Anfang oder Ende der Koedukation?
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Anfang oder Ende der Koedukation?
Persönlich Tribune Anfang oder Ende der Koedukation? Gemeinsamer Unterricht für Mädchen und Knaben, nach dem gleichen Lehrplan - diese Forderung war für mich seit Jahrzehnten eine Selbstverständlichkeit. Folgendes Gespräch mit Mariana Christen zeigt, dass diese Haltung zu überprüfen und zu differenzieren ist! Wt Ich selber bin noch in reinen Knabenklassen zur Schule gegangen und meine Altersgenossen haben als junge Lehrer für die Einführung der Koedukation gekämpft. Sie wurde eingeführt - und steht nun offenbar wieder zur Diskussion? Mit der Einführung des gemeinsamen und fächergleichen Unterrichts für Mädchen und Knaben glaubte man, dass der Schlussstrich unter die Koedukationsdebatte gezogen sei. In Fachkreisen bestand ein Konsens darüber, dass mit der rein formalen Gleichsetzung die Problematik der Chancengleichheit von Mädchen im Bildungsbereich gelöst sei. Die Koedukationsforschung hat nun aber gezeigt, dass der koedukative Unterricht trotz vermeintlicher Gleichbehandlung tendenziell auf die Bedürfnisse und Interessen der Knaben zentriert ist und die Mädchen so weiterhin benachteiligt werden. Zudem haben Untersuchungen aus verschiedenen Ländern belegt, dass Mädchen aus reinen Mädchenklassen ein stärker ausgeprägtes Interesse an sogenannt «männlichen» Fächern - etwa Mathematik oder Informatik - aufweisen. Entsprechend besser sind denn auch ihre Leistungen in diesen Fächern. Wo Hegen die Vorteile des koeduzierten Unterrichtes? Die Ausdehnung gewisser bis dahin den Knaben vorbehaltenen Bildungsmöglichkeiten hat zu einem deutlichen Anstieg der Bildungsbeteiligung von Frauen geführt. Gewisse Fächerbereiche oder Berufsfelder wurden auch für die MädSGAB SRFP Panorama chen zugänglich, die früher aufgrund der geschlechtsspezifischen Ausbildungsgänge gar nicht im Bereich des Möglichen lagen. Bei der Berufsbildung zeigte es sich, dass die Frauen in zunehmendem Masse die Chance ergreifen, ein Diplom zu erwerben. Wobei allerdings nicht zu übersehen ist, dass die Berufswahl noch stark von den tradierten Vorstellungen der Geschlechter geprägt ist. Wir sind hier erst am Anfang. Grundsätzliches Ziel sollte es sein, dass Mädchen und Knaben das ganze Spektrum ihrer sozialen, emotionalen und intellektuellen Fähigkeiten ohne Einschränkung oder Benachteiligung entwickeln können. Welche Nachteile hat denn die Koedukation? Ursprünglich glaubte man, dass mit der Einführung des koeduzierten Unterrichts das Phänomen der Geschlechterpolarisierung aufgehoben würde. Die Forschung hat nun aber gerade das Gegenteil aufgezeigt. Schülerinnen und Schüler fassen die Anwesenheit des anderen Geschlechts gleichsam als Appell auf, die eigenen geschlechtstypischen Rollenstereotypen zu betonen und die übrigen weitgehend ans andere Geschlecht zu delegieren. Mädchen verhalten sich in gemischten Klassen «weiblicher» und Jungen «männlicher» als in reinen Mädchen- bzw. Knabenschulen. Massgeblich unterstützt wird diese rollenstereotype Entwicklung durch den sogenannt «geheimen Lernplan», der in der Bildungsforschung in den letzten Jahren vermehrt in den Blickpunkt gerückt ist. 20 Können Sie konkretisieren^ was unter dem «geheimen Lernplan» in diesem Zusammenhang zu verstehen ist? Eine von der EDK in Auftrag gegebene Analyse macht überdeutlich, dass in unseren Schulen auf der Ebene des unbewussten Lernens nach wie vor