56/2002 - Volkskundemuseum
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56/2002 - Volkskundemuseum
Österreichische Zeitschrift für Volkskunde Gegründet 1895 Herausgegeben vom Verein für Volkskunde Geleitet von Klaus Beitl und Franz Grieshofer Redaktion Margot Schindler (Abhandlungen, Mitteilungen und Chronik der Volkskunde) Klara Löffler (Literatur der Volkskunde) Unter ständiger Mitarbeit von Leopold Kretzenbacher (Lebring/München) und Konrad Köstlin (Wien) Neue Serie Band LVI Gesamtserie Band 105 ./ / S t ) A I : ÉO WIEN 2002 IM SELBSTVERLAG DES VEREINS FÜR VOLKSKUNDE Gedruckt mit Unterstützung von Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur Burgenländische Landesregierung Kärntner Landesregierung Niederösterreichische Landesregierung Oberösterreichische Landesregierung bm:wv IBrönjufr K U L T U R LAND OBERÖSTERREICH Eigentümer, Herausgeber und Verleger: Verein für Volkskunde. Verantwortliche Schriftleiter: HR i.R. Hon.-Prof. Dr. Klaus Beitl und HR Hon.-Prof. Dr. Franz Grieshofer; Redaktion: Hofrätin Dr. Margot Schindler und a.o. Univ.-Prof. Dr. Klara Löffler; alle: A-1080 Wien, Laudongasse 15-19. - Satz: Ch. Weismayer, A-1080 Wien, Skodagasse 9/A-5026 Salzburg, Ernst Grein-Straße 11; Druck: Novographic, A-1238 Wien, Maurer Langegasse 64. - AU ISSN 0029-9668 J ahresinhalts ver zeichnis 2002 Abhandlungen Sanja Kalapos, Die gleiche Sprache in geänderten Zeiten. Beziehungen zwischen Sprache und Regionalität am Beispiel Is tr ie n s .......................... 1 Gero Fischer, Die Tramperbewegung in Böhmen, Mähren und der Slowakei 17 Ueli Gyr, Währschafte Kost. Zur Kulinarisierung von Schweizer Speziali täten im G a stro tren d ......................................................................................... 105 Thomas Nußbaumer, Zum Quellenwert der Südtiroler Volksmusiksamm lung von Alfred Quellmalz (1 9 4 0 -1 9 4 2 )..................................................... 125 Petr Lozoviuk, Die Fersentaler in Südböhmen. Zum Hintergrund einer gescheiterten U m sied lu n g ............................................................................... 149 Leopold Rretzenbacher zum 90. Geburtstag (Margot Schindler) .....................225 Leopold Kretzenbacher, Altsteirisches Rühmen Mariens als Helferin in verzweifelten Lebenslagen und T o d e sn ä h e .................................................. 227 Klaus Beitl, Die Vereitrung des hl. Vinzenz von Saragossa als Patron der Holzarbeiter. Neue Kultnachweise aus Tirol: Der andere T e i l .....................239 Helmut Eberhart, „D er Sehnsuchtsschrei nach Freiheit“. Erich Nachtmanns Erinnerungen an A lb a n ie n ............................................................................... 251 Helge Gerndt, Milzbrand-Geschichten. Thesen zur Sagenforschung in der globalisierten W e lt............................................................................................ 279 Nina Gockerell, Succarath - ein Fabeltier in Münchner Krippen des frühen 19. Ja h rh u n d e rts ................................................................................................ 297 Elfriede Grabner, Das „Petrinerkreuz“. Ein sichtbares Zeichen kirchlicher Missionierung als Ausdruck gegenreformatorischer Glaubensmanifesta tion im O s ta lp e n ra u m ...................................................................................... 335 Franz Grieshofer, Jenseitsvorstellung einer Scheintoten aus Kitzeck 335 .... Roswitha Orac-Stipperger, „M it aller Hochachtung Ihre ergebene Josefa G erharter“ . Ein B riefw echsel als Quelle zur frühen Sam m lungs geschichte des Steirischen V olkskundem useum s........................................ 345 W alter Puchner, Ein kykladisches Herodesspiel in Prosagriechisch zur Zeit der Türkenherrschaft im A rc h ip e la g u s ........................................................ 363 Thomas Raff, Heulen und Zähneklappern. Gedanken zur Mimik in der mittelalterlichen Kunst ................................................................................... 375 Oliva Wiebel-Fanderl, Heilige Zeiten - Traumzeiten. Ein Beitrag zur Ge schichte und Bedeutung des Salzburger A d v e n ts in g e n s .......................... 389 Bibliographie Leopold Kretzenbacher 1999-2002 (Hermann Hummer) . . . 403 Mitteilungen Hermann Maurer, Ein frühes Wallfahrtsbild von M aria Taferl, Niederöster reich .................................................................................................................... 407 Chronik der Volkskunde Wintertraum. Vom Schlittenfahren und Rodeln. Eine Ausstellung im Öster reichischen Museum für Volkskunde vom 2. Dezember 2001 bis 12. Fe bruar 2002 (Kathrin Pallestrang) .................................................................. 37 Halloween-Ausstellung vom 12. bis 31. Oktober 2001 am Institut für Volks kunde und Kulturanthropologie der Universität Graz (Editha Hörandner) 42 Kulturelle Identität, Migration und europäische Perspektiven. 2. Tagung zum EU-Projekt „Born in Europe“ in Berlin vom 31. Jänner bis 1. Fe bruar 2002 (Margot Schindler) ..................................................................... 44 Vom sozialen Gebrauch der Entbindungsanstalt im 18. und 19. Jahrhundert. Das Göttinger Accouchierhaus von 1751 in vergleichender Perspektive. Internationales Symposion, Göttingen, 22. bis 23. November 2001 (Ma rita M e tz -B e c k e r)............................................................................................ 49 „Qualitätsstandards im Museumsbereich II“. Tagung des Österreichischen Nationalkomitees vonIC O M in Salzburg am 12. und 13. November 2001 (Veronika P lö c k in g er)...................................................................................... 53 Texts of Testimony: Autobiography, Life-Story Narratives and the Public Sphere. 23.-25. August 2001, Research Centre for Literature and Cultural History, Liverpool John Moores University (Nikola Langreiter) . . . 56 Volksliteratur und kulturelle Identität: Regionale und überregionale Per spektiven. 15. Interdisziplinäres Symposion zur Volkserzählung auf der Brunnenburg vom 17. bis 21. Oktober 2001 (Oliver H a id ) ....................... 171 freiberuflich kulturwissenschaftlich arbeiten. Workshop im Institut für In terdisziplinäre Forschung und Fortbildung in W ien am 18. und 19. Jän ner 2002 (Susanna Hofmann und Elisabeth K re u z w ie se r)....................... 174 Verein und Österreichisches Museum für Volkskunde in Wien samt Verein und Ethnographisches Museum Schloß Kittsee 2001 (Franz Grieshofer, Margot Schindler, Matthias B e itl).................................................................. 417 Herder-Preis 2002. W ürdigung für Prof. Todorova Ivanova, Bulgarien (Reinhard L a u e r)................................................................................................ 433 Paris zieht in die „Provinz“: Das Musée national des Arts et Traditions populaires (Paris) wird 2008 zum Musée national des Civilisations de l’Europe et de la Méditerranée (Marseille) (Nina G o rg u s ) ....................... 436 M ontanlandschaft Erzgebirge. Kultur - Symbolik - Identität. Tagung des Instituts für Sächsische Geschichte und Volkskunde, Freiberg, 24. und 25. Mai 2002 (Bernhard T s c h o f e n )...................................................................441 Jahrestagung 2002 der Sektion Biografieforschung in der Deutschen Gesell schaft für Soziologie. „Analyse, (Selbst-)Reflexion und Gestaltung pro fe s sio n e lle r A rb eit. D er B eitrag d er so zialw issen sc h aftlich en Biografieforschung und anderer interpretativer Forschungsansätze“, vorn 24. bis 26.5.2002 an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg (Gert Dressei und Nikola L a n g re ite r)..................................................................... 444 Tagung „Sozialismus - Realitäten und Illusionen. Ethnologische Aspekte der Alltagskultur“ am 7. und 8. Juni 2002 am Ethnographischen Institut (mit Museum) an der Akademie der Wissenschaften in Sofia (Gert Dressei, Anelia Kassabova und Nikola L angreiter).................................... 452 Literatur der Volkskunde Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien (Hg.): Volkskultur und Moderne. Europäische Ethnologie zur Jahrtausendwende (Bärbel K erkhoff-H ader)................................................................................................ 61 Ballhaus, Edmund (Hg.): Kulturwissenschaft, Film und Öffentlichkeit (Olaf B o c k h o rn ).......................................................................................................... 65 Kammerhofer-Aggermann, Ulrike, Alexander G. Keul (Hg. für das Salzbur ger Landesinstitut für Volkskunde): „The Sound of Music“ zwischen Mythos und Marketing (Sabine-Else Astfalk) ........................................... 68 Tschernokoshewa, Elka: Das Reine und das Vermischte. Die deutschspra chige Presse über Andere und Anderssein am Beispiel der Sorben (Sabine Hess) ................................................................................................... 70 Zurawski, Nils: Virtuelle Ethnizität. Studien zu Identität, Kultur und Internet (Birgit J o h l e r ) ................................................................................................... 73 Binder, Beate: Elektrifizierung als Vision. Zur Symbolgeschichte einer Technik im Alltag (Susanne B r e u s s ) ........................................................... 76 Meyer-Renschhausen, Elisabeth, Anne Holl (Hg.): Die Wiederkehr der Gärten. Kleinlandwirtschaft im Zeitalter der Globalisierung (Martina K a lle r-D ie tric h )................................................................................................ 78 Göttsch, Silke, Albrecht Lehmann (Hg.): Methoden der Volkskunde. Posi tionen, Quellen, Arbeitsweisen der Europäischen Ethnologie (Brigitte S ta rz in g e r).......................................................................................................... 80 Kretzenbacher, Leopold: Vergleichende Volkskunde Europas. Gesamtbi bliographie mit Register 1936-1999 (Walter P u c h n e r).............................. 83 Ethnologia Balkanica. Journal of Balkan Ethnology Bd. 1, Bd. 2, Bd. 3, Bd. 4 (W alter Puchner) ................................................................................... 85 Neumann, M ichael (Hg.): Erzählte Identitäten. Ein interdisziplinäres Sym posion (Susanne Hose) ................................................................................... 179 M üller-Funk, Wolfgang: Die Kultur und ihre Narrative. Eine Einführung (Bernd R iek en )................................................................................................... 183 Löffler, Klara (Hg.), Dazwischen. Zur Spezifik der Empirien in der Volks kunde. Hochschultagung der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde in Wien 1998 (Nikola L a n g re ite r)..................................................................... 186 Plesser, Alois: Zur Kirchengeschichte des Viertels ob dem Wienerwald vor 1627 (Christian S ta d e lm a n n )......................................................................... 189 Prickler, Harald: Castellum Paris und Pfeiferei [...]. Beiträge zur Kunst-, Ge werbe- und Industriegeschichte des Nordburgenlandes (Wolfgang Gürtler) 191 Götti, Berti: Der Salzburger Jahreskreis. Lostage, Kräuter und Heilige (Helga M aria W o l f ) ......................................................................................... 193 Benthien, Claudia, Anne Fleig, Ingrid Kasten: Emotionalität. Zur Geschich te der Gefühle (Helga Maria W o l f ) ............................................................... 195 Wischermann, Clemens, Stefan Haas (Hg.): Körper mit Geschichte. Der menschliche Körper als Ort der Selbst- und Weltdeutung (Susanne Breuss) 198 Textil - Körper - Mode. Hg. v. Gabriele Mentges u. Heide Nixdorff. Bd. 1 + 2 (Susanne Breuss) ...................................................................................... 199 Kess, Bettina (Hg. im Auftrag der Volkskundlichen Sammlungen der Stif tung Schleswig-Holsteinische Landesmuseen Schloß Gottorf): Ge schenkt! Zur Kulturgeschichte des Schenkens (Sabine-Else Astfalk) . . 201 Wolf, Gabriele: Lesen für den Fortschritt. Zur Rezeption von popularer landwirtschaftlicher Fachliteratur in Bulgarien (1878-1944) (Walter P u c h n e r ) ............................................................................................................. 203 Meraklis, Michael G.: T a rcapap-uBia paq [Unsere Märchen] (Walter P u c h n e r ) ............................................................................................................. 205 Frey, Andrea: Der Stadtraum in der französischen Malerei 1860-1900 (Christian R a p p ) ................................................................................................ 206 Binder, Beate, Wolfgang Kaschuba, Peter Niedermüller (Hg.): Inszenie rungen des Nationalen. Geschichte, Kultur und die Politik derldentitäten am Ende des 20. Jahrhunderts (Regina Bendix) ............................................459 Ecker, Gisela, M artina Stange, Ulrike Vedder (Hg.): Sammeln - Ausstel len - W egwerfen (Christian Stadelmann, Regina W o n is c h )........................ 463 Bonacker, Kathrin: Illustrierte Anzeigenwerbung als kulturhistorisches Quellenmaterial Bonacker, Kathrin: Hyperkörper in der Anzeigenwerbung des 20. Jahr hunderts (Susanne B reu ss)................................................................................... 465 Rüb, Dorothea, Margot Schindler (Red.): Aller Anfang. Begleitbuch und Katalog zur Ausstellung im Österreichischen Museum für Volkskunde, 10. April bis 6. Oktober 2002 (Christine L q y ty e d )........................................ 468 Jangullis, K. G.: Corpus K m piaxcbv AialexTixrov IloiriTiKobv Keipévcov [Corpus zypriotischer Dialekttexte von professionellen Volksdichtern], Bd. 1-4 (W alter P u c h n e r )............................................................................... 471 Kontomichis, Pantazis: Ae^ ikö tou A eoxaS m xon FL cogoikou ISicbpaxog [Lexikon des Sprachidioms von der Insel Leukas] (Walter Puchner) . . 475 V arvunis, M. G.: NeoeTArivixol eOiprxof ExxÂ.ricnacmxoi' ttA eicttip iaap o i [Neugriechische rituelle kirchliche Versteigerungen] (Walter P u c h n e r ) ............................................................................................................. 476 Alexiadis, M inas AL: Kap7ia0iaxfi Aaoypaqüa. ‘0\|/ei<; xou A aixoh IToXiTrapot) [Volkskunde von Karpathos. Aspekte der Volkskultur] (Wal ter P u c h n e r ) ....................................................................................................... 479 Akademie Athen (ed.): ETApvixd bripoTixâ TpocyobSia (ex^oyfi) [Grie chische Volkslieder. Auswahl] (Walter P u ch n er)........................................ 481 Kitromilidu, M agda M.: Kurcpiaxoc SrpoTixd 0pT|ax£\m xâ x o ifp aT a an ö io av é x S o to %£ipoypa(po xon EppavomiX, XpioxoSolA ooXaTQ'icpiA.ljijro'U, XouWtnTT) [Religiöse Volksdichtung aus Zypern aus der unveröffentlichten Handschrift von Emmanuel Christodulu-Hatzifilippu aus Chulu] (W alter Puchner) ........................................................... 483 Saunier, G.: EAArivixd Sripoiixd xpayouSra. Xuvaycoyfi pe^ETchv (1968— 2000) [Griechische Volskslieder. Zusammenstellung von Studien 1968— 2000] (Walter P uchner)...................................................................................... 485 Meraklis, Michalis G.: Damals - heute - damals. Einführung in die griechi sche Volkskunde Meraklis, M. G.: NeoeA.A,rivix6<; A,a'ixo<; ßiog. ‘Ov|/ek; x a i an6\\i£iq [Neugriechisches Volksleben. Aspekte und Ansichten] (Walter Puchner) 490 Florakis, Alekos E.: Kdxoxe oxpv Tf|vo. na7ip\|/r|G Ta 7,aoypaqnxd [Einst auf der Insel Tinos. Volkskundliche Palimpseste] (Walter Puchner) .. . 492 Hoffmann, Tamâs: Euröpai Parasztok. Eletmödjuk története (= Die europäi schen Bauern. Geschichte ihrer Lebensweise). 3 Bde. (Wolfgang Jacobeit) 494 Schier, Barbara: Alltagsleben im „Sozialistischen D o rf1. Merxleben und seine LPG im Spannungsfeld der SED-Agrarpolitik 1945-1990 (Wolf gang J a c o b e it) ................................................................................................... 498 B u c h a n z e ig e n .......................................................................................................... 90 B u c h a n z e ig e n .......................................................................................................... 209 B u c h a n z e ig e n .......................................................................................................... 502 Eingelangte Literatur: W inter 2001/2002 (Hermann Hummer) .................... 97 Eingelangte Literatur: Frühjahr 2002 (Hermann H um m er).............................. ?15 W f 505 Eingelangte Literatur: Sommer 2002 (Hermann H u m m er).............................. Articles Sanja Kalapos, The Same Language in Changed Times. The Relationship between Language and Region as Ulustrated by Croatian I s t r i a ............. 1 Gero Fischer, The Tramper’s Movement in Bohemia, Moravia, and Slovakia 17 Ueli Gyr, “Hearty M eals” : The Culinarization of Swiss Specialities as a Gastronomie Trend ......................................................................................... 105 Thomas Nußbaumer, The Value of Alfred Quellmalz’s (1940M2) Collecti on of South Tyrol Folk M u s ic ......................................................................... 125 Petr Lozoviuk, The Fersenthaler in Southern Bohemia. The Background of a Failed R e s e ttle m e n t...................................................................................... 149 Margot Schindler, Leopold Kretzenbacher on his 90th b irth d a y ........................ 225 Leopold Kretzenbacher, Calling on Mary for Help Wlien Near Death or When Despairing of Life in Old S t y r i a ........................................................ 227 Klaus Beitl, The Veneration of St. Vincent of Saragossa as the Patron of W o o d w o rk e rs ................................................................................................... 239 Helmut Eberhart, “The Yearning Call for Freedom”. Erich Nachtmann’s Recollections of Albania ............................................................................... 251 Helge Gerndt, Anthrax Stories. Theses on Legend Research in the Globalized W o r l d .......................................................................................................... 279 Nina Gockerell, Succarath. A Fabulous Beast in the Munich Christmas Mangers of the early 19th C e n t u r y ............................................................... 297 Elfriede Grabner, The “Petrine Cross”. A Visible Sign of Missionarizing as a Manifestation of Counter-Reformation Beliefs in the Eastern Alpine R e g i o n ................................................................................................................ 315 Franz Grieshofer, Imagination of the Hereafter by an Apparently Dead W o rn an ................................................................................................................ 335 Roswitha Orac-Stipperger, “With Highest Respect, Your Devoted Servant Josefa Gerharter” . An Epistolary Exchange as a Source for the Early History of the Collection at the Styrian Folklore M u s e u m ....................... 345 Walter Puchner, A Cycladic Herod-Play in Greek Prose from the Time of Turkish Rule in the Archipelago .................................................................. 363 Thomas Raff, Weeping and Wailing and Gnashing the Teeth. Thoughts on Expressive Imagery in Medieval A r t ........................................................... 375 Oliva Wiebel-Fanderl, Sacred Time - Dream Time. A Contribution to the History and Meaning of Salzburg’s Advent S in g in g ................................. 389 Bibliography Leopold Kretzenbacher 1999-2002 (Hermann Hummer) . . . 403 Österreichische Zeitschrift für Volkskunde Band LVI/105. Wien 2002, 1-16 Die gleiche Sprache in geänderten Zeiten B eziehungen zw ischen Sprache und R egionalität am B eispiel Istriens Sanja K alapos D er B eitrag d iskutiert die zw iespältigen V erhältnisse z w i schen einer R egion und dem Z entrum eines S taates im L icht der G lobalisierung bzw. v erschiedener g lo b ale r P rozesse. Am B eispiel des kroatischen Teils von Istrien w ird die P o sitio n ie rung des D ialekts innerhalb der n ationalen R hetorik au fg e zeigt. D er regionale D ialekt - in diesem Fall als ein Teil der P o p u lark u ltu r gesehen - w urde einerseits als N en n er fü r die alte und „ au th en tisc h e “ kroatische K ultur b enutzt und ande rerseits als Z eichen des R egionalism us in O pposition zum Staat gesehen. Im Jahre 1994 erreichte Z agreb eine neue Art von Pop- und R ock m usik. Sie stam m te aus der „P ro v in z“, sprach in erster L inie junges Publikum an, und w urde in den verschiedensten kroatischen D ialek ten gesungen. Bis dahin w ar es unter den M ainstream - und populären M usikern aller Stile üblich, entw eder die H ochsprache, den Z agreber urbanen Slang oder - seltener - den dalm atinischen D ialekt in ihren L iedern zu verw enden. Z w ar gab es auch frühere Versuche, die regionalen D ialekte in die M usik zu inkorporieren, aber sie blieben sporadisch und ohne irgendw elche langfristige B edeutung. In ganz K roatien gab es regionale M ainstream szenen, F estivals und R adio sender, die solche, im m er an ein erw achsenes Publikum gerichtete Produktionen oft gespielt und bew orben haben. So hat zum B eispiel der istrische alternative K ünstler und M usiker Franci B laskovic noch M itte der 80er Jahre im D ialekt gesungen, wie auch einige andere Z agreber R ockgruppen. Im Jahre 1994 gab es aber plötzlich viele Pop- und R ockm usiker aus ganz Kroatien, die die D ialekte einsetzten, und sie alle w ollten als die Initiatoren des Trends g elten .1 Es ist freilich unm öglich, und für diesen A nlaß auch nicht notw endig, 1 K nezovic, P avica, M arko K orunic, M ajda M atkovic, B ojan M uscet und G oran Pelaic: Sto, ca, kaj! In: V jesnik, Z agreb, 14. O ktober 1994. 2 Sanja Kalapos ÖZV LVI/105 festzustellen, w er tatsächlich der Initiator war. Was aber zu vermerken ist: D er Zeitpunkt war einfach reif, um für diese Art der M usik bei jungem Publikum Akzeptanz zu finden. Nach den Zeiten des ehemaligen Jugoslawiens, in denen die Regionen vernachlässigt wurden, kam en die Zeiten des neuerrichteten Staates, der sich gleich nach seiner Gründung inm itten eines Krieges befand. 1994 begann eine Phase, in der der Krieg, wenn auch noch nicht beendet, so doch wenigstens beruhigt war. Es gab sowohl eine zeitliche als auch eine räumliche Distanz zu den tragischen Ereignissen im Osten und Süden Kroatiens, und die Künstler nutzten die neugewonnene Freiheit - im symbolischen und buchstäblichen Sinne - , um in frischer Kreativität Neues zu schaffen und darzustellen. In diesem B eitrag w erden die Phänom ene der istrischen Identität des kroati schen Teils der R egion, speziell M ittelistriens (Pazin, Zm inj und L upoglav), sow ohl der jungen regionalen B evölkerung2 als auch der M usiker3 und ihre E instellungen zur sogenannten ,,C a-W elle“ - M u sik und dem istrischen tschakaw ischen D ialekt, diskutiert. In erster L inie geht es um die Einstellungen zum Istrischen D ialekt im öffent lichen D iskurs und um deren Ä nderungen. W ährend die allgem eine „D ialektw elle“ w ieder abebbte und nur einzelne Vertreter dieser M usikrichtung die erste B egeisterung des Publikum s überlebten, gelang es K ünstlern aus Istrien, die gesam te kroatische M usikszene im Sturm zu erobern: Alen V itasovic, der Sänger, der im Jah r 1994 alle Festivals, an denen er teilgenom m en hatte, als S ieger verließ, ist sicher die prom inenteste Figur. Es gibt noch zw ei w eitere istrische Nam en, die unbedingt genannt w erden m üssen: „G u sta fi“ , eine bereits ältere R ockgruppe, die in ihrer M usik die traditionellen Elem ente m it Rock und sogar Blues kom biniert hat 2 W ährend des S om m ers 1998 habe ich neun Interview s m it e lf ju n g e n L euten aus M ittelistrien durchgeführt. D ie Interview s w aren so gennante „ Q u alitativ " - oder „O p en -E n d -In te rv ie w s“ , die nicht gefü h rt w urden, um statistische o der q u a n ti tative A ngaben zu sam m eln und darzustellen, sondern um die E in stellu n g en und A nsichten der ju n g en L eute zu den angegebenen T hem en zu erfo rsch en . D ie Id e n tität d e r interview ten Personen w ird durch P seudonym e g eschützt, und p ersö n lich e A ngaben w erden au sschließlich m it dem E in v erstän d n is der b e tre f fenden Person g enannt (vgl. K alapos, Sanja: R egion, E th n izität und M usik: Identitätsk o n stru k tio n in Istrien. D issertation, Institut für E u ro p äisch e E th n o lo gie d e r U niv ersität W ien, 2000, S. 27). 3 A ls Q uellen zu istrischen K ünstlern und ihrer M usik dienen d ie im Z eitraum von 1993 bis 2000 veröffentlichten Interview s und B erichte aus den m eistverkauften k ro a tisc h en T ages- und W o chenzeitungen so w ie M ag azin en (K alap o s [w ie A nm . 2], S. 25). 20 0 2 , H e ft 1 D ie g le ic h e S p ra c h e in g e än d e rte n Z e ite n 3 und erst nach dem Erfolg von V itasovic selbst bekannt w orden ist, und „ S a je ta “, eine - so könnte man sagen - „ty p isch e“ R ockgruppe m it m odernem Im age und nur sporadischen Spuren der traditionellen M usik Istriens. D iese drei, obw ohl voneinander ziem lich unterschied lich, w urden von den M usikkritikern schnell in einem A tem zug genannt. Die B ezeichnung „C a-W elle“ (ca-val)4 w urde erfunden,5 und ist sogleich populär und kom m erziell nutzbar gew orden: P lötz lich gab es eine große Zahl von istrischen M usikern, die w enigstens ein L ied im D ialekt aufgenom m en hatten und sich dam it schnell P o pularität verschaffen w ollten. Jedoch wurde keine dieser G ruppen so bekannt w ie jen e drei - das Publikum blieb seinen L ieblingsm usi kern treu, und diese drei Bands haben wohl den ganzen R aum , den es in K roatien für die D ialektm usik gab, ausgefüllt. D ie „C a-W elle“ als B ew egung oder als Stil gibt es heute nicht m ehr: E inige M usiker haben ihre P opularität aus verschiedenen G ründen verloren; einige w aren längere Z eit nicht aktiv, und einige b eschäftigen sich noch im m er m it M usik, w urden aber von den K ritikern nicht m ehr prim är als Vertreter der „C a-W elle“, sondern vor allem als R ock-M usiker gesehen. Inzw ischen sind einige neue Nam en aufgetaucht, die m an m it Istrien, aber nicht m it der „C a-W elle“ verbindet: die Jazz-, sogenannte „E th n o “- oder „W orld M usic“-M usiker und ähnliche. Die Rolle der „C a-W elle“ in den N eunzigern w urde auch vom Z agreber Ethnom usikologen Josko C aleta charakte risiert: ,,... one o f the trends in the m usic o f the 1990s w hich becam e extrem ely p opular throughout C roatia. This was the popular m usic style called the ca-w ave in which the M editerranean aura was evi dent - prim arily in the texts sung in the regional Istrian chakavian dialect. It has found devotees am ong proponents o f rock, pop, jazz, and, m ore recently, ethno or w orld m usic styles, such as Alen V itaso vic, Livio M orosin, Franci B laskovic, D ario M arusic, the G ustafi group, Sajeta, Tam ara O brovac ,..“6 Obwohl also der Stil selbst ziem lich kurzlebig war, ist die istrische Szene noch im m er lebendig und 4 „ C a “ (oder „ c a “ ) ist die tschakaw ische V ariante des P ronom ens „ w a s “ ( „ s to “ in S tokaw isch, d e r kroatischen H ochsprache). 5 U rsp rü n g lich d e r N am e der H it-P arade a u f R adio-R ijeka, in der d ie M usik aus Istrien und K v arn er g esp ielt w urde. 6 C aleta, Josko: T he E th nom usicological A pproach to the C on cep t o f the M e d iter ranean in M usic in C roatia. In: N arodna um jetnost: C roatian Journal o f E thnology and F olklore R esearch 36/1, Z agreb 1999, S. 188. 4 S a n ja K a lap o s Ö Z V L V 1/105 bunt und bietet im Vergleich m it anderen R egionen K roatiens eine attraktive und originelle M usik an. D iese M usik finde ich nicht nur im m usikologischen Sinne inter essant; sie sollte auch als ein regionales Phänom en, das eine bedeut sam e R olle in der neuesten Identitätskonstruktion Istriens (und dam it auch K roatiens) gespielt hat, betrachtet w erden. D ie heutigen kom plexen B eziehungen zw ischen den M itgliedern der ethnischen G rup pen in Istrien (d.h. die K roaten, die Slow enen und die Italiener als die V ertreter der größten G ruppen) haben sich als Ergebnis der histo ri schen und politischen U m stände entw ickelt. N ennen w ir hier nur jene des letzten Jahrhunderts: Die erste H älfte des 20. Jahrhunderts war ein schw ieriger Z eitabschnitt für die istrische slaw ische B evölke rung, speziell nachdem M ussolini in Italien an die M acht gekom m en war. Zum politischen und kulturellen kam auch starker w irtschaftli cher D ruck, sodaß ungefähr 53.000 K roaten vom Jahr 1910 bis zum Ende des Z w eiten W eltkriegs aus Istrien flüchten m ußten; zugleich w urde Istrien m it 29.000 Italienern kolonisiert.7 Die Italianisierung Istriens unter der faschistischen R egierung M ussolinis w ar so gründ lich, daß sie sogar die Toten und deren Fam iliennam en au f den G rabsteinen und in A rchiven und R egistern um faßte.s A uch die spä teren V erhältnisse zw ischen dem dam aligen Jugoslaw ien und Italien w aren kom plex: D a es noch jahrelang einen diplom atischen K onflikt zw ischen den dam aligen jugoslaw ischen und italienischen R egierun gen gegeben hat und da Istrien vorübergehend in zw ei Z onen geteilt w orden war, kann m an sagen, daß dieser politische Prozeß in keinem Fall einfach oder rasch vor sich ging. Ganz im G egenteil: Es w urde im ehem aligen Jugoslaw ien noch Jahrzehnte später von der G efahr der Italiener gesprochen;5 gleichzeitig w urden aber auch die „guten, nachbarschaftlichen B eziehungen“ zw ischen den beiden Staaten in der besten Tradition sozialistischer R hetorik b eto n t.10 Die nächste 7 B anovac, B oris: E tnicnost i regionalizam u Istri: povijesni rakurs i suvrem eni kontekst. In: M igracijske tem e: C asopis za istrazivanje m igracija i narodnosti 12/4, Z ag reb 1996, S. 272; K lem encic, M laden, Vesna K u sar und Z eljk a Richter: P rom jene naro d n o sn o g sastava Istre: P rostorna analiza popisnih p o d atak a 1880— 1991. In: D rustvena istrazivanja 6 - 7 (Istra: P osebnosti i o pcehrvatski kontekst), Z ag reb 1993, S. 6 0 7 -6 2 9 . 8 B an o v ac (w ie A nm . 4), S. 271. 9 D er fo lg en d e B eitrag ist n u r eines der vielen B eispiele: Sepie, D ragovan: T ransform aeije iredentizm a. In: Istra: kultura, knjizevnost, d ru stv en a pitanja 6, Pula 1974, S. 9 -1 7 . 20 0 2 , H e ft 1 D ie g le ic h e S p ra c h e in g e ä n d e rte n Z e ite n 5 große Ä nderung der ethnischen Z usam m ensetzung Istriens fand zw i schen 1947 und 1954 statt, als ungefähr 116.000 Italiener w ährend d er sogenannten esodo die Region verlassen m ußten. In dieser G rup pe befanden sich teilw eise auch Kroaten, die sich als Italiener bezeichneten und nicht unter der sozialistischen R egierung bleiben w o llten .“ D ie letzte politische und geographische V eränderung Istri ens geschah im Jahre 1991, als Kroatien und Slow enien ihre U nab hängigkeit von Jugoslaw ien erklärten. Noch einm al durchschnitt die Region eine neue Grenze, welche wiederum neue Verhältnisse und Beziehungen mit sich brachte. In den frühen Neunzigern sind auch viele Flüchtlinge sowohl aus dem Osten und Süden Kroatiens als auch aus B osnien-H erzegow ina nach Istrien gekommen und haben das ethnische und dem ographische Bild der Region aberm als geändert. Istrien ist dam it eine Region, die viele fremde Regierungen hinter sich hat, und sie ist überdies die letzte südslawische Region, die mit einem südslawischen Staat (d.h. m it dem damaligen sozialistischen Jugoslawien), erst nach intensiven diplom atischen und politischen Verhandlungen, vereinigt worden war. Die Betrachtung der Geschichte Istriens m acht bewußt, daß für die Istrier die jahrhundertelange Entwicklung eines Regionalism us der einzige Weg war, ihre slawische (kroatische und slowenische) Iden tität vor der V erschm elzung m it den Frem den zu schützen. D er tschakaw ische D ialekt - und nicht die Staatsgrenzen oder die natio nalen S ym bole - w ar dafür das w ichtigste Identitätsm erkm al. D ialekt w ird vornehm lich auf zw eierlei Art und W eise definiert: Er kann entw eder ein Subsystem m it eigenen phonologischen, m orpho logischen, syntaktischen und sem antischen E igenschaften innerhalb einer (H och-)S prache sein, und bei solcher D efinition steht der D ia lekt in einer (für ihn ungünstigen) hierarchischen Relation zur (Hoch-) Sprache. D er zw eiten gängigen D efinition folgend, gilt er als ein selbständiges, räum lich definiertes Sprachsystem , w elches verschie dene linguistische E igenschaften von anderen gleichw ertigen S prach sy stem en u n terscheidet. Bei der zw eiten D efinition stehen die 10 Z .B . A cim ovic, M ihajlo: P rim jer dobrih susjeda. In: Istra: kultura, knjizevnost, dru stv en a pitan ja 14/1, Pula 1976, S. 1 9 -3 5 ; L ahm an, O tokar: N asa Istra. In: M aticin iseljenicki kalen d ar za godinu 1955, Z agreb 1955, S. 9 5 -1 0 1 ; R am ljak, A nte: O Istro, Istro m ila. In: N apredak: H rvatski narodni kalen d ar za 1948, S arajevo 1948. S. 7 3 -8 5 . 11 B allinger, Pam ela: T he Istrian esodo: Silences and P resences in the C o nstruction o f E xodus. In: War, E xile, E veryday Life: C ultural P erspectives. H erausgegeben von R en ata Ja m b resic und M aja Povrzanovic, Z agreb 1996, S. 117-132. 6 S a n ja K a lap o s Ö Z V L V I/105 Sprachsystem e also in keiner H ierarchie.12 L inguistisch betrachtet, hat je d e r D ialekt die Fähigkeit, als H ochsprache zu dienen und zu fu n k tio n ieren .13 Die A usw ahl ist eng m it der jew eilig en P olitik ver bunden; besonders die Sprachnorm ierung ist als eine betont politische Tat zu b etrach ten .14 Deshalb wird hier der D ialekt als eine der H och sprache gleichw ertige Spache anerkannt, und ich spreche von der „Istrisch en S p rache“ gleicherm aßen wie m eine In fo rm an ten 15 und die M usiker, die den gleichen Begriff, „Istrische S prache“, benutzten. Bis in die 90er Jahre des 20. Jahrhunderts galt Istrien als „eine W iege der frühen kroatischen K ultur“ pcir excellence. G ründe dafür gibt es genug. N ennen w ir hier nur einige kulturelle und literarische Z eugnisse, die Istrien diesen R uf einbrachten: In Istrien gibt es bereits im 11. Jahrhundert B eispiele der (altkirchenslaw ischen) glagoliti schen Schrift. Später spielte Istrien als Zentrum des Schreibens in kroatischer Sprache Jahrhunderte hindurch die w ichtigste R olle in der kroatischen m ittelalterlichen Literatur. Das w ichtigste kroatische D o kum ent dieser Z eit ist zw eifellos Istarski razvocl, dessen erste Version ungefähr 1275 verfaßt w orden w ar.16 N eben der entw ickelten L itera tur, entstand auch sonst in Istrien ein reiches K ulturleben: Es w urde viel aus dem Lateinischen übersetzt,17 die M anuskripte w urden durch B ilder istrischer K ünstler illu striert.18 Die G raphik galt als re if und 12 S kiljan, D ubravko: Pogled u L ingvistiku, Z agreb 1987, S. 135-136. 13 Z u diesem T h em a vergleiche H obsbaw m : „ N atio n al languages are (...) alm ost alw ays sem i-artificial construet (...). T hey are usually attem pts to devise a standardized idiom out o f a m ultiplicity o f actually spoken idiom s, w hich are th ere afte r dow n g rad ed to dialects, the m ain problem in their construction being usually, w hich d ialect to choose as the base o f the standardized and h o m ogenized lan g u a g e.“ (H obsbaw m , Eric: N ations and N ationalism Since 1780: P rogram m e, M yth, Reality. C am bridge et al, 1990, S. 54) 14 B abic, Stjepan: Jezik, etnija i politika. In: E tnicnost, naeija, identitet: H rvatska i E uropa. R uzica C icak-C hand und Josip K um pes, H g. Z ag reb 1998, S. 191. 15 K alapos, Sanja: Identitet, jez ik i glazba: K o nstrukcija reg io n aln o g identiteta u Istri (T ranskripcije razg o v o ra s kazivacim a). In stitu t für E thnologie und F o lk lore-F o rsch u n g , Z agreb, 1998, M anuskript N um m er 1685. 16 B ratulic, Josip: Istarski razvod - povijesni, d ru stvenopovijesni i knjizevni spom enik H rvata u Istri. In: Istra: kultura, knjizevnost, d ru stv e n a p itan ja 14/1, 1976, S. 1 und 6; C rnja, Z vane: Istra ii sredistu g lagoljastva (N asa knjizev n a razm ed a u doba n a stan k a beram skih fresak a)“ . In: Istra: kultura, knjizevnost, d rustvena pitan ja 8/9, 1977, S. 5 5 -5 9 ). 17 R ezic, K senija: Iz stilem atike h rvatskoglagoljskoga lekeionara. In: Istra: kultura, knjizevnost, d ru stv en a pitanja 3/4, 1980, S. 2 5 -3 2 . 18 B adurina, A ndelko: Ilum inacije istarskih glagoljskih rukopisa. In: Istra: kultura, 20 0 2 , H e ft 1 D ie g le ic h e S p rac h e in g e än d e rte n Z e ite n 7 entw ickelt und ist in M anuskripten oft anzutreffen.19 Die G renzgebie te Istriens w aren jed o ch aufgrund ständiger U nruhen nicht stabil, und so w urde M ittelistrien zum Zentrum der slaw ischen K ultur.20 Istrien ist dam it eine R egion, in der sich eine starke slaw ische Identität angereichert durch einige typische Elem ente des m editerranen K ul turkreises und S oziallebens - entw ickeln konnte. Das erste kroatische Buch, w eniger als dreißig Jahre nach dem ersten gedruckten Buch überhaupt, w urde 1483 gerade hier veröffentlicht.21 W eiter w ar auch der P rotestantism us des 16. Jahrhunderts, der statt Latein die Volks sprache als K irchensprache eingeführt hat, und dessen bedeutsam ster istrischer V ertreter M atija V lacic-Ilirik war, w ichtig für die Verbrei tung der „V olkssprache“, also der tschakawischen, lokalen Sprache.22 1893 wurde Cirilometodska ciruzba (Die Kyrillom ethodische G em ein schaft) errichtet, die sich weiter intensiv mit den nationalen, sprachli chen und kulturellen Fragen der istrischen Kroaten beschäftigte. Das öffentliche Im age Istriens w ar im m er w idersprüchlich: Alle Versuche, die kroatische K ultur in verschiedenen frem den Staaten zu erhalten, haben Istrien einen starken nationalen R uf eingetragen. A ndererseits w urde die „ G efah r“ von Italien und dessen Irredentismus im m er stark betont und nie vergessen, sodaß Istrien gleichzeitig auch als eine nicht ganz slaw ische Region betrachtet wurde. Wenn es sich um Istrien handelte, waren im m er W idersprüche zu spüren. B eispielsw eise w urde Istrien im L auf der G eschichte im m er als eine arm e R egion b etrachtet.22 G leichzeitig ist es heute, durch einen ent w ickelten T ourism us und die Tatsache, daß es dort keinen K rieg in den N eunzigern gegeben hat, eine der reichsten und m eistentw ickelten R egionen des Landes. Und daß die Partei, die die zehn Jahre von 1990 bis 2000 in Kroatien regierte, in Istrien die W ahlen nie gew on nen hat, sondern daß in Istrien die lokale Partei IDS an der M acht war, k njizevnost, dru stv en a pitanja 3/4, 1980, S. 3 3 -4 4 . 19 Fucic, B ranko: Istarski glagoljski abecedariji. In: Istra: kultura, knjizevnost, d ru stv en a pitan ja 3/4, 1980, S. 4 5 -5 4 . 20 V gl. B ertosa, M iroslav: Istra izm edu zbilje i fikcije, Z agreb 1993. 21 B ratulic, Josip: Istra u proslosti i sadasnjosti. In: Istra: C asopis za kulturu, k n jizev n o st i d ru stv e n a pitanja 2 4 /3 -4 , 1986, S. 6 -7 . 22 B ratulic, Josip, w ie A nm 19, S. 8 -9 . 23 D ie K o ch b ü ch er m it den R ezepten aus der traditionellen C uisine, zum B eispiel, besch reib en das istrische E ssen als bescheiden und arm (vgl. Istarska kuhinja: G astro n o m sk o turisticki vodic, Pula 1984 und V alchich, D ennis B.: C roatian C ookbook: A W alk T hrough C roatia. B onnyrigg 1994). 8 S a n ja K a lap o s Ö Z V L V 1/105 hat das öffentliche Bild Istriens ebenfalls geprägt. Die regierende Partei benutzte ihren Einfluß auf die M edien, um das öffentliche Image von Istrien wiederum neu zu konstruieren. Die istrischen Identitätselem ente, die bis vor Kurzem noch als kroatisch galten, sind im Diskurs der öffentlichen M edien nun“separatistisch“ und ,,nicht kroatisch genug“, und die lokalen Versuche, die regionale Identität in den M edien auszu drücken, ihre M erkm ale öffentlich zu benutzen und die Existenz der istrischen M ultikulturalität wurden nun fast für staatsfeindlich erklärt. D er neue Staat brauchte jedoch neue Identitätssym bole: Im Krieg und im K ontext der nationalistischen R hetorik der 90er Jahre waren ein lo kaler D ialekt und die m ittelalterlichen steinernen D enkm ale nicht genug. Die K roaten aus H erzegow ina, die im m er präsenten Fahnen und W appen, die Staatshym ne und die alten, im ehem aligen Jugoslaw ien verbotenen L ieder bildeten das neue M odell des Kroatentum s.24 Die nationale Identität w urde auf diese W eise geändert und den neuen U m ständen angepaßt: „S uppose that the m em bers o f the group em brace their new experiences. Suppose they recognize as they go through their lives, building their com m on history, that not all of their seem ingly perm anent characteristics will endure and that new ones will arise. T heir group identity is to be equated not w ith any single set o f determ inations, but som ething which transform s itself over tim e - changing to m eet new challenges.“25 D och Istrien hat sich diesen Ä nderungen nicht angepaßt und - eigentlich - nicht anpassen w ollen. Rina, eine Inform antin aus Zminj sagt: „M an sagt oft, die Istrier hätten kein N ationalgefühl. Ich antw orte in solchen Fällen, daß es nicht um nationales B ew ußtsein geht, sondern darum , daß die L eute aus Istrien irgendw ie ... Sie haben nicht diese aggressive E in stellung, sie neigen nicht dazu, die Sachen zu übertreiben ... Sie haben für ihre N ation nie im Sinne von A ggressivität gekäm pft. Sie waren nie aggressiv. Ich habe im m er bew iesen, daß Tschakaw isch die älteste kroatische H ochsprache ist, und daß die Istrier Tschakaw isch spre chen, daß sie ihr Tschakaw isch bew ahrt haben, obw ohl sie unter dem 24 Vgl. R ihtm an -A u g u stin , D unja: A C ro a tia n C ontroversy: M ed iterran ean - D anub e - B alkans. In: N aro d n a uinjetnost: C roatian Journal o f E thnology and F olklore R esearch 36/1, Z agreb 2000. S. 103-119 und R ihtm an-A ugustin, D unja: Z asto i otkad se grozim o B alkana?. In: U lice m oga grada: A n tro p o lo g ija d o m a ce g terena, B elgrad 2000, S. 2 1 1 -2 3 6 . 25 M cC um ber, John: D ialectica! Identity in a ,P o st-C ritic al‘ Era: A H egelian Reading. In: N ations, Identities. C ultures. V. Y. M udim be, Hg. D urham und L ondon, 1997, S. 175. 2 0 0 2 , H e ft 1 D ie g le ic h e S p rac h e in g e ä n d e rte n Z eiten 9 E influß Italiens standen, daß m an hier T schakaw isch geschrieben und gesprochen hat, daß dieses Tschakaw isch für die Istrier ihre sprach liche S ouveränität und ihr nationales B ew ußtsein geprägt hat, und daß sie im m er Istrisch gesprochen haben, wobei sie diese Sprache ,po n a s i‘26 genannt haben. ,Po n a s i‘ heißt eigentlich Tschakaw isch, und dieses T schakaw isch ist ein Teil des Korpus der kroatischen Sprache, o d er?“27 E ine andere Inform antin, Zora, sagt folgendes: „W eißt du, w as m an über Istrien sagt? Ich m eine ... W ir bekom m en die bösen B licke, je tz t hat alles eine politische K onnotation, Istrien ist angeb lich nicht kroatisch genug. A ber von der anderen Seite betrachtet, sollten w ir eigentlich stolz sein, weil sich die kroatische Sprache hier so lange erhalten hat. Zum B eispiel, m eine O m a m ußte eine italieni sche Schule besuchen, und bis heute spricht sie kein Italienisch, nur aus Trotz. Sie könnte ruhig Italienisch sprechen, aber gerade aus Trotz spricht sie es nicht, und gerade aus Trotz ist die kroatische Sprache so lange geblieben. Und gerade die Sprache sollte ein Bew eis sein, und nicht daß die anderen sagen, Istrien sei nicht kroatisch genug.“28 Die zentralistische Politik wollte auch die istrische regionale Zuge hörigkeit (bei der Volkszählung im Jahre 1991 gab es in Istrien 16,1%, die sich als „regionale B evölkerung“ einstuften) als zur kroatischen Identität widersprüchlich darstellen. Doch meine Inform anten stimmen darin überein, daß diese zwei Kategorien nicht in Opposition zueinander stehen sollten. Die regionalen räumlichen Bezüge sowie die Einstellun gen und Verhältnisse zur Nation wurden ebenfalls befragt: ,,S. K.: S ie h s t d u d ich se lb st in e rs te r L in ie als Istrier, o d e r? ... Vihor: Ich w eiß es nicht, ich habe das Gefühl, daß ich m ich ab h än g ig von m e in e m G e sp räch sp artn er unterschiedlich sehe... E igentlich nicht, ich habe eine seh r starke lokale K o m p one nte, den L ok alpatriotism us, ab er gleichzeitig kritisiere ich das G an ze auch sehr stark. Ich bin fürchterlich am bivalent. (...) Es ist a b e r eine Tatsache, daß ich m ich als Kroate betrachte, einfach, weil ich e in e r bin. M e in e Eltern sind Kroaten, das ist einfach eine Tatsache. Ich denke, träu m e und spreche kroatisch. In diesem S inn e bin ich ein K roate, und d esh a lb bin ich nicht b esser o d er schlechter als ein an derer M ensch . (...) A b e r ich bin auch ein Istrier, und ich denke, daß diese zwei K ategorien m ein er M e in u n g nach ü berh aup t nicht im W iderspruch zuein a n d e r stehen, ganz im G egenteil. Sie k ön nen sich nu r gegenseitig erg ä n z en .“29 26 27 28 29 ,,P o n a si“ könnte m it „ u n se re S prache“ übersetzt w erden. K alap o s (w ie A nm . 15), S. 7 1 -7 2 . K alapos, w ie A nm 15, S. 95. K alapos (w ie A nm . 15), S. 2. 10 S a n ja K a lap o s Ö Z V L V I/j 05 „ S . K.: U n d w ie f ü h ls t du d ich m e h r - als ein K ro a te o d e r als ein Istrier? Ivan: H m , also... (...) M e is te n s als ein K ro ate. D a s k an n ich m it S ic h e r h e it b e h a u p te n . Ich bin ein K roate. Ein K ro ate, u nd das ist so. A b e r ich g la u b e au ch , d a ß ich ein Is trie r bin. A b e r ich m a c h e k ein en g ro ß e n U n te r s c h ie d z w is c h e n d en beid en . Ich g lau b e, d a ß d ie Is trie r K ro a te n sind, u n d d a m it ist die S a c h e erledig t. U n d Sc h lu ß . Ich m ö c h te n ich ts m it d e m B lö d sin n ,Is t r i e n - R e p u b l i k 1 zu tun hab en , d a f ü r h a b e ich kein I n t e re s s e .“311 U nd was sagen die M usiker? D er alternative istrische K ünstler Franci B laskovic, der dem M ainstream -Publikum und der M ehrheit der Ö ffentlichkeit unbekannt war, hat schon in den 80er Jahren m it seiner M usik den G rundstein für das gelegt, was später als „C a-W elle“ benannt w urde. Interessant und auch nicht bar jeg lich er Ironie ist jed en falls, daß er dam als m it dem A rgum ent, daß „ d e r istrische D ialekt, den er verw endete, nicht kom m erziell genug sei“,31 keine Verträge m it den S challplattenfirm en und w ichtigen Produzenten bekom m en konnte. Nik aus Pazin, von B eruf M usikjournalist, meint: „A lle denken, der Schöpfer der ganzen Sache sei Franci B laskovic. O bw ohl er dam als kein größeres kom m erzielles Echo dam it bew irkte, hat er irgendw ie das Interesse gew eckt. Was er gem acht hat, das w ar anders und unüblich. (...) Franci i s t ... Er ist der Vater der ,C a-W elle1 ... W ir können sagen, er ist der A utor der ganzen S ache.“32 Und M arija, Sängerin und Studentin aus Pazin erzählt weiter: „ F ü r m ich ist er definitiv eine Legende. Weil die ,C a-W elle1 erst vor ein paar Jahren geboren w urde, weil es dam als einen Boom gab. A ber Franci m acht das G leiche schon seit Jahren ... Seit Jahren. Und sogar auf eine geistvolle, clevere und, wie sagt man das, auf eine engagierte A rt und W eise.“33 Franci B laskovic selbst bew ertet die Popularität der „C aW elle“ nicht m it viel Sym pathie: „D ie Tragödie besteht gerade darin, daß die M usiker so populär sind, und daß sie ,b esid a‘34 nur deshalb benutzen, um noch größere Popularität zu erreichen. (...) Ich konnte nicht glauben, daß sich jem and traut, das zu verkaufen.“33 D er Grund 30 K alapos (w ie A nm . 15), S. 4 3 -4 4 . 31 Sine nom ine: O starijski rock F rancija B laskovica. In: V ikend, Z agreb, 12. D e zem b er 1986. 32 K alapos (w ie A nm . 15), S. 27. 33 K alapos (w ie A nm . 15), S. 66. 34 ..B e sid a “ a u f Istrisch heißt „ S p ra ch e , R ede, W ort“ ; es ist auch d e r lokale N am e fü r den istrischen D ialekt. 35 L ucic, Predrag: N ije glazba m uzika! In: Feral T ribune (G lede & U natoc), Split, 22. Jä n n e r 1996. 2 0 0 2 , H e ft 1 D ie g le ic h e S p rac h e in g e ä n d e rte n Z eiten 11 seiner B itterkeit könnte auch dam it zu tun haben, daß die populären M edien und die breitere Öffentlichkeit noch in den Achtzigern kein Verständnis für seinen künstlerischen Ausdruck gezeigt haben, und daß er auch in den Neunzigern außerhalb Istriens kaum bekannt wurde. Unabhängig davon, ist seine Einstellung zur nahezu „H eilig keit“ der lokalen Sprache doch merkwürdig. Edi M aruzin, der K om ponist und Leader von „G u sta fi“ , erzählt, w arum er Ende der 80er Jahre im D ialekt zu schreiben angefangen hat: „A ls die Serben serbischer als früher gew orden sind, als die K roaten kroatischer als früher gew orden sind... dann sind die Istrier auch istrischer als früher gew orden. W ir sind zurück zu unseren W urzeln gegangen, w ir haben angefangen, unsere D örfer und die lokalen L eute zu besuchen, und durch diese K ontakte sind auch die ursprünglichen istrischen Spracheigenschaften zu uns zurückgekom m en.“36 Die Inform anten betrachten „G u sta fi“ als das beste „C a-W elle“-Produkt. R ina aus Zm inj meint: „W ann ,G ustafi ‘ singen, das ist so ... (...) Zum B eispiel, ,Noc svetog V alentina“ [,Sankt Valentins N a ch t“], ich w eiß nicht, ob das Lied genauso heißt, aber ich w eiß, daß m an von der Sankt Valentins N acht singt, es ist eines der schönsten L iebesgedichte in tschakaw ischer S prache.“37 D och, der echte Star der „C a-W elle“ w ar der Sänger aus dem D orf O rbanici, Alen Vitasovic. Nach dem Sieg beim ersten „A ren a F esti v al“ 1994 in Pula w ar die K arriere Vitasovics nicht m ehr zu stoppen. D ie M edien, speziell die lokalen, berichteten über ihn als den w ich tigsten B otschafter Istriens in Kroatien. Als dam als bekanntester istrischer Sänger m ußte V itasovic im m er w ieder seine Einstellungen zu Sprache, D ialekt, Istrien und Politik w iederholen: „Ich singe auf Tschakaw isch, wie ich auch zu H ause spreche. M ein Z uhause ist im Süden Istriens, zw ischen Pula und Vodnjan. Am besten kann ich singen, w enn ich jed es W ort verstehe, wenn ich fühle und liebe, was ich singe, und das ist der einzige Grund, warum ich au f Tschakaw isch singe.“3S D er ausgebildete M usiker, der die M usikschule für K lavier und Saxophon absolviert hat, erklärt w eiter seine E instellungen g e genüber der Politik: „Ich bin Istrier, aber auch ein norm aler Kroate. 36 F erina, Z rinka: A utori najboljeg hrvatskog album a u 1999. In: N acional. Z agreb. 6. Jä n n e r 2000. 37 K alapos (w ie A nm . 15), S. 79. 38 B aien, M arko: V itasovic pjeva sa zlatnim m ikrofonom . In: S lo b o d n a D alm acija, Split, 29. Juni 1995. 12 S a n ja K a lap o s Ö Z V L V I/105 W ir sprechen nur ein bißchen anders und haben vielleicht eine andere M entalität. (...) Ich singe zw ar auf Tschakaw isch, Istrisch, und was kann man für seine H eim at als M usiker noch tun?“39 Z um Z eitpunkt der größten Popularität Vitasovics w urde die G rup pe „ S a je ta “, anfangs „S ajeta & C apra d ’O ro“40 genannt, gegründet. Bis 1995 w ar von „ S a je ta “ kaum etw as zu hören. E rst nachdem Alen V itasovic seinen großen Erfolg gelandet hatte, bekam auch die G rup pe aus O patija m ehr Präsenz in den M edien - und zw ar dadurch, daß einer der größten Hits der G ruppe im D uett m it V itasovic gesungen wurde. A lle L ieder auf der ersten CD von „ S a je ta “ w aren in liburnisch-tschakaw ischem D ialekt verfaßt, und die M usik folgte den Spuren von Rock und Blues. Drazen Turina, der K om ponist und L eader der G ruppe, sagt: „Tschakaw isch ist eine w underschöne S pra che. Es ist ein bißchen veraltet und deshalb ist es schw ierig, auf T schakaw isch zu schreiben. (...) Wir sind stolz, daß w ir in dieser Sprache gesungen haben, obw ohl w ir das nicht deshalb gem acht haben, weil w ir verm uteten, daß es ein Hit und ein gutes G eschäft wird, sondern w eil unsere G roßväter wegen der Verw endung dieser S prache w ährend des Faschism us R izinusöl in den M und bekom m en hab en .“41 Die Inform anten sind ebenfalls der M einung, daß die Texte von Turina für seine M usik w ichtig sind: R ina aus Zm inj sagt: „Ich denke, daß der Typ sehr gute Texte hat, obwohl man einigen von ihnen entw eder zustim m en oder auch nicht zustim m en kann, doch ich w ürde sagen, das sind Texte m it Intelligenz, diese Texte treffen ins S chw arze“,42 und M arija aus Pazin denkt folgendes: „D e r Typ ist m einer M einung nach - ein sehr geistvoller Typ, der hat im m er etwas zu sagen, und es ist im m er etwas W itziges, G eistvolles und Intelli gentes. Das ist auch in seinen Liedern so.“43 D ie attraktive und für den erfolgreichen V erkauf notw endige Inno vation der „C a-W elle“ w ar aber nicht nur der D ialekt, sondern auch die betonte R egionalität ihrer A utoren. Von B laskovic und „G u sta fi“, 39 B rnabic, Vesna: N ajb o lje pjevam na istarskom ! In: Vecernji list, Z agreb, 9. S ep tem b er 1994. 40 „ B litz und die g oldene Z ie g e “. D ie Z iege ist ein Sym bol Istriens, und als solches ist sie auch a u f dem regionalen W appen zu finden. D ie Z ie g e ist sp ä ter zum „ p o litisie rten T ie r“ m utiert und w urde zu einem S ynonym Istriens. 41 M oric, D anijela Ana: A ko je rijec o djevojkam a, bolji sam od B anderasa!. In: Vecernji list, Z agreb, 23. A ugust 1996. 42 K alapos (w ie A nm . 15), S. 78. 43 K alapos (w ie A nm . 15), S. 61. 20 0 2 , H e ft 1 D ie g le ic h e S p rac h e in g e ä n d e rte n Z e ite n 13 bis V itasovic und Sajeta, alle diese M usiker hatten vielfach G elegen heit, ihre E instellungen zu Region, Politik, K unst und G esellschaft darzustellen. E inerseits bew erteten die staatlichen M edien Istrien als R egion „n e g a tiv “, „n e g ativ “ im Sinne von „n ich t kroatisch gen u g “ doch andererseits nutzten die gleichen M edien die G elegenheit, die M usik aus Istrien im ganzen Land zu spielen. E inerseits w urde der istrische R egionalism us als „separatistisch“ gegeißelt, doch anderer seits w urde die im gleichen D ialekt gesungene M usik in ganz K roa tien durch die M assenm edien verbreitet und popularisiert - auch in jen en G ebieten, in denen m an den istrischen D ialekt kaum versteht. D erselbe D ialekt, der für politische Zw ecke stigm atisiert w urde, w ar für k om m erzielle Zw ecke vollkom m en legitim . „ I f language becam e an im portant m edium for national cohesion and belonging (in m ost, but far from all nations), the nationalization o f culture was very m uch linked to the creation o f a public sphere by rising bourgeoisie, who created new arenas and m edia of debate and inform ation.“44 Die A ufm erksam keit, die der „C a-W elle“ von Seiten der staatlichen M e dien zuteil w urde zeigt, wie w ichtig Istrien für die dam alige politische und g esellschaftliche Situation eingestuft w urde. D iese M usik bekam nicht nur durch den G ebrauch des D ialekts, sondern auch - oder sogar in erster Linie - durch solche Interview s die R olle eines „cultural disp lay “ .45 W ährend für die lokalen M edien die „C a-W elle“ ein M ittel zur B ildung regionaler Identität war, benutzten die staatlichen M edi en diesen „cu ltu ral display“ , um Istrien auf einer sym bolischen Ebene K roatien zu inkorporieren, und die M usik, die am leichtesten junge L eute beeinflussen kann, diente hier als das ideale M edium : „M usic has a fundam entally social life. It is m ade to be engaged - practically and intellectually, individually and com m unally - as sym bolic entity. By ,en g a g ed 11 m ean socially interpreted as m eaningfully structured, produced, perform ed, and displayed by historically situated actors.“46 44 L öfgren, O rvar: T h e N ationalization o f C ulture: C o n stru ctin g Sw edishness. In: S tudia eth n o lo g ica 3, Z agreb 1991, S. 110. 45 „P o litically , cultural displays can be used to say new things, fe ste r new understandings, p ro m o te old ones, valorize and legitim ate stances by governm ents, p eo p les o r c o m m u n itie s“ (K urin, R ichard: C ultural P olicy T h ro u g h Public D is play. In: Journal o f P o p u lar C ulture 29.1, O hio 1995, S. 12). 46 Feld, Steven: C om m unication, M usic and Speech about M usic. In: K eil, C harles, S teven Feld: M usic G rooves: E ssays and D ialogues. C hicago und L ondon, 1994, S. 77. 14 S a n ja K alap o s Ö Z V L V I/105 Die Frage der regionalen Identität und des R egionalism us ist in Istrien eine em pfindliche: Nach allen Kriegen, Im m igrationen und E m igrationen, K olonisierungen und F luchtbew egungen ist Istrien ein R aum in terk u ltureller Identitäten gew orden. Die B evölkerungsstruk tur hat sich m ehrm als stark geändert, w obei die dem ographischen S pezifika bei der B ildung der istrischen Interkulturalität eine große R olle spielten.47 H ier spielen also m ehrere F aktoren m it - die histo rischen (die seit G enerationen einen starken R egionalbezug bew irkt haben), die politischen und die w irtschaftlichen, alle m eist eng m it einander verbunden, die kulturellen und sprachlichen, sow ie die F aktoren der M oderne, in der eine breite V ielfalt an Identitäten existiert, die dem zeitgenössischen M enschen angeboten werden: berufliche, generationsbezogene, geschlechtliche, bis hin zu lokalen, regionalen, nationalen, europäischen oder globalen. D iese V ielfalt von Faktoren, die die Identitätsbildung (speziell in ost- und m itteleu ropäischen L ändern nach der W ende) und ihre Ä nderungen beein flußt, w urde von Lâszlö Kiirti und Juliet Langm an dargestellt: ,,W ith ,rem aking cultural id en tities1, we stress that the various ethno-political m ovem ents observable in E ast C entral Europe are socially constituted, contested, and negotiated as well as historically bounded.“4S In diesem K ontext können die zwei H auptrollen der „C a-W elle“ und ihrer lokalen Sprache um rissen werden: Die R olle, die die „C a-W el le“ in Istrien gespielt hat, ist in erster L inie ein Z eichen des R egiona lism us, w obei die Z ugehörigkeit zum „kroatischen Volk“ innerhalb der R egion als etw as Selbstverständliches angenom m en w ird, was nicht laut ausgesprochen w erden muß, und die Rolle, die die „C aW elle“ im R est K roatiens gespielt hat, die R olle eines integrativen Faktors. D er Kern dieses istrischen R egionalism us w ar de facto nicht politisch oder separatistisch m otiviert, sondern m uß in K om bination m it den historischen U m ständen, die es nicht erlaubt haben, eine k roatische (oder slow enische) Identität in Istrien zu entw ickeln, und im Z usam m enhang m it m oderner Identitätssuche und Identitätsbil dung b etrachtet w erden. Obwohl die Region Istrien aus der P erspek 47 Vgl. Pirsl, E lvi: Istra i interkulturalni odgoj. In: D rustvena istrazivanja 2 5 -2 6 (Izazovi interk u ltu ralizm a), Z agreb 1996, S. 8 9 5 -9 1 1 . 48 K ürti, L aszlö und Ju liet Langm an: Introduction: S earching for Identities in N ew E ast C entral E urope. In: B eyond B orders: R em aking C ultural Identities in the N ew E ast and C entral E urope. L âszlö K ürti und Ju liet L angm an, H g. B oulder, C o lorado und O xford, 1997, S. 1. 2 0 0 2 , H e ft 1 D ie g le ic h e S p ra c h e in g e ä n d e rte n Z e ite n 15 tive der nationalistischen R egierung einen „falsch en “ Weg genom men hat, ihr K roatentum zu zeigen (indem die regionalen Spezifika, und nicht die kroatischen „com m on goods“ als Identifikationsfakto ren verw endet w urden), haben gerade die staatlichen M echanism en in diesem Fall die M edien - diesen Weg unterstützt und haben Istrien m ittels seiner M usik, einer regionalen Form internationaler K unst Pop- und R ockm usik - , im gesam ten kroatischen R aum etabliert. Und es geschah auch nicht zufällig, daß als M ittel gerade die Pop- und R ockm usik und nicht eine andere K unstform ausgew ählt w orden war: D iese K unstform spricht in erster Linie die Jugendlichen, also „die E rw achsenen von m orgen“ an, eine B evölkerungsgruppe, in deren alltäglichem L eben die populäre K ultur und m it ihr verbundene L ebensstile eine bedeutsam e R olle spielen. H ier können zw ei P rozes se unterschieden werden: E iner beschäftigt sich m it den K ulturele m enten, die zu Sym bolen des N ationalen w erden, und der zw eite organisiert K ulturgüter innerhalb nationaler G renzen und m acht so aus einem nationalen einen kulturellen R aum .49 Und gerade im e r w ähnten Prozeß der N eudefinition einer N ation gab es einen frucht baren G rund für die K om bination von Zeitgenössischem , wie etw a der Pop- und R ockm usik und „A ltem “ oder „U rsp rü n g lich em “; als w elches der D ialekt em pfundenw ird.50 „D ialek t sei das, w orauf man sich zurückziehen könne, w orauf m an sich verlassen könne, was einem niem and w egnehm en könne (...) Die Sache selbst, die M undart, hat sich kaum verändert. A ber die B licke au f sie verändern ihre B ew ertung und dam it auch die Funktion der S prache.“51 Die lokale Sprache in einem veränderten K ontext und m it einem „g lo b ale n “ K ulturgut wie R ockm usik verbunden, bekom m t im m er w ieder neue B edeutungen und w ird im m er w ieder für neue Zw ecke verw endet: „G lo b al ethnoscope, global culture, and porous boundaries em erge through the interplaz of com bined cultural, econom ic, international and historical forces. D espite the celebrated concepts of globalism and m ulticulturalism , however, cultures in the m ore traditional and anthropological sense are being vigorously used, in som e cases ma49 Vgl. L ö fg ren (w ie A nm . 29), S. 114. 50 V gl. K alapos, Sanja: C ijeli svijet u morn selu: G lobalna n aspram lokalne kulture, lo k aliziran je g lob aln o g i g lobaliziranje lokalnog. In: E tn o lo sk a trib in a 2 3 ,Z agreb 2000, S. 69. 