Der Haifisch, der hat Zähne
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Der Haifisch, der hat Zähne
I. Die Filmmaschinerie Der Haifisch, der hat Zähne I. Womit wir es hier zu tun haben, ist ein perfekter Motor: Die Filmmaschinerie Der Haifisch, der hat Zähne Zur Einführung Von Wieland Schwanebeck »I have seen the future and it is jaws.« Kenneth Turan (1975) Der Augenblick von jaws: Jumping the shark I m Vergleich zu anderen Horrorfilmen ist Steven Spielbergs jaws (1975) ein an Monologen reicher Film. In einer der zahlreichen berühmten Redepassagen erläutert der von Richard Dreyfuss gespielte Meeresbiologe Matt Hooper seine lebenslange Begeisterung für Haie anhand einer Geschichte aus seiner Kindheit: Nachdem er in einem Boot aufs Meer hinausgesegelt war, dort unliebsame Bekanntschaft mit einem Hai machen musste (»Scared me to death!«) und sich gerade eben so an Land retten konnte, blieb Hooper jedoch nicht (wie etwa sein widerwilliger Gefährte, Chief Brody) lebenslang wasserscheu, sondern entflammte überhaupt erst für die großen Fische, widmete sich fortan ganz der Erforschung und dem Beobachten von Haien aus nächster Nähe. Hoopers Monolog, der während der Jagd auf den Weißen Hai später im Film bestä- tigt wird, wenn sich selbst angesichts der Todesgefahr jungenhafte Begeisterung auf Hoopers Gesicht ausbreitet (mit der er sogar Brody ansteckt), kann mit einigem Recht als Kernfabel des Films und auch als Metaerzählung seiner Erfolgsgeschichte bezeichnet werden. Nicht nur, dass jaws Kassenrekorde brach und für einen Genrefilm mit einer außergewöhnlichen Anzahl von Ehrungen bedacht wurde,1 legendär sind auch die Geschichten über vor Angst lustvoll kreischende Zuschauer, die – wie weiland Hooper als kleiner Junge – nicht etwa fortan den Kinosaal mieden, sondern ihre ›Angstlust‹ (Michel Balint) regelrecht zelebrierten, jaws zum bis dato erfolgreichsten Kinofilm aller Zeiten machten2 und auch den Sequels und weiteren durch ihn inspirierten Filmen zu respektablen Einspielergebnissen verhalfen. Im Verbund mit the godfather (Der Pate; 1971; R: Francis Ford Coppola) sowie star wars (Krieg der Sterne; 1977; R: George Lucas) bildet Spielbergs Film eine Trias, die in den 1970ern die globale Kinokultur nachhaltig verändern, die bis dahin gängige Film9 Wieland Schwanebeck der weisse hai revisited Große Jungs auf Abenteuerfahrt ( jaws) verleih- und Werbepraxis der Filmstudios gründlich auf den Kopf stellen und sich im Zeichen einer generellen Verjüngung des zahlungskräftigen Kinopublikums als wegbereitend erweisen sollte. Mit dem flächendeckenden Start des Films, den (noch relativ zaghaften) Merchandising-Aktivitäten3 und einer Werbekampagne, die erfolgreich »die Kinder ins Kino zu locken [verstand], ohne die Erwachsenen zu vergraulen«,4 sollte jaws Maßstäbe setzen. Als Universal 1977 mit the deep (Die Tiefe; R: Peter Yates) die nächste Verfilmung eines maritimen Bestsellers von Peter Benchley in die Kinos brachte, war das Studio bereits so abgeklärt, dass es Drehpannen in werbewirksame Schlagzeilen umzumünzen verstand und den Starttermin so wählte, dass die Zielgruppe gerade ihre monatlichen Gehaltsschecks erhalten hatte, um diese in Kinokarten, Soundtracks und den eigens für den Film kreierten Cocktail zu investieren.5 20 Jahre später liefen mit Spielbergs jurassic park (1993) oder batman & robin (1997; R: Joel Schumacher) schon Filme an, die ihre Spielzeug- und Fast-Food-Lizenzverträge ausgehandelt hatten, noch bevor überhaupt ein fertiges Drehbuch existierte. 10 Auch der popkulturelle Einfluss lässt sich kaum beziffern: Anfang 2015 listet die Internet Movie Database nicht nur mehr als 150 Parodien, sondern fast 1.000 Filme und Fernsehsendungen, die sich intertextuell auf jaws beziehen oder ihn gar direkt zitieren.6 Im Kielwasser des Weißen Hais schwimmen zahllose Genre-Epigonen und auch Vertreter aller anderen Gattungen: James Bond musste 1977 gegen einen Jaws genannten Hünen mit Metallgebiss antreten (the spy who loved me; Der Spion, der mich liebte; R: Lewis Gilbert), Chief Brodys einschlägig bekannte Äußerung angesichts der übermächtigen Bestie (»You’re gonna need a bigger boat!«) ist zum geflügelten Wort für jegliche ausweglose Situation avanciert, und der legendäre Narbenvergleich an Bord der Orca ist u.a. als erotisch aufgeladener Striptease (lethal weapon 3; Brennpunkt L.A. – Die Profis sind zurück; 1992; R: Richard Donner) sowie im Independent-Kino als Chronik von OralsexVerletzungen (chasing amy; 1997; R: Kevin Smith) nachgespielt worden. Diese retrospektive Verknüpfung von Eros und Thanatos kommt nicht von ungefähr – der psychosexuelle Subtext der Haiangriffe, die »direkt aus dem Urschoß I. Die Filmmaschinerie Der Haifisch, der hat Zähne der Natur« an die Oberfläche stoßende Vagina dentata,7 all dies war früh von der feministischen Kritik herausgearbeitet worden.8 Gänzlich an die Oberfläche brachten es pornographische Pastiche-Versionen: Bereits im Sommer nach jaws kam mit gums (1976; R: Robert J. Kaplan) eine Version in die Kinos, Porno-Pastiche (this ain’t jaws xxx) in der eine Meerjungfrau nach den Penissen nackter Schwimmer schnappt. Deutlich sche- allein im wald; 2004; R: Sven Unterwaldt) matischer, wenn auch nicht weniger frei- überblendet worden. In der Eröffnungsszezügig geht es in this ain’t jaws xxx (2012; ne seines größten Misserfolgs (der 1979 geR: Stuart Canterbury) zu, einem von der starteten Kriegssatire 1941) besorgt Spielporn parody-Welle in die Videotheken ge- berg die Hommage kurzerhand selbst und spülten, mit reichlich Sex angereicherten stellt die Szene mit der jaws-Schauspielerin Querschnitt durch die bekanntesten Sze- Susan Backlinie und einem U-Boot-Perisnen des Originals: Hier träumt Quint da- kop anstelle der Haifischflosse nach. Selbst von, den Hai mit seinem »Hosenwurm« ein seriöses Biopic wie kon-tiki (2012; R: zu ködern, was Hooper (in dieser Version Joachim Rønning / Espen Sandberg), das weiblich) zu dem Kommentar veranlasst: ohne selbstironische Schlenker kolonialen »You’re gonna need a bigger dick!