juris Praxiskommentar SGB XII

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juris Praxiskommentar SGB XII
 juris Praxiskommentar SGB XII
Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII)
Sozialhilfe / Asylbewerberleistungsgesetz
Vorwort
Im Jahre 2011 wird das Sozialhilferecht, das 1961 das frühere Fürsorgerecht mit dem Inkrafttreten des
BSHG abgelöst hat, 50 Jahre alt. 44 Jahre davon wurde das Rechtsgebiet – abgekoppelt vom größten
Teil des Sozialrechts, für das die Sozialgerichtsbarkeit zuständig war – von der Rechtsprechung der
allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit bestimmt und führte bis zur Aufspaltung des Rechts der
Existenzsicherung in das für Erwerbsfähige und Nichterwerbsfähige mit Inkrafttreten des SGB II
(Grundsicherung für Arbeitsuchende) und des SGB XII im Jahre 2005 gewissermaßen ein Eigenleben.
Hieraus erwuchsen Strukturen, die durch Neuregelungen des SGB XII selbst, insbesondere aber
wegen des SGB II einer Nachjustierung bedürfen. Zwar hat der Gesetzgeber das Sozialhilferecht
als Referenzmodell des SGB II bezeichnet; dies ist jedoch allenfalls ein Lippenbekenntnis,
wenn man sich die unterschiedlichen normativen Konzepte und die Formulierungen einzelner
Normen betrachtet. Es ist deshalb vor dem Hintergrund des Wechsels der Zuständigkeit für die
Sozialhilfe von der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit zur Sozialgerichtsbarkeit im Jahre
2005 nicht weiter verwunderlich, dass die sozialgerichtliche Rechtsprechung nicht nahtlos die der
Verwaltungsgerichtsbarkeit aufgreift und daraus gewisse Irritationen entstehen.
Ziel des Kommentars ist es, diese Irritationen, die oft nur auf Missverständnissen beruhen, zu
beseitigen, zumindest jedoch zu minimieren. Die Judikatur der Verwaltungsgerichte muss unter
Berücksichtigung der neuen Gesamtkonzeption der Existenzsicherung überdacht und – wenn
nötig – weiterentwickelt werden, ohne dass alles Alte von vornherein als falsch bzw. verfehlt über
Bord geworfen werden muss bzw. darf. Gleichwohl führt kein Weg an der Erkenntnis vorbei, dass
gegebenenfalls verkrustete Strukturen – auch aus Gründen der Harmonisierung – der beiden Bücher
des SGB (SGB II und SGB XII) aufgebrochen werden müssen. Hierbei darf das dritte Rechtsgebiet der
Existenzsicherung, das Asylbewerberleistungsgesetz, nicht vernachlässigt werden. Im vorliegenden
Kommentar sollen deshalb die Unterschiede dieser drei Gesetze dort herausgearbeitet werden, wo
sie existieren, dort aber, wo sie nicht existieren und keine sachlich rechtfertigenden Gründe dafür
zu finden sind, gesetzübergreifende Lösungen gesucht werden. Die Herausgeber als Vorsitzender
bzw. Beisitzer des beim BSG für die Sozialhilfe zuständigen Senats und die Autoren, die in der
Praxis nicht nur mit dem Recht der Sozialhilfe befasst sind, garantieren eine praxisnahe und
rechtsgebietsübergreifende Kommentierung.
Die Online-Version des Kommentars bietet darüber hinaus durch regelmäßige Ergänzungen Gewähr
für erforderliche Aktualität, indem jeweils der neueste Stand von Gesetzgebung und Rechtsprechung
berücksichtigt wird. Durch die Verlinkung des Online-Kommentars mit der Rechtsprechungs- und
Normendatenbank von juris können die zitierten Entscheidungen und Vorschriften sofort aufgerufen
und im Volltext angesehen werden.
Dieses Konzept bewährt sich insbesondere im Sozialrecht, bei dessen Anwendung ständig neue
Gesetze umgesetzt werden müssen. Dies gilt auch für das SGB XII, das zusammen mit dem SGB II –
wenn auch nicht so radikal wie dieses – aufgrund der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
vom 09.02.2010 (1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09 und 1 BvL 4/09) zur Ermittlung der Höhe der Regelsätze in
einem transparenten Verfahren geändert werden soll. Das entsprechende Gesetz zur Ermittlung von
Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch konnte in der
Druckversion des Kommentars nicht mehr berücksichtigt werden, wird jedoch zeitnah in der OnlineVersion verarbeitet werden.