51 K östlin, K onrad: R egionalism us - die gedeutete M oderne. In: Jah rb u ch des V ereins für nied erd eu tsch e S p rachforschung 119, S. 136. 16 S a n ja K a lap o s Ö Z V L V I/105 nipulated, as principies of political unity and national autonom y.“52 Und obw ohl es auch banal klingen mag, daß Pop- und R ockm usik in einer Identitätsbildung so w ichtig sein könnte, die „N ationalisierung des T riv ialen “ und die „E rforschung des trivialen A lltags“ , und nicht „d ie R hetorik des F ahnenschw ingens und politischer R ituale“ sind die Elem ente, die im alltäglichen Leben eine Identität bilden, und so für die E thnologie relevant.” Was w urde den istrischen Jugendlichen auf dem „Id en titä tsm ark t“ der M oderne eigentlich angeboten, w elche A usw ahl haben sie g etro f fen? E ine N ation, eine R egion, ein Raum , eine „ g lo b ale“ K ultur und ein Stück K ultur, m it dem m an sich auf allen diesen Ebenen leicht identifizieren kann, eine G eschichte, eine „Eleim at“ und eine „ H e i m atsprache“ - einfach einen A nker im turbulenten M eer der sich im m er w iederholenden Identitätsbildungsprozesse. Sanja K alapos, T he Sam e L anguage in C hanged T im es. T he R elatio n sh ip betw een L an g u ag e and R egion as Illustrated by C roatian Istria T h e p a p er d iscu sses the am biguous relationship betw een a p a rticu la r region and the centre o f the natio n -state it is located in, and does so in the context o f globalisation or various global processes. T he position dialect occupies w ithin a p a rticu la r national rhetoric is illustrated w ith the exam ple o f the C roatian part o f Istria. T h e regional dialect - seen in this case as part o f popular culture - has been tised on the one hand as a com m on d e n o m in ato r o f old and “a uthentic” C roatian culture. On the other hand, the d ialect is also seen as a sign o f regional Opposition to the state. 52 K ürti und L angm an (w ie A nm . 29), S. 4. 53 V gl. L öfgren, O rvar: L inking the L ocal, the N ational and the G lobal: P ast and P re se n tT re n d s in E uropean E thnology. In: E thnologia E u ro p a e a 26, C openhagen, 1996, S. 164. Österreichische Zeitschrift fü r Volkskunde Band LV 1/105, Wien 2002, 17-35 Die Tramperbewegung in Böhmen, Mähren und der Slowakei Gero F ischer D ie tschechische (und slow akische) T ram p erb ew eg u n g ist in ihrer spezifischen A usprägung als k u ltu rso zio lo g isch es P h ä nom en ein bisher w enig erforschtes eu ro p äisch es U nikum . E ntstanden nach dem E rsten W eltkrieg in B öhm en, hat diese B ew egung ihren Z enit in der Z w isch en k rieg szeit gehabt. Sie konnte N S -F aschism us w ie auch die ko m m u n istisch e E poche überdauern und hat bis heute die tsch ech isch e und slo w a k i sche Ju g e n d k u ltu r nachhaltig geprägt. In diesem B eitrag sol len die A nfänge, die soziale Z u sam m en setzu n g , die g eo g ra p h isch e V erbreitung sow ie die kulturellen, sozialen und k ü n st lerischen A usdrucksform en der tschechischen (und slo w a k i schen) T ram perbew egung skizziert w erden. Vorbem erkung Die tschechische Tram perbew egung ist als europäisches Unikum außerhalb Tschechiens und der Slow akei w eitgehend unbekannt. Und auch in der tschechischen und slow akischen F achliteratur ist dieses T hem a noch nicht richtig aufgearbeitet, w enngleich es sich hier w achsenden Interesses erfreut. Jedenfalls existiert noch keine aus führliche M onographie, bloß einige A ufsätze und einige kurze F ern seh d o k u m en tatio nen1liegen vor. Um einen w irklichen Einblick in die tschechische Tram perbew egung zu erhalten, genügt es nicht, von außen - d.h. über Sekundärliteratur (die fast ausschließlich in tsche chischer bzw. slow akischer Sprache abgefasst ist) - an die T hem atik heranzugehen. D er Z ugriff zu authentischem schriftlichen M aterial, das von den Tram pern selbst stam m t (etw a Tagebücher, Z eitschriften oder Flugblätter), ist aber in der Regel nur über persönliche V erm itt lung von (auch ehem aligen) Tram pern m öglich. So habe ich m einem K ollegen Karel A ltm an vom Ethnographischen Institut der Tschechi1 U n ter anderem ein B eitrag von V ëra C h ytilovä im Ja h r 1999. 18 G e ro F isc h e r Ö Z V L V I/105 sehen A kadem ie der W issenschaften Brno dafür zu danken, dass er m ir einen direkten Zugang zu diesem überaus spannenden Phänom en in Form einiger gem einsam er Exkursionen verschafft hat. D ie Tram perbew egung als soziokulturelles Phänom en Die Tram perbew egung (in der tschechischen Literatur: tram ping, tram povâm ) ist eine spezifisch tschechische K ulturform , die sonst nirgends in Europa beobachtet w erden kann. U nter Tramping wird allgem ein der A ufenthalt in der - nach M öglichkeit unberührten N atur unter einfachen, oft auch prim itiven B edingungen verstanden: mit ausgedehnten Fußm ärschen und K am pieren unter freiem H im mel, jen seits touristischer Pfade und Infrastrukturen. Die T ram perbe w egung kann als eine A rt G egenkultur von vielfältiger A usprägung gesehen w erden, wobei R ückzug und B esinnung au f die N atur eine R olle spielen, aber auch K enntnisse und F ertigkeiten des Ü berlebens in ihr: dazu gehören der U m gang m it Feuer, M esser, Beil und das Binden von K noten ebenso wie K enntnisse etw a über P flanzen und Pilze und allgem ein L esn i moud.rosti (w ooderaft â la E rnest T hom p son Seton); dazu gehören das W issen von Einsiedlern, häufig auch etw a der G laube an die H eilkraft der B äum e ebenso w ie physische Kraft, körperliche Fitness und G ew andtheit. Tramping als Form der Freizeitgestaltung, als A usdruck der Liebe zur N atur und der F reiheit wird in der Regel als G ruppenerlebnis erfahren. C harakteristisch ist die A nlehnung an A usdrucksform en und den H abitus der nordam erikanischen Indianer, Trapper, Jäger, Hobos u.dgl. So sind auch im Tschechischen für die A nhänger der T ram per bew egung die synonym en Begriffe tramp, traper oder cundrâk üb lich, aber auch in ihrer B edeutung etwas differenzierendem Begriffe w ie tu lâ k („W anderer“, „S treu n e r“) oder zâlesâk („W aldm ensch“). Dabei soll bereits hier darauf hingew iesen sein, dass die tschechische T ram perbew egung, w enn auch in ihr die A ltersgruppe der Fünfzehnbis F ünfundzw anzigjährigen überw iegt, nicht ausschließlich eine E r scheinung der Jugendkultur ist. Von allem A nfang an hat die tschechische T ram perbew egung die Prinzipien eines alternativen Lebensstils vertreten, der im W ider spruch zu den M oralvorstellungen und K onventionen m ittelständi scher B evölkerungsschichten gestanden ist. In den 20er und 30er 20 0 2 , H e ft 1 D ie T ra m p e rb e w e g u n g in B ö h m e n , M äh ren u n d d e r S lo w a k e i 19 Jahren haben die Tram per denn auch als die - durchaus nicht unpoli tischen - Pioniere eines neuen Lebens gegolten: G ew isserm aßen als R om antiker der G egenw art sind sie gegen die M ilitarisierung der G esellschaft und des öffentlichen Lebens aufgetreten, haben sich gegen die B estrebungen des Staates und der W irtschaft, die gesam te F reizeit der A rbeitenden zu regulieren, engagiert und nicht zuletzt die herrschende, als heuchlerisch em pfundene M oral im F am ilien- und S exualleben bekäm pft. D iese ihre ablehnende H altung gegenüber den gesellschaftlichen K onventionen wurde dabei auch öffentlich zur Schau gestellt und etw a durch auffallende K leidung2, eine irritierende Sprache, durch sexuelle U ngebundenheit und erhöhten A lkoholkon sum unterstrichen - kurz durch ein Verhalten, das in der Z w ischen kriegszeit konservative Politiker im m erhin derart konsterniert hat, dass sie versucht haben, m it verschiedenen politischen M itteln das Tram povâm , das dam als in der Tschechoslow akei bereits zu einer M assenbew egung gew orden war, zu bekäm pfen bzw. durch diverse gesetzliche M aßnahm en zu krim inalisieren.3 D ie A nfänge D ie T ram perbew egung ist nach dem Ersten W eltkrieg in B öhm en und M ähren, später auch in der Slow akei zu einer M assenbew egung mit spezifischen soziokulturellen E igenheiten gew orden. Seinen A u s gang genom m en hat das spontane K am pieren in der N atur ursprüng lich von G roßstädten m it industriellem H intergrund - zuerst Prag, dann B rünn und andere Städte - , aus denen die M enschen an den W ochenenden zur E rholung ins Freie gezogen sind. In der Z w ischen kriegszeit hat dann diese B ew egung eine geradezu dynam ische E nt w icklung genom m en, allerdings m it der Einschränkung, dass sie nur 2 V gl. B ë lo h lâ v ek , M iroslav: Odi'vâm' tram pü, tâbornfkü a letm 'ch hostu. In: Z pravodaj K S U I 1991, 4, S. 7 9 -8 5 . 3 1931 esk alierte dieser K onflikt m it einer V erordnung des P o lizeipräsidenten K ubât, d ie es N ichtverheirateten bei Strafe untersagte, zusam m en in einem Z elt die N acht zu verbringen. K ubât versuchte seine A nordnungen m it der B e h au p tung zu rechtfertigen, 60 P rozent der T ram per litten an G esch lech tsk ran k h eiten w as allerd in g s das G esundheitsm inisterium nicht bestätigen konnte. D ie d iesb e zü glichen politischen und rechtlichen A useinandersetzungen endeten erst 1935 m it der A u fh eb u n g der b esagten V erordnung. 20 G e ro F is c h e r Ö Z V L V I/I0 5 die tschechische (bzw. ab 1928 die slow akische), nicht jedoch die deutsche B evölkerung der Tschechoslow akei ergriffen hat. G enerell sind die W urzeln für diese spezifische, in E uropa einm a lige S ubkultur einerseits im proletarischen, andererseits aber auch im studentischen M ilieu zu suchen - in jenen G esellschaftskreisen also, in denen sich nach 1918 verschiedene, durchaus auch w idersprüchli che - von antikapitalistischen bis zu anarchistischen T raditionen re i chende - Form en der G egen- und P rotestkultur als R eaktion auf die restaurative bürgerliche N achkriegsentw icklung herausgebildet h a ben. A llerdings ist die Frage nach den konkreten B edingungen für die E ntstehung dieser spezifischen K ulturform nicht eindeutig zu beant worten; jed en falls sind wohl m ehrere Faktoren in B etracht zu ziehen. Es w ar w ohl das Zusam m enspiel einheim ischer B edingungen und „frem d er“ E inflüsse, das das Tramping in den tschechischen L andes teilen (und später auch in der Slow akei) zu einem europäischen U nikum w erden ließ. Zu den gew isserm aßen „bo d en stän d ig en “ F ak toren zählen etw a die heim ischen Traditionen des G em einschaftsle bens, bestim m te subkulturelle L ebensform en, die Institution der Walz - tschechisch: vandr, heute ist diese B ezeichnung allerdings w eitgehend synonym m it cundr („W anderung, A usflug der T ram p er“) - , die E rfahrungen des Soldatenlebens oder auch ideologische E inflüsse des A narchism us. Zu den „frem d en “ Q uellen gehören ei nerseits die P fadfinderbew egung und andererseits A utoren wie J. London, K. May, R. H alliburton oder E. T. Seton, die selektiv rom an tisierend rezipiert wurden, wobei diese R ezeption noch durch das aufkom m ende G enre der W esternfilm e verstärkt w orden ist. Nach 1945 w aren es A utoren wie J. Steinbeck oder J. K erouac („O n the R o ad “), aber auch die B eatles und andere M usikgruppen, die die T ram perbew egung beeinflusst haben. Zudem begünstigte die F rie d enssehnsucht der K riegsteilnehm er, aber auch die Tatsache, dass nun ein neuer Staat entstanden war, alle Tendenzen, aus überkom m enen K onventionen auszubrechen. Auch die im kollektiven B ew usstsein der Tschechen und Slow aken positiv besetzte Identifikation m it den U SA, die bei der E ntstehung einer selbständigen Tschechoslow akei eine w ichtige R olle gespielt hatte4, förderte einschlägige P rojektio nen und U topien5: Die Sehnsucht nach Freiheit, die rom antische 4 E rin n ert sei an T. G. M asaryks B eziehungen zu den U S A o d e r A. D vorâks K arriere in der N euen Welt. 5 G anz im G egensatz zu den im tschechoslow akischen S taatsv erb an d lebenden 20 0 2 , H e ft 1 D ie T ra m p e rb e w e g u n g in B ö h m e n , M äh ren u n d d e r S lo w a k e i 21 V orstellung des A usbruchs aus dem norm ierten G esellschaftsleben und A rbeitsalltag suchte m an im auf „B öhm ens H aine und F lu ren “ projizierten „W ilden W esten“. Offen bleibt dabei allerdings die F ra ge, w arum sich gerade in der Tschechoslow akei als einzigem euro päischen Land diese B ew egung etabliert hat - als ein kulturelles U nikat, für das es bis je tz t keine schlüssige E rklärung gibt. S chließ lich w aren die Lebensbedingungen - insbesondere die der proletari schen S chichten - in W ien, B erlin, Prag oder B rünn durchaus ver gleichbar; aus allen diesen Städten sind H underttausende in die USA ausgew andert, überall w ar A m erika als Land der Z ukunft m it allerlei positiven K onnotationen verbunden; Jack London und vor allem Karl M ay sind in vielen europäischen Ländern bekannt und beliebt gew e sen; und überall auch hat das Genre der W estern-Film e diese rom an tisierenden Projektionen zusätzlich verstärkt. D ennoch und trotz all dieser offensichtlichen Parallelen ist es nur in B öhm en und M ähren und später dann auch in der Slow akei - zur H erausbildung des P hä nom ens der T ram perbew egung gekom m en. D ie w ichtigste G rundlage der Tram perbew egung als S ubkultur und soziale (vor allem breite Schichten der Jugendlichen erfassende) B ew egung w aren aber zw eifellos jen e (gleichfalls rom antische) E in stellungen zur Natur, als deren w ichtigster Vorläufer E. T. Seton gilt. Seton hatte 1902 die B ew egung Woodcraft Indians gegründet, die sich die L ebensw eisen der Indianer zum Vorbild nahm und sehr schnell in E uropa V erbreitung fand. In England etw a nahm R. BadenPow ell die Ideen der W ooderafters auf, form te sie in organisatorischer wie ideo lo g isch er H insicht unter Einführung strenger V orschriften und k larer H ierarchien um und rief 1906 die B ew egung der Boy Scouts m it dem Z iel ins Leben, Buben zu aufrechten B ürgern (und Soldaten) zu erziehen. In den böhm ischen Ländern m achte A. B. Svojsik diese B ew egung 1912 populär, gab das H andbuch Cesky ska u t („ D e r tschechische Scout“) heraus und gründete die tschechi sche Pfadfinderorganisation. Doch viele jen er bereits älteren Jugend lichen, vor allem jen e, die vom Erlebnis des K rieges geprägt waren, konnten und w ollten sich m it den m ilitaristischen S trukturen der P fadfinderbew egung nicht abfinden und gingen nach ihren eigenen D eu tsch en , die, w ie gesagt, diese E ntw icklung nicht m itm achten, fühlten sie sich doch als K rieg sv erlierer und w aren so gegenüber dem ehem aligen K rieg sg eg n er U SA z u n äch st äu ß erst reserviert und jen seits je d w e d e r am erik afreu n d lich er O rientierung. 22 G e ro F isc h e r Ö Z V L V 1/105 Vorstellungen in die N atur - die Z eit der „w ilden S couts“ nach 1919 w ar angebrochen. In der Folge kam es zu heftigen, auch publizistisch sich n ieder schlagenden A useinandersetzungen m it den etablierten P fadfinderor ganisationen. Das „w ild e S couting“ w urde von staatlichen Institutio nen durch verschiedene gesetzliche M aßnahm en - die etw a gegen das Z elten N ichtverheirateter oder die B enützung von F euerw affen g e richtet w aren und insgesam t den Tatbestand des W ald- und F eldfre vels unterstellten - zu unterdrücken gesucht, w ogegen konventionel lere Form en toleriert wurden, ja bei reform istischen Parteien sogar U nterstützung fanden. N ichtsdestow eniger aber w urde das „w ilde S couting“ bald äußerst populär; und ab 1922 setzte sich m it der Ü bersetzung von J. Londons „T he road“ (1907 erschienen) die B e zeichnung tram p, tram ping, aber auch hobob für diese B ew egung durch, die insbesondere die A rbeiterschaft, das P roletariat, aber auch die S tudentenschaft anzog, im m er stärker an Identitätsbew ußtsein gew ann und sich zunehm end zu einer Form des politischen und kulturellen Protestes gegen etablierte gesellschaftliche N orm en ent w ickelte. Ideologisch w aren und sind die Tram per nicht einheitlich ausge richtet, doch ist verschiedentlich versucht w orden, sie politisch zu instrum entalisieren bzw. zu vereinnahm en. Zu den bedeutendsten organisierten und politisch ausgerichteten G ruppierungen gehörten die Skauti socialisté („S couts-S ozialisten“, gegründet 1919) und die Spartakovi skauti prâce („Spartak-S couts der A rb eit“), die die Z eit schrift Ohen („ F e u e r“) herausgegeben haben. A usgehend von der „In te rn a tio n a le n so zialistisch en A sso ziatio n der W o o d erafter“ (ISAW ) sind zudem in der Tschechoslow akei 1932/33 zahlreiche K lubs und Jugendgruppen entstanden, als bekannteste etw a der Jack L ondon Club (JLC), der ein Forum für Vorträge und D iskussionen mit S chriftsteller- und Schauspielerpersönlichkeiten wie J. Voskovec, J. W erich, V. K opecky, G. V celicka oder E. E. K isch war. Die W irtschaftskrise hatte nach 1931 auch au f das Tram ping schw erw iegende A usw irkungen, und knapp vor der N S -O kkupation lösten sich die m eisten organisierten G ruppen auf bzw. w urden später verboten. Ü berlebt hat diese Epoche einzig das nichtorganisierte 6 In den U S A B ezeich n u n g für einen um herziehenden G eleg en h eitsarb eiter, der das L and als blinder P assag ier in G üterzügen d urchstreift; vgl. den K lassik er von N els A nderson: T h e H obo. T he S ociology o f the H om eless M an. C hicago 1923. 2 0 0 2 , H e ft 1 D ie T ra m p e rb e w e g u n g in B ö h m en , M äh ren und d e r S lo w a k e i 23 Tramping. N ach 1948 hat dann das neue kom m unistische Regim e zunächst versucht, die T ram perbew egung politisch zu vereinnahm en, um sie, nachdem dies nicht gelungen war, als P ropagandainstrum ent des A m erikanism us zu diffam ieren: Die Tram per w urden polizeilich verfolgt, diskrim iniert, schikaniert. Doch wenn auch unter diesen U m ständen viele zu ihr bis Ende der 50er Jahre auf D istanz gingen, konnte die Tram perbew egung auch diese Phase der R epression über dauern: E nde der 50er Jahre entstand eine neue G eneration von T ram pern, die an die alten Traditionen anknüpfte. Sie w urde nun w eitgehend toleriert, vor allem als sich zu B eginn der 60er Jahre das R egim e liberaleren Tendenzen öffnete. Und aufgrund ihrer basisde m okratischen, unbürokratischen und unreglem entierten S truktur ver w undert nicht, dass die Tram perbew egung vor allem für die Jugend attraktiv w ar - als ein reales G egenm odell zur täglich erfahrenen politischen Lebensrealität. Ab den 60er Jahren zunehm end auch von den M edien, von R und funk und Fernsehen w ahrgenom m en, gaben auch Tram per selbst zahlreiche Z eitschriften - m eist m aschinschriftlich, m it einfachen Verfahren vervielfältigt und per Hand verteilt - heraus: G enannt seien Tulâk („ D er S treuner“), P osum avsky hlasatel („B öhm erw älder A n zeig er“), Tramp, M ravenistë („A m eisenhaufen“), K am arâd, Jizni' stezka („ S ü d lich er P fad “), Camp oder Kaktus. Und auch das T ram perlied (tram pskâ piseh), das bereits eine jahrzehntelange Tradition hatte, konnte sich in R undfunk und Fernsehen der Ö ffentlichkeit präsentieren: Das Folk-Festival Porta w urde gegründet und ent w ickelte sich zu einer G roßveranstaltung, auf der sich E lite und N achw uchs des G enres alljährlich trafen; S challplatten m it T ram per liedern der B rüder Ryvola, von K apitän Kid, Wabi D anëk, der B rüder N edvëd und vieler anderer Interpreten fanden (und finden noch heute) reißenden A bsatz. A lles in allem hatte die T ram perbew egung bis zum A ugust 1968 einen H öhepunkt an Popularität erreicht und w ar dar über hinaus auch zu einem nicht unbedeutenden w irtschaftlichen F aktor gew orden, m ußten die Tram per doch von Produktion und H andel m it entsprechender A usstattung - B ekleidung, Kanus, H aus boote, B aum aterial und A usstattung für die osacly (Tram percam ps und -hütten) - versorgt werden. Die nachfolgende repressive Phase der „N o rm alisieru n g “ bedeu tete zw eifellos erneut einen Einbruch für die T ram perbew egung, verm ochte sie jedoch nicht nachhaltig zu schädigen - zu stark w ar 24 G ero F isc h e r Ö Z V L V 1/105 bereits ihre Kultur, insbesondere die aus ihr hervorgegangene bzw. von ihr inspirierte Liederm acherbew egung, im B ew usstsein der B e völkerung verankert. Ja mehr: nicht w enige M enschen flüchteten vor dem N orm alisierungsprozess ins Tramping. Soziale Z usam m ensetzung Die T ram per gehörten ursprünglich, d.h. nach dem E rsten W eltkrieg, vorw iegend dem städtischen P roletariat an, dem sich bald Studenten zugesellten: D iese A rt des U rlaubes und der Erholung entsprach den ökonom ischen V erhältnissen beider gesellschaftlichen Schichten. Nach 1928 kam es dann zu einer qualitativ und quantitativ dynam i schen E ntw icklung, in der sich die T ram perbew egung allm ählich sozial differenzierte. N unm ehr existierten T ram per und „Q u asiT ram per“ (taky-tram pové) nebeneinander, denn A ngehörige gehobe nerer Schichten hatten zunehm end an dieser Form der F reizeitgestal tung G efallen und Interesse gefunden, diverse anarchistische oder revolutionäre Positionen aber abgelehnt und dam it erheblich zur „Z iv ilisie ru n g “ der Tram perbew egung beigetragen. B etrachtet m an die heutige soziale Z usam m ensetzung, so ist zw ar nach wie vor das proletarische Elem ent (lum pentram pi) vertreten, es stellt aber bereits eine M inderheit dar. Tramping heute ist eher A us druck einer W eltanschauung, einer bestim m ten L ebenshaltung, unab hängig von ökonom ischen bzw. soziokulturellen G egebenheiten; es ist som it zu einer Art W ochenendkultur der unterschiedlichsten so zialen S chichten und A ltersgruppen gew orden: Es tram pen M itglie der der A kadem ie der W issenschaften oder K ünstler ebenso wie Lehrer, B eam te, Arbeiter, A ngestellte oder Selbständige, und häufig auch ganze Fam ilien einschließlich der Kinder. Jedenfalls w aren zu B eginn der B ew egung aufgrund der sozialen S truktur und H erkunft der Tram per die E lem ente einer proletarischen K ultur stärker ausgeprägt. Und das hat sich auch in einer besonderen S ensibilität hinsichtlich der sozialen S tratifikation geäußert: In der P ionierzeit des Tramping verhielten sich die „p ro le tarisch e n “ T ram p er d u rch w eg s ablehnend gegenüber den sog. p a d ’ouri und astrachâni - unübersetzbare A usdrücke, m it denen dam als diejenigen bezeichnet w orden sind, die nach den bürgerlichen K onventionen lebten, den sozialen A ufstieg geschafft hatten und sich m ehr oder 2 0 0 2 , H e ft 1 D ie T ra m p e rb e w e g u n g in B ö h m en , M ä h ren u nd d e r S lo w a k e i 25 w eniger m it der P olitik des Staates identifizierten. A strachâni - das w aren also jen e, die sich aufgrund ihrer besseren w irtschaftlichen und sozialen P osition von den eher proletarischen tm m p i abgrenzten indem sie beispielsw eise mit dem eigenen F ahrzeug in die N atur hinausfuhren. E benso kurz wie die anarchisch-proletarische Phase der Frühzeit w ährte die Zeit, in der, wie das ebenfalls anfänglich der Fall gew esen ist, das T ram perw esen von den M ännern dom iniert w urde, in der M ädchen und Frauen zw ar akzeptiert, aber in der R egel nur in den traditionellen w eiblichen R ollen, als „sq u aw s“ eben, gesehen w orden sind. D er W andel in dieser E instellung m ag dam it Zusam m enhängen, dass das tram povâm bald für breitere städtische Schichten, insbeson dere für die städtische Intelligenz attraktiv gew orden ist und auch zunehm end die künstlerische A vantgarde7 angezogen hat. Sprachliche Sonderheiten Die U m gangssprache der Tram per hebt sich deutlich von der U m gangssprache der „N ichttram per“ ab - einerseits durch einen hohen A nteil von W örtern, die der U nterschicht entstam m en, und anderer seits durch F achterm ini, die A ußenstehenden unverständlich sind. W ichtige Q uellen für diese Sprache sind vor allem die T ram perlieder sow ie T agebücher - im T ram perslang cancâky genannt8 - , Z eitschrif ten, F lu gblätter und diverse unregelm äßig erscheinende B roschüren. Ein literarisch es, gleichw ohl ironisierendes D enkm al haben die S ch riftsteller V last. R ada und Jar. Zâk in der Z w ischenkriegszeit dem tschechischen T ram ping gesetzt, näm lich im Teil D obrodruzstvi sesti tram pü („A b en teu er von sechs T ram pern“) ihrer B ohatyrskâ trilogie („H eld en trilo g ie“), der zugleich eine kulturhistorische Q uelle zur T ram perbew egung darstellt. D ie oben angedeutete „am erikanische O rientierung“ hat ihren N iederschlag auch in den englischen Spitznam en gefunden, die sich 7 N icht w enige K ü n stle r sy m pathisierten m it den T ram pern bzw. w aren selbst T ram per, so beispielsw eise die S ch riftsteller G. V celicka, F. B idlo, VI. R ada und Jar. Z âk. 8 Z w ei so lch er T agebücher konnte ich einscannen; sie können im Institut für S law istik der U niv ersität W ien eingesehen w erden (B ibliothek: C D -R O M , Vftek C ancâk, G ab in a C ancâk). 26 G e ro F is c h e r Ö Z V LV I/105 die Tram per zugelegt haben; überliefert sind beispielsw eise Jarda (= Jerry oder H arry), Pepi'k (= Bob), Ota (= B randy) oder Zdenëk (= Sw enny). A uch haben G ruppen - oft als sm ecky („ R u d e l“) b e zeichnet - , die gem einsam in die „W ildnis“ aufgebrochen sind, den Flüssen, an deren U fern sie kam pierten, N am en gegeben, die denen des „W ilden W estens“ nachem pfunden waren: so hieß etw a die Vltava (M oldau) Velka reka („G ro ß er F luß“), die Sâzava - Z latâ reka („G o ld en er F luss“), K ocâby - H a d i reka („S ch lan g en flu ss“), Berounka - Stara reka („ A lte r F luss“) etc. Und fixe osady („ C a m p s“), in denen sich die Tram per regelm äßig trafen, erhielten selbstverständ lich ebenfalls entsprechende Nam en nach am erikanischen Vorbil dern: D akota, H iaw ata, G old River, A laska, L ouisiana, Yukon, Starâ N evada („A lt-N ev ad a“) ... Varianten des Tramping H eutzutage kann man drei H auptform en des Tramping unterscheiden: — Die zw eifellos w ichtigste Form stellt das M assenphänom en der W ochenendtram per dar - m eist Jugendliche und M enschen m ittleren A lters, als deren H auptm otiv die Flucht aus der sozialen K ontrolle der E ltern und Verwandten gesehen werden kann. Die T ram pergrup pen bestehen hier entw eder ausschließlich aus M ännern bzw. B ur schen oder sie sind gem ischte Gruppen; reine M ädchengruppen sind selten. D iese Form des Tramping ist kaum organisiert, doch finden sich hier sehr w ohl die bei den Tram pern üblichen G ruppenrituale und N orm en. E inige Tram per - insbesondere aus der G ruppe der lum pentram pi - zeigen Tendenzen zum Vandalismus. — Ein Teil der Tram per hat sich ökologischen B ew egungen ange schlossen und vertritt alternative subkulturelle L ebensform en und W erte. Sie sind kulturell sehr aktiv und organisieren etw a die C ountry Festivals der Liederm acher, von denen später noch die R ede sein wird. — Bei der dritten G ruppe handelt es sich gew isserm aßen um revivalistische B ew egungen, bei denen die nostalgische R ückbesin nung au f die U rsprünge des Tramping in den 20er und 30er Jahren und die kulturellen, ideellen und politischen W erte und L ebensform en jen er Z eit im Vordergrund stehen. D iesen G ruppierungen ist es ein A nliegen, ursprüngliche Tram persiedlungen als „K u ltu rd en k m äler“ 2 0 0 2 , H e ft ! D ie T ram p e rb e w e g iin g in B ö h m e n . M äh ren und d e r S lo w a k e i 27 und als zeitgenössisches Erbe zu erhalten und zu schützen. In ihren R eihen finden sich auch viele engagierte Sam m ler, die kleine P rivat m useen eingerichtet haben, in denen sie Lieder, K arikaturen, Fotos, A usrüstungsgegenstände und ähnliches Zusam m entragen. A ls eine N ebenform des Tramping galten von A nfang an die vodâci - Tram per, die auf den befahrbaren Flüssen (bevorzugte F luss g ebiete sind M oldau, Sâzava und Elbe) m it B ooten, in der Regel mit K anus, unterw egs w aren bzw. sind. G eographische Verbreitung G eographisch hat die B ew egung ihren A usgang in Prag genom m en, wo die Tram per zunächst die m alerische U m gebung entdeckten und dann allm ählich auch die G egend den sog. „G roßen F luss“ (also die M oldau) aufw ärts „ero b erten “ . Vor allem in die attraktiven L and schaften um Prag, Brünn und Plzen wurde anfänglich getram pt, wobei die bevorzugten W ald- und Flussgebiete oft nur 20 bis 30 K ilom eter im U m kreis der G roßstädte lagen - die E rreichbarkeit der Ziele per Bahn oder Bus w ar und ist schließlich eine w ichtige Voraussetzung dieser A ktivitäten. Die Eisenbahn hat freilich darüber hinaus auch gew isserm aßen sym bolischen Charakter, w ar seinerzeit doch auch die F ahrt in „d en W esten“ der USA vorw iegend m it der B ahn erfolgt. D iese M etaphorik ist insbesondere in Brünn augenfällig: D er G roßteil der A usflugsziele (z.B. T rojncf, Svratka oder V everskâ B ityska) liegt w estlich von B rünn, an einer N ebenstrecke der Bahn, die der P han tasie bzw. den rom antisierenden D arstellungen des legendären Pacific-E x p ress duxxhaus entgegenkom m t. Im E inzugsgebiet der B ahnhö fe dieser A usflugsziele haben sich auch bald G aststätten etabliert, in denen sich die Tram per treffen, bevor sie in ihr W ochenendabenteuer aufbrechen: H ier stärkt m an sich für den Fußm arsch, hier bringt man sich auch noch einm al m it einem Glas B ier in S tim m ung.9 G etram pt w ird vorw iegend in der w arm en Jahreszeit, aber auch im W inter ziehen einige Tram per in die Natur. W ährend Tramping heute in allen tschechischen Landesteilen ver breitet ist, ist in der Slow akei vor allem der R aum um B ratislava das Zentrum der Tram per. Von hier aus hat sich auch etw a ab 1928 das slow akische Tramping entw ickelt, und allm ählich sind in der näheren 9 V gl. dazu A ltm an, K arel: T ram pské hospody na zapadm ' M o rav ë (in D ruck). 28 G e ro F isc h er Ö ZV LVI/105 U m gebung von B ratislava an die achtzig osady entstanden. D ie erste osacla in der Slow akei hat übrigens den Nam en Waikiki getragen und ist von T schechen gegründet worden. Im Z usam m enhang m it der E m igration aus der C SSR nach 1968 w urde in K anada (Toronto) von Em igranten des P rager C amp Clubs die Spojenâ tram pskâ osada O ntario (STOO) („V ereinigtes T ram percam p O ntario“) gegründet; darüber hinaus entstanden in den USA in Colorado die Spojené trampské osady Colorado („Vereinigte Tram percam ps C olorados“) und die T.O. Dâlava Chicago (gegründet 1972) sowie in Australien die T.O. M elbourne (1970). In Deutschland wurden die T.O. Trapper in W iesbaden) und bereits 1962, als die älteste osada, die M odry orel („B lauer Adler“) gegründet. Am 20. und 21. August 1988 - zw anzig Jahre nach dem Einm arsch der W arschauer-Pakt-Staaten in die CSSR - hat übrigens in der Schweiz ein Treffen tschechoslo wakischer Tram per aus aller Welt stattgefunden. K ulturelle und soziale A usdrucksform en In der A nfangszeit des Tram perw esens ist das w ilde K am pieren in der N atur durchaus m it einem gew issen rom antischen A benteurertum verbunden gew esen, stam m ten doch die m eisten Pioniere des Tram p ing aus den eher ärm eren Schichten, besaßen also nicht die notw en dige A usrüstung. Die w enigsten verfügten über ein Z elt, m eist m usste eine D ecke oder eine Pellerine genügen; zu essen gab es ein Stück B rot und Speck, später w urden in einem zusam m engedrehten Sack, den m an über der Schulter trug, die w ichtigsten K ochutensilien und L ebensm ittel m itgeführt - nach dem K riege w ar das vor allem M ais m ehl, Tee, K artoffeln und Zichorie oder das, was die N atur eben bot: B eeren, Pilze, Fische; auch G ulaschkonserven aus M ilitärbeständen w aren beliebt. A llm ählich sind an den Plätzen, die im m er w ieder besucht w urden, prim itive U nterstände oder einfache B lockhütten errichtet w orden, die bestim m ten G ruppen (party) gehörten. Diese den einzelnen G ruppen zugeordneten Territorien - die schon genann ten osady - verfügen über basisdem okratische Strukturen: Die osadm'ci (M itglieder einer osada) w ählen aus ihren R eihen einen S heriff (selbstverständlich m it Sheriffstern), der O rdnungsfunktionen ver sieht und die osada nach außen vertritt, sow ie gegebenenfalls einen Kassier. F reilich haben die osady nicht den Status einer R echtsperson 20 0 2 , H e ft 1 D ie T ra m p e rb e w e g u n g in B ö h m en , M ä h ren und d e r S lo w a k e i 29 (wie etw a ein Verein), und offiziell waren und sind sie teilw eise bis heute nicht existent. So sind die osady zu K ristallisationspunkten der S ubkultur des Tram ping gew orden, m it spezifischen A usprägungen in M usik und Sport, in bestim m ten Form en der K om m unikation, in gesprochener wie geschriebener Sprache (N am en, Tram per-Slang), in V erhaltensform en und R itualen10 und in der m ateriellen K ultur (A bzeichen, Sym bole, Fahnen, Totem s, B ekleidung etc.). M itglied einer osada w urde und wird man nur auf E m pfehlung und nach einer bestim m ten W artezeit; als solches verfügt man dann über das aktive und passive W ahlrecht, über das Recht, die dom ovenka, eine A rt A b zeichen, das die Z ugehörigkeit zu einer osada belegt, zu tragen, neue M itg lied er anzuw erben und diverse G eheim nisse der T.O. wie Ver stecke oder geheim e Cam ps zu erfahren. Zu den Pflichten jedes M itglieds gehören die Unterordnung unter die Entscheidungen der M ehrheit und des Sheriffs, die Teilnahme an der Vorbereitung und Durchführung von Aktionen, der Auftrag, die „E hre“ der osada in der Ö ffentlichkeit aufrecht zu halten, die Verpflichtung, der osada keine Schande zu machen, Ordnung zu halten, nicht dem Alkohol zu frönen und vieles andere mehr. Verstöße gegen diese Pflichten werden mit Strafen belegt, die von Holzhacken, Abfallgruben Graben oder Geldstrafen bis zum Ausschluss von einem vandr oder gar aus der osada selbst reichen. Zu den auffälligsten A usdruckform en der Tram per gehört ihre B ekleidung. N ach dem Ersten W eltkrieg w ar das A ussehen der T ram per uneinheitlich, sie trugen m eist K ordhosen, karierte H em den, breite Hüte. Als dann die B estände aus dem M ilitärfundus verkauft w urden, kam en P ellerinen und vor allem R ucksäcke aus U S-A rm eebeständen (sog. uesky), Schuhe, am erikanische Hüte, Spaten, M esser, K ocher (kochm asm y) und Zeltplanen in M assen unter die Tramper. S päter w urden die H elden der W ildw estfilm e zur m odischen Vorgabe, und breite H üte, schw arze, weiß gesäum te, H em den (häufig auch kariert, bunt auf jeden Fall, m it einer Vielzahl von Taschen), H alstü cher (m anchm al gebunden wie eine K raw atte), Fransenhosen, Gürtel m it M essingnieten, Futterale für M esser, halbhohe Schuhe (sog. kanady) w aren eine Art Standard. Die B ekleidung der Frauen w ar nüchterner, sie orientierte sich an städtischen M ustern: lange Röcke, Bluse, Pullover, später auch Hosen und T rainingsanzüge. 10 M ann, A rne B.: O brady prijfm ania novych clenov do tram pskej osady. In: Cas zivota. R odinné a spovlecenské svatky v zivotë clovëka. L idovä kultura a soucasnost. sv. 10 B rno 1985, S. 2 2 5 -2 4 0 . 30 G ero F is c h e r Ö Z V L V I/105 W ie schon angedeutet, sind die am erikanischen Film e über den „W ilden W esten“ aber nicht nur in B ekleidungsfragen zu einer der w ichtigsten Q uelle der Inspiration gew orden: Die T ram per haben ihre V orbilder und Idole auch nachgeahm t, indem sie englische Vornam en und Spitznam en annahm en - w ofür das bekannteste B eispiel Bob H urikân abgibt, der m it „ziv ilem “ N am en Jo sef P eterka hieß und A utor einer w ichtigen G eschichte der tschechischen T ram perbew e gung w ar (1940). Und bis heute w ar und ist charakteristisch, dass na vandru - also w ährend der F reizeitidentität als Tram per - der tatsäch liche N am e wie auch der B eruf keine Rolle spielen. Das geht so weit, dass viele Tram per gar nicht den „bürgerlichen“ N am en ihrer K am e raden, sondern bloß deren T ram per-Spitznam en kennen. Ein besonderes C harakteristikum der Tram per sind die von ihnen entw ickelten Riten - vor allem ihre A ufnahm e- und In itiatio n sri te n 11 - wie auch ihre Feiern und Feste, die m it der H ym ne der Tram per, Vlajka („ F a h n e“), eröffnet w erden. In diesem Z usam m en hang ist auch zu erw ähnen, daß die Tram perbew egung nicht nur eine Vielzahl von legendären Figuren hervorgebracht hat, sondern diesen wie überhaupt den verstorbenen K am eraden an landschaftlich b eson ders attraktiven Plätzen G edenkstätten errichtet hat - so beispielsw ei se jen e im G ebiet des T rojnci (m it den drei Flüssen Jihlavka, O slava und R okytnâ) in der Nähe von Trebfc, N âm ëst’ nad O slavou und K râlice, die den N am en M AX führt: ein Fels, eindrucksvoll in einem W ald hoch über dem F lussufer gelegen, an dem die N am ensschilder von verstorbenen K am eraden - es sind nur die T ram pernam en ange führt - angebracht sind und vor dem einm al im Jahr eine G edenk m esse m it einem P riester aus Brünn stattfindet. N eben A usrüstung und B ekleidung sind als spezifische A usprä gung der m ateriellen K ultur die jede osada zierende F eierstätte mit Totem , Fahnen und Sheriff-Sitz zu nennen. Totem s - selbstverständ lich w ieder eine Inspiration der indianischen K ultur N ordam erikas in verschiedenster G röße und A usfertigung gehören unabdingbar zur A usstattung einer osada. Eine besonders aufw endige K opie eines Totem s aus der U m gebung von Vancouver befindet sich in einer osada nord w estlich von B rünn; w eniger auffällig sind die sog. p la cky - Abzeichen aus Holz oder Leder, die oft in Gaststätten, in denen Tram per als Stam mgäste verkehren, an der Theke angebracht sind. 11 B eschrieben von M ann 1985. 2 0 0 2 , H e ft 1 D ie T ra m p e rb e w e g u n g in B ö h m en , M äh ren u nd d e r S lo w a k e i 31 K ünstlerische A usdrucksform en: tram pskâ p iseh/das Tram perlied G esungen w urde bei den Tram pern schon seit A nbeginn, und waren es anfänglich tschechische Ü bersetzungen und A daptierungen von am erikanischen Vorlagen, so sind doch schon sehr bald L ieder und Texte ins R epertoire aufgenom m en worden, die das tschechische S pezifikum Tramping adäquater w iderspiegeln: Es ist das T ram per lied, das zur zentralen K ulturform der Tram per gew orden ist. B eglei tet w urde das T ram perlied hauptsächlich von der G uitarre, vom B anjo, von der Zieh- und von der M undharm onika, oft kam eine phantasievoll selbsterzeugte Teufelsgeige (vozem bouch) dazu, die Bass und S chlagzeug ersetzte. N eben einer R eihe von S ängerw ettbe w erben w urden die Lieder, m eist von den A utoren selbst, bei entspre chenden A nlässen, etw a dem potlach (= feierliches Z usam m entreffen von T ram pern), vorgetragen. Zudem haben professionelle und sem i professionelle M usiker und M usikgruppen, wie Song Club oder Setleri, das T ram perlied au f ein N iveau gehoben, dass es sich auch die K onzertsäle erobern konnte und in Theatern (z.B. in den Prager T heatern VI. Buriana, Aréna und Tylovo divadlo) aufgeführt wurde. Z ur P opularisierung der T ram perlieder trugen ganz w esentlich auch der R undfunk und die S challplattenindustrie bei. M it anderen W orten: D ie L ieder - entstanden in den osady und auf W anderungen - g elang ten in den etablierten K ulturbetrieb; und von hier aus beeinflussten sie w ieder die m usikalische Praxis der Tramper. So veranstalten professionelle G ruppen wie etw a die Briinner K am eloti im m er w ieder in der N atur bzw. auch in bevorzugten G aststätten der Tram per K onzerte und A uftritte. U nter diesen U m ständen konnten natürlich A useinandersetzungen über das „eig en tlich e“, das „e c h te “ T ram per lied nicht ausbleiben - D iskussionen, die zugleich A usdruck der A bgrenzungen und S elbstdefinitionen innerhalb der sich im m er stär ker differenzierenden Tram perbew egung insgesam t sind und die in der Frage kulm inieren, w er denn nun eigentlich ein „e ch ter T ram p“ sei. Zu den bedeutendsten Pionieren der T ram perlieder zählen Jarda M ottl, die M itglieder der legendären ersten Osada Z tracené N adëje („C am p der verlorenen H offnung“) - an der M oldau bei Stëchovice im Jahr 1918 gegründet - , Jarda Novâk, Jenda K orda - der A utor der vlajka („ F a h n e“), der bereits genannten „H y m n e“ der T ram per - und der ebenfalls bereits erw ähnte Bob Hurikân, der m it seiner Frau als 32 G ero F is c h e r Ö Z V L V 1/105 H urikân-D uo in der Z w ischenkriegszeit Furore gem acht hat. Von all diesen sind viele L ieder veröffentlicht w orden und haben große A uflagen erzielt. So ist das Tram perlied in den tschechischen Ländern zu einer eigenen M usikgattung gew orden und nim m t heute einen festen Platz im K onzertsaal, in den M usikcharts und in der P lattenin dustrie ein. Es ist au f den Festivals vertreten, etw a au f der P orta seit 1967, seit 1989 au f der Trampskâ porta in Üstf nad Labern und der P orta in Plzen. 1998 hat die Firm a bonton die dreiteilige C D -A nthologie „80 let tram pingu“ (,,80 Jahre T ram ping“) herausgebracht. Die m eisten M usikverlage haben eine reichhaltige Sam m lung von L ieder und Textbüchern in ihrem Program m . Sport uncl Tramping Spätestens seit die Z eltlager der Tram per durch H ütten ersetzt w orden sind, ist der Sport zu einem festen B estandteil ihrer F reizeitkultur gew orden. Folgende Sportarten waren dabei besonders populär: B all spiele und L eichtathletik (Laufen, Gehen, K ugelstoßen), S chw im m en, R u d erw ettb ew erb e (insbesondere K anu), B oxen, B o g en schießen. Z um beliebtesten Sport aber w urde V olleyball, das bereits seit 1919 von einzelnen osady (u.a. Ztracenâ na d ëje, Vatra, A lbatros und Z la té üdoU) propagiert w orden ist: D iese M annschaftssportart konnte in der N atur bei sehr geringem A ufw and betrieben w erden, vor allem konnten auch die M ädchen daran teilnehm en. Es w urden oft auch zw ischen einzelnen osady - W ettkäm pfe au sg etrag en 12, und viele L eistungssportler (bis zu Staatsm eistern und O lym piateilneh m ern) sind aus dem T ram persport gekom m en. Und dass sich der K anu-Sport in der ehem aligen Tschechoslow akei so stark verbreitet hat, ist sicherlich ein Verdienst der T ram perbew egung, die diese S portart überaus popularisiert und nam hafte S portler hervorgebracht hat, die auch an internationalen M eisterschaften erfolgreich teilg e nom m en haben. Auch viele technische V erbesserungen der B oote gehen auf T ram persportler dieser D isziplin zurück. 12 1931 hat ein L eichtathletikw ettbew erb der T ram per im P rag er Stadion S. K. Slavia stattgefunden. 20 0 2 , H e ft 1 D ie T ra m p e rb e w e g u n g in B ö h m en , M ä h ren u n d d e r S lo w a k e i 33 A u sb lick Die L andreform nach 1945 hatte zur Folge, dass das H üttenw esen, das von den osady seinen A usgang genom m en hatte, zu einem M as senphänom en gew orden ist. Nun konnten es sich Tram per auch aus u nteren sozialen Schichten leisten, H ütten zu errichten und zu erhal ten. D iese E ntw icklung hat dann auch den R ückzug ins Private w ährend der Phasen der politischen R epression gefördert: Das Tram p ing w ar die Plattform , auf der private O pposition und P rotest gegen die herrschenden sozialen Verhältnisse und K onventionen ausgelebt w erden konnten. H eute freilich sind aus vielen alten prim itiven B lockhütten oft repräsentative Som m ervillen gew orden, deren B esit zer nichts m ehr m it dem Tram perw esen zu tun haben. Trotz einer geradezu revolutionären E ntw icklung im B ereich der A usstattung (Zelte, Schuhe, K ocher etc), trotz dem E inzug der neuen T echnologie - einige osady sind im Internet v ertreten 13, verfügen Uber M obiltelefone etc. - ist das Tramping eine traditionelle Form der F reizeitgestaltung geblieben. Nach wie vor etw a w ird in hergebrach ter W eise über die V eranstaltungen der Tram per (slety, potlachy u.dgl.) inform iert - näm lich auf kleinen Zetteln, die in der N ähe von B ahnhöfen angebracht w erden und auf denen beispielsw eise zu lesen ist, dass m an sich zur „E isenbahnstation XY, von dort 3 km R ichtung Süden, L ichtung im W ald“ zu begeben habe. „T ram p sein ist ein S eelenzustand“, sagt der bekannte T ram perbar de Wabi Ryvola. Und nach Josef P eterka alias Bob H urikân ist T ram ping eine R ückkehr zum Prim itivism us im besten Sinne des W ortes - näm lich zum Verständnis der Natur, zu F ertigkeiten des C am pens, zu Selbständigkeit und S elbstdisziplin, aber auch zu G e selligkeit und zu w irklicher K am eradschaft. D ie neue Z eit - also die Zeit nach 1989 - hat einerseits neue B esitzverhältnisse gebracht, andererseits ist m it ihr die F reizeit knap per gew orden, hat die M arktw irtschaft ihren Tribut gefordert, gehen F reizeit und A rbeitszeit ineinander Uber. U nter diesen U m ständen ist auch das Tramping zunehm end in K onkurrenz zu einem breiten A ngebot von F reizeit- und vor allem R eisem öglichkeiten geraten und hat so seine alte Funktion w eitgehend verloren: näm lich der grauen R ealität für einige Z eit zu entfliehen - eine Funktion, die die T ram p erbew egung vor allem in Zeiten der „N o rm alisieru n g “ (d.h. in den 13 www.tramp.cz, dort weitere Adressen. 34 G e ro F isc h e r Ö Z V L V I/105 Jahren nach 1968) gehabt hat. Dam als, so schätzt man, hat es an die 50.000 aktive Tram per gegeben; heute ist diese Zahl au f etw a 10.000 gesunken. A llerdings sind solche Schätzungen insofern problem a tisch, als sie von der D efinition des „T ram pers“ - und dam it von Ü berlegungen, w er ein „ e ch ter“ und w er ein „P seu d o tram p er“ ist abhängen. M an m uss jedenfalls einkalkulieren, dass das Tramping angesichts der gesellschaftlichen und politischen V eränderungen der letzten zehn Jahre einem Wandel unterw orfen w ar und dass heute die kulturellen Form en des Tramping in K onkurrenz zu anderen, vor allem kom m erziellen F reizeitangeboten stehen. Die Zeitschrift pâtek lidovych novin hat am 14. M ai 1999 eine Art N ekrolog auf die Tramperbewegung unter dem Titel „S tirbt die Tram perbew egung aus?“ veröffentlicht - eine provokante Fragestel lung, die zugleich Anregung zur Reflexion über die Zukunftsperspekti ven des Tramping ist. Prognosen für die nächste Zukunft des Tramping sind sicher schwer zu stellen. Es wird davon abhängen, in w elcher Form sich die Tram perbew egung an die neuen gesellschaftlichen Verhältnisse anpassen k an n 14- wobei es sich nicht nur etwa um Fragen wie die nach der form alen Registrierung als Verein oder der Legalisierung der osady handelt, sondern vor allem auch darum gehen wird, welche inhaltlichen O rientierungen im weiteren entwickelt werden. Denn wenn auch das Tramping seine Rolle als Subkultur weitgehend ausgespielt hat und heute vorwiegend nostalgische Reflexe bedient: Diese B ew egung hätte doch auch das Potential zu neuer gesellschaftspolitischer Relevanz und Dynamik, würde sie sich ihrer Anfänge, da sie sich als Pionier neuer alternativer Lebensform en verstanden hat, besinnen und heute als Pio nier eines ökologischen B ew usstseins und Lebensstils profilieren. Trends in diese Richtung sind jedenfalls erkennbar. G ero Fischer, T he H itch h ik e r’s M ovem ent in B ohem ia, M oravia, and S lovakia In the specific cultural and sociological form that it takes, the C zech (and Slovak) h itc h h ik e r’s m ovem ent is a p henom enon that is unique in E urope, and it has been little 14 D as T ram perlied jed e n fa lls hat sich so w eit als G enre etabliert, dass es sich auch in der kom m erziellen K onkurrenz ungefährdet behaupten kann. W enn es eine sichere P ro g n o se gibt, dann die, dass die m usikalische G attung des T ram p erlied es das T ram ping, auch w enn es dieses einm al in sein er u rsprünglichen Intention nicht m ehr geben sollte, überleben wird. 20 0 2 , H e ft 1 D ie T ra m p e rb e w e g u n g in B ö h m en , M äh ren u n d d e r S lo w a k e i 35 studied. T h is m ovem ent began after the F irst W orld W ar in B ohem ia and reached its zenith in the in terw ar period. T he m ovem ent w as able to survive not only the N azi but also the C o m m u n ist era, and it has continued to influence C zech and S lovak youth culture rig h t up to the present. T his article surveys the b eginnings o f this m ovem ent, its social com position and geographic spread, the cultural and social form s it took, and its e x p ressiv e artistic form s. Literatur A ltm an, K arel: T ram p sk é hospody na zdpadnf M oravë (in D ruck). A ltm an, Karel: „B o b ri“ a „m edvëdi“. K problem atice tram pingu na Brnënsku. In: S p o le ce n sk tv l dëtf a kultura. S bornik prlspëvkü. S trâznice 1997, S. 1 2 1 -1 2 5 . B ëlohlâvek, M iroslav: O dlvânf tâbornfkü a letm'ch hostü. Iin: Z pravodaj K S U I pro etnografii a fo lkloristiku. U E F CSAV Praha 1991, S. 7 9 -8 5 . H urikan, B ob (Jo sef P eterka): D ëjiny tram pingu. P raha 1940 (N eu au flag e 1990). K ro n ik a tram p sk é pfsnicky, Panton, P raha 1967. 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N o v e m b e r 2 0 0 0 (= K itts e e r S c h rifte n z u r V o lk sk u n d e , B d. 14) W ie n /K itts e e 200 1 . H g. v o n K la u s B E IT L u n d V ero n ik a P L Ö C K IN G E R . 142 S e ite n , 5 0 sw -A b b ., F o rm a t 14,8 x 20,8 c m , b ro sc h . IS B N 3 -9 0 0 3 5 9 -9 5 -4 . Inhalt V e ro n ik a P L Ö C K IN G E R , V orw ort 7; S u s a n n e B R E U S S , F o to g ra fie u n d V o lk s k u n d e /E u ro p ä is c h e E th n o lo g ie - E in ig e Ü b e rle g u n g e n z u r E in fü h ru n g in d a s K o llo q u iu m 9 - 1 4 ; H a n a D V O R Â K O V Ä , E n ts te h u n g d e r e th n o g ra p h is c h e n F o to - u n d F ilm s a m m lu n g a m M ä h ris c h e n L a n d e s m u se u m in B rü n n 1 5 -1 9 ; P a u l H U G G E R , B e m e rk u n g e n z u r w is s e n s c h a ftli ch e n F o to s z e n e in d e r S c h w e iz 2 1 -3 0 ; K la u s B E IT L , fa m ille s /im a g e - ein S tre ifz u g d u rc h d ie fra n z ö s is c h e F a c h lite ra tu r ü b e r F a m ilie n fo to g ra fie 3 1 - 3 9 ; M a rta B O T IK O V Ä , D ie G e sc h ic h te d e r e th n o g ra p h is c h e n F o to g r a fie in d e r S lo w a k e i u n d ih re D a rs te llu n g v o n fa m iliä re n T h e m e n 4 1 - 4 7 ; L u b a H E R Z Ä N O V Â , F a m ilie n g e s c h ic h te n - G e sc h ic h te d e r F a m ilie . G e d a n k e n ü b e r d a s F a m ilie n a lb u m 4 9 - 5 9 ; M o n ik a V R Z G U L O V Â , Z u r I n te r p re ta tio n d e r L e b e n s w e is e s tä d tis c h e r M itte ls c h ic h te n im S p ie g e l d e r F o to g ra fie : T re n c fn (W e sts lo w a k e i) 1 9 1 8 -1 9 3 8 6 1 - 7 6 ; B a rb a ra S O S IC , F a m ilie n fo to s als Q u e lle fü r w e ite re e th n o lo g is c h e F o rs c h u n g 7 7 - 9 3 ; S u z a n a L E C E K , D ie fe h le n d e W irk lic h k e it: F a m ilie n fo to g ra fie in K ro a tie n w ä h re n d d e r Z w is c h e n k rie g s z e it 9 5 - 1 0 8 ; U lric h H Ä G E L E , Ü b e r d ie G re n z e n d e r V isu e lle n A n th ro p o lo g ie . A n m e rk u n g e n z u d e n F a m ilie n fo to s au s dem K rie g s g e fa n g e n e n la g e r W ie se lb u rg /N ie d e rö s te rre ic h (1 9 1 4 - 1 9 1 8 ) 109— 126; M o n ik a L A C K N E R , F o to g ra fie als M e d iu m d e r K o m m u n ik a tio n am B e is p ie l v o n u n g a rn d e u ts c h e n F a m ilie n 1 2 7 -1 3 9 ; A u to re n v e r z e ic h n is 1 4 1 -1 4 2 . Bestellungen: E th n o g ra p h is c h e s M u s e u m S c h lo ss K itts e e A -2 4 2 1 K itts e e T el. 0 0 4 3 /2 1 4 3 /2 3 0 4 , F a x : 0 0 4 3 /2 1 4 3 /2 0 2 5 E m a il: o ffic e @ s c h lo s s -k itts e e .a t E U R O 9 ,81 (A TS 1 3 5 ,-) (e x k l. V ersand) E U R O 6 ,5 4 (ATS 9 0 ,- ) (exkl. V ersan d ) fü r M itg lie d e r d e s V e rein s fü r V o lk sk u n d e u n d d e s E th n o g ra p h is c h e n M u s e u m s S c h lo s s K itts e e Österreichische Z eitschriftfiir Volkskunde Band LVI/105, Wien 2002, 3 7 -6 0 Chronik der Volkskunde W intertraum Vom Schlittenfahren und Rodeln Eine A usstellung im Ö sterreichischen M useum für Volkskunde vom 2. D ezem ber 2001 bis 12. F ebruar 2002 D a s T h e m a d e r h e u ri g e n W in te ra u s s te llu n g des Ö s te r re ic h is c h e n M u s e u m s f ü r V o lk s k u n d e v e ra n s c h a u li c h t ein en A s p e k t d e r w in te r lic h e n V e rg n ü g u n g s k u l t u r Uber m e h r e r e J a h r h u n d e rte : D ie A u s s t e llu n g „ W i n t e r t r a u m . Vom S c h li tt e n fa h re n u n d R o d e l n “ ( 2 .1 2 .2 0 0 1 - 1 2 . 2 .2 0 0 2 ) z e ig t k o s t b a r e und k u ri o s e E x p o n a t e aus d e n S a m m lu n g e n des M u s e u m s , e r g ä n z t u m j e eine L e i h g a b e d es L a n d s c h a f t s m u s e u m s T ra u te n fe ls un d d es H is t o r is c h e n M u s e u m s d e r S ta d t W ie n . S ch litte n u n d R o d e ln , d a m i t w e rd e n h e u te v o r w ie g e n d s i n n li c h e E i n d r ü c k e v e rb u n d e n : E rin n e r u n g e n an R o d e lp a r t ie n ü b e r v e r s c h n e ite W ie s e n , an S ch litte n fa h rte n d u rc h T a n n e n w ä l d e r v o rb ei an v e r e i sten B ä c h e n , an k la r e L u ft u n d g litz e rn d e n S c h n e e . D e r S c h litte n ist ein G e r ä t g e w o r d e n , m it d e m w ir V erg nü ge n, F re u d e u n d S p a ß v e rb in d e n . S ch litte n zu V e rg n ü g u n g s z w e c k e n e in g e s e tz t k ö n n e n ab d e m 15. J a h r h u n d e r t b e le g t w e rd e n . D ie B ü r g e r d e r s p ä t m itte la lte rlic h e n S tä d te v e r w e n d e te n k ü n s t le r i s c h v e rz ie rte S chlitten, d ere n A u f b a u Uber lä n g e r e Z e it h i n w e g u n v e r ä n d e r t blieb : e in e s c h m a le S ch litte n tr u h e m i t zw ei h o h e n L e h n e n , die z w e i P e rs o n e n P latz bot, w a r ü b e r ein G estell m it den K u fe n v e rb u n d e n ; d e r K u ts c h i e r e n d e saß a u f d e m R eitsitz, d e r an d e r h in teren L e h n e a n g e b ra c h t war. D ie s e A rt d e r „ G a s s e l s c h li tt e n “ w a r bis in das 16. u nd 17. J a h r h u n d e r t in V e r w e n d u n g u nd w u r d e au ch in d e r F o lg e te c h n isc h n u r w e n ig v e rä n d e r t. A lle r d in g s w u r d e sie im m e r r e ic h e r au sg e s ta lte t, w a s P re d ig e r v e ra n la ß te , d a g e g e n ins F e ld e zu z i e h e n . 1 J o h a n n e s C a p is t r a n o e tw a w e tte rte 1452 in N ü r n b e r g g e g e n d en „ ü b e r f lü s s ig e n L u x u s “ , w o r a u f h i n 72 S ch litten ö ffe n tlic h v e r b r a n n t w u rd e n . In d ies em S in n e d ie n te n S ch litte n a u ch zu r V e r k ö r p e r u n g d e r „ v e r k e h r t e n W e lt“ bei v e rs c h ie d e n e n F a s t n a c h ts u m z ü g e n . Im S c h e m b a r t l a u f in N ü r n b e r g f u h r z u m B e isp ie l die „ H ö l l e “ vo n 1475 bis 1524 a u f e in e m S ch litte n . A u c h S e b astian B r a n d t n e n n t d en S ch litte n als g e e ig n e te s F a h r z e u g fü r N a r r e n . 2 A b e r n ic h t n u r fü r F a s t n a c h ts u m z ü g e w u rd e n S c h litte n e in g e s e tz t, auch S c h litt e n r e n n e n w a re n bereits im 16. J a h r h u n d e r t ü blich , e b e n s o w ie ö ffent- 38 C h ro n ik d e r V o lkskunde Ö Z V L V I/1 0 5 li ehe S c h litte n fa h rte n , d ie v o r a llem g e s e lls c h a ftlic h e A s p e k te h atten. Ein b e li e b te r T e rm in f ü r A u s fa h rte n w a r d e r S tefan itag , an d e m d ie B ü r g e r sich u n d ihre p re s tig e trä c h tig e n S c hlitten p rä s e n tie rte n . W o h lh a b e n d e B ü r g e r fü h rte n ihre T ö c h te r aus; es g in g d a ru m , zu seh en und g e s e h e n zu w e r d e n . 3 Im 17. J a h r h u n d e r t fa n d e n die S ch litten E in g a n g in d ie v e r s c h w e n d e r i sc h e a d e lig e F estk u ltu r. P ru n k v o lle S c h litte n fa h rte n , s o g e n a n n t e S c h ii tt a g e n , d ie n te n d e m p r o g r a m m a tis c h e n V erg n ü g en u n d d e m o n s tr i e r t e n die P ra c h t u n d d ie M a c h t des A d els. H e llt ö n e n d e s G lo c k e n g e l ä u t e k ü n d ig t e den S c h li tt e n z u g an u n d m a c h t e d ie U n te rta n e n a u f das H e r a n n a h e n des h e r r sc h a f tlic h e n S c h li tt e n z u g s a u fm e rk s a m . O ft w u rd e d ie R e ih e n f o l g e d e r S ch litte n un d a u c h d ie Z u te i lu n g d e r D a m e n zu e in e m H e rre n , d e r den S ch litte n lenk te, d u rc h das L os b e stim m t. D ie In tim ität, d ie sich dabei z w is c h e n d e m ad e lig e n H e rre n u nd se in e m P a s s a g ie r e rg a b , tru g e rh e b lic h z u m R e iz d e r S c h iitta g e n bei. P ru n k v o l le V e rg n ü g u n g s fa h r te n fü h rte n aufs L a n d , w a re n Teil d e r F a s c h in g s fe s tiv itä te n , w o b e i d ie T e il n e h m e r m a s k ie r t w a re n , o d e r g in g e n d u rc h die Stadt, w o d e r A d el sich d en B ü r g e r n p r ä s e n tierte u n d d ie p rä c h t ig e A rc h it e k tu r die p a s s e n d e K u lis s e fü r d ie S e lb s tin szenierung a b gab.4 Von d e ra r tig e n S c h litte n fa h rte n in W ien b e ric h te t d e r T o p o g r a p h Jo h a n n P ez zl, d e r 1803 in s e in e r „ S k i z z e vo n W ie n “ schreibt: „ I m alten W ie n , w o n o ch viel a u f p ru n k v o lle , r a u s c h e n d e L u s tb a r k e ite n g e h a lte n u nd v e r w e n d e t w u rd e , w a re n d ie g ro ß e n ö ff e n tlic h e n S ch litte n fa h rte n ein e d e r v o rn e h m s te n w in te r li c h e n U n te rh a l tu n g e n . [...] D a in den H a u p tg a s s e n vo n W ie n w e g e n des v ielen G e d r ä n g e s von M e n s c h e n un d P ferd en d e r S c h n e e se lten la n g e li egen b le ib t und g e ra d e d u rch d ie s e H a u p tg a s s e n d e r Z u g i m m e r g in g , so m u ß t e m a n an d e m d a z u b e s tim m te n T age e rs t ein ig e ta u s e n d F u h r e n S c h n e e vo n d e r E s p la n a d e in d ie S ta d t h e re in sc h a ffe n , um d ie B a h n b r a u c h b a r zu m a c h e n . [...] D ie v o m H o fe v e ran s talteten S c h litte n fa h rte n w u r d e n im m e r bei T a g e g e h a lte n . D ie an d e re n des A b e n d s. Bei den e rs te re n ze ig te sich i m m e r d ie v o r z ü g l ic h s t e P racht. Bei den letzteren h a t d e r A n b lic k e tw a s R o m a n h a f t e s un d F e en artig es . E in T ru p p F a c k e lt r ä g e r zu P f e r d e vo rau s, d ic h t h in t e r ih n e n ein S ch litten m it T ro m p e te n un d P a u k e n . D a r a u f d e r Z u g v o n z w a n z ig bis d re i ß ig H e rrsc h a f tss c h litte n , v o r j e d e m z w e ite n P o s tillo n s m it F a c k e ln , n e b e n j e d e m zw ei Läufer, d ie U n if o r m e n w e c h s e ln an d e r F a r b e n m is c h u n g , alles strah lt im W id e r s c h e in des v e rv ie lf ä ltig te n L ic h te s von G o ld u n d Silber. D en B e s c h lu ß m a c h t ein u n g e h e u r e r S ch litte n m it S p ie lle u te n b e setz t, w e lc h e das G e tü m m e l d e r s c h e l l e n b e h a n g e n e n P fe rd e d u rc h k rie g e ris c h e M u s ik e rh e b e n . D ie D a m e n w e r d e n d u rc h d as L o s v e r teilt. S ie sitzen , in sib irisc h e P e lz e v o rte ilh a ft geh ü llt, a u f d e m S ch litten , h in t e r j e d e r d e r K a valie r, e in e n ru s sis c h e n M u f f an d e r S eite h ä n g e n d und m i t le ic h te r H a n d d a s lä r m g e w o h n te R o ß an se id e n e n S c h n ü re n le n k e n d . [...] 2 0 0 2 , H e ft 1 C h ro n ik d e r V o lk sk u n d e 39 S o geh t de r Z u g d urch die vo rn ehm sten G assen und Plätze. D as Volk ström t h a u fe n w e is e h erzu, die schönen Schlittenfahrerinnen zu sehen. [...] D ie Funken von den F ackeln sprühen ihnen um die K öpfe, d er rauhste N o rd w in d saust ihnen u m B usen und N acken: K leinigkeiten! d afür sind sie das Spektakel d er Stadt, d er M ittelp un kt, nach d e m sich so viele heim liche W ü n sc h e und S e u fz e r d re h e n . D ie s e n ts c h ä d ig t f ü r alle U n g e m ä c h l ic h k e it e n d es K ö r p e r s . “5 B e s o n d e r s z u r Z e it K a rls VI. u n d M a r ia T h e re s ia s w a re n S c h iitta g e n be lieb t. D ie a d e lig e n T e il n e h m e r iib erb oten e in a n d e r in d e r V e rw e n d u n g a u f s e h e n e r r e g e n d e r F a h rz e u g e : D as s c h a u lu stig e P u b li k u m sah S ch litte n in G e s ta l t v on F a b e ltie r e n , S e e u n g e h e u e rn , E in h ö rn e r n o d e r w ild e n T iere n, L ö w e n , H irs c h e n o d e r S c h w ä n e n . D ie v o rn e z u m S c h li tt e n k o p f z u s a m m e n la u f e n d e n K u fe n w a re n e b e n falls nach d e m G e s c h m a c k d e r Z e it v erziert, z e ig te n A lle g o r ie n , G ro te s k e n , V o gelk ö p fe o d e r M o tiv e , die d e m E x o ti s m u s e n ts p ra c h e n . M it Jo seph II. endeten die kostspieligen Schiittagen des W ien e r Hofes, w ä h re n d sich A del, B ü rg ertu m und w o hlh ab end e B auern das Vergnügen einer öffentlichen Schlittenfahrt auch im 19. Ja hrhundert nicht n e h m e n ließen.6 S ch litte n d ie n e n u n d d ienten also de m V erg nü gen , w u rd e n f ü r Fastn a c h ts u m z i ig e v e rw e n d e t, z u r S e lb s tin s z e n ie r u n g u nd aus S p a ß am s c h n e l len D a h in g le i te n Uber den S ch n ee . D e r G e b ra u c h von S c h litten re ic h t je d o c h w e ite r z u rü c k . D e r S c h litten w a r ja h r h u n d e r t e la n g als ein es d e r w ic h tig ste n T r a n s p o r tg e r ä t e aus d e m A rb e its b e re ic h nicht w e g z u d e n k e n . D ie d e n S c h li t ten v e r w a n d te n S c h le ife n gelten s o g a r als die ältesten T r a n s p o r tg e r ä t e ü b e r ha u p t. D a es n a h e li e g e n d ist, L aste n , d ie zu s c h w e r z u m T ra g e n sind , h in te r sich h e r zu z ie h e n u n d d a z u Ä ste o d e r S ta n g e n zu v e r w e n d e n , b e z e ic h n e te H a n n s K o re n S c h le ife n als die „ U r f o r m des F o r t b e w e g e n s “7, o b w o h l erste B e le g e n ic h t w e ite r als a u f d ie F rü h b r o n z e z e it z u rü c k g e h e n . Z ie h b r e tte r u nd d ie v e rs c h ie d e n s t e n A rten vo n S ch leifen w are n bis ins 20. J a h r h u n d e r t h in e in v o r a llem in b ä u e rlic h e n B e trieb en in G e b ra u c h . O b aus den S c h le i f g e rä te n d ie S ch litte n w e ite r e n tw ic k e l t w u rd e n o d e r o b d ie s e e in e n an d e re n U r s p r u n g h a b e n , ist n ic h t g eklärt, j e d e n f a ll s v e rr in g e rn die K u fe n d e r S c h li t ten d en R e ib u n g s w id e r s ta n d beim Z ie h e n e rh eb lic h . Z u e r s t w a re n e in f a c h e F la c h s c h li tt e n in G e b ra u c h , d o ch sch on bald k a m e n G e s te lls c h litte n m it e in e m S c h litte n k a s te n in V e rw e n d u n g . Sie w u rd e n im S o m m e r g e n a u s o e in g e s e tz t w ie im W inter, überall dort, w o T r a n s p o r tg e rä t e m it R ä d e rn n ic h t o d e r n u r s c h l e c h t v o r w ä r t s k o m m e n , v o r allem in ste ilem , s a n d ig e n , m o r a stig en o d e r s u m p f ig e n G e lä n d e - un d n atü rlich bei S c h n e e . Im B e rg b a u und in d e r L a n d w i r t s c h a f t spielten sie la ng e ein g ro ß e R o lle z u m T r a n s p o r t von H o lz , S te in e n , M ist, H e u o d e r v on M i lc h .8 D e r älteste N a c h w e is für einen Schlitten findet sich in ein er sum erischen B ilderschrift aus d e m 3. Jahrtausend vo r Christus und z w a r a u f einer V errech 40 C h ro n ik d e r V olkskunde Ö Z V L V 1/105 nungstafel im In nen tem p el von U ruk, w o ein Schlitten m it K a ste nau fba u abgebildet ist. In Ä gypten wurden beim P yram idenbau nachw eislich Schlitten für den Steintransport eingesetzt. D ie ältesten erhaltenen Schlitten w urden in N o rw e gen gefunden: Sie w aren Teil einer prunkvollen Grabausstattung aus d er Zeit um 800. A us archäologischen Befunden läßt sich ableiten, daß diese Schlitten nicht n ur P runkgegenstände darstellten, sondern auch tatsächlich verw endet worden waren. In den M o natsbildem im Adlerturm von Castell B uo nco nsig lio in Trient, die u m 1400 entstanden, ist im D ezem b erb ild ein Schlitten z u m H olztransp ort abgebildet. Dies ist ein er d er B eleg e dafür, daß de r Schlitten im S pätm ittelalter ein allgem ein übliches T ransportgerät war.9 A u ch f ü r d en P e r s o n e n tr a n s p o r t w u rd e n S c h litte n sc h lie ß lic h e in g e s e tz t. Im 19. J a h r h u n d e rt, a u f d e m H ö h e p u n k t d e r W agen u nd K u ts c h e n , b esaß , w e r es sich leisten k o n n te , auch z u m i n d e s t e in e n S ch litten . Z a h lre ic h e Ü b e r g a n g s f o r m e n zu R ä d e rfa h r z e u g e n und d ie V ielfalt d e r S c h litte n , die in K o n s tr u k tio n u nd B e z e ic h n u n g oft an K u ts c h e n t y p e n a n g e le h n t w are n , zeig e n , d a ß sie ein s e l b s tv e r s tä n d l ic h e r G e b r a u c h s g e g e n s t a n d w a r e n . 