« Abenteuergeist aufleben lässt, kann sich Auch einzelne Einstellungen, Dialogzei- nicht verkneifen, ein paar bedeutungslen und natürlich Elemente der Filmmusik schwangere Bassnoten einzustreuen, sowurden wiederholt nachgeahmt. John Wil- bald sich Haie dem Floß Thor Heyerdahls liams’ Thema hat sich durch seine Simpli- oder dem Tauchkäfig nähern (Farbteil, zität als effektives akustisches Gefahren- S. 138). Bedenkt man, wie hier zwanghaft ein signal bewährt,9 die Bedrohung aus der Schreckensmoment immer wieder zitiert Tiefe ist in Hommagen und Parodien u.a. und in Varianten durchgespielt wird, dann mit dem Heck eines Flugzeugs (airplane!; Die unglaubliche Reise in einem verrückten Flugzeug; 1980; R: Jim Abrahams / David Zucker / Jerry Zucker), mit Raumschiffen (spaceballs; 1987; R: Mel Brooks) oder gar mit der Zipfelmütze eines Zwergs im Märchenwald (7 zwerge – männer Spielberg parodiert sich selbst (1941) 11 Wieland Schwanebeck der weisse hai revisited in einem selbstvergessenen Moment das Shanty von den Spanish Ladies anstimmen, kurz bevor die Realität wortwörtlich wieder ans Boot klopft und gekämpft werden muss; wenn Chief Brody nach dem Showdown seinen heroischen, von niemandem sonst bezeugten Moment der Bewährung mit einem melancholischen Lächeln besiegelt – dann erzählt jaws auch von der Unmöglichkeit, einer sublimen Erfahrung habhaft zu werden und einen Augenblick ins Unendliche zu verlängern. Was wäre Reflexive Momente in den Gefechtspausen ( jaws) dieser sonst auch wert, und was wäre jaws wert, wenn sind all dies mindestens Symptome eines er seine Zuschauer nicht in seinen Schlund folgenschweren Albtraums, möglicherweise zöge, um sie zwei Stunden später erschöpft, gar einer schwerwiegenden Traumatisie- aber glücklich wieder auszuspucken, sonrung; immerhin ist die nach dem Filmstart dern wenn er stattdessen, so wie es Monty an den Küsten der USA ausgebrochene Ba- Python in the meaning of life (Der Sinn des Lebens; 1983; R: Terry Jones) beschwödeangst gut dokumentiert.10 In jedem Fall ist der Augenblick von jaws ren, im Jenseits in Dauerschleife (und im der Kristallisationspunkt mehrerer kultur- Verbund mit seinen schauderhaften Fortgeschichtlicher Entwicklungen, die in eini- setzungen) liefe?11 gen Beiträgen dieses Buches eingehender Mit jaws, so das dominante Narrativ, diskutiert werden. Wiewohl die Geschichte erreicht New Hollywood seinen Zenit und von New Hollywood schnell der Verklärung konsolidiert auf mehreren Ebenen eine Krianheimgefallen war und mythische Züge se: Der Film weist für Christian Keathley annehmen sollte, gibt es doch reichlich zwar noch Spuren des kritischen, traumaAnhaltspunkte dafür, dass jaws selbst für tisierten Post-Vietnamkinos auf, das Filmeeinen Moment steht, den er (als seine eige- macher mit klassischen Regeln der Hollyne Metaerzählung) immer wieder ins Bild wood-Narration brechen ließ, er exorziert setzt: Wenn der alte Seebär Quint gedan- die Bedrohung aber zugleich und besinnt kenverloren am Bug steht und die pittores- sich auf archaischere Erzählmuster.12 Als ke Dämmerung betrachtet (möglicherweise Allegorie für ein Amerika im Zeichen von ahnend, dass er seinen letzten Sonnenun- Watergate könnte die von zwielichtigen tergang bewundert); wenn die drei Männer Gestalten regierte Kleinstadt Amity (deerst einem Walgesang lauschen und dann ren geradezu zwanghafte Emphase guter 12 I. Die Filmmaschinerie Der Haifisch, der hat Zähne Nachbarschaft und Idylle bereits im Namen anklingt) nicht deutlicher entworfen sein; das Aussparen unbequemer Wahrheiten und die Tilgung schwarzer Momente aus den Geschichtsbüchern sind auch in den berühmten Monolog Quints deutlich eingeschrieben.13 Die Bezwingung des Monsters, so will es die mythische Fabel im Herzen des Films,14 heilt jedoch alle Wunden, und auch die Filmstudios finden in der Folge aus der Krise. jaws bestätigt nämlich, dass sich mit genialischen, ausdrucksstarken jun- Henry Winkler nimmt Anlauf: Jumping the gen Regisseuren nicht nur Preise gewin- shark in happy days nen und europhile Rezensenten überzeugen lassen, sondern dass die neuen stilis- nicht mehr ihr Niveau von früher erreicht; tischen Handschriften durchaus das Zeug das Musik-Idol, das den richtigen Zeitpunkt dazu haben, profitables Popcorn-Kino zu für die endgültige Abschiedstournee verproduzieren. Von hier ist das Ende New passt; den Politiker, der im Wahlkampf zu Hollywoods nicht mehr weit. Begeisterungsstürmen hinreißt und dann Man mag angesichts dieser Konstellati- im Amt verblasst. on nicht glauben, dass jaws an einer HinSieht man einmal davon ab, dass auch in terlassenschaft des Hais in der Popkultur happy days kurz das bekannte John-Wilunschuldig ist, die ebendieses Phänomen liams-Thema zitiert wird, war jaws an der beschreibt, nämlich dem Ausdruck jumping Prägung dieser Formel unbeteiligt, wiewohl the shark. 