Tim Obermeier - Certamen Carolinum

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Tim Obermeier - Certamen Carolinum
Kurzvortrag von Tim Obermeier
Fortuna als Zynikerin? – Macht oder Ohnmacht
des Menschen angesichts des Schicksals
Textgrundlage: Boethius, Consolatio Philosophiae, II/2, 1-14
„To be, or not to be, that is the question:
whether it is nobler in the mind to suffer the slings and arrows of outrageous fortune, or to take
arms against a sea of troubles and by opposing end them?“1
In einem seiner bekanntesten Werke stellt William Shakespeare die Frage nach dem richtigen
Umgang
mit
dem
Schicksal.
Soll
Hamlet,
seines
Vaters,
seiner
Liebe,
seiner
Zurechnungsfähigkeit beraubt, die Wendungen des Schicksals einfach ertragen oder sich seinen
Problemen entgegenstellen? Hamlet setzt dies mit der Entscheidung zwischen Leben und Tod
gleich und deutet damit ein pessimistisches Bild über die Macht des Menschen angesichts des
Schicksals an, denn ist der Freitod der einzige Weg, kurzfristig Macht über das Schicksal
auszuüben?
Diese Fragen, die sich bei der Lektüre Hamlets ergeben, sind zeitloser Natur. Sie werden
gleichsam in der Antike, wie auch in Renaissance und Moderne gestellt. Auf der Schwelle
zwischen Antike und Mittelalter begegnet uns Boethius (um 480-524), nach Lorenzo Valla
„letzter Römer und erster Scholastiker“. Er war Konsul und Berater des Gotenkönigs
Theoderich. Zunächst wurde er durch dessen Gunst schon im Alter von 30 Jahren Konsul. Zwölf
Jahre später übernahmen seine beiden damals noch minderjährigen Söhne dieses Amt. Diesen
Moment betrachtete Boethius als Höhepunkt seines Lebens.2
Nur wenige Monate später wurde er des Hochverrats bezichtigt, im Jahre 524 zum Tode
verurteilt und bei Pavia eingekerkert. Dort schildert er in seinem Hauptwerk, der Consolatio
Philosophiae, den Dialog zwischen sich selbst und der Allegorie der Philosophie und erörtert
verschiedene philosophische Fragestellungen. Auffällig ist, dass sich in seinem Werk Prosa und
Gedichte abwechseln. Diese Form heißt Prosimetrum und entstammt den Satiren des Menipp (3.
Jh. v. Chr.).
Am Anfang des zweiten Buches diagnostiziert die Philosophie, dass Boethius an der Sehnsucht
nach seinem früheren Glück leide. Um ihm zu zeigen, dass die Vergabe äußerer Güter
1
2
Hamlet, III/1, ll. 56-60
Vgl. Boethius, Consolatio philosophiae II, pr. 3
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willkürlich und er für seine Glückseligkeit nicht auf diese angewiesen ist, lässt sie in der zu
analysierenden Textstelle Fortuna als Allegorie des Schicksals auftreten.
Fortunas Argumentation basiert auf der Auffassung, dass der Mensch sich allein in ihrer Obhut
befindet, nachdem er von der Natur auf die Welt gebracht wurde (vgl. §4). Durch die
Personifikation der Natur (§4: „te […] natura produxit“) wird dabei betont, dass der Mensch zu
keinem Zeitpunkt aktiv handle, sondern vielmehr als Objekt externen Gewalten unterworfen sei.
Fortuna stellt einen Kontrast zwischen ihrer Macht und der des Menschen her, indem sie
Boethius durch den Vokativ „homo“ (vgl. §2) explizit auf seine unterlegene Stellung hinweist.
