Gewalt und Aggression in der Pflege und Pädagogik

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Gewalt und Aggression in der Pflege und Pädagogik
Dr. Michael Wunder
Beratungszentrum Alsterdorf
4.9.2012
Gewalt und Aggression in der Pflege und
Pädagogik – Diskutieren statt Tabuisieren
Pflege und Pädagogik implizieren, so wie sie heute gelehrt und vertreten werden,
ein bestimmtes – meist implizites – humanitäres Menschenbild und damit einen
Basisstandard oder anders ausgedrückt, einen ethischen Imperativ, der jedem
Beteiligten an sich klar, aber – so scheint die Praxis zu belegen – oft nicht präsent
ist. Ich formuliere diesen Imperativ so:
Verhalte Dich so, begleite so, helfe so, pflege so,
wie Du willst,
dass Dir in einer vergleichbaren Situation geholfen wird und
wie Du begleitet und
gepflegt werden willst.
Jeder Mitarbeitende einer Institution, der sagt, „Wenn ich einmal pflegeabhängig
bin oder auf pädagogische Assistenz angewiesen, möchte ich aber nicht so wie
durch unseren Dienst oder in unserer Einrichtung gepflegt oder versorgt werden,
macht etwas falsch. Dieser ethische Imperativ ist der Bewertungsmaßstab für das
eigene Verhalten, was stets von der Frage geleitet sein sollte, ob das, was ich
täglich tue, mit meinen inneren Standards, meiner Verantwortung vor mir selbst,
meinem Wissen und meinem Gewissen, kongruent ist, ich es also vor mir selber
verantworten kann. Des Weiteren ist der ethische Imperativ aber auch ein
Bewertungsmaßstab für die erbrachte Leistung und damit für die Institution
insgesamt, also die Frage, was als Gesamtleistung beim Nutzer ankommt. Dies
betrifft Fragen der Organisation, der Transparenz, der kurzfristigen Modifikation
oder Veränderung, mit denen auf Wünsche des Patienten oder Bewohners
eingegangen wird, bis hin zum Umgehen mit Beschwerden.
Auch verweist er Imperativ darauf, dass Pflege und Pädagogik stets mit einem
Gegenüber zu tun haben, das schwächer ist, das auf die Dienstleistung der
Pädagogik und der Pflege angewiesen ist und darauf, dass die Beziehung
ungleich ist und von daher einer ständigen Überprüfung und Kontrolle bedarf.
Dieser Imperativ setzt die Norm dieser Kontrolle einfach und überprüfbar in die
Erwartung des Anwenders selbst, wenn er Nutzer von Pflege oder Pädagogik
wird.
Woran liegt es, so die Leitfrage meines Vortrags, dass trotz der Bekanntheit, der
Einfachheit und der intuitiven Überzeugungskraft dieses Imperativs die Praxis von
Pflege und pädagogischer Assistenz in vielen Fällen anders aussieht?
1
Aggression und Gewalt in der Heimerziehung
Im Mittelpunkt der neuerlichen Debatte um dieses Thema stehen die
Aufarbeitungen und Berichte des Runde Tischs Heimerziehung in den 50er und
60er Jahren1 von 2010 und des Runden Tischs „Sexueller Missbrauch in
Abhängigkeits- und Machtverhältnisse in privaten und öffentlichen Einrichtungen
und im familiären Bereich“ von 2011.2 Beide wurden ausgelöst durch die Berichte
Betroffener, wie sie in dem Buch „Schläge im Namen des Herrn“ von Peter
Wensierski3 bereits 2006 veröffentlicht wurden. Vieles war schon viellänger
bekannt, aber ganz offensichtlich braucht jedes Thema seine Zeit. Und – das
betonten die Betroffenen in allen Anhörungen immer wieder – lange wurde
ihnen nicht geglaubt.
Angestoßen durch diese breite öffentliche Debatte lässt sich seit einigen Jahren
auch eine Hinwendung zu diesem Thema innerhalb der Behindertenhilfe
verzeichnen. Den Anfang machte die Aufarbeitung der Vorgänge der 50er bis
70er Jahre im Johanna Helenen Heim in Volmarstein von Hans Walter Schmuhl
und Ulrike Winkler, die 2010 erschien.4 Darin werden erstmals, auch aus
historischer Perspektive, die strukturellen und personalen Bedingungen für
Gewalt in Behindertenheimen, in diesem Falle eines explizit religiös gebundenen
Hauses, beschrieben. Die Autoren beschreiben auf der Basis von
Zeitzeugeninterviews vielfältige Formen von
• körperlicher Gewalt, wie zum Beispiel Schläge, körperliche Züchtigungen,
Einsperren
• psychischer
Gewalt,
wie
Spott,
Vorenthaltung
von
Entwicklungsmöglichkeiten, Vernachlässigung, und
• sexualisierte Gewalt
Als ursächliche Faktoren sehen die Autoren die Abgeschlossenheit des Heims
nach außen, die physische und psychische Überlastung der zuständigen
Diakonissen, ihre Befangenheit und ihre Zerwürfnisse untereinander und Ihre
überwiegende Verwurzelung im alten Denken der 30er und 40er Jahre. Nach und
nach arbeiten jetzt auch andere Heime und ehemaligen Anstalten ihre Geschichte
nach 1945 auf, nicht nur mit dem Ziel, den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu
lassen, sondern auch heutigen Gefahren von Gewalt im Alltag der
Behindertenassistenz besser präventiv begegnen zu können.
Eine besonders wichtige Forschungsarbeit legte Monika Schroettle von der
Universität Bielefeld zur heutigen Gewalterfahrung von Frauen mit Behinderung
vor.5 Danach haben 6% der Frauen mit Behinderung sexuelle Gewalt erlebt,
sowohl innerhalb wie auch außerhalb von Institutionen, meist in einem Umfeld,
1
Abschlussbericht des Runden Tischs Heimerziehung unter www.rundertischheimerziehung.de/documents/RTH_Abschlussbericht.pdf
2
Abschlussbericht der Unabhängigen beauftragten zur Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs,
Dr. Christine Bergmann, www.beauftragter-missbrauch.de/filephp/31Abschlussbericht_UBSKM.2.pdf
3
Wensierski, Peter (2006): Schläge im Namen des Herrn – Das verdrängte Schicksal der
Heimkinder in der Bundesrepublik, München: Deutsche Verlags Anstalt
4
Schmuhl, Hans-Walter, Winkler, Ulrike (2010): Gewalt in der Körperbehindertenhilfe – Das
Johanna.Helenen-Heim in Volmarstein von 1947bis 1967, Wuppertal : Verlag für
Regionalgeschichte.