1977 springt in der Erfolgs-Sitcom sie im kurz darauf angelaufenen Sequel happy days (1974-84) Publikumsliebling ( jaws 2; 1978; R: Jeannot Szwarc) bestätigt Fonzie (Henry Winkler) auf Wasserskiern wird – an die Stelle der genauen Charaküber einen Hai – ein spektakulärer Stunt, terzeichnung und der geduldigen Dramader in der Rückschau jedoch als Anfang turgie des Originals treten die generischen vom Ende für die Serie gelesen wird. Diese Elemente des Teenie-Horrors,15 Wasserskisollte zwar noch für weitere sechs Staffeln Stunts und ein Hai, der nicht übersprunlaufen, für Beobachter hatte Fonzies Mut- gen wird, sondern selbst springt (und nach probe allerdings unmissverständlich signa- einem Hubschrauber schnappt). lisiert, dass Extravaganzen und sight gags fortan das ersetzen sollten, was die Serie groß gemacht hatte, nämlich ihre realistischen, aus den Charakteren entwickelten Plots. Jumping the shark ist sprichwörtlich für alles geworden, das seinen Zenit überschritten hat – die Lieblingszeitschrift, die In jaws 2 springt der Hai persönlich 13 Wieland Schwanebeck Im Meer der Deutungen Wenngleich jaws damals wie heute in erster Linie als brillant umgesetzter Unterhaltungsstoff, als virtuos inszenierte Synthese aus Horror- und Abenteuerfilm (mit unübersehbaren Anleihen in der christlichen Mythologie wie auch in der amerikanischen Kulturgeschichte) rezipierbar ist, berührt seine Tiefenstruktur (und jaws führt wortwörtlich in die Tiefe) auch philosophische Themen. So klingt in der Verachtung der Fischer für die wissenschaftlichen Methoden des aus der Stadt kommenden, reichen college boy Matt Hooper der Konflikt zwischen zwei Wissenskulturen an; führen das reflexhafte Leugnen der Stadtoberen und die zahlreichen Irrtümer (über Todesursachen, den richtigen Hai und das korrekte Vorgehen im Kampf) ins Herz erkenntnistheoretischer Debatten; und berührt die Darstellung des Hais in ihrer Überhöhung zum absolut Bösen auch ethische Fragestellungen. Die meisten Diskussionen kreisen freilich um die Bedeutung des Hais. In einer Gesellschaft, die gerade ein kulturelles Beben hinter sich hatte und deren kultureller Output ideologisch längst nicht mehr über einen Kamm zu scheren war, konnte man sich auch der Bedeutung der tierischen Urgewalt nicht sicher sein. Peter Biskind argumentiert, zu Hochzeiten des Kalten Krieges hätte man den Hai, der da vor der Ostküste kreuzt und Amitys Geldfluss (den Touristenstrom) stoppt, zwingend für ein Symbol der kommunistischen Bedrohung gehalten.16 So einfach war es nach Watergate und Vietnam nicht mehr – Fidel Castro soll jaws als linken Film begrüßt und den Hai als rebellische Figur gelesen haben, die den skrupellosen Geschäftsleuten von Amity nur die Quittung für ihre korrupten Praktiken ausstellt.17 Schnell la14 der weisse hai revisited gen weitere, stark divergierende Lesarten vor, die Jahrzehnte später kaum in ihrer Gesamtheit zu überblicken sind: »All the things this creature has been!«18 jaws ist freudianisch, feministisch, historisch, ökologisch, ökonomisch, legalistisch, marxistisch, psychosozial und soziologisch,19 die Gegenspieler des Hais als Personifizierungen des Gesetzes und des Staats, als Jedermänner, als Väter und Söhne, als Vertreter der Mittelschicht und der Arbeiterklasse gelesen worden. Wer jaws einfach nur für einen gutgemachten Unterhaltungsfilm (und er ist dies natürlich auch – neben anderen Dingen) hält, kann sich auf Ernest Hemingway berufen. Dieser sah sich einer ähnlichen Flut von Deutungsversuchen gegenüber, nachdem seine Novelle The Old Man and the Sea (1952) – ebenfalls ein wichtiger Referenztext für jaws – die Öffentlichkeit im Sturm erobert hatte. Es gebe keinerlei Symbolik, beklagt Hemingway in einem Brief an den Kunsthistoriker Bernard Berenson: »The sea is the sea. The old man is an old man. […] The sharks are all sharks no better and no worse. All the symbolism that people see is shit.« Schon im nächsten Absatz führt Hemingway freilich seine eigene Argumentation ad absurdum und verfällt selbst ins Mythisieren, wenn er das Meer als Hure beschreibt, die noch jedem Freier eine Krankheit mitgegeben hat und doch von allen leidenschaftlich geliebt wird.20 Gleichgültig gelassen hat der Film die wenigsten, und gerade in seiner Vieldeutigkeit liegt der Schlüssel zu seinem Erfolg und zur Langlebigkeit des Mythos jaws. In seinen an Adorno und Horkheimer anschließenden Ausführungen zur Kulturindustrie argumentiert Fredric Jameson, der Hai sei gerade aufgrund seiner Polysemie eine effiziente ideologische Waffe. Indem I. Die Filmmaschinerie Der Haifisch, der hat Zähne Wissenschaftler bei der Arbeit ( jaws) er nämlich die stark an den unmittelbaren soziokulturellen Kontext gebundene Vorlage – in Benchleys Roman tobt ein offener Klassen- und Geschlechterkampf – ins Zeitlos-Mythische und Heroische wendet, bündle Spielbergs Film eine Vielzahl von Ängsten und verleihe diesen einen Anstrich von Natürlichkeit: Die Zukunft des kapitalistischen Systems, der Clash der Generationen und der Klassenkonflikt werden dem Zuschauer nicht direkt vorgesetzt, sondern in verschlüsselter Form – auf hoher See tobt ein existenzieller Stellvertreterkampf zwischen Mensch und Tier.21 Slavoj Žižek erkennt daher auch keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen den ideologischen Strategien in Spielbergs Film und denen des NS-Propagandaapparats – beide lieferten einer kriselnden Gesellschaft ein (mehr oder weniger klar umrissenes) Feindbild.22 Man mag den Vergleich unangemessen finden, doch der kathartische Effekt der finalen Explosion, die nicht nur den sieben Meter langen Raubfisch entsorgt, sondern auch die Krise der Männlichkeit, die ökonomische Schieflage, die zeitweise Störung der Familie und andere Systemschwächen aufhebt, ist kaum zu bestreiten.23 jaws sollte denn auch Spielbergs politischster Film bleiben und damit eine wichtige Unterscheidung für das weitere Schaffen des Regisseurs vorgeben. Es sind nicht seine historisch schwergewichtigen Problemfilme wie the color purple (Die Farbe Lila; 1985) oder schindler’s list (Schindlers