Der Haifisch, der hat Zähne

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Der Haifisch, der hat Zähne
I. Die Filmmaschinerie Der Haifisch, der hat Zähne
I. Womit wir es hier zu tun haben, ist ein
perfekter Motor: Die Filmmaschinerie
Der Haifisch, der hat Zähne
Zur Einführung
Von Wieland Schwanebeck
»I have seen the future and it is jaws.«
Kenneth Turan (1975)
Der Augenblick von jaws: Jumping
the shark
I
m Vergleich zu anderen Horrorfilmen ist
Steven Spielbergs jaws (1975) ein an Monologen reicher Film. In einer der zahlreichen
berühmten Redepassagen erläutert der von
Richard Dreyfuss gespielte Meeresbiologe
Matt Hooper seine lebenslange Begeisterung
für Haie anhand einer Geschichte aus seiner
Kindheit: Nachdem er in einem Boot aufs
Meer hinausgesegelt war, dort unliebsame
Bekanntschaft mit einem Hai machen musste (»Scared me to death!«) und sich gerade
eben so an Land retten konnte, blieb Hooper
jedoch nicht (wie etwa sein widerwilliger
Gefährte, Chief Brody) lebenslang wasserscheu, sondern entflammte überhaupt erst
für die großen Fische, widmete sich fortan
ganz der Erforschung und dem Beobachten
von Haien aus nächster Nähe.
Hoopers Monolog, der während der Jagd
auf den Weißen Hai später im Film bestä-
tigt wird, wenn sich selbst angesichts der
Todesgefahr jungenhafte Begeisterung
auf Hoopers Gesicht ausbreitet (mit der er
sogar Brody ansteckt), kann mit einigem
Recht als Kernfabel des Films und auch als
Metaerzählung seiner Erfolgsgeschichte
bezeichnet werden. Nicht nur, dass jaws
Kassenrekorde brach und für einen Genrefilm mit einer außergewöhnlichen Anzahl
von Ehrungen bedacht wurde,1 legendär
sind auch die Geschichten über vor Angst
lustvoll kreischende Zuschauer, die – wie
weiland Hooper als kleiner Junge – nicht
etwa fortan den Kinosaal mieden, sondern
ihre ›Angstlust‹ (Michel Balint) regelrecht
zelebrierten, jaws zum bis dato erfolgreichsten Kinofilm aller Zeiten machten2
und auch den Sequels und weiteren durch
ihn inspirierten Filmen zu respektablen
Einspielergebnissen verhalfen. Im Verbund mit the godfather (Der Pate; 1971;
R: Francis Ford Coppola) sowie star wars
(Krieg der Sterne; 1977; R: George Lucas)
bildet Spielbergs Film eine Trias, die in den
1970ern die globale Kinokultur nachhaltig verändern, die bis dahin gängige Film9
Wieland Schwanebeck der weisse hai revisited
Große Jungs auf Abenteuerfahrt ( jaws)
verleih- und Werbepraxis der Filmstudios
gründlich auf den Kopf stellen und sich
im Zeichen einer generellen Verjüngung
des zahlungskräftigen Kinopublikums als
wegbereitend erweisen sollte. Mit dem flächendeckenden Start des Films, den (noch
relativ zaghaften) Merchandising-Aktivitäten3 und einer Werbekampagne, die erfolgreich »die Kinder ins Kino zu locken
[verstand], ohne die Erwachsenen zu vergraulen«,4 sollte jaws Maßstäbe setzen. Als
Universal 1977 mit the deep (Die Tiefe; R:
Peter Yates) die nächste Verfilmung eines
maritimen Bestsellers von Peter Benchley
in die Kinos brachte, war das Studio bereits
so abgeklärt, dass es Drehpannen in werbewirksame Schlagzeilen umzumünzen
verstand und den Starttermin so wählte,
dass die Zielgruppe gerade ihre monatlichen Gehaltsschecks erhalten hatte, um
diese in Kinokarten, Soundtracks und den
eigens für den Film kreierten Cocktail zu
investieren.5 20 Jahre später liefen mit
Spielbergs jurassic park (1993) oder batman & robin (1997; R: Joel Schumacher)
schon Filme an, die ihre Spielzeug- und
Fast-Food-Lizenzverträge ausgehandelt
hatten, noch bevor überhaupt ein fertiges
Drehbuch existierte.
10
Auch der popkulturelle Einfluss lässt
sich kaum beziffern: Anfang 2015 listet
die Internet Movie Database nicht nur mehr
als 150 Parodien, sondern fast 1.000 Filme
und Fernsehsendungen, die sich intertextuell auf jaws beziehen oder ihn gar direkt
zitieren.6 Im Kielwasser des Weißen Hais
schwimmen zahllose Genre-Epigonen und
auch Vertreter aller anderen Gattungen:
James Bond musste 1977 gegen einen Jaws
genannten Hünen mit Metallgebiss antreten (the spy who loved me; Der Spion, der
mich liebte; R: Lewis Gilbert), Chief Brodys
einschlägig bekannte Äußerung angesichts
der übermächtigen Bestie (»You’re gonna
need a bigger boat!«) ist zum geflügelten
Wort für jegliche ausweglose Situation
avanciert, und der legendäre Narbenvergleich an Bord der Orca ist u.a. als erotisch
aufgeladener Striptease (lethal weapon
3; Brennpunkt L.A. – Die Profis sind zurück; 1992; R: Richard Donner) sowie im
Independent-Kino als Chronik von OralsexVerletzungen (chasing amy; 1997; R: Kevin
Smith) nachgespielt worden.