10 W ie la n g e m a n sc h o n m it Sc hlitten ta lw ä rts sau st, lä ß t sich h in g e g e n s c h w e r b e s t im m e n . V erm u tlic h ist d ies e T e c h n ik ä lter als ih re e rs te n B e le g e . E n d e des 17. J a h r h u n d e r ts w ird e tw a b erichtet, daß b ö h m i s c h e B e rg a r b e i te r im R ie s e n g e b i r g e m it k le ine n S c h litten ta lw ä rts fu h r e n , u m ih re n W e g zu v e rk ü r z e n . A b d ie s e r Z e it ta u c h e n im m e r w ie d e r B e ric h te auf, w o r a u s zu s c h ließ en ist, d a ß d ie s e A rt d es S c h litte n fa h re n s im 18. u n d d a n n v o r allem im 19. J a h r h u n d e r t a llg e m e in ü b lich w u rd e. D ie B e z e i c h n u n g „ R o d e l n “ fü r d as A b f a h r e n m it d e m Sc hlitten ist ü brig en s n u r in B a y e r n u n d Ö ste rre ic h ü b li c h . " D ie älte sten e rh a lte n e n R o d e ln im A lp e n r a u m s t a m m e n aus d e r 1. H ä lfte des 18. J a h r h u n d e r ts au s d e m E n g a d in u n d d e m M ü n s te r t a l. Ihre K u fe n b e s te h e n aus R in d e r k n o c h e n , d ie S itz b re ttc h e n sin d m it K e r b s c h n i t zerei verziert. D e ra rtig e R o d e ln m it T ie rk n o c h e n , m e i s t S c h ie n b e i n e o d e r O b e r s c h e n k e l k n o c h e n von R in d e rn o d e r P fe rd en , w a re n im A l p e n r a u m bis ins 19. J a h r h u n d e r t hin ein v erbreitet, w u rd e n j e d o c h z u s e h e n d s d u rc h S c h li t ten m it H o lz k u f e n e r s e t z t .12 E n d e des 19. J a h r h u n d e r ts e n tw ic k e lte n sich viele L u f t k u r o r te in d en A lp en zu W in te rs p o r to r te n , w o n e b e n E is l ä u fe n und S c h if a h re n a u c h das R o d e ln beliebt war. D ie F o rm e n d e r S c h litte n Waren v ielfältig, m it u n te r s c h ie d lic h s te n G e ste llro d e lty p e n w u r d e e x p e rim e n tie rt. D a s erste in te rn a tio n a le S c h litte n re n n e n w u rd e sc h lie ß lic h 1883 in D a v o s a b g e h a lte n , w e ite r e R e n n e n folgten. M a n ro d e lte a u f K u n s t- u n d N a t u r b a h n en, e in e U n te r s c h e id u n g , die zu e in e r g e tr e n n te n E n t w i c k l u n g in d e r T e c h n ik fü h rte. Bei d e n O ly m p i s c h e n W in te rsp ie le n 1964 w u r d e R o d e ln a u f d e r K u n s tb a h n o ly m p is c h e D i s z i p l i n . 13 H e u te ist d as R o d e ln n ich ts E rsta u n lic h e s o d e r U n g e w ö h n l i c h e s mehr. Vor a lle m bei K in d e rn , die nu n v o r w ie g e n d m it s c h ü s s e lä h n l ic h e n R o d e ln 20 0 2 , H e ft 1 C h ro n ik d e r V o lkskunde 41 au s g e g o s s e n e m P la s tik a ller A rt d ie H ä n g e h i n a b r u ts c h e n , ist es ein b e li e b ter w in te r li c h e r Z e itv e rtr e ib . H o lz ro d e ln sin d w eite rh in in V e rw e n d u n g , w e rd e n v o r w i e g e n d in d u s triell h ergestellt, d o c h g ib t es n o c h v ere in z e lt W ag en - u n d S c h litte n b a u e r, d e ren E rz e u g n is s e b e s o n d e r s b e g e h rt sind . In V o rarlb erg stellen e tw a die G e b r ü d e r J o h l e r n o c h R o d e ln h e r un d au ch in N ie d e r ö s te r r e ic h e x is tie re n e in z e ln e B e trie b e , in d en en R o d e ln aus E s c h e n h o lz vo n H a n d h e rg e s te l lt w e r d e n . 14 E in e n ä c h tl ic h e R o d e lp a r t ie a u f e in e m v e rs c h n e ite n W a ld w e g o d e r eine ro m a n ti s c h e F a h r t m i t d e m P fe rd e sc h litte n ist a u c h Teil des „ W i n t e r t r a u m s “ v ie le r E rw a c h s e n e r. W in te rs p o r to r te w isse n d a ru m u nd b ieten M ö g l i c h k e i ten f ü r ein S c h litte n e rle b n is an - und u n terstü tzen d a m i t w i e d e r u m d iese W u n s c h V orstellung. A nm erkungen 1 M enardi, H erlinde: Schlitten und R odel. Vom T ransportm ittel zum Sportgerät. K atalog zur A usstellung des T iroler V olkskunstm useum s anläßlich der 32. R odel W eltm eisterschaft in Innsbruck-Igls, 11. D ezem ber 1996 bis 16. F e b u a r 1997. (Innsbruck 1996), S. 5 -6 . 2 M oser, D ietz-R U diger: M askeraden a u f S chlitten. S tu d en tisch e F a sc h in g s-S c h lit ten fah rten im Z eitalte r der A ufklärung. M ünchen 1988, S. 104. 3 M enardi (w ie A nm . 1), S. 6. 4 Flam m , Hans-Jürgen: Prunkschlitten. Serenissim us’ W interfreuden: A usfahrt auf K ufen. In: Sam m ler Journal, 2 /2001,30. Jg., S. 32 -3 6 ; Furger, Andres: Kutschen und Schlitten in der Schweiz. Vom Streitwagen zum Stadtcoupé. Z ürich 1993, S. 30-36. 5 Pezzl, Johann: Skizze von Wien. Ein Kultur- und Sittenbild aus der josefinischen Zeit. H erausgegeben von Gustav Gugitz und Anton Schlossar. G raz 1923, S. 2 3 4 236. 6 V gl. F u rg er (w ie A nm . 4), S. 202; Jontes, G ünther: S chlittagen und G asselfahren. W in terliche U nterh altu n g in A lt-L eoben. In: A lt-L eoben, F olge 8, 1981, S. 1-3. 7 Zit. nach B o ckhorn, O laf: W agen und Schlitten im M ühlviertel. I. D arstellung (= B eiträge zur L andeskunde von O berösterreich, H istorische R eihe 1/2). L inz 1973, S. 60. 8 B ockhorn (w ie A nm . 7), S. 5 9 -6 0 . 9 M enardi (w ie A nm . 1), S. 3 -5 . 10 F u rg er (w ie A nm . 6), S. 90. 11 M enardi (w ie A nm . 1), S. 8. 12 G oldstern, E ugenie: H ochgebirgsvolk in S avoyen und G raubiinden. Ein B eitrag zur rom anischen V olkskunde (= E rgänzungsband zur W iener Z eitsc h rift für V olkskunde, X IV ). W ien 1922, S. 107-110; M enardi (w ie A nm . 1), S. 8 -9 . 13 M enardi (w ie A nm . 1), S. 9 -1 3 . 14 H anak, E lfriede: N iederösterreich. T raditionelles H andw erk - L ebendige V olks kunst in B eispielen. W ien 1995, S. 27. K a th rin P a lle s tra n g 42 C h ro n ik d e r V olkskunde Ö Z V LV I/105 Halloween-Ausstellung vom 12. bis 31. O ktober 2001 am Institut für Volkskunde und K ulturanthropologie der U niversität Graz Im A u s s t e llu n g s r a u m d es Instituts fü r V o lk sk u n d e u n d K u ltu r a n th r o p o l o g ie d e r U n iv e r s itä t G r a z fa n d v o m 12. bis 31 .1 0 .2 0 0 1 ein e A u s s t e llu n g z u m T h e m a „ H a l l o w e e n “ statt. D ie F in is s a g e in d e r H a l l o w e e n - N a c h t w a r mit e in e r H a llo w e e n - P a r ty v e rb u n d e n . D e r A u f b a u d e r A u s s t e llu n g w a r th e m a tisc h z w e ig e te ilt: D e r e in e Teil K e n n f a r b e S c h w a r z - w a r „ H a l l o w e e n “ , d e m s c h a u r ig - s c h ö n e n F e s t m it se in e n M a s k e n bzw. d e m H o rro r- S z e n a rio - g e w id m e t , d e r a n d e r e - links v o m E in g a n g , L e itfa rb e O ra n g e - stellte das H a u p ts y m b o l d e s F e ste s, d en K ü rb is , in d en M itte lp u n k t, d e r im tr a d tio n e llen „ K ü r b i s l a n d S t e i e r m a r k “ b e s o n d e r e A u f m e r k s a m k e i t g e n ie ß t, w as s o g a r bei W is s e n s c h a f tl e rn die F ra g e n a c h sp e z ie lle n „ S t y n a n R o o t s “ von H a llo w e e n a u fw a rf. (U m es v o r w e g z u n e h m e n , d ie s e g ib t es nicht). D ie b e id e n th e m a ti s c h u n te r sc h ie d lic h a u s g e r ic h te te n R a u m h ä l f te n w aren o p tisc h a u c h d u rc h e in e in d e r M i tt e b e fin d lic h e V itrine g eteilt, w o rin sich ein T o t e n k o p f b e fa n d , au s d e m re ch ts „ B l u t “ , links „ K e r n ö l “ (= K ü r b i s k e r n öl) flo ß u n d a u f d ies e m a k a b r e W eise v o rd e r g r ü n d ig a u f die je w e i l i g e T h e m e n z e n t r i e r u n g h in w ies . H in te r g rü n d ig w a r bei H a llo w e e n das T h e m a „ T o d u nd H o r r o r “ (vgl. u.a. M a s k e n un d K o s tü m e s o w ie A u s s t a ttu n g s s tü c k e w ie S a rg m i t L e ic h e ) , b e im K ü rb is das L e itm o tiv „ G e s u n d h e i t u n d L e b e n “ (u.a. m it K ü r b is a r z n e ie n in K a p s e lf o rm ) p räsent. D a s K e n n s y m b o l von H a llo w e e n ist das v on inn en b e le u c h te te K ü r b i s g e sicht, in n a tu r a o d e r in k ü n stlic h e n M a te ria le n (z u m e is t en m i n ia t u r e ) a u s g e fü h r t, a u c h als p a p ie r e n e D e k o ra ti o n s g ir la n d e n , a u f S e rv ie tte n (d ie H all o w e e n - K u li n a r i k e rf re u t sich eines b e so n d e r e n S te lle n w e rts ) etc. a ll g e g e n w ärtig. D e r H a n d e l - P a p ie r w a r e n g e s c h ä fte , D r o g e r i e m ä r k t e u n d S u p e r m a r k tk e t te n - o ffe riert ein reic h h a ltig e s A n g e b o t, die w irt s c h a ft li c h e B e d e u tu n g d e r I n n o v a t io n ist a u g e n fä llig und fü h r te zu d e r F e s t s te l lu n g , das n e u e F e s t fü lle d a s K o n s u m l o c h z w is c h e n S c h u la n f a n g u n d N ik o lo . (D ie s ist m a n c h m a l e tw a s a b s c h ä tz ig g e m e in t, a b e r es ist ein w e itv e r b r e i te ter I r rtu m zu g la u b e n , F e st u nd B ra u c h , F e ie r un d R itu al h ätten g r u n d s ä t z lich n ic h ts m it G e ld zu tun. E in e p e k u n iä r e Seite ist im m e r v o r h a n d e n .) D ie P r e s s e m a p p e (das E c h o in den M e d i e n w a r b e e in d r u c k e n d ) s o w ie die a u f G r u n d in f o r m a t io n a b z ie le n d e B e g le itb ro s c h ü re b e fa ß te n sich m it d e r G e n e s e d e s B ra u c h s (e in sc h lie ß lic h d e r v ielzitierten H e r le i tu n g aus k e l t i s c h e n Z e it e n ) s o w ie d e r - im ü b rig e n b ea c h tlic h e n - R o ll e v o n A lle r h e il i g e n /A ll e r s e e le n u n a b h ä n g ig v o m H a llo w e e n -A k z e n t. 2 0 0 2 , H e ft 1 C h ro n ik d e r V o lkskunde 43 W a s b r a u c h t ü m l i c h e V o rfo rm en e in e r steirisch en K ü rb is tra d itio n an lan g t, so ist f e s tz u s te lle n , d a ß es im m e r w ie d e r - a b e r n ic h t r e g e l m ä ß i g - v o rk a m , d a ß d e r „ P l u t z e r “ (m u n d a rtlic h fü r K ü rb is ) als G e s ic h t g e s c h n i tz t u n d in n e n m i t e in e r K e rz e (bzw . e in e m G ra b lic h t) v e rs eh en u nd in e in e r E c k e des a b g e e r n t e te n F e ld e s o d e r b e im H a u s a u fg e s te llt w u rd e . D e r T e rm in w a r d a t u m s m ä ß i g n ic h t fixiert, es g e s c h a h , w en n m a n m i t d e r K ü r b is e r n te fertig w ar, u nd es war, w ie sch o n e rw ä h n t, n ich t r e g e l m ä ß i g u nd v e rb in d lic h . D ie B e z e i c h n u n g f ü r d ie s e K ü rb is lic h te r lau tete „ K ü r b i s l o t t e r “ ( „ L o t t e r “ für B u rs c h , w a s a uch s o n s t no ch als B e z e ic h n u n g fü r B ra u c h g e s t a lt e n - „ L o t te r“ u n d [w eib lic h ] „ L i t t e r i n “ - be geg ne t). D ie L i c h t g e s ic h t e r w a re n a b e r n ic h t im m e r un d a u s s c h lie ß lic h K ü rb is se. A ls d e r H a llo w e e n - B r a u c h von irischen E i n w a n d e r e r n in die U S A t r a n s p o r tiert w u rd e , w a re n es an fä n g lic h R ü b e n , d ie V e rw e n d u n g fa n d e n . A ls diese n ich t a u s r e ic h e n d z u r V e rfü g u n g stan d en , g in g m a n z u m „ p u m p k i n “ , also d e m K ü rb is , d e r sich h e rv o r ra g e n d fü r d iesen Z w e c k e ig n e te , über. U nd R U b en lich te r w a re n a uch in d e r steirisch en K ü r b is la n d s c h a f t zu fin d e n , w ie u ns A u s s t e llu n g s b e s u c h e r be ric h te ten . T rotz d e r sta rk e n steirisch en K ü rb is tra d tio n g in g e n v o m H a llo w e e n - K ü r bis g e s ta lt e r is c h e A n r e g u n g e n aus. „ K ü r b i s f e s t e “ un d „ K ü r b i s s t r a ß e n “ usw. s tellen d ie F r u c h t in H ü lle u nd F ü lle in den M i t t e lp u n k t u n d b e to n e n dabei n ic h t selten die ste irisc h e K ü r b is -Ü b e r li e fe ru n g u n d d e re n U n a b h ä n g ig k e i t v o n H a l lo w e e n als n e u e m u nd fr e m d e m B ra u c h . Sie v e rs te h e n sich m a n c h m al a u c h als g e z ie lte G e g e n b e w e g u n g . D ie H a ll o w e e n - A u s s t e l l u n g am In s titu t fü r V o lk s k u n d e u n d K u ltu r a n t h r o p o lo g i e d e r U n iv e r s itä t G ra z steh t in e in e m g rö ß e r e n Z u s a m m e n h a n g . 1999 b e g a n n d ie V erfasserin im R a h m e n d e r P ri v a ti s s i m a f ü r D i p l o m a n d l n n e n u n d D i s s e r ta n t ln n e n e in e v o re rst no ch u n s tru k tu r ie rte D o k u m e n ta t io n d ie s e r I n n o v a tio n , d ie sich erst so k u rz (s eit e tw a z w ei, drei J a h r e n ), a b e r s e h r in ten siv v o r u n s e r e n A u g e n ab sp ielte. B ereits im n ä c h ste n J a h r e rfo lg te n d ie R e c h e r c h e n g ezie lt. E in e feste G ru p p e fo r sc h te sy s te m a tis c h in m e h r f a c h e r W eise: u.a. m ittels te iln e h m e n d e r B e o b a c h tu n g un d I n t e r v ie w s im Feld ( e in s c h lie ß lic h D i s c o - S z e n e , P riv a tp a rty s u nd K in d e rg ä r te n ), d u rc h S urfen im I n te rn e t ( q u a n tita tiv äu ße rst, qu alita tiv w e n ig e r e rg ie b ig , a b e r a u f s c h lu ß re ich ) u n d D u r c h s i c h t d e r P rin tm e d ie n . A u s d e m n u n m e h r v o rl ie g e n d e n u m f a n g r e i c h e n u n d re p r ä s e n ta tiv e n M a te ria l, B il d d o k u m e n t e e in g e s c h l o s sen, w ird ein B u c h e n ts te h e n , d as 2 0 0 2 v o rlieg en soll. E d it h a H ö r a n d n e r 44 C h ro n ik d e r V olkskunde Ö Z V L V I/105 Kulturelle Identität, M igration und europäische Perspektiven 2. Tagung zum E U -Projekt „B orn in E urope“ in B erlin vom 31. Jänner bis 1. F ebruar 2002 N ach e i n e r ersten in f o rm e lle n T a g u n g in B erlin v o r e tw a e in e m J a h r (vgl. B e ric h t in Ö Z V L V /1 0 4 , W ien 2 0 0 1 , 1 8 5 - 1 8 7 ) fa n d nu n E n d e Jän ner, A n f a n g F e b r u a r 2 0 0 2 in d e r E u ro p ä is c h e n A k a d e m ie in B e r li n - G r u n e w a ld e in e z w e ite A r b e it s ta g u n g statt, die d en offiz ie llen S tart des von d e n b e id e n B e r li n e r M u s e e n , H e i m a t m u s e u m N e u k ö lln un d M u s e u m E u r o p ä i s c h e r K u l tu ren in B e r li n - D a h le m , in itiie rten E U - P ro je k ts „ B o r n in E u r o p e “ m a rk ie rte . D ie T a g u n g g lie d e rte sich in eine n inoffizie llen A rb e itste il vo n j e e in e m h a lb e n T ag zu B e g in n u n d am E nd e, d e r den in te rn e n B e r a tu n g e n d e r P ro j e k tp a r t n e r g e w i d m e t war, u nd in e in en o ffiz ie llen Teil, d e r d ie e u r o p ä i s c h en M i g r a t i o n s b e w e g u n g e n in h is to risc h e n u n d a k tu e lle n B e z ü g e n t h e m a tisierte u n d die d a m i t v e r b u n d e n e n F ra g e n d e r k u ltu re lle n Id e n titä te n in d ie s e m „ n e u e n “ E u r o p a v o r allem im H in b lic k a u f d ie P e rs p e k tiv e n von M i n d e r h e it s k u l tu r e n u nd v e rs c h ie d e n e n R e li g io n s g e m e in s c h a f te n s o w ie des z u k ü n ft ig e n S e lb s tv e rs tä n d n is s e s d e r o s te u ro p ä is c h e n B e i t r it ts lä n d e r a u f z u ze ig e n v e rs u c h te . W o v o n d a k o n k r e t die R e d e ist und w ie v ie ls c h ic h tig sich d ie S ic h tw e is e n d a rs te lle n , w u r d e in den B e g riiß u n g sw o rte n d e r B e r li n e r G a s tg e b e r u nd in den E r ö f f n u n g s s t a te m e n ts vo n V ertretern v e rs c h ie d e n e r R e l i g i o n s g e m e i n sc h a f te n u n d v on d ip lo m a tis c h e n V ertretern d e r R e p u b li k e n P o rtu g a l und P o len d u r c h a u s de utlic h. D e r B e z irk s sta d tra t fü r B ild u n g , S c h u le un d K u ltu r vo n B e rli n - N e u k ö ll n hatte zu b erich te n , d aß d e r a u s l ä n d is c h e B e v ö lk e r u n g s anteil in s e i n e m B e z irk 3 0 % b eträg t, u nd d ie s e r w i e d e r u m 7 8 % a lle r N e u k ö ll n e r G r u n d s c h ü l e r a u s m a c h t. D a stellen sich s e l b s tv e r s tä n d l ic h P ro b l e m e s o w o h l f ü r d i e H a n d h a b u n g z u k ü n ftig e r E i n w a n d e r u n g s p o l it ik als a u c h fü r e in e a d ä q u a t e I n te g ra tio n d e r b ereits in d e r S ta d t le b e n d e n M i g r a n te n . D aß h ie r d as H e i m a t m u s e u m N e u k ö lln v o rb ild lic h e K u ltu r a rb e i t leistet, ist b e k a n n t u n d w u r d e a u ch d u rc h das P r o g r a m m d es M u s e u m s f ü r d ie „ L a n g e N a c h t d e r B e r li n e r M u s e e n “ , w e lc h e g e ra d e am E n d e d e r T a g u n g stattfan d , w i e d e r u m u n te r B e w e i s gestellt. M a n lu d zu e in e r „ L a n g e n N a c h t d e r F lü c h t l i n g e “ , b ei d e r n e b e n e in e m E rfa h r u n g s a u s t a u s c h m it B e tro f fe n e n , L e s u n g e n un d e in e m K o n z e rt auch S p e z ia litä te n aus den u n te s c h ie d lic h e n H e rk u n f t s lä n d e r n d e r G ä s te g eb o te n w u rd e n . A n s e i n e r e ig e n e n B io g ra p h ie k n ü p fte d e r S p r e c h e r d e r B o ts c h a f t des S taates Israel d ie Id e n titä ts f ra g e an. D ie E ltern u n d G ro ß e lt e rn d es in Israel g e b o r e n e n G e s a n d te n s t a m m te n s e lb stv e r stä n d lic h aus E u ro p a , d o c h die p e r s ö n lic h e Id e n titä t d es in B erlin le b e n d e n D ip lo m a te n stelle sich d a d u rc h 20 0 2 , H e ft I C h ro n ik d e r V olkskunde 45 g a r n ic h t s e l b s tv e r s tä n d l ic h dar. D e r V o rsitzen de des Z e n tra lra te s d e r M u s lim e in D e u ts c h l a n d fo r d e rte d ie In te g ra tio n d e r n e u e n M u s l i m e in D e u t s c h la n d ein, in d e m e r d en is la m is c h e n Teil d e r G e s c h ic h t e E u r o p a s d e m c h r i s t lich o rie n tie rte n w e s tl ic h e n G e s c h ic h ts b ild des K o n tin e n t s g e g e n ü b e rs te llte . D e r B o t s c h a f te r d e r R e p u b li k P o rtu g al re k la m ie rte in sein e n E rö ff n u n g s w o r ten e r n s th a f t den B e g in n d e r G lo b a lis ie ru n g b ereits fü r das P o rtu g a l des 15. J a h r h u n d e r ts , u n d als d a n n d e r K u ra to r iu m s v o r s i tz e n d e d es Instituts fü r K u ltu r p o li ti k d e r K u ltu r p o litis c h e n G e s e lls c h a ft in B o n n n o c h d ie W orte J a c q u e s D e l o r s ’, m a n m ü s s e E u r o p a ein e „ S e e l e “ g e b e n , b e m ü h t e , w a r m an a n s c h l ie ß e n d froh , d a ß m a n d u rc h d ie Prä s e n ta tio n d es A u s s t e llu n g s p r o je k t s „ B o r n in E u r o p e “ am E n d e des A b e n d s vo n den P h ra s e n d e r K u ltu r p o litik w ie d e r zu d e n k o n k re te n k u ltu rw is s e n s c h a ftlic h e n P e rs p e k tiv e n z u r ü c k keh rte. D ie A u s s t e llu n g ist ab J ä n n e r 2 0 0 3 in d en S o n d e r a u s s te l lu n g s r ä u m e n d e r G e m ä ld e g a le r i e im K u ltu r z e n tr u m am P o ts d a m e r P latz g e p lan t. D a s G e s ta l t u n g s k o n z e p t sieh t e in e A rt A re n a in zw ei E ta g e n als a r c h ite k to n is c h e s S y m b o l f ü r in n e r e u n d ä u ß e re A s p e k te des T h e m a s vor. G r o ß e T o re sollen d e n R a u m d u r c h l ä s s i g m a c h e n , u n d die z e n tr a le R o lle d e r G e b u r t „ a ls M e t a p h e r f ü r U rs p ru n g , A n fa n g , H e r k u n f t u n d A b s t a m m u n g im R a h m e n von in d iv id u e lle n u n d k o lle k tiv e n Id e n titä ts k o n s tr u k t io n e n “ e r f a h r b a r m a c h e n . In d e r A r c h it e k tu r e in e r m ittela lte rlic h e n S tad t bzw. in d e re n G e b ä u d e G o tte s h a u s (K ir c h e , M o s c h e e , T em p el in e in e r C o lla g e v e rs c h ie d e n e r a b e r a b s t ra h ie rte r Stile), T h e a tr u m , K lin ik, H a u s - so llen d ie e in z e ln e n T h e m e n d e r G e b u r t s k u l t u r in E u r o p a d a rg e s te llt w erd e n . D as u m f a s s e n d e u nd e h r g e iz i g e K o n z e p t d e r B e r li n e r A u s s t e llu n g k a n n h ie r n ic h t n ä h e r e rläu tert w e rd e n , ist a b e r u n te r h ttp ://w w w .b o r n - i n - e u r o p e .d e /d e u ts c h /c o n c e p t .h tm in se in e n G r u n d z ü g e n n a c h z u le s e n . N a c h d e m ers te n , e tw a s u n b e fr ie d ig e n d e n H a lb ta g fo lg te d a n n am n ä c h sten T ag im z w e ite n Teil d e r ö ff e n tlic h e n T ag u n g e in e R e ih e von in t e r e s s a n ten, in te llig e n te n V orträgen b e s o n d e r s im d ritten B lo c k des P r o g r a m m s . D e n e rs te n B l o c k z u m T h e m a „ M u s e e n und E u r o p a “ b estritten d e r P r ä s id e n t von I C O M - D e u t s c h l a n d , H a n s - M a r ti n H in z, u n d G e rrit Valk, ein M i tg l ie d des N i e d e r l ä n d is c h e n P a r l a m e n t s un d des A u s s c h u s s e s fü r K u ltu r u n d B ild u n g im E u ro p a ra t . H a n s - M a r ti n H in z sprach ü b e r d ie e u ro p ä i s c h e n P e rs p e k tiv e n in d e r A r b e it d e r n a tio n a le n K o m ite e s d es In te rn a tio n a le n M u s e u m s r a te s , die sich e in e r s e its in b ila te r a le n K o n ta k te n , a b er auch in g e m e i n s a m e n P ro je k te n w ie d e r B o d e n s e e k o n f e r e n z d e r drei d e u ts c h s p ra c h i g e n L ä n d e r D e u ts c h l a n d , S c h w e iz , Ö s te r re ic h o d e r im a lljäh rlich en T reffen d e r z e n t r a le u r o p ä is c h e n I C O M - L ä n d e r m a n ife s tie r e n . G e rrit Valk sp itzte se in e A u s f ü h r u n g e n in d e r F r a g e zu, o b u nd w ie sich d e r G eist E u ro p a s m u s e a l p rä s e n tie r e n und d a rs te lle n lasse. D ie n e u e rd in g s e u r o p ä i s c h e A u s r i c h tu n g a lte r n a tio n a le r 46 C h ro n ik d e r V olkskunde Ö Z V L V I/105 V o lk s k u n d e m u s e e n , w ie j e n e r in B e rlin o d e r P aris s te h t h ie r g e n a u s o z u r D is k u s s io n w ie d ie S in n h a f tig k e it d e r G r ü n d u n g u n d E in r i c h tu n g n e u e r perm an en ter sogenannter „E u ro p a m u se e n “ . Im z w e ite n T h e m e n b l o c k d es V orm ittags d is k u tie rte m a n tiber das S c h l a g w o r t v o m E u r o p a d e r R e g io n e n u nd ob d ies e s als A n t w o r t a u f d ie Id e e d e r N a tio n a l s t a a te n als K o n z e p t tau g lich sei. F ü r 2 0 0 3 h a t m a n in B erlin und B ra n d e n b u r g ein sog. E u r o p a ja h r a u sg e ru fe n , in d e m es n e b e n d e r A u s s t e l lu n g „ B o r n in E u r o p e “ e tw a 9 0 0 w e ite re g rö ß e r e un d k le i n e r e P ro je k te g e b e n soll. U m sich auch in Z u k u n f t in e in e m v e re in ten E u r o p a k u ltu rell zu H a u s e fü h le n zu k ö n n e n , m ö c h t e m a n m it so lc h e n A k tio n e n w o hl den u n te r s c h ie d lic h e n e u ro p ä i s c h e n R e g io n e n einen g e s a m te u r o p ä is c h e n A te m e in h a u c h e n . U n te r d e m Titel „ E u r o p a als O rt k u ltu re lle r P r ä g u n g “ w a re n d ie letzten drei V orträge des offiz ie lle n P r o g r a m m s z u s a m m e n g e f a ß t. K o n ra d Vanja, d e r D ir e k t o r des M u s e u m s E u r o p ä is c h e r K u ltu ren in B erlin , p lä d ie rte dafür, E u r o p a d u rc h k o n k re t e P ro je k te zu d e fin ie re n u n d e rlä u te r te d ie s an zw ei B e is p ie le n , d e m g e r a d e h u n d e r t Ja h r e alt g e w o r d e n e n E th n o g r a p h i s c h e n M u s e u m in St. P e te r sb u rg , das 150 v e rs c h ie d e n e E th n ie n im e h e m a ls g ro ß e n r u s s is c h e n R e ic h re p r ä se n tie re , un d am B e isp ie l d e r W a n d e rh ä n d le r, die b ereits in fr ü h e re n J a h r h u n d e rte n g a n z E u r o p a d u r c h z o g e n u n d so u n te r ö k o n o m i s c h e n V o ra u sse tz u n g e n a uch als K u ltu r v e r m i tt le r tätig w a re n . Ü b e r e u r o p ä i s c h - j ü d is c h e Id e n titä te n sp rach D ia n a P in to M o is i, d ie die jü d i s c h e B e v ö lk e r u n g , w e lc h e i m m e r g le ic h z e itig in n e r h a lb w ie au ch a u ß e r h a l b d e r d o m i n ie r e n d e n n a tio n a le n G e se llsc h a fte n g e le b t hat, als das P a ra d e b e is p ie l m u l ti p le r Id e n titä te n in E u r o p a v orfüh rte. Sie e r in n e rte a u c h d a ra n , d a ß m an Uber d a s N a c h d e n k e n in n e r h a lb E u ro p a s a u c h n ic h t d ie K lu s t e r vo n E u r o p ä ern, d ie a u ß e r h a l b des e u ro p ä is c h e n K o n tin e n ts leb ten, v e rg e s s e n sollte. F ü r d ie R e p r ä s e n t a n z d e r O s te u r o p a p e r s p e k t iv e h a tte m a n E lk a T sch ern o k o s h e w a , d ie L e ite rin d e r A b te ilu n g E m p i r is c h e K u ltu r f o r s c h u n g in n e r halb d es S o rb i s c h e n In stitu ts in B a u tz e n , e in g e la d e n . S ie sp ra c h ü b e r die g e le b te T ra n s k u l tu ra lit ä t d e r O steu ro p äer, die im m e r s c h o n G r e n z g ä n g e r w a re n , d ie g e g e n w ä r ti g s tä n d ig ev a lu ie rt w e rd e n u nd d e n e n m a n g e ra d e a b v e rla n g t, a n d e r s w o G elern tes, z.B. den K o m m u n i s m u s , zu v e rg e s se n . Im Z u s a m m e n h a n g m it e in e m z u s a m m e n w a c h s e n d e n E u r o p a o rte te sie s o w o h l B e f ü r c h t u n g e n als au ch C h a n c e n . E in e G e f a h r s ie h t sie u n te r a n d e r e m darin , d a ß m a n d ie O s te u r o p ä e r w ie d e r ein m a l an d e r P e rip h e rie p la z ie re n w erd e , d a ß sie z u n ä c h s t disk ursiv, d an n a b e r a u c h stru k tu rell in ih ren E r fa h r u n g e n m a r g in a lis ie rt w e rd e n w ü rd e n . W eite r m a c h t sie die G e f a h r e in e r F o lk lo r is ie r u n g d es O s te n s aus, d ie V o rstellu ng e in e r „ r e i n e n “ K u ltu r, d ie g e g e n ü b e r d e r d u r c h m is c h t e n K u ltu r W e ste u ro p a s w ie d e r a u s g e g r e n z t w e rd e . A ls p o te n t ie l le C h a n c e n b e g r i f f d ie R efe re n tin e in e rse its d ie M ö g l i c h k e i t d e r 20 0 2 , H e ft 1 C h ro n ik d e r V o lkskunde 47 M u ltip e r s p e k t iv i tä t, d a ß m an d ie M e n s c h e n d if fe re n t u nd s i m i la r z u g le ic h sein lasse, d a ß m a n A n d e rs s e i n z u la s se n kö n n e, a b e r tr o tz d e m a u c h g le i c h ze itig D a z u g e h ö r e n dü rfe, und an d e re rse its die Ü b u n g im D ia lo g , d ie ein o ffe n e s E u r o p a e r m ö g li c h e , und das h ieß e, n ic h t n u r b e id e S e ite n e in e r M e d a i ll e zu se h e n , so n d e r n a u ch b e re it zu sein, e tw a s v on d e r an d e re n S eite se lb st a u fz u n e h m e n . D e r d ia lo g is c h e R a u m , den T s c h e r n o k o s h e w a s k iz z ie r te, in d e m e in e s p ie le ris c h e U m k e h r d e r R o lle n m ö g lic h sein w e rd e, ist a lle rd in g s in d e r R e a litä t n o c h k a u m a u sz u m a c h e n . D ie z w e ite H ä lfte d e r B e r li n e r T ag u n g so llte d a z u d ie n e n , d ie ein z e ln e n P a r t n e r d e s E U - P r o je k t e s „ B o r n in E u r o p e “ z u s a m m e n z u f ü h r e n , un d g e m e i n s a m e A u f g a b e n , w ie a uch lo k ale P ro je k te in den v e rs c h ie d e n e n P a r t n e rl ä n d e rn zu b e s p r e c h e n . D ie V o ra u sse tz u n g e n w ie auch d ie V o rstellu n g en d e r e in z e ln e n P r o j e k tt e il n e h m e r sin d se h r u n te r sc h ie d lic h , u n d es ze ig te sich w ie d e r e in m a l w ie s c h w ie r ig es ist, aus e in e r u n te r g r o ß e m Z e itd ru c k e i n g e b r a c h te n P ro je k tid e e e in es P artn e rs ta tsä c h lic h ein g e m e i n s a m e s für alle T e il n e h m e r s in n v o lle s u nd au ch n ach auß en hin h o m o g e n e s K o n z e p t zu e n tw ic k e ln . T ro tz T e le p h o n u nd In te rn e t m a n g e l t es im g e m e i n s a m e n E u r o p a n o c h an K o m m u n i k a t i o n s k u l t u r u n d G e s p r ä c h s f ä h i g k e i t u n d auch die S p r a c h b a r r ie r e n w e rd e n n o c h lä n g e r ein T h e m a im g e h o b e n e n in t e ll e k tu e l len D is k u r s sein. D ie B e r li n e r P ro je k tle ite r und G a s tg e b e r b e m ü h t e n sich z w a r u m e in e a n g e n e h m e A t m o s p h ä r e u nd um ein g u tes G e s p r ä c h s k l im a , d o c h w a re n d ie ä u ß e re n V o ra u sse tz u n g e n un d in h a ltlic h e n S tr u k tu re n f ü r das G e m e i n s c h a f t s p r o j e k t im V orfeld z u w e n ig a b g e k lä r t w o r d e n , s o d a ß m a n z u m i n d e s t bei d ie s e m T reffen n och zu k e in e m strin g e n te n G e s a m t k o n z e p t k a m u nd d a h e r e h e r u n b e fr ie d i g t a u se in a n d e rg in g . F e s t ste h t b is la n g d e r W ie n e r P art des P ro jek ts, d e r in d e r E r a r b e i tu n g und P rä s e n ta ti o n d e r A u s s t e llu n g „ A l l e r A n fa n g . G e b u r t - B irth - N a i s s a n c e “ , e in e r D a r s t e llu n g d e r K u ltu r g e s c h ic h te d e r G e b u rt, des G e b ä r e n s u n d G e b o r e n w e r d e n s in a u s g e w ä h l t e n p h y s i s c h e n , p s y c h i s c h e n u n d k u lt u r e l le n A s p e k te n v o m 10. A p ril bis 6. O k to b e r 2 0 0 2 im Ö s te r r e ic h i s c h e n M u s e u m f ü r V o lk s k u n d e b esteh t, in d e r H e r a u s g a b e e in e r u m f a s s e n d e n B e g l e i t p u b l i k atio n m i t B e iträ g e n au s u n te r s c h ie d lic h e n F a c h r i c h tu n g e n u n d d e r V eran s ta ltu n g e in e s S y m p o s io n s im H e rb s t 2 0 0 2 , d as v om Ö s te r r e ic h i s c h e n M u s e u m fü r V o lk s k u n d e u nd d e m Verein T r a n s k u l tu r g e m e i n s a m m it d em Verein f ü r S o z ia l g e s c h i c h te d e r M e d iz in k o n z ip ie rt w ird u n d g le ic h z e itig a u c h d a s z w e ite in te rn a tio n a le S y m p o s io n d e r „ B o r n in E u r o p e “-A rb e itsg r u p p e darstellt. Es ist g ep la n t, T eile d e r W ie n e r A u s s t e llu n g in d as K o n z e p t d e r B e r li n e r P rä s e n ta tio n ein flie ß en zu lassen. D e r W ie n e r A u s s t e l l u n g s k a ta lo g w ird e n g li s c h e S u m m a r i e s un d die w e s e n tl ic h e n A u s s t e llu n g s te x t e a u ch in e n g l i s c h e r S p ra c h e e n th alte n , um ihn fü r das e u r o p ä i s c h e P ro jek t n u tz b a r zu m a c h e n . N e b e n W ien und B erlin n e h m e n n o ch P a r t n e r aus 48 C h ro n ik d e r V o lkskunde Ö Z V L V I/105 L is s a b o n , K o p e n h a g e n , A a rh u s , G ö te b o rg u n d W a rs c h a u a m „ B o r n in E ur o p e “ -P r o je k t teil, d o c h d e ren spez ielle T e il n a h m e p r o g r a m m e w a re n bei d ie s e m B e r li n e r T reffe n n o c h n ic h t so k la r a u s z u m a c h e n . D e n o ffiz ie lle n S c h lu ß p u n k t d e r A rb e it s ta g u n g b ild e te ein e A u s s t e l l u n g s e r ö f f n u n g im M u s e u m E u r o p ä is c h e r K u ltu ren in D a h le m . D as fr ü h e re V olk s k u n d e m u s e u m v e rs u c h t se in e m n eu en N a m e n un d d e r d a m i t v e r b u n d e n e n in h a ltlic h e n A u s r i c h tu n g a u f v e rs c h ie d e n e W eise g e r e c h t zu w e rd e n . D ie s g e li n g t u n te r a n d e r e m m it a k tiv e n E r s c h l ie ß u n g e n e u r o p ä i s c h e r K u ltu re n d u rc h k le i n e r e A u s s t e llu n g e n von re lativ k u rz e r D au er, d ie j e d o c h v on e in e m reich en , in h altlich g e m i s c h t e n K u ltu r p r o g r a m m b e g le ite t w e r d e n d as, w ie m a n bei d e r E r ö f f n u n g von „ C a r n e v a l e di V e n e z ia “ a m 1. F e b r u a r 2 0 0 2 g e s e h e n hat, d u r c h a u s sein P u b lik u m fin det. D ie V e n e z ia n is c h e n K u ltu r ta g e im M u s e u m E u r o p ä is c h e r K u ltu r e n w e rd e n d u rc h e in e F o to a u s s te l lu n g beg leitet. D ie F o to s v o m w ie d e re n td e c k te n K a rn e v a l in V e n e d ig au s den J a h r e n 1988 bis 2001 w u rd e n d u rc h R a d ie ru n g e n u n d e in e n K u p f e r s t ic h von P ietro L o n g h i ( 1 7 0 2 - 1 7 8 5 ) au s d e r K u n s tb ib lio th e k d e r S ta a tlic h e n M u s e e n zu B e rlin e rg ä n z t u n d n a tü rlich h a t a u c h das M u s e u m s e lb s t au s se in e m p h a n ta s ti s c h e n B il d e rfu n d u s etw as E in s c h lä g ig e s zu bie ten , drei v e n e z i a n i sc h e P a n o r a m a b i l d e r u m 1900, n eb en d e n e n je d e s z e i t g e n ö s s i s c h e F o to v erblaß t. D ie s e K o o p e r a ti o n mit Italien ist b ereits das d ritte P ro je k t e in e r R eih e, d ie m it F in n l a n d u nd S c h w e d e n und s a m is c h e n K u ltu r ta g e n b e g o n n e n w u rd e . D ie z w e ite A u s s t e llu n g bildete e in e K o o p e ra ti o n m it d e m N a c h b a r la n d P o len u n d w a r g e ra d e n och zu sehen. „ F in i s P o lo n i a e 1831. P o ln isc h e s S c h ic k s a l, d e u ts c h e s G e m ü t un d e u ro p ä is c h e S o li d a r i tä t“ ist ein M u s t e r b e i spiel e in e r k lu g g e m a c h te n , fein en k lein en k u lt u rh i s to r is c h e n A u s s te llu n g , d ie die S tä r k e n v o l k s k u n d li c h e r S a m m lu n g e n voll a u s z u s p ie le n v e rm a g . D e r A u s s t e llu n g liegt das tite lg e b e n d e H is t o rie n g e m ä ld e von D ie tr ic h M o n t e n ( 1 7 9 9 - 1 8 4 3 ) „ F i n i s P o lo n i a e 1 8 3 1 “ aus d e r A lten N a tio n a l g a le r ie z u g ru n d e . S ein T h e m a ist d e r n ie d e r g e s c h l a g e n e A u fs ta n d d e r P o le n g e g e n das d a m a lig e r u s s is c h e R e ic h im J a h r 1831. E r löste ein e P o le n b e g e i s t e r u n g in g a n z E u r o p a aus, die sich in w e ite r e n B ild e rn u nd in z a h lr e ic h e n L ie d e r n n ie d e r sch lu g . D a s p ro g r a m m a tis c h e B ild fin d e t sich a u c h a u f S o u v e n ir s w ie T a b a k s d o s e n u n d P fe ife n k ö p fe n w ieder. D e n A u s s t e l l u n g s m a c h e r n ist es p e rf e k t g e lu n g e n , ein k ü n s tle ris c h e s M o tiv in se in e m k u ltu re lle n K o n t e x t zu ze ig e n u n d d ie E n ts t e h u n g , R e z e p tio n u n d P o p u la r is i e r u n g d ie s e s B i l d m o tivs zu e n th ü lle n . M a r g o t S c h in d l e r 20 0 2 , H e ft 1 C h ro n ik d e r V olkskunde 49 Vom sozialen Gebrauch der Entbindungsanstalt im 18. und 19. Jahrhundert Das Göttinger Accouchierhaus von 1751 in vergleichender Perspektive Internationales Sym posion, veranstaltet vom M ax-Planck-Institut für G eschichte, G öttingen, und dem Institut für Ethik und G eschichte der M edizin der U niversität G öttingen, 22. bis 23. N ovem ber 2001 D a s in te rn a t io n a l e u n d in te rd is z ip lin ä r b e se tz te h is to ris c h e S y m p o s io n fand in den R ä u m e n d es M a x - P la n c k -I n s ti tu t s fü r G e s c h ic h t e in G ö tti n g e n statt u n d w u r d e v o n P rof. Dr. C la u d i a W ie s e m a n n v o m In s titu t f ü r G e s c h ic h t e d e r M e d i z in u n d H e rrn P rof. Dr. Jü rg e n S c h lu m b o h m v o m M a x - P la n c k - I n s ti tu t in G ö tti n g e n v e ran s talte t. E in g e la d e n w aren E x p e rte n u n d E x p e r ti n n e n aus d e m In- u nd A u s la n d u nd aus v e rs c h ie d e n e n h is to risch a r b e i te n d e n D i s z i p lin e n . D ie w is s e n s c h a ft lic h e K o n fe re n z w a r e in g e b e tte t in e in e n b re ite r an g e le g te n F e s t a k t d e r U n iv e rs itä ts fr a u e n k lin ik un d H e b a m m e n s c h u l e G ö t tin g e n , die in d ie s e n T agen ih r 2 5 0 jä h r ig e s B e ste h e n feie rte. D e n A u fta k t m a c h t e Is a b e lle von B u e lt z in g s l o e w e n aus L yo n m it ih re m B eitrag : D ie E n ts t e h u n g des k lin is c h e n U n te rr ic h ts an den d e u ts c h e n U n iv e rs itä te n des 18. J a h r h u n d e r ts un d d as G ö tti n g e r A c c o u c h ie rh a u s . Sie stellte h era us, d aß im 18. J a h r h u n d e r t die „ p r a k t is c h e M e d i z i n “ in den R a n g e in e r e ig e n e n D is z ip lin e rh o b e n w u rd e , in d e r die S tu d e n te n a u f ihre k ü n ftig e A u f g a b e als P ra k t ik e r v o rb e r e ite t w e rd e n sollten. D e r g ro ß e E rfo lg des V ersu c h s e in e r L e h r e „ a m K r a n k e n b e t t “ an d e r U n iv e rs itä t L e id e n seit 1714 u nd an d e r p r e u ß i s c h e n U n iv e r s itä t H a lle seit 1717 g a b diesen B e s tr e b u n g e n R ech t. F ü r ein e p r a k t is c h e L e h r e a b e r w a r d ie In stitution des H o s p ita ls u n e rlä ß lic h , d a n u r d ie s e s den A n f o r d e r u n g e n d es U n te rr ic h ts e n ts p re c h e n k o n n te . Z u diesen in E u r o p a ers ten H o s p itä le rn z äh lte au ch die 1751 g e g r ü n d e t e G ö tti n g e r A c c o u c h ie r a n s ta l t. D e r a n s c h l ie ß e n d e V ortrag v o n Jü rg e n S c h l u m b o h m aus G ö tti n g e n g in g n ä h e r a u f d ies e n eu g e g rü n d e te In s titu tio n ein u nd stellte u n te r d e m T h e m a G re n z e n d es W issens: V e rh a n d lu n g e n z w is c h e n A rz t und S c h w a n g e r e n im E n tb in d u n g s h o s p i ta l d e r U n iv e r s itä t G ö tti n g e n u m 1800 d a s A rz t/P a tie n tin -V e r h ä ltn is in d e r A n stalt, n ä h e r vor. E r z e ig te auf, daß b e id e P a rte ie n ein g a n z u n te r s c h ie d lic h e s W is se n b e is p ie l s w e i s e in B e z u g a u f d en T ag d e r E m p f ä n g n i s bzw. z u r S c h w a n g e r s c h a f t s d a u e r ha tten u n d d aß dies j e w e i l s a u s g e h a n d e l t w e rd e n m u ß te. A n h a n d d e r vo n ih m a u s g e w e rte te n P r o t o k o l l b ü c h e r d e r G ö tti n g e r A n sta lt k o n n te e r u.a. fe s tste lle n , d a ß viele S c h w a n g e r e f ü r sich e ig e n e K o n d itio n e n h e ra u s a rb e ite te n , in d e m sie an d ere A n g a b e n zu ih r e m S c h w a n g e r s c h a f t s v e r l a u f m a c h te n , als es in d en z e it g e 50 C h ro n ik d e r V olkskunde ÖZ VL Vl / 1 0 5 n ö s s is c h e n L e h r b ü c h e r n W is s e n s b e s ta n d war. C h r is ti n a Vanja, H is to rik e r in aus K asse l, stellte im A n s c h lu ß d aran das K a s s e l e r A c c o u c h ie r - u nd F i n d e l h au s in den J a h r e n 1763 bis 1787 v o r m it d e m F o c u s a u f G e b ä r e n d e und K i n d e r im B lic k „ v e r n ü n f ti g e n M i t l e id e n s “ . D a s R e fe ra t a rb e ite te d ie d o r tige E in r i c h t u n g als F ü rs o rg e in s titu tio n v o r d e m H in te r g r u n d des n eu en W o h lf a h rts s ta a te s herau s. Es stan d in K asse l w e n ig e r die L e h r e am K r a n k e n b e tt im V o rd e rg ru n d als d ie A u f n a h m e v e r a r m t e r S c h w a n g e r e r u nd d eren K in d er, u m sie u.a. v o r d e m w e it v e rb re ite te n K i n d s m o r d zu b e w a h r e n . D as F in d e l h a u s w u r d e d an n j e d o c h d e ra rt stark fr e q u e n tiert, d a ß sich d ie V erh ä lt n is se als u n h a lt b a r g e stalteten u nd die E in ric h tu n g b ald w ie d e r g e s c h lo s s e n w e rd e n m u ß te . Von m e h r e re n H u n d e r t e in g e b r a c h te n K in d e rn e rr e ic h te n n u r ze h n d as 14. L e b e n s ja h r - das eh rg e iz ig e P ro je k t des a u f g e k l ä r t e n L a n d g r a fen h a tte sich le tztlic h als n ic h t f i n a n z ie r b a r e rw ie s e n . A m N a c h m i t t a g fra g te d ie P h a r m a z ie h i s to r ik e r i n G a b rie le B e is s w a n g e r au s B r a u n s c h w e i g u n te r d e m T h e m a : D i e A c c o u c h ie r - A n s t a lt in B r a u n s c h w e i g 1 7 6 7 - 1 8 0 0 : T em p el d e r L u c i n a o d e r P f l a n z s c h u le fü r U n g e z ie fe r ? n ach d e n g ru n d s ä tz li c h e n In t e re s s e n k o n fli k te n , d ie d ie d o rtig e E n t b i n d u n g s a n s t a lt k e n n z e i c h n e te n . A u c h h ie r s ta n d e in e c h ro n i s c h e F in a n z k n a p p h e it im V o rd e rg ru n d , es u n te r b lie b e n n o t w e n d i g e I n v e s titio n e n u n d n ich t zu le tz t a u f g r u n d d e r u n h a ltb a re n h y g ie n i s c h e n V erhältn isse w e ig e rte n sich die S c h w a n g e r e n , d ie s e A n sta lt a u f z u s u c h e n . D ie als Teil e in e r u m f a s s e n d e n R e fo rm des M e d i z in a l w e s e n s im H e r z o g t u m B r a u n s c h w e ig - W o lf e n b ü t te l v e r s ta n d e n e E in ri c h tu n g , in d e r a u c h d ie H e b a m m e n a u s b i l d u n g a u f ein h ö h e re s N iv e a u g e h o b e n w e rd e n sollte, e rr e ic h t e s o m it ihre ,h ö h e re n Z w e c k e 1 im G r u n d e nic h t. G a n z im G e g e n s a tz zu den B r a u n s c h w e ig e r V e rh ältn issen kan n V erena P a w lo w s k y aus W ien: Vom N u tz e n d e r G eb ä ra n sta lt. D as B e isp ie l W ien 1 7 8 4 - 1 9 0 8 , s p r e c h e n . Im Z u g e d e r J o s e p h in is c h e n R e f o r m e n w u r d e h ie r ein A c c o u c h ie ru n d F in d e l h a u s ein g e ric h te t, in dem jährlich ca. 10.000 E ntb in d u n g en v o rg e n o m m e n w erden konnten. D.h., da ß in d ie s e r ze n tr a le n F ü rs o rg e - u n d A u s b i l d u n g s s tä tt e j e d e S tu n d e e in e G e b u r t v o n sta tten ging , w a s fre ilic h a u ch a u f d ie Ille g itim itä ts ra te n in s g e s a m t s c h ließ en läßt, die sich in W ie n um 1850 a u f ca. 5 0 % b elie fen . S o w ie es sich in d e n e u ro p ä is c h e n A c c o u c h ie r a n s ta l te n fast a u s s c h lie ß l ic h u m le d ig e M ü t te r ha nd elte, die in d e r R e g e l ih ren K in d e rn kein Z u h a u s e bieten k o n n te n , k a m e n au ch in W ien ein D rittel a ll e r g e b o re n e n K in d e r ins F in d e lh a u s . D u rc h d ies e e x o rb ita n t h o h e n A u f n a h m e z a h l e n g riff in W ie n b e s o n d e r s stark d as K in d b e tt f i e b e r um sich, d e ss e n U r s a c h e in den 4 0 e r Ja h re n d es 19. J a h r h u n d e r ts von d e m W ie n e r A rz t S e m m e l w e i s s e r k a n n t w u rd e. D a s W i e n e r G e b ä r h a u s g in g 1908 b ru c h lo s in d ie n eu erric h te te F r a u e n k l in i k über. A m N a c h m it ta g fü h r te d a n n Jü rg e n S c h lu m b o h m d u rc h das e h e m a lig e G ö tti n g e r A c c h o u c h ie r h a u s , in d e m h e u te d as M u s ik w is s e n s c h a f t lic h e In s ti 20 0 2 , H e ft 1 C h ro n ik d e r V o lk sk u n d e 51 tut d e r U niv ersität unterg ebracht ist. D as G öttinger G ebärhaus, von L ich ten berg spöttisch ,G e b ä rp a la s t1genannt, b eeindruckt durch seine au ß e rg ew ö h n lich e und g ro ß zü g ig e A rchitektur, w o m it es wohl als eines d er größ ten und am besten ausgestattetsten sein er Zeit gelten konnte. D e r dortige Anstaltsleiter, Friedrich B e n ja m in Osiander, lebte m it seiner Familie ebenfalls im H aus, so daß er Tag und N a c h t zu den G eb urten gerufen w erden k o n n te u nd ih m auch alle anderen Vorgänge im H a u s n ich t verborgen blieben. In d er unteren E tag e befand sich ein Sezier- und Präparierzim m er, da die Sektionen im H au s stattfanden u nd die verstorben en Frauen un d K in d e r ausdrücklich nicht an die A n a to m ie geliefert w erd en m ußten. A u ch hierin w ird noch einmal der H a u p tz w e c k der G ö tting er E in rich tun g, als L ehranstalt zu dienen, deutlich. A m F re ita g , d e m 23.11., g in g es am V o rm itta g w e ite r m i t d e m B e itra g E v a L a b o u v ie s aus S a a rb r ü c k e n , d e r ü b e r d ie T rie r e r E n t b i n d u n g s a n s t a lt ( 1 7 9 9 - 1 8 7 3 ) A u s k u n f t gab. U n te r d e m Titel: B a u d e l o c q u e an d e r M o s e l. G e n e s e u n d P ra x is d e r T rie re r E n tb in d u n g s a n s ta lt, ze ig te L a b o u v ie die T r ie r e r H e b a m m e n r e f o r m nach d e m Vorbild d e r P a ris e r M a te rn ité auf. M a n etab lie rte u m d ie W e n d e z u m 19. J a h r h u n d e r t H e b a m m e n s c h u l e n in Trier, S a a r b r ü c k e n , M e t z u nd N ancy . D o c h au ch h ie r k laffte e in e g r o ß e L ü c k e z w is c h e n A n s p r u c h u n d W ir k lic h k e it, da d ie S c h u le n vo n den K a n d id a ti n n e n n u r z ö g e r n d a n g e n o m m e n w u rd e n . N o ch la n g e m u ß t e m a n g e g e n sog. .illeg ale H e b a m m e n 1 ins F e ld zieh e n , d ie w e ite r h in tr a d itio n e ll a u s g e b i ld e t w a re n u n d d ie n e u e n sta atlich en E in ri c h tu n g e n a b le h n te n . A u c h J a c q u e s G e lf s ’ (P aris) B e itra g : P ie r re -E t ie n n e M o r la n n e et les in s titu tio n s de s e c o u rs a u x f e m m e s en c o u c h e s â M e t z (fin du X V I I I e - p r e m iè r e m o itié d u X I X e siè cle) b e s c h r e ib t die V erh ältn isse im G e b ie t u m M e tz . D ie G e b u rts h ilf e e n tw ic k e lte sich h ie r au s d e r M ilitä rc h iru rg ie , w o b e i M e t z - im G e g e n s a tz zu S tr a ß b u r g e tw a - als e h e m a lig e r B is c h o f s s itz e h e r k a th o l is c h e S c h ü le r an zo g . M o r la n n e , ein e h e m a lig e r M ilitä rc h iru rg , stan d d e r A n s ta l t vor, m a c h t e a b e r a u c h w eite r h in H a u s g e b u rte n , bei d e n e n n o c h d ie trad itio n e lle G e b u r ts h ilf e z u m T ra g e n k am . In se in e r „ P r a k t is c h e n E n tb i n d u n g s s c h u l e de s M o s e l - D é p a r t e m e n t s “ bild ete er u n en tg e ltlic h H e b a m m e n aus, d ie sich z.T. in e in e m re lig iö s o rie n tie rte n W o h ltä tig k e itsv e re in z u s a m m e n f a n d e n , um als . S c h w e s te r n d e r M ü t t e r h i l f e 1 (S o e u rs d e la C h a r it é m a te rn e lle ) v e r a r m t e n F ra u e n bei d e r E n tb i n d u n g b e iz u s te h e n . Ü b e r die s c h o ttis c h e G e b u r ts h ilf e b e r i c h te t e im A n s c h lu ß d ara n J o h a n n a G e y e r - K o r d e s c h aus G la s g o w . Ih r B e itra g tru g d en Titel: D e b a ta b le in stitu tio n s: T e a c h in g m e n a b o u t c h ild b ir th in S c o tla n d in the eig h te e n th Century. G e y e r - K o r d e s c h stellte h e ra u s , da ß die sch o ttisc h e n G e b u rts k lin ik e n s o w o h l als V o rb ild e r fü r L o n d o n u nd Irlan d als a u c h fü r die U S A fu n g ie rte n . A u c h d ie g ro ß e n G e b u r t s h e l f e r W illia m S m e llie und W illia m H u n te r w aren S c h o tte n . N i c h t s d e s to tro tz m ö c h t e G e y e r - K o r d e s c h a b e r ih r A u g e n m e r k n e b e n den In stitu- 52 C h ro n ik d e r V o lkskunde Ö Z V L V I/105 tio n a lis ie ru n g s - un d P r o f e s s i o n a lis ie ru n g s p ro z e s s e n im 18. J a h r h u n d e r t, diezu L y in g - I n - H o s p it a ls u n d m a n m id w if e r y fü h r te n , a u f die D i s k u s s io n ü b e r d ie n a tü r lic h e G e b u r t le n k en , d ie e b en falls im 18. J a h r h u n d e r t s ta ttfa n d und o ftm a ls ü b e r s e h e n w u rd e . D ie s e r D is k u r s w u rd e j e d o c h n ic h t in d e r M e d iz in g e fü h r t, w o b e is p ie l s w e i s e d ie Ä n g s te u n d H o f f n u n g e n d e r M ü t t e r a u f ein g e s u n d e s K in d , ih re e m o t io n a l e V erfassu n g, o d e r au ch d ie E m p a t h i e z u m K in d k e in e B e r ü c k s i c h ti g u n g fan d en . D e r V ortrag p lä d i e r t f ü r m e h r A u f m e r k s a m k e i t in B e z u g a u f k u l t u r a n t h r o p o lo g i s c h e un d v o lk s k u n d l i c h e F r a g e s t e ll u n g e n , um sich d en w iss e n s c h a ftlic h e n B lic k f ü r w e ite r e Z u s a m m e n h ä n g e n ic h t zu v e rste llen . D e n S c h lu ß v o r tra g h ielt A d ria n W ilso n aus L e e d s m it d e m F o c u s a u f den: L o n d o n ly in g -in -h o s p ita ls in th e e ig h t e e n th Century. W ilso n , b e k a n n t d u rc h sein B u c h T h e M a k i n g o f M a n - M i d w i f e r y : C h i l d birth in E n g la n d , 1 6 6 0 - 1 7 7 0 (H a rv a rd 1995), stellt fest, d a ß in d e n e n g li s c h e n L y in g - I n - H o s p it a ls die L e h re am K r a n k e n b e tt n u r e in e u n te r g e o r d n e t e R o ll e g e s p i e lt h a t u n d d ie e n g lis c h e n A c c o u c h e u r e ih re A u s b i l d u n g h a u p t s ä c h lic h d u rc h d ie H a u s g e b u r t s h il f e e rw o rb e n h a b e n . S e in e A u s f ü h r u n g e n leiteten ü b e r z u r S c h lu ß d i s k u s s io n , in d e r n o c h ein m a l d ie s e u n t e r s c h ie d li c h e n A u s p r ä g u n g e n in E u r o p a als s e h r a u g e n fä llig au fg e g r iff e n w u rd e n . D ie V e rh ä ltn iss e g e sta lte te n sich in E n g la n d , F ra n k r e ic h , D e u ts c h l a n d u n d Ö s te r reich j e w e i l s g a n z sp e z ifis c h , so d a ß in d e r D is k u s s io n d a f ü r p lä d i e r t w u rd e, sich n o c h w e ite r v on d e r rein e n I n s tit u ti o n e n g e s c h i c h te u n d d e r d a m i t e in h e r g e h e n d e n E r f o l g s g e s c h i c h te d ie s e r E in ri c h tu n g e n zu d is ta n z i e re n und v e rs tä rk t die K o n te x te zu d e ch iffrieren , in die sie e in g e b e tte t sind . S o sei n o c h m e h r als b is h e r n a c h d e r je w e il ig e n M e n t a li tä t s g e s c h i c h te u n d K ö r p e r g e s c h i c h te d e r e in z e ln e n L ä n d e r zu fragen , w e n n es um d ie A n a ly s e v e r s c h i e d e n e r g e b u rt s h il f l ic h e r K o n z e p te g eh e. D ie se h r a n g e r e g t e S c h l u ß d i s k u s s io n b e d e u te te j e d o c h n o c h n ic h t das E n d e d e r z w e itä g ig e n I n t e r n a t io n a len K o n fe re n z . U m 16.30 U h r fü h r te die H e b a m m e u n d K u ltu r w i s s e n s c h a f t lerin C h ris tin e L o y tv e d aus L ü b e c k d u rc h die G ö tti n g e r g e b u rt s h il fl ic h e S a m m l u n g d e r A b te il u n g E th ik u nd G e s c h ic h t e d e r M e d i z in in d e r H u m b o ld t - A ll e e 36. H i e r k o n n te ein n a c h g e b a u t e r h is to r i s c h e r G e b ä rs t u h l e b e n s o b e w u n d e r t w erd en w ie die Z an g e n - und In s tru m e n te n sa m m iu n g des legendären fo rz epsfreud ig en G eburtshelfers Friedrich B e n ja m in Osiander. A b g e ru n d e t w u rd e die au ßerordentlich g elun gen e Tagung von den zwei aben dlichen F est vorträgen d e r O rganisatoren in d er A u la der U niversität. Jürgen S ch lu m b o h m sprach z um T hem a: L eh ran stalt fü r G e bu rtshe lfer und H e b a m m e n , Z u flu c h t für S ch w ang ere: Vom vielfältigen G eb rau ch des G öttin g er A cc ou ch ierh ause s, und C l a u d i a W ie s e m a n n zu: G e b u r t in b e w e g te n Z e ite n . D e r a n s c h l ie ß e n d e E m p f a n g w u r d e m u s ik a lis c h u m r a h m t m it „ W e i b e r m u s i k “ , e in e D a r b ie t u n g au s W e rk e n vo n K o m p o n is ti n n e n au s drei Ja h r h u n d e rte n . M a r ita M e t z - B e c k e r 20 0 2 , H e ft 1 C h ro n ik d e r V o lkskunde 53 „Qualitätsstandards im M useumsbereich I I “ Tagung des Ö sterreichischen N ationalkom itees von ICOM in Salzburg am 12. und 13. N ovem ber 2001 D a s vo n I C O M - Ö N K (I n te rn a tio n a le r M u s e u m s r a t - Ö s te r r e ic h i s c h e s N a tio n a lk o m it e e ) v e ra n s ta lte te S e m i n a r v e rs a m m e lte z u m z w e ite n M al F a c h k o lle g /in n /e n aus m e h r e re n B u n d e s lä n d e r n , um sich d e m b risa n te n T h e m a „ Q u a l i t ä t s s t a n d a r d s im M u s e u m s b e r e i c h “ zu w id m e n . G ü n t h e r D e m b s k i , d e r P r ä s id e n t v o n I C O M Ö ste rre ic h , b eric h te te ü b e r das e rs te T reffen zu d ie s e m T h e m a ( H e r b s t 2 0 0 0 in S p itta l/D ra u ), w o b e s c h lo s s e n w o rd e n war, M i n d e s ts ta n d a r d s f ü r M u s e e n zu fo r m u lie re n , die in m a n c h e n B u n d e s l ä n d e rn w ie K ä r n te n u n d N ie d e rö s te rr e ic h z u m i n d e s t te i lw e is e b ereits e x is ti e ren. D ie s e K ritie rie n sollen e in erseits den B e s u c h e r / in n e n - in F o r m e in es M u s e u m s g ü t e s i e g e l s - als „ K o n s u m e n t e n s c h u t z “ , a n d e re r s e its d en M u s e e n u n d S a m m l u n g e n se lb st (bzw. den S u b v e n ti o n s g e b e r n ) als A rb e its - und A r g u m e n t a ti o n s r i c h tl in i e n dien en. A ls E rg e b n is s e d e r v o ra n g e g a n g e n e n T ag u n g w e r d e n u.a. f o l g e n d e Vor a u s s e tz u n g e n f ü r d ie In s ta llie r u n g v on Q u a litä ts s ta n d a r d s a n g e fü h rt: • D ie S t a n d a r d s w e rd e n , a u s g e h e n d von d e r I C O M - M u s e u m s d e f i n i t i o n (sie h e u n te r w w w .ic o m - d e u ts c h la n d .d e ./ k o d e x .h tm ) , so fo r m u lie rt, dass a u c h k le in e I n s titu tio n e n die C h a n c e h ab en , ih nen zu e n ts p re c h e n . • K le in e M u s e e n u n d S a m m lu n g e n sollen b ereits im V orfeld g e fö r d e rt w e rd e n , d a m i t sie den f ü r S u b v e n ti o n e n bzw. G ü te s i e g e l g efo r d e rte n S ta n d a r d ü b e r h a u p t err e ic h e n kö n n en . ® In d e r F o lg e w e rd e n n u r d ie nach d iesen K riterie n a n e r k a n n t e n M u s e e n u nd S a m m l u n g e n u n te r d e r I n t e rn e t -D o m a in „ . m u s e u m “ v e rz e i c h n e t w e rd e n . E in w i c h ti g e r S c h ritt in d ies e R ic h t u n g ist die V e re in h e itlic h u n g d e r I n t e r n e t a d r e s s e n d e r e in z e ln e n M u s e e n (z.B. L a n d e s m u s e e n ) . A ls e rs te r R e d n e r b e ric h te te B e rn h a rd G r a f v o m In s titu t fü r M u s e u m s k u n d e in B e rlin a u s f ü h rlic h ü b e r d ie S itu atio n in H in b li c k a u f M u s e u m s k r ite r ie n in D e u ts c h l a n d , w o ru n d 6 .5 0 0 M u s e e n fast z u r H ä lfte e h re n a m tl ic h b e tr ie b e n w e r d e n und' fo lg lic h a u ch k a u m w is s e n s c h a ftlic h e F o r s c h u n g stattfin det. D a d ie M u s e e n A n g e le g e n h e i t d e r L ä n d e r sind, ist d ie K u l t u s m i n i s t e r k o n f e re n z f ü r d eren B e la n g e z u stä n d ig ; d ie d a f ü r e x is tie re n d e n sc h riftlic h e n E m p f e h l u n g e n sin d w e itg e h e n d u n b e k a n n t u n d fo lg lich au ch u n b e r ü c k s ic h tigt. A b g e s e h e n v on re g io n a le n a u s f o rm u lie r te n S ta n d a r d s w ie d en „ L e i t l i n ie n f ü r d ie M u s e e n in W e s t f a l e n - L ip p e “ ist m a n in D e u ts c h l a n d (w ie auch in Ö s te r re ic h ) n o ch w e it e n tf e rn t von e in e r e in h e itlic h e n M u s e u m s g e s e t z g e bung. 54 C h ro n ik d e r V olkskunde Ö Z V L V I/105 In K ä rn te n h i n g e g e n gib t es seit 1998 ein P il o tp r o je k t z u m T h e m a M u s e u m s a k k r e d i t i e r u n g , w ie H a r tm u t P ra s c h (M u s e u m fü r V olkskultur, S p itta l/D ra u ) be ric h te te . D a s „ K ä r n t n e r M u s e u m s g ü t e s i e g e l “ soll als S e lb s t c h e c k in allen B e re ic h e n d e r M u s e u m s a r b e it d ie Q u a lit ä t d e rs e lb e n v e r b e s sern, p r o j e k to r i e n ti e r t e F ö r d e r u n g un d B e ra tu n g d u rc h E x p e r te n e r m ö g l i c h e n , ein Q u a litä ts s ig n a l fü r B e s u c h e r / in n e n s o w ie e in e E n t s c h e i d u n g s g r u n d l a g e f ü r F ö r d e r u n g e n un d S p o n s o r e n d ars tellen . N a c h a n fä n g l ic h e n z a h l- u n d e r f o lg r e i c h e n B e m ü h u n g e n (1998: 34 B e w e r b u n g e n , 13 G ü t e s i e gel v e rg e b e n ) k o n n te im fo lg e n d e n J a h r kein G ü te s ie g e l v e rg e b e n w e r d e n (bei 14 B e w e r b u n g e n ) , d a von S eiten d e r M u s e e n k a u m In itia tiv e n z u r Q u a lit ä ts s te i g e r u n g e r k e n n b a r w are n . Im J a h r 2 0 0 0 e rh ie lte n sc h lie ß lic h 3 v on 16 B e w e r b e r n ein G ü te sie g e l. G ü n t e r D ü rie g l, G e n e r a ld i r e k t o r d e r M u s e e n d e r S ta d t W ie n , g in g in se in e m R e f e r a t a u f die Ä n d e r u n g e n ein, die sich m it d e r A u s g li e d e r u n g d e r W i e n e r M u s e e n (H is to ris c h e s M u s e u m , 19 A u ß e n s te lle n = B e z ir k s m u s e e n , U h re n -, P rater- u nd S c h u b e r t m u s e u m s o w ie d iv e rse G e d e n k s tä t te n , A u s g r a b u n g e n u n d die H e rm e s v ill a ) erg eben : D e r k a u f m ä n n is c h e L e ite r w ird d em D ir e k t o r u n te r s te h e n , d ie s e r a rb e ite t g e m e i n s a m m it d e m C h e f-K u ra to r, w e lc h e r d e m w is s e n s c h a ftlic h e n G re m iu m , b e s t e h e n d aus d e n M u s e u m s K u ra to r /in n / e n , v o rs te h t. In sein en te ilw e is e g e ra d e z u e m o t io n a l e n A u s f ü h ru n g e n s p r a c h D ü rie g l von d e r g ro ß e n B e d e u tu n g des O rig in a ls , a ls o des O b je k te s , u m d as h e ru m alle A n s tr e n g u n g e n zu g ru p p i e re n seien. F ü r ihn k o m m t n a c h d e m w is s e n s c h a ftlic h e n Z u g a n g g leich d e r e m o t io n a l e . Sein „ L o b d e r R u m p e l k a m m e r “ e n ts p ric h t e in em P lä d o y e r f ü r d ie S t u d i e n s a m m lu n g, d ie B e s ta n d te il ein es j e d e n (g r ö ß e re n ) M u s e u m s sein so llte, w o die M ö g l ic h k e i t g e b o te n sein soll, ta tsäch lich zu stu d ie re n , zu a rb eiten . In d e r n a c h f o l g e n d e n D is k u s s io n w u rd e n b ereits g r u n d l e g e n d e M a ß n a h m e n b e z ü g lic h d e r V o r g e h e n sw e ise b e sc h lo sse n : D a s g e s a m tö s t e r r e ic h is c h e M u s e u m s g ü t e s ie g e l soll von IC O M - Ö s te r r e ic h un d d e m Ö s te r r e ic h i c h e n M u s e u m s b u n d g e m e i n s a m v e rg e b e n w e rd e n , w o b ei n atü r lic h d e r W u n s c h n a c h A k z e p t a n z d u rc h d ie L ä n d e r be ste h t bzw. v o r a llem in Z u s a m m e n h a n g m it F ö r d e r u n g e n als n o t w e n d ig e ra c h te t w ird. A ls V orbild f ü r die M u s e u m s s t a n d a r d s w u rd e n die K rite rie n d e r n i e d e r lä n d i s c h e n S tiftu n g für M u s e u m s r e g i s t r i e r u n g v o rg e s c h la g e n u n d a n g e n o m m e n . D a b e i h a n d e lt es sich um ein S y s te m , bei d e m M u s e e n e in e R e g is t r i e r u n g e rla n g e n k ö n n e n , e in e v o rlä u fig e R e g is t r i e r u n g erfa hre n o d e r e in e A b l e h n u n g e rh a lten . Vor allem d ie v o rl ä u fig e A u f n a h m e w ird als b e s o n d e r s w ic h ti g a n g e s e h e n , um B e m ü h u n g e n im M u s e u m s b e r e ic h zu h o n o ri e re n un d d ie B e te ilig te n zu w e ite r e n A n s tr e n g u n g e n in R ic h t u n g e in e r v o lls tä n d ig e n A n e r k e n n u n g zu m o tiv ie re n . D a s ö ste rre ic h is c h e G ü te sie g e l k ö n n te (u n d so llte) a uch als G ru n d la g e f ü r d ie ste u e rlic h e A b s e tz b a r k e it von S p e n d e n fu n g ie re n . 