Liste; 1993), die am wirksamsten kulturelle Arbeit verrichten und zur ideologischen Auseinandersetzung ermutigen, sondern die vermeintlich »bloß unterhaltenden« Kassenhits.24 Ihre Storys mögen »simplicity itself« sein,25 doch ihre Subtexte haben konträre politische Lesarten befeuert: e.t. the extra-terrestrial (E.T. – Der Außerirdische; 1982) lässt sich wahlweise als süßliche Beschönigung amerikanischer Innenpolitik26 oder als Film lesen, der von einem immensen Misstrauen in den Staatsapparat zeugt;27 jurassic park (1993) schuf einerseits ein profitables Franchise mit T-Shirts und Videospielen, nimmt andererseits aber die Unterhaltungsindustrie selbst aufs Korn – in diesem Vergnügungspark werden die Besucher von den Attraktionen verspeist.28 Auch jaws ist bei aller Skepsis ob des triumphalen Showdowns, mit dem Spielberg vielleicht seinen einzigen Ausflug ins Westerngenre vorgelegt hat,29 daher am15 Wieland Schwanebeck der weisse hai revisited Raubfisch in leitender Funktion: Bürgermeister Vaughn ( jaws) bivalenter, als es zunächst scheinen mag, denn auch im Duell der Ideologien ist jede Position nur durch ihr Gegenteil denkbar: »The success of the ideological operation is always a testament to failure, since ideological representations would not be necessary if indeed there were no trouble in the system«.30 jaws mag von der Überwindung einer Krise berichten, doch dafür muss diese Krise überhaupt erst einmal ausgesprochen werden, und jaws blendet die politischen Kontexte gewiss nicht aus oder beschönigt sie gar. Ein mindestens ebenso großer Raubfisch wie der Hai ist der Bürgermeister von Amity,31 in dessen Rolle der Schauspieler Murray Hamilton zum zweiten Mal in einem New-Hollywood-Klassiker dem Establishment ein Gesicht verleiht: Als Mr. Robinson in the graduate (Die Reifeprüfung; 1967; R: Mike Nichols) hatte Hamilton Dustin Hoffman in die offene Rebellion getrieben. jaws endet deutlich versöhnlicher – in der Fortsetzung ist Bürgermeister Vaughn jedenfalls immer noch im Amt und heckt neue krumme Geschäfte aus. Freilich ist das Film-Amity im Vergleich mit dem Sodom-und-Gomorra-Verschnitt, in dem Peter Benchley seinen Roman Jaws (1974) ansiedelt, geradezu ein locus amoe16 nus – und Spielbergs Film wäre kein Welterfolg geworden, wenn er die literarische Vorlage nicht in einigen grundsätzlichen Punkten überschrieben hätte. Textschichten Wer der Meinung ist, das Filmgeschäft sei seit den 1970er Jahren nur noch schnelllebiger und effizienter im Ausklügeln seiner Profitmaximierungsstrategien geworden, der kann sich von der Entstehungsgeschichte von jaws eines Besseren belehren lassen. Selbst bei aktuellen Bestseller-Erfolgen wie den Romanreihen um Harry Potter (1997-2007) oder die Twilight-Vampire (2005-08) gehen meist einige Jahre ins Land, bevor die Kinoadaptionen vorliegen – in einigen Fällen (wie Cornelia Funkes Tintenherz-Reihe) war man gar so ›langsam‹, dass sich der Hype um die literarische Vorlage nicht mehr in veritablem Kassenerfolg niederschlagen konnte. Dagegen legten die Macher von jaws ein derartiges Tempo vor, dass ihnen nicht einmal der legendäre Drehverzug etwas anhaben konnte. Richard D. Zanuck und David Brown, zwei unabhängige Filmproduzenten, hatten den Roman Jaws noch vor seiner Drucklegung gelesen, einen Bestseller gewittert und sich I. Die Filmmaschinerie sofort die Filmrechte gesichert – nur 16 Monate nach dem Erscheinen des Romans kam ihr Film in die Kinos. An der Qualität der Romanvorlage scheiden sich die Geister, was nur auf den ersten Blick im Widerspruch zum kanonischen Status des Films steht. Einige der größten New-Hollywood-Klassiker basieren auf regelrechten Schund-Bestsellern – wer einmal zu Mario Puzos Roman The Godfather (1969) greift, aus dem Francis Ford Coppola den unbestrittenen Klassiker des amerikanischen Kinos überhaupt gemacht hat, kann über die zahlreichen Sex-Eskapaden nur staunen, und auch der theologische Kitsch, den William Peter Blatty in The Exorcist (1971) aufbietet, lässt sich nur schwer mit dem stilsicher umgesetzten Film von William Friedkin in Einklang bringen. Nicht die kunstvoll arrangierte discourse-Ebene der Erzählungen empfahl sie als Grundlage ambitionierter Kinoadaptionen, sondern ihre Aufgeschlossenheit gegenüber Genreformeln, ihr Spannungsgehalt und ihr offensives Flirten mit sex and crime. Zwar gibt es Kritiker, die Benchleys Anteil am Welterfolg von jaws zu wenig gewürdigt sehen und seinen pessimistischen Roman für eine wichtige Satire auf die Nixon-Ära halten (der Autor war vor seinem literarischen Debüt u.a. als Redenschreiber im demokratischen Lager tätig),32 doch im Tenor der Kritik überwiegt die Abwertung: Time nannte Benchleys Buch die Badewannen-Version von Herman Melvilles MobyDick (1851).33 Da sich der Roman wenig darum schert, gemocht zu werden oder ein filmadäquates Spektakel zu schaffen – Brody, hier der einzige Überlebende der OrcaBesatzung, besiegt den Hai eher zufällig –, erstaunt aus heutiger Sicht v.a., dass die Produzenten annahmen, Benchley selbst wäre der richtige Autor, um die Kinoadaption zu schreiben. Er erhielt letztlich zwar Der Haifisch, der hat Zähne einen Credit als Co-Autor des Drehbuchs, doch der unverhohlene Zynismus des Romans wird von der Filmversion, die größtenteils von Carl Gottlieb stammt, fast vollkommen nivelliert. Während das Buch keinen ernsthaften Versuch unternimmt, Identifikationsfiguren zu schaffen – Brody ist ein schwächlicher Held, seine unsympathische Frau betrügt ihn mit dem widerwärtigen Snob Hooper –, schafft Spielbergs Film sympathische Protagonisten und verfügt nicht nur über Selbstironie, sondern mit Brody gar über einen bebrillten Clark Kent, der sich in der Stunde der Gefahr zum Superman aufschwingt.34 Während der Dreharbeiten verriet Steven Spielberg dem Magazin Take One, für seine Zusage zum Projekt sei v.a. ausschlaggebend gewesen, dass er die ersten zwei Drittel des Romans habe wegschmeißen können; sein Selbstvertrauen als Regisseur kulminiert in dem Satz: »[W]e’ve really, I think, made a better movie than Jaws is a book.