5
Schroettler, Monika (2012): Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Beeinträchtigungen
und Behinderung in Deutschland, www.bmfsfj.de/Redaktion BMFSFJ/Broschuerenstelle(PdfAnlagen/Lebenssituationen-und-Belastungen-von-Frauen-mit-Behinderungen-in-Deutschland.de
2
das gekennzeichnet ist durch Ausgrenzung, Beleidigungen, Demütigungen und
Drohungen. Diese wie andere Studien ermahnen auch zur Differenzierung: Ein
gewaltbereites oder gewaltausübendes institutionelles Umfeld ermöglicht und
erleichtert zwar auch sexualisierte Gewalt. Diese ist aber weder zwingende Folge
solcher Gewaltverhältnisse, noch braucht sie solche Verhältnisse als
Voraussetzung.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie wir heute in unseren
Institutionen und Leistungsangeboten mit diesem Wissen umgehen? Gewalt und
Aggression ist keine Frage der Vergangenheit. Die Aufarbeitung der
Vergangenheit kann uns vielmehr den Blick schärfen, auf heutige Strukturen und
Risikofaktoren genauer hinzusehen.
Dies möchte ich im Folgenden unter folgenden Gesichtspunkten tun:
Was verstehen wir unter Aggression und Gewalt? Um welche Formen der
Gewalt geht es?
Wie können wir aggressiven Verhaltensweisen erklären und verstehen?
Welche Möglichkeiten des präventiven Umgangs gibt es in der und für
die Praxis?
Was verstehen wir unter Aggression und Gewalt?
Die Begriffe Aggression und Gewalt bezeichnen beide eine Bedrohung,
Schädigung, Kränkung oder Verletzung einer anderen oder der eigenen Person.
Ihr Unterschied besteht jedoch darin, dass unter Aggression die Aktion und das
angreifende Verhalten verstanden wird, unter Gewalt dagegen alle Verhältnisse,
Situationen und Maßnahmen, die einen Menschen beeinträchtigen, einschränken
oder ihn von seiner eigenen und selbstbestimmten und ihm Befriedigung
einbringenden Handlung abbringen.
Pflege wie pädagogische Assistenz sind Dienstleistungen, die in einem Falle intim,
im anderen Falle höchst persönlich sind, deshalb auch schnell
grenzüberschreitend oder in die Persönlichkeit eindringend sind. Sie treffen auf
Menschen, die abhängig von Pflege und pädagogische Assistenz sind, die
deshalb leicht verletzbar sind, hoch sensibel für die Signale des Gegenübers und
abhängig von der Sensibilität des anderen, seiner Loyalität und seiner
Zuwendung. Auch auf Grund diese Ungleichheit sind Pflege und Heilpädagogik
so anfällig für Vernachlässigung, für Oberflächlichkeit, für Übergriffigkeit, für
Machtausübung und letztlich für Gewalt.
Unter dem Vorzeichen zunehmender Unterfinanzierung und Ökonomisierung der
Bereiche Pflege und Eingliederungshilfe, unabhängig ob ambulant oder stationär,
spitzt sich die Lage in diesem Sektor immer mehr zu.
„Nur noch wenige Funktionäre der Pflegeszene und Politiker sprechen von
bedauerlichen ‚Einzelfällen’ oder ‚ein paar schwarzen Schafen’. Immer mehr
Pflegekräfte beenden ihr Schweigen, weil sie unter den gegebenen
3
Rahmenbedingungen nicht mehr verantwortlich arbeiten können und dürfen.“6
So die Stimme von Klaus Fussek, einem der jahrelang den Pflegenotstand in der
Bundesrepublik beschrieben hat und mit vielfältigen Aktionen in der Öffentlichkeit
bekannt gemacht hat. Er sagt, er habe in den letzten Jahren 40.000 Beschwerden
aus dem Bereich der Pflege gesammelt.
Und eine andere Stimme:
„Bei dem Thema der zunehmenden Gewalt in der Pflege muss auch von
Gesellschaft und Kultur gesprochen werden. Trotzdem lässt sich Gewalt in den
Pflegebeziehungen nicht nur aus gesellschaftlichen und institutionellen
Umständen ableiten. Gewalt in der Pflege hat viel mit der inneren Realität der
Pflegenden, mit ihren Gefühlen und vor allem mit den Regressionen dieser
Gefühle zu tun.“7 So Katharina Gröning, Pflegeprofessorin aus Bielefeld.
Zwei Stimmen, die das Spektrum umreißen, aber, wie ich finde, beide ihre
Berechtigung haben und zum Nachdenken anregen sollen. Sie kennzeichnen für
mich auch die Pole der Diskussion: Zum einen die äußeren ökonomisch und
politisch bedingten Missstände, die zu entsprechenden Konsequenzen im
Binnenverhältnis von Pflegenden und Pflegebedürftigen führen und die deshalb
Hauptpunkt der Klage sind und zum anderen die eher psychodynamische
Sichtweise, wie unter diesen Verhältnissen die inneren Realitäten und damit die
Qualität der Pflege Schaden nimmt. Wahrscheinlich werden auch in Zukunft alle
Diskussionen über die Frage des „Warums“ und auch der Strategien dagegen
zwischen diesen beiden Polen liegen, aber um keinen wirklich herumkommen.
Mitarbeitende der Pflege und der Pädagogik
Gewalt
als Opfer und Täter von
Im Zentralklinikum in Augsburg gab es 1996 von der damaligen Gewerkschaft
ÖTV, heute verdi, eine interessante Veranstaltungsreihe zum Thema Gewalt am
Arbeitsplatz Krankenhaus.8 Zwei Fragerichtungen wurden dabei verfolgt: Wo bin
ich Opfer? und Wo bin ich Täter?