Diese retrospektive Verknüpfung von
Eros und Thanatos kommt nicht von ungefähr – der psychosexuelle Subtext der
Haiangriffe, die »direkt aus dem Urschoß
I. Die Filmmaschinerie Der Haifisch, der hat Zähne
der Natur« an die Oberfläche stoßende Vagina dentata,7 all dies war früh von
der feministischen Kritik
herausgearbeitet worden.8
Gänzlich an die Oberfläche brachten es pornographische Pastiche-Versionen: Bereits im Sommer
nach jaws kam mit gums
(1976; R: Robert J. Kaplan)
eine Version in die Kinos,
Porno-Pastiche (this ain’t jaws xxx)
in der eine Meerjungfrau
nach den Penissen nackter Schwimmer schnappt. Deutlich sche- allein im wald; 2004; R: Sven Unterwaldt)
matischer, wenn auch nicht weniger frei- überblendet worden. In der Eröffnungsszezügig geht es in this ain’t jaws xxx (2012; ne seines größten Misserfolgs (der 1979 geR: Stuart Canterbury) zu, einem von der starteten Kriegssatire 1941) besorgt Spielporn parody-Welle in die Videotheken ge- berg die Hommage kurzerhand selbst und
spülten, mit reichlich Sex angereicherten stellt die Szene mit der jaws-Schauspielerin
Querschnitt durch die bekanntesten Sze- Susan Backlinie und einem U-Boot-Perisnen des Originals: Hier träumt Quint da- kop anstelle der Haifischflosse nach. Selbst
von, den Hai mit seinem »Hosenwurm« ein seriöses Biopic wie kon-tiki (2012; R:
zu ködern, was Hooper (in dieser Version Joachim Rønning / Espen Sandberg), das
weiblich) zu dem Kommentar veranlasst: ohne selbstironische Schlenker kolonialen
»You’re gonna need a bigger dick!«
Abenteuergeist aufleben lässt, kann sich
Auch einzelne Einstellungen, Dialogzei- nicht verkneifen, ein paar bedeutungslen und natürlich Elemente der Filmmusik schwangere Bassnoten einzustreuen, sowurden wiederholt nachgeahmt. John Wil- bald sich Haie dem Floß Thor Heyerdahls
liams’ Thema hat sich durch seine Simpli- oder dem Tauchkäfig nähern (Farbteil,
zität als effektives akustisches Gefahren- S. 138). Bedenkt man, wie hier zwanghaft ein
signal bewährt,9 die Bedrohung aus der Schreckensmoment immer wieder zitiert
Tiefe ist in Hommagen und Parodien u.a. und in Varianten durchgespielt wird, dann
mit dem Heck eines Flugzeugs (airplane!; Die unglaubliche Reise in einem
verrückten Flugzeug; 1980;
R: Jim Abrahams / David
Zucker / Jerry Zucker), mit
Raumschiffen (spaceballs;
1987; R: Mel Brooks) oder
gar mit der Zipfelmütze
eines Zwergs im Märchenwald (7 zwerge – männer Spielberg parodiert sich selbst (1941)
11
Wieland Schwanebeck der weisse hai revisited
in einem selbstvergessenen
Moment das Shanty von
den Spanish Ladies anstimmen, kurz bevor die Realität wortwörtlich wieder ans
Boot klopft und gekämpft
werden muss; wenn Chief
Brody nach dem Showdown
seinen heroischen, von niemandem sonst bezeugten
Moment der Bewährung
mit einem melancholischen
Lächeln besiegelt – dann
erzählt jaws auch von der
Unmöglichkeit, einer sublimen Erfahrung habhaft
zu werden und einen Augenblick ins Unendliche
zu verlängern. Was wäre
Reflexive Momente in den Gefechtspausen ( jaws)
dieser sonst auch wert, und
was wäre jaws wert, wenn
sind all dies mindestens Symptome eines er seine Zuschauer nicht in seinen Schlund
folgenschweren Albtraums, möglicherweise zöge, um sie zwei Stunden später erschöpft,
gar einer schwerwiegenden Traumatisie- aber glücklich wieder auszuspucken, sonrung; immerhin ist die nach dem Filmstart dern wenn er stattdessen, so wie es Monty
an den Küsten der USA ausgebrochene Ba- Python in the meaning of life (Der Sinn
des Lebens; 1983; R: Terry Jones) beschwödeangst gut dokumentiert.10
In jedem Fall ist der Augenblick von jaws ren, im Jenseits in Dauerschleife (und im
der Kristallisationspunkt mehrerer kultur- Verbund mit seinen schauderhaften Fortgeschichtlicher Entwicklungen, die in eini- setzungen) liefe?11
gen Beiträgen dieses Buches eingehender
Mit jaws, so das dominante Narrativ,
diskutiert werden. Wiewohl die Geschichte erreicht New Hollywood seinen Zenit und
von New Hollywood schnell der Verklärung konsolidiert auf mehreren Ebenen eine Krianheimgefallen war und mythische Züge se: Der Film weist für Christian Keathley
annehmen sollte, gibt es doch reichlich zwar noch Spuren des kritischen, traumaAnhaltspunkte dafür, dass jaws selbst für tisierten Post-Vietnamkinos auf, das Filmeeinen Moment steht, den er (als seine eige- macher mit klassischen Regeln der Hollyne Metaerzählung) immer wieder ins Bild wood-Narration brechen ließ, er exorziert
setzt: Wenn der alte Seebär Quint gedan- die Bedrohung aber zugleich und besinnt
kenverloren am Bug steht und die pittores- sich auf archaischere Erzählmuster.12 Als
ke Dämmerung betrachtet (möglicherweise Allegorie für ein Amerika im Zeichen von
ahnend, dass er seinen letzten Sonnenun- Watergate könnte die von zwielichtigen
tergang bewundert); wenn die drei Männer Gestalten regierte Kleinstadt Amity (deerst einem Walgesang lauschen und dann ren geradezu zwanghafte Emphase guter
12
I. Die Filmmaschinerie Der Haifisch, der hat Zähne
Nachbarschaft und Idylle bereits im Namen
anklingt) nicht deutlicher entworfen sein;
das Aussparen unbequemer Wahrheiten
und die Tilgung schwarzer Momente aus
den Geschichtsbüchern sind auch in den
berühmten Monolog Quints deutlich eingeschrieben.13 Die Bezwingung des Monsters,
so will es die mythische Fabel im Herzen
des Films,14 heilt jedoch alle Wunden, und
auch die Filmstudios finden in der Folge aus
der Krise. jaws bestätigt nämlich, dass sich
mit genialischen, ausdrucksstarken jun- Henry Winkler nimmt Anlauf: Jumping the
gen Regisseuren nicht nur Preise gewin- shark in happy days
nen und europhile Rezensenten überzeugen lassen, sondern dass die neuen stilis- nicht mehr ihr Niveau von früher erreicht;
tischen Handschriften durchaus das Zeug das Musik-Idol, das den richtigen Zeitpunkt
dazu haben, profitables Popcorn-Kino zu für die endgültige Abschiedstournee verproduzieren. Von hier ist das Ende New passt; den Politiker, der im Wahlkampf zu
Hollywoods nicht mehr weit.