«35 Da überrascht es nicht, dass Spielberg und Gottlieb genaugenommen nicht Benchleys Roman auf die Leinwand bringen, sondern ein farbenfrohes Remake der creature features aus den 1950er Jahren abliefern, gar in einigen Einstellungen B-Filmklassiker wie creature from the black lagoon B-Filmklassiker mit Vorbildwirkung: creature from the black lagoon 17 Wieland Schwanebeck (Der Schrecken vom Amazonas; 1954; R: Jack Arnold) zitieren und damit ihren Platz im Familienalbum von Universal reklamieren. Die Sozialkritik wird freilich im naturalistischen Drama entlehnt – die ersten 30 Minuten von jaws sind eine durchaus werkgetreue Adaption von Henrik Ibsens Ein Volksfeind (1882).36 Brodys Ohnmacht entspricht der Erfahrung von Ibsens Protagonisten, dem Arzt Thomas Stockmann, der mundtot gemacht werden soll, als er öffentlich verkündet, die vermeintlichen Heilquellen des Küstenortes enthielten Krankheitserreger. Die Argumente des korrupten Stadthauptmanns, der auf »einen guten Sommer« und »einen großen Zustrom von Kurgästen« hofft und Stockmann deshalb unter Druck setzt, tauchen nahezu wörtlich in den Reden von Amitys Bürgermeister auf.37 Später findet jaws wieder den Weg zurück zu Benchleys Story, zum Abenteuer und zum Spektakel auf hoher See – schließlich wollte Spielberg die Öffentlichkeit in die Kinos treiben, nicht auf die Barrikaden. Zwar spart auch Benchleys Roman nicht mit Kritik an ruinösen politischen Zuständen, doch gerade in seiner undifferenzierten Schelte korrupter Politiker und bigotter Kleinstädter wirkt dieser »misanthropic best-seller«38 letztlich auch sehr beliebig – eingedenk der Evolution des jaws-Posters lässt sich zugespitzt formulieren, dass der Film einer eher zahnlosen Vorlage zu mehr Biss verhilft. Das Filmposter geht auf das von Roger Kastel entworfene Buchcover zurück, welches das berühmte, in der Folge so häufig aufgegriffene Mem39 in Stellung bringt: die nackte Schwimmerin, die des aus der Tiefe nach oben stoßenden, phallischen Monsters nicht gewahr ist.40 Gerade im direkten Vergleich mit der aufgehellten Version, die für den Film gewählt wurde (beide Motive können im Farbteil betrach18 der weisse hai revisited tet werden, S. 136), scheint der Roman-Hai eher der Karikatur eines zahnlosen Alten nachempfunden – die Schnauze des Tiers ist abgerundet, kein Zahn blitzt im Maul. Es war das deutlich aggressivere und buchstäblich bissigere Filmposter, das die populäre Imagination befeuern sollte (und mittlerweile auch die Titelseite des Romans ziert): Der in der Tiefe lauernde Hai nahm bald die Gestalt von Präsidentschaftskandidaten, gierigen Ölkonzernen oder der CIA an;41 in jüngerer Vergangenheit haben Hommage-Poster mit Steve Jobs oder dem als »Beißer« gebrandmarkten Fußballer Luis Suárez die Runde gemacht. Wenn sich jaws etwas von der Romanvorlage abschaut, dann v.a. in seiner Tendenz zur Gesellschaftskritik: Dem Heroismus Einzelner steht auch in der Kinoversion eine desillusionierende Sicht auf die Masse gegenüber. Sobald der Badespaß am 4. Juli einer Panik gewichen ist, werden rücksichtslos Alte und Kinder zur Seite geschubst und tritt der Mob weit verheerender als der lediglich seinen Appetit stillende Raubfisch in Erscheinung.42 An dieser Stelle versteht jaws keinen Spaß – den Streich, den die beiden Jungs mit der Papp-Haifischflosse den Touristen spielen, inszeniert Spielberg daher auch nicht als fröhlichen Geisterbahneffekt (wie er es etwa mit dem Kopf Ben Gardners handhabt), sondern montiert seine Folgen als beklemmendes Gemetzel – nicht nur aufgrund des Settings klingt hier schon das Blutbad von Omaha Beach aus saving private ryan (Der Soldat James Ryan; 1998) an. Folgerichtig endet die Szene mit einer Denunziation, die zum politischen Grundton des Films passt: »He made me do it«, beharrt einer der beiden auf frischer Tat ertappten Jungs und richtet den Finger anklagend auf seinen Mitverschwörer, ohne diesem dabei in die Augen blicken zu können. Bei aller Kritik, I. Die Filmmaschinerie Der Haifisch, der hat Zähne Wer zuletzt lacht, lacht am besten ( jaws) die jaws an den Vertretern der politischen Kaste vorbringt: Vaughn behält mit seiner Warnung an Brody, der Ausruf »Shark!« werde ein weit schlimmeres Chaos heraufbeschwören, völlig recht – der Meute ist nicht über den Weg zu trauen. Nicht nur aufgrund seiner kritischen Reflexion des Publikums ist jaws – und hier schließt sich der Kreis zu Matt Hoopers Erzählung darüber, wie sehr Nervenkitzel und Freude benachbart sind – auch ein Film übers Kino selbst. Analog zu großen Thrillern wie psycho (1960; R: Alfred Hitchcock) oder peeping tom (Augen der Angst; 1960; R: Michael Powell) zwingt er sein Publikum in die Rolle des schaulustigen Killers, und wie der Hai seine Opfer packt, durchschüttelt und nicht mehr loslässt, so ergeht es auch uns mit dem Film.43 »This shark«, so räsoniert Quint treffend (und sein eigenes Schicksal erahnend), »swallow[s] you whole.