Opfer von Gewalt sind Mitarbeitende in Pflege und pädagogischer Assistenz
beispielweise durch Kollegenverhalten (Mobbing) oder durch einen Machtkampf
auf Station oder im Wohnhaus. Sie sind aber auch Opfer bestimmter
Verhaltensweisen von Patienten, Bewohnern oder Assistenzempfängern, z.B.
durch
verbale Beschimpfung oder Beleidigung der
pädagogischen Assistenten
Schreien
Schlagen, Beißen, Kratzen, an den Haaren Ziehen
Werfen mit Gegenständen
andere angreifen
Erpressung
6
Pflegenden
oder
Fussek, Klaus, Auch in der Pflege ist die Würde unantastbar, Frankfurter Rundschau vom
29.4.2006, 8
7
Gröning, Katharina, Das zerbrochene Ideal – Über Gewalt in der Pflege, Mabuse 149/2004, 40-43
8
vgl. Schwering, Hildegard; Gewalt am Arbeitsplatz Krankenhaus, Mabuse 149, 2004, 29-32
4
Verweigerung
von
notwendigen
Maßnahmen
(Hygiene,
Alltagsverrichtungen)
Ausspielen des pflegenden oder pädagogisch tätigen Personals
untereinander und
Sexuelle Belästigung der Pflegenden oder pädagogisch Tätigen9
Gewalt und Aggression, die von Mitarbeitenden in Pflege und pädagogischer
Assistenz ausgeht, können folgende Formen annehmen.
Grobe verbale Zurechtweisung, Ansprechen nur mit dem Nachnamen
oder ganz ohne Namensnennung
Unterlassen einer verbalen Kontaktaufnahme,
Körperpflege ohne
Kommunikation
Direkte körperliche Gewalt, wenn Ausführung nach Anweisung zu lange
dauern (Ungeduld, Füttern statt Essen anreichen)
Direkte körperliche Gewalt, wenn Patienten oder Bewohner unruhig sind
Gewaltanwendung durch Unterlassung, z.B. von Toilettenbegleitung oder
Mobilitätsunterstützung
Indirekte Gewaltanwendung durch Macht, z.B. lange warten lassen.
Gewalt durch Vorenthaltung von Information (invasive Diagnostik bei
wehrlosen Patienten, ohne dass diese informiert und tatsächlich
einverstanden sind, Arztbesuche ohne vorherige Aufklärung und
Vorbereitung)
Bewegungs- und freiheitseinschränkende Maßnahmen als Bestrafung oder
als „pflegeerleichternde Maßnahme
Isolierung von Patienten
und auch Legen einer PEG oder Windeln, wenn dies medizinische nicht
indiziert ist
Zwei Anmerkungen zur Abgrenzung:
Zum einen besteht in der Praxis häufig ein Zusammenhang zwischen der Gewalt
und Aggression auf Seiten der Patienten bzw. Bewohner und auf Seiten des
Personals. Pflegend oder pädagogisch Tätige sind dabei oft Opfer und Täter
zugleich. Dabei ist es unerheblich, ob am Anfang ein aggressives Verhalten des
Patienten oder Bewohners stand, weil dieser auf Grund seines
Abhängigkeitserlebnisses, seiner Angst, vielleicht auch seiner Erkrankung selbst
aggressiv oder übergriffig war und die Mitarbeitenden aggressiv geantwortet
haben, oder ob am Anfang ein gewalttätiges Verhalten eines Mitarbeitenden
stand, das sich aus patientenfernen Auslösern speiste und dann beispielsweise zu
verbalen Beleidigungen durch den Patienten führte. In beiden Fällen geht es um
ein
verantwortliches
Verhalten
der
Mitarbeitenden
und
darum
gewaltbegünstigende Faktoren in der Art der Dienstleistungserbringung, der
baulichen und organisatorischen Voraussetzungen, der Kommunikation im Team
der Pflegenden und der gesamten Milieugestaltung zu erkennen und zu
bearbeiten. In jedem Fall helfen Schulungen des Personals in einfachen
Deeskalationsstrategien weiter (siehe unten).
9
U.a. Dirk Richter, Patientenübergriffe auf Mitarbeiter psychiatrischer Kliniken, Freiburg 1999
5
Zum anderen gibt es einen ganzen Bereich gesetzlich erlaubter
Zwangsmaßnahmen. Um diese geht es hier aber nicht, sofern diese eindeutig zur
Abwendung einer Gefahr für andere oder für sich selbst und nach
entsprechender gesetzlicher Genehmigung oder Anordnung durchgeführt
werden, zu der auch gehört, dass weniger invasive Formen der Gefahrenabwehr
nicht möglich sind.10 Allerdings – und hier liegen erhöhte Risiken – gibt es eine
Reihe von Maßnahmen, die ohne gesetzliche Grundlage oder, weil nur kurze Zeit,
unterhalb der gesetzlichen Zulassungsschwellen durchgeführt werden. Hierunter
fallen ruhigstellende Medikamente und mechanische Maßnahmen, insbesondere
körpernahen Fixierungen wie Bauchgurte, etwa im Bett und am Stuhl, aber auch
Bettgitter, Stecktische sowie abgeschlossene Türen. Hier greifen Maßnahmen wie
beispielsweise das von der Bundesregierung geförderte Programm zur
Reduzierung von freiheitseinschränkenden Maßnahmen ReduFix. 11
Das Selbstverständnis der Berufe
Schauen wir nun auf das Selbstverständnis der pflegerischen und pädagogischen
Berufe und darauf, ob darin etwas bezüglich der Thematik Gewalt und
Aggression im Rahmen ihrer Praxis ausgesagt wird.