Zudem betont sie ihre Dominanz durch die Verwendung des Pluralis maiestatis. Sie könne nach
Belieben (§5: „nunc […] libet“) verfahren; in Boethius‘ Falle habe sie sich zunächst sehr
fürsorglich verhalten. Die Quantität dieser Geschenke, die Boethius von Fortuna erhalten habe,
wird durch mehrere Hendiadyoins (§3: „opum dignitatumque“, §4: „affluentia et splendore“)
verdeutlicht. Die proklamierte Güte Fortunas wird dadurch hervorgehoben, dass Boethius in
dem Moment, als er die Geschenke empfängt, hilflos ist, was durch das Adjektiv „nudum“ (§4)
betont wird. Fortuna macht jedoch deutlich, dass sie als „Herrin“ (§6: „domina“) über die Güter,
die sie Boethius zukommen ließ, verfüge und diese, mit den Worten Ciceros, einen jederzeit
wiedereinzufordernden Kredit darstellten:
„Ea quidem dedit usuram vitae tamquam pecuniae nulla praestituta die.“3
Durch einen Parallelismus (§6: „me cum veniunt, me abeunte discedunt“) hebt Fortuna hervor,
dass das Gewähren und das Zurücknehmen jener Güter gleichrangig seien und das eine oft auch
mit dem anderen einhergehe. Sie fordert Boethius auf, für die Zeit, in der er mit den Gütern
versehen war, dankbar zu sein, weil er auf sich allein
gestellt schließlich „nackt“ (vgl. §4) und hilflos wäre und
nur durch den Gebrauch fremder Güter sein bis dato
glückliches Leben habe führen können.
Aus diesen Ausführungen ergibt sich das Bild vom Rad
der Fortuna. Durch einen Chiasmus (§9: „infima summis,
summa infimis“) verdeutlicht Fortuna, dass sie mit ihrem
Rad vollkommen Gegensätzliches miteinander tauscht.
Die Willkürlichkeit dessen wird durch die Verwendung
von Worten aus dem Wortfeld von Spiel und Freude (§9:
3
Cicero, Tusc. I 93
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„ludum ludimus“, „gaudemus“), die insbesondere durch eine figura etymologica (ebd.)
Aufmerksamkeit erregt, hervorgehoben. Zudem wird dadurch betont, dass Fortuna am Rad
dreht, wie es ihr gefällt; die für den Menschen scheinbar so wichtige Zuteilung äußerer Güter ist
für sie nicht mehr als ein spaßiger Zeitvertreib. Die Kritik am Stellenwert äußerer Güter äußert
sich darin, dass ein Mensch, der sein Leben dem Reichtum widmet, diesen zwar durch die
Launen Fortunas erlangen kann, ihn aber ebenso sicher wieder verliert. Wie bereits durch das
Adjektiv „impatientem“ in §4 angedeutet wird, fordert Fortuna in Zusammenhang mit ihrem
Rad stoische Seelenruhe (Ataraxie) im Umgang mit dem Schicksal, denn alle Notlagen werden
irgendwann verschwinden. Besonders deutlich wird dies an anderer Stelle:
„[…] quoniam quae nunc creduntur maesta, praetereunt.“4
Dem Menschen wird von Fortuna zunächst die Wahl zwischen Macht und Ohnmacht
eingeräumt (§10: „ascende si placet“), da er sich zwischen Leben und Tod entscheiden könne.
Entscheidet er sich zu leben, müsse er Fortunas Spielregeln akzeptieren und dürfe nicht klagen.
Der Suizid sei der einzige Weg, dem Walten Fortunas zu entkommen. Da Boethius jedoch
ähnlich wie Freud von einem naturgegebenen Selbsterhaltungstrieb, den er darüber hinaus mit
dem göttlichen Schöpfungsakt in Verbindung bringt, ausgeht5, ist der freiwillige Selbstmord für
ihn nur eine Scheinalternative. Er stellt daher vielmehr den Zynismus Fortunas heraus und
betont die Alternativlosigkeit der Ohnmacht gegenüber dem Schicksal. Der Mensch verliert
dadurch jedoch nicht den Einfluss auf sein Leben. Zwar wird von ihm gefordert, dass er die
Verteilung der äußeren Güter akzeptieren muss. Wie Fortuna aber einleitend betonte, kann sie
dem Menschen nur nehmen, was ihm nicht gehört. Da Boethius in Abgrenzung zur
aristotelischen Tabula rasa die These Platons vertritt, der zufolge der Mensch ein ursprüngliches
Wissen hat, welches durch Sinneseindrücke lediglich aktiviert wird6, gehören Wissen und
Weisheit dem Menschen. Ein Mensch, der sich nach der augustinischen Maxime
„Solo Deo fruendum est“7
auf innere Güter fokussiert, lebt also unabhängig von Fortunas Launen; man kann ihn in
stoischer Tradition als autark bezeichnen. Dem notleidenden Boethius gibt Fortuna deshalb den
Ratschlag, nicht im Geiste dahinzusiechen (vgl. §14), sich also inneren Gütern zu widmen.