« Zuletzt lacht da der Regisseur, der die Hebel dieser Achterbahnfahrt bedienen darf. Im Unterschied zu Hitchcock bescheidet sich Spielberg dabei nicht etwa mit einem Cameo, sondern schmuggelt gar einen Doppelgänger unter die Hauptcharaktere. Der souverän mit der neuesten Technik operierende, von den Älteren anfangs noch belächelte Hooper vertritt in mehrerlei Hinsicht auf der Ebene der Diegese den Regisseur. In seinem breiten Grinsen liest Antonia Quirke nicht nur die Rache des Nerds und einen deutlichen Beleg dafür, dass hinter der Kamera ein kleiner Junge steht,44 Hooper ist auch derjenige, dessen Versuchsanordnung den Showdown des Films einleitet, den er in Beobachterposition off-camera verbringt – immer noch die sicherste Position, wie auch der Zuschauer weiß. Zur Struktur des Buchs Anliegen des vorliegenden Buches ist es, erstens in einer kritischen Würdigung zu resümieren, wie jaws die Film- und Kulturgeschichte beeinflusst hat, zweitens die stark divergierenden Interpretationen des Films zu synthetisieren, und drittens neue Sichtweisen auf ihn zu eröffnen. Derzeit existieren zwar bereits einige v.a. im angloamerikanischen Sprachraum publizierte Einzelstudien zu Spielbergs Film, die einige der hier angesprochenen Aspekte erhellen;45 allerdings sind widerstreitende, einander ergänzende und interdisziplinäre Perspektiven zu jaws bisher noch 19 Wieland Schwanebeck nicht in einem umfassenden Gesamtwerk zusammengeführt worden. Das Buch bietet insgesamt sieben thematische Sektionen, die allesamt mit einem Motto aus dem Film überschrieben sind und jeweils drei Texte enthalten. In der I. Sektion (»Die Filmmaschinerie«) werden im Anschluss an die Einleitung nicht die altbekannten Legenden um den Filmdreh sowie tradierte Argumente zur Filmmusik wiederholt, sondern beide Themen aus einer frischen Perspektive in Angriff genommen: Felix Lempp befragt anhand von jaws die Gattung des Making-ofs auf ihre Erzählmechanismen; Michael Hiemke nähert sich anhand eines im Schulunterricht durchgeführten Kompositionsexperiments mit Schülerinnen dem Problem einer zeitgenössischen, unvoreingenommenen Bewertung der Filmmusik. Die II. Sektion (»[Film-]Geschichtliche Kontexte«) reflektiert die Hintergründe zur Entstehung des Films – Ian Freer mit seiner Aufarbeitung der Hintergründe des Untergangs der U.S.S. Indianapolis, der in jaws an zentraler Stelle zitiert wird; Heiko Nemitz mit seiner Erörterung des filmgeschichtlichen Kontexts von jaws, der auf dem Höhepunkt von New Hollywood entsteht; mein eigener Beitrag diskutiert auf intra- wie auch auf extratextueller Ebene den Einfluss Alfred Hitchcocks auf den Film. Die drei in der Sektion »Gattungsfragen« folgenden Beiträge von Marcus Stiglegger, Michael Flintrop und Sofia Glasl bewerten jaws jeweils unter verschiedenen Genre-Paradigmen: Stigleggers Kontextualisierung von jaws innerhalb des Tierhorrorfilms und Flintrops Lektüre des Films als Beitrag zum disaster genre greifen jeweils ein zentrales Gattungsmuster auf, während Glasl Aspekte der generischen Hybridität und die Tradition der Abenteuergeschichte betont. 20 der weisse hai revisited Mit der IV. Sektion (»Räumliche Aspekte«) folgt eine Hinwendung zu vertieften Lektüren unter ausgewählten Gesichtspunkten: Stefan Jung, Willem Strank und Eckhard Pabst untersuchen verschiedene spatiale Aspekte des Films, so etwa im Sinne einer Standortbestimmung innerhalb von Steven Spielbergs Gesamtwerk, das von einem Gegensatz zwischen suburbanem und exurbanem Raum charakterisiert ist, ferner mit Blick darauf, wie in jaws Grenzen überschritten werden: sowohl in der Bewegungsrichtung des Films als auch in seinen Inszenierungsstrategien. In der diverse theoretische Zugriffe versammelnden V. Sektion (»Tiefenblicke«) finden sich weitere kritische Analysen zum Film, u.a. zu seiner Geschlechterpolitik. Elisabeth Bronfen verortet aus psychoanalytischer Perspektive nicht nur zentrale, für das amerikanische Erzählkino charakteristische freudianische Topoi in jaws, sondern liest den Film auch als eine leitmotivisch vom unterschwelligen Todestrieb durchzogene Auseinandersetzung mit spezifisch amerikanischen Traumata. Jan D. Kucharzewski diskutiert die spannungsvolle Männlichkeitsdynamik v.a. der zweiten, auf hoher See spielenden Hälfte des Films, und Dorothe Malli erörtert die in jaws evozierten biblischen Intertexte, u.a. unter Rekurs auf die ikonographische Tradition des Leviathan sowie Hiobs. Ganz im Zeichen des Haifischs sowie des Mensch-Tier-Verhältnisses steht die vorletzte Sektion, in der Tabea Weber die kulturanthropologische Sicht der Animal Studies auf den als Monster überzeichneten Hai und Lars Koch die diversen im Film ausgehandelten Formen von Angst und Furcht in den Blick nehmen. In einem kurzen essayistischen Beitrag thematisiert Konstanze Hiemke die andauernde Faszination des Haifischgebisses. I. Die Filmmaschinerie Die Nachwirkungen des Films schließlich werden in der VII. und letzten Sektion bewertet – Kathleen Loock und Csaba Lázár gehen dabei auf das Erbe des Films (einerseits seine direkten Fortsetzungen unter dem Aspekt seriellen Erzählens, andererseits die von jaws inspirierten epigonalen Genrefilme) ein, während Christian Wild resümiert, welch gestörtes Verhältnis zum Hai uns jaws hinterlassen hat. Die Autorinnen und Autoren des Buchs hoffen, dass ihre Arbeit weitere Diskussionen rund um den Film inspirieren wird, der inzwischen Mühe haben dürfte, den ihm in der Filmgeschichte vorauseilenden Ruf, seine zahllosen Epigonen sowie die von ihm in der Populärkultur hinterlassenen Spuren einzuholen, denn wie der ebenfalls im Farbteil reproduzierte Cartoon von Martin Perscheid illustriert (S. 138), hat sich die aus dem Wasser auftauchende Dreiecksflosse derartig synonym für Angst und Schrecken ins kulturelle Gedächtnis eingebrannt, dass sie vom Referenzobjekt regelrecht entkoppelt scheint. Also zurück zum Original, zu jaws, mit dem der Albtraum einst begonnen hat – genau wie Chief Brody sollten wir uns nicht scheuen, ins Wasser zu blicken, wo wir die Gefahr vermuten. Taucht der Hai dann in seiner imposanten Gestalt vor uns auf, dürfte es nicht nur für Matt Hooper (»I love sharks!