Pflegen heißt ganz allgemein, für jemanden einstehen und ihn in seinem Weg
unterstützen. Die Definition von Pflege nach Virginia Henderson von 1960 lautet:
„Die einzigartige Aufgabe der Krankenpflege ist es, dem einzelnen, krank oder
gesund, bei der Durchführung jener Tätigkeiten zu helfen, die zur Gesundheit
oder Rekonvaleszenz oder zu einem friedlichen Tod beitragen, die er ohne Hilfe
selbst durchführen würde, wenn er die dazu notwendige Kraft, den Willen oder
das Wissen hätte. Dieses ist auf eine Weise zu tun, die dem Patienten die
schnellstmögliche Wiedererlangung seiner Unabhängigkeit erlaubt“. 12
Auch wenn heute die Pflegewissenschaft allgemein davon ausgeht, dass es nicht
eine einheitliche Definition der Pflege gibt, sondern eine Vielzahl von
Pflegetheorien und ihre Definitionen und dass diese jeweils einen oder mehrere
wichtige Aspekte eines komplexen Gesamtgeschehens beleuchten, so scheint mir
in der frühen Definition von Virginia Henderson doch schon das wesentliche
angelegt: Pflegen ist die Hilfe zu den Handlungen, die der Patient selbst
10
Problematisch in diesem Zusammenhang sind allerdings die Ländervergleiche, die starke
Unterschiede bezüglich Unterbringung und anderen freiheitseinschränkenden Maßnahmen zeigen.
Die Kontrolle der Rechtspraxis (nicht der Rechtsgrundlagen) ist dringend erforderlich, um hier
nicht nur zu einer Vereinheitlichung, sondern auch zu einer Reduzierung auf das gesetzlich
vorgesehene Mindestmaß zu kommen.
11
Das Projekt ReduFix hatte zum Ziel, durch gezielte Interventionen freiheitsbeschränkende
Maßnahmen bei demenzerkrankten Heimbewohnern zu verhindern oder zu reduzieren, ohne dass
es dabei zu negativen Konsequenzen für die Betroffenen kommt. Die Ergebnisse zeigen, dass es
möglich ist, körpernahe Fixierungen ohne negative Konsequenzen für die betroffene Person
dadurch zu reduzieren, dass ein Reflexionsprozess der Betreuende angestoßen wird und praktische
Alternativen zu Fixierungen und anderen Methoden der Freiheitsbeschränkung aufgezeigt werden.
Vgl. Hoffmann, B.; Klie, T. (Hg.) (2004): Freiheitsentziehende Maßnahmen. Unterbringung und
unterbringungsähnliche Maßnahmen in Betreuungsrecht und -praxis. Heidelberg.
12
Zit. nach Lauber, Annette (Hg.), Grundlagen der Pflege, Stuttgart 2001, 8
6
durchführen würde, wenn er dazu fähig wäre und die das Ziel hat, ihn so
unabhängig wie möglich zu machen.
Dieser auf die Selbstbestimmung des Patienten und sein Selbsttätigkeit abzielende
Grundgedanke ist bei aller Verschiedenartigkeit in vielen Pflegetheorien und
Pflegedefinitionen zu finden: nimmt man beispielsweise Hildegard Peplaus Ansatz
der Pflege als interpersonale Beziehung13 oder Strukturkonzepte der Pflegepraxis,
wie das von Dorothea Orem14, wo es um die Unterstützung der
Selbstpflegekompetenz geht. Deutlich wird es auch bei Monika Krohwinkel und
ihrem immer weiter ausgearbeiteten Modell der fördernden Prozesspflege, die sie
in ihrem Strukturmodell der Aktivitäten, Beziehungen und existentiellen
Erfahrungen des Lebens, ABEDL, erfasst und dessen Ziel die Förderung des
Wohlbefindens und die Unabhängigkeit des Patienten ist. 15
Man kann es so zusammenfassen: die verschiedensten Pflegetheorien und
Pflegedefinitionen sind eindeutig klienten-/ patientenorientiert. Sie richten sich an
den jeweiligen individuellen Bedürfnissen des Patienten aus und wollen seine
Eigensteuerung, Selbstkompetenz, Selbsthilfe und Unabhängigkeit, zusammen
gefasst, seine Selbstbestimmung steigern. Negativ kann man aber feststellen,
dass keine dieser Pflegekonzepte und Pflegetheorien ein Verständnis, geschweige
denn ein Instrumentarium dafür hat, wenn diese Orientierung am individuellen
Wohl und größtmöglichen Unabhängigkeit der Patienten nicht praktiziert wird
und stattdessen Vernachlässigung, Machtausübung oder Gewalt den Pflegealltag
bestimmen. Vor allem finden sich auffallend wenige Hinweise auf die
Ungleichheit der Beziehung zwischen dem Pflegenden und dem Pflegeempfänger
und den Umgang mit dieser Ungleichheit, sowie wenig zur Eigensorge der
Pflegenden und damit zu den Faktoren, die maßgeblich für den Komplex
Aggression und Gewalt sind.
Für die Pädagogik (im Bereich der Behindertenhilfe) greife ich auf das Konzept
der Assistenz zurück, das heute in der Heilpädagogik Grundlage ist. Die
Hilfeerbringung zur Sicherung eines teilhabenden Lebens bedient sich in der
Heilpädagogik nicht mehr der Begriffe Versorgung, Betreuung oder Förderung,
sondern des Begriffs der Assistenz, insbesondere des Begriffs der persönlichen
Assistenz. Stand bei dem Begriff Betreuung, mehr noch bei dem Begriff der
Versorgung, das vorgegebene Konzept der Hilfe erbringenden Institution im
Mittelpunkt, so signalisiert der Begriff Assistenz eine Hilfestellung im Sinne und im
Auftrag des Betroffenen, der die Assistenz erhält. Zwar kannte auch schon das
Konzept der Betreuung eine klientenzentrierte Orientierung, der Begriff Assistenz
wird aber verwendet im Sinne von „jemandem nach dessen Anweisungen zur
Hand gehen“ und verdeutlicht damit diesen Aspekt der Klientenzentriertheit im
Sinne der Verwirklichung der Selbstbestimmung.
13
Vgl. Straub, Christian (2003): Die Pflegetheorie der zwischenmenschlichen Beziehung von
H.E.Peplau und ihre Bedeutung für die Pflegepraxis in der Psychiatrie, München u.a.: Grin
14
Dennis, Connie M. (2001): Dorothea Ohrem: Selbstpflege und Selbstpflegedefizit-Theorie, Bern
u.a.,: Huber
15
Krohwinkel, Monika (2007): Rehabilitierende Prozesspflege am Beispiel von Apoplexiekranken
– Fördernde Prozesspflege als System. Entstehung, Entwicklung und Anwendung, Bern
u.a.:Huber.
