möglicherweise kritischer zu begegnen. Ebenso reflektiert M.I.A. mit der Musik, den Texten und den Videos zu ihrem dritten Album Kämpfe um neue Räume und öffentliche Sphären, wie dem Internet. Mit dem Motiv Informationspolitik und der Frage nach den Macht-und Herrschaftsverhältnissen, der Selbstbestimmung und -organisation in der virtuellen Welt greift sie eine internationales Thema auf, die durch die gegenwärtigen Bewegungen wie dem arabischen Frühling, WikiLeaks oder Occupy hohe Aktualität und Relevanz besitzt. Hinweis darauf gibt auch der Schriftzug im Booklet ihres Albums Maya: „...They can rewrite history / But we can re re write it back faster / We have speed on our hands / Amphetamins in our system / And the system is corrupt / But we can do it without money ...“287 Mit Sicherheit ist es ein schwieriger Balanceakt zwischen dem Willen, politische und sozial drängende Themen anzusprechen und einem dauerhaften Überleben in der saturierten Popkultur. Aber ihr Schaffen hat seit acht Jahren einen bemerkenswerten Wirkungs- und Aufmerksamkeitsradius und ihre Signierung auf einem der größten Labels Amerikas spricht für ein Fortdauern ihrer Präsenz. Popstars wie Madonna sind so berühmt geworden oder haben sich solange gehalten, weil es ihnen gelungen ist, die Popkultur durch ihre Strategien der Inszenierung und ihrer Wandelbarkeit an sie zu binden und sie zu prägen. M.I.A. hat mit ihren Strategien auf eine andere Weise ebenfalls das Potential Popkultur zu beeinflussen. Durch die Aufforderung der Konsumenten zu einem Umdenken, zur Selbstermächtigung und zu einem reflektierten Handeln kann sie Veränderung bewirken. Sie möchte im Sinne von Spivak zum Verlernen von Herrschaft anregen. Ihr Anliegen ist ein fiktionaler und darstellerischer Appell an die differenzierte und heterogene Gemeinschaft der Populärkultur. Es geht dabei um das zueinander Sprechen, und das Erinnern an die Kraft, selbst kulturelle Räume zu schaffen und Zeichen umzudeuten und neu zu verhandeln. M.I.A.s Musik thematisiert weltweite Unterdrückung, macht sie aber gleichzeitig tanzund genießbar. Dieser scheinbare Widerspruch bietet eine große Chance den Drang des Menschen in vorgefassten Kategorien zu denken, zu überwinden und eine 287 M.I.A. Album /\/\ /\ Y /\: CD-Inlet. 77 selbstbestimmte Identität herauszubilden. Die Grenzen zwischen Bereichen wie Unterhaltung, Kunst, Avantgarde, Politik, Subkultur und Popkultur geraten dabei genauso ins Wanken, wie ethnische und geographische Trennung. Globale Ressourcen und Verständigungsmöglichkeiten gewinnen für die Kunstschaffenden ihrer Generation eine neue Bedeutung, wie M.I.A. in einer Dokumentation von Spike Jonze beschreibt: „No one really heard the third world or what people come from and stuff, it has always been black/white, urban, in the west. When you hear music, it always comes from the hood, an american hood, or british hood. And its about those experiences. But no one has really come from this, like, first generation. Like - overthere - and then come -here-, you learn the language of the west, and the first world, and then you articulate the third world. (...) Culturally its important to abridge that gap, and to make communication possible. It seems like, this is the next phase. Once you have already ..done.. where you come from, with irony and deconstructed everything, and commented on everything, and digested then you still got the whole other section of the pile that hasn‘t really been digested, even by them - and I think this is kind of what I represent.“ 288 7. Quellenverzeichnis Literatur Arulpragasam, Maya: M.I.A. London. Pocko-Editions 2002. Barth, Dorothee: Ethnie, Bildung oder Bedeutung? Zum Kulturbegriff in der interkulturell orientierten Musikpädagogik. Augsburg: Wißner-Verlag 2008. Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur. Tübingen: Stauffenburg Verlag 2000. Bhabha, Homi K.: Verortungen der Kultur: In Bronfen, Elisabeth/Marius, Benjamin/ Steffen, Therese (Hg.): Hybride Kulturen. 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