Begeisterungsstürmen hinreißt und dann
Man mag angesichts dieser Konstellati- im Amt verblasst.
on nicht glauben, dass jaws an einer HinSieht man einmal davon ab, dass auch in
terlassenschaft des Hais in der Popkultur happy days kurz das bekannte John-Wilunschuldig ist, die ebendieses Phänomen liams-Thema zitiert wird, war jaws an der
beschreibt, nämlich dem Ausdruck jumping Prägung dieser Formel unbeteiligt, wiewohl
the shark. 1977 springt in der Erfolgs-Sitcom sie im kurz darauf angelaufenen Sequel
happy days (1974-84) Publikumsliebling ( jaws 2; 1978; R: Jeannot Szwarc) bestätigt
Fonzie (Henry Winkler) auf Wasserskiern wird – an die Stelle der genauen Charaküber einen Hai – ein spektakulärer Stunt, terzeichnung und der geduldigen Dramader in der Rückschau jedoch als Anfang turgie des Originals treten die generischen
vom Ende für die Serie gelesen wird. Diese Elemente des Teenie-Horrors,15 Wasserskisollte zwar noch für weitere sechs Staffeln Stunts und ein Hai, der nicht übersprunlaufen, für Beobachter hatte Fonzies Mut- gen wird, sondern selbst springt (und nach
probe allerdings unmissverständlich signa- einem Hubschrauber schnappt).
lisiert, dass Extravaganzen
und sight gags fortan das
ersetzen sollten, was die
Serie groß gemacht hatte,
nämlich ihre realistischen,
aus den Charakteren entwickelten Plots. Jumping the
shark ist sprichwörtlich für
alles geworden, das seinen
Zenit überschritten hat –
die Lieblingszeitschrift, die In jaws 2 springt der Hai persönlich
13
Wieland Schwanebeck Im Meer der Deutungen
Wenngleich jaws damals wie heute in erster Linie als brillant umgesetzter Unterhaltungsstoff, als virtuos inszenierte Synthese aus Horror- und Abenteuerfilm (mit unübersehbaren Anleihen in der christlichen
Mythologie wie auch in der amerikanischen
Kulturgeschichte) rezipierbar ist, berührt
seine Tiefenstruktur (und jaws führt wortwörtlich in die Tiefe) auch philosophische
Themen. So klingt in der Verachtung der
Fischer für die wissenschaftlichen Methoden des aus der Stadt kommenden, reichen
college boy Matt Hooper der Konflikt zwischen zwei Wissenskulturen an; führen
das reflexhafte Leugnen der Stadtoberen
und die zahlreichen Irrtümer (über Todesursachen, den richtigen Hai und das
korrekte Vorgehen im Kampf) ins Herz
erkenntnistheoretischer Debatten; und
berührt die Darstellung des Hais in ihrer
Überhöhung zum absolut Bösen auch ethische Fragestellungen.
Die meisten Diskussionen kreisen freilich um die Bedeutung des Hais. In einer
Gesellschaft, die gerade ein kulturelles Beben hinter sich hatte und deren kultureller
Output ideologisch längst nicht mehr über
einen Kamm zu scheren war, konnte man
sich auch der Bedeutung der tierischen
Urgewalt nicht sicher sein. Peter Biskind
argumentiert, zu Hochzeiten des Kalten
Krieges hätte man den Hai, der da vor der
Ostküste kreuzt und Amitys Geldfluss (den
Touristenstrom) stoppt, zwingend für ein
Symbol der kommunistischen Bedrohung
gehalten.16 So einfach war es nach Watergate und Vietnam nicht mehr – Fidel Castro soll jaws als linken Film begrüßt und
den Hai als rebellische Figur gelesen haben, die den skrupellosen Geschäftsleuten
von Amity nur die Quittung für ihre korrupten Praktiken ausstellt.17 Schnell la14
der weisse hai revisited
gen weitere, stark divergierende Lesarten
vor, die Jahrzehnte später kaum in ihrer
Gesamtheit zu überblicken sind: »All the
things this creature has been!«18 jaws ist
freudianisch, feministisch, historisch, ökologisch, ökonomisch, legalistisch, marxistisch, psychosozial und soziologisch,19 die
Gegenspieler des Hais als Personifizierungen des Gesetzes und des Staats, als Jedermänner, als Väter und Söhne, als Vertreter
der Mittelschicht und der Arbeiterklasse
gelesen worden.
Wer jaws einfach nur für einen gutgemachten Unterhaltungsfilm (und er ist
dies natürlich auch – neben anderen Dingen) hält, kann sich auf Ernest Hemingway berufen. Dieser sah sich einer ähnlichen Flut von Deutungsversuchen gegenüber, nachdem seine Novelle The Old Man
and the Sea (1952) – ebenfalls ein wichtiger
Referenztext für jaws – die Öffentlichkeit
im Sturm erobert hatte. Es gebe keinerlei
Symbolik, beklagt Hemingway in einem
Brief an den Kunsthistoriker Bernard Berenson: »The sea is the sea. The old man is
an old man. […] The sharks are all sharks
no better and no worse. All the symbolism
that people see is shit.« Schon im nächsten Absatz führt Hemingway freilich seine eigene Argumentation ad absurdum
und verfällt selbst ins Mythisieren, wenn
er das Meer als Hure beschreibt, die noch
jedem Freier eine Krankheit mitgegeben
hat und doch von allen leidenschaftlich
geliebt wird.20
Gleichgültig gelassen hat der Film die
wenigsten, und gerade in seiner Vieldeutigkeit liegt der Schlüssel zu seinem Erfolg
und zur Langlebigkeit des Mythos jaws.
In seinen an Adorno und Horkheimer anschließenden Ausführungen zur Kulturindustrie argumentiert Fredric Jameson, der
Hai sei gerade aufgrund seiner Polysemie
eine effiziente ideologische Waffe. Indem
I. Die Filmmaschinerie Der Haifisch, der hat Zähne
Wissenschaftler bei der Arbeit ( jaws)
er nämlich die stark an den unmittelbaren
soziokulturellen Kontext gebundene Vorlage – in Benchleys Roman tobt ein offener Klassen- und Geschlechterkampf – ins
Zeitlos-Mythische und Heroische wendet,
bündle Spielbergs Film eine Vielzahl von
Ängsten und verleihe diesen einen Anstrich
von Natürlichkeit: Die Zukunft des kapitalistischen Systems, der Clash der Generationen und der Klassenkonflikt werden dem
Zuschauer nicht direkt vorgesetzt, sondern
in verschlüsselter Form – auf hoher See tobt
ein existenzieller Stellvertreterkampf zwischen Mensch und Tier.21 Slavoj Žižek erkennt daher auch keinen grundsätzlichen
Unterschied zwischen den ideologischen
Strategien in Spielbergs Film und denen des
NS-Propagandaapparats – beide lieferten einer kriselnden Gesellschaft ein (mehr oder
weniger klar umrissenes) Feindbild.22
Man mag den Vergleich unangemessen finden, doch der kathartische Effekt
der finalen Explosion, die nicht nur den
sieben Meter langen Raubfisch entsorgt,
sondern auch die Krise der Männlichkeit,
die ökonomische Schieflage, die zeitweise
Störung der Familie und andere Systemschwächen aufhebt, ist kaum zu bestreiten.23 jaws sollte denn auch Spielbergs
politischster Film bleiben und damit eine
wichtige Unterscheidung für das weitere Schaffen des Regisseurs vorgeben. Es
sind nicht seine historisch schwergewichtigen Problemfilme wie the color purple (Die Farbe Lila; 1985) oder schindler’s
list (Schindlers Liste; 1993), die am wirksamsten kulturelle Arbeit verrichten und
zur ideologischen Auseinandersetzung ermutigen, sondern die vermeintlich »bloß
unterhaltenden« Kassenhits.24 Ihre Storys
mögen »simplicity itself« sein,25 doch ihre
Subtexte haben konträre politische Lesarten befeuert: e.t. the extra-terrestrial
(E.T. – Der Außerirdische; 1982) lässt sich
wahlweise als süßliche Beschönigung amerikanischer Innenpolitik26 oder als Film lesen, der von einem immensen Misstrauen