Gerade in dieser Hinsicht bietet die Philosophie jenen titelgebenden Trost an, denn wenngleich
4
Boet., Cons. Phil. II/3, 11
Boet., Cons. Phil. III/10, 33/34
6
Vgl. Boet. Cons. Phil., V/ 4. Gedicht
7
Augustinus, De doctr. christ. I, 4
5
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die Gunst des Schicksals grundsätzlich positiv ist, sind es Gott, das ewige und beständige
summum bonum, und die inneren Güter, die dem Menschen auch in schweren Zeiten bleiben.
Der Ausgangspunkt meiner Kritik ist die Tatsache, dass Fortunas Macht über die äußeren Güter
nicht philosophisch begründet, sondern vielmehr, vielleicht vor dem Hintergrund des so
willkürlich im Kerker sitzenden Boethius, einfach angenommen wird. Dass sie von Natur aus
das Recht (§8: „meum ius“) habe, die äußeren Güter nach Belieben zu verteilen, sei eine
ebensolche Notwendigkeit, wie die Bewegung der Planeten und das Auftreten von Stürmen und
Fluten. Im Folgenden werde ich meine eigene Position darlegen, indem ich zunächst auf die
Freiheit des Menschen eingehe und dann zeige, wie sich die Verteilung jener Güter durch die
Interaktion in der Gesellschaft ergibt.
Da der Existentialismus interessante Vergleichspunkte zu Boethius liefert, leite ich aus dessen
Grundaussage die Freiheit des Menschen her. Diese wurde von den Existentialisten durch die
Überzeugung begründet, dass man allein aus der direkten Erfahrung der Existenz heraus keine
Aussagen über das Wesen des Menschen (Essenz) treffen könne; die Existenz gehe der Essenz
voraus. Bei Boethius ist dies genau andersherum: der Mensch wird nach der Idee Gottes
geschaffen. Wenn es aber keine Natur des Menschen gibt, ist der Mensch das, wozu er sich
macht; wie Sartre betont kann er sein Wesen selbst definieren:
„Chaque personne est un choix absolu de soi“8
Doch auch auf dieser Basis kann das Individuum nicht allein über die Güterallokation
entscheiden. Es ist vielmehr darin eingebettet, was Hegel als System der Bedürfnisse9
bezeichnet. Durch die Arbeitsteilung und die Eigentümergesellschaft werde der Mensch zu
einem „Gliede der Kette“10, da er nicht mehr der urzeitliche Selbstversorger sei, sondern von
Arbeit und Kapital anderer Leute abhänge. Umgekehrt setze sich der Zustand der Allgemeinheit
aus dem Handeln der Individuen zusammen.
Der einzelne Mensch erwirbt den Reichtum im ökonomischen, das Ansehen im sozialen System
unserer Gesellschaft. Makroökonomische Phänomene wie Beschäftigung und Lohnsatz haben
ihren Ursprung nicht im Schicksal, sondern im Markt, der sich aus den Handlungen der
Individuen zusammensetzt. Entscheidend sind Parameter wie Sparquote,
Zins- und
Investitionsniveau und Kaufverhalten.11 Das Individuum hat die Macht, gegen Notlagen wie
8
Sartre, L’Etre et le néant
Hegel, G.W.F.: Vorlesungen über die Rechtsphilosophie, 1818-1831
10
Hegel, G.W.F: Rechtsphilosophie, §187
11
Vgl. Flaschel, Keynesiasche Makroökonomik S. 26-49
9
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Arbeitslosigkeit anzukämpfen, indem es z.B. zusätzliche Qualifikationen erwirbt oder die
Jobsuche ausweitet. Selbst wenn der Mensch allein nichts an seiner Situation ändern kann, kann
er sich gesellschaftlichen Institutionen oder Gruppen wie Gewerkschaften und Parteien
einbringen, die größeren Einfluss auf das System ausüben.