2 0 0 2 , H e ft 1 C h ro n ik d e r V o lkskunde 55 B e im a n s c h l ie ß e n d e n A b e n d e m p f a n g w a r e in m al m e h r d e r E n th u s i a s m u s d e r T e iln e h m e r / in n e n zu b e m e r k e n , d ie es sich n ic h t n e h m e n lie ß e n , in d e r g e m ü t li c h e n A t m o s p h ä r e des P e te r s b ru n n h o f e s w e ite r zu d is k u tie re n . A m zw eite n Tag präsentierten - anstelle des Beitrages von Brigitte B ö c k vom B u n d esm in is teriu m fü r W issenschaft, B ildu ng und Kultur, die aus term inlichen G rü n d en absagen m usste - R ein hard B achleitn er und M artin W eic hb old vom Institut fü r K u ltursoziologie d er U niversität Salzburg ein T erm inal mit T ou ch screen sam t z u g eh örig er Softw are fü r P u b lik um sbefra gu ng en in M u s e e n und A usstellun gen . D ie Vorteile dieser B efragungsart liegen in den g ünstigen K o sten bei ge rin g em A u fw a n d (im Vergleich zu r In terv ie w m eth od e), in einer hohen Flexibilität (d y n am isch e r Fragebogen), in der einfachen H a n d h a b u n g des G eräts (n ur B ild schirm oh ne Tastatur und M aus), die w ied eru m die H e m m schw ellen vo r allem von älteren Leuten abbauen hilft, sow ie in d er raschen A u sw e r tu n g (E rgebnisse jed erze it abrufbar, Exportschnittstelle vorhanden). D a g m a r B ittric h e r, M u s e u m s r e f e r e n t in d e r S a lz b u r g e r V olkskultur, e r l ä u terte - q u a si als H a u s h e rrin - d ie S itu atio n d e r „ k l e i n e n “ M u s e e n und S a m m l u n g e n im L a n d S alzb u rg : D e r L a n d e s v e r b a n d S a lz b u r g e r V o lk sk u ltu r u m f a ß t a u c h d en A rb e its k re is M u s e e n ; d ie s e r bietet B e ra tu n g , ein e ig e n e s S y s t e m f ü r I n v e n t a r i s ie r u n g und M u s e u m s v e r w a l tu n g s o w ie e in e n R e s t a u rator, d e r allen M u s e e n zu r Verfügung steht. D ie Stelle fü hrt be ispielsw eise eine Statistik darüber, w ieviel A rbeit ehrenam tlich geleistet wird, in de m ein fiktiver S tu nd ensa tz von 200,- ATS fü r „ F a c h k rä f te “ und 100 ATS für „ H ilf s k rä f te “ a n g e n o m m e n wird. D iese Statistik dient vor allem dem L an d g e g e n ü b e r als a u s s a g e k r ä f t ig e A r g u m e n t a ti o n s h il f e bei S u b v e n ti o n s a n s u c h e n . B ei d e r a n s c h l ie ß e n d e n D is k u s s io n w u rd e n d ie n ach n ie d e r lä n d i s c h e m bzw. K ä r n tn e r V orbild v e rw e n d e te n K riterie n w e ite r fo r m u lie rt, p rä z isie rt bzw . e rw e ite rt. M a n e in ig te sich d arau f, das G ü te s ie g e l, d a s in F o r m e in e r P la k e tte b e im E i n g a n g d es je w e il ig e n M u s e u m s a n g e b r a c h t w e r d e n soll, ze itlich zu b e s c h r ä n k e n u n d d ies e G ü tli g k e it s d a u e r a u c h a u f d e r P la k e tte zu v e rm e rk e n . D ie s d ie n t w ie d e ru m als A n re iz fü r d ie M u s e u m s b e t r e ib e r , w e ite r an d e r Q u a litä t ih rer In s titu tio n zu arb eiten und d a d u rc h als „ K o n s u m e n t e n s c h u t z “ fü r d ie B e s u c h e r/in n e n . D ie g e n a u e n R ic h tlin ie n f ü r ein ö s t e r r e i c h is c h e s M u s e u m s g ü t e s i e g e l w e r d e n nu n I C O M - Ö s te r r e ic h und d e m Ö s te r r e ic h i s c h e n M u s e u m s b u n d in d eren G e n e r a l v e r s a m m l u n g v o r g e le gt u nd d a n a c h e n t s p r e c h e n d p u b lik g e m a c h t w e rd e n . A b s c h li e ß e n d ist zu b e m e r k e n , d ass w oh l k a u m ein e M u s e u m s t a g u n g d e ra r t f a m il iä r u n d da bei tr o tz d e m (o d e r g e ra d e d e s h a lb ? ) e ff iz ie n t und k o m p e t e n t - n o c h d a z u bei e in e m solch w ic h tig e n u n d k o m p l e x e n T h e m a verlief, w ie d ie s e s I C O M - Ö N K Ö s te r r e ic h - S e m i n a r 2001 in S alz b u rg . V e ro n ik a P l ö c k i n g e r 56 C h ro n ik d e r V olkskunde Ö Z V L V I/105 Texts of Testimony: Autobiography, Life-Story Narratives and the Public Sphere 2 3 .-2 5 . A ugust 2001, Research C entre for L iterature and C ultural History, Liverpool John M oores U niversity F ü n f S tu d e n t in n e n in T ag u n g s-T -S h irts stan d en bereit, um d e n T e il n e h m e r in n e n d e n W eg d u rc h das D ean W alters B u il d in g m it sein en v e rw ir re n d v e r w in k e l te n G ä n g e n , u n z ä h lig e n k le in e n T re p p e n un d D u r c h g ä n g e n zu w eisen . D en . e f f e k ti v s te n 1 W eg d u rch das M o n s t e r p r o g r a m m d e r B io g ra p h ie f o r s c h u n g s - K o n f e r e n z „ T e x ts o f T estim o n y : A u to b io g r a p h y , L ife - S to ry N a rra tiv e s an d th e P u b lic S p h e r e “ zu fin d e n , b lieb e in e m fr e ilic h selb st ü b e rla sse n . Z w i s c h e n d en P le n a r v o rtr ä g e n m o r g e n s u n d a b e n d s, z w is c h e n 10.30 u n d 1 8.0 0 U hr, w u rd e n z w e ie in h a lb T age la n g v ie r bis f ü n f R ä u m e ,b e s p i e l t “. I n s g e s a m t sta n d e n ru n d 105 B e iträ g e a u f d e m P r o g r a m m . D ie V e ra n sta ltu n g w a r m it se h r viel B e d a c h t o rg a n is ie r t w o r d e n ; m a n c h m al k a m es a u f g r u n d in te n s iv s te m T e c h n ik e in s a tz e s zu V e rz ö g e ru n g e n , a n s o n s te n fu n k t io n i e r te alles perfek t. Z u r g u ten A t m o s p h ä r e tru g e n K a f f e e p a u se n un d e n g li s c h e lu n c h e s zu M itta g bei - die T e i l n e h m e r i n n e n v e r b r a c h ten die P a u s e n z u s a m m e n u n d so b e s ta n d a u s r e ic h e n d G e le g e n h e i t z u m so w ic h tig e n in f o rm e lle n K o n ta k t. D ie L e u te k a m e n aus u n te r s c h ie d lic h s te n B e re ic h e n , e in e B a n d b re ite , d ie das m ittle r w e ile s e h r w eite F e ld d e r B i o g r a p h i e f o r s c h u n g ch a ra k te risie rt. D ie E i n l a d u n g s p o li ti k o rie n tie rte sich n ic h t a u s s c h lie ß l ic h an . g r o ß e n “ N a m e n , w a s zu sä tz lic h fü r B u n th e it so rg te. E in en ä h n lic h e n E ffe k t h atte die in te rn a tio n a le Z u s a m m e n s e t z u n g - W i s s e n s c h a f tl e i in n e n au s N o r d a m e r ik a , A u stra lie n , E u r o p a (F in n la n d , Italien, D e u t s c h land usw.) trafen m it ihren F o rs c h u n g s tr a d itio n e n , m it ih r e m V e rstän dn is von B i o g r a p h i e f o r s c h u n g a u feinan de r. J e w e ils z w e i bis drei R e fe ra te w u rd e n um ein T h e m a g r u p p i e r t u nd u n te r e in e n Ü b ertitel gestellt, m a n c h e d ie s e r Titel - e tw a „ A r t i f i c e a n d A u th e n ticity in W o m e n ’s W ri ti n g “ o d e r „ N a r r a t iv e s o f Illn ess a n d D y i n g “ - keh rten m e h r fa c h w i e d e r u n d z o g e n sich w ie rote F ä d e n d u rc h das ü b e rr e ic h e A n g e b o t. D ie D is k u s s io n s z e it w a r m it k n a p p e n z e h n M i n u te n p ro B e itra g k n a p p b e m e s s e n - o b w o h l d ie S ti m m u n g g e n e re ll f r e u n d lic h u n d e n ts p a n n t w a r u n d d a s I n te re s s e g ro ß, k o n n te n k a u m G e s p r ä c h e z u s t a n d e k o m m e n ; n a c h ersten a ll g e m e i n e n N a c h f r a g e n w a r d ie Z e it stets s c h o n w i e d e r um. Z u d e m , e in z ig e s o rg a n is a to r is c h e s M a n k o , h atte m a n k e in e M o d e r a tio n e in g e p la n t. D ie V ielfalt d e r B e it r ä g e m it u n te r s c h ie d lic h e n Z u g ä n g e n , th e o r e tis c h e n A n s ä tz e n u n d Z ie le n , au s v e rs c h ie d e n e n G e g e n s ta n d s - u n d F a c h b e r e i c h e n e rg a b ein G e w e b e m it l e b e n d i g e r Struk tur: L e b e n s g e s c h i c h te b ild e te die 20 0 2 , H e ft 1 C h ro n ik d e r V o lk sk u n d e 57 K e tte, d e n S c h u s s F o to g r a fie , G raffiti, A u to b io g r a p h ie , B i o g r a p h i e , B e l l e tristik, F a m i li e n g e s c h i c h te , M a le re i etc. - M u s te r a lle rd in g s w a re n w e n i g e r z u e r k e n n e n u n d m a n c h m a l w irk te d e r S to f f arg z e rfle d d e rt. Z a h lre ic h e R e f e r e n t l n n e n a rb eite ten ih rerseits m it v ie lfä ltig e m M a te ria l - b e z o g e n v i su elle Q u e lle n ein u n d M u s ik s t ü c k e , K u n s tw e rk e , F o to s u n d T ex te u n te r s c h ie d li c h s te r G e n r e s (T ag ebüch er, B riefe, P re s s e usw.), m is c h te n H is t o r i s c h e s u n d R e z e n te s . Ü b e r die P rä s en tatio n d es r e ic h e n M a t e r ia ls a b e r k a m b is w e ile n K o n t e x tu a l is ie r u n g zu k u rz und b lieb en A n a ly s e n au s ( - w o a b e r a u c h a n f a n g e n bzw . e n d e n ? ). A u s d e r K o m b in a t io n a ller Q u e lle n , F u n d s tü c k e u n d B e z ie h u n g s n e tz e erg ib t sich a u f j e d e n Fall ein fa r b ig e s , v ie l s c h ic h tig e s u n d in te re ss a n te s B ild - ist das A u s s a g e g e n u g ? Ü b e r r a s c h e n d v ie le B e iträ g e w a ren d e r S e lb s tb i o g r a p h is ie r u n g g e w i d m et; o f f e n b a r b e s ta n d e n k a u m H e m m u n g e n , d ie e ig e n e K in d h e it, d ie p e r s ö n l ic h e L e b e n s g e s c h i c h te o d e r je n e d e r M u tter, G r o ß m u t t e r o d e r des Vaters in d ie s e m R a h m e n zu p rä s e n tie re n . H ie r v e r s c h w a m m e n o ft die E b e n e n d ie A r b e it m i t (A u to - ) B io g r a p h i e n als Q u e lle u n d A u t o b i o g r a p h is i e r e n g in gen d a n n in- u n d d u rc h e in a n d e r. D iese F o rm d e r e ig e n e n G e s c h ic h t s - u nd P r o b l e m a u f a r b e i t u n g w a r m a n c h m a l b e fr e m d lic h , a uch u n a n g e n e h m b e r ü h rend. In te r e s s a n t ist, zu b e o b a c h te n , a u f w e lc h e L e b e n s p h a s e n B i o g r a p h i e f o r s c h u n g b e v o r z u g t A n w e n d u n g findet: H ie r lage n die S c h w e r p u n k t e bei K in d h e it u n d A lter. V e rh ä ltn ism ä ß ig selten g in g es um A llt a g e un d A l lt ä g li ch es, v ie l m e h r u m b e s o n d e r e E re ig n is s e o d e r h is to ris c h e P h a s e n , um b e s o n d e re P e rs o n e n g r u p p e n , p o litisc h e A k te u r l n n e n , K ü n s tl e r in n e n etc. T h e m a tisch stan d t r a u m a t is c h e s E rle b e n im Z e n tru m : E v a k u i e r u n g o d e r Exil, p o li ti s c h e V erfo lg u n g , H o lo c a u s t, G e s c h ic h te n v o n Ü b e r le b e n d e n , V erlust e rf a h r u n g e n , D e p re s s io n . I m m e r w i e d e r w u r d e b eton t, d ass m an k e in e g ro ß e n N a r r a t io n e n a n streb e; a b e r die k le in e n N a rra tio n e n k a m e n h ä u fig w ie g ro ß e daher. R e f le x i o n e n zu M e t h o d ik , Z u g a n g , F o rs c h u n g s p r o z e s s etc. w u rd e n n u r v e r e i n z e lt e x p liz it a n g e s te llt - w e n n , d a n n s e h r sorg fältig u nd d u rc h d a c h t. D ie V orträge w aren in ih rer Q u a litä t r e c h t u n te r s c h ie d lic h , je d e n f a ll s in te r e s s a n t - g ro ß te ils n ic h t b e s o n d e r s th eo rielastig , g e n d e r stellt a u ch h ie r n o c h n ic h t e in e s e lb s tv e r s tä n d lic h e K a te g o rie dar; g ro ß e A u s n a h m e n b i l d e ten d ie s b e z ü g li c h die P le n a r v o rtr ä g e von Paul T h o m p s o n ( „ P r e p a r i n g fo r the P u b lic S p h e re : W o m e n an d M e n in C h il d - r e a r in g “ ) u n d A le s s a n d ro P o rtelli ( „ M e m o r i e s o f V io lence: R o m a n P a rtisa n s an d th e E x p e r ie n c e o f R e s i s t a n c e “ ). In d en e in s c h lä g ig e n , d u rch d en Ü b e rtite l ir g e n d w i e als gend e r- o rie n tie r t id e n tif iz ie rb a re n S ek tio n e n w a r die A n z a h l d e r ( m ä n n li c h e n ) Z u h ö r e r a u ff a lle n d g erin g. D ie B e it r ä g e k ö n n e n n ic h t im E in z e ln e n b e s p r o c h e n w e rd e n , ich m ö c h te n u r e in i g e w e n ig e , b e s o n d e r s b e e in d r u c k e n d e h e ra u s g re if e n . Z u m E in stie g 58 C h ro n ik d e r V o lkskunde Ö Z V L V I/105 sp ra c h N a n c y M i ll e r a us N e w York im P le n u m ü b e r g e g e n w ä r ti g e E r i n n e r u n g s f o r m e n z u m V ie tn a m k rie g . K o n z e n trie rt a u f z w e i b e r ü h m te , q uasi ö ff e n tlic h e s G u t g e w o r d e n e F o to s von K im F u k (das M ä d c h e n lä u ft n a c k t n a c h e in e m N a p a l m A n g r if f a u f ih r D o r f d a v o n ; als e r w a c h s e n e F ra u p o sie rt sie m it ih r e m B a b y im A rm , ih r v e rn a r b te r v e r b r a n n te r R ü c k e n ist zu seh en ) erlä u te rte M iller, w ie d ie ö ffe n tlic h e E rin n e r u n g (an ein n a tio n a le s T r a u m a d e r U S A ) v o n e in e m V e rsö h n u n g s-N a rra tiv , zu d e ss e n w i c h ti g s t e r P r o t a g o n istin sie K im F u k erklärt, v e rd r ä n g t w ird. G ro ß e n E in d r u c k h a b e n a u c h die A rb e it e n zu L e b e n s g e s c h i c h te n u n te r k o m m u n is ti s c h e n R e g im e s h in t e r l a s sen: P e ta r V o d e n ic h a ro v ( B la g o e v g r a d ) un d V olk er D e p k a t (G re ifs w a ld ), K ris tin a P o p o v a (B la g o e v g r a d ), D a n ie la K o le v a (S ofia), a u c h J a m e s M a r k (O x fo rd ) m it ih ren B e iträ g e n sind zu n en n e n . G e fra g t w u r d e n a c h d e r B e d e u tu n g u n d d en F u n k ti o n e n von A u to b io g r a p h ie n fü r k o m m u n is ti s c h e S ta a te n in d ere n u n te r s c h ie d lic h e n h is to risc h e n P h a se n bzw. n ac h d e r E i n fl u s s n a h m e des S ta a te s a u f A u to b io g r a p h ln n e n , a u f d e re n R e k o n s tr u k ti o n vo n G e s c h ic h te . G r o ß e s A u g e n m e r k legten die g e n a n n te n H is t o r ik e r in n e n je w e i l s a u f die E n ts t e h u n g s z u s a m m e n h ä n g e l e b e n s g e s c h i c h tli c h e r Texte (au ch In te rv ie w s etc.) un d in terp re tierten sie als E rg e b n is vo n I n te ra k tio n e n . D e r W ert d ie s e r Q u e lle n , das ist aus d iesen R e fe ra te n d e u tlic h g e w o r d e n , h ä n g t w e n i g e r v o n ih n e n selbst, d e n n von d e r A rt d es L e s e n s ab. E rs t a u n li c h e Z u s a m m e n h ä n g e erg a b e n sich m i t e in ig e n P rä s e n ta tio n e n au s d e m s k a n d i n a v is c h e n B e re ic h . A u c h dort, e tw a in F in n l a n d u n d S c h w e d e n , w ird im R a h m e n v on M i n d e r h e it e n p r o g r a m m e n d as V erfassen u n d S a m m e ln von A u to b io g r a p h ie n v on sta a tlic h e r Seite h e r g e fö r d e rt (das setz ten u.a. B e it r ä g e v o n K ristin M a t ts s o n un d P a u liin a L a tv a la a u se in a n d e r). N ic o le M a t th e w s (L iv e r p o o l) un d R e n e e S gro i (T o ro n to ) b o te n A n a ly s e n zu I n t im it ä t u n d Ö ffe n tlic h k e it im TV. O ffen und u n b e f a n g e n d ie e in e, e h e r g e tr a g e n v on K u ltu r p e s s i m i s m u s die and ere, d is k u tie rte n d ie b e id e n W is se n sc h a f tle rin n e n a n h a n d e in s c h lä g ig e r F e rn s e h p r o g r a m m e d ie n e u e n B e k e n n t n is f o r m e n w e s tl ic h e r K u ltu r e n in d ie s e m M e d i u m u n d w ie s e n d a b e i a u f das E n ts te h e n n e u e r ö ff e n tlic h e r R ä u m e hin, a u f d ie R o lle d e r Ö ffe n t lic h k e it als B e ic h t v a te r o d e r a u f d as P h ä n o m e n , das G e w ö h n l ic h e v e rs tä rk t als A ttr a k tion w a h r z u n e h m e n . M a tth e w s b e to n te d as e m a n z ip a to r is c h e (,das P riv a te ist p o l i t i s c h 1) u n d d e m o k r a ti e f ö r d e r n d e Po ten tial d ie s e r n e u e n F o rm e n , w ä h r e n d S g ro i v o r d e n d a h in t e rs t e h e n d e n Id e o lo g ie n w a rn te , v o m ,T e rro r d e r I n t i m i t ä t 1 sp ra ch u n d d a r a u f bestan d, dass B e k e n n e n n ic h t u n b e d in g t frei (er) m a c h e . N a c h h a lt ig in E r in n e r u n g g e b lie b e n ist d e r bereits e r w ä h n te V ortrag Paul T h o m p s o n s (E s s e x ) Uber F ra u e n u n d M ä n n e r in d e r K in d e r e r z i e h u n g . T h o m p s o n , d e r s c h o n in de n 1 9 7 0 er Ja h ren fü r b i o g r a p h is c h e M e t h o d e n ein trat, b ra c h te B e is p i e le aus v e rs c h ie d e n e n O ral H i s t o r y - F o r s c h u n g s p r o - 2 0 0 2 , H e ft 1 C h ro n ik d e r V olkskunde 59 j e k t e n , an d e n e n e r sein e T h e s e fe s tm a c h te , w o n a c h F a m i li e n f o r m e n un d W e g e d e r K in d e r e r z ie h u n g u n m itte lb a r r e l e v a n t sin d fü r v iele g e s e l ls c h a f t lich e B e re ic h e , u n te r a n d e r e m das W ir tsc h a fts le b e n . D a m i t v e r k n ü p f t e r z ä h l te e r v o n d e n A u s w i r k u n g e n d ie s e r F o rs c h u n g e n a u f sein e e ig e n e F a m ilie un d v o n s e in e r p e r s ö n lic h e n w iss e n s c h a ftlic h e n E n tw ic k l u n g , d ie ihn w e g v o n g ro ß e n u n iv e r s a li s t is c h e n T h e o rie n hin zu M i k r o a n s ä t z e n g e f ü h r t hat. A u sg e h e n d von W alter B enjam ins These, dass die E rin n eru n g zeitlich und perfo rm ativ un d d a m it ein T h eater ist und w en ig er ein Instru m e nt die Vergan gen heit zu erforschen, befasste sich die K unsthistorikerin G riseld a Pollock (Leeds) m it B ildern, M u s ik und Texten aus dem L eben C h arlotte S alo m o n s, um zu zeigen, w ie die Künstlerin ihre Fam iliengeschichte, die jü d isc h e H erkunft und po litische Verfolgung, die S elbstm ord e m eh rerer Frauen ihrer F am ilie etc. in de m B ild erzy klu s „ D a s L eben ein T h eater“ verarbeitete. U n t e r d e m S c h w e r p u n k t „ S ic h t b a r m a c h e n von Id e n t it ä te n “ stellte D e e H e d d o n (T h e a t e r w i s s e n s c h a f tl e r i n in E x e te r) ein „ A u t o t o p o g r a p h y “ -E x p e ri m e n t vor. A rc h ä o lo g i e , T o p o g ra p h ie u n d A u to b io g r a p h ie k o m b i n ie r e n d ga b H e d d o n m i t ih r e r p e r f o r m a n c e (sie v e rs te h t sich als W is s e n s c h a f tl e rin u n d K ü n s tl e r in ) E in b l ic k in ih r L e b e n als le s b isc h e F ra u in d e r ih r fr e m d e n , to u r is tis c h g e p r ä g t e n K le in s ta d t D e v o n . D ie s e In s z e n ie r u n g vo n h o m o p h o ben G ra ffitie s, P o s tk a rte n m it to u ristis c h e n Im a g e s , F r a g m e n te n e in e r L e b e n s g e s c h ic h t e u n d th e o r e tis c h e n E in s c h ü b e n fiel n ic h t u n te r die K a te g o rie d e r v o rh in e rw ä h n te n u n a n g e n e h m e n S e l b s tb i o g ra p h is ie ru n g e n . E b e n fa lls in d ie s e r T h e m e n g r u p p e fa n d sich Suki A li, S o z io lo g in in L o n d o n , d ie ein P ro j e k t p rä s e n tie rte , in d e m K in d e r aus e th n isch g e m i s c h t e n F a m ilie n , a u s g e s ta tt e t m i t e in f a c h e n F o to a p p a r a te n , ih r Z u h a u s e u nd ihre F a m ilie n a u f n e h m e n sollten. Ali sc h ä tz te d iesen V ersuch e in e r v is u e lle n S o z io lo g ie als g e s c h e ite r t ein, d ie K in der, so be ric h te te sie, w aren m it d en K a m e r a s nich t z u r e c h t g e k o m m e n - o ff e n b a r h atten sie n ic h t fo to g ra fie rt, w a s d ie W is se n s c h a f tle r ln n e n w o llten o d e r sich v o rg e s te llt hatten. D e n n o c h w u rd e n die B il d e r g e z e i g t u nd interp re tiert, letzteres o ff e n b a r o h n e E i n b e z u g d e ss e n , w a s d ie K i n d e r se lb st d a z u zu sa g en g e h a b t h ätten. M i th i lf e d e r B io g r a p h i e d e r G e s c h ä fts fra u u nd F e m i n is ti n A n n y H ä n d le r p lä d i e r t e Ir e n e B a n d h a u e r - S c h ö f f m a n n (L inz) dafür, K u ltu r in U n t e r n e h m e n s g e s c h i c h t e zu in te g rie re n , d a m i t w ä re n die m ä n n lic h d o m i n ie r te n N a r ra tiv e Uber U n t e r n e h m e r s c h a f t zu d e k o n s tru ie r e n u n d ö k o n o m i s c h e E r f a h r u n g e n v on F r a u e n zu a n a ly s ieren . Ih re detail- un d m a te ria lre ic h e S tu d ie de r S e lb s t- u n d F r e m d b i l d e r d e r erf o lg re ic h e n U n t e r n e h m e r i n w ie s u n te r a n d e r e m a u f de n g r o ß e n E in flu s s d e r S ch riften S c h u m p e t e rs a u f das ö ff e n tlic h e I m a g e W ir ts c h a f ts tr e i b e n d e r hin, a u f a ll g e m e i n e r e r E b e n e g in g es um die u n te r s c h ie d lic h e n N a rra tiv e u n d M u ster, die E r z ä h l e r in n e n un d E rz ä h le rn z u r V e rfü g u n g steh en . 60 C h ro n ik d e r V o lkskunde Ö Z V L V I/105 R e f le x i o n e n ü b e r d ie A rb e it an sein em B u c h „ I n the S h a d o w o f A S a in t“ stellte d e r J o u r n a lis t u nd H is to rik e r K en W iw a (T o ro nto ) an, p a ra lle l d azu b e ric h te te e r m i tr e iß e n d ü b e r V ersuche, das s c h w ie r ig e V erh ältnis zu se in e m Vater, d e m n ig e r ia n i s c h e n G e s c h ä f t s m a n n , A u to r u nd U m w e l t s c h ü t z e r K en S a ro - W iw a , a u f z u a r b e ite n ; e r ist 1995 von d e r M ili tä r r e g ie r u n g als p o liti s c h e r G e g n e r h in g e r ic h te t w o rd en . M i t ih r e r A n a ly s e e in e s a u to b io g ra p h is c h o rie n tie rte n R o m a n s von M eri N a n a A m a - D a n q u a h , e in e r aus G h a n a in die U S A e i n g e w a n d e r t e n S c h w a r zen, d e c k te L e s lie W in g a r d (L o s A n g e le s) M y t h e n ru n d u m ,die s c h w a rz e F r a u 1 a u f u n d b e s p r a c h d e re n g ra v ie re n d s te k u ltu re lle P r o b l e m e - E th n i z it ä t u n d G e s c h le c h t. Ä h n lic h e s e rg a b die A u s e in a n d e r s e tz u n g d e r L i t e r a t u r w i s s e n s c h a ftle rin K ish o ri N a y a k ( M a n g a lo re / W a rw ic k ) m it m u l ti k u lt u re ll e n A u to r i n n e n . S c h re ib e n b e d e u te t fü r je n e e in e M ö g l ic h k e i t, m i t ih r e n m u l t i p e rs p e k tiv i s c h e n Id e n titä te n fertig zu w e rd e n , m i t den u n fr e iw illig e n T ra n sg r e s s io n e n u n d T r a n s f o rm a t io n e n o d e r m it ih rer M a r g in a li s i e r u n g . S c h r e i b e n ist e in e S tr a te g ie zu ü b erleb en . D e n A b s c h lu s s d e r K o n fe re n z b ild e te d e r P le n a r v o r tr a g d e r H is to rik e r in C a r o ly n S t e e d m a n (W arw ick ). Sie su c h te n a c h v o r m o d e r n e n A u s g a n g s p u n k ten a u to b i o g r a p h i s c h e n S c h re ib e n s u nd b eton te, d a ss die G e s c h ic h t e des S e lb s t sich n ic h t m it d e r G e s c h ic h te des A u to b io g r a p h is i e r e n s d eck t. In den e r z w u n g e n e n L e b e n s g e s c h i c h te n d e r Ä rm s te n z.B ., zu P ro t o k o ll g e g e b e n bei d e r H e rrs c h a f t, um fin a n z ie lle U n te rs tü tz u n g zu e rw ir k e n , sieh t S te e d m a n e in e B a s is f ü r die a u to b i o g r a p h i s c h e n Ä u ß e r u n g e n a n d e r e r S c h ic h te n in a n d e re n L e b e n s z u s a m m e n h ä n g e n u nd spä teren Z e ite n . A u s f ü h r l i c h e r a rg u m e n tie r t sie d ies a n h a n d d e r n o s ta lg is c h -s e n tim e n ta le n , m ä n n l ic h - b ü r g e r l i c h e n B io g ra p h i e n d es 19. Ja h r h u n d e rts . M i t B e is p ie le n aus d e r B e lle tris tik m it d en G e s c h ic h t e n ü b e r M a r y W o o ls to n e c r a ft u n d M o ll F la n d e r s - w ies sie a u f den s o z ia le n G e b ra u c h e in e r literarisc h e n F o rm hin - d ie h ie r a rc h is c h w e it o b e n s t e h e n d e n G e s c h ic h t e n ü b e r b r i n g e r i n n e n b a u e n sich an d e n G e s c h ic h te n aus d e m E le n d a u f u n d tun n o c h d a z u ein g u te s W erk , in d e m sie d ie s e G e s c h ic h t e n ü b e rb r in g e n , den Ä rm s te n ein e S ti m m e g e b e n . U n s allen sc h lie ß lic h g a b C a ro ly n S te e d m a n e in e w ic h tig e F ra g e m i t a u f den W eg: W ie k ö n n e n w i r w ie d e r h e r a u s fin d e n aus d ie s e m ,A u to b io g r a p h is i e r e n ist g u t fü r d i c h 1. N i k o l a L a n g r e i te r Österreichische Zeitschrift fü r Volkskunde Band LVl/105. Wien 2002, 61 -9 5 L itera tu r der V olksku nde IN S T IT U T F Ü R E U R O PÄ IS C H E E T H N O L O G IE D E R U N IV E R S IT Ä T W I E N (H g.): Volkskultur und M oderne. E uropäische E th n o lo g ie zu r J a h r ta usendw ende. F e s ts c h rift fü r K o n r a d K ö stlin z u m 60. G e b u r ts ta g am 8. M ai 2 0 0 0 (= V e rö ffe n tlic h u n g e n des Instituts f ü r E u r o p ä is c h e E th n o l o g ie d e r U n iv e r s itä t W ie n , B d. 21). W ien , S e lb s tv e rla g d es Instituts, 2 0 0 0 , 4 4 6 S e i ten. D i e F e s t s c h ri ft f ü r K o n ra d K ö stlin v e re in ig t 27 B e it rä g e vo n K o lle g e n u nd K o lle g i n n e n aus e lf L ä n d e rn . D a s I n h a ltsv e r z e ic h n is o h n e U n te r g l ie d e r u n g s u g g e r ie r t z u n ä c h s t ein e lo s e R e ih u n g als Q u o d lib e t d e r G r a tu l a n te n . E rst m i t d e r ste tig e n L e k tü r e u nd d e m Versuch, e in e n roten F a d e n als L ä n g s s c h n itt d u rc h die E in z e l b e it rä g e zu sp a n n e n , w ird o ff e n s ic h tlic h , d a ss im b re ite n S p e k tr u m d e r A u fs ä tz e drei S c h w e r p u n k te a u s z u m a c h e n sind. Sie lie g e n a u f d e r E b e n e w i s s e n s c h a ft s g e s c h i c h tl ic h e r P ro s p e k tio n in F ra g e n n a c h d en A u s w i r k u n g e n d e r M o d e r n e a u f die sog. V olk sk ultur, in F ra g e n d e r k u ltu re lle n u n d e th n i s c h e n Id e n titä t s o w ie in e in z e ln e n F a lls tu d ie n . D ie R a h m e n b e d i n g u n g e n fü r d ie L e s e rs c h a ft sind so s t r a m m w ie d ie so lid e B in d u n g d es W erk es. W a n n auch im m e r m an das B u c h n ic h t fe s t in d e r H a n d hält, ist es b e streb t, z u z u k la p p e n , w ä h re n d das k o m p r im ie r t e L a y o u t v e r m u t lich z u m i n d e s t vo n den jü n g e r e n L esern und L e s e rin n e n , an o p tis c h e A n re iz e z u n e h m e n d g e w ö h n t, e in ig e s an K o n z e n tra tio n Uber d ie m e h r als 4 0 0 S eiten fo rd e rt. A b er: D u r c h h a lt e n w ird b eloh nt! D e n H e r a u s g e b e r n u n d H e ra u s g e b e ri n n e n d es In stitu tes, O l a f B o c k h o rn , Ilse E isp erg er, B e r n h a r d F u ch s, H a n s - J ö r g L ie b s c h e r, R e in h a rd Jo hler, G e rtr a u d L ie s e n f e ld , K la ra Löffler, H e r b e r t N ik it s c h u n d B e rn h a rd T sch o fen ist es g e lu n g e n , d a n k d e r V er k la m m e r u n g vo n „ V o lk s k u l tu r u nd M o d e r n e “ als P r o g r a m m , ein e F e s t sc h rift v o r z u l e g e n , in d e r sich die ein z e ln e n B e iträ g e zu e in e r a n r e g e n d s p a n n e n d e n B e s ta n d s a u f n a h m e d e r ,,E u ro p ä is c h e [n ] E t h n o l o g ie z u r J a h r t a u s e n d w e n d e “ z u s a m m e n g e f u n d e n h a b e n . Z u B e g in n d e r tite lw ü r d ig e n Z e i t e n w e n d e h ielt d e r J u b i la r in B a m b e r g e in en V ortrag g le ic h e n T itels w ie d e r se in e r F e stsc h rift, d ie w e n ig e M o n a t e sp ä te r e rs c h e in e n sollte. G e h a lte n aus A n la s s d e r V e ra b s c h ie d u n g von K lau s G u th aus d e m H o c h s c h u ld i e n s t, liegt e r in z w is c h e n in g e d ru c k t e r F o rm v o r u n d e rg ä n z t de n f a c h lic h e n D is k u r s s e i n e r F e s t s c h r i f t (B B V N F Jg. 2; 2 0 0 0 /2 , S. 6 3 - 7 2 ) . S e in e n A u s f ü h r u n g e n stellt K ö s tlin drei L e itg e d a n k e n z u r S eite: (1) V o lk s k u ltu r be- 62 L ite ra tu r d e r V o lkskunde Ö Z V L V I/105 s c h r e ib t den „ h is to r i s c h e n A llt a g “ d e r V ielen, lan g e b e v o r m an von K u ltu r g e s e l l s c h a f t s p r e c h e n k an n . (2) V o lk sk u ltu r b e g le ite t als „ b a s s o o s t i n a t o “ die M o d e r n is i e r u n g d e r G e se llsc h a ft. (3) D e r B e g rif f V o lk sk u ltu r g e h t m it E t h n is ie r u n g einh er, und, so fo lg e rt K ö stlin, V o lk sk u ltu ren w u r d e n im Z u g e d e r M o d e r n i s i e r u n g zu e in e m e n ts c h e id e n d e n D iff e r e n z ie r u n g s m e r k m a l . H e r m a n n B a u s i n g e r u n d W o lf g a n g B r ü c k n e r fu n d ie re n n u n als A u fta k t d as B e g rif fs f e ld vo n V o lk sk u ltu r u n d M o d e r n e . H erm ann B a u sin g er sieh t d e n E p o c h e n b e g r i f f „ M o d e r n e “ d u rc h den L e b e n sstil e in e r d u rc h M a s s e g e k e n n z e i c h n e te n G e s e ll s c h a ft de fin iert, e in e m L e b e n s s til, d e r sich f ü r das 19. J a h r h u n d e r t in d e r B ra u c h g e s c h i c h te d u rc h T ra n s f o r m a t io n e n m ittels d e r e n ts te h e n d e n V e re in s k u ltu r un d in d e r G e g e n w a r t in B e z u g a u f F e s t g e s ta l tu n g d u rc h F e s t iv a l is i e r u n g un d E v e n t- K u lt u r b e s c h r e ib e n lässt. W olfgang B rückn er setzt d e s h a lb V o lk sk u n d e k o n s e q u e n t p arallel z u r M o d e r n e und f o r d e rt ein e „ h is to r i s c h fu n d ie rte B e tra c h tu n g s w e is e k u lt u re l le r P h ä n o m e n e in G e s c h ic h t e u n d G e g e n w a r t “ als d as ih r e ig e n e A u f g a b e n f e l d . W olfgang K aschuba s ieh t die W is s e n s c h a f ts k u l tu r d a h in g e h e n d v e rä n d e r t, d a ss das im 19. J a h r h u n d e r t z u n ä c h s t o h n e d ie B e te ilig u n g e in e r z u s t ä n d ig e n W i s s e n sc h a f t e n ts ta n d e n e e th n o g r a p h is c h e W issen m it d e m m e t h o d is c h e n M ittel d e r D e k o n s tr u k tio n d e m F a c h n e u e ku ltu relle K o m p e t e n z g e b r a c h t habe. D ie s e m F ac h a b e r b e s c h e i n ig t B jarne S toklund ein d iv e r g ie r e n d e s S e lb s t v e rs tä n d n is , das sich in e in e r g le ic h s a m b a b y lo n i s c h e n S p r a c h v e r w i r r u n g d e r F a c h b e z e i c h n u n g e n z w isc h e n E th n o g ra p h ie , E th n o l o g ie u nd A n t h r o p o log ie w id e rs p ie g e lt; n ach w ie v o r seien in S k a n d in a v i e n E th n o l o g ie u nd F o lk l o ri s ti k zw ei v e rs c h ie d e n e G e g e n stä n d e . N ils A rvid B rin g éu s e rin n e rt h in g e g e n an f r ü h e L e h rs tu h lb e z e i c h n u n g e n , d ie d ie K o m p a r a t is t ik in den V o rd e rg ru n d g e r ü c k t h atten und sieh t heute, tro tz d es n o tw e n d ig e n , k o n te x tu e llen R a h m e n s d e r im T ren d lieg en d e n q u alitativ b e w e r te n d e n W is s e n schaft, d a ss d e r V ergleich fü r die E u r o p ä is c h e E th n o l o g ie n a c h w ie v o r eine sta rk e w is s e n s c h a f t lic h e O rie n t ie r u n g b e d eu te t. G e r a d e n e u e T h e m e n w ie d as d e r M i g r a ti o n fo r d e rn den in te rn a tio n a le n V ergleich h e ra u s . Es ist d an n n u r k o n s e q u e n t , w e n n Bo Lönnqvist, da das h e u te d if fe re n z ie rte V erstän d n is vo n K u ltu r alte Z i e l s e tz u n g e n in F ra g e stellt, d a n a c h frag t, w o d e n n e ig e n t lich die ,H e i m a t 1 des V o lk sk u n d lers sei. D o ch als W is s e n s c h a f tl e r h a b e m an k e in e n fe sten S ta n d o rt, s o n d e rn w e c h s e ln d e A u s b li c k e a u f das L e b e n in e in e m e m p i r i s c h e rf a h r b a r e n F eld , d as h e rm e n e u ti s c h - i n te r p r e ta t iv un d s e lb s tr e fle x iv z u e ra r b e ite n sei. In d ie s e m S p a n n u n g s b o g e n v o n F o r s c h e r p e r s ö n lic h k e it u n d F o r s c h u n g s e r g e b n i s steh t d e r B e it ra g vo n M a rtin Scharfe an e x p o n ie r te r Stelle. E r p lä d ie rt u n te r B e ru fu n g a u f S ig m u n d F re u d , G e o rg C h ris to p h L ic h t e n b e r g u.a. g eg en ein e M e t h o d e n g lä u b i g k e it , d a E r l ä u t e r u n g e n ü b e r das Z u s t a n d e k o m m e n d e r E rg e b n is s e F a k to r e n a n d e r e r A r t w ie die d e r k ö r p e r lic h e n u nd affektiven V o ra u sse tz u n g e n d e r w i s s e n s c h a ft lic h e n 2 0 0 2 , H e ft 1 L ite ra tu r d e r V o lk sk u n d e 63 A r b e it v e r d e c k e n w ü rd e n . W eitere B e iträ g e w id m e n sich E in z e l a s p e k te n d e r F a c h g e s c h i c h t e w ie d e rje n ig e vo n Tamâs H o fer , d e r m it de n A rb e ite n von Ä g o s to n T r e fo r t ( 1 8 1 7 - 1 8 8 8 ) zu r A n a ly s e d e r u n g a ri s c h e n G e s e ll s c h a f t eine n e u e F a c e tt e d e r W ir k u n g s g e s c h i c h te v o n W il h e lm H e in ri c h R ie h l e r schließt. K ai D etlev Sievers z eig t, dass die M o d e r n is i e r u n g d e r G e s e lls c h a ft B e v ö l k e r u n g s g r u p p e n w ie d ie d e r A r m e n ne u k o n s titu ie rt u n d sie als O b je k t d e r s o c ie ta s Christiana v o m m ittela lte rlic h e n H e ils p la n a ll m ä h l ic h in den S o z ia lp la n d e r M o d e r n e ü b e rf ü h rt hat. Z u r R e v is io n d e r W i s s e n s c h a f t s g e s c h ic h te ist a u c h d e r B e itra g von K onrad B edal zu z ä h le n , d e r die B a u f o r s c h u n g a u f d e m W e g d e r V erse lb stä n d ig u n g sieht, sie j e d o c h m it s p e z i fi sch en F ra g e s te ll u n g e n an das F ach V o lk s k u n d e /E u r o p ä is c h e E t h n o l o g ie zu b in d e n su cht. D a s v e rb i n d e t ihn m it G ottfried K o i f f d e r die M a t e r ia lit ä t d e r D in g e d ie s e r W e lt im m u s e a le n D a sein n ic h t n u r als k u ltu re lle M a n i fe s t a ti o n v e rs ta n d e n w is s e n will, s o n d e rn ih ren Q u e lle n w e r t in s b e s o n d e r e a u ch in ih r e r M e d i a li tä t f ü r g e se lls c h a ftlic h e P ro z e s s e sieht. D ie s o z ia le D y n a m ik ist es fü r R o lf L indner dann auch, die im Zeitalter der w eltw eiten V erkn üp fu ng von Ö k o n o m ie , Politik, M ed ien und W issenschaften einen P e rsp e k tiv e n w e c h sel n o tw e n d ig macht. D e r B lick ist nicht lediglich nach „ u n t e n “, sondern auch a u f soziale Interaktionen zu richten, die den Blick „ n a c h o b e n “ erfordern. D as schließt fü r ihn einen zw eiten „ A b s c h ie d v om V olksleben“ ein. E in e z e n tr a le F ra g e v ie le r B e iträ g e ist d ie d e r Id e n tität a u f r e g i o n a le r und n a ti o n a le r E b e n e s o w ie in G r e n z rä u m e n . D e u tlic h w ird , d a ss sie e b e n s o d e r K o n s tr u k tio n w ie d e r D y n a m i k im h is to risc h e n P ro z e s s u n te rlie g t. W e n n in W est- u n d M i t t e le u r o p a vo n S k a n d in a v ie n die R e d e ist, lieg t m e i s t eine v e r e i n h e it li c h e n d e V orste llun g v on N o r d e u r o p a zu G ru n d e . Jo n a s F rykm an le g t dar, w ie u n te r s c h ie d lic h d e r F a k to r V o lk sk u ltu r bei d e r B il d u n g n a ti o n a le r I d e n t it ä t in D ä n e m a r k , S c h w e d e n , N o r w e g e n u n d F in n l a n d z u m T r a gen g e k o m m e n ist. In S c h w e d e n , w o d e r W an d el z u r m o d e r n e n , p l u r a li s tisc h e n G e s e ll s c h a f t frü h v o llz o g e n w u rd e , lieg en d ie M e n s c h e n im W i d e r streit m i t dieser, ih r e r m o d e r n is i e rt e n Id e n titä t un d su c h e n n ach d e r eig e n e n K u ltur, w ä h r e n d d e r A u t o r die A u f g a b e d e r Z u k u n f t als d ie d e r B i l d u n g e in e r n a ti o n a le n Id e n titä t au s d e m F u n d u s v ie le r g e m i s c h t e r N a tio n a l it ä te n b e s ch reib t. A m B eisp iel d e r s c h w e d is c h - n o r w e g is c h e n G r e n z e z e ig t A n d ers G u sta vsso n , d a ss in d eren w e c h s e lv o l le r G e s c h ic h t e z w a r d ie n a tio n a le G r e n z e j e w e i l s g e n a u b e s t im m b a r war, d ie reg io n ale, k u ltu re lle G r e n z e a b e r nich t, w eil die r e g i o n a le K u ltu r sich a u f S o li d a rg e m e in s c h a f te n w ie d ie von B a u e r n u n d F is c h e rn b e g rü n d e t e u nd d e s h a l b H a r m o n i e f ö r d e r n d ü b e r G r e n z z ie h u n g e n h in a u s g e w ir k t habe. K u ltu r e lle o d e r a u ch e t h n i s c h e I d e n tität ist f ü r R eg in a ld Byron n ich t a n g e b o re n , s o n d e rn E r g e b n is d e r S o z ia l i sa tio n . E n tl a n g s e in e r S k iz z e d re ie r G e n e ra tio n e n ir is c h s tä m m i g e r B e w o h n e r N e w Y orks ist n a c h z u v o llz ie h e n , d ass in d e r ersten G e n e r a ti o n A ssiin i- 64 L ite ra tu r d e r V o lkskunde Ö Z V L V I/105 latio n d ie n ä c h s t li e g e n d e A u f g a b e war, w ä h r e n d in d e r z w e ite n G e n e ra tio n , als E th n i z it ä te n sich d u rc h V erh eiratu n g m isch ten , ein g r u n d s t ä n d i g e r V er lust d e r Id e n titä t eintrat, d e r je t z t in d e r dritten G e n e ra tio n , d a d ie e th n is c h e D u r c h m i s c h u n g w e ite r v o ra n g e s c h ritte n ist, bei den B e w a h r e r n e th n i s c h e r Id e n t it ä t in d e r V e r k la m m e r u n g v on E th n ie u n d K u ltu r an B e d e u t u n g z u n im m t, un d d ie so z ia le Id e n titä t darin au fg eht. N ic h t W an d e l, so n d e r n die ra p id e so z ia le u n d k u ltu re lle N e u f o r m ie r u n g d e r G e s e ll s c h a f t b e s t i m m t e f ü r P eter N ied erm ü ller d en T r a n s f o rm a t io n s p ro z e s s in O s te u r o p a , w o d a s N a c h h o len d e r M o d e r n is i e r u n g zu e in e r ti e fg re ife n d e n V e r u n s i c h e ru n g u nd e in em Ü b e r g a n g ins L e e re füh rte. D ie G e s c h ic h te steh t n ic h t m e h r im K o n te x t m it d e m L e b e n d e r M e n s c h e n . Id e n titä tsk rise n d u rch d as U m d e u te n vo n L e b e n s g e s c h i c h te n o d e r d as Z e rb r e c h e n d e r e ig e n e n L e b e n s w e lt in K o n k u r r e n z zu a n d e re n sin d d ie F o lg e , g e tra g e n vo n N o sta lg ie , A n g s t u n d U n b e h a g e n . D e r Z u s a m m e n h a n g z w is c h e n E th n o m y th o s u n d d e m F ac h E th n o l o g ie w ird bei D unja R ihtm an-A ugustin th em atisiert. S ie zeigt, d a ss V o lksk ultu r, b is e tw a um 1 97 0 a u c h d as f u n d a m e n ta l e K o n z e p t d e r E u r o p ä is c h e n E t h n o l o g ie in K ro a tie n , n a ch d e r W e n d e so w o h l d urch d ie w is s e n s c h a f t lic h e w ie die politische M e in u n g beeinflusst w urde. D e r M y tho s von V olkskunst z.B. ver stellte einerseits den Blick, und andererseits wurden die V erbrechen des Krieges d urch w issenschaftlich abgele itete eth n o-ideo log ische Ideen gestützt. D ieses D o p p e lsy n d r o m w irft die schw ierige Frage auf, w ie K u ltu r an das Volk z u rü c k zugeben, z.B. die A u sgesta ltun g des W eihnachtsfestes zu erneu ern sei, ohne d am it gleichzeitig einen derartigen E thn om yth os zu stützen. Z w i s c h e n de n m e h r w is s e n s c h a fts g e s c h ic h tlic h e n o d e r t h e o r ie b e t o n te n B e iträ g e n u n d e in z e ln e n F a llstu d ie n erg ib t sich u n a n g e s t r e n g t e in e V er n e tz u n g . O rvar Löfgren setzt b e im K re a tiv itä tsk u lt d e r 6 0 e r un d 7 0 e r Ja h re an. D ie Ä s th e t is i e r u n g d es tä g lich en L e b e n s als p lu r a lis tis c h e w ie in d i v i d u elle L e b e n s s tru k tu r , in d e r d e r K o n s u m als k u ltu re lle K r e a tiv itä t d e fin ie r t ist, b e s c h r e ib t er als e in es d e r s p e z ifis ch en P h ä n o m e n e d e r M o d e r n e , das sich m it d e r H y b r id i tä t des M ix e n s paart. H ie r f o r d e rt L ö f g r e n im F o r s c h u n g s f e ld e in e n e u e S en sibilität, d ie in ers ter L in i e d ie M e n s c h e n im U m g a n g m it d e n D in g e n b e sc h r e ib t,- a u c h den u n a n s e h n l ic h e n o d e r w e n ig a p p e titlic h e n . M i t e in e r s o rg sa m a n g e le g te n M i k r o s t u d ie d e r N a h r u n g s f o r s c h u n g z e ig t G isela Welz, w ie im g lo b a le n T re n d d e r V e rm ittlu n g des T y p is c h e n im Z e it a lt e r d es T o u ris m u s r e g i o n a le K u ltu r m u tie rt, d.h. ein z y p r i o ti s c h e r B ra u c h zu f u n d a m e n ta le r, k u ltu re lle r V e rä n d e ru n g fü h rt, a b e r d e n n o c h n ach in n en id e n titä ts stifte n d w irk t un d n e u e A u th e n ti z it ä t z u g e s c h r ie b e n b e k o m m t. A u c h W alter H artinger b e fa s s t sich a m B e isp ie l d e r P a te n - B i tt e n m it e in e m P h ä n o m e n re g io n a le r K ultur, d as sich im 19. J a h r h u n d e r t iiber die V ereine v e rä n d e r t u nd v e rs e lb s t ä n d ig t h a t u n d in d e r G e g e n w a r t d u rc h S o rt ie ru n g un d K o m b in a t io n vo n B r a u c h e l e m e n te n neu 20 0 2 , H e ft 1 L ite ra tu r d e r V olkskunde 65 k re ie rt w ird . A n h a n d vo n drei h is to risc h e n B e is p ie le n w ird bei B ja rn e R ogan d e u tlic h , w ie das R e ise n au ch zu v e rs c h ie d e n e n Z e ite n vo n g le ic h e n und v e rg le ic h b a r e n S tr u k tu r e n u nd R e g e lh a f tig k e ite n g e k e n n z e i c h n e t ist. N ach d e r E n t d e c k u n g s p h a s e fo lg t die a llg e m e in e V e rb reiteru n g des F e ld e s und d a n n sein e T riv ia lis ie ru n g d urch V era llg e m e in e ru n g , die z u r S u c h e nach n e u e r A u t h e n ti z it ä t un d O rig in a litä t fü hrt. Silke G öttsch u n te r s u c h t n eb en d e r rä u m li c h e n O r ie n t ie r u n g des R e ise n s im 19. J a h r h u n d e r t d ie g le ic h z e itig e in s e tz e n d e m a s s e n m e d i a le A u fb e r e i tu n g des P h ä n o m e n s in D i o r a m e n o d e r in K u l t u r in s z e n i e r u n g e n a u f W e lta u sste llu n g e n . D a s h a t n ic h t n u r zu e in e r B e w e g u n g vo n N o r d la n d - B e g e i s t e r u n g g efüh rt, so n d e r n das in d ie s e r Z e it g e f o r m te S c h w e d e n b ild w ird in d e r G e g e n w a r t z.B. d u rc h d as M ö b e l h a u s Ik e a g e n u tz t. M i t e in e m a n d e re n P h ä n o m e n m e d i a le r V e rm ittlu n g s etz t sich U eli G yr a u s e in a n d e r, m i t K its c h als K a te g o rie jo u r n a li s ti s c h e r V erm ittlun g , d ie d ie Z e m e n t i e r u n g v on W erten im A llta g b e w irk t. D e r B e it r a g v o n R egina B en d ix d u r c h l e u c h te t d ie S u c h e n ach u nd in d e r V e rg a n g e n h e it am B e isp ie l e in es „ H i s t o r i c - R e a c t m e n t “ , d e r L a n d u n g d e r B riten bei N e w York 1777. D ie N e u i n s z e n i e r u n g als K rie g s s c h a u s p ie l stellt ein m e h r s c h ic h tig e s E r l e b n is fe ld dar, d as in sich reflex iv ist u nd d u rch U n g le ic h z e iti g k e it , v e r g l e ic h b a r d e n P a s s io n s s p ie le n , zu e in em erh ö h te n L u s tg e w in n füh rt. C hristel K ö h le-H ezin g er d e m o n s tr i e r t h in g e g e n , w ie ein a llta g s k u ltu re lle s V erhältn is ne u ge- u n d e r f u n d e n w ird . D a s n e u e M e n s c h -T ie r- V e rh ä ltn is als m e d ia le s B ä r e n p h ä n o m e n j e n s e it s d e r ko lle k tiv e n E rin n e r u n g an B ä r e n f ü h r e r o. ä. ist Teil d e r L e b e n s u m w e l t g e w o r d e n und - v e rs tä rk t im Z u s a m m e n h a n g mit d e m W e ih n a c h ts f e s t - h e u te o p tisc h überall p räsent. E in e a u f a n d e r e r E b e n e g e la g e rte A n e i g n u n g z e ig t K laus B eitl m it d e r A d a p tio n des P e lik a n z e ic h e n s f ü r d a s Ö s te r r e ic h i s c h e M u s e u m f ü r V o lk sk u n d e in W ien. D e n S c h l u s s p u n k t setz t C hristine B urckhardt-Seebass m it R e fle k tio n e n Uber S t u d e n t e n e x k u r s io n e n . D o c h letzten E n d e s ist die A n s c h a u u n g v o r O rt e in e g r u n d s ä tz li c h e F o r d e r u n g an die W is s e n s c h a f t, h in a u s z u g e h e n , das L e b e n d e r M e n s c h e n zu b e o b a c h t e n , m i t w is s e n s c h a ftlic h e n M e th o d e n zu e rfassen , u m , so fo lg e rt die R e z e n s e n t in , d a s in d ie s e m B a n d g e z e ic h n e te S z e n a rio k u ltu ra n a ly tis c h f o r tz u s c h r e ib e n . B ä rb e l K e r k h o f f - H a d e r B A L L H A U S , E d m u n d (H g.): K ulturw issenschaft, F ilm und Ö ffen tlich keit. M ü n s t e r u.a., W a x m a n n Verlag, 2 0 0 1 , 2 99 S eiten . D e r H e r a u s g e b e r E d m u n d B allh au s, V o rsitzen de r d e r F i l m k o m m i s s i o n in d e r D e u ts c h e n G e s e ll s c h a ft fü r V olkskunde, L e it e r des S t u d i e n s c h w e r p u n k tes „ V is u e l le A n t h r o p o l o g i e “ am S e m i n a r f ü r V o lk sk u n d e d e r U n iv e rs itä t 66 L ite ra tu r d e r V olkskunde Ö Z V L V 1/105 G ö tti n g e n , v e re in t im v o rlie g e n d e n S a m m e lb a n d i n s g e s a m t 18 A u f s ä t z e von 17 A u to r/ in n / e n . Es sin d dies z u m e in en die R e fe ra te , w e lc h e 1999 im R a h m e n d e r in te rd is z ip lin ä r e n G ö tti n g e r A rb e it s ta g u n g b e s a g t e r F i l m k o m m issio n g e h a lte n w u rd e n ; im V o rd erg ru n d sta n d en d o rt F r a g e n d e r A n n ä h e ru n g v on k u ltu rw is s e n s c h a f t li c h e m u nd k o m m e r z i e l l e m ( F e r n s e h -)F i lm , u.a. also P r o b l e m e , d ie m it m a n g e l n d e r P u b li k u m s w i r k s a m k e i t v on W i s s e n s c h a f t Z u s a m m e n h ä n g e n . S in n v o ll sch ie n so m it e in e in h a ltlic h e E r w e ite r u n g d es B u c h e s , das d a h e r z u m a n d e re n v ie r n ic h t f i lm b e z o g e n e B e it r ä g e e nth ält, d ie d e m a llg e m e i n e r e n T h e m a „ K u ltu r w i s s e n s c h a f t u n d Ö f f e n t lic h k e it“ g e w i d m e t sind: „ E s g e h t “ , so B a llh a u s im V orwort, „ n i c h t m e h r allein um w is s e n s c h a f t lic h e n F ilm u n d F e rn s e h e n , s o n d e rn v ie l m e h r u m d ie ü b e r g r e i f e n d e F ra g e , w ie ein erseits A n n ä h e r u n g e n an e in e g rö ß e r e Ö ffe n tlic h k e it e rf o lg e n k ö n n e n , o h n e a n d e re r se its e in e m P o p u li s m u s zu v e rfa lle n , d e r sich w is s e n s c h a f t lic h e m A n lie g e n n ic h t lä n g e r v e rp f lic h te t f ü h l t. “ D ie P u b lik a tio n (sie ist R o l f W ilh e lm B re d n ic h , d e ss e n V erd ie n s te um den k u l t u r w i s s e n s c h a f t l i c h - v o l k s k u n d l i c h e n Film als b e k a n n t v o r a u s g e s e tz t w e rd e n d ü rfe n , z u m 65. G e b u rts ta g u nd g le ic h z e itig zu s e in e r E m e r i ti e r u n g g e w id m e t ) ist in v ie r T h e m e n b l ö c k e gegliede rt: „ K u l t u r w i s s e n s c h a f t und Ö f f e n t lic h k e it“ - m it B e iträ g e n von R e g in a B e n d ix ( K u lt u r w is s e n s c h a f t li c h e P ra x is, V erm ittlu n g u nd P o p u la r is ie ru n g ), K o n ra d K ö s tlin (J o in t V entures: W is s e n s c h a f t u n d L e b e n . O der: D e r A llta g als W ag n is), C h r is to p h K ö c k (J e d e r b e o b a c h t e t je d e n . N o tiz e n z u r E th n o g r a f is i e r u n g des A llta g s ) und D ie te r K r a m e r ( M u s e e n als In s titu tio n e n k u ltu re lle r Ö ffe n tlic h k e it) ; „ S t a n d o r t b e s ti m m u n g e n un d P e r s p e k tiv e n “ - Verfasser/in: R a in e r A l s h e i m e r ( S t ra teg ien k u lt u r w is s e n s c h a f t li c h e r R e p rä s e n ta tio n in d e r S p ä tm o d e r n e ) , E d m u n d B a ll h a u s (A ltes M e d i u m in n e u e m G e w a n d . F ilm u nd In te ra k tiv itä t im M u s e u m ) , E llen N. H e n k e l ( S a m m e ln un d B e w a h r e n ? E n t w ic k l u n g e n u nd T e n d e n z e n bei d e r D a r s t e llu n g von H a n d w e r k im v o lk s k u n d li c h e n F ilm ) u n d J o a c h i m W o s s id lo ( D o k u m e n t a r f i lm als P ro z e ß ); „ K o o p e r a t i o n und K o lli s i o n “ - A u fs ä t z e v o n W alter D e h n e r t ( V o lk s k u n d lic h e r F ilm im F e r n sehen : D ie F i l m a u t o r i n I n g e b o r g W e b e r- K e lle rm a n n ), M ic h a e l R a b e ( G e fä h r lic h eh rlic h . D e r d o k u m e n t a r i s c h e Blick: E in n ic h t-a lltä g lic h e s F e r n s e h p ro jek t), B e n e d ik t K u b y (Vom G lü c k h a b e n u n d a n d e re n U n w ä g b a r k e i te n e in es F il m e m a c h e r s ) , E d m u n d B a llh a u s (Ein T h e m a - u n te r s c h ie d lic h e S ic h t w e i s e n . Z u r D o k u m e n ta t io n eines J u n g g e s e lle n b r a u c h e s im w i s s e n s c h a f tlic h e n F ilm u n d im F e rn s e h e n ), G rit L e m k e (T o p f u n d T ieg el. O der: P lä d o y e r f ü r e in e n g u te n D o k u m e n ta r f i lm ) un d E c k h a r d S c h e n k e (O ffe n e K a n ä le - e in e C h a n c e fü r d en k u ltu rw is s e n s c h a ftlic h e n F il m ? ) s o w ie „ V i su elle D i s k u r s e u n d A u th e n ti z it ä ts s tr a te g i e n “ - A lb r e c h t W itte (Verlierer, Id io te n , A m o k lä u f e r. A n n ä h e r u n g e n an das D o k u m e n t a r i s c h e in S p ie l f i l m e n ), T o rsten N ä s e r (P e r s p e k tiv e n w e c h s e l. D ie F i l m e K la u s W il d e n h a h n s 2 0 0 2 , H e ft 1 L ite ra tu r d e r V o lkskunde 67 au s k u l t u r w is s e n s c h a f t li c h e m B lic k w e c h s e l), D ö r th e W ilb e rs ( „ M o n t i e r t e E r k e n n t n i s “ . Ü b e r l e g u n g e n z u r R e le v a n z d e r M e t h o d e n E b e r h a r d F e c h n e rs f ü r d en k u ltu r w is s e n s c h a f t li c h e n F ilm ), F ritz W o lf (D ie D o c u - S o a p . R e n a i s s a n c e o d e r E n d e d es D o k u m e n ta r f i lm s im F e rn s e h e n ). D ie in h a l tl ic h e V iel falt m a c h t es u n m ö g l ic h , im g e g e b e n e n R a h m e n a u f alle V e rfa ss e r/in n e n bzw. B e it r ä g e e i n z u g e h e n ; es sei d a h e r (o h n e d a ß d a d u r c h e in e W e rtu n g v o r g e n o m m e n w ird ) j e e in e r aus j e d e m d e r v ie r B e re ic h e h e ra u s g e g rif fe n . In „ M u s e e n als In s titu tio n e n k u ltu re lle r Ö f f e n t lic h k e it“ b e s c h ä f ti g t sich D ie te r K r a m e r g r u n d l e g e n d m it g e g e n w ä rti g e n M u s e u m s p r o b l e m e n , e tw a m it d e m ö k o n o m i s c h e n D ru c k , d em M u s e e n ( w e lc h e ih rem C h a r a k t e r nach N o n - P r o f i t - U n t e r n e h m e n sin d un d dies au ch b le ib e n s o lle n ) z u n e h m e n d u n te r lie g e n . F ü r K ultur-M useen (als so lc h e k a te g o r is ie rt K r a m e r e tw a V olks u n d V ö l k e r k u n d e m u s e e n ) sieh t d e r A u to r als P r o b l e m f e l d e r m u s e o l o g i s c h e r A r b e it a u ß e r w e c h s e ls e it ig e r T o le ra n z g e m e i n s a m e V e ra n tw o rt u n g f ü r die Z u k u n f t d e r L e b e n s w e l t u n d die F ra g e n a c h d e r B e d e u t u n g k u lt u re l le r V ielfalt, w o b e i (h o ffen tlic h n ic h t n ur) n ach M e i n u n g d es V erfa sse rs g elten m u ß , d a ß „ k u lt u r w is s e n s c h a f t li c h e M u s e e n k u lt u r e l le r Ö ffe n t lic h k e it v e r p fl ic h t e t [sind] u n d n ic h t ir g e n d w e lc h e n E liten , d ie sich k u ltu re lle D e f in i ti o n s m a c h t a n m a ß e n o d e r sie d u rc h S p o n s o r in g g e k a u ft h a b e n “ . Im n ä c h s t e n H a u p tk a p it e l g reift a uch E d m u n d B a ll h a u s da s T h e m a „ M u s e u m “ auf; in „ A l t e s M e d i u m in n e u e m G e w a n d “ g e h t es ih m , so d e r U n te rtite l, um „ F i l m u n d I n te ra k tiv itä t“ , also um die z u n e h m e n d e M e d ia lis ie ru n g v on M u s e e n u n d die d a m i t z u s a m m e n h ä n g e n d e n P r o b l e m e a u c h d e r F i l m s c h a f f e n d e n , die m a n o ftm a ls n u r n och als L ie fe ra n te n vo n M a te ria lie n a n sie h t, die d a n n v o n an d e re n P e rs o n e n ver- u nd e n tf r e m d e t w e rd e n . B a ll h a u s p lä d i e r t d a h e r fü r e in e ak tiv e T e iln a h m e k u lt u r w is s e n s c h a f t li c h e r F il m e m a c h e r an d ie s e m P ro z e ß , n ä m lic h fü r die P ro d u k t io n k u r z e r u n d f ü r den m u s e a le n E in s a t z g e e ig n e te r F ilm e , also dafür, „ d i e M ö g l ic h k e i te n d e r n e u e n M e d i e n zu n u tz e n u n d an d e r K u lti v ie r u n g d e r A n s c h a u u n g s - und V e r m ittlu n g s v ie lf a lt im M u s e u m m itz u w ir k e n “ . D e n e rs te n B e itra g in A b s c h n it t drei ( „ V o lk s k u n d lic h e r F ilm im F e r n s e hen: D ie F il m a u t o ri n I n g e b o r g W e b e r - K e l le r m a n n “ ) hat W a lte r D e h n e r t d e r f i lm is c h e n u n d fü r e in e b reitere Ö ffe n tlic h k e it b e s t im m t e n A rb e it se in e r a k a d e m is c h e n L e h re rin g e w id m e t. G r u n d la g e ist ein b is la n g u n v e r ö f f e n t lich tes In te rv ie w , das d e r A u t o r 1989 m i t F ra u W e b e r - K e l le r m a n n g e fü h r t h a t (u n d das i n s g e s a m t a u c h von w is s e n s c h a f t s g e s c h i c h tl ic h e r B e d e u tu n g ist). S ie h a t als F ilm a u to rin so w o h l K o o p e r a ti o n e n als a uch K o llis io n e n e rf a h re n u n d d e m v o lk s k u n d li c h e n F ilm (v on d e r F a c h w e lt a n fä n g lic h w e n ig b e a c h t e te ) n eu e, w e n n a u c h n ic h t im m e r k o n flik tfre ie W e g e g e w ie s e n . Im letzten B lo c k h a t A lb r e c h t W itte seine „ A n n ä h e r u n g e n an d as D o k u m e n t a r i s c h e in S p i e l f i lm e n “ u n te r B e z u g a u f e tlic h e von ih m a n a ly s ie r te 68 L ite ra tu r d e r V o lkskunde Ö Z V L V I/105 F il m e m i t „V erlie re r, Id io ten , A m o k l ä u f e r “ tibertitelt. E r k o m m t in s e in e r B e s c h ä f t ig u n g m i t W e rk en vo n A ki K a u ris m ä k i, R a in e r W e r n e r F a ss b in d e r, E r m a n n o O lm i, L a rs v on T rie r u.a. zu d e m S c h lu ß , d a ß d e r f i k ti o n a le Film z w a r b e s s e re M ö g lic h k e i te n als d e r D o k u m e n ta r f i lm besitzt, T h e m e n aus g e s e lls c h a ftlic h e n R a n d b e r e i c h e n d arz u s te lle n , d a ß le tz te r e r a b e r „ f ü r f o r t sc h rittlich e, so z ia lk ritis c h e R e g is s e u re [...] einen F u n d u s an T h e m e n u nd stilistis c h e n M u s te r n b e r e i th ä l t“ un d ü berd ies „ ä s t h e ti s c h e O p p o s it io n g e ge n d as k o m m e r z i a li s ie r te , ind ustriell h e rg e s te llte K in o [...] i s t“ . B e id e G e n re s e rg ä n z e n ein a n d e r; g e g e n „ d i e ö k o n o m i s c h e u n d id e o l o g is c h e Ü b e r m a c h t d e r F il m i n d u s t r ie sin d D o k u m e n ta r f i lm u n d e n g a g ie r te r S p ie lfilm n a tü r li c h e V e rb ü n d e te “ : d e r b e w u ß te E in sa tz d o k u m e n t a r i s c h e r M itte l im S p ie lfilm d u rc h F ilm e m a c h e r, „ d i e die g e s e lls c h a ftlic h e R e a litä t th e m a ti s i e ren u n d d a m i t v e rä n d e r n w o l l e n “ , d ie n t n ic h t n u r „ d e r E r n e u e r u n g d e r F i l m k u n s t “ , so n d e r n soll auch die „ A u f h e b u n g d e r T r e n n u n g z w is c h e n K u n s t u n d L e b e n “ b e w irk e n - ein Satz, d e r e b e n s o als M o t to f ü r p u b l i k u m s w i r k s a m e k u ltu rw is s e n s c h a f t li c h e F ilm e gelten m ü ß te. N ic h t allein d ie s e vier, a uch alle a n d e re n B e iträ g e w ird m a n als n ic h t n u r a m T h e m a „ F i l m u n d W is s e n s c h a f t“ In te re ss ie rte /r m i t G e w i n n les en ; sie d ie B e it r ä g e - z e ig e n u.a., u m n o c h m a l s d e n H e r a u s g e b e r zu z itieren , „ w i e g le i c h b e r e c h t ig t u n d fr u c h tb a r T h e o rie und P ra x is n e b e n e i n a n d e r e x is tie re n k ö n n e n “ . N o c h b e s s e r w ä re alle rd in g s, w ü rd e n sie h ä u f i g e r m itein a n d er ex istieren . O l a f B o c k h o rn K A M M E R H O F E R - A G G E R M A N N , U lrik e, A l e x a n d e r G. K E U L (H g. fü r d a s S a lz b u r g e r L a n d e s in s ti tu t fü r V olk sku nd e): ,,T h e S o u n d o f M u s ic “ zw ischen M ythos und M arketing (= S a lz b u r g e r B e it rä g e z u r V o lk sk u n d e, Bd. 11). S a lz b u r g , S e lb s tv e rla g des S a lz b u r g e r L a n d e s in s ti tu t s f ü r V o lk s k u n d e , 2 0 0 0 , 3 9 4 S eiten. D ie A u to r i n n e n u n d A u to r e n des B a n d e s h ab en sich die A u f g a b e g e stellt, ein „ i n t e r n a t io n a l v e rb re ite te s S a lz b u r g -K lis c h e e und d a m i t v e r b u n d e n e A s p e k te d e r A l l t a g s k u l tu r zu m T h e m a e in e r w e ite re n in te rd is z ip lin ä r e n k u l t u r w i s s e n s c h a ftlic h e n Z u s a m m e n a r b e i t z u m a c h e n .“ (V orw ort) H e r a u s g e k o m m e n ist ein h o c h in t e r e s s a n te r S a m m e lb a n d m it i n s g e s a m t 2 9 b r e i t g e fä c h e r te n B e iträ g e n . N ic h t n u r W is se n sc h a ftle r, s o n d e rn a u c h H e im a t f o r s c h e r , O r t s c h ro n is te n , T o u ris tik e r un d L ite ra te n h ab en sich aus v e rs c h ie d e n s t e n B li c k w in k e ln m i t d e m L e b e n d e r F a m i li e T ra p p u nd d e m M y t h o s , d e r n ic h t zu le tz t d u rc h d ie K in o f i lm e u n d das M u s ic a l „ T h e S o u n d o f M u s i c “ e n ts ta n d , 2 0 0 2 , H e ft 1 L ite ra tu r d e r V o lk sk u n d e 69 b e s c h ä f tig t. D ie A u fs ä tz e b e h a n d e ln u n ter a n d e re m v o lk s k u n d l i c h - k u l t u r w is s e n s c h a f t lic h e F ra g e n , d ie m e d ia le u nd to u ristis c h e R e z e p ti o n d e r F a m i lie T ra p p u n d des M u s ic a ls w ie au ch allg e m e in d ie A u s b il d u n g v o n m o d e r n e n M y th e n . D a s B u c h u n te r g li e d e r t sich in f ü n f H a u p tk a p ite l m i t j e w e i l s m e h r e re n B e it rä g e n . Im e rs te n Teil, ü b e rtite lt m i t „ A n n ä h e r u n g e n “ w e r d e n d e m L e s e r zw e i k u r z e lite r a ris c h e T e x te (vo n A l f S c h n e d itz u n d J a c q u e l in e V ansant) v o rg e s te llt, in d e n e n die D is k r e p a n z z w is c h e n d e r „ T r a u m w e l t F i l m “ m it ih r e r „ v i r t u e l l e n G e o g r a f i e “ un d d e r R e a litä t th e m a ti s i e rt w ird. D ie a c h t A u f s ä t z e des z w e ite n Teils b e fa s se n sich m it „ d e r T r a p p - F a m i lie “ , m it b i o g r a p h is c h e n D e ta ils (von W ilh e lm W eitg ru b er, H o r s t S ch u lz , P e tr a A ster, E li s a b e th M o n a r th , U lrik e K a m m e r h o f e r - A g g e r m a n n , T h o m a s H o c h ra d n e r). D a b e i g e h t es n ic h t d a ru m , die „ a b s o l u t a u th e n t is c h e G e s c h i c h te “ d ie s e r F a m ilie , so n d e r n ein e „ b e is p ie l h a f te D a r s t e llu n g m eh re rer, teils in e i n a n d e r v e rw o b e n e r, teils u n a b h ä n g ig v o n e in a n d e r v e r l a u fe n d e r R e z e p t i o n s g e s c h i c h t e n “ (S. 10) zu sk izzieren . D e m L e b e n des F ra n z M a t thias W asner, d e r als D irig e n t, C h o rle ite r und K o m p o n is t die „ T r a p p F a m ily S in g e r s “ zu W e ltru h m führte, ist h ier ein a u sf ü h rlic h e r A u fsatz, g e sch rie b e n von dessen N effen F ran z Wasner, g e w i d m e t : , ,/ can ’t say I like being ci celebrity m uch at a ll“. A n d e r e B e iträ g e th e m a tisieren b e is p ie ls w e is e d as m u s ik a lis c h e R e p e rto ire o d e r d ie V ergan gen he it un d G e g e n w a r t d e r F a m ilie Trapp. „ V o m B u c h z u m W e lt e rf o lg “ ist d e r dritte Teil des B a n d e s b etitelt. H ie r w e r d e n E n t s t e h u n g s g e s c h i c h te u n d U m fe l d d e r g r u n d l e g e n d e n M e d i e n e r z e u g n is s e , a ls o d e r B ü c h e r M a r ia A u g u s ta von T rap p s, d e r d e u ts c h e n F il m e v o n W o lf g a n g L ie b e n e in e r, des B r o a d w a y - M u s i c a ls u nd d e s s e n H o lly w o o d V e rfilm u n g , b e h a n d e lt. In den sech s B e iträg en (v on U lr i k e K a m m e r h o f e r A g g e r m a n n , E lis a b e th M o n a r th , J o a c h im B rü g g e , M i c h a e l a A u e r u n d U lrich M ü lle r, L u tz H o c h s tr a a te , C h ris tian S trasser) fin d e n sich u n te r a n d e re m Z ie l g r u p p e n d a r s te ll u n g e n , A u f f ü h ru n g s d a te n u n d d ie G e s c h ic h t e d e r M e d i e n r e z e p t io n in s b e s o n d e r e d es M u s ic als . D a s v ie rte K a p itel, „ M y t h o s un d M a r k e t i n g “ , da s d e m g e s a m te n B a n d se in e n N a m e n g e g e b e n hat, b e s c h ä f tig t sich m it d e m to u r is tis c h e n Interesse u n d d e r V e rm a r k tu n g vo n „ T h e S o u n d o f M u s i c “ . E b e n s o w ie „ d i e F a m ilie T r a p p “ sin d M u s ic a l u n d H o lly w o o d - F i lm zu M a r k e n n a m e n g e w o r d e n , die im V ergleich m it a n d e re n m e d ia le n P ro d u k te n ein en M e h r w e r t an L e b e n s g efü h l u n d M o r a l v e rs p re c h e n . Z w e i T o u ris tik e n M a r tin U itz und S tefan H e rz l, b e s c h r e ib e n in ihren A u fs ä tz e n das to u r istis c h e A n g e b o t u nd die E r w a r t u n g s h a l t u n g e n d e r a u slä n d isc h e n G äste , die sich in S a lz b u r g a u f die S u c h e n a c h „ T h e S o u n d o f M u s i c “ b e g e b e n . L a n g e w u r d e d o rt d a s Po ten tia l d es H o l l y w o o d - F i l m s fü r den F r e m d e n v e r k e h r n ic h t g e n u tz t, j e t z t alle rd in g s b ie te n drei v e r s c h ie d e n e U n te r n e h m e n B u s to u r e n zu d en D re h o rte n an. 70 L ite ra tu r d e r V o lkskunde Ö Z V L V 1/105 A l e x a n d e r G. K eul, z w e ite r H e ra u s g e b e r des B a n d e s , se z ie rt in se in e m B e it ra g „ T h e S o u n d o f V irtu e “ je n e M e c h a n i s m e n , d ie d e n F ilm b e s o n d e r s d ie H e r z e n des a m e r ik a n i s c h e n P u b lik u m s e ro b e r n ließ en . D ie s e r w ird n ä m lic h , so K eu l, d u rc h die K o m b in a t io n vo n „ F a m i l i e - K i n d e r - g u t e - n e u e M u t t e r - M u s i k “ (S. 3 2 2 ) z u m „ I n b e g r i f f a ller p u ri ta n i s c h e n W erte, f ü r d ie es sich als F am ilie zu leben lo hnt.