in den Staatsapparat zeugt;27 jurassic park
(1993) schuf einerseits ein profitables Franchise mit T-Shirts und Videospielen, nimmt
andererseits aber die Unterhaltungsindustrie selbst aufs Korn – in diesem Vergnügungspark werden die Besucher von den
Attraktionen verspeist.28
Auch jaws ist bei aller Skepsis ob des
triumphalen Showdowns, mit dem Spielberg vielleicht seinen einzigen Ausflug ins
Westerngenre vorgelegt hat,29 daher am15
Wieland Schwanebeck der weisse hai revisited
Raubfisch in leitender Funktion: Bürgermeister Vaughn ( jaws)
bivalenter, als es zunächst scheinen mag,
denn auch im Duell der Ideologien ist jede
Position nur durch ihr Gegenteil denkbar:
»The success of the ideological operation is always a testament to failure, since
ideological representations would not be
necessary if indeed there were no trouble
in the system«.30 jaws mag von der Überwindung einer Krise berichten, doch dafür
muss diese Krise überhaupt erst einmal ausgesprochen werden, und jaws blendet die
politischen Kontexte gewiss nicht aus oder
beschönigt sie gar. Ein mindestens ebenso
großer Raubfisch wie der Hai ist der Bürgermeister von Amity,31 in dessen Rolle der
Schauspieler Murray Hamilton zum zweiten Mal in einem New-Hollywood-Klassiker
dem Establishment ein Gesicht verleiht:
Als Mr. Robinson in the graduate (Die
Reifeprüfung; 1967; R: Mike Nichols) hatte Hamilton Dustin Hoffman in die offene
Rebellion getrieben. jaws endet deutlich
versöhnlicher – in der Fortsetzung ist Bürgermeister Vaughn jedenfalls immer noch
im Amt und heckt neue krumme Geschäfte
aus. Freilich ist das Film-Amity im Vergleich
mit dem Sodom-und-Gomorra-Verschnitt,
in dem Peter Benchley seinen Roman Jaws
(1974) ansiedelt, geradezu ein locus amoe16
nus – und Spielbergs Film wäre kein Welterfolg geworden, wenn er die literarische
Vorlage nicht in einigen grundsätzlichen
Punkten überschrieben hätte.
Textschichten
Wer der Meinung ist, das Filmgeschäft sei
seit den 1970er Jahren nur noch schnelllebiger und effizienter im Ausklügeln seiner
Profitmaximierungsstrategien geworden,
der kann sich von der Entstehungsgeschichte von jaws eines Besseren belehren lassen.
Selbst bei aktuellen Bestseller-Erfolgen wie
den Romanreihen um Harry Potter (1997-2007)
oder die Twilight-Vampire (2005-08) gehen
meist einige Jahre ins Land, bevor die Kinoadaptionen vorliegen – in einigen Fällen (wie
Cornelia Funkes Tintenherz-Reihe) war man
gar so ›langsam‹, dass sich der Hype um die
literarische Vorlage nicht mehr in veritablem
Kassenerfolg niederschlagen konnte. Dagegen
legten die Macher von jaws ein derartiges
Tempo vor, dass ihnen nicht einmal der legendäre Drehverzug etwas anhaben konnte.
Richard D. Zanuck und David Brown, zwei
unabhängige Filmproduzenten, hatten den
Roman Jaws noch vor seiner Drucklegung
gelesen, einen Bestseller gewittert und sich
I. Die Filmmaschinerie sofort die Filmrechte gesichert – nur 16 Monate nach dem Erscheinen des Romans kam
ihr Film in die Kinos.
An der Qualität der Romanvorlage scheiden sich die Geister, was nur auf den ersten
Blick im Widerspruch zum kanonischen
Status des Films steht. Einige der größten
New-Hollywood-Klassiker basieren auf regelrechten Schund-Bestsellern – wer einmal zu Mario Puzos Roman The Godfather
(1969) greift, aus dem Francis Ford Coppola
den unbestrittenen Klassiker des amerikanischen Kinos überhaupt gemacht hat,
kann über die zahlreichen Sex-Eskapaden
nur staunen, und auch der theologische
Kitsch, den William Peter Blatty in The Exorcist (1971) aufbietet, lässt sich nur schwer
mit dem stilsicher umgesetzten Film von
William Friedkin in Einklang bringen. Nicht
die kunstvoll arrangierte discourse-Ebene
der Erzählungen empfahl sie als Grundlage
ambitionierter Kinoadaptionen, sondern
ihre Aufgeschlossenheit gegenüber Genreformeln, ihr Spannungsgehalt und ihr
offensives Flirten mit sex and crime.
Zwar gibt es Kritiker, die Benchleys Anteil am Welterfolg von jaws zu wenig gewürdigt sehen und seinen pessimistischen
Roman für eine wichtige Satire auf die Nixon-Ära halten (der Autor war vor seinem
literarischen Debüt u.a. als Redenschreiber
im demokratischen Lager tätig),32 doch im
Tenor der Kritik überwiegt die Abwertung:
Time nannte Benchleys Buch die Badewannen-Version von Herman Melvilles MobyDick (1851).33 Da sich der Roman wenig darum schert, gemocht zu werden oder ein
filmadäquates Spektakel zu schaffen – Brody, hier der einzige Überlebende der OrcaBesatzung, besiegt den Hai eher zufällig –,
erstaunt aus heutiger Sicht v.a., dass die
Produzenten annahmen, Benchley selbst
wäre der richtige Autor, um die Kinoadaption zu schreiben. Er erhielt letztlich zwar
Der Haifisch, der hat Zähne
einen Credit als Co-Autor des Drehbuchs,
doch der unverhohlene Zynismus des Romans wird von der Filmversion, die größtenteils von Carl Gottlieb stammt, fast
vollkommen nivelliert. Während das Buch
keinen ernsthaften Versuch unternimmt,
Identifikationsfiguren zu schaffen – Brody
ist ein schwächlicher Held, seine unsympathische Frau betrügt ihn mit dem widerwärtigen Snob Hooper –, schafft Spielbergs
Film sympathische Protagonisten und verfügt nicht nur über Selbstironie, sondern
mit Brody gar über einen bebrillten Clark
Kent, der sich in der Stunde der Gefahr
zum Superman aufschwingt.34
Während der Dreharbeiten verriet Steven
Spielberg dem Magazin Take One, für seine
Zusage zum Projekt sei v.a. ausschlaggebend
gewesen, dass er die ersten zwei Drittel des
Romans habe wegschmeißen können; sein
Selbstvertrauen als Regisseur kulminiert
in dem Satz: »[W]e’ve really, I think, made
a better movie than Jaws is a book.«35 Da
überrascht es nicht, dass Spielberg und
Gottlieb genaugenommen nicht Benchleys
Roman auf die Leinwand bringen, sondern
ein farbenfrohes Remake der creature features aus den 1950er Jahren abliefern, gar
in einigen Einstellungen B-Filmklassiker
wie creature from the black lagoon
B-Filmklassiker mit Vorbildwirkung: creature
from the black lagoon
17
Wieland Schwanebeck (Der Schrecken vom Amazonas; 1954; R:
Jack Arnold) zitieren und damit ihren Platz
im Familienalbum von Universal reklamieren. Die Sozialkritik wird freilich im naturalistischen Drama entlehnt – die ersten
30 Minuten von jaws sind eine durchaus
werkgetreue Adaption von Henrik Ibsens
Ein Volksfeind (1882).36 Brodys Ohnmacht
entspricht der Erfahrung von Ibsens Protagonisten, dem Arzt Thomas Stockmann,
der mundtot gemacht werden soll, als er
öffentlich verkündet, die vermeintlichen
Heilquellen des Küstenortes enthielten
Krankheitserreger. Die Argumente des
korrupten Stadthauptmanns, der auf »einen guten Sommer« und »einen großen
Zustrom von Kurgästen« hofft und Stockmann deshalb unter Druck setzt, tauchen
nahezu wörtlich in den Reden von Amitys
Bürgermeister auf.37 Später findet jaws
wieder den Weg zurück zu Benchleys Story, zum Abenteuer und zum Spektakel auf
hoher See – schließlich wollte Spielberg die
Öffentlichkeit in die Kinos treiben, nicht
auf die Barrikaden.