betont rollenstereotype Inhalte vermittelt werden und das Interaktionsverhalten zwischen Lehrpersonen und Lernenden eindeutig geschlechtsspezifisch geprägt ist. Bei den Lehrmitteln, die zur Zeit der Untersuchung - vor zwei Jahren - im Gebrauch waren, konnte nicht ein einziges ausgewogenes Beispiel gefunden werden. Wenn sich also die Geschlechter während der Schulzeit mehr und mehr polarisieren, so kommen wir nicht umhin zu sagen, dass die jungen Leute ihre Lektion gut gelernt haben. Heisst das nichtf dass die Koedukation wieder abgeschafft werden sollte? Bei den Diskussionen in der Öffentlichkeit wird die Komplexität des Koeduaktionsproblems sehr oft grob vereinfacht Nr. 29 / Oktober / Octobre 1994 Persönlich Tribune dargestellt und im Stil eines schwarz-weiss Schemas auf zwei Positionen reduziert: Das Festhalten an der Koeduaktion im Sinne des Status quo auf der einen, die erneute Umstellung auf geschlechtergetrennte Klassen auf der anderen Seite. Diese verkürzte Form der Betrachtungsweise zeigt aber keine weiterführenden Perspektiven. Ein Rückgriff auf das alte System des geschlechtergetrennten Unterrichts wäre meiner Einschätzung nach gar nicht durchführbar. Das Rad der Geschichte lässt sich nicht zurückdrehen. Ebensowenig aber sind mit der Einführung der formalen Koeduaktion die Probleme der gleichen Bildungschancen für Mädchen und Knaben gelöst, im Gegenteil, nun beginnen sie eigentlich. Heute geht es darum, das nachzuholen, was bei der Einführung der Koedukation versäumt worden ist: eine vertiefte Auseinandesetzung mit den gewachsenen Strukturen, den gesellschaftlichen Wertvorstellungen und den angebotenen Lerninhalten. Können Sie das an einem Beispiel erläutern? Besonders im Bereich der naturwissenschaftlich-mathematischen Fächer zeigen Mädchen deutlich schlechtere Leistungen in gemischten Klassen als in reinen Mädchenschulen. Es wäre nun naheliegend, aufgrund dieser Benachteiligung der Schülerinnen wieder zum geschlechtergetrcnnten Unterricht zurückzukehren. Neuere Untersuchungen zeigen nun aber auch andere Wege auf. So ist nachgewiesen worden, dass die Herstellung eines konkreten Gesellschaftsbezugs im Bereich der Naturwissenschaften ein erhöhtes Interesse und eine grössere Motivation bei den Mädchen zur Folge hat. Es geht also letztlich darum, die Rahmenbedingungen des Unterrichts und die vermittelten Lerninhalte kritisch zu reflekSGAB SRFP Panorama 1 tieren und zu verändern. Hier sehe ich eine Chance für eine innovative Bildungsentwicklung. Welche Kreise setzen sich denn heute für Alternativen zur Koedukation ein? Im Zusammenhang mit der Koedukationskritik in den 80er Jahren wurde vor allem von feministischen Wissenschaftlerinnen wieder die Einführung von geschlechtergetrenntcm Unterricht diskutiert. Obwohl die Mädchen und jungen Frauen in verschiedener Hinsicht klar benachteiligt werden, besteht heute aber weitgehend ein Konsens: Die Koedukation soll nicht aufgehoben werden. Vielmehr soll es in einem koedukativen Unterricht darum gehen, die Defizite beider Geschlechter zu reflektieren. Bei den Knaben liegen sie vor allem im Bereich der sozialen Kompetenzen. Gegenüber den Mädchen zeigen sie weniger Einfühlungsvermögen oder kooperatives Verhalten und sind oft für Störungen des Unterrichtsablaufcs verantwortlich. Gerade im Bereich der Berufsbildung, bei der es je nach Berufsfeld reine Knabenklassen gibt, wird das Dominieren von Konkurrenz und Einzelkämpfertum von den Lehrkräften sehr