“ (S. 321) D ie H eirat de r Ersatzm utter, die eig entlich N o n n e w erd e n wollte, mit d em verw itw eten Vater von sieben K indern steht dam it für eine „erfo lgreich ü b e rn o m m en e christliche A u fg a b e “ (S. 319). Als starke F rauen gestalt und Hausherrin vertritt die n eu e M u tte r sow ohl das in den 1950er Jahren populäre Ideal der Großfamilie als auch das G edan ken gu t der weiblichen E m anzipationsbewegung. Auch Reinhard B achleitner und Martin Weichbold, H ans Jürgen K agelm ann, Peter Laub sowie Ulrike Zechner-K am berg er konzentrieren sich in ihren Beiträgen auf den M arketing-A spekt des Themas. D ie s e c h s A u fs ä t z e des letz ten Teils, „ T h e S o u n d o f S a l z b u r g ? “ (v on U lr i k e K a m m e r h o f e r - A g g e r m a n n , T h o m a s H u b er, R e in h o l d W a gen le iter, H e lg a E m b a c h e r , C h ris tia n S trasse r), m a c h e n v o r a llem d ie K lis c h e e s z u m T h e m a , w ie sie d u rc h d ie H o lly w o o d -V e rfi lm u n g e n ts ta n d e n sind. W ird d u rc h d e n F ilm ü b e r h a u p t ein B ild von S a lz b u r g tr a n s p o rtie r t? W e lc h e B ild e r v on S a lz b u r g u n d Ö ste r re ic h ex istieren n e b e n je n e n von d e r „ h e i l e n W e lt“ , d ie v on M o z a r t, S a c h e rto rte u n d L ip p iz a n e rn leb t? D e r reic h b e b ild e rte S a m m e l b a n d b ie tet im A n h a n g u n te r a n d e re m ein a u s f ü h rlic h e s I n te rv ie w m it B a ro n in M a r i a A u g u s ta von T rap p, das 1 9 7 3 /7 4 v o n S e p p W i m m e r g e fü h r t w u rd e . E s ist h ie r n ic h t m ö g lic h , alle B e iträ g e d ie s e s k o m p l e x e n , f u n d i e rte n u n d g le ic h z e itig u n te r h a lts a m zu le s e n d e n B u c h e s a n z u f ü h r e n . Es ist sic h e rlic h fü r j e d e n in teressan t, d e r sich m it „ m o d e r n e n M y t h e n “ b e s c h ä f t i g t - d ie G e s c h i c h t e u n d V e r m a r k tu n g d e r F a m i l i e T r a p p k an n s tre c k e n w e is e e x e m p l a ri s c h als ein e von vielen g elese n w e rd e n . D o c h ist der B a n d n ic h t n u r e u ro p ä i s c h e n K u ltu r w is s e n s c h a ftle rn , so n d e r n a u c h j e n e n P e rs o n e n u n d G r u p p e n v o r O rt, d ie sich fü r L a n d e s g e s c h i c h te u n d H i s tö rc h e n in te re ss ie re n , zu e m p f e h le n . S a b in e - E l s e A s tfa lk T S C H E R N O K O S H E W A , E lka: D as R eine und das Verm ischte. D ie deutschsprachige Presse über A ndere und A n derssein am B eisp iel d er S o r ben (= R e ih e „ H y b r i d e W e lte n “ , Bd. 1). M ü n s te r / N e w Y o r k / M ü n c h e n / B e r lin, W a x m a n n V erlag, 2 0 0 0 , 199 Seiten. R e in h e i ts t r a u m ( a ) - D i s k u r s a n a ly s e k u ltu re lle r A n d e rsh e it. H a tte d ie V o lk s k u n d e se lb st ü b e r J a h r z e h n te am „ s t a h lh a r te n G e h ä u s e d e r Z u g e h ö r i g k e i t “ (M a x W eb er) m i tg e s tri c k t u n d -geflic kt, g e h ö rt die E r f o r s c h u n g d e r K o n 2 0 0 2 . H e ft 1 L ite ra tu r d e r V o lk sk u n d e 71 stru k tio n u n d d e r R e p rä s e n t a ti o n von F r e m d h e it u n d k u lt u re l le r A n d e r s h e i t seit d e r k o n s t r u k ti v is ti s c h e n W e n d e z u m k o n s titu tiv e n B e s ta n d te il d es F a c h e s V o lk s k u n d e / E u r o p ä is c h e E th n o lo g ie . W ä h re n d S ätze w ie „ D i e S o rb e n b e w a h r e n [...] a lth e rg e b r a c h te L e b e n s w e is e . S i c h t b a re r A u s d r u c k ist die tr a d itio n e lle T r a c h t“ , z w a r fa c h in te rn d e r R ie h ls c h e n V e rg a n g e n h e it a n g e h ö re n , e r f r e u e n sie sich im ö ffe n tlic h e n D isk u rs e in e r e r s ta u n li c h e n P e rs is tenz. M i t „ D a s R e in e u n d d as V erm ischte. D ie d e u ts c h s p r a c h i g e P re s se Uber A n d e r e u n d A n d e rs s e i n am B eisp iel d e r S o r b e n “ leg t E lk a T s c h e r n o k o s h e w a ein e d if fe re n z i e rt e D is k u r s a n a ly s e d e r B il d e rp ro d u k t io n e n ü b e r e in e M i n d e rh e i t im I n n e r e n des N a tio n a ls ta a ts vor. A u f d e r G r u n d la g e v on ü b e r 4 4 0 0 A rtik e ln d e r d e u ts c h s p r a c h i g e n P re s se von 1994 bis E n d e 1999 ü b e r die S o rb e n , d ie k le in e s la w is c h e M in d e r h e it im O ste n D e u ts c h l a n d s , z e ic h n e t sie u n te r s c h ie d lic h e „ B e o b a c h t u n g s p e r s p e k t i v e n “ v o n k u lt u re l le r A n d e r s h e it n ac h . D a b e i ist ihre S u c h e n ach d en „ s i g n if i k a n te n B e g rif fe n und D e u t u n g s f i g u r e n “ u n d d en ihn en z u g ru n d e lie g e n d e n P a r a d i g m e n bzw. D e n k - u n d D e u t u n g s m o d e l l e n vo n d e r F ra g e beseelt, w e lc h e K o n s e q u e n z e n d ie s e u n te r s c h ie d lic h e n D is k u r s e fü r das g e m e i n s c h a f tli c h e L e b e n h ab en . D ie s m a r k ie r t d an n au ch ein en d eu tlic h e n U n te r s c h ie d zu k la s s is c h e n D i s k u rs a n a ly s e n u n d z e u g t vo n e in e r tiefen e th n o g r a p h is c h e n K e n n tn is des G e g e n s ta n d s „ s o r b i s c h e s L e b e n “ , v e rw e is t a b er au ch a u f d ie G re n z e n ein es d is k u r s a n a l y ti s c h e n A n satzes . A u s d e r F ü ll e des M a t e ria ls k a n n E lk a T s c h e r n o k o s h e w a s c h lü s s ig zw ei k o n tr ä r e D e u tu n g s m o d e ll e k u ltu re lle r A n d e r s h e i t e x tr a h ie r e n , die sie g e m ä ß ih ren K o n s tr u k tio n s m e c h a n i s m e n als „ E n t w e d e r - O d e r - “ bzw. als „ E n t w e d e r - U N D - O d e r “- M o d e ll b e z e ic h n e t. D a s E n tw e d e r - O d e r - M o d e ll b e in h a lte t D e n k f ig u r e n v o m „ R e i n e n - A l t e n - E c h t e n “ , also D a rs t e llu n g e n k u ltu re lle r A n d e r s h e i t d e r S o rb e n als G e g e n w e l t zur m o d e r n e n K u ltu r d e r M e h r h e i t s g e s e l ls c h a ft - sei sie d e fiz itä r o d e r ro m a n tis c h a u fg e la d e n . D ie s e m b e k a n n ten D isku rs entg eg e n gesetzt sucht und findet T sch ern o k o sh ew a in der b u n d e s d eutschen P resse aber auch Artikel, die den d y nam isch en C h a ra k te r des sorbi schen L eb en s in der deutschen G e g e n w a rt an T h e m e n w ie „ D o p p e lle b e n “, „ Z w e is p ra c h ig k e it“ o der internen Differenzierungen porträtieren. D iese diffe re n zem p fin d lich e Perspektive, o h ne D ifferenzen als naturw üch sig, angeboren o d e r fest zu betrachten, zeic hne das E n tw e d e r-U N D -O d e r-M o d e ll aus. W ä h r e n d d ie illu s tra tiv e H e r le i tu n g d e r z w ei D e n k - u n d D e u t u n g s m o d e l le k u lt u r e l le r D iff e re n z w e n ig Ü b e r ra s c h u n g e n f ü r d as k u n d ig e F a c h p u b l i k u m b e in h a l te n , w ird es th e o re tisc h in teressan t, w e n n E l k a T s c h e r n o k o s h e w a nach d e r h is to ris c h -k u ltu r e lle n G e n e s e d e r d e n M o d e l le n z u g r u n d e lie g e n d e n P a r a d i g m e n , d e r des H o m o g e n it ä ts - u n d d es H y b r id i tä t s p a r a d i g m a s fragt. H i e r le g t sie n ic h t nu r ein en w ic h tig e n e m p i r i s c h fu n d ie rte n 72 L ite ra tu r d e r V olkskunde Ö Z V LV 1/105 D i s k u s s io n s b e itr a g f ü r die in D e u ts c h l a n d erst j ü n g s t b e g o n n e n e D e b a tte um d as K o n z e p t d e r „ H y b r i d i t ä t “ vor. A uch fü h r t sie m it ih rem K o n z e p t d e r „ R e i n h e i t als so z ia le H a n d l u n g “ e in e k u ltu rw is s e n s c h a f t li c h e B e g r if f s k o n stru k tio n in d ie A n a ly s e d e r E n ts te h u n g s g e s c h i c h te des H o m o g e n i t ä t s p a r a d ig m a s ein, w e lc h e b is la n g v o r a llem a u f die N a t i o n a l s t a a ts b i ld u n g r e k u r rierte. A u s g e h e n d v on M a r y D o u g l a s ’ „ R e i n h e i t u n d G e f ä h r d u n g “ (1 9 6 6 ) u nd Z y g m u n d B a u m a n n s „ U n b e h a g e n in d e r P o s t m o d e r n e “ (1 9 9 9 ) sie h t sie im H o m o g e n i t ä t s p a r a d i g m a den T ra u m v on „ R e i n h e i t “ , als e in e h is to risch p r o d u z i e r t e S ic h t a u f d ie so z ia le Welt, im p liz ie rt. In d e r M o d e r n e u n d m it d er B ild u n g des N ationalstaats werde, so T sch ern ok osh ew a, aus d e m diffusen T raum von R ein h eit ein zentrales O rganisationsprinzip des Sozialen - d.h. eine m o d e r n e H a n d lu n g sm a x im e , O rd n u n g und E in deu tig keit zu schaffen. In d ie s e m S in n e v e rs teh t sie d ie s e D is k u r s e als R e in i g u n g s h a n d lu n g e n , als T r e n n u n g s - u n d O r d n u n g s h a n d l u n g e n un d k a n n d a m i t d a n n a u c h die in n e re n m a c h t g e le i te t e n R a tio n a litä te n d e r D is k u r s p r a x e n b e n e n n e n . So z e ig t sie an w e n ig e n B e is p ie le n w ie d ie D i s k u r s m u s te r d e r S u b s t a n z ia l is i e r u n g vo n A n d e r s h e i t u nd d e r H o m o g e n is ie r u n g d e r A n d e r e n u n d d es E ig e n e n v on S e ite n d e r P resse w ie von S eiten d e r s o r b is c h e n M i n d e r h e it d u rc h a u s ra tio n a le A r g u m e n t a ti o n e n in „ h a n d f e s te n K o n f li k te n “ d arstelle n . H ie r s tö ß t j e d o c h e in e D is k u r s a n a ly s e an ih re G r e n z e n , w e n n es um ein V ersteh en d e r D is k u r s p r o d u z e n t e n u nd ih r e r e in g e n o m m e n e n B e o b a c h tu n g s p e r s p e k t iv e n s o w ie d e r K o n s e q u e n z e n d e r D is k u r s e f ü r ein g e m e i n s c h a f tlic h e s L e b e n in D iff e re n z U N D G le ic h h e it geht. H ie r sin d p ra x io lo g ische, e t h n o g r a p h is c h e A n s ä tz e g efrag t. D a ss d ie s e r F o r s c h u n g s f o k u s n o t w e n d ig ist, d e m o n s tr i e r t „ D a s R ein e u nd d as V e rm i s c h te “ vo n E lk a T s c h e r n o k o s h e w a aufs N e u e d eu tlich . D e n n d e r h o m o g e n i s i e r e n d e B lic k ist nicht n u r „ l e e r e M y s t i k “ , s o n d e rn im p liz ie rt f ü r die B e z e ic h n e r w ie fü r die B e z e ic h n e t e n e in en „ T e u f e l s k r e i s “ und D ile m m a t a s , in d e n e n e r stru ktu rell n o t w e n d i g B in a r i s m e n p ro d u z ie rt u nd kein d ia l o g is c h e s P o te n tia l in sich trägt. D ie A u to r i n d e m o n s tr i e r t a b e r auch, d a ss ein D e n k e n in E n tw e d e rU N D - O d e r - M o d e l l e n , die V e rm isc h u n g e n , A m b iv a l e n z e n , z u g le i c h H ieru n d -d o r t-S e i n , ein in - b e tw e e n w a h m e h m e n und a u sh a lte n , s e h r w o h l im A llt a g s l e b e n a u ff in d b a r sind. H ie r h at v ie l m e h r die V o lk s k u n d e u nd E u r o p ä is c h e E th n o l o g ie n o c h ih re H a u s a u fg a b e n z u m a c h e n , e n t s p r e c h e n d h y b ride, transkulturelle K onzepte für derartige Praxen und Identitäten zu e n t w ickeln. In diesem Sinne stellt die R eihe „ H y b rid e K u ltu ren “ und ihr erster B and „ D a s R eine und das Vermischte“ einen wichtigen und interessanten B eitrag dar. S a b in e H e ss 2 0 0 2 , H e ft 1 L ite ra tu r d e r V o lk sk u n d e 73 Z U R A W S K I , Nils: Virtuelle Ethnizität. Studien zu Identität, K u ltu r und In tern et (= S o z io l o g ie u n d A n th ro p o lo g ie , B d . 11). F r a n k f u r t am M ain , 2 0 0 0 , 2 83 S eiten . T r ä g t d as I n te rn e t Ih r e r M e i n u n g n ach z u r L ö s u n g e th n i s c h e r bzw. n a ti o n a le r K o n f li k te b e i? S tä r k t d as In te rn e t die e ig e n e k u ltu re lle bzw. e th n is c h e Id e n titä t o d e r k o m m t es d urch d ie V ern etzu n g zu e in e r w e ltw e it e n A n g l e i c h u n g v o n L e b e n s s t il e n u n d k u ltu rellen Id e n titä te n ? F ra g e n d ie s e r A r t w a re n A u s g a n g s p u n k t fü r N ils Z u r a w s k i s v o rlie g e n d e A rb e it iiber d e n Z u s a m m e n h a n g von E th n iz itä t u n d d e r N u t z u n g des In t e r net. Im R a h m e n s e in e r D iss ertatio n v e rs u c h t d e r A u t o r zu k lä re n , ob u nd in w e l c h e r F o r m E th n iz itä t im In te rn e t in E r s c h e i n u n g tritt bzw. o b sich i n f o lg e d e s s e n f ü r die K o n s ti tu i e ru n g von e t h n i s c h e r bzw. k u lt u r e l le r Id e n t i tät in d en „ r e a l e n “ g e s e lls c h a ftlic h e n K o n te x te n V e r ä n d e ru n g e n e rg e b e n . Z u r a w s k is S tu d ie z e ig t den k la s sis c h e n A u f b a u e in e r w i s s e n s c h a ft lic h e n A rb e it u n d g lie d e rt sich in z w ei H a u p tk a p ite l: E in e n ersten th e o r e tis c h e n Teil, in w e lc h e m d e r A u to r v ers u c h t, den B e g r if f d e r E th n i z it ä t in se in e r V ie ls c h ic h t ig k e i t zu fassen un d e in e n a n sc h lie ß e n d e n e m p i r i s c h e n Teil, in w e lc h e m die E r g e b n is s e d e r F o rs c h u n g s a r b e i t v o rg e s te llt un d a n a ly s ie r t w e rd e n . D e r A u t o r w ä h lte fü r se in e U n te r s u c h u n g die M e t h o d e d es F r a g e b o g e n s: Ü b e r e in e n Z e it r a u m von zw ei M o n a t e n w u r d e ein F r a g e b o g e n m it M u l ti p le - C h o i c e - F r a g e n , F ra g e n m it B e u rte i lu n g s s k a le n s o w ie e in ig e n o f fe n e n F r a g e n im W o rld W id e W eb in drei S p ra c h e n p u b li z ie r t bzw. a u f A n f r a g e p e r E - M a i l v e rs c h ic k t - d e r F ra g e n k a t a lo g w a r s o m it an k e in e sp e z ie lle G r u p p e g erich tet, s o n d e rn k o n n te v on j e d e r I n t e r n e t - U s e r in / v o n j e d e m I n t e r n e t - U s e r b e a n tw o r t e t w e rd e n . F e l d f o r s c h u n g s ta g e b u c h a r t ig b e s c h r e ib t d e r A u to r die V o rg e h e n sw e ise bei d e r E rs te llu n g d es I n t e r n e t - F r a g e b o g e n s un d d ie D u r c h f ü h r u n g d e r U n te rs u c h u n g . W er an d e r E n tw ic k l u n g d e r e m p i r i s c h e n S o z ia l f o r s c h u n g - g era d e in H in b lic k a u f das A rb e ite n m it d e m I n te rn e t als e th n o l o g is c h e m W e rk z e u g - in te re s s ie r t ist, k ann h ier E r f a h r u n g e n n a c h le s e n , m ö g l ic h e r w e i s e die eine o d e r a n d e re S c h w a c h s te l le e n td e c k e n u n d M ö g lic h k e i te n d e r W e it e re n t w i c k lu n g a n d e n k e n . D e r ers te Teil d e r A rb e it b eh a n d e lt, w ie b ereits e rw ä h n t, im W ese n tlic h e n d en B e g r if f „ E t h n i z i t ä t “ - d e r j a ein k o n s t ru ie r te r ist - in s e i n e r V ie ls c h ic h tig k e it un d V ie ld isk u tie rth e it. Z u B e g in n w ird die L e s e r i n /d e r L e s e r in die E n t w i c k l u n g u n d V e rw e n d u n g d e r B e g riffe „ T e t h n i e “ , „ e t h n i c g r o u p “ „ e t h n is c h e G r u p p e “ eingeflihrt. A u s g e h e n d von d e m g r i e c h is c h e n W o rt „ e t h n o s “ f ü r N a tio n ( g e m e in t w aren d a m i t alle n ic h t-isra e litisc h e n N a tio n e n bzw. a u ch N ic h t- J u d e n , N a tio n w a r u rs p rü n g lic h ein h o m o g e n e s K o n z e p t) stellt Z u r a w s k i d ie D is k u s s io n um den B e g rif f „ E t h n i z i t ä t “ vor, die in d en letzten f ü n f z e h n bis z w a n z ig Ja h ren in den G e iste s- u n d S o z ia l w i s s e n s c h a f t e n 74 L ite ra tu r d e r V o lk sk u n d e Ö Z V L V I/105 w ie d e r ak tu ell g e w o r d e n ist. Ü b e r eine u m f a s s e n d e D e fin itio n von E th n ie u n d E th n i z it ä t d ü rf te bis d a to n o ch kein K o n s e n s h e rr s c h e n , w ic h ti g ist j e d o c h - so d e r A u t o r - , dass E th n izitä t als p e rs ö n lic h e E r f a h r u n g e n , S e lb s t b e s c h r e ib u n g u n d F r e m d z u s c h r e i b u n g v e rs ta n d e n w ird u n d e in e m stä n d ig e n P ro z e s s d e r A n p a s s u n g un d des s trateg isc h e n H a n d e ln s in u n te r s c h ie d lic h e n L e b e n s la g e n u n te r w o r fe n ist (S. 4 9 ). R e s ü m i e re n d stellt d e r A u t o r fest, d ass e th n i s c h e G r u p p e n d ie „ R e s s o u r c e E th n i z it ä t“ (S p ra c h e , R itu a le , S y m b o l e , etc.) als M itte l z u r k o lle k tiv e n A b g re n z u n g , S e lb s to rg a n is a tio n o d e r auch K a t e g o r i s ie r u n g v e rw e n d e n . „ N a tio n a lis m a c h ie v e s m u c h o f its e n e rg y in the c e le b ra tio n o f d if fe re n c e and o f u n iq u e e x p e r i e n c e “ (K ap fe rer, zit. nach Z u r a w s k i, S. 86) - e in e A n a ly s e des A u to rs ü b e r S tr u k tu r u nd F u n k ti o n auch d e r B e g r if f e „ N a t i o n “ un d „ N a t i o n a l i t ä t “ , die m it „ E t h n i z i t ä t “ in e n g e r V e rb in d u n g ste h e n , e rg ä n z t d iese b eg rifflich e E in f ü h r u n g u n d m a c h t d iesen ersten Teil de s B u c h e s zu e in e m w e rtv o lle n , w e n n a u c h n ic h t im m e r leich t zu le s e n d e n - w eil se h r a b stra k te n - K apitel. D e r A n s a tz d es A u to rs , E th n iz itä t b erg e s e l b s to r g a n is a t o ri s c h e P o te n tia le in sich u n d die S e lb s tz u s c h r e ib u n g e in e r e th n isc h e n G r u p p e sei fü r d e ren I d e n t it ä t v o n i m m e n s e r W ic h tig k e it, leitet iiber z u m e m p i r i s c h e n Teil d e r A rb eit. Ü b e r das In te rn e t w ird so w o h l w e ltw e it als au ch a u f lo k a l e r E b e n e k o m m u n iz i e r t , Uber alle K o m m u n i k a ti o n s k a n ä l e , d ie das I n te rn e t bietet, fin d e t ein in te rk u ltu re lle r A u sta u s c h statt. W enn - so Z u w a r s k i - das P rin z ip d e r E th n iz itä t als S e lb s to rg a n is a tio n in e in e m ( g l o b a l-) g e s e l ls c h a f tli c h e n R a h m e n e in e B e d e u tu n g hat, so sollte d ie s es P rin z ip a u ch im In te r n e t als R e s s o u r c e fü r G ru p p e n b il d u n g h e r a n g e z o g e n w e rd e n k ö n n e n . D ie F ra g e n , die sich d ie s e m A n s a tz an sc h lie ß e n , sind je n e n ach d e r p rin z ip ie lle n M o t i vatio n , das In te rn e t fü r die eig e n e V e rg ese llsch aftu n g - d e n n E th n iz itä t ist n ich ts a n d e re s als ein O rd n u n g s p r i n z ip - zu v e r w e n d e n , n ach den G re n z e n , d ie sich f ü r e th n i s c h e G ru p p e n a u c h im w eltw e ite n In te rn e t au ftu n (seien sie sp r a c h lic h e r o d e r a u c h te c h n i s c h e r N atu r) o d e r au ch die F ra g e n a c h e v e n t u ellen A u s w i r k u n g e n a u f die S itu atio n im realen g e s e l ls c h a ftl ic h e n U m fe ld . Z u r a w s k i re s ü m ie r t das E rg e b n is d e r U n te r s u c h u n g u n d sieh t sich m it s e in e r so z ia le n T h e o r ie d e r S e lb s to rg a n isa tio n b estätigt: E th n i z it ä t f in d e t sich im In te r n e t d a n n w ied er, w e n n sie im L e b e n des E in z e l n e n bzw. d e r G r u p p e von B e d e u t u n g ist. E th n i z it ä t w ird im In t e r n e t als A u s g a n g s p u n k t g e s e h e n , um m it G le ic h g e s in n t e n in K o n ta k t zu treten. D a ss T h e m e n in ih r e r G e w i c h t u n g u n d in ih r e r F o rm un d S tr u k tu r m i tu n t e r n ic h t d e r D a r s t e llu n g im realen K o n te x t e n ts p re c h e n , liegt in d e r N a tu r d e r S a c h e - sp rich des dynam ischen M edium s. K e in e b e fr ie d i g e n d e A n tw o r t fin d e t d ie L e s e r i n /d e r L e s e r a u f d ie F rag e, w ie sich E th n i z it ä t im In te rn e t konkret da rstellt, also w e lc h e n g e n a u e n In halts W eb se ite n , M a ilin g lis te n o d e r N e w s g r o u p s sind, w e lc h e I n f o rm a tio - 20 0 2 , H e ft 1 L ite ra tu r d e r V o lkskunde 75 n e n B il d e r tra n s p o rtie r e n , etc. D ies m a g v o rd e r g rü n d ig m it d e r d ie s b e z ü g li c h e n re la tiv u n k o n k re te n F ra g e s te ll u n g an d ie N u t z e r Z u s a m m e n h ä n g e n , a n d e re r s e its au ch m i t d e r T atsach e, dass Z u ra w s k i die P r ä s e n ta ti o n e n e t h n i s c h e r G r u p p e n im In te rn e t k e in e r in h a ltlic h e n A n a ly s e u n te r z o g e n hat. D ie A n tw o r te n d e r B e fra g te n , die b e d in g t d u rch die M e t h o d e d es F r a g e b o g e n s e h e r o b e r f lä c h l ic h g e h a lte n sind, ersetz en m e i n e r M e i n u n g n a c h k e in e e ig e n e A n a ly s e d es C o n te n ts . D a s s das C h a tte n im I n te rn e t a prio ri als B arun d T h e k e n g e s p r ä c h e b e z e i c h n e t w ird un d das U s e N e t als D i s k u s s i o n s fo r u m m i t n ie d r ig e m N iv e a u , w o e in e w irk lic h e A u s e in a n d e r s e tz u n g n ic h t sta ttfin d e t u n d d a ss n u r M a ilin g lis te n „ d e m A u s ta u s c h v on I n f o rm a t io n e n un d ih r e r D i s k u s s i o n “ (S. 179) d ie n e n , d a r f als se h r g e n e ra l is ie re n d g e w e r te t w e rd e n . D e r A u t o r z ie h t n ic h t in B e trac ht, d ass N e w s g r o u p s ein an d e res M e d i u m sind , aus b e s t im m t e n G r ü n d e n z w a r u n o rg a n i s ie r te r als M a i l i n g l i s ten, d a f ü r j e d o c h zu m e i s t eine n g rö ß e re n , o ffe n e re n L e s e rk r e is err e ic h e n und d a d u rc h In f o r m a t io n e n s e h r schnell V erb reitu n g fin d e n . E in e k o n k re t e B e o b a c h t u n g e in e r e n t s p r e c h e n d e n N e w s g r o u p w ä re an d ie s e r S te lle von I n te re s s e g e w e s e n . A m R a n d e sei h ie r a u f ein e U n te r s u c h u n g v on Jo se p h M c C a ll u s ü b e r e in e p h il ip p i n is c h e D is k u s s io n s g r u p p e h in g e w ie s e n : M c C a llus h at n a c h g e w ie s e n , dass in in ter-e th n is c h e n N e w s g r o u p s s e h r w oh l auch a n a ly tis c h e un d p ro d u k t iv e B e iträ g e v e rfa sst w e rd e n (M c C a llu s, D is c o u r s e C h a ra c t e ris tic s o f a F ilip in o E le c tro n ic D isc u s sio n G ro u p , S. 5 1 ) bzw. d ies e D is c u s s io n - G r o u p s a u ch g e n u tz t w e rd e n , um a u f e ig e n e u n d in te r-e th n is c h e P r o b l e m e h in z u w e is e n . D a s E rg e b n is se in e r S tu d ie ist im P rin z ip ein e A n t w o r t a u f Z u r a w s k i s F rage, ob und in w e lc h e m A u s m a ß e in e P rä s e n z im In te r n e t A u s w i r k u n g e n h a b e n k ann a u f d as reale g e s e l ls c h a ftl ic h e U m fe ld : M c C a l l u s ’ U n t e r s u c h u n g zeigt, dass N e w s g r o u p s a u f d as V erhalten d e r T e i l n e h m e r i n p o litisc h e r, s o z ia le r o d e r p e r s ö n lic h e r H in s i c h t E in f l u s s ha b e n k ö n n e n bzw. - w ie in d ie s e m s p ez ielle n Fall - a u f d ie p h il ip p i n is c h e R e g i e r u n g se lb st (M c C a l lu s , S. 62). „ L e t z t e n d l i c h g e h t es um B e d e u tu n g u nd V e rä n d e ru n g vo n E th n iz itä t v or d e m H i n te r g r u n d e in e r g lo b a le n I n f o r m a tio n s g e s e lls c h a ft, d e ren g e n a u e U m r i s s e e h e r s c h w a c h sin d u n d m e h r v e rs c h le ie rn als e r h e l l e n “ (S. 203). D a m i t k o m m e ich w ie d e r z u rü c k zu m A u to r des B u c h e s , d e r sich g e g e n E n d e se in e r A rb e it e le m e n ta r e n F ra g e n d e r G lo b a lis ie ru n g w id m e t. S e in e A u s f ü h ru n g e n las se n sich als K ritik an den G lo b a li s m u s - I d e o l o g ie n lesen und m a c h e n d e u tlic h , dass G lo b a li s i e r u n g n ic h t n u r Z u s a m m e n s c h l u s s b e d eu te t, so n d e r n a u c h A u s g r e n z u n g h eiß en k an n un d g e ra d e E th n iz itä te n den K a m p f u m e in e P o s itio n in d e r g lo b a lis ie rte n G e s e lls c h a ft z u v erlie re n s ch ein en . G lo b a li s i e r u n g ist p r i m ä r e in e F ra g e v o n w e s tlic h e n K o n z e n tr a t io n e n - das „ f r e i e “ In te r n e t s p ie g e lt d ie s e T atsac h e n u r wider. A lle in d ie V o rm a c h ts te l lu n g d e r e n g li s c h e n S p ra c h e im W eb ist fü r viele s p r a c h lic h e M i n d e r h e it e n 76 L ite ra tu r d e r V o lkskunde Ö Z V L V I/105 ein e n o r m e s H a n d ic a p - w e r d ie s e r S p ra c h e n ic h t m ä c h t ig ist, k an n sein e e ig e n e K u ltu r n a c h a u ß e n k a u m a d ä q u a t p rä s e n tie re n . Z u r a w s k i s A u f f a s s u n g vo n E th n i z it ä t als R e s s o u r c e d e r k o lle k tiv e n S e lb s to r g a n i s a t io n ist G r u n d te n o r des B u c h e s, un d se in e A r b e it ist im G r u n d e ein g e lu n g e n e r Versuch, den B e g r if f d e r E th n i z it ä t auch f ü r die B i l d u n g e t h n i s c h e r Id e n titä te n im In te rn e t zu k o n z e p ti o n a li s i e r e n . W ic h tig ist, dass E th n iz itä te n im In te rn e t n ic h t lo s g elö st v o n d e r re a le n U m g e b u n g g e s e h e n w e r d e n k ö n n e n u nd das In te rn e t - w ie a n d e r e M e d i e n a uch - eine w e ite r e D i m e n s io n d e r V e rä n d e ru n g v on K u ltu r d arstellt. M i t s e i n e m K o n z e p t d e r „ v ir tu e l le n E th n i z it ä t“ , das E th n iz itä t im H in b lic k a u f e in e A u s e i n a n d e r s e tz u n g m it T e c h n o lo g ie u nd ihren F o lg e n fü r K u ltu r u nd Id en tität m ein t, d e n k t Z u ra w s k i an ein e F le x ib ilis ie ru n g bzw. W e it e r e n t w i c k lu n g des B eg riffes. D ie s ist g e lu n g e n un d leg itim - es e n ts p ric h t sc h lie ß lic h d e r D y n a m i k u n d d e m P ro z e s s h a fte n von E th nizität. Z u r a w s k is S tu d ie zu „ Id e n titä t, K u ltu r u nd I n t e r n e t“ ist k ein L e s e b u c h , so n d e r n e in e D o k t o r a r b e it th e o r e tis c h e r N atur. D ie s im H i n t e r k o p f b e h a l tend , lo h n t es sich , sich d u rc h z u b e iß e n . B irg it J o h l e r B I N D E R , B e ate: E lektrifizierung als Vision. Z u r S ym b o lg esch ich te ein er Technik im A llta g (= U n te r s u c h u n g e n des L u d w i g - U h la n d - I n s ti tu t s d e r U n i v e rs itä t T ü b in g e n , B d. 89). T ü b in g e n , T ü b in g e r V e re in ig u n g fü r V o lk s k u n de, 1999, zug l. U niv. D iss. T ü b in g e n , 1996, 3 9 9 S eiten , 5 6 S W -A b b . B e a te B in d e rs S y m b o l g e s c h i c h te d e r E le k triz itä t b e g in n t m it d e r W i e d e r g a be e in e r Z e it u n g s n o ti z , in d e r v o m v e rs p ä te te n E in z u g d es F o rts c h ritts in den „ S t e i n e r h o f “ b e ric h te t w ird: k u rz v o r W e ih n a c h te n 1986 w u r d e d e r letzte B e r g b a u e r n h o f T iro ls an d as S tr o m n e tz a n g e s c h lo s s e n . In e in e r Z eit, in d e r d ie A n w e n d u n g d e r E le k triz itä t in allen L e b e n s b e re i c h e n ein s e h r h o h e s M a ß an S e lb s tv e r s tä n d l ic h k e i t e rr e ic h t hat, e rin n e rt d ies e Z e i t u n g s m e l d u n g d a r an, d a ß es e in m a l e in e Z e it gab, in d e r sich d as tä g lic h e L e b e n o h n e S tr o m n e t z , S te c k d o s e n und e le k trisc h e G e rä te v o llzo g . H i e r setz t au ch B in d e rs I n te re s s e an d e r E le k triz itä t an: so s e lb s tv e r s tä n d lic h u n d w e i t g e h e n d u n b e w u ß t h e u te E le k triz itä t g e n u tz t w ird, so w e itr e ic h e n d m u ß te n W a h r n e h m u n g s w e is e n u nd H a n d lu n g s a b l ä u f e v e rä n d e rt, m u ß te n s p e z i f i sc h e K o m p e te n z e n bei d e r N u tz u n g e le k tris c h e r G e rä te e n tw ic k e lt u n d in b e s t e h e n d e D e n k - u n d H a n d lu n g s r o u tin e n in te g rie rt bzw. n e u e h e r a u s g e b i l d e t w e rd e n . A u s g a n g s t h e s e v on B in d e rs U n te r s u c h u n g ist, d a ß d ie m i t den n e u e n te c h n i s c h e n G e rä te n e i n h e r g e h e n d e n n e u e n H a n d l u n g s o p t i o n e n im R a h m e n a l l t a g s w e l t l i c h e r L o g i k p l a u s ib e l u n d „ s i n n v o l l “ e r s c h e i n e n 2 0 0 2 , H e ft 1 L ite ra tu r d e r V o lkskunde 77 m u ß t e n , d a ß sie d as L e r n e n u n d E in ü b e n n e u e r S ic h t w e i s e n u n d H a n d l u n g s m u s t e r v o ra u s s e tz t e n u n d in d ie k u ltu re lle u nd s y m b o li s c h e O r d n u n g d e r G e s e ll s c h a f t e in g e b u n d e n w e rd e n m u ß te n . D ie s b e d e u te t, d a ß m e t a p h o r i sc h e u nd p ro j e k ti v e E n tw ü r f e von den g e s e lls c h a ftlic h e n W ir k u n g e n d e r n o c h u n v e r t r a u t e n T e c h n ik ein en w e s e n tlic h e n B e itra g z u r E ta b l ie r u n g des e le k t ri s c h e n V e rs o rg u n g s s y s te m s leisteten. In d ie s e m d is k u rs iv e n P ro z e ß w u r d e E le k t r iz i tä t bzw. E le k tro te c h n ik v e ra lltä g lic h t, in d e m die F u n k t i o n a lität d e r n e u e n T e c h n ik ü b e r ein e te c h n is c h - a b s tr a k te N ü tz li c h k e it hin a u s im K o n te x t ö k o n o m i s c h e r , s o z ia le r und k u ltu re lle r B e d i n g u n g e n un d E n t w i c k lu n g e n e n tw o r f e n u n d d e r S tr o m v e r s o r g u n g u n d -n u t z u n g d a m i t ein g e s e l l s c h a f tli c h e r O r t z u g e w ie s e n w urde. B i n d e r s c h lie ß t u.a. an k u lt u rs o z i o lo g i s c h e A n s ä tz e in d e r T e c h n ik f o r s c h u n g (w ie z.B . v o n K arl H. H ö rn in g ) an u nd u n te r su c h t, w ie E le k triz itä t bzw. ih re N u t z u n g z u m B e sta n d te il von k u ltu re lle n D e u tu n g s m u s te r n und O r ie n t ie r u n g e n w u rd e , w ie d ie P la u s ib ilitä t d e r n e u e n T e c h n ik h e rg e s te llt u n d in s z e n ie r t w u rd e . E le k t r iz i tä t w ir d in d ie s e r A rb e it als ein s y m b o lis c h e s K o n s tr u k t b e t r a c h tet. D e r F o k u s r i c h te t sich a u f die B e d e u t u n g s z u s c h r e i b u n g e n , f ü r d eren U n t e r s u c h u n g B i n d e r e in en d is k u rs a n a ly tis c h e n Z u g a n g w ä h lt (w ie ihn in d e r d e u t s c h s p r a c h i g e n F o r s c h u n g z u r G e s c h ic h t e d e r E le k t r if iz i e r u n g v.a. d e r S c h w e i z e r H is t o r ik e r D a v id G u g e rli vertritt, a u f d en sich die A u to rin a lle rd in g s n ic h t b e zie h t). D e n U n te r s u c h u n g s z e it r a u m b ild e n die Ja h r z e h n te z w is c h e n 1 88 0 u n d 1930, in d e n e n sich E le k triz itä t als z e n tr a le M e t a p h e r f ü r F o rt s c h ri tt u n d M o d e r n itä t etab lierte, als n e u e E n e r g ie f o r m ein e n eue N a t u r b e z i e h u n g v e rk ö r p e rte , als G r u n d l a g e u n d B e d i n g u n g f ü r d ie U m g e sta ltu n g d e r P ro d u k t io n s v e r h ä lt n is s e u nd als ein M o t o r de s g e s e l ls c h a f tl i c h e n T r a n s f o r m a t io n s p r o z e s s e s g ese h e n w urde. „ A l l e s e le k t r i s c h ! “ w a r ab d e m a u s g e h e n d e n 19. J a h r h u n d e r t n ic h t n u r eine w e r b e w i r k s a m e S trateg ie vo n I n g e n i e u r e n u n d In d u s trie lle n , so n d ern v ie l m e h r ein k u lt u r e l le r C o d e . D ie s e r S lo g a n w u r d e vo n u n te r s c h ie d lic h e n g e s e lls c h a ftlic h e n G r u p p i e r u n ge n v o r d e m H in te r g r u n d je w e il s e ig e n e r P o sitio n e n un d I n te n tio n e n g e d e u te t u n d m i t In h a lte n g e fü llt u n d stand so m it f ü r d u r c h a u s u n te r s c h ie d lic h e E r w a r t u n g s h a l t u n g e n an d ie n e u e T echn ik. I m m e r als e in e C h iffre fü r M o d e r n i s i e r u n g g e s e h e n , stießen die N e u e r u n g e n u nd V e rä n d e ru n g e n d u rc h E le k t r iz i tä t j e d o c h n ic h t n u r a u f p o sitiv e R e a k tio n e n . M a n c h e n g a lte n e l e k tr is c h e A n la g e n u nd G e rä te au ch als v e rd in g lic h te Z e ic h e n e in e r u n e r w ü n s c h te n g e s e lls c h a ftlic h e n D y n a m ik , d ie alte W e r t m a ß s tä b e u n d L e b e n s w e is e n g r u n d l e g e n d in F r a g e stellte. B i n d e r g lie d e rt ih r e U n te r s u c h u n g in drei g ro ß e A b s c h n it te , d ie j e w e il s f ü r e in e P h a s e in d e r G e s c h ic h t e d e r E le k trif iz ie ru n g stehen : das J a h r z e h n t vo n 1 88 0 bis 1890 als P h a s e d e r „ g e w e c k t e n E r w a r t u n g e n “ un d d e r I n s z e 78 L ite ra tu r d e r V o lkskunde Ö Z V L V 1/105 n ie r u n g vo n L ic h t u n d K raft, die J a h r e von 1890 bis 1914 als E t a b l i e r u n g s p h a s e d e r E le k triz itä t u n d die J a h r e v on 1914 bis 1930 als P h a s e d e r F e s t ig u n g u n d d es A u s b a u s d es S y ste m s. A ls Q u e lle n d ie n e n ih r z a h lr e ic h e Z e it u n g e n un d Z e its c h rifte n , in d e n e n u n te r s c h ie d lic h s te P o s i ti o n e n s ic h tb a r w e rd e n : F a c h o r g a n e d e r T e c h n ik e r u nd In g e n ie u re e b e n s o w ie H a u s f r a u e n u nd F a m i lie n z e its c h rifte n , W itz b lä tte r u nd S a tire z e its c h r ifte n , K u n s tz e i t sch rifte n , Z e its c h rifte n aus d e m B e re ic h des H e im a t s c h u t z e s u n d d e r D e n k m a l p f l e g e o d e r s o z i a ld e m o k r a ti s c h e Blätter. In g e o g r a p h i s c h e r H in s ic h t k o n z e n tr ie r t sich d ie U n te r s u c h u n g a u f B erlin un d S tu ttg a rt, w o m i t ein w ic h tig e s u n d M o d e l lc h a r a k te r b e sitz e n d e s Z e n tr u m d e r E le k t r if iz i e r u n g u n d ein k le in s t ä d ti s c h e r B e re ic h m ite i n a n d e r v e rg lic h e n w e r d e n k ö n n e n . B e r ü c k s i c h ti g u n g f in d e n u n te r s c h ie d lic h s te A n w e n d u n g s b e r e i c h e vo n E l e k trizität: In f r a s t r u k tu r un d K ra ftw e rk e , Verkehr, I n d u s trie u n d G e w e rb e , B e le u c h t u n g im ö ff e n tlic h e n w ie im p riv a te n R a u m , H a u s h a lt etc. B in d e rs th e o r e tisc h fu n d ie rte u n d m it e in e r so lid en Q u e lle n b a s is v e r s e h en e S tu d ie z u r G e s c h ic h t e d e r E le k t rif iz i e ru n g m a c h t d e u tlic h , d a ß ein v o lk s k u n d li c h - k u lt u r w is s e n s c h a f t li c h e r B lic k a u f d ie T e c h n ik e in e n o t w e n d ig e u nd e r k e n n t n is r e ic h e E rw e ite ru n g d e r T e c h n ik g e s c h ic h te n a c h sich zu z ie h e n v e rm a g . „ E l e k t r if iz i e r u n g als V is io n “ ist ein g e lu n g e n e s B e isp ie l fü r e in e in te rd i s z ip l in ä r e rw e ite rte T e c h n ik g e s c h ic h te , w ie sie seit e in ig e n J a h ren a u c h im d e u ts c h s p r a c h i g e n R a u m g e fo r d e rt un d a n s a t z w e i s e b e trieb en w ird. S u s a n n e B re u s s M E Y E R - R E N S C H H A U S E N , E lisa b e th , A n n e H O L L (H g.): D ie W ieder keh r d e r G ärten. K leinlandw irtschaft im Z eita lter d er G lobalisierung. I n n s b ru c k , S t u d i e n v e r l a g , 2 0 0 0 , 2 3 0 S eiten. B e k a n n tl ic h k o m m e n R e f o r m e n aus d e m h e r r s c h e n d e n S y s te m , R e v o l u t i o n en v o n a u ß e rh a lb . H e u te sp r e c h e n w ir v o n d e r G l o b a li s i e r u n g u n d m e in e n d o c h das k a p ita lis tis c h e W eltsy ste m (I. W allerstein). W as a b e r h a t das m it de n G ä rte n , d e r K le in la n d w irts c h a ft, zu tu n? E in e S o z io l o g in (E lisab eth M e y e r - R e n s c h h a u s e n ) u n d e in e A g r a r i n g e n ie u rin (A n n e H o ll), V e ra n sta lte rin n e n e in e r in te rn a tio n a le n K o n f e r e n z z um T h e m a u n d H e r a u s g e b e r i n n e n von „ D i e W ie d e r k e h r d e r G ä r t e n “ erklären: „ I m Z u g e d e r G lo b a li s i e r u n g stellen w ir e in e A n g le ic h u n g d e r L e b e n s s tile fest, alle tra g e n J e a n s u nd essen bei M c D o n a ld s , a u f d e r G e w i n n e r s e i te fa h re n sie alle M e r c e d e s u n d kau fen die gle ic h e n K o s tü m e in E d e lb o u t iq u e n . [...] A b e r a u ch a u f d e r V erliererseite ä h n e ln sich d ie S tra te g ie n d es Ü b e r l e 20 0 2 , H e ft 1 L ite ra tu r d e r V o lkskunde 79 b e n s tro tz V e ra rm u n g z u n e h m e n d mehr. Ü b e ra ll in d e r D ritte n W e lt b e s in n e n sich die Ä r m s te n a u f d ie R e le v a n z ih rer S e lb s tv e rs o rg e rl a n d w i rt s c h a ft , un d in d e n S tä d t e n b e g in n e n d ie F ra u e n a u f B ra c h flä c h e n G e m ü s e a n z u b a u e n . “ ( 10 ) „ O h n e ihn k ö n n te ich n ic h t“ , sa g t F ra u M ü l l e r aus d e r B e r li n e r S c h r e b e r g a r t e n k o lo n i e (38). „ E r “ ist ihr G a rten . H e r r D. aus U n g a rn n i m m t sich 3 0 ha G e n o s s e n s c h a f ts a n t e il , n a c h d e m e r n ach d e r P r i v a ti s ie r u n g d e r la n d w ir t s c h a f tlic h e n K o o p e r a ti v e de n Jo b ve rlo re n hat. U n d er b e g in n t, d a s L a n d fü r d en G e m ü s e b a u zu n ü tz e n (55). In W e s t-R u m ä n ie n k ö n n e n d ie L e u te von ih r e m F a b r i k s lo h n n ic h t leben: „ W e n n sie kein L a n d h a b e n , sin d sie t o t“ , s a g t ein B ü r g e r m e is t e r (56). In A frik a b lü h e n die G ä rte n in den S lu m s d e r M e g a s tä d te aus d e n s e lb e n G rü n d e n . D ie m e iste n B e it rä g e w a g e n ein en w ic h tig e n S chritt: M it ih rem B lick a u f die G ä rte n fo r d e rn sie d as S y ste m , sprich die G lo b a lis ie ru n g , h e ra u s . T ro tzig e rin n e rn sie m i t B e is p ie le n aus D e u ts c h la n d , L a te in a m e rik a , A f r i k a so w ie M itte l- u nd O s te u r o p a an T s c h a ia n o w s T h e s e von d e r e rf o lg re ic h e n L e b e n s w e is e d e r s e l b s tv e r s o rg e n d e n B ä u e rin n e n . K a rin S tä n d l e r s c h lie ß t m it ih ren E rfa h r u n g e n in B u r k in a F a s o an eine seit d en 1 9 7 0 e r Ja h r e n p r o m in e n t e E n tw ic k l u n g s k ri ti k an. Ih re F o r t s c h r i tt s k ritik g ip f e lt in J o h n B e rg e rs R u f n a c h e in e r „ Ü b e r l e b e n s k u l t u r “ . W ie s o uns die A u to rin n ach so v iele n sc h la g e n d e n A rg u m e n te n g e g e n E n t w i c k l u n g a b e r a u s g e r e c h n e t die N a c h h a lt ig k e it s f o r d e r u n g e n u n te r ju b e ln m ö c h te , bleib t u n v e rs tä n d li c h . S tä n d l e r steh t f ü r eine n g e m e i n s a m e n S c h w a c h p u n k t v ieler A rtik el d ie s e s a m b i ti o n ie r te n B u ch e s: D ie F u n d a m e n t a lk r it ik an d e r h e r r s c h e n d e n l a n d w i r t s c h a f t l i c h e n u n d in d u s tri e ll e n P r o d u k t i o n s w e i s e v e r stric k t sich allzu leic h tf e rtig in den F ä n g e n d e r e in f a c h e n u n d b e k a n n te n L ö s u n g s m o d e ll e . Ich frag e m ich , w a ru m e tw a die D o k u m e n t a t i o n d e r C o m m u n i ty G a r d e n s in N e w York (I rm tra u t G rü n s te id l) u n k ritisc h n e b e n A n n e H o lls l a u n i g e r B e s c h r e i b u n g ein es f r a g w ü rd ig e n E n tw ic k l u n g s h il f e p r o j e k ts f ü r G e m ü s e g ä r t e n in H a v a n n a steh en bleibt. G le ic h e r m a ß e n u n b e e in d r u c k t z e i g t s ic h G e r t G r ü n i n g , d e r s e in e „ k a m p f e s m u t i g e n L a u b e n p i e p e r (= L a u b e n k o l o n i s t e n ) “ in B e rlin ( 1 9 8 5 - 1 9 9 5 ) den A n m a ß u n g e n e in e r e n t w ic k e ln d e n S ta d t p la n u n g a u s g e s e tz t sieht. V o g l-L u k a s s e r u n d Vogl fo r d e rn f ü r ihr U n t e r s u c h u n g s g e b i e t d e r M a y a - I n d ia n e r in M e x i k o s o g a r e x p liz it m e h r E n tw ic k l u n g , w e n n sie in d e r u n te rsu c h te n R e g io n „ s t a a t l i c h e I n f ra s tru k tu r f ü r T ra n s p o r t, B il d u n g u nd G e s u n d h e i t s w e s e n “ v e rm iss e n . R e v o lu t io n e n s in d d a m i t n ich t zu m a c h e n , n ic h t ein m a l W id e r s ta n d g egen G lo b a li s i e ru n g . - D ie K le in b ä u e r in n e n v e rf ü g e n ü b e r a u s r e ic h e n d e E r f a h r u n g e n m i t d e n m o d e r n is i e r u n g s o r ie n t ie r t e n com m unity d evelo p m en t proje c ts u n d ih ren v e r n i c h te n d e n F o lg e n . D a s ist den S o z ia l w i s s e n s c h a f t e r ln n e n b e w u s s t e r als d en L a n d w i r ts c h a f t s - E x p e r t in n e n , d ie am v o rlie g e n d e n B u ch 80 L ite ra tu r d e r V o lkskunde Ö Z V L V I/105 m i tw ir k te n . D i e s o z i a l w is s e n s c h a f t li c h e P e r s p e k tiv e (I n g e B u c h , N ig el S w a rn u n d die H e r a u s g e b e r i n n e n ) n ä h rt w e d e r E n tw i c k l u n g s e r w a r t u n g e n n och s y s te m t r e u e R e fo r m p h a n ta s ie n d e r K le in s tla n d w irts c h a ft. D a s G ä r t n e rn w ird als die p ra k tiz ie rte A n tith e s e z u r G lo b a li s i e r u n g v e rs ta n d e n . D ass d ie R e v o lu t io n , sp rich d e r ra d ik a le U m b a u d e r h e rr s c h e n d e n O r d n u n g , ihre M a ß s t ä b e von d e n G ä rtn e r n e n tleh n t, w ä re ta tsä c h lic h w ü n s c h e n s w e r t. W e nn es n ach La Via C am pesina , e in em w e ltw e ite n Z u s a m m e n s c h l u s s von K l e i n b ä u e r in n e n , g in g e, w ä re n d ie G ä r tn e r in n e n u n d K l e i n b ä u e r i n n e n die A k te u r e d es n o tw e n d ig e n , ra d ik a le n W an dels, n ic h t n u r in d e r L a n d w i r t s c h a f ts p o litik , s o n d e r n a u c h d e r h e rrs c h e n d e n O r d n u n g . D ie B o ts c h a f t ü b e r d ie s te ig e n d e R e le v a n z von G ä rte n und K le in s tl a n d w i r ts c h a f t in S ta d t u nd L a n d b e f l ü g e lt d ies e H o f f n u n g e n a u f alle Fälle. M a r tin a K a lle r -D ie tric h G Ö T T S C H , S ilk e, A lb r e c h t L E H M A N N (H g.): M eth o d en d er V olkskun de. P ositionen, Q uellen, A rbeitsw eisen d er E uropäischen E th n o lo g ie. B e r lin, R e im e r, 2 0 0 1 , 3 3 6 S eiten. M i t d e m in g lä n z e n d e n g ra u e n K arton e in g e s c h la g e n e n B a n d „ M e t h o d e n d e r V o lk s k u n d e “ aus d e r R e ih e „ E t h n o l o g i s c h e P a p e r b a c k s “ d e s B e r li n e r V erlages D ie tr ic h R e im e r ist uns S tu d e n te n u nd S t u d e n t in n e n d e r E u r o p ä i s c h e n E th n o l o g ie ein in h a ltre ic h e s B u c h in die H a n d gelegt. U n d das m ö c h t e es j a a u ch sein, ein H a n d b u c h , un d A u s k u n f t g e b e n Uber „ P o s i ti o n e n , Q u e lle n , A rb e it s w e is e n d e r E u ro p ä is c h e n E t h n o l o g i e “ . D a m i t w e n d e n sich die H e r a u s g e b e r S ilk e G ö tts c h und A lb r e c h t L e h m a n n a u s d r ü c k lic h an S t u d i e r e n d e in h ö h e re n S e m e s te rn un d an S tu d i e r e n d e u n d L e h r e r d e r N a c h b a r d is z ip l in e n , um ihn en ein en p ra x is o rie n tie rte n Ü b e r b li c k iiber die ak tu ell v e rw e n d e te n Q u e lle n u n d M e t h o d e n zu g eb en . A ls H a n d b u c h z e ic h n e t es n ic h t n u r ein B ild d e r D isz ip lin un d d e r s p e z ifis c h e n W i s s e n s c h a f ts kultur, es g ib t e in e n A u s s c h n i tt des w is s e n s c h a ftlic h e n D is k u r s e s frei und w ir k t k ra f t s e in e r A u to ri tä t se lb st d is k u rs f o rm e n d . D ie s e r B a n d v e r s a m m e lt v ierzeh n , aufs E rste r e c h t d iv e r g e n t e r s c h e i n e n de A u f s ä t z e in d e r A b s ic h t , h is to r i s c h e s o w ie g e g e n w a r t s b e z o g e n e F o r s c h u n g s f e l d e r u n d A u to re n u nd A u to rin n e n aus allen F o r s c h e r g e n e r a t i o n en in ih ren u n te r s c h ie d lic h a u sg e r ic h te te n Z u g a n g s w e is e n u n d F o r s c h u n g s in te re ss e n v o rz u s te lle n . D e n n o c h ist es n ic h t so, dass e in e W is s e n s c h a f t, die ih re F o r s c h u n g s o b j e k t e als „ m o v i n g ta r g e ts “ (G is e la W elz ) e m p f in d e t, s e lb st in d e r E i g e n r e p r ä s e n t a tio n zu e in e m so lc h e n w ird: D e r U n te rtite l des B a n d e s v e rm itte lt d e n E in d r u c k e in e r V ielfalt, die in e in e m sic h e re n S e lb s t v e rs tä n d n is d es F a c h e s g e b o rg e n scheint. 20 0 2 , H e ft 1 L ite ra tu r d e r V o lkskunde 81 D ie s e n E in d r u c k v e rs tä rk t d e r ä h n lic h e A u fb a u d e r A u fs ä tz e . D e r A u f f o r d e r u n g an d ie A u to re n , ihren S p e z ia lb e re ic h in K ü rz e u n d a n s c h a u lic h v o rz u s te lle n , s c h e in t ein K a ta lo g v on A sp e k te n z u r G lie d e r u n g m i tg e g e b e n w o rd e n zu sein: E in e r w is s e n s c h a fts g e s c h ic h tlic h e n E i n o r d n u n g f o lg t m eist e in e k ritis c h e D a r s t e llu n g d e r Q u elle n u nd M e t h o d e n z u r A u s w e r t u n g des M a te ria ls s o w ie ein E in b lic k in d ie F o r s c h u n g s d is k u s s i o n ; F o r s c h u n g s d e fiz ite w e r d e n als A u f g a b e n s t e ll u n g v ers tan d e n . D ie d a rg e s te llte D y n a m ik e in e r als P ro z e s s a u fg e f a s s te n F o r s c h u n g s a rb e i t w e c k t I n te re s s e u n d m a c h t L u st, sich d a r a n zu b e te ilig e n . H ä u fig fin d en sich in d e n A u f s ä t z e n in d e r P ra x is w a h r s c h e i n li c h m ü h s a m e r w o r b e n e K e n n tn is s e u n d n ü tz l ic h e H i n w e is e f ü r k ü n f t ig e A rb e ite n des L esers. M e i s t v e ra n s c h a u li c h e n B e is p ie le aus d e r F o r s c h u n g s p r a x i s o d e r F o r s c h u n g s m o d e l le d ie v o r g e s c h la g e n e M e th o d e , e x e m p l a r i s c h e T exte w e rd e n v org estellt. D a s B u c h b ie te t k e in e T h e o r i e n d is k u s s io n an, a b e r es w ird d e u tlich , d ass d ie u n te r s c h ie d lic h s te n T h e o rien e in e n s ic h e re n G r u n d d e r F o r s c h u n g b ild e n . D ie L it e r a tu r h in w e is e am E n d e je d e s A rtik e ls stellen th e o re tisch e, rez ente, s o w ie f ü r d ie W i s s e n s c h a f ts g e s c h ic h t e d es je w e il ig e n F o rs c h u n g s fe ld e s re le v a n te A rb e ite n v o r u n d b ieten e in e n a u s g e z e i c h n e te n E in stie g in d ie d a rg e s te llte n F o r s c h u n g s felder. W eg en d es ä h n lic h e n A u fb a u s d e r T ex te u nd d e re n k la r e r S t r u k tu r i e r u n g ist d ie O r ie n t ie r u n g in n e r h a lb d e r ein z e ln e n A rtike l, w ie a u c h ein r a s c h e s H in - u n d H e rb lä tte r n z w isc h e n den A u fs ä tz e n leich t m ö g lic h . S ie re iz e n n ä m lic h d o c h , d ie s e u n te r s c h ie d lic h e n F o rs c h u n g s m e i n u n g e n un d A n s ä tz e , d ie d a so s c h e i n b a r n e b e n e in a n d e r, u nd j e d e n f a ll s von den H e r a u s g e b e r n u n k o m m e n ti e r t , v o rlieg en . M a n m ö c h t e B e z ü g e f in d e n z w i sch en d e n an d en k la s s is c h e n K a n o n d e r V o lk sk u n d e a n k l i n g e n d e n T h e m e n un d so lc h e n , die v o r a llem in d e r A u s e in a n d e r s e tz u n g m i t k u ltu re lle n P h ä n o m e n e n d e r n e u e r e n Z e it zu b ea rb e ite n sind. D ie A u f n a h m e d e r B e z e i c h n u n g „ V o l k s k u n d e “ in den Titel des B u c h e s k ö n n te d ie R i c h t u n g w e ise n , un d die L e k tü r e d e r A u fs ä tz e m a c h t d e u tlich , d ass d ie D is k u s s io n e n d e r „ m o d e r n e n “ T h e m e n sich n ic h t n u r th e o re tisc h a u f die F a c h g e s c h i c h te b e z ie h e n , sie leiten ih re M e t h o d e n hä u fig aus tr a d itio n e lle n A r b e i t s t e c h n i k e n d e r V o lk s k u n d e ab. R o l f W. B re d n ic h w e is t in sein en „ M e t h o d e n d e r E r z ä h l f o r s c h u n g “ a u f die O rie n tie r u n g d e r v o lk s k u n d li c h e n I n t e r n e t f o r s c h u n g , an au s d e r E rz ä h l f o r s c h u n g b e k a n n te n F r a g e s te ll u n g e n , hin (S. 63.). D a s t h e m a ti s c h e P e n d a n t, T h o m a s H e n g a rtn e r s: „ V o lk s k u n d l ic h e s F o rs c h e n im , m it un d ü b e r d as I n t e r n e t“ (S. 1 8 7 -2 1 1 ) , d is k u tie rt d ie M ö g l ic h k e i te n un d G re n z e n v o lk s k u n d li c h e r F o rs c h u n g in e in e m w eit ü b e r d ie E r z ä h l f o r s c h u n g h i n a u s g e h e n d e n Z u g a n g zu m M e d i u m . E in B e i s p i e l fü r das h ä u fig e N e b e n e i n a n d e r u n te r s c h ie d lic h e r F o r s c h u n g s m e i n u n g e n un d Z u g a n g s w e i sen in d ie s e m B a n d . D e r A u fsa tz U lrich H ä g e les: „ V is u a l F o lk lo re . Z u r R e z e p tio n u n d M e t h o d i k d e r F o to g r a fie in d e r V o lk s k u n d e “ (S. 2 7 7 - 3 0 0 ) 82 L ite ra tu r d e r V o lk sk u n d e Ö Z V L V 1/105 o rd n e t sein F o rs c h u n g s g e b ie t in d ie T rad itio n d e r v is u e lle n D a rs t e llu n g e n d e r V o lk s k u n d e u n d f o lk lo ris tis c h e r T h e m e n ein, um iiber d ie P r o b l e m a t is ie ru n g d e s V e rh ältn iss es F o to g r a fie - „ W i r k l i c h k e i t “ u n d d ie F o r d e r u n g n a c h K o n t e x tu a l is ie r u n g e in e n e u e S te llu n g d e r F o to g r a f ie in d e r V olk sk u n .d e a b s e its e i n e r d o k u m e n t a r i s c h e n F u n k ti o n als d e r e in e s F o r s c h u n g s o b je k te s zu b e g rü n d e n . S e in e V orsc hlä ge z u r B il d a n a ly s e u n d die D a r s t e l lu n g d e r V e rw e n d u n g s m ö g l ic h k e i te n d e r F o to g r a fie als f o r s c h u n g s u n t e r s tü tz e n d e s M e d i u m m a c h e n a u f ein e rw e ite rte s In s tr u m e n ta r iu m d e r E u r o p ä is c h e n E t h n o l o g ie a u fm e r k s a m u n d n e u g ie rig . D ie D a r s t e llu n g v o n K a th a r in a E isch: „ I n t e r e t h n i k und in te rk u ltu re lle F o r s c h u n g . M e t h o d is c h e Z u g a n g s w e i s e n d e r E u r o p ä is c h e n E th n o l o g ie “ (S. 1 3 9 - 1 6 4 ) z eig t, w ie F o r s c h u n g e n z u r I n te re th n ik tr a d itio n elle B e g rif flic h k e ite n re fle k tie re n , d en D is k u r s u m d ie Z u s c h r e i b u n g v on A ttrib u te n e n tla n g n a tio n a l u n d e th n isc h t y p i s i e rte r E ig e n s c h a f te n , s o w ie den P ro z e s s n a ti o n a le r I d e n titä ts b ild u n g a n a ly s ie r e n , u nd sich in ein en b e w u sste n G e g e n s a tz zu S t r ö m u n g e n in d e r V o lk sk u n d e stelle n, d ie sich g e g e n ü b e r v ö lk i s c h e m G e d a n k e n g u t g e ö ff n e t ha b e n . A u s d ie s e r R e fle x io n d e r F a c h g e s c h i c h te g e w in n t d ie F o r s c h u n g K rite rie n z u r D iff e r e n z ie r u n g ih r e r B e g rifflic h k e ite n : D ie R e d e v o n d e r o ff e n e n u n d g e s c h l o s s e n e n G re n z e z u m A n d e re n b e s t i m m t d ie D e k o n s tr u k tion o b s o l e t g e w o r d e n e r e s s e n tia lis tis c h e r V o rstellu n g en v o n E th n i e o d e r N a tio n m it. D ie s e B e is p i e le z eig e n V o lk sk u n d e n ic h t n u r in ih r e r F o r s c h u n g s p r a x is h is to risc h a rg u m e n tie re n d , so n d e r n b eleg e n , d a ss sich d as F ach a u c h in d e r R e fle x io n s e in e r M e th o d e n d e r W is s e n s c h a f ts g e s c h ic h t e d u r c h a u s g e w in n b r i n g e n d b e w u s s t ist. A u s T h e m e n , E r f a h r u n g e n u nd M e th o d e n des „ a l t e n K a n o n s “ w e rd e n n e u e A r b e it s te c h n ik e n a b g e le ite t u nd sich s tä n d ig ä n d e r n d e n E rfo r d e rn is se n an g e p a ss t. D ie B e s c h ä f t ig u n g m i t „ tr a d it io n e l le n “ T h e m e n e r w e is t sich n ic h t als b e q u e m e r als d ie B e s c h ä f t ig u n g m it n eu zu e r a r b e it e n d e n G e b ie te n . H e r m a n n H e i d r i c h s „ V o n d e r Ä s th e t ik z u r K o n te x tu a l it ä t: S a c h k u lt u r f o r s c h u n g “ (S. 3 3 - 5 5 ) v e ra n s c h a u li c h t die N o tw e n d ig k e it , R e z ip r o z itä t von D in g u n d M e n s c h in d e r F o r s c h u n g an ein e z e n tra le S telle d e r k u l t u r w i s s e n s c h a f tlic h e n F o r s c h u n g zu setzen . D ie B e d e u tu n g d e r D in g e sei aus ihrem V e r w e n d u n g s z u s a m m e n h a n g zu ers c h lie ß e n , an D in g e n seie n g le ic h s a m O b je k ti v a ti o n e n g e s e l ls c h a f tl ic h e r u nd in d iv id u e lle r W e rtig k e ite n und B e d e u tu n g s s e tz u n g e n a b zu le sen , S ilk e G ö tts c h z e ig t im e rs te n A u fs a tz des B a n d e s „ A r c h i v a l i s c h e Q u e lle n u n d d ie M ö g l ic h k e i t ih r e r A u s w e r t u n g “ (S. 1 5 - 3 2 ) e in e n g e g e n ü b e r den E n t w ic k l u n g e n in d en N a c h b a r d is z ip l in e n o ff e n e n Z u g a n g z u r E r f o r s c h u n g a rc h iv a lis c h e r Q u ellen . E r k e n n tn i s s e , o ft au s a n d e re n F r a g e s te ll u n g e n g e w o n n e n , fü h re n zu n e u e n B e u rte i lu n g e n d e r Q u e l l e n , ab er, L o h n d e r M ü h e n , e r m ö g l i c h e n a u c h n e u e F o r s c h u n g s e rg e b n isse . S ie sieh t Q u e lle n als „ V e r te x t u n g vo n s o z ia le n E r e ig n i s s e n u nd 20 0 2 , H e ft 1 L ite ra tu r d e r V o lkskunde 83 k u ltu re lle n P ra k tik e n , d ie sich d e r B e o b a c h tu n g e n tz i e h e n “ (S. 2 3 ) u n d aus d e n e n j e n e B e d e u t u n g e n e ra r b e ite t w e rd e n m ü s se n , d ie i h n e n d ie m itte lb a r e n u n d u n m i tt e lb a r e n V erfass er g e g e b e n hab en . A n A lb r e c h t L e h m a n n s f a c h g e s c h i c h tl ic h e r E i n o r d n u n g d e r „ B e w u ß t s e i n s a n a l y s e “ (S. 2 3 3 - 2 4 9 ) e rw e is t sich, d a ss e rk e n n t n is t h e o r e t is c h e P a r a d i g m e n w e c h s e l u nd d e r W a n d e l des K u ltu r b e g rif fs n ic h t n u r z u r g ru n d le g e n d e n S e lb s tre f le x io n d e r F o r s c h e r a u ff o rd e rn , sie v e rla n g e n teilw e is e eine b e in a h e v ö llig n e u e B e a r b e i tu n g d e r S a c h g e b ie te u nd e in e n e u e B e f r a g u n g d e r Q u elle n u n d M a te r ia lie n u n te r d ie s e n A s p e k te n . D ie D a r s t e llu n g d e r Q u elle n un d ihres m e t h o d is c h u n d th e o r e tis c h re f le k tierten E in s a tz e s lä s st in d ie K o n s tr u k tio n vo n W is s e n s m o d e ll e n E in b lic k n e h m e n . E in e m i t n e u e m S e lb s tb e w u s s t s e in a u ftre te n d e E u r o p ä is c h e E t h n o lo g ie stellt sich als h is to risc h a r g u m e n ti e re n d e K u l tu r w i s s e n s c h a f t dar, d eren ers tes Z iel d ie R e k o n s tr u k ti o n v e r g a n g e n e r u n d die A n a ly s e g e g e n w ä r ti g e r L e b e n s w e lt e n ist. M i t H ilfe „ w e i c h e r “ M e t h o d e n u nd e in e m v e rs te h e n d h e r m e n e u ti s c h e n A n s a tz n ä h e rt sie sich d em d ic h te n N e tz v o n im m e r neu h e rg e s te llte n B e d e u tu n g s - u n d S in n b e z ü g e n , die in A b h ä n g i g k e i t zu s o z i a len, h is to ris c h e n u n d p o litisc h e n F a k to r e n w e c h s e ln d e s y m b o li s c h e O r d n u n g e n k o n s titu ie re n . W is s e n s c h a f tlic h e s A rb e ite n d e r E u r o p ä is c h e n E t h n o l o g ie v e rs te h t sic h als Teil e in e s g e se llsc h a ftlic h e n P ro z e s s e s in e in e m r e z i p r o k e n V erh ältn is v o n F o rs ch er, W is s e n s c h a f ts - u n d g e s e lls c h a ftlic h e n D i s k u r sen. H a n s B lu m e n b e r g s „ I m m e r leb en w ir z w is c h e n d e n E x tr e m e n des Z e r f a l le n s u n d d e r (R e -) I n te g r a ti o n “ w ird n o tw e n d ig e B a s is f ü r e r n s t z u n e h m e n d e s w is s e n s c h a f t lic h e s A rb eiten . D ie s m a c h t d ies es B u c h d eu tlich ! B rig itte S ta r z in g e r K R E T Z E N B A C H E R , L e o p o ld : Vergleichende Volkskunde E uropas. G e sa m tb ib lio g ra p h ie m it R e g iste r 1 9 3 6 -1 9 9 9 (= M ü n c h n e r B e it r ä g e z u r V o lk sk u n d e , B d. 25). M ü n s te r, N e w York, M ü n c h e n , B e rlin , W a x m a n n , 2 0 0 0 , 107 S eiten , 1 A b b ., I S B N 3 - 8 9 3 2 5 - 8 4 0 - X . D ie G e s a m t b ib l io g r a p h i e d es e in z ig e n n och le b e n d e n ta ts ä c h lic h e n V er treters e in e r „ E t h n o l o g i a E u r o p a e a “ , d e r in K ü r z e se in e n 90. G e b u r ts ta g feiern w ird , is t n a c h d e n V ora rbeiten d e r F e s ts c h r i f tb i b li o g r a p h i e n 1977, 1989 u n d 1993, an d e n e n E lfr ie d e G rab n er, G e r d a M ö h le r, G e o r g R. S c h ro u b e k u n d H a n s S c h u h la d e n b ete ilig t w a re n , n u n d o c h n o c h in B u c h f o r m e rs c h ie n e n , le id e r w ie d e r u m o h n e die R e z e n s io n e n K r e tz e n b a c h e r s (a u f Z e it u n g s b e it r ä g e , R u n d f u n k m a n u s k r ip t e u n d Ü b e r s e t z u n g e n k a n n e h e r v e r z ic h t e t w e rd e n ), die, in d ie H u n d e rte g e h e n d u n d z u m Teil s e h r a u s f ü h rlic h , 84 L ite ra tu r d er V o lkskunde Ö Z V L V I/I0 5 d as g e is tig e Profil a n d d e n I n f o r m a t io n s - S to ff w e c h s e l e in es F o r s c h e r le b e n s d o k u m e n t ie r e n , w as v o r allem im F a lle K r e tz e n b a c h e r s , m i t d e r e n o rm e n R e ic h w e it e se in e r k o m p a r a ti v e n A n sä tz e , in a n d e re F a c h b e r e i c h e hin ein , ü b e r alle S p r a c h g r e n z e n h i n w e g u nd in h is to risc h e T iefe n bis in die A n tik e a u s g r e ife n d , in t e re s s a n t ist, da in d iesen M o n o g r a p h ie n v ie lfa c h e u r o p ä i s c h e K u ltu r g e s c h ic h e g e s c h r ie b e n un d das v e re in e n d e F u n d a m e n t d e r e u r o p ä i s c h e n V ö lk er in ih r e m g e s c h ic h tlic h e n G e w o r d e n s e in v o r A u g e n g e ste llt w ird. A u f d ie s e G e g e n w a r t s f u n k t io n d e r B ib l io g ra p h i e v e rw e is t a u ch H e lg e G e r n d t in s e i n e m V orw ort. D ie eig e n tlic h e G e s a m t b ib l io g r a p h i e u m f a ß t B ü c h e r u n d A u f s ä t z e u n d zählt, v o n 1936 bis 1999, 4 1 7 N u m m e r n , w o v o n v ie r in V o rb e re itu n g sind. A u f 33 b e lä u f t sich die A n z a h l e i g e n s tä n d i g e r P u b li k a ti o n e n , S a m m e lb ä n d e un d M o n o g r a p h ie n . E s f o l g t ein A b s c h n it t ,,B i o - b i b l i o g r a p h i s c h e s “ (S. 73 ff) m it e in e r A u s w a h l v o n F e s ts c h rifte n und W ü r d i g u n g e n , d en A k a d e m ie - M i tg li e d s c h a f t e n , M e d a i ll e n u n d E h r u n g e n , so w ie d en W id m u n g e n d e r se lb stä n d ig e n S c h rifte n K re tz e n b a c h e r s . Von b e s o n d e r e r W ic h t ig k e i t sind a b e r die R egister, d ie sich freilic h n u r a u f die T itel b e z ie h e n k ö n n e n : O rts re g is te r (S. 78 ff) u n d P e r s o n e n - u n d S a c h r e g i s te r (S. 8 1 - 1 0 7 ) , d a d ie s e d en g a n z e n k o m p a r a ti v e n R e ic h t u m d e r K re tz e n b a c h e r s c h e n A rb e ite n a u fs c h lü ss e ln un d a uch e in e s e le k tiv e B e n ü t z u n g d e r B ib lio g r a p h i e e r la u b e n . D ie se stellt d a r ü b e r h in au s ein e w ü r d ig e D o k u m e n tatio n e in es a u ß e r g e w ö h n li c h a rb e itsre ic h e n F o rs c h e rle b e n s dar, e in e r fast k ü n s t le ri s c h zu n e n n e n d e n B e g a b u n g z u r Z u s a m m e n s c h a u , e in es selten en S p ü rs in n s im N a c h g e h e n v on v e rs c h lu n g e n e n T r a d it io n s fä d e n u n d e in e r fe in s in n i g e n S e n s ib ilitä t in d e r In te rp re ta tio n v on S y m b o l e n u n d M o tiv e n , im E rk e n n e n v o n Z u s a m m e n h ä n g e n , d a z u e in e r stu p e n d e n B e l e s e n h e it und e in e r s o m a ti s c h e n Z ä h ig k e i t in d e r F e ld f o rs c h u n g , v o r alle m im s ü d o s t e u r o p ä is c h e n R a u m , die e in e s A lp in iste n w ü r d ig w äre. H o h e s A rb e its e th o s , u m f a s s e n d e s W is s e n , p e r s ö n lic h e B e z ie h u n g zu d en T h e m e n , F e l d f o r s c h u n g „ i m A l l e i n g a n g “ , O ffe n h e it f ü r alle m ö g lic h e n W i s s e n s c h a f ts r ic h t u n g e n und se lte n e s F o r m u li e r u n g s t a le n t sind in v ielen se in e r A rb e ite n in e in e m Z u s a m m e n s p ie l v o rh a n d e n , das w o h l e in m a lig zu n e n n e n ist. M a n c h e d ie s e r M o n o g r a p h i e n sin d u n v e r g e ß l ic h e K u n s tr e is e n in d ie e u r o p ä i s c h e V er g a n g e n h e i t u n d Z u k u n ft. D e n n die „ E t h n o l o g i a E u r o p a e a “ w ird in Z u k u n f t g e f o r d e r t sein, d e m E u ro p a -B e g riff, je n s e it s d es E u ro u n d g e m e i n s a m e r W ir ts c h a fts - un d S ic h e r h e its p o litik a uch k u ltu re lle u n d g e is tig e I n h a l te zu v e rle ih e n bzw. d ie s e zu le g itim ieren . In d ie s e m S in n e sin d d ie K r e tz e n b a c h e r s c h e n A rb e ite n u nd ih re S ic h tw e ise a k tu e lle r d en n je. W alter P u c h n e r 2 0 0 2 , H e ft 1 L ite ra tu r d e r V o lk sk u n d e 85 E thnologia B alkanica. Journal o f Balkan E thnology, B d . 