Zwar spart auch Benchleys Roman nicht
mit Kritik an ruinösen politischen Zuständen, doch gerade in seiner undifferenzierten Schelte korrupter Politiker und bigotter
Kleinstädter wirkt dieser »misanthropic
best-seller«38 letztlich auch sehr beliebig –
eingedenk der Evolution des jaws-Posters
lässt sich zugespitzt formulieren, dass der
Film einer eher zahnlosen Vorlage zu mehr
Biss verhilft. Das Filmposter geht auf das
von Roger Kastel entworfene Buchcover zurück, welches das berühmte, in der Folge
so häufig aufgegriffene Mem39 in Stellung
bringt: die nackte Schwimmerin, die des
aus der Tiefe nach oben stoßenden, phallischen Monsters nicht gewahr ist.40 Gerade
im direkten Vergleich mit der aufgehellten
Version, die für den Film gewählt wurde
(beide Motive können im Farbteil betrach18
der weisse hai revisited
tet werden, S. 136), scheint der Roman-Hai
eher der Karikatur eines zahnlosen Alten
nachempfunden – die Schnauze des Tiers
ist abgerundet, kein Zahn blitzt im Maul.
Es war das deutlich aggressivere und buchstäblich bissigere Filmposter, das die populäre Imagination befeuern sollte (und
mittlerweile auch die Titelseite des Romans
ziert): Der in der Tiefe lauernde Hai nahm
bald die Gestalt von Präsidentschaftskandidaten, gierigen Ölkonzernen oder der
CIA an;41 in jüngerer Vergangenheit haben
Hommage-Poster mit Steve Jobs oder dem
als »Beißer« gebrandmarkten Fußballer
Luis Suárez die Runde gemacht.
Wenn sich jaws etwas von der Romanvorlage abschaut, dann v.a. in seiner Tendenz zur Gesellschaftskritik: Dem Heroismus Einzelner steht auch in der Kinoversion
eine desillusionierende Sicht auf die Masse
gegenüber. Sobald der Badespaß am 4. Juli
einer Panik gewichen ist, werden rücksichtslos Alte und Kinder zur Seite geschubst und
tritt der Mob weit verheerender als der lediglich seinen Appetit stillende Raubfisch
in Erscheinung.42 An dieser Stelle versteht
jaws keinen Spaß – den Streich, den die
beiden Jungs mit der Papp-Haifischflosse
den Touristen spielen, inszeniert Spielberg
daher auch nicht als fröhlichen Geisterbahneffekt (wie er es etwa mit dem Kopf
Ben Gardners handhabt), sondern montiert seine Folgen als beklemmendes Gemetzel – nicht nur aufgrund des Settings
klingt hier schon das Blutbad von Omaha
Beach aus saving private ryan (Der Soldat James Ryan; 1998) an. Folgerichtig endet die Szene mit einer Denunziation, die
zum politischen Grundton des Films passt:
»He made me do it«, beharrt einer der beiden auf frischer Tat ertappten Jungs und
richtet den Finger anklagend auf seinen
Mitverschwörer, ohne diesem dabei in die
Augen blicken zu können. Bei aller Kritik,
I. Die Filmmaschinerie Der Haifisch, der hat Zähne
Wer zuletzt lacht, lacht am besten ( jaws)
die jaws an den Vertretern der politischen
Kaste vorbringt: Vaughn behält mit seiner
Warnung an Brody, der Ausruf »Shark!«
werde ein weit schlimmeres Chaos heraufbeschwören, völlig recht – der Meute
ist nicht über den Weg zu trauen.
Nicht nur aufgrund seiner kritischen
Reflexion des Publikums ist jaws – und
hier schließt sich der Kreis zu Matt Hoopers Erzählung darüber, wie sehr Nervenkitzel und Freude benachbart sind – auch
ein Film übers Kino selbst. Analog zu großen Thrillern wie psycho (1960; R: Alfred
Hitchcock) oder peeping tom (Augen der
Angst; 1960; R: Michael Powell) zwingt er
sein Publikum in die Rolle des schaulustigen Killers, und wie der Hai seine Opfer
packt, durchschüttelt und nicht mehr loslässt, so ergeht es auch uns mit dem Film.43
»This shark«, so räsoniert Quint treffend
(und sein eigenes Schicksal erahnend),
»swallow[s] you whole.« Zuletzt lacht da
der Regisseur, der die Hebel dieser Achterbahnfahrt bedienen darf. Im Unterschied
zu Hitchcock bescheidet sich Spielberg dabei nicht etwa mit einem Cameo, sondern
schmuggelt gar einen Doppelgänger unter
die Hauptcharaktere. Der souverän mit der
neuesten Technik operierende, von den
Älteren anfangs noch belächelte Hooper
vertritt in mehrerlei Hinsicht auf der Ebene der Diegese den Regisseur. In seinem
breiten Grinsen liest Antonia Quirke nicht
nur die Rache des Nerds und einen deutlichen Beleg dafür, dass hinter der Kamera
ein kleiner Junge steht,44 Hooper ist auch
derjenige, dessen Versuchsanordnung den
Showdown des Films einleitet, den er in
Beobachterposition off-camera verbringt
– immer noch die sicherste Position, wie
auch der Zuschauer weiß.