Entscheidend ist, dass wir die Mechanismen, die über sowohl in ökonomischer als auch in jeder
anderen Hinsicht unser Leben bestimmen, verstehen können, anstatt sie als gegeben hinnehmen
zu müssen. Zwar hat Boethius insofern recht, als wir vieles nicht vorhersehen können, da wir es
höchstens mittels der Stochastik modellieren können. Aber dadurch, dass wir durch die
Wissenschaft ein Verständnis jener Mechanismen gewinnen, versetzen wir uns in die Lage,
Hamlets „Meer der Probleme“ immer stärker zu bekämpfen. In Situationen, in denen das
Individuum wie bei schweren Krankheiten seine Probleme nicht bekämpfen kann, bietet die
Vorstellung eines allmächtigen Schicksals sicherlich Trost, allerdings ist eine ausschließlich
fatalistische Haltung ebenso falsch, wie sie den Menschen von der Lösung seiner Probleme
abhält.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Boethius im analysierten Textabschnitt weitgehend
stoisch argumentiert, indem er dem Menschen Autarkie und Ataraxie gegenüber dem Schicksal
empfiehlt. Doch im Laufe seines Werks wird er über das stoische Gedankengut, welches in
dieser Hinsicht seiner Meinung nach nur einen ersten Ansatz, der allem weiteren zugrundeliegt,
darstellt hinausgehen:
„Ita est, inquit; haec enim nondum morbi tui remedia, sed adhuc contumacis adversum
curationem doloris fomenta quaedam sunt.“12
Er hält den Gedanken der Ohnmacht gegenüber der Verteilung äußerer Güter fest, bringt das
Schicksal aber in Zusammenhang mit der göttlichen Vorsehung. Da Gott gut sei, fordert
Boethius den Menschen auf, darauf zu vertrauen, dass alle Wendungen des Schicksals einen
Sinn haben. Insgesamt kann Fortuna also noch so zynisch sein, die für die Glückseligkeit
essentiellen inneren Güter liegen im Einflussbereich des Menschen.
12
Boet., Cons. Phil., II/3, 3
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Literaturverzeichnis
1. Textausgaben
Heminge, J. [Hrsg.] (2007): The Complete Works of William Shakespeare, London:
Wordsworth
Hoenn, K. [Hrsg.] (1949): Boethius, Consolatio Philosophiae in Die Bibliothek der Alten Welt,
Zürich: Artemis-Verlag
Hoppe, H. [Hrsg.] (2004): G.W.F. Hegel – Philosophie des Rechts: Vorlesung von 1821/22,
Suhrkamp
Ilting, K.-H. [Hrsg.] (1973): G.W.F. Hegel – Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818-1831,
Stuttgart
Kirfel, E. [Hrsg.] (1997): Cicero: Tusculanae disputationes, Ditzingen: Reclam
Pollmann, K. [Hrsg.] (2002): Augustinus: De Doctrina Christiana, Reclam
Sartre, J.-P. (1976): L’Etre et le néant, Editions Flammarion
2. Sekundärliteratur
Barrett, H. (1940): Boethius: Some aspects of his times and work, New York: Russell & Russell
Böhner, P., & Gilson, E. (³1954): Christliche Philosophie, Paderborn: Verlag Ferdinand Schöningh
Chadwick, H. (1981): The Consolations of Music, Logic, Theology and Philosophy, Oxford:
Clarendon Press
Courcelle, P. (1967) : La consolation de philosophie dans la tradition littéraire, Paris
Flaschel, P. (²2008): Keynesianische Makroökonomik, Springer-Verlag
Lévy, B. (2005): Sartre: Der Philosoph des 20. Jahrhunderts, Deutscher Taschenbuchverlag
Neschen, Albena (2008): Ethik und Ökonomie in Hegels Philosophie und in modernen
wirtschaftsethischen Entwürfen, Meiner Verlag
Pohlenz, M.(61984): Die Stoa I, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
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