1 (1 9 9 7 ) , 228 S e ite n , 4 A b b ., 1 K a rte; B d . 2 (1 99 8 ), 2 4 0 S eiten , 2 Tab.; B d. 3 (1 9 9 9 ), 20 8 S eiten , 2 A b b ., 1 K arte; B d. 4 (20 0 0 ), 20 8 S eiten . „ P r o f . M a r in D r i n o v “ A c a d e m i c P u b li s h i n g H o u s e , Sofia, W a x m a n n -V e rla g , M ü n s te r, N e w York, IS S N 1 1 1 1 -0 4 1 1 . E in n e u e s P e r i o d ik u m v e r g l e ic h e n d e r b a lk a n i s c h e r V o lk s k u n d e ist a n z u z e i g e n , das es sich z u r A u f g a b e geste llt hat, die v e r s c h ie d e n e n M e t h o d e n - u n d F a c h r i c h tu n g e n d e r K u ltu r a n a ly s e , w ie a m e r ik a n i s c h e c u ltu ra l a n th r o p o lo gy, b ritis c h e so cial an th r o p o lo g y , die r e z e n te d e u ts c h e V o lk sk u n d e , die E t h n o l o g i a e u ro p a e a , d ie f r a n z ö s is c h e E th n o lo g ie , fo lk lo ristic s u n d E t h n o g ra p h i e d e r B a l k a n v ö l k e r (in d e n e h e m a lig e n V o lk s d e m o k ra tie n w u rd e ü b e ra ll z w is c h e n F o lk l o re u nd E t h n o g r a p h i e u n te r s c h ie d e n , w ä h r e n d d e r g r i e c h is c h e T e rm in u s „ L a o g r a p h i a “ e tw a d e m d e r d e u ts c h e n V o lk sk u n d e e n ts p ric h t ) in e in e r „ B a l k a n e t h n o g r a p h i e “ z u s a m m e n z u b r in g e n . D a s P e r i o d ik u m w ird vo n d e r „ A s s o c i a tio n f o r B alk an A n t h r o p o l o g y “ h e r a u s g e b ra c h t, d ie 1995 in S o fia v o m k a n a d is c h e n B u lg a re n A se n B alik ci g e g rü n d e t w u r d e u nd s eit 1997 ers ch ein t. E s reiht sich d a m i t in d ie r e g i o n a le u r o p ä i s c h e n P e r i o d i k a E t h n o l o g i a E u r o p a e a ( 1 9 6 7 ff), E t h n o l o g i a S l a v i c a ( 1 9 6 9 ff), E t h n o l o g i a S c a n d in a v i c a (1971 ff) u n d e tw a A n th ro p o l o g ic a l J o u r n a l on E u r o p e a n C u ltu re s (1 9 9 0 ff) ein u n d b e s c h ä f tig t sich m i t d e m g e s a m te n s ü d o s te u r o p ä i s c h e n R a u m . D ie „ A s s o c i a t i o n fo r B a lk a n A n t h r o p o l o g y “ h a t 1996 im b u lg a r is c h e n B a n k ja ihren e rsten K o n g r e ß a b g e h a lte n u n d in B u k a r e s t 1997 den zw eite n . M i th e r a u s g e b e r sind d ie B u lg a r i s c h e A k a d e m i e d e r W i s s e n s c h a f te n u n d das I n s titu t f ü r D e u t s c h e u n d V er g l e i c h e n d e V o lk sk u n d e in M ü n c h e n . D i e Z e its c h rift e rs c h e in t d re is p r a c h i g in E n g lis c h , F ra n z ö s is c h u n d D e u ts c h . Viel m e h r als e in e b lo ß e A u f z ä h lu n g d e r T itel d e r B e it rä g e k a n n h ie r n ich t g e b r a c h t w e rd e n . D e r e rs te B a n d b rin g t p a p e rs v o m K o n g r e ß in B u lg a r i e n 1996 un d u n te r te ilt sich in drei th e m a ti s c h e E in h e ite n . D ie erste ist d e r D o n a u g e w i d m et; „ T h e D a n u b e - A B rid g e o f C u ltural I n t e r c h a n g e “ u n d u m f a ß t i n s g e s a m t a c h t S tu d ien : C v e ta n a G e o r g ie v a (S o fia), „ T h e D a n u b e R iv e r - A B o u n d a r y o f th e B u lg a ria n S p a c e in the 15lh—17lh C e n tu r i e s “ (S. 11 ff), K lau s R o th (M ü n c h e n ) , „ R i v e r s as B rid g e s - R iv ers as B o u n d a rie s . S o m e R eflec tion s on I n te rc u ltu ra l E x c h a n g e on the D a n u b e “ (S. 2 0 ff - w e r d e n k t h ier n ic h t an de n z w e ite n Teil d es h e rv o r ra g e n d e n E s s a y s vo n L e o p o ld S c h m id t, „ N i e m a n d s l a n d . D ie sp ie lh a fte G e s ta l tu n g d es W eg es d u rc h das U n b e tre tb a r e “ , A n ta io s 8, 1966, S. 7 2 - 9 6 , a u ch in V o lk sg la u b e u n d V o lk sb rau ch , B e rlin 1966, S. 5 6 - 7 3 , d e r d en F lü s se n als G re n z e n un d B rü c k e n als N i e m a n d s l a n d g e w i d m e t ist), T atja n a C i v i a n - M i h a il o v a ( M o s k a u ) , „ T h e D a n u b e - S y m b o l o f th e M y t h ic a l R o a d and a M y t h o lo g i c a l F r o n t i e r “ (S. 2 9 ff), 86 L ite ra tu r d e r V o lk sk u n de Ö Z V L V I/105 D a g m a r B u r k h a r t ( M a n n h e i m ) , „ T h e R i v e r D a n u b e in B a l k a n s l a v i c F o l k s o n g s “ (S. 53 ff), M a r ia n n e M e s n il (B rü s se l) u n d A s s ia P o p o v a (Paris), „ L e s e a u x - d e l â d u D a n u b e “ (S. 61 ff), S a b in a Isp as (B u k a re s t), „ D a n u b e You D u s tl e s s H i g h w a y “ (S. 8 6 ff), V alentina V assev a (So fia), „ A d a p t a t i o n in th e F u n e ra l C u s to m s o f R e s e ttle d C o m m u n i t i e s “ (S. 91 ff) zu T o te n b r ä u c h en bei B u lg a r e n u n d R u m ä n e n , M a r g a r it a K a r a m i c h o v a (S o fia), „ C u l t u r e T u m i n g its B a c k o n th e B ig W a te r“ (S. 110 ff). D ie z w e ite T h e m e n s t e ll u n g b etrifft „ E t h n o l o g y o f M o d e r n i s a t i o n and T r a n s f o r m a t i o n “ ; f ü n f S tu d ie n sin d ih r g e w id m e t: M i le n a B e n o v s k a - S ü b k o va (S o fia), „ T r a d i t i o n as a M e a n s o f S u rv iv a l U n d e r the C o n d it io n s o f E c o n o m i c C ris is in B u l g a r i a “ (S. 113 ff), d ie p o s t k o m m u n i s t i s c h e Ä r a b e tr e ffe n d , C l a r i s s a d e W a al (C a m b r id g e ) , „ G r o u n d L e v e l E c o n o m i c s in P o s t - C o m m u n i s t A lb a n ia . A R e p o r t “ (S. 124 ff), F e l d f o r s c h u n g im sich e n tv ö lk e rn d e n B e rg d o rf M ird ita, C h ristian G io rd a n o (F reib u rg ) und D o b rin k a K o s to v a (S o fia), „ B u lg a ria n L an d R e p riv a tis a tio n w ith o u t P e a s a n t s “ (S. 135 ff), K a rl K a s e r (G ra z ), „ F a m i l y a n d K i n s h i p in the B a lk a n s : a D e c l i n i n g C u l t u r e ? “ (S. 150 ff) u n d R a d o s t I v a n o v a (S o fia ), „ V a lia n t Y o u n g M e n , W re s tle rs , B o d y g u a r d s , T h u g s ... T h e H e r o in the B u lg a r i a n D a ily P r e s s “ (S. 156 ff). D e r dritte t h e m a ti s c h e R a h m e n betrifft: „ E th n ic ity , Id en tity , an d Intere th n ic R e l a t i o n s “ u n d w e is t v ier S tu d ie n auf: B e r n a r d L o ry (P aris), „ D a n g e rs d ’ici-bas, p r o m e s s e s d ’au -d elâ . E ssai d ’a n th r o p o lo g i e r e l ig i e u s e d es c o n fi n s b o s n i a q u e s au X V I I - e s iè c le “ (S. 173 ff), w o E v lija Q e le b i v o n e in e r W a h l v e r b r ü d e r u n g z w is c h e n z w e i b o sn is c h e n K ä m p f e r n b e ric h te t, d ie ih re R e li g io n „ t a u s c h e n “ , Iv an C o lo v rc (B elg rad ), „ L ’E s p a c e e th n i q u e et l a m o r t . E ssai d e th a n a t o lo g i e p o l i t i q u e “ (S. 178 ff), Z e n j a P i m p i r e v a (S o fia ), „ T r a d itio n a l a n d C o n t e m p o r a r y M o d e l s o f In te ra c tio n B e tw e e n K a ra k a c h a n s an d B u l g a r i a n s “ (S. 182 ff), S v e tla R a k s ie v a (S ofia), „ T h e N o m a d i c A r o m u n i a n s ’ C o n c e p t o f a T errito ry U n d e r C o n tr o l“ (S. 196 ff). D e r B a n d s c h lie ß t m i t k u rz e n B eric h te n . D e r z w e ite B a n d b rin g t e in e A u s w a h l d e r R e fe ra te in B a n k ja , B u lg a ri e n , z u m T h e m a „ I d e o l o g i e d e r b a lk a n is c h e n A n t h r o p o l o g i e “ : Ilija H iev (S o fia), „ T h e P r o p e r U s e o f A n c e s t o r s “ (S. 7 ff), in s b e s o n d e r e ü b e r d ie R o lle d e r a lt th r a k is c h e n K u ltu r in d e r b u lg a r is c h e n H is to rio g r a p h ie , C h ris tia n G i o r d a no (F r e ib u rg ) , „ A c t u a l i z i n g H isto ry in E a s t e m a n d W e ste rn E u ro p e . T h e H is to ry o f th e H is to ria n a n d th a t o f th e A n t h r o p o l o g i s t “ (S. 19 ff), D e e m a K a n e f f ( C a m b r i d g e ) , „ N e g o t i a t i n g the P a s t in P o s t -S o c ia l is t B u l g a r i a “ (S. 31 ff), V in tilä M i h ä il e s c u (B u k a re s t), „ T h e M o n o g r a p h i e S c h o o l o f D e m e tr ie G usti. H o w is a ,S o c io lo g y o f th e N a t i o n 1 P o s s ib le ? “ (S. 4 7 ff), A s k e r K a rta ri ( A n k a ra ), „ I d e o l o g i e in d e r tü r k isc h e n E th n o l o g ie u n d F o lk lo r is tik “ (S. 57 ff) im G e f o lg e d e r S tu d ie v on Ilhan B a§göz, „ F o l k l o r e 20 0 2 , H e ft 1 L ite ra tu r d e r V o lk sk u n d e 87 S tu d ie s an d N a tio n a l is m in T u r k e y “ , in: F o lk lo re, N a tio n a l is m & P olitics, ed. F elix J. O in a s, C o lu m b u s , O h io , 1978, S. 1 2 3 - 1 3 7 , K la u s R o th ( M ü n c h e n ), „ F o l k l o r e an d N a tio n a lis m . T h e G e rm a n E x a m p l e a n d its Im p lic a tio n s f o r th e B a l k a n s “ (S. 69 ff), N ik o la F. P a v k o v ic (B e lg ra d ), „ L ’id é o lo g ie d u Y o u g o s la v i s m e d a n s l ’e th n o lo g ie serb e de la p r e m iè r e m o i ti é du X X e s i è c le “ (S. 81 ff), K arl K a s e r (G raz), „ A n t h r o p o l o g y a nd the B a lk a n iz a tio n o f the B a lk a n s : J o v a n C v ijic an d D in k o T o m a s i c “ (S. 89 ff), S lo b o d a n N a u m o v i c (B e lg r a d ), „ R o m a n t i c i s m o r D o u b le In s id e rs ? A n E ssa y on the O rig in s o f I d e o l o g is e d D is c o u r s e s in B a lk a n E th n o l o g y “ (S. 101 ff), A sen B a lik c i, „ T h e ,B u lg a r i a n E t h n o g r a p h y 1 o f the B u lg a ria n A c a d e m y o f S c ie n ces. S o m e C rjtic a l C o m m e n t s “ (S. 121 ff), P e tü r P e tro v (S o fia ), „ C o n q u e r i n g the F ea st. T h e S o c ia lis t T ra n s f o rm a tio n o f a R e lig io u s F e a s t in a B u lg a r i a n V illa g e “ (S. 127 ff), M i le n a B e n o v s k a - S ü b k o v a (S o fia ), „ P o l i t i cal M y t h a n d R e l i g i o n “ (S. 137 ff), G a lja V ü lc in o v a (S o fia), „ E t h n o g r a p h i e et fo lk lo r e d u r e lig ie u x en B ulgarie: ,un ta n g o d e L é n i n e ‘?“ (S. 145 ff), S te p h a n i e S c h w a n d n e r-S ie 'v e rs (L o n d o n ), „ E th n i c it y in T ra n sitio n : T h e A lb a n ia n A r o m a n i a n s Id en tity P o litic s “ (S. 167 ff), F o tin i T sib irid o u (K om o tin i), „ E s q u i s s e d ’u n e p r o b l é m a t iq u e su r la c o n s t ru c ti o n d e s id en tité s d a n s la ré g i o n m o n t a g n e u s e du R h o d o p e en G r è c e “ (S. 185 ff), C h ris tin a M o u t s o u (C a m b r id g e ) , „ T h e W h it e A cro p o lis A sso c ia tio n : the P ro je c tio n o f the N a tio n a l G r e e k Id e a ls and th e P e rp e t u a ti o n o f I n te rn a l C o n f l i c t s “ (S. 197 ff) ü b e r e in en G r ie c h e n - K l u b in B rüssel. H ie r e n d e n die K o n g r e ß r e ferate. E s f o l g e n n o c h die S tu d ie n : „ A u s tr ia n C o n tri b u ti o n s to th e E th n o lo g ic a l K n o w l e d g e o f th e B a lk a n s s in c e 1 8 5 0 “ v o n S ie g f r i e d G r u b e r (S. 2 0 9 ff) u n d „ N e w O rie n ta tio n s in B u lg a ria n E th n o l o g y an d F o lk l o r i s t ic s “ v on R a d o s t I v a n o v a (S. 225 ff). D e r s e l b e n T h e m a t ik - N a tio n a lis m u s , Iden titä t, I n t e rn a tio n a litä t - ist a u c h d e r dritte B a n d g e w id m e t. D o c h h a t sich d e r U n tertitel d e s P e ri o d ik u m s g e w a n d e lt: v o n Jou rn a l o f B alkan E thnology ln Jo u rn a l f o r S o u th ea st E uropean A nthropology, u n d es ist n u n n ic h t m e h r d ie „ A s s o c i a t i o n fo r B a lk a n A n t h r o p o l o g y “ , d ie es h era u s b rin g t, s o n d e r n e in e n e u e w i s s e n s c h a f t lic h e G e s e lls c h a ft, d ie 1999 in B u k a r e s t g e g r ü n d e t w u r d e u n d sich nun „ I n t e r n a t io n a l A s s o c ia tio n fo r S o u th e a s te rn E u ro p e a n A n t h r o p o l o g y “ nenn t, o h n e d a ß sich d ie Z ie l e w e se n tlic h g e ä n d e rt h ätte n . D ie e tw a s u m f a n g r e i c h e re n S tu d ie n d ie s e s B a n d e s sin d fo lg en d e: C h ris tia n G i o r d a n o (F re ib u rg ), „ E t h n i z i t ä t un d T erritorialität. Z u r so z ialen K o n s tr u k tio n vo n D iff e re n z in M itte l- u n d O s t e u r o p a “ (S. 9 ff), U l f B ru n n b a u e r (G raz), „ D i v e r g i n g (H i-) S tories: the C o n te s t e d Id en tity o f the B u lg a ria n P o m a k s “ (S. 35 ff), A sen B alik ci (So fia), „ P o m a k Iden tity: N ation al P re s c rip tio n s and N a tiv e A ss u m p t i o n s “ (S. 51 ff), C v e ta n a G e o rg ie v a (Sofia), „ C o e x i s t e n c e as a S y ste m in the E v e r y d a y L ife o f C h ris tia n s an d M u s lim s in B u lg a r i a “ (S. 59 ff), 88 L ite ra tu r d e r V o lk sk u nde Ö Z V L V I/105 Veselin T e p a v ic a r o v (S o fia), „ T ra d itio n a l L o cal G o v e r n m e n t S tr u c tu re in S e ttle m e n ts W ith M i x e d P o p u l a t i o n s “ (S. 85 ff), T h e d e K ah l (M ü n s te r ), „ D i e Z a g ö r i - D ö r f e r in N o rd g rie c h e n la n d : w irts c h a ftlic h e E in h e i t - e th n i sc h e V ie lfa lt“ (S. 103 ff), J a s n a C a p o Z m e g a c ( Z a g r e b ) , ,, ,W e a re C ro a ts . It is n o t o u r g o a l to b e set a p a rt fr o m o u r o w n p e o p l e f A F a il e d A tte m p t at F i r m e r I n c o r p o ra ti o n o f C ro a tio n M i g r a n ts “ (S. 121 ff), Z d e n e k U h e r e k (P r a g ) , „ B o s n i a n C z e c h s : A L e s s o n fr o m th e T h e o r y o f E t h n i c i t y “ (S. 141 ff), A lb e r t D o j a (Paris), „ E th n i c it é , c o n s t ru c ti o n n a ti o n a le et n a tio n a lis m e d a n s l ’aire alb a n a ise : A p p r o c h e a n th r o p o lo g i q u e du c o n flit et des r e la tio n s i n t e r e t h n iq u e s “ (S. 155 ff), R a d o s t I v a n o v a (S o fia), „ O n c e M o r e A b o u t th e K o s o v o E p o s an d its U tilis a tio n “ (S. 181 ff), N ic o la e C o n s ta n tin e s c u (B u k a re s t), „ R o m a n i a n F a m ily B a lla d s and In te re th n ic R e l a t i o n s “ (S. 197 ff). D ie S tu d ie n d es vierten B a n d e s sin d in m e h r e re th e m a ti s c h e E in h e ite n g e g lie d e rt. D ie ers te ist d en F a m ilien un d d en V e r w a n d t s c h a ft s s y s te m e n g e w id m e t : M ic h a e l M i tt e r a u e r (W ien), „ D i e T e rm in o lo g ie d e r V e rw a n d t schaft. Z u m i tte la lte r lic h e n G ru n d la g e n von W an del un d B e h a r r u n g im e u r o p ä i s c h e n V erg le ic h “ (S. 11 ff), Karl K a s e r (G raz), „ T h e H is to ry o f the F a m i ly in A l b a n ia in th e 20 th C en tu ry : a F irst P r o f ile “ (S. 45 ff) u n d Z a f e r Ilb ars (A n k a ra ), „ T h e T u rk ish F a m ily in the P ro c e s s o f C h a n g e “ (S. 5 9 ff). D ie z w e ite th e m a ti s c h e E in h e i t ist d e r A llt a g s k u l tu r g e w id m e t : D o r o th e a D o b r e v a (S o fia), „ Z e i t r h y t h m e n un d U m g a n g m it Z e it im A rb e it s a ll ta g d es s o z i a l i s t i s c h e n D o r f e s . D a s B e is p i e l e in es G e b i r g s d ö r f s in B u l g a r i e n “ (S. 67 ff), G a b rie le W o lf ( M ü n c h e n ), , „ D e f iz i tä r e W a r e n 1, K o n s u m e r w a r tu n g e n u n d B e z i e h u n g e n \ E in k ä u fe n in d e r so z ia listisc h e n K o n s u m g e n o s s e n s c h a f t “ (S. 91 ff), D o r o t h e a Schell (B o n n ), „ C o p i n g w ith F o r e i g n e r in a G re e k V illa g e “ (S. 117 ff). E in e w e itere th e m a tis c h e E in h e i t b e s c h ä f tig t sich m it V o lk srelig io n , M y t h o lo g i e u n d Politik: P e tu r P e tr o v (S o fia), „ B e t w e e n C h r is ti a n it y a n d S o c ia lis m . S y n c re tis tic T e n d e n c ie s in R itu a l C u l t u r e “ (S. 131 ff), J o r d a n k a T e l b i z o v a - S a c k (B erlin), „ D o g m a , B ra u c h , V o lk s f rö m m ig k e it. S y n k re t is t is c h e Z ü g e des p o m a k i s c h e n I s la m “ (S. 146 ff), M i r ja n a P ro s ic - D v o r n i c ( M id la n d , M ic h ig a n ), „ A p o c a l y p t i c T h o u g h t an d S e rb ia n Identity: M y th o lo g y , F u n d a m e n t a li s m , A strolo gy , and S o o th s a y in g as part o f P o litica l P r o p a g a n d a “ (S. 163 ff), S telu S e rb a n , „ S o c i a l F u n c ti o n s and C u ltu ra l M e a n i n g s in the C h ris tm a s C a ro ls fro m L ä p u § V illa g e “ (S. 183 ff). A lle in au s d en T ite ln e n n u n g e n ist sch on e rsich tlic h , d a ß d e r j u g o s l a w i sc h e K rie g h ie r sein e S p u re n h in te rla sse n hat, d a ß K ritik d e r n atio n a le n Id e o lo g ie u n d M y t h o lo g i e im V o rderg ru nd steh en s o w ie e in e H in w e n d u n g zu M i n o r it ä te n u n d m u ltie th n is c h e n E n k la v e n . D e r V ersuch , alle M e t h o d e n u n d F a c h r i c h tu n g e n z u s a m m e n z u b r in g e n , fü h r t fre ilich zu e in e r g e w is s e n P ro f illo s ig k e it, d ie die R e d a k tio n v on Prof. K la u s R o th u n d Dr. M i le n a 2 0 0 2 , H e ft 1 L ite ra tu r d e r V o lk sk u n d e 89 B e n o v s k a S u b k o v a in S o fia in th e m a tis c h e n S c h w e r p u n k t b i l d u n g e n p ro B a n d a u fz u f a n g e n b e m ü h t ist. E s b le ib t zu ho ffen , d a ß sich d ie ü b e rn a tio n a le P e r s p e k tiv e d ies es P e ri o d ik u m s d u rc h s e tz e n w ird , d e n n k e in e d e r in t e r n a tio n a le n Z e its c h r i f te n f ü r B a l k a n o l o g ie ist a u s s c h lie ß lic h d e r V o lk sk u ltu r g e w i d m e t w ie d iese. W a lte r P u c h n e r 90 B u c h a n z e ig en Ö Z V L V I/105 B u ch an zeigen G E L L N E R , E rn est: N ationalism us. K ultur und M acht. W. J. S ie d l e r Verlag, 1999, 184 Seiten. In se in e m W e rk „ N a t i o n s and N a tio n a l is m “ ( O x fo rd 1983, d e u ts c h „ N a t i o n a li s m u s un d M o d e r n e “, H a m b u r g 1995) stellt E rn e s t G e lln e r den N a t i o n a lism u s ( „ d e r d ie N a tio n e n h e rv o r b rin g t, un d n ic h t u m g e k e h r t “ ) als P ro d u k t d e r In d u s tr i e g e s e l ls c h a f t dar; er n utze d ie k u ltu re lle V ielfalt e in es L a n d e s selektiv, e r f in d e T ra d itio n e n u nd re s ta u rie re „ r e c h t f ik tiv e U r z u s t ä n d e “ . N u n tat dies se lb s tv e r s tä n d lic h n ic h t d e r N a tio n a lis m u s ; d a f ü r z e ic h n e te n v ie l m e h r s e in e „ B a u m e i s t e r “ v e ra n tw o r tlic h , zu d e n e n a u c h d ie m e is te n V o lks k u n d le r u n d E th n o g r a p h e n (o d e r w ie a u c h im m e r sich d ie „ V o l k s t u m s w i s s e n s c h a f tl e r “ n a n n te n ) zäh lten u n d la n g e n o c h zäh le n so llten - s c h o n (a b e r n ic h t n u r) d e s h a lb ist d ie A u s e in a n d e r s e tz u n g m it F ra g e n d e r K o n s tr u k tio n , des W eiter- u n d A u f le b e n s von N a tio n a lis m u s ein w ic h tig e s A n lie g e n h e u tig e r E th n o - F o r s c h u n g . Im v o r l ie g e n d e n , v o m S o h n des 1995 v e rs to rb e n e n A u to rs (als S o h n d e u ts c h - jü d i s c h e r E lte rn 1925 in Paris g e b o re n , in P ra g a u f g e w a c h s e n , von de n N azis 1939 ins E x il g e trieb en , sp ä te r P ro f e s s o r in L o n d o n u n d C a m b ri d g e u n d z u le t z t D ire k t o r d es Z e n tr u m s fü r N a t i o n a l i s m u s f o r s c h u n g in P ra g ) p o s t h u m h e ra u s g e g e b e n e n B a n d g reift G e lln e r d as T h e m a w ie d e ru m a u f u n d v e rs u c h t n o c h m a ls , d e m P h ä n o m e n N a tio n a l is m u s un d se in e n v e r h ä n g n i s v o l l e n A u s w i r k u n g e n n a c h z u g e h e n . D e r B o g e n d e r D a r s t e llu n g re ic h t vo n den id e e n g e s c h ic h tlic h e n W u rz e ln Uber die H e r a u s b i l d u n g als p o li ti s c h e K r a f t bis hin zu den u n te r s c h ie d lic h e n F o r m e n n a tio n a le n E x tr e m i s m u s in d e r G e g e n w a r t , w o bei d e r V e rfa s s e re in M o d e l l d e r v e r s c h ie d e n e n S ta d ie n e n tw ic k e lt. Z u G ru n d e lie g t G e lln e rs Ü b e r z e u g u n g , d a ß „ g e m e i n s a m e K u l t u r “ ein, das [H e r v o r h e b u n g d u rch O. B.] B e s t i m m u n g s m e r k m a l v on N a t io n a l is m u s ist: „ N a t i o n a l i s m u s ist e in e F o rm p o litis c h e n D e n k e n s , d ie a u f d e r A n n a h m e beru h t, d a ß so zia le B in d u n g vo n k u lt u r e l le r Ü b e r e i n s t im m u n g a b h ä n g t . “ E r ist w e d e r u niv erse ll n o c h z u fällig , s o n d e r n d ie F o lg e b e s t im m t e r s o z ia le r V erh ältnisse; er e n ts te h t dort, „ w o sich e in e G esellschaft d ie S p r a c h e e in e r G em einschaft an eig n e t; d as h eiß t, e in e m o b ile , a n o n y m e G e s e ll s c h a f t tu t p lö tz lic h so, als sei sie ein e n ach a u ß e n g e s c h l o s s e n e trau te G e m e i n s c h a f t “ - b eim L e se n eines so lch en S atzes w ird m a n u n w e ig e rl ic h an d ie v o l k s k u n d li c h e G e m e in s c h a f t s - I d e o l o g ie un d h o ff e n tlic h a u ch an H e r m a n n B a u s in g e r s K ritik d e r G ru n d b e g riffe erin nert. G e lln e r b e s c h r ä n k t sich a lle rd in g s n ich t d ara u f, W u rz e ln , E n tw ic k l u n g u n d W e sen d es N a tio n a l is m u s au fz u z e ig e n , so n d e r n g ib t a u c h E m p f e h l u n g en zu s e i n e r Ü b e r w i n d u n g , u.a. d u rc h „ k u l t u r e l l e n P l u r a l i s m u s “ und 20 0 2 , H e ft 1 B u ch a n z e ig en 91 „ E n t z a u b e r u n g des T e rri to r iu m s “ . D a sind bzw. w ä re n w o h l a u c h die Ver t r e te r /in n e n d e r V o lk sk u n d e un d ih re r N a c h f o lg e d i s z i p lin e n g e fo r d e rt, sofern e sie sich d a ra n e rin n e rn , d a ß es e in m a l als A u f g a b e ih r e r W i s s e n s c h a f t(e n ) a n g e s e h e n w u r d e , e in e n B e itra g z u r L ö s u n g s o z i o k u lt u r e ll e r P r o b l e m e zu leisten. (O B ) V A R G A S L L O S A , M a rio : N ationalism us als neue B edrohung (= E d itio n Z w e i te M o d e r n e ) . F ra n k f u r t a m M a i n , S u h r k a m p V erlag, 2 0 0 0 , 150 S eiten. D e r B a n d v e re in t v ie rz e h n in den Ja h re n 1993 bis 1999 v e r f a ß te k ritisc h e E s s a y s d e s b e k a n n te n p e ru a n i s c h e n A u to rs . Sie sin d g e p rä g t v on sein en E rf a h r u n g e n s o w o h l in L a te i n a m e r i k a als a u ch in E u ro p a , v o m p o litisc h e n D e n k e n e in es lib eralen W eltb ürg ers. D ie s e r L ib e ra lis m u s ist es, d e r seine A b l e h n u n g je g l i c h e r F o r m e n v on K o m m u n i s m u s u n d F a s c h i s m u s erklärt, un d e b e n s o s e in e F ra g e n ach den K o n s tr u k te u re n u nd N u tz n ie ß e r n von „ E t h n i z i t ä t “ , s e in e K ritik von a u f ü b e rtrie b e n e r R e g io n a l it ä t ( „ P r o v i n z i a l i s m u s “) fu ß e n d e n Id e n titä ts k o n z e p te n , seine a u s g e w o g e n e u n d a u f e in s e itig e S c h u l d z u w e i s u n g e n v e rz i c h te n d e H a ltu n g zu d en K o n fli k te n a u f d e m B a l k an, s e in e p o s i ti v e S te l lu n g n a h m e z u g u n s te n vo n Im m i g r a n te n ... E r - d e r L ib e r a lis m u s (m it d essen P o sitio n a m Ü b e r g a n g des z w e ite n ins dritte J a h r ta u s e n d e r sich a b s c h l ie ß e n d b e sc h ä ftig t) - m a c h t a u c h Vargas L lo s a s E in tre te n f ü r E ig e n v e r a n tw o r tu n g , freie M a r k tw ir t s c h a f t u n d G l o b a lis ie ru n g (u n d d as A u s b le n d e n m a n c h real e x is ti e r e n d e r S c h a tte n s e ite n ) v e rs tä n d lic h ; in le tz te r e r s ie h t er e in e C h a n c e z u r F e s t ig u n g v on T olera n z, P lu r a li s m u s , L e g a li tä t u nd F re ih e it a u c h in L ä n d e rn , die n o c h i m m e r „ S k l a ven d e r a u to r itä re n T r a d it io n “ sind. A ls so lc h e k an n m a n a u c h d ie „ n e u e n N a tio n a l is te n “ b e z e i c h n e n , die, so d e r Verfasser, w e n i g e r v on In te llig e n z d e n n v o n In s tin k t u n d L e id e n s c h a f t g ele ite t w e rd e n , n ic h t vo n Id e en , s o n d e rn vo n Ü b e r z e u g u n g e n un d M y th e n . D ie V o lk s k u n d e h a t - in d e r V erg a n g e n h e it un d fa llw e is e w o h l a uch bis in d ie G e g e n w a r t - z u r K o n s tr u k tio n u nd A u f r e c h t e r h a lt u n g d ie s e r M y th e n b e ig e tra g e n . D e n h e u tig e n un d b e d ro h lic h e n N a tio n a l is m u s (d e s se n F a c e t ten die e in z e ln e n A b s c h n itte b e le u c h te n ) n ic h t n u r zu a n a ly s ie r e n , s o n d e rn a u c h zu b e k ä m p f e n w äre f o lg e ric h tig e in e d e r A u fg a b e n , d ie e in e r w a h rh a ft E uropäischen E th n o l o g ie als e in e r k ritisch en - so w o h l h is to risc h als auch e m p i r i s c h a rb e ite n d e n - v e r g le ic h e n d e n K u ltu r w i s s e n s c h a f t v o rd r in g lic h z u k ä m e , se lb s tv e r s tä n d lic h , um ein Z itat des V erfassers zu g e b r a u c h e n , „ n i c h t im N a m e n e in es a n d e rs g e a rte te n N a tio n a lis m u s , s o n d e r n im N a m e n d e r F re i h e it u n d d e r d e m o k r a ti s c h e n K u ltu r “ . 92 B u c h a n z e ig en Ö Z V L V I/105 In s g e s a m t , a u ch w e n n m a n V argas L lo s a n ic h t im m e r f o lg e n k an n o d e r w ill, ein le s e n s w e r te s B u c h - le s e n s w e rt j e d e n f a ll s f ü r je n e , die G e s e l l s c h a f ts r e le v a n z i m m e r n o c h f ü r ein K rite riu m de s S te lle n w e rte s von K u ltu ru n d S o z i a l w i s s e n s c h a f t e n b etra c h te n un d d e n e n d e r h e u te se lten zitierte Satz, d a ß e in e W is s e n s c h a f t o h n e b e d e u te n d e P r o b l e m e e in e u n b e d e u te n d e W is s e n s c h a f t ist, w ic h ti g e r ist als s e lb stg e fä llig e B e lie b ig k e it. (O B ) M A L L I , R u d o lf: D er Schatz im Keller. Z u r W einw irtschaft d er W aldviertle r K löster (= S c h ri fte n r e ih e des W a ld v ie rtle r H e im a t b u n d e s , 4 1). H o rn, W a id h o f e n /T h a y a , S e lb s tv e rl a g des W a ld v ie rtle r H e i m a t b u n d e s , 2 0 0 1 , 3 04 S eite n , S c h w a r z w e i ß a b b il d u n g e n . R u d o l f M alli h a t im G r u n d e zw ei B ü c h e r in e in e m v o rg e le g t. E in e rs e its k o n z e n tr ie r t e r sich in seiner, v on M ic h a e l M i t t e r a u e r betr e u te n D is s e rta tio n a u f die E n t w i c k l u n g d e r W ein w irts c h a ft d e r W a ld v ie rtle r K lö s t e r A lte n b u r g , G e r a s / P e r n e g g un d Z w e t tl im 17. u n d 18. Ja h r h u n d e rt, a u f e in e n sp e z ifis c h e n A u s s c h n i tt n ie d e r ö s te r r e i c h is c h e r W ir ts c h a fts g e s c h ic h te also. D a r a u f liegt a u c h d e r e m p i r i s c h e S c h w e r p u n k t d e r S tu die, in d e r M alli d e ta i lg e n a u die h ie r e n tw ic k e lte n F o r m e n , in s b e s o n d e re a b e r die F u n k ti o n e n u n d A b lä u fe , d ie C h r o n o lo g i e n u n d d ie K o n ju n k tu r e n k lö s te rl ic h e r K e l le r w i r t s c h a f t b e schreibt. A n d e re rs e i ts g re ift e r m it se in e r D a rs te llu n g d a n n , w e n n es u m G r u n d l a g en k lö s te r l ic h e r W ir ts c h a f ts m o d e ll e geht, s e h r w eit aus, b is w e ile n zu weit. Im B e m ü h e n u m e in e „ v e r g l e ic h e n d e L a n d e s g e s c h i c h t e “ (V o rw o rt) fra g t M alli n a c h d e r R o lle d e r K lö s te r bei d e r E n ts t e h u n g v on W e in l a n d s c h a f te n ; d ab ei g e h t er u.a. a u f die W e in w ir ts c h a ft d e r a lt b a y e ris c h e n S tifte in Sü dtirol u n d im ö s t e rre i c h is c h e n D o n a u r a u m ein. In e in e m a ll g e m e i n e n K ap itel z u r V e rm a r k tu n g d es W e in e s ( i m m e r in K o n k u r r e n z z u m B ier) in te re s s ie r t sich d e r A u t o r f ü r d e n „ A l k o h o l k o n s u m als h is to ris c h e s u n d so z ia le s P h ä n o m e n “ (Ü b e rs c h r ift); z u m a l so lc h e K ap itel fallen allzu k n a p p aus als d a ß sie fü r d'en L e s e r n o c h in f o r m a t iv sein k ö n n te n - das T h e m a „ A l k o h o l u n d K i r c h e “ e t w a lä ß t sich a u f e in e r T ex tse ite s c h w e rlic h a b h a n d e ln . (K L ) 2 0 0 2 , H e ft 1 B u c h a n z e ig en 93 V O L K S K U L T U R N IE D E R Ö S T E R R E IC H (Hg.): A llerley Um züge. H ow long can yo u g o? (= Jahrbuch Volkskultur Niederösterreich). A tzenbrugg, Selbstverlag Volkskultur Niederösterreich, 2001, 111 Seiten, S chw arzw e iß abbildungen. Wer wie ich zufällig a u f einem regionalen Radiosender die Buch vorstellung des Jahrbuches mitverfolgt hat, m ußte einen einigermaßen schiefen E in druck vom Inhalt dieses Bandes gewinnen. Denn da w ar vor allem davon die Rede, daß der Band praktische Hinw eise und Anleitungen an die H and gebe und sich vor allem an diejenigen richte, die U m züge initiieren und organisieren. Sicherlich: Es gibt da Kapitel bzw f Artikel, die sich mit konkreten, nützlichen Informationen an diejenigen wenden, die Kulturarbeit betreiben: Ernst G ra f etwa protokolliert in einem Beitrag einen Workshop zum T h em a Schritt- und Tanzformen im Umzug, in einem zweiten beschäf tigt er sich mit der Logistik von U mzügen. Franz Stättner w idm et sich dem T h em a „ M u s ik in B e w eg u n g “ etwa unter dem Aspekt, w elche K om positio nen und M elodiefolgen für U m züge besonders geeignet sind. D och steht die volkskundlich-kulturw issenschaftliche Perspektive, die Befrag ung der K ulturtechnik U m zug und des „ M a sse n m e d iu m s Straße“ (Bernd Jürgen Warneken) im Vordergrund der A ufsätze des Jahrbuches. „B eso n d e rs aber möchten wir dazu anregen, U m züge zu beobachten und der Frage nach ihrem Sinn, ihrer Bedeutung und ihrer Funktion nachzugehen. D er U m zu g selbst bildet den Rahmen für öffentlichkeitsw irksames A uftre ten, darüber hinaus sind die jeweils mittransportierten Inhalte zu beachten und einzuordnen, inw ieweit diese problematisch oder unbedenklich sind.“ (Vorwort) Es sind „a llerley “ , eben ohne Anspruch auf Vollständigkeit U m züge in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen und kulturellen Z u sa m m enhängen und Funktionen, auf die die Autorinnen und Autoren eingehen. Wolfgang D afert thematisiert die Entw icklung von Schützenvereinen, P a tricia Pirkner, aber auch Walter Deutsch und Bernhard G am sjäger kon ze n trieren sich a u f die Wallfahrt als Form des U mzugs. Christiane Preisinger behandelt das T h em a Tracht im Kontext öffentlicher Festzüge. Einleitend schlägt Franz G rieshofer einen weiten Bogen von den „W ie n e r W anderta gen “ , den D onnerstagsdem os in Wien gegen die schwarzblaue Regierung, Uber T rium phzüge in der Antike, mittelalterliche Prozessionen bis hin zu bürgerlichen Historienfestzügen; innerhalb dieser Chronologie verw eist er auf die je unterschiedlichen und sich wandelnden Funktionen, gerade auch einer Ästhetik des Gehens. (KL) 94 B u ch a n z e ig en Ö Z V L V 1/105 S T R A U B , W o lfg an g : W illkom men. L itera tu r und F rem d en verkeh r in Ö sterreich. W ie n , S o n d erz ah ! V erlag s g esellsch aft, 2 0 0 1 , 2 6 9 S eiten . „ L i t e r a t u r u n d F r e m d e n v e r k e h r in Ö s te r re ic h “ : „ D i s p a r a t “ n e n n t d e r A u to r e in le ite n d se in e n U n te r s u c h u n g s g e g e n s t a n d ; m a n w ird aus S ic h t d e r V o lk s k u n d e a u c h h in s ic h tlic h d es v o rlie g e n d e n u nd h ie r a n z u z e i g e n d e n E r g e b n i s ses d ie s e r M e i n u n g sein. A lle r d in g s, das sei h in z u g e f ü g t, h a n d e lt es sich bei d ie s e m B u c h um ein es, d as d e r V erfasser n ic h t als „ k u l t u r w i s s e n s c h a f t l i c h “ , s o n d e r n als „ p h i l o l o g i s c h “ b e z e i c h n e t u nd das sich s o m it w e itg e h e n d d e r K ritik v on N ic h t- L i te r a tu rw is s e n s c h a f tle r /i n n e /n e n tz ieh t. Z u d e m m a c h t es d as - d u r c h a u s lö b lic h e - B e k e n n tn is des A u to rs z u r S u b je k t iv i tä t (w a s ein g e w is s e r G e g e n s a tz z u r T atsac h e ist, d a ß e r sich g e rn e als „ w i r “ b e z e ic h n e t) s c h w e r, E i n w ä n d e zu f o r m u lie re n , o h n e k l e i n li c h -b e s s e rw is s e ris c h z u w ir ken. I n h a lt des B a n d e s ist, so S trau b , die L itera tu r Ö sterreichs, in s b e s o n d e r e d e r letzten D e z e n n ie n , s o w e it sie B e z u g n im m t a u f T o u r is m u s u n d F r e m d e n v erkeh r. S ie tu t dies in g ro ß e r Zahl (w ie die o h n e h in n u r in A u s w a h l h e r a n g e z o g e n e n u n d u n te r „ P r i m ä r l i t e r a t u r “ a u fg e l is t e te n W e rk e n a c h d r ü c k lic h b e w e is e n ) u n d n a h e z u a u ss c h lie ß lic h a u f k ritis c h e W eise, w e n n g leich n a c h B e f u n d des A u to rs n u r zw ei lä n g e r e P ro s a w e r k e (d a r u n te r „ E i n e r “ v o n N o r b e r t G stre in ) v o rn e h m lic h d ie s e m T h e m a g e w i d m e t sind. In s e in e r A n a ly s e greift d e r V erfasser sp eziell v ie r to u ristis c h w ic h ti g e T opoi u n d ih re lite r a ris c h e B e a r b e i tu n g auf: B e rg - K r a f t w e r k - S c h if a h r e r - Tirol; d e re n V e rq u ic k u n g m i t d e r o ffiziellen u n d vo n T o u ris m u s - u n d W e r b e w ir t s c h a f t a u fg e g r iff e n e n bzw. p o p u la r isie rte n Ö s te r r e ic h - I d e o lo g i e h e r a u s g e a r beitet zu h a b e n , ist z w e if e l s o h n e ein V erd ienst S trau bs. E r b iete t a b e r au ch e in e n a ll g e m e i n e n th e m e n b e z o g e n e n L it e ra tu r ü b e rb li c k f ü r d ie Z e it v o r und n a c h 1945 u n d e in le ite n d A b s c h n it te iiber d en F r e m d e n v e r k e h r als F o r s c h u n g s g e g e n s ta n d u n d sein e E n tw ic k l u n g in Ö ste r re ic h , d ie m a n sich fü r d e n e rs te n B e re ic h u m f a s s e n d e r und fü r den z w e ite n k ü r z e r h ä tte v o rs te lle n können. A ls ein l i te r a tu rw is s e n s c h a f tli c h e r B e itra g z u r F re ize it-, T o u r is m u s - und S t e r e o t y p e n f o r s c h u n g (dies v o r allem h in s ic h tlic h d es s c h o n a n g e s p r o c h e nen literarisch v e rm itte lte n bzw. sc h riftstellerisch a u f g e g r if f e n e n Ö s t e r r e i c h - B il d e s ) ist das B u c h j e d e n f a ll s au ch fü r a n d e re W is s e n s c h a f te n von In te re ss e , se lb st w e n n m a n d e r a u f d e m B u c h d e c k e l u n d in d e r V erlagsa n k ii n d ig u n g f o r m u li e rt e n P rä m iss e , „ d a ß d ie h e im is c h e G e g e n w a r t s l i t e r a tu r das v ie lle ic h t e x a k te s te A u s k u n fts m itte l ü b e r B e f in d l ic h k e i t u n d Z u s ta n d d es T o u r is m u s l a n d e s Ö ste rre ic h is t“ , n u r b e d in g t z u s t im m e n k an n . V iel leicht, um d ie s e s W o rt zu w ie d e rh o le n , h a t d e r V erfass e r d ie s e n E in d ru c k a b e r a u c h n u r d e s h a l b g e w o n n e n , weil er sich m it d e r ( k u l t u r ) w i s s e n s c h a f t 2 0 0 2 , H e ft 1 B u c h a n z e ig en 95 lieh e n T o u r is m u s l it e r a t u r (die in d e r B ib l io g ra p h i e d o c h re c h t z a h lr e ic h I n t e r n e t r e c h e r c h e ? - a u fs c h e in t), so e tw a m i t d en - im V e rz e ic h n is d e r S e k u n d ä r l it e r a tu r n ic h t g e n a n n te n - d u rc h a u s k ritis c h e n A rb e it e n vo n W e r n e r B ä tz i n g , J o s t K r i p p e n d o r f o d e r D ie te r K ram er, u m n u r d re i A u to r e n zu n e n n e n , d e n n d o c h zu w e n ig b e s c h ä f tig t hat. D a ß es, u n g e a c h t e t des lite ra r is c h e n B ild e s , im to u r istis c h e n B e re ic h z w a r viele, a b e r n ic h t n u r S c h a tt e n seiten g ib t ( e r w ä h n t seien lediglic h die D e m o k r a t is i e r u n g des R e is e n s und die - z u m i n d e s t ö k o n o m i s c h e - V e rb esseru n g d e r L e b e n s v e r h ä l tn i s s e v ie le r B e re is te r), sei a b s c h l ie ß e n d im m e r h in e rw ä h n t. (E B ) Neuerscheinung Ulrich HÄGELE, Franz WIESENHOFER Zensurierte Bildergrüße. Familienfotos russischer Kriegsge fangener 1915-1918. Wien, Verein für Volkskunde in Wien, 2002, 64 Seiten, 196 Abb., Form at 33 x 23, brosch. (= d o cum en ta ethnographica 3, herausgegeben von Klaus Beitl, Franz Grieshofer, Konrad Köstlin) IS B N 3-900358-18-4 Unter b isher ungeklärten Umständen kam im Jah r 1927 ein K onvolut von 196 Fotos in die inzwischen über 60.000 N um m ern um fassende F o to s a m m lung des Ö sterreichischen M useum s für Volkskunde. Sie waren ursp rün g lich an russische Kriegsgefangene des Ersten Weltkrieges in den Lagern Wieselburg/Purgstall, Niederösterreich, adressiert gewesen, wurden jed och zensuriert und den Gefangenen daher nie zugestellt. Die Fotos zeigen die Angehörigen d er K riegsgefangenen: Kinder, ju n g e Frauen, M ütter mit Kindern, Eltern, Geschwister. Ein Viertel davon enthält zusätzlich h an d schriftliche G rüße und Mitteilungen, die von Sorge und A nteilnahm e, von Liebe und Hoffnung, von Erinnerung und Sehnsucht erzählen. O bw ohl es sich bei den Familienfotos um Privatdokum ente handelt, werden sie nun erstmals d er Öffentlichkeit zugänglich gemacht, um solcherart Einblick in die G eschichte zu geben. Inhalt Vorwort 5; Ulrich H Ä G EL E : „Statt meiner, mein Bild für D ich“ . R ussische Familienfotografien aus dem Ersten Weltkrieg im Ö sterreichischen M u seum für Volkskunde 6 -1 5 ; Bildergrüße 16-29; Franz W IE S E N H O F E R : Die k.u.k. K riegsgefangenenlager im Erlauftal und der P ostverkehr 3 0 -3 9 ; Katalog 4 0 -6 3 Bestellungen Ö sterreichisches M u seum für Volkskunde L aud on gasse 15-19, A-1080 Wien Tel. +431/406 89 05, Fax +431/408 53 42 E-mail: office@ volkskundem useum .at E U R O 11,36 (ATS 160,-) (exkl. Versand) E U R O 7,76 (ATS 107,-) (für Mitglieder des Vereins für Volkskunde) Österreichische Zeitschrift fü r Volkskunde Band LVI/105, Wien 2002, 97-101 Eingelangte Literatur: Winter 2001/2002 V e rz e ic h n e t fin d e n sich h ie r v o lk s k u n d li c h e V e rö ffe n tlic h u n g e n , die als R e z e n s i o n s e x e m p l a r e , im W e g e des S c h rifte n ta u s c h e s u n d d u rc h A n k a u f bei d e r R e d a k ti o n d e r Ö s te r re ic h is c h e n Z e itsc h rift f ü r V o lk s k u n d e e in g e l a n g t un d in d ie B ib l io t h e k d e s Ö s te r re ic h is c h e n M u s e u m s f ü r V o lk s k u n d e a u f g e n o m m e n w o r d e n sind. D ie S c h riftle itu n g b e h ä lt sich vor, in de n k o m m e n d e n H e fte n d ie z u r R e z e n s io n e in g e s a n d te n V e rö ffe n tlic h u n g e n zu b e s p r e c h e n . Attila Selmeczi Kovâcs, Nem zeti Jelképek. (= M a g y a r N é p m u v é sz e t, 26). B udapest, N éprajzi m ü zeu m , 2001, 104 Seiten, A bb. IS B N 96 3-7 10 6-80 -4 . Bastian Till, S inti u n d R o m a im D ritte n R eich . G e s c h ic h t e e i n e r V erfo l g u n g . (= B e c k ’sc h e R e ih e , 1425). M ü n c h e n , B e c k , 2 0 0 1 , 94 S e ite n , A b b. IS B N 3 -4 0 6 - 4 7 5 5 1 - 5 . Baumeier Stefan (Hrsg.), M u s e u m s f ü h re r. W e stfä lisc h e s F r e i li c h tm u s e u m D e t m o l d , L a n d e s m u s e u m fü r V o lksk un de. D e tm o l d , W e stfälisc h es F r e i li c h tm u s e u m , 2 0 0 1 , 179 S eiten, A bb . IS B N 3 -9 2 6 1 6 0 - 3 1 - 4 . Becker Siegfried, Andreas C. Bimmer, Karl Braun, Jutta BuchnerFuhs, Sabine Gieske, Christel Köhle-Hezinger (Hrsg.), V o lk s k u n d lic h e T ab leau s . E in e F e s ts c h rift fü r M a rtin S c h a rfe z u m 65. G e b u r ts ta g von W e g g e f ä h r te n , F r e u n d e n u n d S c h ü lern . M ü n s te r / N e w Y o r k / M ü n c h e n / B e r lin, W a x m a n n , 2 0 0 1 , 5 43 S eite n , A b b . I S B N 3 -8 3 0 9 - 1 0 4 0 -1 (A u s de m In halt: Konrad Köstlin, H e im a t u n d G e s c h w i n d ig k e i t o der: d ie w o h lfe ile R e d e v o n d e r K o m p e n s a t io n . 2 9 - 4 2 ; Christine Burckhard-Seebass, Bild in B e w e g u n g . A n m e r k u n g e n Uber H o c h z e it e n h eu te. 8 1 - 8 6 ; Klaus Beitl, „ S a m s o n “ im V o lk s- G e b ra u c h . D e u tu n g s m u s te r e in es r e g i o n a le n B r a u c h e s im W a n d e l. 8 7 - 9 6 ; Leopold Kretzenbacher, C h ris tu s d e r G u te H irt trä n k t als B lu t q u e ll s e in e S c h ä fle in . Z u den b ib lis c h e n G r u n d la g e n e in e s v o l k s b a ro c k e n B il d g e d a n k e n s in d e r S te ie rm a rk u nd in K ä rn te n . 1 5 7 - 1 6 8 ; Helmut Eberhart, „ D i e V o lk sk u n d e n ä h rt d u rc h a u s k ein en G e g e n s a tz g e g e n an d ere Völker, sie ist v ie l m e h r im b esten Sinn k o s m o p o li ti s c h “ . Z u r R e z e p ti o n d e r W e rk e R a i m u n d F ri e d ric h K ain d ls. 3 5 7 - 3 7 4 ; Elisabeth Katschnig-Fasch, S p ä t m o d e r n e L e b e n s w e lt e n . 4 5 7 - 4 7 0 ; Margot Schindler, E x z e ß und A s k e se. K u ltu r e ll e A s p e k te ein es sc h e in b a re n G e g e n s a tz e s . 4 7 1 - 4 8 1 ) . Borsdorf Axel, Michaela Paal (Hrsg.), D ie „ A l p i n e S t a d t “ z w is c h e n lo k a l e r V e r a n k e r u n g u n d g lo b a l e r V ern e tzu n g . B e it r ä g e z u r re g io n a le n 98 E in g e la n g te L ite ra tu r: W in te r 2 0 0 1 /2 0 0 2 2 0 0 2 , H e ft 1 S ta d t f o r s c h u n g im A lp e n ra u m . (= IS R -F o r s c h u n g s b e r i c h te , 20 ). W ien , V er lag d e r Ö s te r r e ic h i s c h e n A k a d e m ie d e r W is s e n s c h a f te n , 2 0 0 0 , 147 Seiten, G ra p h ., T a b ellen , K arte n . IS B N 3 -7 0 0 1 - 2 8 9 1 -6 . Brusatti Otto, Isabella Sommer, J o s e p h Lanner. C o m p o s i te u r , E n te r t a i n e r & M u s ik g e n ie . M ita rb e it: T h o m a s A ig n er, E lis a b e th A n z e n b e rg e r, F r i e d rich A n z e n b e r g e r u n d N o r b e r t R ubey. W ie n /K ö ln /W e im a r , B ö h la u Verlag, 2 0 0 1 , 2 03 S eite n , A b b . I S B N 3 -2 0 5 - 9 9 0 8 1 -1 . Croatian folk culture at the crossroads of worlds and eras. Z a g re b , G a lle r y K lo v ic e v i d vo ri, 2 0 0 1 , 581 S eiten , A b b . I S B N 9 5 3 - 6 7 7 6 - 1 3 - 8 . Faber Richard (Hrsg.), S ä k u la r is ie ru n g un d R e s a k ra lis ie ru n g . Z u r G e sc h ic h te d es K irc h e n lie d s un d se in e r R e z e p tio n . W ü rz b u r g , V erlag K ö n i g s h a u se n & N e u m a n n , 2 0 0 1 , 218 S eiten. IS B N 3 - 8 2 6 0 - 2 0 3 3 - 2 . Gockerell Nina (Hrsg.), W e ih n a c h tsz eit. F e ste z w is c h e n A d v e n t u nd N e u j a h r in S iid d e u ts c h la n d un d Ö sterre ich , 1 8 4 0 - 1 9 4 0 . S a m m l u n g U rsu la K l o i b e r im B a y e r i s c h e n N a t i o n a l m u s e u m in M ü n c h e n 2 2 . 1 1 . 2 0 0 0 4 .2 .2 0 0 1 . M ü n c h e n / L o n d o n / N e w York, P re stel, 2 0 0 0 , 2 2 4 S e ite n , A b b. I S B N 3 -7 9 1 3 - 2 4 8 0 - 2 . Hans Veigl, M o r b id e s W ien. D ie d u n k le n B e z irk e d e r S ta d t u n d ihre B e w o h n e r . W ie n / K ö l n /W e i m a r , B ö h la u Verlag, 20 0 0 , 3 03 S e ite n , A b b. I S B N 3 -2 0 5 - 9 9 1 7 6 - 1 . Hottenroth Hans Hagen, Johanna Hottenroth, D ie L in z e r K e ra m ik . 1 9 3 3 - 1 9 8 2 . E in e D o k u m e n ta t io n . S c h e ib b s , E ig e n v e r la g H. H. H o tte n r o th , 2 0 0 1 , 132 Se iten , A b b . I S B N 3 -9 5 0 1 4 1 2 - 0 -0 . Irtenkauf Wolfgang, D a s ältere J a h r ta g s b u c h von M itte lb e rg . (= S c h r i f ten des V o ra rlb e rg e r L a n d e s m u s e u m s , R e ih e C: V o lk sk u n d e , B d. 2). B r e g en z, Im E i g e n v e r la g des V o ra rlb erg er L a n d e s m u s e u m s , 2 0 0 1 , 116 S eiten, A b b . I S B N 3 - 9 0 1 8 0 2 -0 7 - X . Kauffmann Angelica, „ M i r trä u m te vo r ein p a a r N ä c h te n , ich hätte B rie f e v on Ih n e n e m p f a n g e n “ . G e s a m m e lt e B rie fe in den O rig i n a ls p r a c h e n h e r a u s g e g e b e n , k o m m e n t i e r t un d m it e in e m N a c h w o r t v e rs e h e n von W a l trau d M a ie rh o fe r . L e n g w i l am B o d e n s e e , L ib e lle Verlag, 2 0 0 1 , 5 4 6 S eiten , A b b . I S B N 3 - 9 0 9 0 8 1 - 8 8 -6 . Koshar Rudy, G erm an Travel Cultures. (= Leisure, C o n su m p tio n and C u l ture). O x fo rd /N e w York, Berg, 2000, X, 241 Seiten, Abb. I S B N 1-85973-451-0. Kosok Lisa, Ursula Schneider, Simone Wörner (Red.), S o n n ta g ! K u l t u r g e s c h ic h te e in es b e s o n d e r e n Tages. H e r a u s g e g e b e n v o m M u s e u m d e r A rb e it. H a m b u r g , D ö lli n g u n d G alitz V erlag, 2 0 0 1 , 179 S e ite n , A b b . IS B N 3-933374-91-X . Kraxner Walter, W e ih n a c h tlic h e H irte n lie d e r aus K ä r n tn e r Q u e lle n . Teil 1. M i t B e iträ g e n vo n W alter D e u tsc h , W e rn e r G r u b e r u n d E v a M a r ia H o is u n te r M i ta r b e i t v on A n n e m a r i e G sc h w a n tle r, E r n a M a r i a M a c k , M a n Ö Z V L V I/105 E in g e la n g te L iteratu r: W in te r 2 0 0 1 /2 0 0 2 99 f r e d R ie d l u n d G ü n t h e r W u rzer. H e ra u s g e g e b e n v o m K ä r n t n e r V o lk s lie d w e r k . (= C o r p u s m u s ic a e p o p u la r is A u str ia c a e , 15/Teil 1; V o lk sm u sik in K ä rn te n ) . W ie n /K ö ln /W e im a r , B ö h la u Verlag, 2 0 0 2 , 133 S eiten , A b b ., N o ten. I S B N 3 - 2 0 5 - 9 9 2 2 4 - 5 . Kraxner Walter, W e ih n a c h tlic h e H irte n lie d e r aus K ä r n tn e r Q u e lle n . Teil 2. M i t B e iträ g e n v o n W alter D e u tsc h , W e rn er G r u b e r u n d E v a M a r ia H o is u n te r M i ta r b e i t vo n A n n e m a r i e G sc h w a n tle r, E r n a M a r i a M a c k , M a n f r e d R ie d l u n d G ü n t h e r W urzer. H e r a u s g e g e b e n v o m K ä r n t n e r V o lk s lied w erk . (= C o r p u s m u s ic a e p o p u la r is A u stria c a e , 15/Teil 2; V o lk sm u sik in K ä rn te n ) . W ie n / K ö l n /W e i m a r , B ö h la u Verlag, 2 0 0 2 , 5 6 2 S eiten , A b b ., N o ten. I S B N 3 -2 0 5 - 9 9 2 2 4 - 5 . Lackovâ I l o n a , A false d aw n . M y life as a G y p s y w o m a n in S lo v ak ia. R e c o r d e d , tr a n s la te d fr o m R o m a n i and ed ite d by M i l e n a H ü b s c h m a n n o v â . (= I n t e rfa c e C o lle c tio n , 16). H a tfie ld - H e rtfo rd s h ire , C e n tre d e r e c h e r c h e t s ig a n e s - U n i v e r s i ty o f H e r tf o r d s h i r e P ress, 2 0 0 0 , 2 2 4 Se iten , A b b . IS B N 1 9 0 2 8 0 6 -0 0 - X . Langthaler Ernst, Reinhard Sieder (Hrsg.), Ü b e r d ie Dörfer. L ä n d li c h e L e b e n s w e lt e n in d e r M o d e r n e . (= K u ltu r als P rax is, 4). W ie n , T u ria + K an t, 2 0 0 0 , 271 Se iten , A b b . I S B N 3 -8 5 1 3 2 - 2 6 4 -9 . M a r t i n s R u d o l f , D ie re lig iö se V ielfalt in S ü d o s te u ro p a . G e d a n k e n zu m b o s n i s c h - h e r z e g o w i n is c h e n M ittelalter. S ein e A u s w i r k u n g e n a u f d ie G e g e n w art. 4., e r w e it e r t e A u fla g e . W ie n /K ö ln /W e im a r , B ö h la u V erlag, 200 0, 99 S eiten , A b b . I S B N 3 -2 0 5 - 9 9 2 8 6 -5 . Miller Daniel (Ed.), C a r C u lt u r e s . (= M a t e r i a liz in g C u lt u re ). O x fo r d /N e w York, B e rg , 2 0 0 1 , XIV, 2 5 0 S eiten , A b b . I S B N I -8 5 9 7 3 - 4 0 7 - 3 . Miriam Haardt, Z w i s c h e n S c h a n d m a l u n d n a ti o n a le r S in n s tiftu n g . D ie D e b a tte u m d as H o lo c a u s t - M a h n m a l in B erlin . (= V o lk sk u n d e & H is to ris c h e A n th r o p o l o g ie , 4). B r e m e n , U n iv e rs itä t B re m e n , 2 0 0 1 , 168 S eite n , A bb . ISB N 3-88722-519-8. Mitu Sorin, N a tio n a l id e n tity o f r o m a n ia n s in tr a n sy lv a n ia . B u d a p e s t, C e n tra l E u r o p e a n U n iv e r s ity P ress, 2 0 0 1 , 3 1 4 S eiten . I S B N 9 6 3 -9 1 1 6 - 9 5 -5 . Mohrmann Ruth-Elisabeth (Hrsg.), Städtische V olkskultur im 18. J a h r hundert. (= S tädteforsch un g, R eih e A: D arstellungen, 51). K öln /W e im ar/W ien , B ö h la u Verlag, 2001, 2 09 Seiten, Abb., G raph. IS B N 3-41 2-03 69 9-4 . Neweklowsky Gerhard, D ie b o s n i s c h - h e r z e g o w i n is c h e n M u s lim e . G e sc h ic h te . B r ä u c h e . A lltag sk u ltu r. U n te r M i ta rb e i t von B e s im Ib is e v ic und Z a rk o Bebic. (= Ö sterreichisch-bosnische B eziehu ng en, 1). K lagenfurt/Salzburg, W ies er Verlag, 1996, 2 10 Seiten, Abb. a. Tafeln. IS B N 8 51 29-173-5. Patricia Lysaght (Ed.), F o o d fr o m N atu re. A ttitu d e s , S tr a te g ie s and C u li n a ry P ra c tic e s . P r o c e e d i n g s o f th e 12lh C o n f e r e n c e o f th e In te rn a tio n a l C o m m i s s i o n f o r E th n o l o g ic a l F o o d R e s e a rc h , U m e ä a n d F ro s tv ik e n , S w e - 100 E in g e la n g te L iteratu r: W in te r 2 0 0 1 /2 0 0 2 20 0 2 , H e ft 1 d e n , 8 - 1 4 J u n e , 1998. (= A c ta A c a d e m i a e R e g ia e G u s ta v i A d o lp h i, 71). U p p s a la , T h e R o y a l G u s ta v u s A d o lp h u s A c a d e m y f o r S w e d is h F o lk C u ltu re , 2 0 0 0 , 4 0 0 S e iten , A b b ., G ra p h ., Tab. I S B N 9 1 - 8 5 3 5 2 - 3 7 - 3 (A u s d e m Inhalt: Bernhard Tschofen, R e s tu d y i n g th e N a tu re o f F o o d C u ltu re : H o w E u r o p e an E th n o l o g ie s h a v e m a d e the M o s t o f N atu re. 3 3 - 4 2 ; Reinhard Johler, B o rd e rs in E u ro p e : E a ti n g B ird s a n d the C u ltu ra l Id e a o f ,,W il d l i f e “ . 8 1 - 9 0 ) . Peschel-Wacha Claudia, K e r a m i k d e r N e u z e it - S c h ä tz e au s d e m M u se u m L a u r ia c u m . 17. Juli bis 21. O k to b e r 2 0 0 1 . (= K a ta lo g Nr. 33 ). E n n s, M u s e u m L a u r ia c u m , 2 0 0 1 , 3 2 Bl. Preußisches Wörterbuch. D e u ts c h e M u n d a r te n O st- u n d W e s tp re u ß e n s . B a n d 1, L ie f e r u n g 3: A n te il - au fs tu tze n . N e u m ü n s te r, W a c h h o l tz Verlag, 2 0 0 1 , S p a lte 2 5 7 - 3 8 4 , K arten . I S B N 3 -5 2 9 - 0 4 6 1 1 -6 . Probst Ernst, M o n s te r n a u f d e r Spur. W ie die S a g e n ü b e r D ra c h e n , R ie se n u n d E in h ö r n e r e n ts ta n d e n . M a i n z - K o s th e i m , V erlag E rn s t P rob st, 2 0 0 1 , 176 Se iten , A b b. I S B N 3 -9 3 5 7 1 8 - 0 7 -1 . Qubeck Susann, M u s e u m s m a r k e t i n g im In te rn et. G r u n d l a g e n - A n w e n d u n g e n - P o t e n ti a le . B ie le fe ld , transcript, 1999, 169 S eiten , A b b ., Tab. I S B N 3 -9 3 3 1 2 7 - 3 9 - 4 . Reinthaler Gustl, E in g e s c h l a g e n . S y m b o l e a u f Ä x te n u n d a n d e r e n S c h m i e d e e r z e u g n i s s e n . H e r a u s g e g e b e n im E ig e n v e r la g , 2 0 0 1 , 173 S eiten , A bb. Samer Helmut, D ie R o m a v on O b e rw a rt. Z u r G e s c h ic h t e un d a k tu ellen S itu a tio n d e r R o m a in O b e rw a r t. E rste A u fla g e . O b e rw a r t, e d itio n lex liszt 12, 2 0 0 1 , 140 S eiten , A b b . I S B N 3 -9 0 1 7 5 7 - 1 9 -8 . Sammlungsdokumentation. G e sc h ic h te , W ege, B e is p ie le . (= M u s e u m s B a u s te in e , 6). M ü n c h e n / B e r li n , D e u ts c h e r K u n s tv e r la g , 2 0 0 1 , 2 5 5 S eiten , A b b ., Graph.., Tab. I S B N 3 -4 2 2 - 0 6 3 0 7 -2 . Sanct Georg. D e r R itte r m it d e m D ra c h e n . F re isin g , D i ö z e s a n m u s e u m u n d L in d e n b e r g i. A llg ä u , K u n s tv e r la g J o s e f F ink , 2 0 0 1 , 2 8 0 S e ite n , A bb. I S B N 3 -8 9 8 7 0 - 0 2 7 - 5 . Schier Barbara, A llta g s le b e n im „ s o z ia li s ti s c h e n D o r f “ . M e r x le b e n u nd sein e L P G im S p a n n u n g s f e ld d e r S E D - A g r a r p o li tik 1 9 4 5 - 1 9 9 0 . (= M ü n c h e n e r U n iv e rs itä ts s c h r if te n ; M ü n c h n e r B e iträ g e z u r V o lk sk u n d e , 30). M ü n s t e r/N e w Y o r k /M ü n c h e n /B e r l in , W a x m a n n , 2 0 0 1 , 3 2 7 S e ite n , A b b . I S B N 3-8309-1099-1. Schneider Samantha, Inga Hosp, D ie R iesin von R id n a u n . A b n o r m i t ä ten, K u rio s itä te n , S c h a u s te llu n g e n . B o z e n , E d itio n Rffitia, 2 0 0 1 , 175 S eiten , A b b . I S B N 8 8 - 7 2 8 3 - 1 5 7 -1 . Schöndorfer Ilse, B u rg e n u nd S c h lö s s e r in O b e rö s t e rre i c h . St. P ö l te n / W ie n / L in z , N i e d e rö s te rr e ic h i s c h e s P re s s e h a u s , 2 0 0 1 , 2 3 6 S e ite n , A bb . I S B N 3 - 8 5 3 2 6 - 1 8 9 -2 . 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F r e i b u r g i. B re is g a u , E u le n Verlag, 2 0 0 1 , 1 4 2 Se iten , A b b . IS B N 3-89102-461-4. Neuerscheinung M a rtin B O T T E S C H , F ra nz G R I E S H O F E R , W ilfrie d S C H A B U S (Hg.) Die Siebenbürgischen Landler. Eine Spurensicherung. U n te r M ita r b e it v on M o n ik a H A B E R S O H N u n d L o re L o tte HASSFURTHER. Wien, Böhlau, 2002. 2 Bände, insges. 1.088 Seiten, 20 SW und 24 Farbabb. Pläne. F orm at 17 x 24, IS B N 3-205-99415-9 Ihre fluchtartige A usw anderung aus Rumänien hat sie zuletzt w ieder ins B lickfeld gerückt: Die Landler, je n e aus Österreich stam m enden Protestan ten, die man vor bald 270 Jahren nach Siebenbürgen „tran sm ig rierte“ , um sie dort ihren siebenbürgisch-sächsischen Glaubensgenossen zu überant worten. Doch trotz der durch engste innerdörfliche N achbarschaft bed ing ten D urchm isch un g mit diesen haben die Landler bis zuletzt an ihrer altösterreichischen Identität festgehalten, so dass Dialekt- und B eklei dungsschranken oft q uer durch die Verwandtschaft gehen. D iesem P h äno m en spürt der S am m elb and in 25 Beiträgen innerhalb der Kapitel G e sc h ic h te und Integration, Identität und Kulturaustausch, Siedlung und Wirtschaft, K irche und Gesellschaft, Biographie und Schicksal, B eg egn un g und Be w ahrung, nach. U nter B erücksichtigung der Einbettung der Landler in die multiethnische N achbarschaft von R om a und R um änen entstand ein le ben diges Porträt dieser infolge von religiöser Intoleranz einst vertriebenen M enschen, deren weiteres Schicksal bis zu seiner E in m ü n du ng in das gegenw ärtige M igrationsgeschehen nachgezeichnet wird. Zu bezie hen über den Buchhandel oder direkt bei B öhlau Wien, Sachsenplatz 4 -6 , A-1201 Wien, Tel. +43/1/330 24 27-0, Fax +43/1/330 24 32, e-mail: b oeh lau@ b oehlau .at, http://w ww.boehlau.at Subskriptionspreis bis 30.6.2002 E U R O 9 9 , - (ATS 1.365,-), späterer La denpreis E U R O 1 6 9 ,- (ATS 2.325,-). Verzeichnis der M itarbeiter M ag. S a b in e -E lse A stfalk B a h n stra ß e 4 7 /1 0 A -7 0 0 0 E ise n sta d t ao. U n iv .-P ro f. Dr. O la f B o ck h o rn In stitu t fü r E u ro p ä isc h e E th n o lo g ie d e r U n iv e rs itä t W ien H a n u sc h g a sse 3 A -1 0 1 0 W ien M ag. S u sa n n e B reu ss G e o rg -S ig l-G a sse 11/23 A -1 0 9 0 W ien a.o. U n iv .-P ro f. Dr. G ero F isc h er In stitu t fü r S la v istik d e r U n iv e rs itä t W ien S p ita lg a sse 2, H o f 3 A -1 0 9 0 W ien M ag . S a b in e H ess In stitu t fü r K u ltu ra n th ro p o lo g ie u n d E u ro p äisc h e E th n o lo g ie Jo h an n W o lfg an g G o e th e -U n iv e rsitä t G rü n e b u rg p ia tz 1 D -6 0 3 2 3 F ra n k fu rt am M ain U n iv .-P ro f. Dr. E d ith a H ö ra n d n e r In stitu t fü r V o lk sk u n d e/E u ro p ä isch e E th n o lo g ie A tte m sg asse 25 A -8 0 1 0 G raz H e rm a n n F. H u m m e r Ö ste rre ic h isc h e s M u se u m fü r V olkskunde L a u d o n g a sse 1 5 -1 9 A-IOSO W ien M ag. B irg it Jo h le r P u c h sb a u m g a sse 53/21 A -1 1 0 0 W ien Dr. S a n ja K a lap o s In stitu t für V o lkskunde und F o lk lo re fo rsch u n g K ra lja Z v o n im ira 17 HR-IOOÜO Z a g re b a.o. U n iv .-P ro f. Dr. M a rtin a K a lle r-D ie tric h In stitu t fü r G e sc h ic h te U n iv e rs itä t W ien Dr. K arl L u e g e r-R in g 1 A -1 0 1 0 W ien P ro f. Dr. B ärb el K e rk h o ff-H a d e r O tto -F rie d ric h -U n iv e rs itä t B am b erg L e h rstu h l fü r V o lk sk u n d e/E u ro p ä isch e E th n o lo A m K ra n e n 12 D -9 0 6 0 4 5 B am b erg M ag . N ik o la L a n g re ite r G ro ß e S p e rlg a sse 37a/21 A - 1020 W ien a .o . U n iv .-P ro f. Dr. K la ra L ö ffler In stitu t fü r E u ro p ä isc h e E th n o lo g ie d e r U n iv e rs itä t W ien H a n u sc h g a sse 3/4 A -1 0 1 0 W ien PD Dr. M a rita M e tz -B e c k e r G iso n e n w e g 9 D -3 5 0 3 7 M arb u rg M ag . K a th rin P a lle stra n g Ö ste rre ic h isc h e s M u se u m fü r V olkskunde L a u d o n g a sse 1 5 -1 9 A -1 0 8 0 W ien U n iv .-P ro f. Dr. W alter P u c h n e r S o u tan i 19 G R -1 0 6 8 2 A th en M ag. V ero n ik a P lö c k in g e r E th n o g ra p h isc h e s M u se u m S c h lo ß K ittsee A -2421 K ittsee H o frätin Dr. M arg o t S c h in d le r Ö ste rre ic h isc h e s M u se u m für V olkskunde L a u d o n g a sse 1 5 -1 9 A -1 0 8 0 W ien B rig itte S ta rz in g e r A lo is C ze d ik g a sse 3/13 A -1 1 4 0 W ien Österreichische Zeitschrift fü r Volkskunde Band LV 1/105, Wien 2002, 105-123 Währschafte Kost Z ur K ulinarisierung von Schw eizer S pezialitäten im G astrotrend Ueli G yr Für Klaus Beitl ,,Schweizer Spezialitäten“ und „Schweizer Küche“ erfreuen sich zunehmender Beliebtheit und lassen nach ihrer gastrokulturellen Bedeutung fragen. Bekannte Speisen werden „neu“ aufbereitet - phantasievolle Bezeichnungen, andere Kombi nationen und Zutaten erweitern das nationale Set, darunter z.B. Rösti, Fondue, Raclette und Älplermagronen. Sie werden gerne im Zug, auf dem Schiff und in traditionsbewussten Gast stätten, aber auch in trendigen Spezialitätenlokalen gegessen. Diese überführen die Schweizer Küche in die Erlebnisgastro nomie. Die kulinarische Folklorisierung ist Teil einer Alpinisierungsweile, die ihrerseits auf Dekulturation verweist. E ssen deckt vitalste B edürfnisse ab, deren R egulierung unverzichtbar ist. D iese reduziert sich jedoch nicht au f eine bloße M agenfrage, sondern um fasst w esentlich mehr. Was jenseits von körpernotw endi gen S ubstanzen und K alorien sonst noch alles „m itgegessen“ wird, ist v iel.1 R outinisierte H ungerstillung, lustbetontes Essen, aber eben so E kel vor bestim m ten Speisen oder A ngst gegenüber unvertrauten K om binationen verw eisen au f kulturelle M odellierung. Sie führt zu W erten, N orm en, Sym bolen und H andlungen in jew eiligen (K üchen-) Systemen, die eine je erforderte Balance zwischen Gewohnheit (Sicher heit) und Innovation (Experim ent) erm öglichen und nach ihrer soziok ulturellen A ktualisierung fragen lassen. Als eine solche (system ische) A ktualisierung analysieren die fo l genden A usführungen im A nschluss an eine erste T hem enskizze2 die 1 Jeggle, Utz: Essgewohnheit und Familienordnung. Was beim Essen alles mitge gessen wird. In: Zeitschrift für Volkskunde 84 (1988), S. 189-205. 2 Vgl. Gyr, Ueli: Schweizerisch essen, symbolisch fooden. In: uni/eth/Zürich. Magazin der Universität Zürich, Nr. 1/02, Bulletin der ETH Zürich, Nr. 285, April 2002, S. 9-11. 106 U e li G y r Ö Z V L V I/105 stark boom ende Schw eizer K üche in der aktuellen Gastrokultur. A ufbereitung und Verzehr von „w ährschafter“ (m undartlich: boden ständig-nahrhafter) Schw eizer K ost und S pezialitäten verzeichnen neue M erkm ale und stehen in Trends, denen eine gegenw artsorien tierte A lltagsforschung sich stellen m uss, geht es doch um einen m arkanten Schub nationalbesetzter K ulinarisierung zw ischen T radi tion und Postm oderne. D ass er im K ontext der Jubiläum sfeier der E idgenossenschaft (1991) und nationalen Identitätsdebatten gezün det hat und seit dem A ufbruch nach Europa nachhaltig wirkt, lässt aufhorchen. D ie volkskundliche N ahrungsforschung hat sich m it Schw eizer S pezialitäten bisher kaum beschäftigt, sie verfolgte andere T hem en.3 D er „A tlas der schw eizerischen V olkskunde“ brachte im m erhin eine auf Spezialitäten („landesübliche, für eine G egend typische Spei sen“) gerichtete K arte (Teil 1/39) m it K om m entaren von R ichard W eiss, der auch in seinem Standardw erk darauf B ezug nahm : „Z u Spezialitäten w erden die gew ohnten heim ischen Speisen natürlich erst in der Frem de oder dann, wenn sie für die Frem de zubereitet w erden, w ie das m it m anchen landschaftlichen G erichten geschieht [,..].