Zur Struktur des Buchs
Anliegen des vorliegenden Buches ist es,
erstens in einer kritischen Würdigung zu
resümieren, wie jaws die Film- und Kulturgeschichte beeinflusst hat, zweitens
die stark divergierenden Interpretationen
des Films zu synthetisieren, und drittens
neue Sichtweisen auf ihn zu eröffnen. Derzeit existieren zwar bereits einige v.a. im
angloamerikanischen Sprachraum publizierte Einzelstudien zu Spielbergs Film, die
einige der hier angesprochenen Aspekte
erhellen;45 allerdings sind widerstreitende, einander ergänzende und interdisziplinäre Perspektiven zu jaws bisher noch
19
Wieland Schwanebeck nicht in einem umfassenden Gesamtwerk
zusammengeführt worden. Das Buch bietet insgesamt sieben thematische Sektionen, die allesamt mit einem Motto aus dem
Film überschrieben sind und jeweils drei
Texte enthalten.
In der I. Sektion (»Die Filmmaschinerie«)
werden im Anschluss an die Einleitung nicht
die altbekannten Legenden um den Filmdreh sowie tradierte Argumente zur Filmmusik wiederholt, sondern beide Themen
aus einer frischen Perspektive in Angriff
genommen: Felix Lempp befragt anhand
von jaws die Gattung des Making-ofs auf
ihre Erzählmechanismen; Michael Hiemke
nähert sich anhand eines im Schulunterricht durchgeführten Kompositionsexperiments mit Schülerinnen dem Problem
einer zeitgenössischen, unvoreingenommenen Bewertung der Filmmusik.
Die II. Sektion (»[Film-]Geschichtliche
Kontexte«) reflektiert die Hintergründe
zur Entstehung des Films – Ian Freer mit
seiner Aufarbeitung der Hintergründe des
Untergangs der U.S.S. Indianapolis, der in
jaws an zentraler Stelle zitiert wird; Heiko Nemitz mit seiner Erörterung des filmgeschichtlichen Kontexts von jaws, der
auf dem Höhepunkt von New Hollywood
entsteht; mein eigener Beitrag diskutiert
auf intra- wie auch auf extratextueller
Ebene den Einfluss Alfred Hitchcocks auf
den Film.
Die drei in der Sektion »Gattungsfragen«
folgenden Beiträge von Marcus Stiglegger,
Michael Flintrop und Sofia Glasl bewerten
jaws jeweils unter verschiedenen Genre-Paradigmen: Stigleggers Kontextualisierung
von jaws innerhalb des Tierhorrorfilms und
Flintrops Lektüre des Films als Beitrag zum
disaster genre greifen jeweils ein zentrales
Gattungsmuster auf, während Glasl Aspekte
der generischen Hybridität und die Tradition der Abenteuergeschichte betont.
20
der weisse hai revisited
Mit der IV. Sektion (»Räumliche Aspekte«) folgt eine Hinwendung zu vertieften
Lektüren unter ausgewählten Gesichtspunkten: Stefan Jung, Willem Strank und
Eckhard Pabst untersuchen verschiedene
spatiale Aspekte des Films, so etwa im Sinne einer Standortbestimmung innerhalb
von Steven Spielbergs Gesamtwerk, das von
einem Gegensatz zwischen suburbanem
und exurbanem Raum charakterisiert ist,
ferner mit Blick darauf, wie in jaws Grenzen überschritten werden: sowohl in der
Bewegungsrichtung des Films als auch in
seinen Inszenierungsstrategien.
In der diverse theoretische Zugriffe versammelnden V. Sektion (»Tiefenblicke«) finden sich weitere kritische Analysen zum
Film, u.a. zu seiner Geschlechterpolitik.
Elisabeth Bronfen verortet aus psychoanalytischer Perspektive nicht nur zentrale, für das amerikanische Erzählkino
charakteristische freudianische Topoi in
jaws, sondern liest den Film auch als eine
leitmotivisch vom unterschwelligen Todestrieb durchzogene Auseinandersetzung
mit spezifisch amerikanischen Traumata.
Jan D. Kucharzewski diskutiert die spannungsvolle Männlichkeitsdynamik v.a. der
zweiten, auf hoher See spielenden Hälfte
des Films, und Dorothe Malli erörtert die
in jaws evozierten biblischen Intertexte,
u.a. unter Rekurs auf die ikonographische
Tradition des Leviathan sowie Hiobs.
Ganz im Zeichen des Haifischs sowie
des Mensch-Tier-Verhältnisses steht die
vorletzte Sektion, in der Tabea Weber die
kulturanthropologische Sicht der Animal
Studies auf den als Monster überzeichneten Hai und Lars Koch die diversen im
Film ausgehandelten Formen von Angst
und Furcht in den Blick nehmen. In einem
kurzen essayistischen Beitrag thematisiert
Konstanze Hiemke die andauernde Faszination des Haifischgebisses.
I. Die Filmmaschinerie Die Nachwirkungen des Films schließlich werden in der VII. und letzten Sektion
bewertet – Kathleen Loock und Csaba Lázár
gehen dabei auf das Erbe des Films (einerseits seine direkten Fortsetzungen unter
dem Aspekt seriellen Erzählens, andererseits die von jaws inspirierten epigonalen
Genrefilme) ein, während Christian Wild
resümiert, welch gestörtes Verhältnis zum
Hai uns jaws hinterlassen hat.
Die Autorinnen und Autoren des Buchs
hoffen, dass ihre Arbeit weitere Diskussionen rund um den Film inspirieren wird,
der inzwischen Mühe haben dürfte, den
ihm in der Filmgeschichte vorauseilenden Ruf, seine zahllosen Epigonen sowie
die von ihm in der Populärkultur hinterlassenen Spuren einzuholen, denn wie der
ebenfalls im Farbteil reproduzierte Cartoon
von Martin Perscheid illustriert (S. 138),
hat sich die aus dem Wasser auftauchende
Dreiecksflosse derartig synonym für Angst
und Schrecken ins kulturelle Gedächtnis
eingebrannt, dass sie vom Referenzobjekt
regelrecht entkoppelt scheint. Also zurück zum Original, zu jaws, mit dem der
Albtraum einst begonnen hat – genau wie
Chief Brody sollten wir uns nicht scheuen,
ins Wasser zu blicken, wo wir die Gefahr
vermuten. Taucht der Hai dann in seiner
imposanten Gestalt vor uns auf, dürfte es
nicht nur für Matt Hooper (»I love sharks!«)
der Beginn einer lebenslangen Beschäftigung gewesen sein. Los wird man das Untier
dann so schnell nicht mehr, weshalb auch
mit dem vorliegenden Band längst nicht
alles zu jaws gesagt ist – dafür bräuchten wir, um in der Sprache des Films zu
bleiben, wohl ein größeres Buch.
q
Anmerkungen
1 jaws wurde bei den Academy Awards 1976 mit
drei Oscars (für Musik, Ton und Schnitt) geehrt und schaffte es auf die Auswahllisten des
Der Haifisch, der hat Zähne
WGA-Award der Writers Guild of America (für
die beste Adaption), der BAFTA-Awards sowie
der Golden Globes. Das National Film Preservation Board setzte den Film 2001 auf die Liste
bewahrenswerter amerikanischer Filme, und
auch auf den regelmäßig überarbeiteten Bestenlisten des American Film Institute ist jaws
regelmäßig vertreten (aktuell etwa in den Top
100 der besten Filme, Thriller, Schurken, Zitate und Filmmusiken).