oft als schwierig erlebt. Hier gilt es, die Sozialkompetenz der Knaben zu fördern. Sie haben die Berufsbildung erwähnt, die uns speziell interessiert. Hier liegt insofern eine besondere Situation vor, als sich bei der Berufswahl die Geschlechterpolarisierung ja nach wie vor überdeutlich zeigt und damit die Berufsbildung wesentlich prägt. Ganz grundsätzlich scheint es mir aber trotz dieser Ausgangssituation von «Frauen- und Männerdomänen» wichtig, dass sich auch die Berufsbildung dieser Thematik stärker als bis anhin annimmt. 21 Den jungen Menschen soll es möglich werden, durch rollenüberschreitende Erfahrungen zu ihnen entsprechenden, vielfältigeren Denk- und Handlungsweisen zu finden. So gehört die Reflexion des Berufsbildes auf dem Hintergrund gesellschaftlicher Rollenerwartungen in jeder Berufsbildung thematisiert. Gibt es Versuche und Erfahrungen zum getrenntgeschlechtlichen Unterricht? Versuche mit vorübergehend geschlechtergetrenntem Unterricht zeigen im allgemeinen positive Effekte, indem sie auf eine Abschwächung geschlechtsstereotyper Verhaltensweisen und Einstellungen hinwirken. Ich halte die punktuelle oder projektbezogene Bildung von geschlechtshomogenen Gruppen im Lernprozess für begrüssenswert, würde es aber als fatal einschätzen, wenn dieses Splitting entlang von Fächern oder Arbeitsinhalten passieren würde, also wieder strukturell verankert wäre. Ich wünschte mir eine sensibilisierte WahrKoedukation Unter Koedukation wird der gemeinsame Unterricht von Mädchen und Knaben verstanden, der anhand eines für beide Geschlechter gleichermassen gültigen Lehrplanes durchgeführt wird. Eine lediglich formale Auffassung von Koedukation reicht jedoch nicht aus, um die bildungsmässige Chancengleichheit der beiden Geschlechter tatsächlich zu gewährleisten. Deswegen wird von der Koedukationskritik eine «reflexive Koedukation» gefordert, in der die unterschiedlichen Lebenserfahrungen von Mädchen und Knaben explizit mitberücksichtigt werden, um beiden Geschlechtern eine vielseitige und gleichberechtigte Persönlichkeitsentwicklung zu eröffnen. Hierzu sind organisatorische und inhaltliche Reformen notwendig, da in der bisherigen Unterrichtsgestaltung die Interessen und Bedürfnisse der Mädchen zu wenig beachtet und gleichzeitig die sozialkommunikativen Defizite der Knaben nicht angemessen reflektiert worden sind. Nr. 29 / Oktober / Octobre 1994 Persönlich Tribüne nehmung und Flexibilität der Lehrkräfte, um spezifisch auf die jeweilige Situation eingehen zu können und adäquate Formen und Lösungen zu finden. Es gibt keine allgemeingültigen Rezepte. Ich bin mir aber auch bewusst, dass damit hohe Anforderungen an die Lehrkräfte verbunden sind. Diese Herausforderung, so meine ich aber, lässt sich durchaus lustvoll und mit beruflichem und persönlichem Gewinn umsetzen und ich hoffe, dass ich hier als Koordinatorin für Weiterbildung in Zusammenarbeit mit ausgewiesenen Fachleuten - durch das Kursangebot «Die Zukunft der Geschlechter» einen Beitrag leisten kann. meint sie, eine Schule ohne diese Knaben... Sie sehen also: auch in meinem biographischen Zusammenhang wird die Komplexität der Koedukationsproblematik deutlich. Zur Autorin Kantonales Lehrpatent, 3jährige Unterrichtserfahrung an der Oberstufe. Studium der Geschichte mit Schwerpunkt in Sozial-, Wirtschafts- und Geschlechtergeschichte an der Universität Zürich, lie. phil. I. Diplomausbildung «Supervision-Praxisberatung-Organisationsentwicklung» am Institut für Angewandte Psychologie Zürich. Koordinatorin für Weiterbildung an der Universität Zürich: Projekt «Die Zukunft der Geschlechter» (Auskunft und Anmeldung: 01 257 36 67). Das Interesse an einer bestimmten Fragestellung hat ja oft mit der eigenen Biographie zu tun. Welche Erfahrungen haben Sie selber mit Koedukation gemacht? Beim Thema Koedukation habe ich ebenso wie Sie teilweise die Erfahrung einer geAdresse: Institut für Sozial- und Wirtschaftsschlechtergetrennten Bildung geschichte. Rämistr. 