“4 B ei den landesüblichen, regional- oder lokaltypischen Spezia litäten unterschied W eiss „lokale Selbsteinschätzung“ und „ E in schätzung von außen“ (durch Frem de), um sich besonders der ersteren zuzuw enden. S trukturelle G esellschaftsentw icklungen in der 2. H älfte des 20. Jahrhunderts haben die idealtypischen E instellungen über Spezialitäten inzw ischen m it veränderter W ertigkeit und Funktionalisierung versehen, so dass es auch durchm ischte P ositionen zu b erücksichtigen gilt. „ Schw eizer K ü c h e “ lässt sich fassen als Schlagw ort, Sachkategorie und B eg riff - eine eigene M ischung von W ortinhalten je d e n falls, die je nach B etrachtungsw eise unterschiedlich gew ichten. D er A usdruck löst schw eizerischerseits m eist eine distanzbetonende Po sition aus: A ssoziativ stellen sich Touristenlokale ein, in denen typi sche G erichte über M assenabfertigung und m indere Q ualität angeboten w ürden. D am it w erden Schw eizer G erichte aus der privaten 3 Schärer, Martin R.: Ernährung und Essgewohnheiten. In: Handbuch der schwei zerischen Volkskultur. Herausgegeben von Paul Hugger. Zürich 1992, Bd. 1, S. 253-288. 4 Weiss, Richard: Volkskunde der Schweiz. Grundriss. Erlenbach-Zürich 1946, S. 133. 20 0 2 , H e ft 2 W äh rsc h a fte K o st 107 K ochpraxis ausgelagert und ausgew ählten öffentlichen V erzehrorten zugew iesen, die „ n u r“ Freizeitkost anbieten. M it ihr verbindet sich in der R egel rasch ein Q ualitätsurteil, w obei m an den Touristen u nterstellt, dass sie die traditionelle („ ech te“) Schw eizer K üche w e der richtig einschätzen noch richtig genießen könnten. Schw eizer K ost deckt unbestreitbar touristische B edürfnislagen ab, dennoch d arf anderes nicht übersehen w erden, darunter die Frage, w ie S chw eizerinnen selber zu schw eizerisch etikettierten G erichten und S pezialitäten stehen. D ass der Suchbefehl „S chw eizer K üche“ im Internet über 22.000 E inträge anzeigt, beleuchtet deren S tellen w ert ebenso w ie ein M arktsegm ent diesbezüglicher K ochbücher. Die N achfrage scheint offensichtlich gegeben, erw irtschaftete doch z.B. der B etty B ossi-V erlag m it seinen populären K ochbüchern und Z eit schriften 2001 allein über das Verlagshaus R ingier 62 M illionen F ranken,5 U m sätze anderer Verlage w ären zu überprüfen. M an geht w ohl richtig in der A nnahm e, dass es vorw iegend Schw eizer K och k ü n stlerinnen sind, die von den äußerst beliebten R ezepten G ebrauch m achen, auch solchen, die Schw eizer M enüs betreffen. W ährend S chw eizer S pezialitäten hier als „berühm te, traditionelle und w iederentdeckte G erichte“ daherkom m en (B etty B ossi 1999), ordnen andere K ochbücher ihre G erichte über regionaltypische H er kunft und kantonale Z uw eisung, oder - w ie „D as H eidi K ochbuch“6 zeigt - sie personalisieren ausgew ählte S pezialitäten m ithilfe be rühm ter N am en. Schw eizer K ochbücher reproduzieren verschiedene Substanzen: N ach innen erscheinen regionale S pezialitäten als tradi tionell „g ew ach sene“ B asiselem ente der Schw eizer Küche, gleich wohl aber nicht seit U rzeiten: ,,,R egionalisierung4 ist ein Trend der achtziger und neunziger Jahre. Z eitschriften pflegen die R egionalkü che, R estaurants schließen sich zur Pflege der R egionalküche zusam m en, und selbst beim exklusiven G ault-M illau w ird die ,Cuisine du te rro ir4, die K üche der R egion, lobend hervorgehoben.“7 N ach außen konstruiert sich darauf zugleich eine alle L andesteile einschließende nationale G astrovielfalt, für w elche alsbald „das kulinarische Souve nir aus der S chw eiz“ steht.8 5 Jetzt hat Betty Bossi das Sagen im Coop-Kochstudio. In: SonntagsZeitung vom 17.2.2002, S. 2. 6 Walker, Martin: Das Heidi Kochbuch. Weingarten 1997. 7 Irene Dörigs „Schwiizer Chuchi“. Die Rezepte der bekannten Femsehköchin. Zürich 1989, S. 12. 108 U e li G y r Ö Z V L V I/105 D ie unterschiedlichen G ew ichtungen und Texturen m achen es tat sächlich nicht leicht, Schw eizer K üche eindeutig zu fassen. B egriff lich steht ein Interpretationsspektrum für verschiedene Z ugänge b e reit. Es fragt sich da etw a, ob kulinarische C harakteristik eher über einzelne E lem ente (z.B. Polenta, G erstensuppe, Pizzokel) oder über die A rt der Z ubereitung (B utterküche, Streuw ürze) zustande kom m t, ob eine bestim m te K om bination das T ypisch-Traditionelle konstitu iert (Z ürcher G eschnetzeltes m it Rösti, Schaffhauser Z w iebelku chen), ob die Ü berlieferungstreue m öglicherw eise das W ährschaftB odenständige ausm acht (z.B. G roßm utters Art, H ausm annskost, R atsherrengericht, O riginal E m m entaler Taufessen), oder ob sich alles nur um eine enger gefasste G ruppe von Spezialitäten dreht. G em eint sind die zu N ationalspeisen „aufgestiegenen“ G erichte, w elche im Inland w ie im A usland kulinarische E igenständigkeit em pfangen haben, allen voran Fondue, R aclette, R östi und Ä lplerm agronen. D as Spektrum m öglicher Zugänge verlockt die Frage aufzuneh m en, w ie denn die G astrobranche ihrerseits m it der begrifflichen P roblem atik um geht. Sie verfährt, kurz form uliert, sehr viel einfacher und reduktionistisch, indem sie der Schw eizer K üche die beiden M erkm ale „gutbürgerlich“ und „S chw eizer S pezialitäten“ zuw eist. D am it sind pauschale E igenw erte gesetzt, m ithilfe derer sich A bgren zungen zu S pezialküchen und -kost ergeben (z.B. V egetarisch, G ril liertes, E thnofood, Fischküche, koschere Kost) und/oder A bstufun gen in entsprechende Preissegm ente (bürgerlich/gehoben/luxuriös) erm öglichen. G astroSuisse, der größte F achverband für H otellerie und R estauration, führt bei über 3000 B etrieben jäh rlich e E rhebungen durch und stellte im B ranchenspiegel für 2001 heraus, dass „G utbür g erlich “ (26% ) und ,,Schw eizer Spezialitäten“ (18% ) w ie in den Vorjahren w eiterhin beliebteste S pitzenreiter sind, dies trotz konkur renzierenden Trends im jew eiligen B etriebsangebot.9 G erade da lohnen sich vertiefte B licke au f G astrokultur und G a strolandschaft, abseits von quantitativen D aten und indikatorischen P rozentuierungen. W enn „S chw eizer K üche“ S pitzenreiter ist, so hat diese ihre P osition nicht allein m it traditioneller Verankerung und gustatorischer V ertrautheit zu tun, sondern auch m it entsprechender V erm arktung und Verm ittlung. Zu fokussieren bleibt folglich die 8 Schweizer Küche [Peter Bührer], Bern u. Kilchberg 1998, Umschlag. 9 Gastrosuisse/Branchenspiegel 2001. Zürich 2001, S. 6. 20 0 2 , H e ft 2 W äh rsc h a fte K o st 109 A rt und W eise, w ie schw eizerische S pezialitäten aufbereitet w erden und auch, w ie traditionell verankerte G astro-Elem ente neu profiliert w erden, um die erw ähnte Leaderposition zu stützen. V olkskundliche B eobachtungen und R echerchen aus zw ei Z ürcher Projektsem inarien über „G astronom ie und G astrokulturen“ (1996) sow ie „E thnow elle und F olklorisierung“ (1999) haben bestätigt, dass verschiedene E nt w icklungen im G ang sind: Erklärungskraft besitzen, so unsere A us gangsthese, eine N eigung zur Spezialisierung und der Trend, auch die Schw eizer K üche in zeitgem äße E rlebnisstrukturen und -kontexte zu überführen. Was dies konkret bedeuten kann, lässt sich an einzelnen Gerichten, gastrokulturellen Innovationen und kulinarischen Variationen gut aufzeigen, allen voran an der Rösti. „R ö sti“, so m eint einer der prom inenten ju n g en Starköche, „ ist das typischste Schw eizer K ar to ffelg erich t“ 10, w elches Ende des 18. Jahrhunderts Zürcher und spä ter B erner B auern als Frühstück gedient haben soll, um sich dann gegen die A lpen hin auszubreiten.11 R ichard W eiss’ E inschätzung, R östi sei „in der deutschen und in der französischen Schw eiz im B egriff, zum gem einschw eizerischen Term inus für die als .boden stän d ig 1 und ,echt schw eizerisch1 em pfundene Speise zu w erden,“ stellte aus der Sicht der A tlas-Erhebungen in den 1940er Jahren eine zutreffende D iagnose.12 D ieses einfache K artoffelgericht erfreut sich in der Privatküche und in vielen R estaurants aller L andesteile großer B eliebtheit und gehört, in einer schw eizerischen D urchschnittsversion präsentiert, gleichsam zum „M in im alset“ . R östi ist inzw ischen auch im Segm ent „C onvenience fo o d “ nicht m ehr w egzudenken: „A llein die K onser venfabrik B ischofszell, der größte R östiproduzent der Schw eiz, ver arbeitet jäh rlich sechs M illionen K ilogram m K artoffeln zu F ertig rö sti.“ 13 G anz anders ihre „A u ftritte“ und „M utationen“ in neueren T rendlokalen, denn R östi ist nicht gleich R östi - längst nicht mehr! Im Z uge der U m - und N eugestaltung des Z ürcher H auptbahnhofs 10 Bührer, Peter: Schweizer Spezialitäten. Alte Original-Kochrezepte. R üschlikonZürich, Stuttgart, Wien 1986, S. 179. 11 Bossi, Betty: Von der Rösti bis zum Türgge-Ribel. Aus der Geschichte der schweizerischen Esskultur. Zürich 1991, S. 4f. 12 Atlas der schweizerischen Volkskunde/Atlas de Folklore suisse. Kommentar, Teil I, 1. Halbband, Basel 1962, S. 207 sowie S. 33f. 13 A ngaben gemäß der K onsumenten-Sendung „K assensturz“, Fernsehen DRS, 19.3.2002, 21.05-21.35. 110 U eli G y r Ö Z V L V I/105 w urde 1992 eine „R östibar“ eröffnet. Im Fastfood-Stil eingerichtet, b o t dieses erfolgreiche L okal m it v o lksm usikalischer K ulis senberieselung bis vor kurzem 13 verschiedene R östis im heissen P fännchen an, darunter „R ö sti nature“, „Ä lpler-R östi“ (m it H örnli, K äse und A pfelm us), „C häs-R östi“, „G em üse-R östi“ (m it buntem G em üse), „ B u ffe t-R ö sti“ (m it S chinken, K äse und Z w iebeln), „B äh n ler-R ö sti“ (m it Schw einsleber), „C lochard-R östi“ (m it Cervelatw ürfeln), „B uure-R östi“ (m it C ipollata, Speck und Ei), „D ienstm anne-R östi“ (m it geschnetzeltem Schw einefleisch) und „Z üri-R östi“ (m it geschnetzeltem K albfleisch). Im Teller serviert w urden dagegen „M etzger-R östi“ (m it K albsbratw urst), „G ourm et-R östi“ (m it R um psteak) und „A lpenglühn“ (S alatteller m it K äse und R östi). Ob R östi in all diesen A ngeboten H auptelem ent oder B eilage ist, bleibt offen und beliebig. K ennzeichnend ist sicherlich die erw eiterte K o m p o sitio n m it v ielfältig v ariieren d er Z usam m ensetzung. D ie phantasievoll angerichtete und neu bezeichnete K ost kennt, von w e nigen A usnahm en abgesehen, keine historisch überlieferten R ezepte. N eu erscheinen A ttribute, die an „bodenständige“ B erufe erinnern (B auern, B ähnler, D ienstm änner, M etzger). D er E rfolg, den „ n e u e“ R östigerichte derzeit verbuchen, stützt w ohl au f die V orstellung ab, das „ein fach e“ G ericht durch anspre chende K om positionen zu erw eitern und dadurch aufzuw erten. „V iel falt durch V ariation“ - nach diesem Prinzip verfuhr zeitgleich auch die „RöstiF'actory“, die sich über P roduktezentrierung ebenfalls et was N eues einfallen ließ, diesm al au f der Ebene von G astrokonzept w ie im Speiseangebot. „R östiF actory“ versteht sich als schw eizeri scher Firm enverbund für eine G ruppe vertraglich daran angeschlos sener R estaurants, die ihre G äste m it korporativem Logo, m it gleicher W erbung, ein h eitlich gesty ltem S erv icep erso n al und gleich g e stalteter M enükarte zu m obilisieren versuchen, darauf schw erge w ich tig R ö sti-G erich te. Im G egenzug p ro fitieren die R estau rationsbetriebe von günstigeren Einkaufspreisen bei F rischproduk ten, für das ein M arkenzeichen „n atu r p u r“ herhält. A u f den M enükarten der R östiFactory fanden kartoffelbegeisterte E sser 1999 das w ohl größte R östi-A ngebot der Schw eiz, m it nicht w eniger als 23 verschiedenen R östi-G erichten. Sie tragen bekannte N am en von O rten, Städten, R egionen und L andschaften aus der Schw eiz, durchw egs N am en, die touristische B edeutung verraten, w obei alle vier L andesteile berücksichtigt sind. D er R östi-B ogen 2 0 0 2 , H e ft 2 W äh rsc h a fte K o st 111 w ird national w eit gespannt von „R östi A ppenzell“, „R östi St. M o ritz “ über „R ö sti L uzern“, „R östi T icinese“, „R östi Engelberg“ , „R ö sti L enk“ bis zu „R östi Les D iablerets“, „R östi M ontreux“ und „R ö sti G enève“, um nur einige zu erw ähnen. Das U nterscheidungs m erkm al liefern w iederum die Zutaten in neuen K om binationen, z.B. m it F leisch (K albsgeschnetzeltes, Poulet, Chili, Schinken, Speck, S chw ein), W ürsten (K albsbratw urst, Saucisson), K äse (R aclette, G orgonzola), T eigw aren (M akkaronen), Lachs, Pilzen (C ham pi gnon), Spiegelei, G em üse (Lauch, Tom aten, Spinat, Zw iebel, K nob lauch, Peperoni, Paprika, zum eist in R ahm saucen eingebunden) so w ie m it F rüchten (Birnen). D ass die N am engebung der m eisten hier erw ähnten R östi-G erichte individuellen Eingebungen entsprungen sein dürfte, zeigt sich spätestens im R ezeptvergleich über andere K ochbücher: A ppenzeller oder N euenburger R östi kom m en verschie den daher, je nachdem , wo sie hergestellt werden. S ow eit erkennbar, scheint sich die R östiFactory in den ersten Jahren erfolgreich entw ickelt zu haben. Ihr Kreator, ein H otelier aus L auenen bei G staad, brachte es m it ihr auf acht B etriebe in der Schw eiz und einige Testversuche in Ö sterreich, H olland und den USA. Sie funktionieren nach einem für die Schw eiz neuen F ranchi sekonzept - eine V ertriebsform , die ein Produkt als M arke in Lizenz über ein gem einsam es M arketing verkauft. Das K onzept wird den M arktbedürfnissen ständig angepasst. Im Z uge dieser D ynam ik heisst das K onzept neu nun ,,R östiF actory/Sw isseria“, wo R östi offenbar n ur noch Teil des A ngebots ist. Im Internet m acht Sw isseria derzeit m it einem „R ö sti-E xpress“ auf sich aufm erksam . Dabei handelt es sich um einen au f Schw eizer Spezialitäten (z.B. H eusuppe, B ündner fleisch C arpaccio u.a.m .) ausgerichteten H auslieferdienst, der für G eburtstagskinder auch Ü berraschungen bereithält. A u f die D ynam ik von R östiF actory verw eisen auch neue, spezialisierte K ochbücher14 m it Innovationen w ie z.B. „R östipizza“ und „R östiburger“, die auch als H albfertigprodukte auf dem M arkt sind. S chw eizer K ost w ird gerne auch unterw egs gegessen. S pezialitä tenkonsum , so erw eist ein nächster B lick au f typische Verzehrorte, ist gerade da sehr gefragt. D ie M itropa Suisse SA, 1997 als Tochterun ternehm ung der deutschen M itropa AG gegründet, sieht die Schw eiz als Land von passionierten B ahnfahrern m it hohen A nsprüchen auch hinsichtlich Verpflegung im Zug. Seit einigen Jahren kann m an bei 14 Addor, Thomas: Das Rösti-Kochbuch. Neue Kartoffelgerichte. Lenzburg 2001. 112 U e li G y r Ö Z V L V I/105 M itropa Suisse das „ideale Lokal au f der Schiene als E xtraspeisew a g en “ (Prospekt) chartern. Solche A ngebote dienen privaten und geschäftlichen A nlässen m it geselliger A usrichtung und w erden für G ruppen bis zu 36 Personen als „kulinarisches R eisevergnügen“ em pfohlen. Im R ahm en beliebter Sonderfahrten fällt der „Chäs-Exp ress“ bereits äußerlich auf, w eil er in knallgelber F arbe w ie ein aufgeschnittener E m m entalerkäse daherkom m t, Funktion (m obiles S pezialitätenlokal) und andere B otschaften (Schw eiz als A lpen- und K äseland, Q ualitätsdenken) auch sym bolisch m arkiert. Als „sch n ellstes K äse-B uffet der W elt“ (w örtlich) verkehrt der „C h äs-E x p ress“ zw ischen B asel und B rig sow ie zw ischen Schaffhau sen und C hiasso. U nterw egs w erden Fondue, R aclette, K äseschnitten, K äsesalat, K äseküchlein, K äseteller und „G schw ellti“ (P ellkartof feln) serviert. Als besonderes kulinarisches R eiseerlebnis verspricht der A nbieter einen „F ondueplausch“ und „gem ütliches R aclette-E s sen “ in heim eliger A tm osphäre, doch ist auch für R eisende gesorgt, die K äsespezialitäten nicht m ögen und anderes vorziehen. A uch in der O stschw eiz finden K äseliebhaber ein entsprechendes Z ugsange bot: D er „R o te D oppelpfeil“ des R eisebüros M ittelthurgau lädt je w eils im F ebruar und M ärz zur Fondue-Fahrt ein. D ieser Zug verkehrt zw ischen Z ürich, Schaffhausen und B odensee; im A ngebot stehen traditionell F ondue-Essen und L ändlerm usik (volkstüm lich). M obile K äseküche und m obiles K äsebuffet sind längst schon w ich tige E lem ente der V erkehrsgastronom ie, die auch in der Schifffahrt auf S chw eizer Seen nicht m ehr w egzudenken ist: Fondue-Schiffe laufen besonders w ährend der W interm onate auf vielen großen und kleineren Seen aus. W ir finden sie au f dem B odensee, O bersee, G reifensee, Zugersee, H allw ilersee, V ierw aldstättersee, B rienzersee, Thunersee, B ielersee und auf dem N euenburgersee. A u f dem Z ürich see verkehrt das F ondue-S chiff - von einigen K laus- und R acletteFahrten im D ezem ber abgesehen - nur nach Som m erfahrplan, dafür w öchentlich. Es w ird vorzugw eise von Vereinen, Clubs, Firm en und kleineren B elegschaften benützt, die eine abendliche R undfahrt für A bschlüsse, Feiern, Parties und gem ütlich-bodenständige G esellig keitspflege w ählen, wobei Fondue-Essen, L ändlerm usik und G esang der G äste sich zum E rlebnis verm ischen. Fondue w ird in der Schw eiz hauptsächlich im W inter gegessen und ihm zugeordnet - W interzeit ist auch Fonduezeit. O ffenbar durch bricht das F ondue-S chiff diese Regel, und zw ar nicht ausschließlich 20 0 2 , H e ft 2 W äh rsc h a fte K o st 113 nur für Touristen. M an kann näm lich beobachten, dass som m erliches W etter und w arm e Tem peraturen auch viele S chw eizerinnen nicht von einem „F on due-P lausch“ abzuhalten verm ögen, vorausgesetzt, ein solcher verm ittelt das richtige A m biente. An der über das FondueE ssen zustande kom m enden, sprichw örtlich kursierenden G em üt lich keit ,15deren T ischritualen und -spielen nehm en ausländische Tou risten sicher anders teil. D ass das Fondue auch für sie als identitäts stiftender „S eelentröster“ w irkt, darf bezw eifelt w erden, schließt eigene (und andere) E rlebnisse aber keinesfalls aus. Japanische Touristen, die sich auf dem F olklore-S chiff „N ightb o at“ au f dem V ierw aldstättersee für einen Schw eizer A bend m it E ssen, T rachtenvorführung und volksm usikalischen D arbietungen entschieden haben, unterziehen sich vordringlich einer erw arteten N orm . Zu ihr gehört zentral auch das obligate A usprobieren von frem den, hier nationaltypisch geltenden G erichten. Ob Fondue, wie dies für viele A siaten üblich gew orden ist, nur als Vorspeise gegessen w ird, ob dazu C oca-C ola oder Lim onade (statt W eissw ein) getrunken wird, ist hierbei sekundär, entscheidend bleibt der nicht zu verpassen de kulinarische K ontakt m it der als schw eizerisch verm ittelten N a tionalkost, handlungsm äßig als eine A rt sym bolische A nnäherung an das R eiseland interpretierbar.16 Steht hier das gustatorische M om ent w ohl stärker im Vordergrund, w ird das Fondue-Essen als M ahlzeit an anderen O rten zugunsten einer neuen E rlebniskulisse zurückge drängt, vor der gegessen wird. Eine solche gibt sich z.B. im W alliser T ouristenort G rächen zu erkennen, wo m an auf besondere B estellung hin in der B erggondel Fondue erhalten kann: ein vorw iegend von S chw eizer K leingruppen benütztes A ngebot au f einer kleinen m obi len E rlebnisbühne. Seit einiger Zeit hat sie ihren Platz in diesem bergtouristischen Program m , was offensichtlich einer N achfrage ent spricht. „ K äsestu b e“, „F onduestube“, „B uurestube“ oder „B auernschän k e“ : so oder ähnlich heissen zahlreiche G aststätten, die sich explizit zur P flege von Schw eizer G erichten und Spezialitäten bekennen. Die 15 Als schweizerische R edensart fixiert im durch die Werbung lancierten Kürzel ..FIG U G EG L“ (Fondue ist gut und gibt eine gute Laune). 16 Gyr, Ueli: Sightseeing, Shopping, Souvenirs und Spezialitäten. Symbole und Symbolkonsum in m assentouristischer Sicht. In: Symbolik von Weg und Reise. H erausgegeben von Paul M ichel. Bern, Berlin, Frankfurt am M ain 1992 (= Schriften zur Symbolforschung, 8), S. 223-239, hier: S. 235. 114 U e li G y r Ö Z V L V I/105 R ede ist von einem eigenen Segm ent von (zum eist städtischen) T raditionslokalen, die sich um eb e n je n e Stam m kundschaft bem ühen, die au f solche W erte anspricht. Schw eizer K üche im Sinne oben d arg estellter B odenständigkeit und Ü berlieferungstreue setzt b e w usst auch einen G egenpol zur schnelllebigen G astronom ie, die heute kom m t und m orgen geht. Vertrautheit, G eschm ackstreue, Sym bolgehalt und S icherheit scheinen recht stark über national „aufgeladene“ G erichte verm ittelbar zu sein, darunter eben R östi, Fondue, R aclette und K äseschnitten, aber auch regionale S pezialitäten wie Pizzokels, Polenta, B erner Platte, B ündner und W alliser Teller (m it T rockenfleisch) oder Saucissons vaudois erheben ähnliche Q uali tätsansprüche. Was in solchen G astrokontexten, bei denen es um S chw eizer Spezialitäten geht, niem als fehlt, sind die seit einigen Jahren äußerst beliebt gew ordenen Ä lplerm agronen. Ä lplerm agronen - ein einfaches G ericht, w elches sich aus M ak karoni, kleinen K artoffelw ürfeln, geriebenem B ergkäse, M ilch und G ew ürzen zusam m ensetzt - sind inzw ischen ebenfalls zu einem b e kannten N ationalgericht avanciert. Ob das G ericht (und ab w ann) früher tatsächlich Ä lplerkost war, bleibt im einzelnen abzuklären, es fehlen bislang gesicherte B elege für die A nnahm e einer T raditionsli nie, jed en falls einer älteren. „Z u den neuesten E rscheinungen im Speisezettel der Ä lpler“, schrieb R ichard W eiss 1941, „gehören Teig w aren, die außer der besonderen Z ubereitungsart gar nichts für die A lpen C harakteristisches an sich haben. Sie w erden au f der Alp vielfach in M ilch statt in W asser gekocht, oft zu einem dicken, glatten Brei, der sich som it w ieder den älteren M ilch- und M usspeisen angleicht.“ 17 M it W eiss d arf m an davon ausgehen, dass die in M ilch gekochte K om bination „T eigw aren/K artoffeln“ jüngeren Datum s (20. Jahr hundert) sein m u ss18 und weiter, dass die A ufnahm e von Teigw aren besonders in den innerschw eizerischen G ebirgskantonen w ohl auch im Z usam m enhang m it deren Ö ffnung als Pass- und D urchgangsland für den N ord-Süd-V erkehr (Italien) stehen dürfte. In seinem W erk über die alpw irtschaftliche Term inologie, die auch den K anton Uri einschloss, bem erkte O tto F rehner 1919 sehr knapp: „ In neuerer Z eit 17 Weiss, Richard: Das Alpwesen Graubiindens. Erlenbach-Ziirich 1941, S. 325. 18 Vgl. Bielmann, Jürg: Die Lebensverhältnisse im U m erland während des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Basel u. Stuttgart 1972 (= Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft, 126), S. 177-187. 20 0 2 , H e ft 2 W äh rsc h a fte K o st 115 kom m en fabrikm äßig im Tal hergestellte Teigw aren au f den Ä lpler tisch, ferner M ais und R eis“,19 doch von Ä lplerm agronen ist nirgend w o die R ede. Faktum bleibt, dass erst eine jüngere K ochbuchliteratur die S pezialität in den K antonen U ri, N idw alden und O bw alden verortet und sie den w ackeren H irten au f den Leib zu schreiben beginnt: „D ie U rner,“ so ein B eispiel, „ein Volk von Sennen und H irten, haben eine ausgesprochen bodenständige und w ährschafte, aber bescheide ne K üche. D er G rund dafür liegt darin, dass die M änner nur eine beschränkte A nzahl an haltbaren N ahrungsm itteln m it au f die Alp nehm en konnten, so etw a Teigwaren, Reis, Zucker, Salz, M ehl, G e w ürze und gedörrte K astanien. Aus diesen einfachen Zutaten bereite ten sie kreative, noch heute sehr beliebte G erichte. W er kennt nicht die herrlichen ,Ä lplerm agronen‘, eines der w enigen U rner Teigw a rengerichte, früher ein S onntagsm ahl.“20 N ach einem augenfälligen „A u fstieg “ haben die Ä lplerm agronen inzw ischen eine gastrokulturelle B edeutung erlangt, die dem G ericht einen nicht m ehr w egzudenkenden Platz unter den „N ationalspeisen“ sichert, auch hier als Fertigprodukt vorhanden. Ä hnlich wie bei F ondue und R aclette scheint eine alpine Fundierung w esentlich im Spiel zu sein, unabhängig davon, ob nun R evitalisierung einer frühe ren H irtenspeise oder ein sym bolisch neu konstruiertes G ericht vor liegt. W ie häufig diese M ahlzeit in der privaten Schw eizerküche zur A nw endung kom m t, ist nicht bekannt, wohl aber - wie zahlreiche Internetanzeigen und B erichte über V ereinsanlässe nahelegen dass es sich als G eselligkeitsessen (ähnlich wie Fondue) für besondere G elegenheiten fest etabliert hat. G astronom isch gehören Ä lplerm agronen nun längst zum B estand der traditionellen Schw eizer Spezialitäten: ein A ngebot für binnen ländische w ie für ausländische Touristen, die das G ericht in besonde ren L okalitäten m it einheim ischer K üche, unterw egs im Zug oder auf dem Schiff, in einer B erghütte oder auf der Alp essen. D er A lpöhi auf der (neu so bezeichneten) H eidialp ob B ad R agaz kocht den bergw andernden Senioren, Fam ilien, Schulklassen und Vereinen seit Jahren Ä lplerm agronen, an Spitzentagen für m ehrere H undert Personen, wie w enn es dort nie etw as anderes gegeben hätte. D er O bw aldner Tou rism us em pfiehlt eine B ergw anderung ganz besonderer Art, gibt es 19 Frehner, Otto: Die schweizerdeutsche Älplersprache. Alpwirtschaftliche Termi nologie der Schweiz. Die Molkerei, Frauenfeld 1919, S. 19. 20 Bührer (wie Anm. 10), S. 75, hier in der Version ohne Kartoffeln. 116 U eli G y r Ö Z V L V I/105 doch seit zw ei Jahren den Ä lplem iagronen-P fad rund um den G iswilerstock. E r heisst so, w eil Ä lplerm agronen unterw egs gleich au f drei verschiedenen A lpen angeboten w erden. K aum zufällig erfährt Ä l plerkost au f der A lp genossen gerade da, in der innerschw eizerischen H erkunftsregion, eine besondere A uthentisierung - „id eal für Schu len, G ruppen und V ereine“, w ie der Prospekt verheisst. A lpenländische Kost m it nationaltypischer „G rundierung“ verfügt offensichtlich über eine besondere Q ualität, die nicht allen R egional speisen eignet. Von ebendiesem G ütezeichen alpenländischer Q uali tät, O rginalität und E infachheit gehen auch jen e B etreiber und D e signer aus, die versuchen, in Lokalen m odernen Z uschnitts A lpines neu zu nutzen. Im K ontext der überaus erfolgreichen touristischen W erbeaktion „L an d in S icht“, bei der 815 K unstkühe im Som m er 1998 die Z ürcher City als urbane W eide besetzten,21 entstand D yna m ik auch in der G astronom ie. Ein neues Lokal „M u sik stad el“ beim H au p tb ah n h o f erw artete G äste für F olklore, S chunkelm usik und w ährschafte Schw eizerkost - „zum A lpaufzug au f der B ahnhofstraße gesellt sich je tz t auch die passende H ütte“, w ie m an las.22 H üttenzau ber gibt es seither nun auch am Stadtrand. N ur leicht erhöht, am Z ürichberg, w urde fast zeitgleich ein alter Stall zur trendig daherkom m enden „C h äsalp 61702cm über M .“ (m it eigener O rtstafel) einge richtet. Seit ih rer Eröffnung verzeichnet die Zürcher „C häsalp“ das ganze Jahr hindurch ungebrochenen Z ulauf als kleines, rustikal designtes Spezialitätenlokal für gem ütliche Stunden und Speisegenüsse. K uli narisch verw öhnt ein um fassendes Angebot: N icht w eniger als 15 verschiedene Fondues verlocken zu allerlei Experim enten, für die allein die vielen neuen N am en und K om binationen sprechen, darunter z.B. „S tiere b lu t-F o n d u e“ , „W aldm eister-F ondue“ , „M üüsli-F ond u e“, „S tall-F o n d u e“, „H asen-F ondue“, „S ilo-F ondue“, „B üffelF ondue“ oder „F ondue ,Pesto P om odoro“ “. A ls H it des L okals stehen aber die M aggeronen in kaum überbietbarer V ielfalt an, sei es m it Fleisch, sei es ohne. 17 verschiedene M aggeronen-K om binationen zählt die Speisekarte: ein w ortschöpferischer M ix m it B ezügen zu 21 Gyr, Ueli: Kühe in der Stadt. Alpinisierung und Ethnoboom im Zeichen der Postmoderne. In: Becker, Siegfried et al. (Hg.): Volkskundliche Tableaus. Eine Festschrift für M artin Scharfe zum 65. Geburtstag von Weggefährten, Freunden und Schülern. Münster, New York, M ünchen, Berlin 2001, S. 445-455. 22 Alpenland in Sicht. In: Neue Zürcher Zeitung vom 18.9.1998, S. 55. 2 0 0 2 , H e ft 2 W äh rsc h a fte K o st 117 R egionen, Personen, B erufen, A lpinem und Jahreszeiten, z.B. „Tessiner M aggerone“, „H eustock M aggerone“, „S um m er M aggerone“, „H eid i M aggerone“, „A lpsturm M aggerone“, „A rbeiter M aggero n e“, „H arak iri M aggerone“, „M ondschein M aggerone“, um nur ei n ig e zu nennen. B elieb t sind auch der „S en n ezm o rg e“ (S onn tagsbrunch) und als Vorspeise die „S ennerinnen V ersuchung“ . Was sich hier abzeichnet, ist in jedem Fall m ehr als ein neues Set von innovativ aufbereiteten G erichten au f der M enükarte - es geht auch längst nicht m ehr nur um kulinarische Genüsse, denn gastrokulturelles A m biente m it entsprechender Service-Ä sthetik gehört w e sentlich dazu. Im m er deutlicher verm ischt sich die Schw eizer Küche m it spielerischen Elem enten: Es ist das evokative Spiel m it helveti schen K lischees und Sym bolsubstanzen, denen, folkloristisch einge setzt, n eue U n terh altu n g sq u a litäte n erw achsen. Je n ach Ver trautheitsgrad erreichen sie Touristen und E inheim ische au f unter schiedliche W eise und in unterschiedlicher Intensität, w ie m an z.B. in den beiden Z ürcher Trendlokalen „C razy C ow “ und „A lpenR ockH ouse“ (beim Flughafen) beobachten kann, andersw o aber ebenso. F ür die G äste entscheidend wird, dass der B esuch der Lokale und der G enuss von schw eizerischen G erichten beim A usw ärtsessen zum besonderen Erlebnis erhoben wird. D ie E rlebnisgastronom ie ist voll darauf ausgerichtet, wobei sich zeigt, dass E rlebnisse über ein durchstrukturiertes, gestyltes und stark sym bolbesetztes G anzes verm ittelt werden, w elches sich durch re dundante M erkm ale auszeichnet. M it der eindringlichen R edundanz hängt eine gew isse „U nentrinnbarkeit“ zusam m en - m an weiss an jed em Ort, zu jed em Z eitpunkt und bei jed er H andlung, wo m an sich befindet, gleichsam wie unter einer D auerberieselung, sei sie kulina rischer, sei sie sym boldekorativer A rt oder sonstw ie gem ustert. Das G estaltungsprinzip ist sehr einfach: Das Lokal erscheint als B ühne und erm öglicht so allerlei Inszenierungen (z.B. G eburtstagsw ünsche für G äste, denen m it kleinen K uhglocken das L ied „H appy B irthday“ intoniert w ird) und R ituale au f größeren und kleineren P lätzen.23 E ntscheidend bleibt aber, dass das Erlebnis nicht au f kulinarische G enüsse reduziert bleibt, sondern auch visuell (Schaulust), auditiv (H örvergnügen) und interaktiv (Spiele und A nim ation) erw eitert wird. 23 Schulz, Denise: Das Lokal als Bühne. Die Dramaturgie des Genusses. D üssel dorf, Berlin 2000. 118 U e li G y r Ö Z V L V I/105 W ie dies konkret funktioniert, verm ögen ethnographische B eob achtungen zur Erlebnisgastronom ie im einzelnen aufzuzeigen.24 K on zeptionell auf einen um fassenden Genuss ausgerichtet, ästhetisiert diese folgerichtig nicht nur G erichte, G etränke und G eschirr, sondern ebenso M enükarten („v erfrem d ete“ M undart/D eutsch), Innenein rich tu n g un d W andschm uck, M u sik k u lisse (S chw eizer M usik), M erchandisingartikel (z.B. Postkarten, Shirts, Salzstreuer, Kuhkondom e), Souvenirs und kleine G ebrauchsartikel, bis hin zum Styling und A uftreten des Personals. Im Z ürcher R estaurant ,,Crazy C ow “ verdichten sich so auf kleinem R aum eine Vielzahl von Identitätssym bolen aus dem nationalschw eizerischen R epertoire: L ustige Kühe, M ilch, Käse und Schokolade fallen besonders auf, aber auch die Figur H elvetia, das Schw eizerkreuz, die A lpenkulisse und das Edelw eiss stehen in der Nähe. D ie Speisen selber w erden in ungew ohnter (und überraschender) V erpackung serviert, z.B. in einem kleinen E inkaufs w ägelchen (Poulet), in einer G ugelhopfform (Teigw aren), in einer F ilzpantoffel (B rot) oder auch in einer K ehrschaufel (K artoffeln). W irkt das A m biente sym bolstrukturell hier „o ffen “ , verm ittelt das L okal „ A lpenR ock H ouse“ eher G eschlossenheit, w urde doch da 1996 ein A lp en d o rf en m iniature gestaltet, m it allem , was ein solches E ventlokal zw ischen Tradition und Avantgarde erfordert. G estalte risch treten C haletbauten, viel „e ch tes“ H olz, H olzfeuer und alte G eräte (Viehgeschirr, Schlitten, Ofen) im Innenraum in Form einer D örfliszenerie entgegen, w ährend der B lick nach außen au f künstlich nachgebildete F elsen schlägt. W andbilder lassen übergroß die „w ah ren“ S chw eizer B erge erstrahlen, darunter das M atterhorn, Eiger, M önch und Jungfrau. Je nach Stim m ungslage und Z eitablauf (Ü ber gang zur D isco) inszeniert die A nim ation A bendrot und Gewitter. Das w eibliche P ersonal bedient in G ilets im K uhfell-Look und serviert Ä lplerkost in großen Schüsseln, aus denen die G äste jew eils selber schöpfen sollen.25 Was h ier zum Vorschein kom m t, sind prototypische E lem ente einer zeitgem äß aufbereiteten Schw eizer Gastrokultur, die m it dem A nge bot von traditionellen S pezialitäten allein nicht m ehr bestehen kann 24 Zim merm ann, Heike: Von der Erlebnis- zur Themengastronomie. Eine volks kundliche Untersuchung anhand zweier Lokale m it dem Them a „Sw iss Ethno“. Unveröff. Liz.-Arbeit, Volkskundliches Seminar der U niversität Zürich, Zürich 2001, S. 29f. 25 Zim mem ann (w ie Anm. 24), S. 37f. 20 0 2 , H e ft 2 W äh rsc h a fte K o st 119 es braucht dazu, w ie oben dargelegt, mehr. D ie viel beschw orene E rlebnisgastronom ie beansprucht hierbei einen Schlüsselw ert, m it dem sich G astrodesigner und B etreiber von G aststätten seit einiger Z eit konsum entenorientiert beschäftigen. A uch w enn das Erlebnis als eine Form außergew öhnlicher R eizsuche und R eizbefriedigung nie ganz vom individuell geprägten Lebensstil ablösbar ist, also stets auch au f Selbsterlebtes rekurriert, kann m an allgem ein davon ausge hen, dass dram atisch-ritualistische Inszenierung, E m otionalisierung sow ie T raditionserinnerung w esentlich m it im Spiel sind.26 In der G astrobranche scheint Konsens darüber zu bestehen, dass E rlebnisproduktion und Erlebnisverm ittlung um jed en Preis jedoch kein ew ig gültiges U niversalrezept sein kann und weiter, dass der derzeitige T rend klar zugunsten einer erlebnisorientierten Them en gastronom ie schlägt. D araus folgt, dass die K onsum entenschaft of fenbar einer m inim alen „L en k u n g “ bedarf, die den Erlebnisvollzug wie eine A rt sanfte O rientierungshilfe stützt. Was dies bei der U m set zung von S chw eizer K üche beinhaltet, lässt sich über den Prozess einer kulinarischen und sym bolischen R evitalisierung fassen bzw. aufgrund gastrokultureller K onzepte konkretisieren. Eine im R ahm en eines neuen „L ife style o f Sw itzerland“ explizit so bezeichnete „V i sion“ verm ag die U m setzung beispielhaft zu illustrieren: Sie will „m it traditionellen W erten wie Q ualität, D ienstleistung und P reis w ürdigkeit S chw eizer G astonom ie betreiben, und der B evölkerung in der Schw eiz ein Stück Identität zurückgeben!“27 D ass Them engastronom ie einm al stärker au f die Schw eiz als n a tionales G efüge, au f die alpine Schw eiz, au f die dörfliche Schw eiz oder au f eine als „S w iss E thno“ touristisierte Schw eiz fokussiert, verrät unterschiedliche A kzente ebenso w ie verschiedene Z ielgrup pen. F ür sie alle w ird die hier aufgegriffene R evitalisierung regionaler K ost28 bedeutsam : Ä ltere und einfache G erichte, traditionelle und regionaltypische Speisen sow ie „e ch te“ R ezepte w erden für die M o derne aufbereitet, d.h. stilisiert, ästhetisiert und m ythisiert und von 26 Hettling, Manfred: Erlebnisraum und Ritual. In: Historische Anthropologie 5 (1997), S. 417-434, hier: S. 425f. 27 D okumentationsmaterial „C razy Cow. The total anders Swiss B eiz“ [Zürich 2002 ], 28 Vgl. Köstlin, Konrad: Die Revitalisierung regionaler Kost. In: Ethnologische Nahrungsforschung/Ethnological Food Research. Vorträge des zweiten Interna tionalen Symposium s für ethnologische N ahrungsforschung Helsinki 1973. Hel sinki 1975, S. 159-166. 120 U e li G y r Ö Z V L V I/105 einer ehem als geschlossenen E ndoküche in eine nunm ehr offene E xoküche überführt.29 Ob traditionelle Schw eizer G erichte über das M erkm al historischer Existenz real verfügen oder diese einer neuen E rfin d u n g verdanken, w irkt sich im K ontext einer neuen Valo risierung n ur m ittelbar aus. E ntscheidend bleibt ihre W irksam keit als besondere Identitätselem ente, die innerhalb eines kulinarischen F ol klorism us vielfältig genutzt w erden können. So zeichnen sich bäuerliche und alpine S pezialitäten w eniger durch R elikthaftes aus, m ehr durch identitätsstützend Ü berliefertes und E igenständiges, w enngleich nun in w arenästhetischer neu gestylter Form . S chw eizer K ost verw eist dam it auf kulinarische und sym boli sche Q ualitäten, die gepaart auftreten und im Verbund funktionieren: K ulinarische F olklore hält, allgem ein ausgedrückt, im m er reale und sym bolische Substanzen und Ingredienzen bereit, die beim S peziali tätenkonsum ebenfalls „einverleibt“ werden: Vergessenes aus frühe ren Z eiten und anderen R egionen, an die w ir au f kulinarischem E rlebnispfad w ieder erinnert w erden, wie die M enükarte des auf „ O rig in a l S chw eizer S p ezialitäten “ ausgerichteten R estaurants „ S v izzeria“ in O berdürnten (Zürcher O berland) verm erkt. Dabei deuten sich hier feinabstufende Zuordnungen an: Schw eizer S peziali täten finden sich unter den K ategorien „U rch ig s“, „T raditionells“, „W äärschafts“ und „S p eziells“ gruppiert. D ie fortschreitende K ulinarisierung hält verschiedene Identifika tionselem ente und E rlebnism odalitäten bereit, die aufgrund ihrer S truktur unterschiedliche D ekodierungen zulassen, je nachdem , um w elche V erzehrsituation und um w elchen Sym bolkonsum es im ein zelnen geht. Tatsächlich führen die gleichen S pezialitäten zu ver schiedenen E rlebnissen, variabler Tiefe und je differentem N achge schm ack. W er in der Schw eiz Fondue, Vogelheu (Eierrösti), W urstsa lat, C apuns (M angoldw ickel), R indszunge, Ä lplerm agronen oder Tessiner K utteln isst, w er sich für Z uger Forellen, H eusuppe, Rösti, H ackbraten im N etz, W aadtländer Saucissons, E ngadiner N usstorte, Z ürcher T irggel oder G larner Z igerkrapfen entscheidet, nim m t diese Spezialitäten nicht nur über Zunge und M agen auf, sondern verinner licht sie ebenso als Sym bolsubstanzen, zum eist w ohl unbew usst, aber 29 Tolksdorf, Ulrich: Heim at und Identität. Zu folkloristischen Tendenzen im Er nährungsverhalten. In: Folklorismus. Vorträge der 1. Internationalen Arbeitsta gung des Vereins „Volkskultur um den N eusiedlersee“ 1978. H erausgegeben von Edith Hörandner und Hans Lunzer. Neusiedl/See 1982, S. 223-253. 20 0 2 , H e ft 2 W äh rsc h a fte K o st 121 im m erhin. Im Sym bolkonsum selber zeichnen sich m indestens zw ei differente S trukturzusam m enhänge ab, die im G astrotrend relevant gew orden sind. Im einen Fall (Schw eizer, E inheim ische) führt der G enuss von S chw eizer K ost zur binnenexotischen K ulinarisierung m it auffallender K antonalisierung von regionalen Küchen, an deren H erkunft und Vergangenheit evokativ angeschlossen wird, im ande ren Fall (Touristen, Frem de) kom m t es system isch zur einfachen R eduktion au f einige w enige „N ationalgerichte“, die eine historisch gew achsene, als kleine A lpenrepublik w ahrgenom m ene Schw eiz kulinarisch pauschal vertreten. Die beiden Strukturzusam m enhänge sind interdependent, sie vertragen sich durchaus und lassen auch M ischform en zu. A us diesen beiden Strukturzusam m enhängen lässt sich m it B lick au f die k u lin arische F olklorisierung noch m ehr gew innen. Dass Schw eizer K ost und Schw eizer Spezialitäten im G astrosystem boo m en, lässt sich m it der viel strapazierten postm odernen B eliebigkeit nicht erklären. D ie Frage stellt sich, wo denn m ögliche Triebkräfte der hier beschriebenen K ulinarisierung zu suchen sind und seit wann. Sie ist, so ein e w eitere T hese, Teil einer um fassenden F olklo risierung, die nach innen w ie nach außen wirkt. D ie auffallende H inw endung zu S chw eizerisch-A lpinem lässt die A ufw ertung und S ym bolkraft alpenländisch gedeuteter K ost im K ontext einer seit den 1990er Jah ren sich akzentuierenden A lpinisierung verorten. Als Ethno-W elle greift diese verm ehrt in Städten und Tourism usorten, w ie die „ n e u e “ (nationale) Verkultung von Kuh und Edelw eiss, die K uhparaden, aber auch das E thno-D esign m it G ebrauchsartikeln, Souvenirs und A ccessoires sow ie neue Im pulse in der G astrokultur nahelegen. D abei genügt oft ein alpiner „A ufhänger“ für Innovatio nen, die bei genauerem Z usehen andere B ezüge verraten. A ls B eispiel diene w w w .alphuette.ch: eine Internetadresse, unter der m an seit Juni 2001 im L uzerner H interland eine m obile F esthütte m ieten kann - ein Service für kurzfristig geplante Festw irtschaften, B etriebsanlässe, Vereine, G eburtstagsfeiern oder als Event-Bar. Es bleib t zu verm uten, dass die folkloristische A lpinisierung, ge rade w eil sie m it dem N ationalgefüge am algam iert auftritt, von die sem auch Schubkraft bezieht - Jubiläum sfeiern der E idgenossen schaft (1991), E W R -A bstim m ung (1992), T ourism uskrise, Identitäts krise durch V ergangenheitsbew ältigung (Landespolitik zur Z eit des Z w eiten W eltkriegs, N azi-G old) sow ie der Druck, R ichtung Europa 122 U eli G y r Ö Z V L V I/105 zu denken und bew ährte Traditionsordnungen aufzubrechen, liefern dem F olklorism us ohne Z w eifel günstiges Terrain. Was sich in Form kulinarischer Folklore als Schw eizer K ost spielerisch-innovativ-un terhaltsam neu präsentiert, verw eist au f ein aufschlussreiches Syn drom , näm lich au f D ekulturation. Tatsächlich m uss der dram atische R ückgang der Schw eizer Land- und A lpw irtschaft m it allem , was an nationalen Identitätselem enten, -stützen und -ideologien dazugehört, als nationaler K ulturverlust m it einbezogen w erden: D avon sind zentrale helvetische W erte und Traditionsordnungen der Schw eiz als früheres „V olk von H irten“ (Schiller) betroffen, die folkloristisch kom pensiert w erden. So betrachtet, übersetzt sich diese an historisch gew achsene Sub stanzen greifende D ekulturation in eine „harm los-angenehm “ daher kom m ende R ückbesinnung und W iederentdeckung auch über die Pflege traditioneller K ost und Spezialitäten: D er Sym bolkonsum er folgt subtil, aber nicht m inder gehaltvoll, liefert er doch kleine iden titätsfreundliche K om m unikationsangebote und dam it V erhaltenssi cherheit. B ezeichnenderw eise erfolgt die Suche darnach über gesel ligkeitsfördernde V erzehrsituationen im K ollektiv und in K leingrup pen, die daraus häufig ein (forschungsm äßig bislang kaum beachte tes!) M ini-E vent gestalten.30 D ie A ktualisierung solcher B edürfnisla gen tritt niem als beliebig auf, denn „im Folklorism us vergew issert sich der M ensch von Z eit zu Z eit seiner D ekulturation, w ie er auch dam it versucht, ihr zu entgehen, um nicht gänzlich kollektiven G e dächtnis- und dam it Identitätsverlust zu erleiden. D enn was überheb lich oftm als als die Lächerlichkeit, Peinlichkeit und Falschheit dem Folklorism us angekreidet w ird, wie von vorgestern zu sein, alles in k lisch eeh after S tereotypisierung darzustellen, Z w angsharm o nisierung der ,guten alten Z e it4, Verniedlichung, entspringt ja nicht nur dem W unsch, R ealität zu entfliehen, sondern ebensosehr dem w iew ohl m eistens inadäquaten - B em ühen, R ealitäten zu verarbei ten “.31 Was bei der A ufnahm e von traditioneller Schw eizer K ost an überlieferten H erkunfts- und V ergangenheitssubstanzen sym bolisch m itgegessen wird, w elche Bilder, M ythen und S ensibilisierungsge 30 Gebhardt, W infried, Ronald Hitzler, M ichaela Pfadenhauer (Hg.): Events. Sozio logie des Außergewöhnlichen. Opladen 2000 (= Erlebniswelten, Bd. 2). 31 Kapeller, Kriemhild: Tourismus und Volkskultur. Folklorismus - zur Warenäs thetik der Volkskultur. Graz 1991 (= Dissertationen der Karl Franzens-Universität Graz, 81), S. 299. 2 0 0 2 , H e ft 2 W äh rsc h a fte K o st 123 schichten32 von der Schw eiz und den A lpen produziert und reprodu ziert w erden, was über eine solche kulinarische Identitätsvergew isse rung selektiv gefiltert und w ie verdaut wird, - all dies bleibt w eiter zu überprüfen. Es dürfte sich lohnen. Ueli Gyr, “Hearty M eals”: The Culinarization of Swiss Specialities as a Gastronomie Trend “Swiss Specialties” and “Swiss Cooking” are becoming increasingly popular, and open up the question o f the significance o f this developm ent in gastronomic and cultural terms. Standard national dishes, like Rösti, Fondue, Raclette and Älpler magronen, are created “anew”, given new ingredients, fanciful names, and appear in unusual combinations. They are served in trains, on passenger boats on lakes, and in tradition-conscious restaurants. But they are also eaten in trendy locales, and that transforms Swiss cooking into the realm o f gastronomic experience. The culinary folklorization is part o f a wave o f “A lpinizing” experience that itself points to deculturation processes. 32 Köstlin, Konrad: Folklore, Folklorismus und M odernisierung. In: Schweizeri sches Archiv für Volkskunde 78 (1991), S. 46-66, hier: S. 58. Neuerscheinung Dorothea RÜB, Margot SCHINDLER (Red.) Aller Anfang Wien, Österreichisches M useum für Volkskunde, 2002, 307 Seiten, 179 Abb., Graph., Form at 22x21, brosch. (= Kataloge des Österreichischen M useum s für Volkskunde, Band 80) ISBN 3-900359-97-0 Inhalt Franz GRIESHOFER, M argot SCHINDLER, Vorwort. 9-10; Lisi BREUSS, D oro thea RÜB, A ller Anfang - von den Anfängen bis zur Realisierung. 11-13; A rtur R. BOELDERL, Die Geburt. Vorüberlegungen zu einem Anathem a der abendländi schen Ideengeschichte. 17-23; M argot SCHINDLER, Von M enschen und Dingen im M useum und der Geburt in der Volkskunde. 25-35; Volker LEHM ANN, Geburt: Ein M otiv in der Kunst von Frauen im 20. Jahrhundert. 37-45; Ludwig JANUS, Bilder und Zeichen intrauteriner Erfahrungen. 47-51; Piera M AGHELLA, W ie ich m ir die G eburt vorstelle. Zeichnungen von 10jährigen Kindern. 53-59; Birgit HEIM BA CH, Judith Samen - Schwangerschaft, Geburt und W ochenbett im Blick einer zeitgenössischen Künstlerin. 61-71; Rosem arie BURGSTALLER, D er klein ste gem einsam e Nenner. Künstlerische Positionen zwischen Com putercode und DNA. 73-79; Bernhard KATHAN, Lost in Space: Schwangerschafts- und Geburts bilder in Videoclips. 81-85; Ute M OOS, Verena TRAEGER, Zur Entstehung der W elt und zur Geburt von göttlichen und menschlichen Wesen in Schöpfungsmythen mit Beispielen aus Afrika, Asien, Amerika, Australien und Europa. 89-97; Christine BIND ER-FRITZ, „Papa tu-a-nuku, das Land, die Erde nährt uns wie eine M utter“. Geburt in der M ythologie und Zeitgenössischen Kunst der Maori Neuseelands. 99-105; Christoph KRÜGER, Die Fruchtbarkeitspuppen der Dowayo, Nordkam e run, 107-111; Bernhard HADOLT, Erfahrungen mit In-Vitro Fertilisation. 113-120; Theo STEINER (Red. u. einl. Statement), Vom Nutzen und Nachteil der Hum ange netik für das Leben (Diskussionsauszüge). 121-129; Liselotte KU NTNER, Geburt und M utterschaft in verschiedenen Gesellschaften. 133-145; Beate SCHÜCKING, Schwangerschaft, G eburt und W ochenbett aus gesundheitsw issenschaftlicher Per spektive. 147-157; Christine BIND ER-FRITZ, Entbinden oder Gebären? Ü berle gungen zur geburtshilflichen Versorgung von M igrantinnen in Österreich. 159-165; Üte M OOS, Verena TRAEGER, Gebären unter extrem(einfach)en Bedingungen. 167-171; Beatrix FALCH, Barbara FREI HALLER, Liselotte KU NTNER, H eil pflanzen in der Geburtshilfe. 173-187; Marion STADLOBER-DEGW ERTH, „D er Teufel von K orneuburg“. Aus den Sammlungen des Pathologisch-Anatomischen Bundesm useum s Wien. 189-195; Verena PAWLOWSKY, Anonym gebären. Findel haus, Babyklappe und anonyme Geburt. 197-201; Katalog: 203-299. Bestellungen: Österreichisches M useum für Volkskunde Laudongasse 15-19, A-1080 Wien Tel. +431/406 89 05, Fax +431/408 53 42 E-mail: officetBvolkskundemnseum.at. EUR 3 0 ,- (exkl. Versand) EUR 2 0 ,- (für M itglieder des Vereins für Volkskunde) Ö sterreichische Zeitschrift fü r Volkskunde Band LVI/105, Wien 2002, 125-148 Zum Quellenwert der Südtiroler Volksmusiksammlung von Alfred Quellmalz (1940-1942) Thom as N ußbaum er Die Südtiroler Volksmusiksammlung von Alfred Quellmalz (rund 3000 M agnetophonaufnahm en m ündlich überlieferter Volksmusik aller Gattungen) war aufgrund ihrer Entstehungs hintergründe (SS-,, Ahnenerbe“ als Auftraggeber, Option und Umsiedlung in Südtirol als Anlass) in der Fachliteratur bisher umstritten. Bei Kenntnis des Sammelbestandes zeigt sich jedoch, dass Quellm alz weniger der ,,A hnenerbe“-Ideologie als viel m ehr dem damals traditionellen volkskundlichen Fachver ständnis verbunden w ar (was sich mit ideologischen Forde rungen allerdings teilweise verbinden ließ). Ihm lag vor allem daran, die älteren Schichten der Südtiroler Volksmusik zu erfassen. G egenwartsbezogene politische Lieder nahm er nur in geringem Ausmaß auf, ideologisch nicht opportune Lieder berücksichtige er aus Gründen der Vorsicht nicht. A ufnahme technisch stellt seine Sammlung eine Pionierleistung dar. W ie alle volkskundlichen Sam m elaktionen der „S üdtiroler K ultur kom m ission“ des SS-A hnenerbes, die in den Jahren 1940 bis 1942 im U m siedlungsgebiet Südtirol stattfanden, ist auch die rund dreitausend Tonaufnahm en um fassende V olksm usiksam m lung von A lfred Q uell m alz (1 8 9 9 -1 9 7 9 ) sehr um stritten. Als gegen E nde der achtziger, A nfang der neunziger Jahre eine R eihe von V olkskundlerinnen und V olkskundlern daranging, die G eschichte ihres Faches zur Z eit des N ationalsozialism us aufzuarbeiten,1 w urde vielfach auf den ideolo gisch problem atischen K ontext der Forschungen eines R ichard W olf ram , W illi M ai und A lfred Q uellm alz in Südtirol hingew iesen. Ten denziell bestand die A uffassung, die Forschungskonzepte, -m ethoden und ihre E rgebnisse als (aus heutiger Sicht) w issenschaftlich suspekt zurückzuw eisen. 1 Stellvertretend sei hier nur verwiesen auf Jacobeit, Wolfgang, H annjost Lixfeld und O laf Bockhorn (Hg.): Völkische Wissenschaft. Gestalten und Tendenzen der deutschen und österreichischen Volkskunde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhun derts. Wien 1994. 126 T h o m as N u ß b a u m e r Ö Z V L V I/105 D ie E ntstehungshintergründe der Südtirolsam m lung Q uellm alz sind D ank einiger A ufsätze von P eter A ssion, P eter Schw inn und G isela L ixfeld in groben Zügen seit längerem bekannt.2 E ine detail lierte D arstellung findet sich in m einem im Vorjahr erschienenen B uch über Q u ellm alz’ Südtiroler Forschungen,3 aus dem ich nachfol gend einige G edanken zusam m enfasse, die zur E inschätzung des Q uellenw erts der Südtirolsam m lung Q uellm alz beitragen können. Q uellm alz w irkte von Juli 1940 bis M ai 1942 als L eiter der „G ru p pe V olksm usik“ der sogenannten „S üdtiroler K ulturkom m ission“ , einer vom SS-Sturm bannführer (bzw. später O bersturm bannführer) W olfram Sievers geleiteten D ienststelle der SS-,,Forschungs- und L ehrgem einschaft ,Das A hnenerbe“ 1(Präsident: H einrich H im m ler). Q u ellm alz’ A ufgabe und die seiner M itarbeiter F ritz Bose, K arl H orak und W alter Senn bestand darin, in Ton, W ort und B ild die V olksm usik der S üdtiroler O ptanten vor ihrer U m siedlung ins D eutsche R eich zu erfassen. Im künftigen Siedlungsgebiet sollten die A ufzeichnungen dann für eine ideologisch angepasste V olkstum spflege funktionalisiert w erden. D iese V oraussetzungen fördern gew iss nicht eine positive E in schätzung des Q uellenw erts der Südtirolsam m lung Q uellm alz für die m oderne w issenschaftliche m usikalische Volkskunde und geben auch 2 Vgl. Assion, Peter, und Peter Schwinn: M igration, Politik und Volkskunde 1940/43. Z ur Tätigkeit des SS-Ahnenerbes in Südtirol. In: Greverus, Ina-Maria, K onrad Köstlin und Heinz Schilling (Hg.): Kulturkontakt. Kulturkonflikt. Zur Erfahrung des Fremden. 26. D eutscher Volkskundekongreß in Frankfurt vom 28. Septem ber bis 2. Oktober 1987. 1. Teil. Frankfurt a.M. 1988 (= Notizen, Band 28), S. 221-226; Lixfeld, Gisela: Das „A hnenerbe“ Heinrich Himm lers und die ideologisch-politische Funktion seiner Volkskunde. In: Völkische W issenschaft (wie Anm. I), S. 217-255; Schwinn, Peter: A uf Germanensuche in Südtirol. Zu einer volkskundlichen Enquète des SS-Ahnenerbes. In: Jahrbuch für Volkskunde. Neue Folge 12 (1989), S. 85-98; Schwinn, Peter: Alfred Quellm alz und'seine Tätigkeit in der Kulturkomm ission des SS-Ahnenerbes 1940-42. In: Stief, W ie gand (Hg.): Register zu Alfred Quellm alz „Südtiroler Volkslieder, 3 Bände, Kassel: Bärenreiter 1968, 1972 und 1976“. Bern u.a. 1990, S. 167-177 (= Stu dien zur Volksliedforschung 4); Schwinn, Peter: „SS-A hnenerbe“ und „Volks tum sarbeit“ in Südtirol 1940-1943. In: Johler, Reinhard, Ludwig Paulm ichl und Barbara Plankensteiner (Hg.): Südtirol im Auge der Ethnographen. Wien, Lana 1991, S. 91-104. 3 Nußbaumer, Thomas: Alfred Quellmalz und seine Südtiroler Feldforschungen (1940-42). Eine Studie zur musikalischen Volkskunde unter dem N ationalsozia lismus. Innsbruck u.a. 2001 (= Bibliotheca Musicologica, Universität Innsbruck, Band 6). 2 0 0 2 , H e ft 2 Q u e lle n w e rt d e r V o lk sm u sik sa m m lu n g von A lfre d Q u e llm a lz 127 heute noch A nlass für M utm aßungen bezüglich ihres ideologischen C harakters. G esprächsw eise vernahm ich zum B eispiel die A nsicht, die Sam m lung sei eine „N aziliedersam m lung“, obw ohl Q uellm alz kein einziges L ied der N S-B ew egung aufzeichnete. A bgesehen von m anch unbegründetem Vorurteil sind die M einungen konträr. Ich m öchte dazu nur zw ei unterschiedliche B ew ertungen der Südtirol sam m lung Q uellm alz anführen. 1953 schrieb der bayerische Volks m usikforscher F elix H oerburger, dam als am R egensburger „Institut für M usikforschung“ m it der A rchivierung der Q uellm alzbänder be fasst: Bereits eine erste Durchsicht [der Sammlung, Anm. des Verf.] zeigt, daß das Thema „Volksmusik in Südtirol“ sehr weit zu begreifen ist. Es reicht vom Bänkellied und Couplet bis zum Jodler, von der deutschen Messe bis zum primitiven Heischelied, und der „komponierte“ Stimmungswal zer ist ebenso vertreten wie die Typenweisen des bäuerlichen Ländlers, die von den verschiedensten bodenständigen Instrumentalgruppen ausge führt werden. [...] Mit größter Wahrheitstreue und ohne vorgefaßte oder kategorisierende Meinung wird grundsätzlich alles gezeigt, was dieses Volk singt und musiziert; jede Auswahl, die von den meisten Sammlern sehr zu Unrecht und sehr zum Nachteil der wissenschaftlichen Verwert barkeit schon an Ort und Stelle vorgenommen zu werden pflegt, wird hier einem späteren sichtenden Zeitpunkt überlassen. So erhalten wir hier ein wahres Bild von der tatsächlichen vielgesetzlichen Zusammensetzung des Musiziergutes dieses Landes [...].4 E inen ganz anderen Standpunkt vertreten P eter A ssion und Peter Schw inn in ihrer 1988 verfassten C harakterisierung der Sam m elar beiten der S üdtiroler K ulturkom m ission, insbesondere der A rbeiten des E rzählforschers W illi M ai und des V olksm usikforschers Q uell m alz. B ezugnehm end au f diese beiden heißt es: Es gilt als sicher, daß die geplante Verwertung des Sammelgutes schon vorweg dessen Qualität mitbestimmte. War bereits die ideologische Brille der hauptverantwortlichen Sammler eine Garantie für erwünschtes selek tives (und indirekt produktives) Vorgehen, so stellten darüber hinaus die erlassenen Richtlinien und verteilten Arbeitsmaterialien (Fragebögen usw.) sowie die permanente Kontrolle der laufenden Arbeit durch Kom 4 Hoerburger, Felix: Katalog der europäischen Volksmusik im Schallarchiv des Institutes für M usikforschung Regensburg. Für die Unesco zusam mengestellt und herausgegeben durch das Institut für Musikforschung Regensburg. R egens burg 1953 (= Serie C: Ethnographische und Volksmusik, Band 3, und Quellen und Forschungen zur musikalischen Folklore, Band 1), S. 52-53. 128 T h o m as N u ß b a u m e r Ö Z V L V I/105 missionssitzungen, vorzulegende Zwischenberichte und neue Anweisun gen sicher, daß sich die „Sammelarbeit“ auf „Wesentliches“ [im Sinne der NS-Ideologie, Anm. des Verf.] konzentrierte.5 Z w ischen diesen beiden A ussagen liegen nicht nur 35 Jahre, sondern auch unterschiedliche Interessen und Zugänge zum Them a. H oerbur ger ging positivistisch vom Sam m elbestand aus, den er in seinem K atalogw erk einer europäischen Fachöffentlichkeit m öglichst vor teilhaft präsentieren w ollte. E r verschw ieg die ihm m it Sicherheit bekannten E ntstehungshintergründe und Q uellm alz’ A uftraggeber. A ssion und Schw inn hingegen bezogen sich ausschließlich au f die ihnen zugänglichen offiziellen R ichtlinien der A hnenerbeleitung zitiert w erden im m er w ieder die „G rundsätze zur A ufnahm e und E rfassung der kulturellen W erte in Südtirol“,6 jen e program m atische A ussendung S ievers’ - , auf die dienstlichen A rbeitsberichte der ein zelnen Forscher sow ie auf w eiteres am tliches M aterial, das ihnen am dam aligen „B erlin D ocum ent C enter“ und in anderen A rchiven zu gänglich war. Ü ber den S am m elbestand konnten sie sich nicht äußern, w eil sie ihn nicht kannten. O hne um fassende B erücksichtigung der technischen, organisatorischen und personellen U m stände der Sam m elaktion, ohne E insichtnahm e in das Sam m elm aterial und die dazu gehörigen B egleitdokum ente evaluierten sie Q uellm alz’ F orschungs m ethoden au f der Basis offizieller K orrespondenzen und gelangten so zu einem einseitig negativen Bild. S elbstverständlich trug auch Q uellm alz’ berufliche L aufbahn w äh rend der N S -Z eit nicht unbedingt dazu bei, seine Forschungstätigkeit später in einem günstigeren L icht erscheinen zu lassen, und es ist notw endig, auch au f diesen A spekt einzugehen, gerade im Z usam m enhang m it seiner Südtirolsam m lung, der für seine K arriere im A hnenerbe eine zentrale B edeutung zukam . Q uellm alz w ar nicht, w ie ein D iskutant bei einer Tagung in Salz burg E nde Juni 2001 m einte, „e in großer M ann des System s“, son dern - realistisch gesehen - ein passionierter und zugleich k arriere orientierter V olksm usikforscher, der die G unst der Stunde, näm lich die große A ufw ertung der V olksm usikforschung und -pflege im D rit ten R eich, nutzen w ollte. Von 1928-37 w irkte er als m usikw issen 5 Assion/Schwinn, M igration, Politik und Volkskunde (wie Anm. 2), S. 224. 6 Sievers, Wolfram: Grundsätze zur Aufnahme und Erfassung der kulturellen Werte in Südtirol [Frühjahr 1940] (AdO-Archiv des Instituts für Zeitgeschichte der U niversität Wien, D O -35/A k-6/1920). 2 0 0 2 , H e ft 2 Q u e lle n w e rt d e r V o lk sm u sik sa m m lu n g von A lfre d Q u e llm a lz 129 schaftlicher M itarbeiter an John M eiers „D eutschem Volksliedar chiv“ in Freiburg i.Br., 1932 prom ovierte er an der dortigen U niver sität m it einer D issertation über „D ie W eise vom E islein“ (K önigs kinderballade). 1937 erhielt er dann den Posten eines zunächst kom m issarischen, dann w irklichen A bteilungsleiters für Volksm usik an dem zw ei Jahre zuvor erst gegründeten „S taatlichen Institut für D eutsche M usikforschung“ in B erlin. D iese dem R eichserziehungs m inisterium unterstellte W issenschaftseinrichtung m it dem am bitio nierten Vorhaben, zur zentralen musikwissenschaftlichen Forschungs stelle Deutschlands aufzurücken, war im Bereich der Volksmusik unter anderem m it den vielfältigen B edürfnissen der M usikpflege H itlerD eutschlands befasst. A nfragen von Vertretern der P arteigliederun gen erfüllte Quellm alz stets verlässlich und entgegenkommend. Er selbst hatte seine Parteim itgliedschaft aber erst m it dem Ü bertritt in den öffentlichen D ienst erhalten, w ar also kein N azi der ersten Stunde.7 Seine Kontakte zum Ahnenerbe ergaben sich unm ittelbar aus der U m siedlung Südtirol und dem daraus entstandenen Forschungsauftrag. A ufgrund seiner fachlichen A usbildung und Erfahrungen m it volks m usikalischer F eldforschung w urde er als B eauftragter seines In sti tutes, und von diesem m it fortlaufenden B ezügen dienstfreigestellt, zum L eiter der G ruppe Volksm usik der Südtiroler K ulturkom m ission bestellt. D ort einm al Fuß gefasst, erkannte er die Chance, seine Karriere weiterzuentwickeln. U m die Leitung der seit 1938 auf dem Papier schon bestehenden, aber noch unbesetzten Ahnenerbe-,,Forschungsstätte für indogerm anisch-deutsche M usik“ zu übernehmen, trat er im April 1942, also kurz vor Ende seiner Südtirolzeit, der Allgem einen SS bei. Hier verblieb er im niederen Rang eines Untersturmführers und befreit von allen m ilitärischen Übungspflichten, da er aufgrund einer Verletzung aus dem Ersten W eltkrieg kriegsdienstuntauglich war. 1943 durfte er, nunm ehr zum designierten L eiter der „F orschungs stätte für indogerm anisch-deutsche M usik“ aufgerückt, sich selbst, seine F am ilie und das Inventar seiner Institutsabteilung m itsam t den S üdtiroler B ändern nach Süddeutschland absetzen - letzteres nicht gerade zur Freude seines Institutsleiters H ans A lbrecht. W ährend B erlin den zunehm enden B om benangriffen ausgesetzt war, beschäf tigte sich Q uellm alz in der sicheren fränkischen K leinstadt W aischenfeld im dortigen A hnenerbe-A usw eichquartier fast ausschließlich m it 7 Zu Q uellm alz’ Tätigkeiten vor Juli 1940 siehe Nußbaumer, Quellm alz (wie Anm. 3), S. 17-58. 