2 jaws setzte allein in den USA 260 Millionen
Dollar um, d.h. 13% aller Kinokartenverkäufe überhaupt in diesem Jahr – eine Quote, die
seit the sound of music (Meine Lieder – meine Träume; 1965; R: Robert Wise) nicht erreicht
worden war (vgl. Frederick Wasser: Steven
Spielberg’s America. Cambridge / Malden 2010,
S. 78f.). Die Erstausstrahlung im US-Fernsehen
am 4. November 1979 bescherte dem Sender
ABC eine Einschaltquote von 57%, bis heute
die zweithöchste Quote für die Ausstrahlung
eines Films nach gone with the wind (Vom
Winde verweht; 1939; R: Victor Fleming). Auch
in Großbritannien hält der Film diese Position
in einer ansonsten völlig von james bond-Filmen dominierten Statistik, vgl. en.wikipedia.
org/wiki/List_of_most_watched_television_
broadcasts [4.2.2015].
3 Wiewohl Spielbergs Vorschlag, jaws-Eiskrem in
den Sorten sharklate, finilla und jawberry [sic!]
auf den Markt zu bringen, von Universal abgelehnt wurde, waren zum Filmstart im Juli
1975 »two million jaws tumblers, half a million T-shirts and tens of thousands of posters,
beach towels, shark’s tooth pendants, bike bags,
blankets, costume jewellery, shark costumes,
hosiery, hobby kits, inflatable sharks, iron-on
transfers, board games, charms, pyjamas, bathing suits, water squirters« im Umlauf. Vgl.
Jim Hoberman: nashville Contra jaws, or ›The
Imagination of Disaster‹ Revisited. In: Thomas
Elsaesser / Alexander Horwath / Noel King
(Hg.): The Last Great American Picture Show.
New Hollywood Cinema in the 1970s. Amsterdam 2004, S. 195-222, hier: S. 213.
4 Hellmuth Karasek: Mein Kino. Die 100 schönsten
Filme. Hamburg 1994, S. 408. Zum kulturellen
Beben, das jaws auslöste, und seinem Einfluss
auf Filmmarketing und -merchandising vgl.
Justin Wyatt: From Roadshowing to Saturation Release. Majors, Independents, and Marketing/Distribution Innovations. In: Jon Lewis
21
Wieland Schwanebeck (Hg.): The New American Cinema. Durham 1998,
S. 64-86, spez. S. 78-83; sowie Nigel Morris: The
Cinema of Steven Spielberg. Empire of Light.
New York 2007, S. 43-45.
5 Vgl. Tom Shone: Blockbuster. How Hollywood
Learned to Stop Worrying and Love the Summer. New York 2004, S. 68f.
6 Vgl. www.imdb.com/title/tt0073195/movieconnections [4.2.2015].
7 Georg Seeßlen: Steven Spielberg und seine Filme. Marburg 2001, S. 30.
8 Vgl. Griselda Pollock: jaws. In: Spare Rib vom
4. April 1976, S. 41f.; Jane E. Caputi: Goddesses
and Monsters. Women, Myth, Power, and Popular Culture. Madison 2004, spez. S. 27-30.
9 Siehe hierzu den Beitrag von Michael Hiemke.
10 Vgl. Nigel Andrews: Nigel Andrews on jaws.
A Bloomsbury Movie Guide. London 1999,
S. 120f.
11 Der von Graham Chapman gespielte Conferencier begrüßt die frisch Verstorbenen im
Himmel mit dem Lied: »It’s Christmas in Heaven, / There’s great films on TV, / the sound
of music, twice an hour, / And jaws One, Two,
and Three.«
12 Vgl. Christian Keathley: Trapped in the Affection Image. Hollywood’s Post-Traumatic Cycle
(1970-1976). In: Thomas Elsaesser / Alexander
Horwath / Noel King (Hg.): The Last Great American Picture Show. New Hollywood Cinema in
the 1970s. Amsterdam 2004, S. 293-330, hier:
S. 305.
13 Siehe hierzu den Beitrag von Ian Freer.
14 Zu den Verbindungen zwischen jaws und der
Strukturformel des Monomythos siehe den Artikel von Sofia Glasl sowie Robert Jewett / John
Shelton Lawrence: The American Monomyth.
New York 1977, S. 149-152; Thomas S. Frentz /
Janice Hocker Rushing: Integrating Ideology
and Archetype in Rhetorical Criticism, Part
II. A Case Study of jaws. In: Quarterly Journal
of Speech 79 (1993), S. 61-81; Jonathan Lemkin:
Archetypal Landscapes and jaws. In: Charles
L.P. Silet (Hg.): The Films of Steven Spielberg.
Lanham 2002, S. 3-13.
15 Ironischerweise deutet jaws 2 für einige Interpreten weit stärker als der Vorgänger in
Richtung von Spielbergs typischer Familienkonstellation, indem der Fokus stärker auf die
Generation der Kinder wandert. Spielberg war
zunächst als Regisseur des Sequels vorgesehen
22
der weisse hai revisited
und hatte immerhin die Empfehlung, »children
in distress« zu porträtieren, in die Entwicklung
des Projekts eingebracht. Vgl. Ray Loynd: The
jaws 2 Log. New York 1978, S. 26.
16 Peter Biskind: jaws. Between the Teeth. In:
Jump Cut 9 (1975), www.ejumpcut.org/archive/
onlinessays/JC09folder/Jaws.html [4.2.2015].
17 Diese Reaktion Castros wird u.a. kolportiert in
Andrews: jaws, a.a.O., S. 118 sowie durch Slavoj Žižek in dem Film the pervert’s guide to
ideology (2013; R: Sophie Fiennes).
18 Antonia Quirke: jaws. London 2008, S. 67.
19 Übersichten der wichtigsten Interpretationsansätze zum Film finden sich gesammelt
in Andrews: jaws, a.a.O., S. 143-150; Seeßlen:
Spielberg, a.a.O., S. 37f.
20 Ernest Hemingway: Selected Letters, 1917-1961.
New York 1981, S. 780.
21 Vgl. Fredric Jameson: Reification and Utopia in
Mass Culture. In: Michael Hardt / Kathi Weeks
(Hg.): The Jameson Reader. Oxford 2000, S. 123148, hier: S. 139f. Zu jaws als Metaerzählung
der Kulturindustrie s.a. Hoberman: nashville Contra jaws, a.a.O., S. 211.