«) der Beginn einer lebenslangen Beschäftigung gewesen sein. Los wird man das Untier dann so schnell nicht mehr, weshalb auch mit dem vorliegenden Band längst nicht alles zu jaws gesagt ist – dafür bräuchten wir, um in der Sprache des Films zu bleiben, wohl ein größeres Buch. q Anmerkungen 1 jaws wurde bei den Academy Awards 1976 mit drei Oscars (für Musik, Ton und Schnitt) geehrt und schaffte es auf die Auswahllisten des Der Haifisch, der hat Zähne WGA-Award der Writers Guild of America (für die beste Adaption), der BAFTA-Awards sowie der Golden Globes. Das National Film Preservation Board setzte den Film 2001 auf die Liste bewahrenswerter amerikanischer Filme, und auch auf den regelmäßig überarbeiteten Bestenlisten des American Film Institute ist jaws regelmäßig vertreten (aktuell etwa in den Top 100 der besten Filme, Thriller, Schurken, Zitate und Filmmusiken). 2 jaws setzte allein in den USA 260 Millionen Dollar um, d.h. 13% aller Kinokartenverkäufe überhaupt in diesem Jahr – eine Quote, die seit the sound of music (Meine Lieder – meine Träume; 1965; R: Robert Wise) nicht erreicht worden war (vgl. Frederick Wasser: Steven Spielberg’s America. Cambridge / Malden 2010, S. 78f.). Die Erstausstrahlung im US-Fernsehen am 4. November 1979 bescherte dem Sender ABC eine Einschaltquote von 57%, bis heute die zweithöchste Quote für die Ausstrahlung eines Films nach gone with the wind (Vom Winde verweht; 1939; R: Victor Fleming). Auch in Großbritannien hält der Film diese Position in einer ansonsten völlig von james bond-Filmen dominierten Statistik, vgl. en.wikipedia. org/wiki/List_of_most_watched_television_ broadcasts [4.2.2015]. 3 Wiewohl Spielbergs Vorschlag, jaws-Eiskrem in den Sorten sharklate, finilla und jawberry [sic!] auf den Markt zu bringen, von Universal abgelehnt wurde, waren zum Filmstart im Juli 1975 »two million jaws tumblers, half a million T-shirts and tens of thousands of posters, beach towels, shark’s tooth pendants, bike bags, blankets, costume jewellery, shark costumes, hosiery, hobby kits, inflatable sharks, iron-on transfers, board games, charms, pyjamas, bathing suits, water squirters« im Umlauf. Vgl. Jim Hoberman: nashville Contra jaws, or ›The Imagination of Disaster‹ Revisited. In: Thomas Elsaesser / Alexander Horwath / Noel King (Hg.): The Last Great American Picture Show. New Hollywood Cinema in the 1970s. Amsterdam 2004, S. 195-222, hier: S. 213. 4 Hellmuth Karasek: Mein Kino. Die 100 schönsten Filme. Hamburg 1994, S. 408. Zum kulturellen Beben, das jaws auslöste, und seinem Einfluss auf Filmmarketing und -merchandising vgl. Justin Wyatt: From Roadshowing to Saturation Release. Majors, Independents, and Marketing/Distribution Innovations. In: Jon Lewis 21 Wieland Schwanebeck (Hg.): The New American Cinema. Durham 1998, S. 64-86, spez. S. 78-83; sowie Nigel Morris: The Cinema of Steven Spielberg. Empire of Light. New York 2007, S. 43-45. 5 Vgl. Tom Shone: Blockbuster. How Hollywood Learned to Stop Worrying and Love the Summer. New York 2004, S. 68f. 6 Vgl. www.imdb.com/title/tt0073195/movieconnections [4.2.2015]. 7 Georg Seeßlen: Steven Spielberg und seine Filme. Marburg 2001, S. 30. 8 Vgl. Griselda Pollock: jaws. In: Spare Rib vom 4. April 1976, S. 41f.; Jane E. Caputi: Goddesses and Monsters. Women, Myth, Power, and Popular Culture. Madison 2004, spez. S. 27-30. 9 Siehe hierzu den Beitrag von Michael Hiemke. 10 Vgl. Nigel Andrews: Nigel Andrews on jaws. A Bloomsbury Movie Guide. London 1999, S. 120f. 11 Der von Graham Chapman gespielte Conferencier begrüßt die frisch Verstorbenen im Himmel mit dem Lied: »It’s Christmas in Heaven, / There’s great films on TV, / the sound of music, twice an hour, / And jaws One, Two, and Three.« 12 Vgl. Christian Keathley: Trapped in the Affection Image. Hollywood’s Post-Traumatic Cycle (1970-1976). In: Thomas Elsaesser / Alexander Horwath / Noel King (Hg.): The Last Great American Picture Show. New Hollywood Cinema in the 1970s. Amsterdam 2004, S. 293-330, hier: S. 305. 13 Siehe hierzu den Beitrag von Ian Freer. 14 Zu den Verbindungen zwischen jaws und der Strukturformel des Monomythos siehe den Artikel von Sofia Glasl sowie Robert Jewett / John Shelton Lawrence: The American Monomyth. New York 1977, S. 149-152; Thomas S. Frentz / Janice Hocker Rushing: Integrating Ideology and Archetype in Rhetorical Criticism, Part II. A Case Study of jaws. In: Quarterly Journal of Speech 79 (1993), S. 61-81; Jonathan Lemkin: Archetypal Landscapes and jaws. In: Charles L.P. Silet (Hg.): The Films of Steven Spielberg. Lanham 2002, S. 3-13. 15 Ironischerweise deutet jaws 2 für einige Interpreten weit stärker als der Vorgänger in Richtung von Spielbergs typischer Familienkonstellation, indem der Fokus stärker auf die Generation der Kinder wandert. Spielberg war zunächst als Regisseur des Sequels vorgesehen 22 der weisse hai revisited und hatte immerhin die Empfehlung, »children in distress« zu porträtieren, in die Entwicklung des Projekts eingebracht. Vgl. Ray Loynd: The jaws 2 Log. New York 1978, S. 26. 16 Peter Biskind: jaws. Between the Teeth. In: Jump Cut 9 (1975), www.ejumpcut.org/archive/ onlinessays/JC09folder/Jaws.html [4.2.2015]. 17 Diese Reaktion Castros wird u.a. kolportiert in Andrews: jaws, a.a.O., S. 118 sowie durch Slavoj Žižek in dem Film the pervert’s guide to ideology (2013; R: Sophie Fiennes). 18 Antonia Quirke: jaws. London 2008, S. 67. 