7
Zur Assistenz gehört also Ermutigung, Selbstaktivierung und Förderung der
Selbstbestimmung, aber eben auch Sicherheit und Schutz für ein Leben
mittendrin und für ein Vertrauen auf die eigenen Fähigkeiten.
Die Gefahren des Assistenzansatzes bestehen darin, dass der Begriff technisiert
und instrumentalisiert wird und tatsächlich im engeren Sinne von „Assistent“ als
untergeordneter Hilfetätigkeit oder Rücknahme der persönlichen Verantwortung
missverstanden wird. Stets muss das Konzept ergänzt werden um den für die
Praxis so wichtigen Gedanken der Kontaktgestaltung, auf den Respekt vor der
jeweils anderen Person und auf die Achtsamkeit bezüglich ihrer Bedürfnisse,
insbesondere auch ihrer Schutzbedürfnisse. Das Assistenzkonzept selbst enthält
keine ausreichenden Antworten auf die Frage des Umgangs mit der Ungleichheit
von Assistenzgeber und Assistenzempfänger, es bietet wenig an für die innere
Haltung und Unterstützung der Assistierenden , wenn diese mit Stress und
Belastung konfrontiert sind.
Erklärungen für Gewalt und Aggression in Pflege und Pädagogik
Kommen wir jetzt zu der Frage der Genese von Vernachlässigung,
Machtausübung und Gewalt in der Pflege und Pädagogik .
Die verhaltenspsychologische Erklärung besagt: aus Frustration folgt
Aggression. Das kann sowohl die Mikroebene, Patient – Pflegekraft, betreffen,
beispielsweise wenn der Patient stärker pflegeabhängig ist oder längere Zeit für
Handlungen in Anspruch nimmt, als ich vorher angenommen habe oder ich ihm
zubilligen will oder auch kann. Dies kann aber auch die Makroebene betreffen:
ich bin frustriert über den gesamten Umstand der Organisation meines Berufes,
werde zunehmend aggressiv auf die Verhältnisse, insbesondere auf die Patienten.
Der Vorteil dieser Erklärung ist sicherlich, dass sie eingängig und griffig ist. Der
Nachteil, dass sie viele Phänomene nicht wirklich erklären kann. Für einen
unmittelbaren Zusammenhang einer frustrierenden Situation, auch einer
angestauten, oder einer schwierigen Anweisung als Auslöser und einer
aggressiven Übergriffigkeit auf einen Patienten als Folge mag dieses
Erklärungsmuster ausreichen, für länger anhaltende Grundhaltungen, die sich in
verschiedensten Formen dann auswirken, oder für überlegte Machtausübungen
ist sie nur bedingt gebrauchsfähig. Es kommen immer noch andere Faktoren
hinzu, warum jemand aufgrund einer frustrierenden Ausgangssituation in einer
bestimmten Situation dann übergriffig und aggressiv wird.
Eine zweiter Ansatz, die psychosoziale Erklärung, ist für die heutige
Auseinandersetzung sehr viel zielführender: Überlastung / Stress führt zu
Beziehungsverlust. Arbeitsüberlastung, Zeitknappheit oder auch inhaltliche
Überforderung in bestimmten Situationen, führt zu Stress, zu Oberflächlichkeit
und dazu, dass Patienten zu Nummern werden, zu Fällen, die abgearbeitet,
abgehakt und dokumentiert werden müssen. Ein Großteil der Unachtsamkeiten,
Lieblosigkeiten oder auch Pflegefehler, unter die ich auch Magensonden und
Windeln ohne strenge Indikation zählen würde, sind unter diesem
Erklärungsmuster zusammenzufassen. Wenn der Patient eine Nummer ist, wenn
Frau Müller nicht mehr eine 80jährige Dame ist mit einem langen Leben, die zwei
Kriege mitgemacht hat und am Aufbau der Bundesrepublik verdienstvoll beteilgt
8
war, sondern eine widerspenstige alte Patientin, die nur Mühe macht, dann wird
auch das Legen einer Magensonde bei Schwierigkeiten beim Essen zu einer
emotionslosen Angelegenheit, die einfach mal durchgeführt werden kann, ohne
dass sich das Gewissen meldet.
Der Vorteil dieses Erklärungsansatzes ist, dass er sicherlich vieles berührt, was den
heutigen Pflegealltag prägt. Ein weitere Vorteil ist auch, dass ein Ziel darin
deutlich wird, nämlich dass eine Beziehung zum Patienten wesentlich ist und,
wenn verloren gegangen, wieder herzustellen ist. Der Nachteil ist aber, dass diese
Erklärung natürlich leicht auch zur Ausrede verkommen kann und häufig
tatsächlich dazu verkommt, selber an sich zu arbeiten und auch in widrigen
Verhältnissen dennoch eine möglichst hohe Qualität zu wahren.
Kommen wir zur dritten möglichen Erklärung, der tiefenpsychologischen
Erklärung.16 Diese besagt, aus Hilflosigkeit, Selbstabwertung und Scham wird
eine Betäubung des Gewissens. Am Anfang steht häufig eine Selbstabwertung,
die sich aus der Arbeitssituation ergibt („Ich mach hier die Drecksarbeit“ oder „Ich
bekomme hier die hoffnungslosen Fälle“). Die tiefenpsychologische Antwort
darauf ist die eigene Scham, der Selbstbezug dieser Bewertung („Ich bin auch
dreckig.“, „Meine Arbeit ist auch hoffnungslos“). Wesentlich ist ebenso ein
verletztes Gerechtigkeitsgefühl, nicht nur zuwenig Geld für diese Arbeit zu
bekommen, sondern, dass die Arbeit nicht gesehen wird, nicht gewertschätzt
wird, nicht positiv verstärkt wird und dass man letztendlich allein gelassen wird.