64, 8001 Zürich gemacht. Ich war aber, soweit ich das rückblickend beurteilen kann, gar nicht rundherum glücklich. Obwohl ich den FreiRésumé raum einer reinen Mädchenschule genossen habe, ist mir Coéducation: le début ou la doch das «Spienzeln» nach den fin? Knabenschulen auf dem anderen Hügel noch in lebhafter Er- Une éducation identique pour innerung. Zum einen habe ich - les garçons et lesfillesest depuis durchaus gesellschaftliche Nor- des années une évidence pour Mariana Christen, Mais elle se men adaptierend - den Wert demande aujourd'hui si cette von Knabenschulen höher einévidence ne doit pas être nuangeschätzt, daneben aber hat cée. mir als Jugendliche auch die alltägliche Auseinandersetzung En effet, la coéducation, conçue mit den Knaben gefehlt. Die pour accorder l'égalité des «Höhere Töchterschule» - diechances aux filles, n'a pas ser Begriff belustigt und beempêché l'enseignement de prifremdet mich noch heute. vilégier les besoins et les intérêts Heute aber werde ich auch mit des garçons. Des recherches der Schulrealität meiner Tochmenées dans différents pays ont ter konfrontiert. Sie beneidet également montré que l'intérêt mich um die Erfahrung einer des filles pour les matières dites reinen Mädchenschule. Es masculines (comme les mathémüsste wunderbar sein, so matiques et Vinformatique) est SGAB SRFP Panorama 1 22 plus élevé dans des classes de filles que dans des classes mixtes. Si la coéducation a permis aux filles de recevoir un enseignement dans des matières nouvelles pour elles, leur ouvrant des perspectives dans desfilièresde formation traditionnellement masculines, les choix professionnels restent encore très marqués par la division du travail selon le sexe. Les recherches sur la coéducation ont également montré quelle a augmenté plus que diminué la polarisation des sexes à Vécole, entraînant un renforcement des stéréotypes. On peut d'ailleurs relever l'existence d Ame sorte de plan d'étude caché, qui est formé de contenus et de comportements imprégnés de différence sexuelle. Madame Christen ne croit pas pour autant un retour en arrière possible. Il convient plutôt d'infléchir les programmes vers la prise, en compte de valeurs plus proprement féminines. H faut en somme rééquilibrer l'enseignement, favoriser pour chaque sexe le dépassement de ses propres défauts, par exemple l'excès d'indiscipline et d'esprit de concurrence chez les garçons. Dans le champ de la formation professionnelle, la persistance de la différenciation sexuelle des rôles incite à développer des expériences permettant aux jeunes de la dépasser. Par exemple, en réfléchissant aux images des professions en relation avec les attentes de la société en matière de rôle. Il faut apprendre à gérer les différences de sexe, plutôt qu'institutionnaliser des classes homogènes qui recoupent les disciplines ou le monde du travail. Cela demande un grand effort de la part des enseignants. (JA) Nr. 29 / Oktober / Octobre 1994