19 Übersichten der wichtigsten Interpretationsansätze zum Film finden sich gesammelt in Andrews: jaws, a.a.O., S. 143-150; Seeßlen: Spielberg, a.a.O., S. 37f. 20 Ernest Hemingway: Selected Letters, 1917-1961. New York 1981, S. 780. 21 Vgl. Fredric Jameson: Reification and Utopia in Mass Culture. In: Michael Hardt / Kathi Weeks (Hg.): The Jameson Reader. Oxford 2000, S. 123148, hier: S. 139f. Zu jaws als Metaerzählung der Kulturindustrie s.a. Hoberman: nashville Contra jaws, a.a.O., S. 211. 22 Žižek in the pervert’s guide, a.a.O. 23 Zur kathartischen Funktion des Endes vgl. Glenn Man: 1975. Movies and Conflicting Ideologies. In: Lester D. Friedman (Hg.): American Cinema of the 1970s. Themes and Variations. New Brunswick 2007, S. 135-156, hier: S. 154f. 24 »[T]he true value of Spielberg’s movies is always inversely proportional to their seriousness – hence war of the worlds is a better film than munich in the same way that jaws beats schindler’s any day«. Mark Kermode: It’s Only a Movie. London 2010, S. 113. 25 Neil Sinyard: The Films of Steven Spielberg. London 1989, S. 32. 26 Vgl. Robin Wood: Hollywood from Vietnam to Reagan – and Beyond. New York 2003, S. 160. S.a. Lewis’ Ausführungen zu Spielbergs BlockbusterZyklus während der Reagan-Administration; Jon Lewis: The Perfect Money Machine(s). George Lucas, Steven Spielberg, and Auteurism in the New Hollywood. In: Jon Lewis (Hg.): Looking Past the Screen. Case Studies in American Film History and Method. Durham 2007, S. 61-86. 27 Siehe den Beitrag von Heiko Nemitz im vorliegenden Buch. 28 Vgl. Shone: Blockbuster, a.a.O., S. 219f. 29 Antonia Quirke kontrastiert den zum Showdown heranrasenden Hai mit der Gasflasche im Maul I. Die Filmmaschinerie mit dem Cheroot-paffenden, namenlosen Westernhelden, den Clint Eastwood in Sergio Leones dollar-Trilogie verkörpert; vgl. Quirke: jaws, a.a.O., S. 88f. Nigel Morris sieht hierin auch eine Karikatur des Großkapitalisten mit Zigarre im Mund; vgl. Morris: Cinema, a.a.O., S. 53. 30 Michael Ryan / Douglas Kellner: Camera Politica. The Politics and Ideology of Contemporary Hollywood Film. Bloomington 1988, S. 65. 31 Vgl. Andrew Gordon: Empire of Dreams. The Science Fiction and Fantasy Films of Steven Spielberg. Lanham 2008, S. 43. Zum politischen Kontext s.a. Stephen Heath: jaws, Ideology, and Film Theory. In: Bill Nichols (Hg.): Movies and Methods. An Anthology, Vol. 2. Berkeley 1976, S. 509-515. 32 Zum politischen Subtext des Romans vgl. James Kidd: Jaws at 40 – is Peter Benchley’s book a forgotten masterpiece? In: The Independent vom 4. September 2014, www.independent.co.uk/ arts-entertainment/books/features/jaws-at40--is-peter-benchleys-book-a-forgotten-masterpiece-9711459.html [4.2.2015]. 33 Zu den Parallelen zwischen Moby-Dick und jaws vgl. Frentz / Hocker Rushing: Integrating Ideology, a.a.O., S. 65f.; Walter Metz: The Cold War’s »Undigested Apple-Dumpling«. Imaging Moby-Dick in 1956 and 2001. In: Literature/Film Quarterly 32.3 (2004), S. 222-228, hier: S. 227f.; I.Q. Hunter: Exploitation as Adaptation. In: Iain Robert Smith (Hg.): Cultural Borrowings. Appropriation, Reworking, Transformation. o.A. (e-Book) 2009, S. 8-33, hier: S. 13. 34 Intertextuelle Bezüge zwischen jaws und comic books werden eingehender diskutiert in Jewett / Shelton Lawrence: American Monomyth, a.a.O., S. 153f. 35 Spielberg im Gespräch mit David Helpern: At Sea with Steven Spielberg. In: Lester D. Friedman / Brent Notbohm (Hg.): Steven Spielberg. Interviews. Jackson 2000, S. 3-17, hier: S. 8f. 36 Drehbuchautor Carl Gottlieb erinnert sich: »Steven and I always referred to jaws as ›Moby Dick meets Enemy of the People‹«. Gottlieb im Der Haifisch, der hat Zähne Gespräch mit William Baer: Classic American Films. Conversations with the Screenwriters. Westport 2008, S. 208. 37 Henrik Ibsen: Ein Volksfeind. In: Ders.: Dramen, Bd. 2. Rostock 1965, S. 5-113, hier: S. 9. 38 Shone: Blockbuster, a.a.O., S. 32. Laut Andrew Britton versammelt der Roman jede Phobie des »middle-aged, middle-class, menopausal American male«, d.h. kriminelle Strukturen, Finanzkrise, Umweltprobleme, Kollaps der Familie; Andrew Britton: jaws (1979). In: Barry Keith Grant (Hg.): Britton on Film. The Complete Film Criticism of Andrew Britton. Detroit 2009, S. 237-240, hier: S. 237. 39 Richard Dawkins’ Konzept des Mems – ein Ideenmuster, das die Kultur in diversen Ausprägungen durchzieht – wird von Ian Hunter auf jaws angewandt. Ihm zufolge ist der Filmhai so wirkmächtig geworden, dass er sich zum dominanten intertextuellen Referenzpunkt des Hais an sich aufschwingen konnte, »even when no specific allusion is intended. All films with sharks, all cultural representations of sharks, are jaws-ploitation now.« Hunter: Exploitation, a.a.O., S. 22f. 40 Roger Kastels Beitrag zum jaws-Phänomen wird eingehender gewürdigt von Ian Freer: The Unsung Heroes of jaws. www.empireonline.com/ features/jaws-unsung-heroes/p2 [4.2.2015]. 41 Vgl. Morris: Cinema, a.a.O., S. 55. 42 »Spielberg’s camera is transfixed by how disgusting people can be. They scramble out of the water with no greater regard for human life than the shark that is pursuing them.« Ryan Gilbey: It Don’t Worry Me. The Revolutionary American Films of the Seventies. New York 2003, S. 82. 43 Vgl. Pascal Bonitzer / Serge Daney: L’écran du fantasme. jaws. In: Cahiers du Cinéma 265 (1976), S. 12-16, hier: S. 12. S.a. Morris: Cinema, a.a.O., S. 57-61. 44 Vgl. Quirke: jaws, a.a.O., S. 61. 45 Vgl. hierzu en détail die Bibliographie im Anhang. Der Haifisch, der hat Zähne. Einführung aus: Wieland Schwanebeck (Hg.): der weisse hai revisited. Steven Spielbergs jaws und die Geburt eines amerikanischen Albtraums. ISBN 978-3-86505-325-1 / © 2015 Bertz + Fischer Verlag / www.bertz-fischer.de 23