Es folgt die Leugnung von Ohnmacht und Hilflosigkeit, die sich häufig auch darin
äußert, dass Betroffene Supervision ablehnen oder die Öffnung gegenüber
Kollegen unterlassen, weil sie dies als persönliche Schwäche sehen. In dieser
Situation sprechen die Tiefenpsychologen von der Gefahr, dass das eigene
Gewissen betäubt wird, also eine Auflehnung gegen moralische Verpflichtungen
stattfindet, die sich zunächst in Sprachfloskeln äußern könne, wie „Ich bin froh,
dass der Patient gestorben ist“ oder „Er hat es nicht anders verdient“. Man kann
auch sagen, dass ein tiefes Ressentiment gegenüber dem Patienten entsteht, dass
dieser schlecht, unsauber, des Lebens nicht wert sei und dass dieses Ressentiment
der Reflexion, der Kommunikation und der Kritik verschlossen ist.
Eine besondere Bedeutung hat der tiefenpsychologische Erklärungsansatz für den
Akt der am meisten zugespitzten Gewalt in der Pflege, für die Krankentötungen,
wie sie in den letzten Jahren in der Psychiatrie oder auch in Altersheimen immer
wieder vorgekommen sind. Ohne hier auf Einzelheiten eingehen zu können,
möchte
ich
in
diesem
Zusammenhang
erwähnen,
dass
Arbeitsüberlastungssituationen als nicht ausschlaggebend für die Täter angesehen
wurden, sondern viel mehr ihre besondere Isoliertheit im Team, ihre
Überforderung mit der Situation, ihre persönliche Selbstunsicherheit, kombiniert
mit einem Verlust der beruflichen Identifikation und der Verleugnung der eigenen
Hilflosigkeit.17
16
Hier greife ich auf die Arbeit von Katharina Gröning, zurück, vgl. FN 7
Beine, Karl-Heinz (1998):Sehen, Hören, Schweigen – Krankentötungen und aktive Sterbehilfe,
Freiburg: Lambertus
(Darin 28 Fallgeschichten von Krankentötungen zwischen 1953 und 1993 durch Ärzte und
Pflegende, überwiegend aus dem deutschsprachigen Raum; wichtiges Ergebnis einer auch in dieser
Aufarbeitung enthaltene Befragung: je besser ausgebildet, je älter und je zufriedener mit dem Beruf
desto mehr wird aktive Tötung abgelehnt. Junge Mitarbeitende unter 30 Jahren, die unzufrieden
mit ihrer Berufssituation sind, befürworten die aktive Krankentötung bis zu 60%.)
17
9
Keine der drei Entstehungshypothesen kann Gewalt in der Pflege und Pädagogik
wirklich vollauf befriedigend und abschließend erklären. Hier wäre ein weites
Gebiet
für
zukünftige
Forschungen
und
Theoriebildungen
der
Pflegewissenschaften und der Heilpädagogik. Solange dies aber nicht der Fall ist,
können vielleicht alle drei Ansätze Beachtung finden und jeweils für die Praxis
herangezogen werden. In jedem Ansatz sind verwertbare Anteile enthalten.
Schritte gegen Gewalt und Aggression in der Pflege und Pädagogik
Zu unterscheiden sind hierbei institutionsbezogene, strukturelle Strategien und
mitarbeiterbezogene, personale Strategien.
Bei den strukturbezogenen Strategien unterscheide ich drei Ebenen:
Risikofaktoren in Teamsituationen erkennen und abbauen
Fragen hierzu sind:
• Gibt es auffallende Unstimmigkeit im Team (Vorwürfe, Sanktionen
untereinander?
• Werden die Dinge ausreichend im Team besprochen?
• Kommen dabei alle zu Wort?
• Werden bestimmte Personen an den Rand gedrängt, nicht Ernst
genommen, gemobbt?
• Gibt es angstbesetzte Hierarchien?
• Gibt es ein feindseliges und explosives Klima und
• Gibt es Überlastung en einzelner oder des Teams?
Empfehlungen hierzu wären:
• Regelmäßige Besprechungen,
• Anleitung/Supervision der Besprechungen,
• Protokolle aller Besprechungen
Risikofaktoren in der Kommunikationsstruktur erkennen und abbauen
Fragen hierzu sind:
• Wer hat was mit wem zu welchem Zeitpunkt zu kommunizieren?
• Sind diese Wege und Regeln allen hinlänglich bekannt?
• Welche sanktionsfreien Wege gibt es für den Einzelnen, sich zu
beschweren oder seine Schwächen/Überforderungen zu besprechen?
• Wie werden Gewaltvorkommnisse dokumentiert?
Empfehlungen hierzu wären:
• klare Kommunikationsstrukturen und klare Dokumentationsvorgaben
• Benennung von unabhängigen Ansprechpartnern außerhalb der
Hierarchien (für erlebte oder berichtete Gewalt, für Besprechung eigener
Schwächen oder Fehler)
10
• Verbindliche Richtlinie zur Dokumentation von Gewaltvorkommnissen
Risikofaktoren im Bereich Aufgaben- und Auftragsklarheit erkennen und
abbauen
Fragen hierzu sind:
• Sind den Mitarbeitenden die jeweiligen Aufgaben ihrer Stelle ausreichend
klar?
• Sind diese transparent?
• Sind die ethischen Grundlagen der Institution klar (Leitbild)?
• Sind das Ziel und der Auftrag der Institution klar und eindeutig?
Empfehlungen hierzu wären:
• Stellenbeschreibungen
• Leitbild
• Qualitätsstandards
Ein wesentlicher Teil der mitarbeiterbezogenen Strategien besteht natürlich in
spezifischen Schulungen, insbesondere Trainings in Deeskalationsstrategien,
die Mitarbeitenden neben theoretischem Wissen auch Schutz und Sicherheit
durch körperliche Übungen geben. Von diesen will ich insbesondere die RADARMethode von Leo Regeer, die Dialog orientierte Krisenintervention DOKI nach
Carlos Escalera und das Professionelle Deeskalationsmanagement ProDeMa von
Ralf Wesuls vorheben.
Das Aggressionsmanagement RADAR18, bei der das frühzeitige Erkennen und das
situativ angemessene konfliktbegrenzende und kommunikationskompetente
Verhalten der Assistenzbringenden im Mittelpunkt steht. RADAR bedeutet:
Registrierung, Aggression, Diagnostik, Analyse, Risiken und deutet damit schon
daraufhin, dass das Erkennen und Einordnen verschiedener Konfliktsituationen
eine zentrale Bedeutung hat. Die Radar-Methode unterscheidet drei Niveaus
aggressiven Verhaltens: agitiertes Verhalten, verbal/psychisches Verhalten und
physisch gewalttätiges Verhalten, die genau zu beobachten und einzuschätzen
sind. Daneben gibt es eine Kategorie des „assertiven Verhaltens“, was sich auf die
Assistenzbringenden selbst bezieht, auf ihre Ressourcen und Selbsterfahrung.