22 Žižek in the pervert’s guide, a.a.O.
23 Zur kathartischen Funktion des Endes vgl.
Glenn Man: 1975. Movies and Conflicting Ideologies. In: Lester D. Friedman (Hg.): American
Cinema of the 1970s. Themes and Variations.
New Brunswick 2007, S. 135-156, hier: S. 154f.
24 »[T]he true value of Spielberg’s movies is always inversely proportional to their seriousness – hence war of the worlds is a better
film than munich in the same way that jaws
beats schindler’s any day«. Mark Kermode:
It’s Only a Movie. London 2010, S. 113.
25 Neil Sinyard: The Films of Steven Spielberg.
London 1989, S. 32.
26 Vgl. Robin Wood: Hollywood from Vietnam to
Reagan – and Beyond. New York 2003, S. 160. S.a.
Lewis’ Ausführungen zu Spielbergs BlockbusterZyklus während der Reagan-Administration; Jon
Lewis: The Perfect Money Machine(s). George
Lucas, Steven Spielberg, and Auteurism in the
New Hollywood. In: Jon Lewis (Hg.): Looking
Past the Screen. Case Studies in American Film
History and Method. Durham 2007, S. 61-86.
27 Siehe den Beitrag von Heiko Nemitz im vorliegenden Buch.
28 Vgl. Shone: Blockbuster, a.a.O., S. 219f.
29 Antonia Quirke kontrastiert den zum Showdown
heranrasenden Hai mit der Gasflasche im Maul
I. Die Filmmaschinerie mit dem Cheroot-paffenden, namenlosen Westernhelden, den Clint Eastwood in Sergio Leones
dollar-Trilogie verkörpert; vgl. Quirke: jaws,
a.a.O., S. 88f. Nigel Morris sieht hierin auch eine
Karikatur des Großkapitalisten mit Zigarre im
Mund; vgl. Morris: Cinema, a.a.O., S. 53.
30 Michael Ryan / Douglas Kellner: Camera Politica. The Politics and Ideology of Contemporary
Hollywood Film. Bloomington 1988, S. 65.
31 Vgl. Andrew Gordon: Empire of Dreams. The
Science Fiction and Fantasy Films of Steven
Spielberg. Lanham 2008, S. 43. Zum politischen
Kontext s.a. Stephen Heath: jaws, Ideology, and
Film Theory. In: Bill Nichols (Hg.): Movies and
Methods. An Anthology, Vol. 2. Berkeley 1976,
S. 509-515.
32 Zum politischen Subtext des Romans vgl. James
Kidd: Jaws at 40 – is Peter Benchley’s book a forgotten masterpiece? In: The Independent vom
4. September 2014, www.independent.co.uk/
arts-entertainment/books/features/jaws-at40--is-peter-benchleys-book-a-forgotten-masterpiece-9711459.html [4.2.2015].
33 Zu den Parallelen zwischen Moby-Dick und
jaws vgl. Frentz / Hocker Rushing: Integrating
Ideology, a.a.O., S. 65f.; Walter Metz: The Cold
War’s »Undigested Apple-Dumpling«. Imaging
Moby-Dick in 1956 and 2001. In: Literature/Film
Quarterly 32.3 (2004), S. 222-228, hier: S. 227f.;
I.Q. Hunter: Exploitation as Adaptation. In: Iain
Robert Smith (Hg.): Cultural Borrowings. Appropriation, Reworking, Transformation. o.A.
(e-Book) 2009, S. 8-33, hier: S. 13.
34 Intertextuelle Bezüge zwischen jaws und comic books werden eingehender diskutiert in
Jewett / Shelton Lawrence: American Monomyth, a.a.O., S. 153f.
35 Spielberg im Gespräch mit David Helpern: At
Sea with Steven Spielberg. In: Lester D. Friedman / Brent Notbohm (Hg.): Steven Spielberg.
Interviews. Jackson 2000, S. 3-17, hier: S. 8f.
36 Drehbuchautor Carl Gottlieb erinnert sich:
»Steven and I always referred to jaws as ›Moby
Dick meets Enemy of the People‹«. Gottlieb im
Der Haifisch, der hat Zähne
Gespräch mit William Baer: Classic American
Films. Conversations with the Screenwriters.
Westport 2008, S. 208.
37 Henrik Ibsen: Ein Volksfeind. In: Ders.: Dramen, Bd. 2. Rostock 1965, S. 5-113, hier: S. 9.
38 Shone: Blockbuster, a.a.O., S. 32. Laut Andrew
Britton versammelt der Roman jede Phobie
des »middle-aged, middle-class, menopausal
American male«, d.h. kriminelle Strukturen,
Finanzkrise, Umweltprobleme, Kollaps der Familie; Andrew Britton: jaws (1979). In: Barry
Keith Grant (Hg.): Britton on Film. The Complete Film Criticism of Andrew Britton. Detroit
2009, S. 237-240, hier: S. 237.
39 Richard Dawkins’ Konzept des Mems – ein Ideenmuster, das die Kultur in diversen Ausprägungen durchzieht – wird von Ian Hunter auf
jaws angewandt. Ihm zufolge ist der Filmhai
so wirkmächtig geworden, dass er sich zum dominanten intertextuellen Referenzpunkt des
Hais an sich aufschwingen konnte, »even when
no specific allusion is intended. All films with
sharks, all cultural representations of sharks,
are jaws-ploitation now.« Hunter: Exploitation,
a.a.O., S. 22f.
40 Roger Kastels Beitrag zum jaws-Phänomen wird
eingehender gewürdigt von Ian Freer: The Unsung Heroes of jaws. www.empireonline.com/
features/jaws-unsung-heroes/p2 [4.2.2015].
41 Vgl. Morris: Cinema, a.a.O., S. 55.
42 »Spielberg’s camera is transfixed by how disgusting people can be. They scramble out of
the water with no greater regard for human
life than the shark that is pursuing them.«
Ryan Gilbey: It Don’t Worry Me. The Revolutionary American Films of the Seventies. New
York 2003, S. 82.
43 Vgl. Pascal Bonitzer / Serge Daney: L’écran
du fantasme. jaws. In: Cahiers du Cinéma 265
(1976), S. 12-16, hier: S. 12. S.a. Morris: Cinema,
a.a.O., S. 57-61.
44 Vgl. Quirke: jaws, a.a.O., S. 61.
45 Vgl. hierzu en détail die Bibliographie im Anhang.
Der Haifisch, der hat Zähne. Einführung aus:
Wieland Schwanebeck (Hg.): der weisse hai revisited.
Steven Spielbergs jaws und die Geburt eines amerikanischen Albtraums.
ISBN 978-3-86505-325-1 / © 2015 Bertz + Fischer Verlag / www.bertz-fischer.de
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