Während das SGB II grundlegend reformiert wird, halten sich die Änderungen des SGB XII
vergleichsweise im Rahmen. Allerdings ist es gerade Ziel des vorliegenden Kommentars, Parallelen
bzw. Unterschiede zum SGB II herauszuarbeiten. Dies bedeutet, dass die einzelnen Kommentierungen
an den Stellen, an denen Vergleiche zum SGB II vorgenommen werden, einer Anpassung an die
Neuregelungen des SGB II bedürfen. Auch dies wird zeitnah, soweit erforderlich, geschehen.
Im SGB XII selbst sollen sich Neuerungen im Wesentlichen nur in den §§ 27-40 des Dritten
Kapitels (Hilfe zum Lebensunterhalt) ergeben. Hier sollen, weil das Bundesverfassungsgericht
ausdrücklich für Ermittlung und Höhe des Regelbedarfs ein Gesetz gefordert hat, das die bisherige
Regelsatzverordnung ersetzen soll, aufbauend auf dem Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz die
Vorschriften völlig neu strukturiert werden. Die Hilfe zum Lebensunterhalt soll zwar weiterhin
nach Regel- und zusätzlichen Bedarfen, der Regelbedarf selbst jedoch gestaffelt nach sechs
Regelbedarfsstufen gezahlt werden; die Ermittlung der einzelnen Regelbedarfe ist ebenso wie ihre
Fortschreibung (nach der Preisentwicklung) und die Festsetzung bzw. Fortschreibung abweichender
Regelsätze durch die Länder im Dritten Kapitel des SGB XII in Verbindung mit dem RegelbedarfsErmittlungsgesetz vorgesehen. Als neue Leistungen sollen wie im SGB II Bedarfe für Bildung
und Teilhabe (sogenanntes Bildungspaket für Schülerinnen und Schüler; im Wesentlichen mittels
Gutschein) aufgenommen werden, und anknüpfend an nach dem SGB II zugelassene Satzungen zur
Bestimmung der angemessenen Unterkunfts- und Heizungskosten auch im SGB XII die Übernahme
dieser Kosten in Form von Pauschalen geregelt werden. Insgesamt ergeben sich durch diese
zusätzlichen neuen Vorschriften, aber auch durch neue Systematisierungen, gegenüber den jetzigen
Normen vielfältige Verschiebungen, die indes nicht immer mit inhaltlichen Änderungen verbunden
sind; die sonstigen Vorschriften des SGB XII sollen an diese Verschiebungen angepasst und einzelne
Paragraphen des SGB XII kleineren Korrekturen unterworfen werden.
Wesentlicher ist, dass erstmals im Sozialhilferecht ausdrücklich eine Regelung für die Rücknahme
eines rechtswidrigen, nicht begünstigenden Verwaltungsaktes vorgesehen ist, die nur als Abkehr des
Gesetzgebers von der früheren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Nichtanwendung
des § 44 SGB X im Sozialhilferecht und als Billigung der davon abweichenden Rechtsprechung
des 8. Senats des Bundessozialgerichts zur grundsätzlichen Anwendung des § 44 SGB X im
Sozialhilferecht verstanden werden kann (vgl. dazu Coseriu, § 18 Rn. 38 f.). Vorgesehen ist, § 44
Abs. 4 Satz 1 SGB X (rückwirkende Erbringungen von Leistungen für vier Jahre) nur mit der Maßgabe
anzuwenden, dass anstelle des Zeitraums von vier Jahren ein solcher von einem Jahr tritt. Die
gleiche Modifizierung soll in die Regelung des § 40 SGB II übernommen werden. Dem sogenannten
Aktualitätsgrundsatz des Sozialhilferechts (Deckung nur des aktuellen Bedarfs) will der Gesetzgeber
mithin in beiden Existenzsicherungssystemen dadurch Rechnung tragen, dass Leistungen nur
in zeitlich beschränktem Umfang für die Vergangenheit erbracht werden sollen. Es bleibt indes
abzuwarten, welche Konsequenzen sich aus dieser gesetzlichen Regelung, die im Gleichklang
zu der des SGB II steht, für die Rechtsprechung des 8. Senats des BSG ergeben. Danach ist im
Sozialhilferecht § 44 SGB X zwar grundsätzlich anwendbar, jedoch wird im Rahmen der Anwendung
dieser Vorschrift ein fortbestehender Bedarf bzw. eine fortbestehende Bedürftigkeit verlangt; die für
das SGB II zuständigen Senate des BSG sind dem für die Anwendung des § 44 SGB X im Rahmen des
SGB II nicht gefolgt.
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Kassel, November 2010/Februar 2011
Pablo Coseriu
Wolfgang Eicher
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