Sicherheitstechniken werden nach der Methode CFB (Kontrolle und physische
Beherrschung) geübt und sind stark an Methoden der Selbstverteidigung
angelehnt.
Die Dialog Orientierte Krisenintervention19 ist ein Interventionskonzept, das die
zwischenmenschliche Kommunikations-gestaltung zwischen Patient/Bewohner
und Assistenzgebenden zur Herstellung von Sicherheit und Minimierung von
Verletzungen in den Mittelpunkt stellt. Mit körperlichen Übungen zur inneren und
18
19
Vgl. www. radarmethodregeer.com
Vgl. www.beratungszentrum-alsterdorf.de/cont/WasistDoki.pdf
11
äußeren
Kraft
werden
Sicherheit
im
Auftreten,
aber
auch
aggressionsbegrenzende Interventionsformen geübt, die den Assistenten
Handlungssicherheit geben und Patienten/Bewohner nicht verletzen.
Bei dem Professionellen Deeskalationsmanagement20 werden sechs
Deeskalationsstufen unterschieden, die neben der Prävention der Entstehung von
Gewalt und Aggression, der Veränderung der eigenen Sichtweisen und
Interpretationen von aggressiven Verhaltensweisen und dem Verständnis der
Ursachen auch kommunikative Deeskalationsmethoden im direkten Umgang mit
hoch angespannten Patienten, patientenschonende Abwehr- und Fluchttechniken
und Immobilisationstechniken sowie die nachsorgende Betreuung von Opfern der
Gewalt enthalten. Ähnlich wie die Dialog Orientierte Krisenintervention grenzt
sich
auch
das
Professionelle
Deeskalationsmanagement
von
Selbstverteidigungsmethoden streng ab, weil es bei den körperlichen Methoden
beider Methoden immer um die Deeskalation und Aggressions- und
Verletzungsverhinderung geht.
Ebenso wichtig, ja geradezu unverzichtbar sind darüber hinaus ethisch
fundierende Fortbildungen, in denen die jeweils eigene n, im Alltag
entwickelten, oft eskalationsunterstützende Standards offengelegt und
hinterfragt werden, und berufsethische Standards, die möglicherweise noch aus
der Ausbildung bekannt oder erinnerlich sind, dagegen gesetzt werden, und in
ein integratives Konzept moderner Care-Ethik überführt werden. Gerade bei den
kommunikationsbezogenen Deeskalationstrainings kommt es immer wider darauf
an, dass der einzelne Handelnde seine eigenen Ressourcen und seinen eigene
Position hinterfragt und festigt. Dies ist auch eine Aufgabe der Fortbildung..
Eine ethische Basisschulung in diesem Sinne sollte zunächst immer die im
Berufsalltag erworbenen oder wenig bewusst angeeigneten eigenen Standards
zum Ausgangspunkt nehmen.
In der Pflege könnten dies sein:
Der ästhetische Standard: alles muss schön ordentlich sein.
Der hygienische Standard: alles muss hygienisch sein.
In der Heilpädagogik könnte dies sein:
Der Leistungsstandard: alles muss aus dem Bewohner „herausgeholt werden
(„Fordern statt fördern/Entwicklung begleiten“).
Wie gezeigt, postulieren dagegen sowohl die Pflege, wie auch die Heilpädagogik
eine an der Selbstbestimmung und Selbstentwicklung der Klienten orientierte
Grundhaltung, die so zusammengefasst und gegen entsprechende
kontraproduktive Alltagsstandards gesetzt werden kann: der Patient/Bewohner
soll erleben, dass er wertgeschätzt wird, dass ihm vertraut wird, seinen eigenen
Weg zu finden und selbst noch etwas beitragen kann.
Zur Fundierung dieses Standards bedarf es aber eine Ethik, die, wie erwähnt,
neben den Grundrechten der Assistenzempfangenden auch die Ungleichheit der
Beziehung zwischen Assistierten und Assistenten und die innere Positionierung
20
Vgl.www.prodema-online.de
12
der Assistenten selbst, ihre Fragen an sich selbst und ihr Selbstverständnis
thematisiert. Hierzu greife ich auf das Konzept der sich langsam in Pflege und
Heilpädagogik durchsetzenden Care-Ethik zurück.
Ethische Fundierung der Beruflichen Ethiken von Pflege und
Heilpädagogik: Die Care-Ethik
Die Care-Ethik21 kann als wichtige Untermauerung, teilweise auch als Korrektiv für
die Konzepte der Selbstbestimmung und Selbstpflege in der Assistenzerbringung
angesehen werden. Die in den USA entstandene Care-Ethik ist eine integrative
Ethik der sozialen Arbeit, die die zentralen Aspekte einer dem Assistenzempfänger
zugewandten Care-Perspektive, im Sinne von Sorge und Achtsamkeit, in den
Gesamtrahmen von Menschenwürde und Selbstbestimmung einbindet. Sie ist aus
der feministisch beeinflussten Kritik daran entstanden, dass die Bereiche der
Sorge und der Pflege üblicherweise den Bereichen des Privaten, des Gefühls, des
Religiösen und rollenmäßig meist der Frau zugewiesen werden.
Der englische Begriff „care“ lässt sich im Deutschen nicht mit einem Wort
übersetzen. „Care“ umfasst die ganze Bandbreite an Bedeutungen die die
wechselseitige Beziehung zwischen hilfebedürftiger und assistierender Person
kennzeichnen, von mitmenschlicher Zuwendung, Anteilnahme und Ermutigung
über anleitende Assistenz und Sorge bis hin zur Versorgung und
Verantwortungsübernahme für den Anderen.
Im Mittelpunkt der Betrachtung steht die besondere Qualität der Beziehung in
Abhängigkeitsverhältnissen. Plädiert wird auch dafür, den Begriff der
Abhängigkeit, der sonst mit Fremdbestimmung assoziiert wird, zu
entstigmatisieren und als „wertneutrale Eigenschaft der menschlichen
Gegebenheit“ zu interpretieren, die in unterschiedlichen Lebensphasen, sowie bei
Krankheit oder Behinderung mehr oder weniger intensiv ausgeprägt ist und mit
Selbstbestimmungspotenzialen vereinbar ist.22
Der Mensch wird als selbstbestimmungsfähiges, aber auch stets verletzliches und
auf andere angewiesenes Wesen gesehen. Der Care-Giver ist ein Gebender und
ein Nehmender zugleich. Die amerikanische Politikwissenschaftlerin Joan Tronto,
eine der Begründerinnen der Care-Ethik, benennt vier Kriterien für die innere
Haltung des Care-Gebers, die mühelos als Kriterien einer guten Assistenz
verstanden werden können:
• attentiveness (Aufmerksamkeit) – schließt Offenheit und Zugewandtheit
ein und ist abzugrenzen von Überidentifikation auf der einen Seite und
Ignoranz auf der anderen Seite
• responsibility (Verantwortlichkeit) – Bereitschaft, die Sorge für andere zu
übernehmen
21
Eine gute Einführung und Darstellung der Care Ethik im deutschen Sprachraum bietet: Conradi,
Elisabeth (2008): Kosmopolitische Zivilgesellschaft. Wandel zur Weltgesellschaft durch
gelingendes Handeln, Göttingen
22
Kittay, E.F.(2006): Die Suche nach einer bescheideneren Philosophie: Mentalen Beeinträchtigungen
begegnen - herausfinden, was wichtig ist, www.imew.de/IMEW-Preis/IMEW Preis 2006
13
•
•
competence (Kompetenz) – Bereitschaft zu lernen, eigene Grenzen zu
erkennen, abgeben zu können, professionelle Hilfe da einzusetzen, wo sie
notwendig sind
responsiveness (Empfänglichkeit) – Bereitschaft, „sich berühren zu lassen“,
ohne zu verschmelzen, in Abgrenzung zu übergriffiger Fürsorge.23
In der deutschen Debatte wird diese Haltung im Begriff der Achtsamkeit
aufgegriffen. Der Begriff der Achtsamkeit kann als Grundhaltung definiert
werden, die Verbundenheit aller Menschen miteinander zu erkennen, als ein an
Bedürfnissen orientierter Kontakt und als sorgende Aktivität auch bei Ungleichheit
der Kommunikationspartner. Darüber hinaus setzt Achtsamkeit auch die Einsicht
voraus, dass Menschen füreinander von unermesslicher Bedeutung sind und erst
dadurch der Mensch zu dem wird, was er ist. Das Gebot der Achtsamkeit bietet
auch eine verlässliche Grundlage für die Befolgung des eingangs erwähnten
ethischen Imperativs der Pflege und Pädagogik.
Greift man diese Grundgedanken zur Weiterentwicklung der Rolle pflegend und
pädagogisch Assistierender auf, ergeben sich interessante Perspektiven. Das
Assistenzmodell distanziert sich mit Recht von alten Auffassungen des über den
Hilfeempfängern stehenden Helfenden, aber auch von inneren Haltungen der
Aufopferung und Entsagung. Der bloße Ersatz der alten kustodialen Haltungen
durch eine Servicementalität ist jedoch eine dem Assistenzmodell innewohnende
Gefahr. Die Care-ethischen Betrachtungen zur Ungleichheit von Care – Geber und
Care – Empfänger und zur lernenden Beziehung zwischen beiden könnte einen
neuen Impuls für das Verständnis der pflegerisch und pädagogisch Assistierenden
geben. Achtsame und empfängliche Wahrnehmung des „So-Seins“ des Anderen
und verantwortliche und kompetente Beziehungsgestaltung bei der
Hilfeerbringung sollten als Bestandteile einer guten Assistenz verstanden werden
und helfen, den manchmal beobachtbaren Trend zu überwinden, Assistenz mit
einer kontaktentleerten Service-Einstellung die Konfliktsituationen mit Gewalt
und Aggression gegenüber vollkommen hilflos ist, gleichzusetzen.
Care im Sinne einer achtsamen Zuwendung zum jeweils Anderen ist für den
Aggressions- und Gewaltkonfliktfall eine gute Grundlage, auch in solchen
Situationen bedacht, professionell und vor allem den Kontakt haltend zu
reagieren.
„Don’t turn away from someone in need“24 sagt die US- amerikanische
Psychologin und feministische Ethikerin Carol Gilligan, ein Satz, der auch
bedeutet, dass ein Assistenzempfangender, der gewalttätig ist und aggressiv ist
als ein Gegenüber erkannt wird, das sich in einer Not befindet und wir uns von
ihm – bei allen Schwierigkeiten – nicht abwenden dürfen.
23
Tronto, Joan (1993): Moral Boundaries. A Political Argument for an Ethics of Care, New York - London,
127 ff
24
Carol Gilligan (1988): Mapping the Moral Domain, Cambrigde/Massachusetts
14
Michael Wunder
geb. 1952,
Dr. phil.,
Dipl.-Psychologe und psychologischer Psychotherapeut,
Leiter des Beratungszentrums der Evangelischen Stiftung Alsterdorf in Hamburg für Menschen mit
Behinderung und ihre Zugehörigen
Leiter der Rumänienhilfe Alsterdorf, eines Entwicklungshilfe-Projektes der Behindertenhilfe und
Psychiatrie in Rumänien
Autor zahlreicher Beiträge zur Medizin im Nationalsozialismus, Behindertenhilfe, Biomedizin und
Bioethik
Mitglied der Enquete-Kommission "Ethik und Recht der modernen Medizin" in der 14. und 15.
Legislaturperiode im Deutschen Bundestag
Mitglied des Deutschen Ethikrates
Korrespondenzadresse:
Evangelische Stiftung Alsterdorf
Beratungszentrum Alsterdorf
Paul-Stritter-Weg 7
22297 Hamburg
Tel: + 49 – 40 – 50773566,
Fax: + 49 – 40 – 50773777,
e -mail: m.wunder@alsterdorf.de
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