130 T h o m as N u ß b a u m e r Ö Z V L V I/105 der A ufarbeitung seiner Südtiroler Tonbänder. Es gelang ihm , im R ahm en verschiedener A hnenerbeprojekte und -tagungen die A us w ertung der Südtirolsam m lung als „kriegsw ichtig“ zu deklarieren, w eil sie angeblich das D eutschtum der Südtiroler bew eist. A us diesem G runde w ar es ihm m öglich, den Institutsbetrieb und sogar den P ersonalstand bis knapp vor K riegsende aufrecht zu erhalten. N ach dem K rieg w urde Q uellm alz als m inderbelasteter M itläufer rehabili tiert, doch an eine m usikw issenschaftliche oder volkskundliche Stelle gelangte der m ittlerw eile S echsundvierzigjährige nicht m ehr, nicht zuletzt auch deshalb, w eil ihm sein ehem aliger C hef A lbrecht, nach K riegsende in M usikw issenschaftlerkreisen genauso einflussreich wie zuvor, aus persönlichen G ründen seine S S-M itgliedschaft vor warf. Lange w urde er auch an seine Sam m lung, die schließlich in R egensburg landete, nicht herangelassen.8 D iese F akten sind natürlich w ichtig, doch sagen sie noch nicht viel über die Sam m lung, ihre E ntstehungsbedingungen und ihren Q uel lenw ert aus. H ierzu bed arf es w eiterer Inform ationen und auch der richtigen Q uelleneinschätzung. A m B eispiel der B ew ertung der F o tosam m lung von Q uellm alz, die als B egleitdokum ent zu den Tonauf nahm en entstand, kann m an sehr gut ersehen, w ie eine w enig diffe renzierte D eutung, gestützt auf ein im Zusam m enhang nicht richtig verstandenes Z itat aus einem Tätigkeitsbericht von Q uellm alz, zu voreiligen S chlussfolgerungen führt. A usgehend von einer Stelle in Q uellm alz’ A bschlussbericht über seine Südtiroler Sam m elarbeiten, w orin er seine F otosam m lung unter anderem auch als B eitrag „ fü r eine m u sik alisc h e S tam m es- und R assen fo rsch u n g “ bezeichnet, schreibt G isela L ixfeld in ihrer ansonsten brillanten A bhandlung über die volkskundlichen Forschungen des A hnenerbes: [...] eine Bemerkung Quellmalz’, die uns Wissenschaftler wie Untersu chungsergebnisse in besonderem Maße suspekt erscheinen lassen - wäh 8 Die Tonbänder und Begleitm aterialien der Südtirolsamm lung Quellmalz (Fotos, Personal- und Sachbögen, Feldprotokolle, Notizen und K orrespondenzen) ge langten nach Kriegsende an das von Bruno Stäblein gegründete „Institut für M usikforschung“ an der philologisch-theologischen H ochschule Regensburg. H eute befindet sich die Sammlung, allerdings nur in beschränktem Ausmaß zugänglich (die Tonbänder können nicht abgespielt werden), im Hoerburger-Ar chiv der U niversität Regensburg, betreut von den Instituten für Volkskunde und M usikw issenschaft der U niversität Regensburg. Kopien der Tonbänder befinden sich seit 1961 am Tiroler Volksliedarchiv in Innsbruck und seit 1989 am Institut für M usikerziehung in deutscher und ladinischer Sprache in Bozen. 2 0 0 2 , H e ft 2 Q u e lle n w e rt d e r V o lk sm u sik sa m m lu n g v o n A lfre d Q u e llm a lz 131 rend Quellmalz fest davon überzeugt ist, „daß das wissenschaftliche Ergebnis der Tätigkeit der Gruppe Volksmusik zu großen Erwartungen berechtigt“ [Quellmalz, Bericht über den Abschluss der Arbeiten der Gruppe Volksmusik in der Deutschen Kulturkommission Südtirol (Bun desarchiv Berlin-Zehlendorf, NS 21/220)].9 H ier w urden zw ei nicht zusam m engehörende A ussagen Q uellm alz’ die B edeutung der F otosam m lung für die R asseforschung und Q uell m alz’ E rw artungen hinsichtlich der Forschungen seiner A rbeitsgrup pe in ihrer G esam theit - zueinander in B eziehung gesetzt, eine bei K enntnis der A rbeiten Q uellm alz’ beiläufige, als Stereotyp aufzufas sende und adressatengerichtete N ebenbem erkung (der A dressat w ar Sievers) als w esentlich für seine Forschungen herausgestellt. N un gibt es aber keinen H inw eis darauf, dass Q uellm alz in Südtirol tendenziell R asseforschung betrieb, indem er etw a nicht-arisch aus sehende G ew ährsleute von den F otoaufnahm en ausgeschlossen hätte, auch beschäftigte er sich im G egensatz zu vielen seiner Fachkollegen kaum m it der im N S-R eich opportunen „m usikalischen R assefor schung“ .10 Seine Fotosam m lung, die am Institut für M usikerziehung in deutscher und ladinischer Sprache in B ozen archiviert ist, w eist lückenlos alle G ew ährsleute und die Instrum ente der M usikanten auf und unterscheidet sich in ihrem dokum entarischen Charakter im Prinzip nicht von m odernen ethnom usikologischen Fotosammlungen. D ienstliche R ichtlinien und A rbeitsberichte spiegeln bekannter m aßen nicht im m er genau das, was in W irklichkeit geschah. G erade bei der A bfassung von Tätigkeitsberichten konnte m an sich aus verschiedenen G ründen hinter einer „ideologischen S onnenbrille“ verstecken und aus Vorsicht, denn m an lebte in einer D iktatur, aus O pportunism us oder anderen M otiven „ideologischer“ scheinen w ol len als m an vielleicht w ar oder handelte. Q uellm alz’ B em erkung über den W ert seiner F otosam m lung für die „m usikalische R assefor schung“ ist w ohl als ein opportunistisches Signal zu w erten - er w ar dam als gerade im B egriff, im A hnenerbe K arriere zu m achen. U m zu einer sachlicheren w issenschaftshistorischen Einordnung und B ew ertung der Südtirolsam m lung Q uellm alz zu gelangen, die frei ist, sow ohl von positivistischer Verklärung â la H oerburger als auch von vereinfachender A ufdeckung „brauner F lecken“, sind m ei nes E rachtens im w esentlichen folgende F ragen abzuklären: 9 Lixfeld, Ahnenerbe (wie Anm. 2), S. 250. 10 Vgl. Nußbaumer, Quellmalz (wie Anm. 3), S. 296-301. 132 T hom as N ußbaum er Ö Z V L V I/105 — W elchen E influss nahm en der historische A nlass und das ideologi sche und politische U m feld au f die A usw ahlkriterien bei der S am m elarbeit? — M it w elchem W issensstand und w elchen V orstellungen ging Q uell m alz an sein F orschungsthem a „V olksm usik in Südtirol“ heran? — W orin bestehen seine m ethodischen Ansätze und Sam m elkriterien? — U nter w elchen technischen und organisatorischen B edingungen k am die S am m lung zustande, bzw. inw iew eit übten sie E influss auf seine Forschungsm ethoden aus? — W ie sieht die Sam m lung aus, w as enthält sie und was m öglicher w eise nicht? Z ur K lärung dieser F ragen seien ein p aar w eitere F akten in E rinne rung gerufen. D ie Südtirolsam m lung Q uellm alz, w elcher - übrigens nicht ganz korrekt, doch hat sich dies so eingebürgert - die 461 Südtiroler Tonaufnahm en des B erliner M usikethnologen F ritz B ose zugerechnet w erden, bestand aus 415 A cetat-Tonbändern der Type C m it 2.951 einzelnen Tonaufnahm en. D ie m eisten B änder überstanden unbescha det das K riegsende. D ie Tonaufnahm en w urden m it einem M agnetophon der Type K 4 erstellt. Magnetophon Koffergerät Modell /f4 Werbefoto der Firm a AEG für das M agnetophonm odell K 4 (Lautsprecher, M agnetophon, Vorverstärker) (Quelle: Institut für M usikerziehung, Bozen, Nachlass Quellmalz) 2 0 0 2 , H e ft 2 Q u e lle n w e rt d e r V o lk sm u sik sa m m lu n g von A lfre d Q u e llm a lz 133 E in Vorläufer des K 4 -A ufnahm egerätes w urde 1933 von der A EG in B erlin entw ickelt und funktionierte erstm als in der G eschichte der A ufnahm etechnik nach dem M agnettonverfahren. Das M agnetophon stellte gegenüber dem vorher (und auch später noch) bei F eldfor schungen eingesetzten Edison-Phonograph einen großen F ortschritt dar. Im G egensatz zum Phonograph, der bloß A ufnahm en in der D auer von m axim al zw eieinhalb M inuten zuließ, w aren nun erstm als doku m entarische A ufnahm en in stark verbesserter Tonqualität und in der D auer von rund zw anzig M inuten m öglich. D ie A ufnahm en konnten zudem beliebig oft abgespielt w erden. D er N achteil des M agneto phons bestand in seinem G ew icht - m it den Z ubehörteilen wog die A pparatur rund 150 kg und konnte au f den schlechten Straßen der S üdtiroler S eitentäler nur m it Tragtieren befördert w erden - und in seiner S töranfälligkeit. Einige M ale m usste Q uellm alz das G erät reparieren lassen, auch nach B erlin ins A EG -W erk schicken, etliche A ufnahm en gingen aufgrund von Frequenzschw ankungen, verur sacht durch das dam als m angelhafte Strom netz, daneben. Zudem funktionierte es nur bei 220 V-W echselstrom, der im Südtirol der frühen vierziger Jahre nicht überall zu beziehen war. H insichtlich des A ufnahm everfahrens und organisatorisch-prak tisch bedeutete dies, dass das G erät nur an bestim m ten zentralen P lätzen aufgestellt w erden konnte (m eistens in W irtshäusern), zu dem die vorher m it H ilfe einheim ischer V erm ittler und durch Fragebögen eru ierten G ew ährsleute um liegender O rtschaften herankom m en m ussten. A ufnahm en in actu und teilnehm ender B eobachtung w aren au f diese W eise kaum m öglich, vielm ehr handelt es sich bei der Q uellm alzsam m lung um „g e ste llte“ A ufnahm en. Q uellm alz versuch te dennoch, bei den G ew ährsleuten so w eit w ie m öglich die A ufnah m esituation vergessen zu m achen und ungezw ungenes M usizieren zu erm öglichen, indem er im A ufnahm eraum nur das M ikrophon p lat zierte und das G erät in einem N ebenraum aufbaute, wie anhand nachfolgender A ufnahm en aus seiner F otosam m lung ersichtlich ist: 134 T h o m as N u ß b a u m e r Ö Z V L V I/105 A ufnahmeszene aus U nser Frau in Schnals, 21. N ovem ber 1941, m it Felicitas Gamper, R osa Santer, Theresia Grüner und Karoline Santer. Am rechten B ildrand ist das Kondensatorm ikrophon zu erkennen (Quelle: Institut für M usikerziehung, Bozen, Fotosam m lung Quellmalz, Nr. 638) Aufnahmeszene aus D orf Tirol, 28. Juli 1940. Quellmalz instruiert seine Assistentin G ertraud Simon, die m eist als A ufnahmeleiterin fungierte (Quelle: Institut für M usikerziehung, Bozen, Fotosamm lung Quellmalz, Nr. 7) 20 0 2 , H e ft 2 Q u e lle n w e rt d e r V o lk sm u sik sa m m lu n g von A lfre d Q u e llm a lz 135 D ie S am m lung um fasst M agnetophonaufnahm en im A usm aß von ca. 138 Stunden. Das Tonm aterial untergliedert sich in rund 1.700 Volks lieder (einschließlich der Varianten), rund 650 Instrum entalm usikauf nahm en, rund neunzig Sprechaufnahm en - darunter auch ein paar ladinische, zim brische und italienische die in Z usam m enarbeit m it dem E rzählforscher W illi M ai“ und den D ialektforschern B runo Schw eizer und M atthias Insam zustandekam en, w eiters in zahlreiche V ierzeiler- und Jodleraufnahm en. D ie von H oerburger attestierte V ielfalt des B estandes lässt sich nur bestätigen. D ie V olksliedaufnahm en beziehen sich auf jed e nur denk bare G attung. H ier finden sich, abgesehen von zahlreichen Alm -, W ilderer-, L iebesliedern und anderen G eselligkeitsgenres, sehr viele B alladen - rund 35 B alladentypen in ca. 120 A ufnahm en histo risch-politische Lieder, geistliche Lieder, Soldatenlieder, K inderlie der, auch säm tliche B rauchlieder, die um 1940 in Südtirol aufgenom m en w erden konnten. Im großen und ganzen sind alle G attungen vertreten, w ie sie seit Erks und B öhm es „D eutschem L iederhort“ (1893/94) festgeschrieben sind. Das große Interesse an den B alladen rührt daher, dass die B alladenforschung seit John M eier ein zentraler G egenstand der V olksliedforschung w ar und Q uellm alz als ehem ali ger M itarbeiter M eiers sich darin als besonders kom petent auszeich nete. Viele seiner Tonaufnahm en veröffentlichte er in den Jahren 1968-76 in seiner dreibändigen A usgabe „S üdtiroler V olkslieder“,12 zu einem abschließenden K om m entarband kam es nicht mehr. Q u ellm alz’ A usw ahlkriterien sind A usdruck seines traditionellen Fachverständnisses. In E rgänzung zu den um die W ende zum 20. Ja h rh u n d ert ersch ien en en L iedersam m lungen F ranz F riedrich Kohls - ich nenne stellvertretend die „E chten T iroler-L ieder“ von 1899 und ihre zw eibändige N euauflage von 1913/15, die, w enngleich rein an den B edürfnissen der Völksliedpflege orientiert, als einzige Q uellenw erke den dam aligen W issensstand zum Volkslied in Tirol und Südtirol dokum entieren - , w ollte Q uellm alz jen e L ieder und 11 Viele der unter Willi M ais Leitung zustandegekommenen Erzählaufnahmen liegen nun transkribiert vor in: Petzoldt, Leander (Hg.): Sagen, M ärchen und Schwänke aus Südtirol. Gesamm elt von W illi Mai. Band I: Wipptal, Pustertal, Gadertal. Innsbruck, Wien 2000. Der zweite Band mit weiteren Transkriptionen befindet sich in Druck. 12 Quellmalz, A lfred (Hg.): Südtiroler Volkslieder. 3 Bände. Kassel u.a. 1968, 1972 und 1976. D er Registerband dazu: Stief, Register zu Alfred Quellm alz (wie Anm. 2). 136 T hom as N ußbaum er Ö Z V L V I/105 M usikstücke aufnehm en, die nicht in P ublikationen Vorlagen, son dern rein m ündlich überliefert w urden. Sein V olksliedbegriff war, w ohl geprägt durch M eier, für dam alige Verhältnisse keinesw egs eng. Seine Sam m elarbeit um fasste das „ech te Volkslied“ im Sinne Jo sef Pom m ers ebenso w ie das „K unstlied im V olksm und“ nach M eier und das „T riv iallied“ .13 D ie beinahe puristische Strenge jedoch, m it der er sich au f das K riterium der M ündlichkeit festlegte, ist im fo r schungsgeschichtlichen K ontext zu sehen: Ein Postulat der traditio nellen V olksliedforschung lautete, dass „ e c h te “ V olkslieder nur m ündlich überliefert w erden. Freilich verschloss dies der älteren F orschergeneration den B lick auf differenziertere T radierungsvorgänge, w ie auch au f den U m stand, dass publizierte L ieder ebenso m ündlich w eiterverm ittelt w erden und nicht unbedingt eine „ tex tg e treue“ U m setzung im Sinne der publizierten Fassungen erfahren. Jedenfalls legte Quellm alz sehr großen Wert darauf, nur m ündlich tradiertes Repertoire festzuhalten, und die m angelnde Beachtung dieses Auftrages w ar neben anderem ein Grund dafür, dass der Quellm alz-M itarbeiter Fritz Bose nach nicht ganz einem halben Jahr die Südtiroler Kulturkom m ission verlassen musste: Er hatte zu viele Lieder aufgenom men, die bereits in gedruckten Liederbüchern aufschienen.14 Bei seiner Sam m elarbeit w ollte Q uellm alz - und er äußerte dies w iederholt - nicht nach subjektiven A usleseprinzipien vorgehen, sondern objektiv. Von diesem O bjektivitätsanspruch leitete sich sein Verständnis von W issenschaftlichkeit ab. So findet sich im M anus kript seines Vortrages, den er im Februar 1941 au f der großen Tagung der S üdtiroler K ulturkom m ission in B ozen hielt, folgende Aussage: Es ist erst eine zweite Frage, ob dieses Musikgut im Sinne der Volksbil dungsarbeit wertvoll ist oder nicht, denn unsere Sammlung hat ein unver fälschtes Bild des tatsächlich Gesungenen und Gespielten zu geben. Aus wissenschaftlichen Gründen kann es sogar nötig werden, gelegentlich Wertloses oder Unechtes aufzunehmen.15 D iesen Satz könnte m an als A bsage an die in S ievers’ „G rundsätzen“ m ehrfach erhobene Forderung, die w issenschaftliche A rbeit solle in 13 Quellmalz, Alfred: Erstes Kapitel zu „Südtiroler Volkslieder“, Band 4 [M anus kript], S. 4 (Institut für M usikerziehung, Bozen, Nachlass Quellmalz). 14 Vgl. Nußbaumer, Quellmalz (wie Anm. 3), S. 204-205. 15 Quellmalz, Alfred: Vortragsmanuskript zur Tagung der Südtiroler Kulturkom mission, 9.2.1940, S. 9 (Hoerburger-Archiv der Universität Regensburg, Ordner 13/2). 20 0 2 , H e ft 2 Q u e lle n w e rt d e r V o lk sm u sik sa m m lu n g v o n A lfre d Q u e llm a lz 137 erster L inie der „V olkstum spflege“ im künftigen Südtiroler Sied lungsgebiet zuträglich sein, interpretieren - jedoch nur bei oberfläch licher B etrachtung. In W ahrheit w idersprach Q uellm alz’ W issen schaftsauffassung keinesw egs den ideologischen Z ielen des A hnener bes, auch nicht den volksm usikpflegerischen, ebenso stim m t es nicht, dass die N ationalsozialisten gegen die E rfassung und Pflege der regionalen V ielfalt von Volksm usik aufgetreten seien und eine Ver einheitlichung der deutschen Volksm usik, etw a ausgerichtet an natio nalsozialistischen K am pf- und Feierliedern, angestrebt hätten.16 V ielm ehr das G egenteil ist der Fall: U nter dem N ationalsozialis m us w urde - und dies belegen die zahlreichen G ründungen von volksm usikalischen Institutionen und Ä m tern - neben der Volksm u sikpflege die regionale V olksm usikforschung im Sinne einer „m u si kalischen S tam m esforschung“ überaus gefördert. Q uellm alz brauch te also bei seiner A rbeit nicht, w ie A ssion und Schw inn dies verm u teten, an die „g eplante Verw ertung des Sam m elgutes“ zu denken, auch w ar es nicht notw endig, sich bei der A usw ahl des R epertoires eine N S -id eo lo g ische „ B rille “ aufzusetzen, w eil V olksm usikfor schung - vorausgesetzt, sie konzentrierte sich, w ie im F alle Q uell m alz, au f historisches M aterial im traditionellen F achverständnis nicht im G egensatz zur N S-Ideologie stand. Q uellm alz konnte im R ahm en sein er A usw ahlkriterien durchaus „o b jek tiv “ und ohne R ücksicht au f pflegerische B edürfnisse sam m eln. So hielt er b ei spielsw eise in den ebenfalls zum V ertragsgebiet der U m siedlung zählenden D reizehn G em einden in der Provinz Verona zahlreiche italienische L ieder au f B and fest, um zu zeigen, dass es keine zim brischen V olkslieder m ehr gab.17 A bgesehen von seiner U nterscheidung zw ischen W issenschaft und Pflege - m it letzterer beschäftigte er sich, näm lich konzeptionell, im R ah m en eines N S -ideologischen V ölksm usiklagers in Seis am Schiern im A pril 194118 - finden sich bei Q uellm alz viele A nschau ungen, die durchaus ins K onzept der A hnenerbeideologie passten und, w ie schon erw ähnt, es erm öglichten, dass Q uellm alz die A ufar b eitung seiner Sam m lung bis K riegsende als „kriegsw ichtiges“ P ro 16 Vgl. Bruckbauer, M aria: Verordnete Kultur: Ü berlegungen zur Volksmusik in B ayern w ährend der NS-Zeit. In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 1989, S. 88, Anm. 4. 17 Vgl. Nußbaumer, Quellm alz (wie Anm. 3), S. 162-165. 18 Ebd., S. 259-277. 138 T hom as N ußbaum er Ö Z V L V I/105 je k t w eiterbetreiben durfte. So sah er - auch in A nlehnung an die dam als gültige T iroler H istoriographie - Südtirol als ein vom deut schen S prachraum abgekapseltes R ückzugsgebiet, dessen Volksmu sik R elikte bew ahre, die im „B innendeutschland“ schon längst unter gegangen seien. E rst jüngere Forschungen bew iesen, dass dies so nicht stim m t,19 doch Q uellm alz w ar von der angeblichen „A ltschich tig k eit“ der V olksm usiklandschaft Südtirol derart überzeugt, dass sich die B ew eise für ihn von selbst einfanden. N ebenbei bem erkt, spielte die Suche nach R elikten „g erm an i scher“ M usik für Q uellm alz keine Rolle, ihm w ar bew usst, dass derartiges nicht zielführend war. V ielm ehr glaubte er, au f m ittelalter liche und frühneuzeitliche M usikrelikte gestoßen zu sein. D iese F i xierung auf A ltertüm liches veranlasste ihn zu einer R eihe von F ehl deutungen. So interpretierte er etw a die fünfstim m igen paraliturgi schen L ieder von K irchensingem fälschlich als R este der Tenor liedpraxis des 15./16. Jahrhunderts20 und die S chützenm ärsche m it Schw egelpfeifen und Trom m el als „stilistisch dem 16. Jahrhundert“ zugehörig.21 A uch die akribische A ufsam m lung von B rauchliedern und B alladen entsprang seinem historischen Interesse, wobei er bei vielen B alladenaufnahm en von der R egel A bstand nahm , nur voll ständige L ieder m it allen ihren Strophen aufzunehm en, und auch F ragm ente au f B and festhielt. Das entscheidende S chlüsselerlebnis au f der Suche nach histori schen A ltschichten w iederfuhr ihm am 24. N ovem ber 1940, als er in U n terrein sw ald im S arntal das sogenannte „S arn er K löckellied“ „H eu t ist üns eine heilige K löckelnâcht“ aufnahm , und zw ar vorge tragen nicht in U nterterzen-Z w eistim m igkeit, w ie m an sich das er w artet hätte, sondern in Q uintparallelen. D ie Sängergruppe bestand aus B auern aus D urnholz, R einsw ald und U nterreinsw ald. Es ist bedauerlich, dass gerade diese Tonaufnahm e, die Q uellm alz bis zu seinem Lebensende als seine w ichtigste Südtiroler A ufnahm e be19 Vgl. Nußbaumer, Thomas: M usikalische Feldforschung im Ötztal und Passeier tal. Erfahrungen eines didaktisch orientierten Forschungsprojektes. In: Jahrbuch des Österreichischen Volksliedwerkes 48 (1999), S. 166-175. 20 Vgl. Quellmalz, Alfred: Tätigkeitsbericht über die Zeit vom 1. Juni 1940-31. Januar 1941 (Bundesarchiv Koblenz, Kleine Erwerbungen 27/4, fol. 142). 21 Quellmalz, Alfred: Von der Südtiroler Bauemm usik. In: Die Volksmusik. M ittei lungsblatt des Verbandes Südtiroler Musikkapellen und des Südtiroler Sänger bundes. Organ des Bundes Südtiroler Laienspielbühnen 3 (September 1951), S. 102. 2 0 0 2 , H e ft 2 Q u e lle n w e rt d e r V o lk sm u sik sa m m lu n g v o n A lfre d Q u e llm a lz 139 zeichnete und fast schon als Sym bol für die A ltschichtigkeit der Volksm usik Südtirols handelte, bei K riegsende, als am erikanische Truppen das A hnenerbelager in W aischenfeld in B esitz nahm en, verlorenging. Nun, Q uellm alz konnte im Zuge von N acherhebungen in den sechziger Jahren bei den G ew ährsleuten von ehedem das K löckellied erneut aufnehm en und au f zahlreichen Tagungen vorfüh ren. W ie m an aber heute w eiß, verdeutlicht dieser B eleg und vor allem seine Interpretation auch die Schw ächen einer F eldforschung unter Z eitdruck und prim är beschränkt au f R epertoireerfassung. Q uell m alz, der den B rauch aus Zeitgründen nicht in actu erleben konnte, fand m einer A nsicht nach nur rein zufällig Sänger vor, die das K löckellied - aus w elchen G ründen auch im m er - in Q uintparallelen sangen. D er N orm alfall ist die A usführung des Liedes in T erzparalle len. B ereits anlässlich der Tagung der K ulturkom m ission im Februar 1941 hob Q uellm alz hervor, m it diesem L ied ein R elikt frühchristli cher M ehrstim m igkeit gefunden zu haben, das heute nur noch in den isländischen Q uintgesängen, wie sie W erner D anckert in seinem B uch „D as europäische Volkslied“ von 1939 schildert, seine E ntsprechung finde.22 D ie K ulturkom m issionsleitung und auch die „A rb eitsg e m einschaft der O ptanten für D eutschland“ - das w ar die Südtiroler V olksgruppenvertretung zur B eratung und B etreuung der O ptanten u n ter der K urzbezeichnung „A d O “ - nahm en die These dankbar auf, da sie an N achw eisen für den „germ anischen C harakter“ Südtirols interessiert w aren. So liest m an im M itteilungsblatt des AdO-Volksb ildungsdienstes vom F ebruar 1941: Von den bisherigen Ergebnissen ist das überraschendste wohl die Erfas sung eines alten Samer Klöckelliedes, das in der Singart an die deutsche Musik vor rund 1000 Jahren erinnert. Eine solche Singart gibt es heute im ganzen germanischen Lebensraum nur mehr in Island, der Insel im äußersten Norden. Also auch hier wieder eine ganz auffallende Brücke von uns zu den Nordgermanen!23 S pätestens seit den U ntersuchungen von Peter B arcaba an der M elo diegestalt des Liedes, das m it S icherheit jü n g er als tausend Jahre ist die frühesten B elege für das K löckeln im Sarntal w eisen, bei gebote22 Vgl. Quellmalz, Tätigkeitsbericht (wie Anm. 20). 23 M itteilungendes Volksbildungsdienstes, Nr. 3, Februar/M ärz 1941 (AdO-Archiv des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Wien, D O -35/A k-6/104). 140 T h o m as N u ß b a u m e r Ö Z V L V I/105 ner Vorsicht, übrigens au f das 16. Jahrhundert24 ist m an davor gew arnt, „b lin d vertrauend au f ein sim plifiziertes G eschichtsw issen heutige M usikpraktiken m it historischen Parallelen belegen [zu] w ol len “ .25 Ich w ar allerdings nicht w enig überrascht, als ich am 14. D ezem ber 2000 in D u m holz das S am er K löckellied in Q uintparallelen aufneh m en konnte, und zw ar nicht vorgetragen von alten M ännern, sondern von einer K indergruppe. D ie erw achsenen Klöckler, die ich eine W oche zuvor film en konnte, singen das L ied in U nterterzen-Z w eistim m igkeit. D ie K inder jedoch üben den Q uintengesang in der M ittelschule in S am thein ein. W ie m ir ältere D urnholzer G ew ährs leute erzählten, w ird diese - ich zitiere sie w örtlich - „n eu e A rt“ des zw eistim m igen Singens in D urnholz erst praktiziert, seit an der Sarntheiner M ittelschule R osa O berhöller als M usiklehrerin w irkt und das L ied so, w ie es im dritten B and der „S üdtiroler V olkslieder“ von Q uellm alz abgedruckt ist, ihren Schülern verm ittelt. M an kann hier von einem klassischen Fall von „volkskundlichem R ü c k la u f4 spre chen.26 24 Vgl. M ahlknecht, Bruno: Das Sam taler Singkerzen-Klöckeln im Jahr 1532. In: D er Schiern. M onatszeitschrift für Südtiroler Landeskunde 58. Jg., Dezember 1984, H eft 12, S. 735-745. M ahlknecht meint, dass man aus der Erwähnung eines „Singkerzenklöckelns“ am Abend des Allerheiligentages 1532 in einem Sarntaler Verfachbuchband schließen könne, dass es das Klöckeln im Sarntal an den A dventdonnerstagen damals schon gab. D iese Theorie ist meines Erachtens wenig begründet, weil die Brauchtermine (Allerheiligen und A dventdonnersta ge) nicht übereinstimmen. 25 Barcaba, Peter: Südtiroler Brauchtum slieder - Zeugnisse früher M ehrstim m ig keit? In: Jahrbuch des Österreichischen Volksliedwerkes 36/37 (1988), S. 22. 26 Frau O berhöller (Reinswald/Sarntal) selbst wollte dies nicht so bestätigen. In einem G espräch am 6. D ezember 2001 gab sie an, dass sie es „zulasse“ und fördere, wenn aus Durnholz stammende M ittelschüler in Quintparallelen singen (Nachsatz, m it Hinweis auf Quellmalz: „D as ist wohl die für D um holz ursprüng lichste Version des Klöckelliedes.“). R einsw alder Volksschul- und Kindergarten kinder lehrt sie das Sam er Klöckellied in Terzparallelen, da es ihrer Meinung nach in Reinsw ald immer in Terzparallelen gesungen wurde. 2 0 0 2 , H e ft 2 141 Q u e lle n w e rt d e r V o lk sm u sik sa m m lu n g v o n A lfre d Q u e llm a lz Klöckellieder 83 Das Sarner Klöckellied 1. Aufgesang: , Zeit. bet - lein Ga - briel ri a, bä - ren k die vor von dem ists. die „ ein_ D urnholzer Tai k han Him der's Jung klei Mel. ■Var.: Str. 2/1 und 3/1: 3a ■ä+yrjy ^ f der der an - der d rit - schon__ ge ge frau ____ Kin - de 3b |a J — ' i . ....0 - den - mel üns - nes m |— - sten - ten K r .: — & 1 ist: - sandt. - nännt. rein. iein. J= f£Z r -F Klö Klö ekel dcel nacht. nâcht. M e l der Teile l • II I in der U nterstim m e. Quelle: Quellmalz, Alfred: Südtiroler Volkslieder, Band 3. Kassel u.a. 1976, S. 127 142 T hom as N ußbaum er Ö Z V L V I/105 B ew egte ich m ich bis je tz t am historisch älteren R and der Südtirol sam m lung Q uellm alz, so kom m e ich je tz t zu den historisch jüngsten B ereichen und dam it zu der Frage, was Q uellm alz aus politisch-ideo logischen G ründen nicht aufnehm en w ollte oder durfte. Zuvor ist noch ein Wort zur politischen Zugehörigkeit seiner G e währsleute zu verlieren. Quellmalz trat, wie schon gesagt, mit dem Auftrag an, die Volksmusik der in der „A rbeitsgem einschaft der Optanten für Deutschland“ vereinten Südtiroler zu erfassen. Doch nachweislich nahm er auch bei D ableibem auf, sofern sie ihm als Überlieferungsträger von Interesse schienen. Bei einigen Dableibem , wie etwa bei der Fam ilie G orfer aus Katharinaberg im Schnalstal, gelang ihm das nicht, weil sie die Teilnahme an den Tonaufnahmen verweigerten.27 Im großen und ganzen also führte Quellm alz seine Tonaufnahmen hauptsächlich bei Deutschlandoptanten durch, zum al er bei der Gewährspersonensuche auf den AdO-Volksbildungsdienst angewiesen war, der ihm naturgemäß prim är Personen aus dem Kreis der zahlenm äßig ohnehin dom inieren den Gruppe der Deutschlandoptanten vermittelte. H erausfordernde D ableiberlieder und L ieder gegen das N S-R egime, die nachw eislich existierten, fehlen bei Q uellm alz zur G änze. Ü berhaupt zeigte er sich bei der Erfassung von L iedern politischen Inhaltes sehr vorsichtig und stets bestrebt nichts aufzunehm en, was der offiziellen L inie w idersprach und ihm oder den Sängern Schw ie rigkeiten hätte bereiten können. Aus diesem G runde auch verzichtete er darauf, ein Tonband m it sechs antiitalienischen L iedern des vor m aligen „Völkischen Kampfringes Südtirols“ (VKS), aufgenom m en im Som m er 1940 in Obermais, in seinen Feldforschungsprotokollen zu vermerken, weil ihr „dokum entarischer N achw eis“ - so Q uellm alz nach dem Krieg - den Sängern „hätte gefährlich werden können“.28 Z ur E rinnerung sei erw ähnt, dass nach den O ptionsvereinbarungen zw ischen Italien und D eutschland agitatorisches A uftreten gegen Italien oder das faschistische R egim e von beiden V ertragspartnern gleicherm aßen strikt abgelehnt wurde. D er VKS als illegale, natio nalso zialistisch orientierte W iderstandsbew egung, im Volksm und „D ie B ew egung“ genannt, w urde von deutscher Seite gegenüber den Italienern aufgedeckt, die ehem aligen V K S -M itglieder organisierten sich legal in der „A rbeitsgem einschaft der O ptanten für D eutsch lan d “ . Ihre K am pflieder als A usdruck einer G esinnung, w elche per 27 Vgl, Nußbaumer, Quellm alz (wie Anm. 3), S. 124. 28 Quellm alz, Erstes Kapitel (wie Anm. 13), S. 12. 20 0 2 , H e ft 2 143 Q u e lle n w e rt d e r V o lk sm u sik sa m m lu n g v o n A lfre d Q u e llm a lz Lied der Bewegung 1. D ie un * s ic h i - b a - re L and. Ih r K am s ira n d . A uf Tod s te r - b cn d e r - b e n . w ir - p fe n und fü r geht auf D e u ts c h - k am - p fe n G ar u n d w ir um V cr Süd - - de Bo - der li - s te r - b en m ar - - ze n . b cn . ro i. - s c h ie n d ie w ir A uf fü r d u rc h u n S ta d t kam - am p fe n un d Tod D e u tsc h - S ü d - Tal un d ti - auf - se r - fer- w ir V or rol. 2. Die Mauem sie erbeben von unserm Feldgeschrei. Die Toten sich erheben und stehn im Kampf uns bei. Die Losung heißt: „Vernichte die feigen welschen Wichte in Deutsch-Südtirol!“ 3. Kameraden auf zum Streite der Tod die Sense schwingt! Die unsichtbare Garde um Bozens Freiheit ringt. Der Feind noch kann er lachen doch Bozen wird erwachen in Deutsch-Südtirol! Sänger: mehrere „junge Burschen“ aus Obermais, Anfang August 1940. Erklingende Tonart: H-Dur. Quelle: Südtirolsammlung Quellmalz, Hoerburger-Archiv der Universität Regensburg. Kopie: Tiroler Volksliedarchiv, Innsbruck, Südtirolsam m lung Quellmalz, CD Qu 113/24. Transkription: Thomas N ußbaumer 144 T h o m as N u ß b a u m e r Ö Z V L V I/105 o ffizieller V erordnung nicht abzuschaffen war, w urden aber nach wie vor gesungen, konnten von Q uellm alz jed o ch klarerw eise nicht auf offiziellem W ege erfasst werden. Das heim liche Tonband, w elches 1961 und 1989, als die Südtirol sam m lung Q uellm alz für das Tiroler V olksliedarchiv und das Institut für M usikerziehung in B ozen überspielt wurde, unbeachtet blieb, konnte in R egensburg am H oerburger-A rchiv ausfindig gem acht w er den. Es stellt insofern eine bem erkensw erte Q uelle dar, w eil es einerseits die G renzen des für Q uellm alz D okum entierbaren aufzeigt, andererseits auch jen es „L ied der B ew egung“ (U rheber unbekannt) enthält, das laut A ussage eines ehem aligen V K S-M itgliedes bei jed er der verschw örerischen Zusam m enkünfte abgesungen wurde. Interessanterweise enthält die Quellm alzsamm lung auch zehn Optan tenlieder - also Lieder im Sinne der Option für Deutschland - , die das ganze Spektrum dieses Genres vom großdeutschen militanten Trutzlied über das gegen die D ableiber gerichtete Spottlied bis hin zum wehm ü tigen Abschiedslied repräsentieren. Vielfach handelt es sich bei diesen Optantenliedem um Kontrafakturen populärer Lieder. Als Beispiel dafür sei das Lied „U nd der Abschied von Südtirol“ angeführt, das Quellmalz am 23. N ovem ber 1941 in Natum s aufnahm (Tonaufnahme Nr. 1661, Sänger: Alois Ladurner, Josef Bliem). Dieses O ptantenlied ist als Kontrafaktur des älteren Soldatenliedes „D er Abschied nach Italien“ zu erkennen, das Q uellm alz ebenfalls aufzeichnete (Tonaufnahm e Nr. 1082, St. Walburg, 3. M ai 1941) und im ersten Band seiner „S üd tiroler Volkslieder“ 1968 veröffentlichte (S. 176). Die Weisen sind identisch, der Text der Kontrafaktur bezieht sich auf die gegenwärtige politische Situation:29 29 Interessanterw eise ist auf der Kopie der Aufnahme des Optantenliedes „U nd der Abschied von Südtirol“ am Tiroler Volksliedarchiv (CD Qu 3/24) die fünfte Strophe, in der Hitler genannt wird, weitgehend gelöscht. M eine anlässlich der Tagung zur A usstellung „das volkskundliche Foto: südtirol 1940/41. Wirklichkeit / realität / poesie“ (Dietenheim/Bruneck, 28.-30. Juni 2001) geäußerte Vermu tung, dass hier Quellm alz nachträglich die Löschtaste getätigt habe, erwies sich bei einem Vergleich mit der mir erst kürzlich wieder zugänglich gewordenen Originalaufnahm e als falsch: sie ist vollständig. Wer für das Löschen der „H it ler-Strophe“ verantwortlich war, lässt sich nicht mehr feststellen, auch nicht, ob sie mit A bsicht oder unabsichtlich gelöscht wurde. 2 0 0 2 , H e ft 2 145 Q u e lle n w e rt d e r V o lk sm u sik sa m m lu n g v o n A lfre d Q u e llm a lz Und der Abschied von Südtirol J? 4 # t 0 1* -ß-.A-j- r~3 J~~]---j-£^3—z£ tf ... H ---------- 1. Und der fällt mir Ab-schied von da gar Süd - ti - rol, nich t ja schwer! 0 der du i j n i-£— 3— J f --fi-i To- 4.rr-JTLJ+ g~r~Lr.^ — ein - zi - ges schö- nes Süd - ti - rol, — ja wir ^f4-a*Jf 1 -n-rj r } u b^=s .Lr Lr1 n n r } LJ 1r 1 .... f [% sehn uns nia - ma - mehr. 0 ju -j-.- r ein - zi - ges schö - nes , j - p - f c j Süd - ti - rol, ja wir sehn uns nia-m a - mehr. i. 146 T h o m a s N u ß b a u m er Ö Z V L V I/105 D er Abschied nach Italien (Soldatenlied) U nd der Abschied von Südtirol (Optantenlied) 1. D er A bschied nach Italien, der fällt mir gar so schwer. O du einzig schönes Mädchen, wir sehn uns nicht mehr. 1. Und der Abschied von Südtirol, ja der fällt m ir da gar nicht schwer! O du einziges schönes Südtirol, ja wir sehn uns niamamehr. 2. Wenn wir uns auch nicht m ehr sehen, ei da wünsch ich dir viel Glück. O du einzig schönes M ädchen, denke öfters an mich. 2. Und solltn wir einst uns nicht mehr sehn, so wünsch ich eich viel Glück! O du einziges schönes Südtirol, denke öfters an mich. 3. Eines Sonntags früh am Morgen, kam der Hauptmann zum Rapport: ,,Guten M orgen, Kameraden, heute müssen w ir fort!“ 3. Am Sonntag früh am M orgen kommt der Hauptmann zum Rapport: „G uten Morgen, ihr Kameraden, ja wir müssen jetzt fort!“ 4. Warum denn nicht morgen, warum gerade heut? Heute ist ja gerade Sonntag für uns junge Leut. 4. Warum denn nicht morgen, warum denn gerade heut? H eute ist ja grade Sonntag für uns luschtige Leut! 5. D er Hauptmann sprach es leise: „A n mir liegt keine Schuld, unser Oberst, der uns führet, der hat keine G eduld.“ 5. Der Hauptmann sprach ganz leise: „A n mir liegt keine Schuld. U nser Hitler, der uns führet, der hat keine G eduld.“ 6. K ommt nun Brüder, tret zusammen, halt die Fahne hoch in die Höh, heute ziehn wir nach Italien, sagt mir Liebchen ade! Ade, ade, ade! 6. Drum Brüder, frisch zusammen, hält die Fahne hoch in d ’Höh. Und so ziehen wir nach Deitschland, sagn m ein’ Südtirol „audiö“ ! Audio, audiö, audiö! Interessant ist ferner, dass Q uellm alz für diese L ieder repertoirebe zogene „S ach bögen“ anlegte, w ie er dies nur bei älterem , ihm histo risch aufschlussreich scheinendem M aterial vornahm . D ies entsprach freilich der ebenso bei anderen M itarbeitern der K ulturkom m ission feststellbaren Tendenz, (auch) „Z eugnisse“ für das „B ekenntnis des S üdtiroler Volkes zum G roßdeutschen R eich“ sam m eln zu w ollen.30 Ich kom m e zum Schluss. U m den Q uellenw ert der Südtirolsam m lung Q uellm alz einschätzen zu können, sind detaillierte K enntnisse 30 Vgl. Lixfeld, Ahnenerbe (wie Anm. 2), S. 245; Nußbaumer, Quellm alz (wie Anm. 3), S. 91-94. 2 0 0 2 , H e ft 2 Q u e lle n w e rt d e r V o lk sm u sik sa m m lu n g von A lfre d Q u e llm a lz 147 ü ber die H intergründe ihrer E ntstehung vonnöten - doch gilt dies im B ereich der V olksm usikforschung und V olkskunde für alle Sam m lun gen. M einer E inschätzung nach ist die Südtirolsam m lung Q uellm alz eine ausgezeichnete Q uelle für B elege der B allade, des B rauchliedes, des L ändlers usw. - also für G attungen, die dem Sam m ler von h isto risch e m In teresse schienen und p o litisch un p ro b lem atisch w aren. Sie erfasste er m it g ro ß er A kribie und do k u m en tierte sie sorgfältig du rch Sach- und P ersonalbögen, F otos und anderes beg leiten d es M aterial. W eiters belegt die Sam m lung eine V ielzahl vokaler und instrum en taler M usiziertechniken, die heute nicht m ehr existieren. Stellvertre tend nenne ich nur die O rnam entierungspraktiken der Tanzgeiger im P asseiertal, die verschiedenen S pieltechniken der Ziehharm onikaund R affelespieler, K uriositäten wie die W ahlener „K nittelm usik“ (eine M usikkapelle m it überw iegend selbstgebastelten H olzpfeifen), die K irchensingerm ehrstim m igkeit an Orten, wo es heute keine K ir chensinger m ehr gibt, oder die vielen Typen des Ländlers. D ie Sam m lung verm ittelt kaum M usik aus teilnehm ender B eob achtung, auch dokum entiert sie keine Tradierungsvorgänge, nichts E ntstehendes oder Fragm entarisches (m it A usnahm e m ancher B alla denfragm ente). Q uellm alz ging es um die E rfassung von vollständig w iedergegebenem R epertoire und historischer R elikte, für die D oku m entation von A ufnahm en in actu fehlte es an Z eit und auch an T onbandm aterial, denn an diesem m usste gespart w erden. Gegen Ende der Expedition konnte er aus G eld- und M aterialm angel nur m ehr die H älfte des R epertoires au f Tonband aufnehm en, w eshalb er auch ein K arteikartenverzeichnis der nicht aufgenom m enen Lieder und Stücke anlegte. Inw iew eit Q uellm alz „lebendige“ M usiziertraditionen erfasste, ist anhand des durch ihn überm ittelten B egleitm aterials von Fall zu Fall zu prüfen. M it S icherheit spiegeln die A ufnahm en der klein- und größerbesetzten B lasm usikkapellen keine lebendige Tradition, da die M usikkapellen seit Jahresm itte 1935 behördlich aufgelöst waren, sofern sie sich nicht bei der faschistischen F reizeitorganisation „O p e ra N azionale D opolavoro“ als M itglieder einschreiben ließen. Am B undesarchiv B erlin-Z ehlendorf w aren die P rotokolle der Verhand lungen zw ischen Q uellm alz und dem regionalen D opolavoro-Präsidenten betreffend die R ückgabe konfiszierter Instrum ente im H in blick au f geplante Tonaufnahm en zu finden. D ie B lasm usiktonauf 148 T hom as N ußbaum er Ö Z V L V I/105 nahm en dokum entieren som it eine dam als bereits w eitgehend abge stellte und nur zum Z w eck der A ufzeichnung revitalisierte P raxis.31 Was den W ert der Südtirolsam m lung Q uellm alz auch für gegen w ärtige F orschungen ausm acht, ist der U m stand, dass sie die früheste Sam m lung von Tondokum enten Südtiroler V olksm usik darstellt. So bildeten etw a die 225 Tonaufnahm en aus dem P asseiertal und die 42 A ufnahm en aus dem Schnalstal eine außerordentlich gute B asis für eigene F eldforschungen in den genannten Tälern.32 A uch ergaben G espräche m it älteren Leuten, dass es Q uellm alz offenbar gelungen war, alle dam als w esentlichen Sänger- und M usikerpersönlichkeiten, sofern sie nicht D ableiber oder bereits ausgew andert w aren, vor das M ikrophon zu bringen. D ie Südtirolsam m lung Q uellm alz ist nicht zuletzt aufgrund ihrer Singularität - sie ist die erste große m usikethnologische Sam m lung Europas, die unter A nw endung m oderner A ufnahm etechnik und m it dem A nspruch der repräsentativen E rfassung traditioneller M usik in einem verhältnism äßig großen G ebiet zustandekam - als P ionierlei stung zu w erten und darum auch hinsichtlich der G eschichte und M ethodik der V olksm usikforschung in E uropa von beträchtlichem Q uellenw ert. Thomas Nußbaumer, The Value o f Alfred Q uellm alz’s (1940—42) Collection o f South Tyrol Folk M usic Alfred Q uallm alz’s collection o f about 3,000 magnetophone recordings o f orally transmitted South Tyrol folk m usic (of all types) has been controversial among folklorists due to its origins in the SS “Ancestor H eritage” project as well as the role it played in South Tyrol politics. Closer investigation o f the contents indicates that Quellm alz stood far closer to the traditional folkloristic understanding o f such material than he did to Nazi ideology - though the two could be connected in part. He was primarily interested in collecting the older traditions of South Tyrol folk music, and he largely ignored Contemporary political songs. Songs that were ideologically not opportune at the time were ignored, in part out o f caution. In terms o f recording technique, his collection can be regarded as pioneering. 31 Vgl. Nußbaumer, Thomas: Zur Geschichte der Südtirolsamm lung von Alfred Quellmalz. In: Kofler, Franz und W alter Deutsch (Hg.): Volksmusik in Südtirol. Tänze und Spielstücke aus der Tonbandsammlung Dr. Alfred Quellm alz 194042. Wien 1999 (= Corpus M usicae Popularis Austriacae, Band 10), S. 59-62. 32 Vgl. Nußbaumer, M usikalische Feldforschung (wie Anm. 19), S. 171-173. Österreichische Zeitschrift fü r Volkskunde Band LVI/105, Wien 2002, 149-170 Die Fersentaler in Südböhmen Z um H intergrund einer gescheiterten U m siedlung* P etr Lozoviuk Der Beitrag them atisiert die national-politischen Hintergrün de des deutsch-tschechischen „Volkstumskam pfes“ in B öh men. Nach einem Abriß zur allgemeinen Problematik der historischen ethnischen Konkurrenz werden am konkreten Beispiel der nach Südböhmen verschickten Südtiroler dortige Auswirkungen der NS-Volkstumspolitik dargestellt. Es han delte sich um etwa fünfhundert M enschen vor allem aus den deutschsprachigen Gemeinden des Fersentales (Valle del Fersina) im Trentino, die in der breiteren Umgebung der Stadt Budweis in den Jahren 1942/43 planm äßig angesiedelt w ur den. Der missglückte Versuch, Tiroler in Böhmen ansässig zu machen, stellt ein zeitgenössisches Beispiel dafür dar, ethni sche Probleme mit sog. Umsiedlungsaktionen zu lösen. D er Versuch w ährend des Zw eiten W eltkrieges, Südtiroler nach B öh m en um zusiedeln, stellt ein interessantes und beinahe unbekanntes K apitel der deutsch-tschechischen G eschichte dar. O bw ohl heute zum T hem a S üdtiroler O ptanten eine relativ um fangreiche L iteratur zur Verfügung steht, gibt es im m er noch eine ganze R eihe von Problem feldem , die nicht ausreichend geklärt worden sind. Obwohl diese er zw ungene Im m igration in der Zeit geschah, in der sich das langjährige Ringen um die nationale Vormachtstellung im böhm isch-m ährischen R aum tragisch zuspitzte, wäre es irreführend, sie ausschließlich aus den dam aligen zeitgenössischen Gegebenheiten interpretieren zu wollen. D ie U m siedlung der „V olksdeutschen“ nach B öhm en kann eher als K ulm ination einer allm ählichen, über ganze Jahrzehnte andauernden Politisierung des A lltäglichen in national gem ischten G ebieten M it teleuropas w ahrgenom m en w erden. D ie deutsch-tschechische A ni m osität verschärfte sich m it der Z eit und kulm inierte allm ählich in * Diese A rbeit möchte ich Herrn Georg R. Schroubek, meinem freundlichen Landsmann und geduldigen Lehrer, aus Anlass seines Lebensjubiläum s ganz herzlich widmen. 150 P e tr L o z o v iu k Ö Z V L V I/105 ein em tatsäch lich en „n a tio n a le n K am pf in B öhm en“ .1 U m den „frem d v ö lk ischen“ G egner zu bekäm pfen, w urden beiderseits „se h r raffinierte M ethoden praktiziert“ . Es w urde dabei um „jedes F eld “, um „au ch das kleinste D orf“ und sogar „um jedes S chulkind“ ernst haft gestritten.2 O bw ohl die 40er Jahre m it all ihren V ertreibungen und sogar V ernichtungsversuchen von ganzen V olksgruppen zu den schrecklichsten E reignissen des vorigen Jahrhunderts gehören, zeigt die A nalyse des dam aligen soziopolitischen K ontextes jedoch, dass es sich um eine system im m anente Entw icklung in national definier ten aber ethnisch heterogenen Staaten handelte. D ie Fragestellung, die ich in m einem B eitrag verfolge, w ill vor allem diesen A spekt der inneren L ogik dessen, „w as geschah“ , am Fallbeispiel der F ersentaler U m siedler zu verdeutlichen versuchen. Aus dieser Perspektive geht es m ir vornehm lich darum darzulegen, w arum m an überhaupt darauf kam , A usländsdeutsche in B öhm en anzusiedeln. Eine w eitere Frage ist, w arum die aus dem Fersental Z ugew anderten ausnahm sw eise relativ geschlossen sesshaft gem acht w urden und w arum dies gerade in der N ähe der südböhm ischen Stadt B udw eis geschah. A ufgrund dieser F ragestellung bin ich ferner b e m üht zu zeigen, in w elchem ideengeschichtlichen Spannungsfeld sich die U m siedler in B öhm en nach ihrer A nkunft befanden. A m B eispiel dieser gescheiterten U m siedlung kann letztendlich auch die dram ati sche E ndphase des „N ationalkam pfes in B öhm en“ , die in die gew alt sam e und rücksichtslose V ertreibung von D eutschen aus ihrer H eim at m ündete, aus einem neuen B lickw inkel beleuchtet w erden. Z uerst w ird der allgem einen Problem atik des „V olkstum skam p fes“ in B öhm en aus historischer P erspektive A ufm erksam keit ge schenkt. N achher w enden w ir uns ihrer nationalsozialistischen Form zu. D anach w ird kurz die D urchführung der N S-V olkstum spolitik them atisiert und zw ar am B eispiel der nach Südböhm en verschickten Südtiroler. Es können hier lediglich einige Punkte angesprochen w erden, die eher m it dem H intergrund Zusam m enhängen, ethnische Problem e m it den sog. U m siedlungsaktionen zu lösen. N atürlich kann m an über dieses T hem a in m ehrfacher H insicht sprechen. Ich werde m ich bem ühen, die oben form ulierte P roblem atik unter B erücksich tig u n g des n atio n alp o litisch en K ontextes anzugehen, w obei ich 1 Vgl. das gleichnamige Buch von Krebs, Hans: K am pf in Böhmen. Berlin 1937. 2 Vgl. Pozorny, Rudolf: D eutsche Schutzarbeit im Sudetenland. Die Tätigkeit des D eutschen K ulturverbandes 1918-1938. Wien 1974, S. 18. 2 0 0 2 , H e ft 2 D ie F e rs e n ta le r in S ü d b ö h m e n 151 gleichzeitig bem üht bin, auch den volkskundlichen Zusam m enhän gen des geschilderten G eschehens besondere B eachtung zu w idm en. H isto risch er H intergrund des deutsch-tschechischen K am pfes in Böhm en Das Z usam m enleben von D eutschen und Tschechen in den böhm i schen Ländern nahm in der V ergangenheit vielfältige F orm en an. W ährend der sogenannten nationalen „W iedergeburt“ der Tschechen w urde seitens der tschechisch gesinnten Intelligenzija ein durchgän gig am bivalentes D eutschenbild entw ickelt, das sich allm ählich in den breiteren Schichten des einfachen Volkes durchsetzte. D ie m it bew usster A blehnung belegte H altung allem deutscher H erkunft ge genüber, verschm olz m it dem R espekt vor der erbrachten Leistung im kulturellen B ereich. Das dringende B edürfnis, sich von deutschen E inflüssen absondern zu w ollen, führte jedoch zu einer bew ussten A blehnung der D eutschen als positive R eferenznation. Trotz dieser absichtlich ablehnenden H altung den „D eutschen“ gegenüber, führte die B ildung des tschechischen Selbstw ertgefühls und der eigenen nationalen Identität zur natürlichen Ü bernahm e m ancher deutscher K ultur- und Verhaltensm uster. Eine am bivalente B eziehung zu den „frem d v ö lk isch en“ N achbarn ist auch auf der deutschböhm ischen Seite zu finden. Sie zeigte sich z.B. darin, dass die Tschechen zw ar für „h in terh ältig e völkische G egner“ gehalten w urden, andererseits v erw eh rte m an „e in e m so d iszip lin ierten und sich planm äßig selbsterziehenden Volke“ die A nerkennung nicht.3 Von den strukturellen Ä hnlichkeiten im A ufbau der m odernen tschechischen G esellschaft m it den in M itteleuropa dam als dom inie renden deutschen K ulturm ustern w urde die Vorstellung abgeleitet, die Tschechen seien eigentlich keine Slaw en mehr, sondern „ led ig lich “ slaw isch sprechende G erm anen. Als A usgangspunkt dieser A r gum entation könnte die These gelten, die Tschechen seien von allen slaw ischen Völkern am w eitesten nach W esten vorgeschoben und bildeten deshalb „ fü r das deutsche L and einen frem den B estandteil im eigenen K örper“ . D ie tschechische B evölkerung „tren n t das deut sche O der- und E lbgebiet von dem deutschen D onauland und schnürt 3 Fachmeyer, Ludwig Hans: Die Volkstumsarbeit der Tschechen. Karlsbad 1935, S. 3. 152 P e tr L o z o v iu k Ö Z V L V I/105 das deutsche S prachgebiet zw ischen B öhm erw ald und Vogesen auf 400 km ein “ .4 A uch aus diesem G rund fühlten sich zw ei nicht unbe deutende sudetendeutsche Volkskundler sogar berechtigt zu konsta tieren, es sei dem Sudetendeutschtum gutzuschreiben, „w enn das tschechische Volk in den deutsch-m itteleuropäischen K ulturbereich einbezogen und kulturell vom Slaw entum abgehoben w urde“ .5 Die T schechen seien ohnehin in ihrer M ehrzahl von deutschen kulturellen A ufbauelem enten durchsetzt6 und da ihnen „e in ausgesprochenes eigenes K ulturelem ent“ fehle, könne m an sie „n ich t als N ation an sprechen“ .7 Sie verfügten angeblich „ n u r über ein S tam m esgefühl“ .8 A lle diese A ussagen zeigen, w elch ein Problem die erfolgreiche B ildung einer distinktiven nichtdeutschen nationalen Identität in den böhm ischen Ländern für die deutsche Seite bedeutete. Sie deuteten auch schon die A usgangspunkte für die extrem e Lösung des deutsch tschechischen Zusam m enlebens an, die im N achhinein zur ethnischen H om ogenisierung des Landes führten. Zu der tragischen Z uspitzung der deutsch-tschechischen K oexistenz in B öhm en trugen auch Volks k undler bei, die Interpreten ethnisch-kultureller V erschiedenartigkeit bzw. jew eilig er „E ig en art“ w urden und so eher U nverständnis und U nw illen zw ischen D eutschen und Tschechen als V ersöhnung im gegenseitigen ethnischen K onflikt förderten. Schon seit den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts w arnten m anche V ertreter der D eutschböhm en die deutsche Ö ffentlichkeit vor der G efahr, tschechischerseits dom iniert zu w erden. Sie fühlten sich der slaw ischen M ehrheit preisgegeben und sprachen desw egen von einer tschechischen „antideutschen A ggressionspolitik“,9 deren R e sultat die „schleichende V ertschechung“ des Landes sei, obw ohl gerade die G leichberechtigung beider böhm ischer N ationen eine der H auptforderungen der nationalgesinnten Tschechen war. D a im na 4 Zemmrich, Johannes: Sprachgrenze und Deutschtum in Böhmen. Braunschweig 1902, S. 102-103. 5 K rebs, H ans, Em il Lehm ann: Sudetendeutsche Landeskunde. Kiel 1992 (1. Ausg. 1937), S. 155. 6 Krebs u. Lehmann (wie Anm. 5). 7 Isbert, Otto-Albrecht: Das südwestliche ungarische M ittelgebirge. B auernsied lung Deutschtum. B erlin-L eipzig 1931, S. 55. 8 Isbert (wie Anm. 7). 9 Zu dem B egriff siehe: Pozorny (wie Anm. 2), S. 10. Puschner, Uwe, Walter Schmitz, Justus H. U lbricht (Hg.): Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871-1918. M ünchen 1996. 20 0 2 , H e ft 2 D ie F e rs e n ta le r in S iid b ö h m en 153 tionaltschechischen L ager die deutsche A m tssprache als A usdruck der deutschen V orherrschaft em pfunden wurde, förderte m an die E inführung der Zw eisprachigkeit. D ie Sprache gew ann so neben ihrer kom m unikativen Funktion im m er m ehr eine zusätzliche, sym bol trächtige B edeutung. Spätestens seit der zw eiten H älfte des 19. Jahr hunderts w urde sie in B öhm en für einen Indikator der N ationalität gehalten. D er „S prachenkam pf“ verw andelte sich in einen sich im m er m ehr verschärfenden „nationalen K leinkrieg“, 10der unterschied liche G estalt annahm . E ine der konkreten Folgen dieser E ntw icklung im A lltagsleben war, dass es keinen Platz m ehr für national w enig bew usste oder sogar indifferente Teile der B evölkerung gab: Aus B öhm en m ussten entw eder D eutsche oder Tschechen w erden.“ D ie deutschen politischen R epräsentanten w aren seit dem letzten D rittel des 19. Jahrhunderts bem üht, nicht gem ischte V erw altungsge biete in B öhm en zu schaffen, also solche, in denen nur eine L andes sprache herrschte. D ies scheiterte jed o ch an dem tschechischen U n w illen, ein „g eschlossenes“ deutschsprachiges G ebiet in D eutsch böhm en zu akzeptieren. Statt dessen wurden diese G ebiete von tsche chischer Seite als gem ischtsprachig beansprucht. In einer Situation, in der es nicht m öglich war, m it politischen M itteln eine „nationale A b g re n zu n g “ zu erreichen, versuchten po litisch e V ertreter der D eutschböhm en zum indest die „F estigkeit der deutschen Sprach g ren ze“ 12 gegen die als eingreifende Seite em pfundenen Tschechen zu setzen. D ies beinhaltete auch die nationale „P flich t“, die „v e rlo renen Posten w ieder zurückzuerobern“. A uch tschechische nationale Führer dachten an die „W iedergew in n u n g “ von für das „T schechentum “ bereits verlorenen Orten, wobei oft A nsprüche au f ganz B öhm en, also inklusive der deutschen R and gebiete, erhoben w urden. D a Böhm en, historisch gesehen, für ur sprünglich rein slaw isch gehalten wurde, identifizierten sich die Tschechen m it ihrer böhm ischen H eim at und beanspruchten das gan ze L and ausschließlich für sich selbst. Zum „nationalen B esitzstand“ rechnete m an so gew isserm aßen auch die angeblich oder tatsächlich 10 D ieser Terminus entstam mt der A rbeit von Zemmrich (wie Anm. 4). 11 In einer besonderen Situation befand sich die jüdische Bevölkerung. Zu deren Ethnisierung vgl. W laschek, R udolf M.: Juden in Böhmen. Beiträge zur Ge schichte des europäischen Judentums im 19. und 20. Jahrhundert. München 1990. 12 Zemm rich (wie Anm. 4), S. 111. 154 P e tr L o z o v iu k Ö Z V L V I/105 „g erm an isierten“ G ebiete („znim celé üzem f“ 13) des Landes. S päte stens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts w urden die D eutschböhm en von den tschechischen N ationalisten als lediglich „c iz âk y “, also „F rem d lin g e“, angesehen. An diesen unversöhnlichen Standpunkten b eider nationaler L ager scheiterten in B öhm en alle Versuche, einen nationalen A usgleich zu schaffen.14 D aneben gab es aber auch Stim m en, die wie z.B. H einrich R auch berg, P rofessor an der D eutschen U niversität Prag, die A ussagen von d er G efah r der „V ertsch ech u n g “ D eutschböhm ens relativierten. R auchberg w ar bem üht, gerade das G egenteil zu bew eisen,15 näm lich, dass sich die M ehrheit der aus dem tschechischen L andesinneren in das deutsche G ebiet zugew anderten Personen eher der deutschen als der tschechischen U m gangssprache bediene und so der G erm anisierung nahe stünde. N och für die Jahrhundertw ende fühlte er sich berechtigt zu konstatieren, dass alle Versuche, die Sprachgrenze künstlich zu verschieben, zum Scheitern verurteilt seien. „D ie gering fügigen E rfo lge“, konstatierte R auchberg in einer seiner A rbeiten, „ d ie da und dort erzielt w orden sind, stehen in keinem Verhältnis zu den aufgew endeten M itteln und zur A usdehnung der unangreifbaren P ositionen“ .16 Von seinen „volkstum spolitisch“ arbeitenden akade m ischen K ollegen und Laien w urde die Situation des deutsch-tsche chischen N ebeneinanders jedoch anders interpretiert. „ U m vo lku n g “ und zeitgenössische volkskundliche Forschung D er „T schechisierungsprozess“ im Sudetenland rief m it der Z eit bei den „V olkstum sarbeitern“ und Volkskundlern reges Interesse hervor. Eine besondere Intensität und quantitatives A usm aß gew ann er nach der G ründung des tschechoslow akischen Staates. D ie Periode nach dem staatsp o litisch en „ U m stu rz “ von 1918 w urde seitens der deutschnationalen B eobachter als m assive tschechische „K olonisationspolitik“ 17 d es „bodenständigen D eutschtum s“ interpretiert. D es 13 Wörtlich: „verdeutschtes G ebiet“. 14 Abgesehen jedoch von einigen Ausnahmen, wie z.B. des Budweiser Ausgleichs. 15 Rauchberg, Heinrich: Der nationale Besitzstand in Böhmen, 3 Bände. Leipzig 1905, 1. Bd., S. 267ff. 16 Rauchberg (wie Anm. 15), S. 289. 17 Schaumann, Werner: Die gewaltsame Vertschechung des deutschen Igellandes. Leipzig 1938. 20 0 2 , H e ft 2 D ie F e rs e n ta le r in S ü d b ö h m e n 155 halb w urde in der sudetendeutschen „völkischen“ L iteratur die ganze Z w ischenkriegszeit als „Jah re schw ersten V olkstum skam pfes“ ge w ertet. 18In der um fangreichen zeitgenössischen L iteratur zum Them a w urde von einem künstlichen, d.h. von oben initiierten Schaffen von tschechischen M inderheiten berichtet. Dies geschah m eist durch die Versetzung tschechischer B eam ter ins deutsche S prachgebiet oder infolge der B odenreform von 1919. Vom deutschen B lickw inkel her gesehen ging es deshalb darum , das „D rängen der Tschechen nach dem deutschen S prachgebiet“ 19 aufzuhalten. N ach der zeitgenössischen Interpretation eines engagierten sude tendeutschen V olkskundlers schickten die Tschechen „ihren N ach w uchs, der im G eiste der nationalen Eroberung erzogen war, in die deutschen R andgebiete vor. Wo im m er es anging, suchten sie hier A rbeiter, A ngestellte und G ew erbetreibende zu nationalen M inder heiten zu sam m eln. D eren Z iel w ar es, die ansässige deutsche B evöl kerung zu überflügeln und die M ehrheit in der G em einde zu gew in nen. W ar es einm al so weit, so konnte sich der D eutsche nur schw er halten. Es ist ganz erstaunlich, wie rasch deutsche G ruppen in L and gem einden oder Städten, w enn sie einm al die M ehrheit verloren hatten, au f ein D rittel, Viertel oder Fünftel herabsanken“ .20 Das Ziel des au f diese W eise geführten „K am pfes“ um die nationale Zugehö rig k eit eines O rtes w ar nicht nur die physische A nw esenheit von V ertretern der jew eils anderssprachigen Volksgruppe, sondern es ging vielm ehr darum , A ngehörige der vorstoßenden N ation - w ie m an dam als zu sagen pflegte - „bodenständig“ zu m achen. Von diesem G esichtspunkt aus betrachtet, w ar es erst nach dem Erw erb von „G ru n d und B oden“ m öglich, von einer gesicherten „nationalen Z ukunft“ in einem O rte zu sprechen. E ine R eaktion au f die veränderte nationale Lage der D eutschen im neuen Staate stellten die Versuche dar, die - m it heutigen W orten gesagt - „in terethnischen B eziehungen“ w issenschaftlich zu them a tisieren und diese w eiter zu politischen Z w ecken zu instrum entalisie ren. Als B eispiel für die zeitgenössische W ahrnehm ungsw eise der ethnischen P roblem atik kann die sog. U ntersuchung der „U m volkungsVorgänge“ erw ähnt w erden. Das theoretische K onzept dieser 18 Weber, Otto: Versuch einer Volksgrenzbeschreibung. In: D eutsche Volksfor schung in Böhmen und M ähren, Jg. 1, Heft 3 -4 , 1940, S. 237-251. 19 Zem m rich (wie Anm. 4), S. 84. 20 Krebs u. Lehmann (wie Anm. 5), S. 87. 156 P e tr L o z o v iu k Ö Z V L V I/105 stark ideologisch aufgeladenen V orgehensweise w urde in D eutsch land im R ahm en der „völkischen A nthropologie“21 entw ickelt. Ihre K onjunktur in den böhm ischen Ländern erlebte diese jedoch erst seit dem E nde der 30er Jahre. Das N achdenken über die Entw icklung des „nationalen B esitzstan des“ und dessen L enkungsm öglichkeiten hatte jed o ch in B öhm en eine relativ lange Tradition. A m A nfang des 20. Jahrhunderts beschäftigte sich theoretisch J. Zem m rich m it der seitdem frequentierten Frage der D urchführung der „G erm anisierung T schechisch-B öhm ens“ . Z em m rich w ar besonders daran interessiert, ein K onzept zu entw ickeln, das eine „erh eb liche V ergrößerung des deutschen G ebietes“ erm öglichen sollte. D abei kam er zu dem Schluss, dass „dauernd (zu) germ anisie ren nur der B auer“ im stande sei, dass hier allein „ein e planm äßige B esiedlung des flachen L andes“22 etw as erreiche. F ür uns sind vor allem diejenigen seiner Vorschläge interessant, die darauf abzielten, die E xistenz der deutschen Sprachinseln im L andesinneren bei der R ealisierung der G erm anisierungspläne auszunutzen. M it übertriebener Ergriffenheit schilderte Z em m rich die alle D eut schen bedrohende „tschechische G efahr“ : „M an nehm e nur eine V ölkerkarte M itteleuropas zur Hand, ... um die B edeutung D eutschÖ sterreichs im allgem einen und B öhm ens im besonderen für die L ebensinteressen des ganzen deutschen Volkes zu verstehen. M an beachte dabei, w ie das tschechische G ebiet sich zw ischen Schlesien und B aiern, zw ischen B erlin und W ien w ie ein trennender Keil hineinschiebt, w ie w ichtige Verkehrsw ege zw ischen Oder- und E lb gebiet einerseits, D onau, A lpen und M ittelm eer andererseits durch tschechisches Sprachgebiet führen, w ie das deutsche Sprachgebiet gerade in der M itte seiner nord-südlichen A usdehnung durch das tschechische eingeschnürt wird, dann m uß m an zu der Ü berzeugung kom m en, dass B öhm en und ganz D eutsch-Ö sterreich schon um un serer nationalen Z ukunft und Selbsterhaltung w illen nicht in frem de H ände geraten dürfen.“23 In der Existenz der tschechischen N ation, die „w ie ein K eil in das deutsche L and“ „h in ein treib e“ und die D eutschen an der O der von denen an der D onau trenne,24 sah er einen Fehler, ein „V ersäum nis früherer Jahrhunderte“ .25 21 Vgl. Kroh, Oswald: Zur Psychologie der Umvolkung. In: Auslanddeutsche Volksforschung, Jg. 1, 1937, S. 386-397. 22 Zemm rich (wie Anm. 4), S. 110. 23 Zemm rich (wie Anm. 4), S. 114. 20 0 2 , H e ft 2 D ie F e rs e n ta le r in S iid b ö h m en 157 G leichzeitig ist festzustellen, dass die Ideologie des nationalen K am pfes auf beiden Seiten gem einsam e A usgangspunkte gefunden hatte. So w ar z.B. der einflussreiche tschechische D em ograph und N ationalitätsforscher A ntonm H ubka der M einung, dass „d e r Verlust auch des kleinsten D orfes im tschechischen Süden Verm ögensverlust, Verlust von Feldern, Verlust tschechischen B odens“ bedeute.26 Ä hn liche w arnende Stim m en w urden auch im deutschen L ager laut: „Jed es deutsche B auerngut, das in tschechische H ände übergeht, bedeutet einen schw eren nationalen Verlust, denn ... der B auernstand entscheidet die nationale Z ukunft“ .27 U nd ein bisschen w eiter ist bei d em selben A utor folgende sim ple F eststellung zu finden: „Jede S chm älerung des deutschen G ebietes jenseits der G renze bedeutet eine Schw ächung des gesam ten D eutschtum s, einen F ortschritt des Slaw entum s. M it jedem deutschen Dorf, das an der Sprachgrenze verloren geht, löst sich ein Stein aus der Schutzm auer gegen den slaw ischen O sten Europas. Das geschlossene deutsche Sprachgebiet und die großen Sprachinseln, w elche die B rücke von dem Oder- zum D onaugebiet bilden, fallen in den B ereich der L ebensinteressen des gesam ten deutschen Volkes.“ 28 D ie in ähnlichem ideologischen R ahm en sich entw ickelnde „völk isch-geopolitische“ D enkw eise erreichte ihren H öhepunkt in der n ationalsozialistischen „P o litik der U m volkung“, die zur Z eit des Z w eiten W eltkrieges auch in B öhm en teilw eise realisiert wurde. Als ihre heim ischen Vorkäm pfer können diejenigen Personen in beiden N a tio n alitäten lag ern bezeichnet w erden, die Ideologen der sog. S chutzarbeit gew orden waren. Bei den volkskundlich interessierten A ktivisten verdienen in diesem Z usam m enhang die sog. S prachinsel forscher eine besondere Erw ähnung. D er A usgang nationalpolitischer E ntw icklung im sprachlich gem ischten G ebiet läßt sich gut am B ei spiel der B udw eiser Sprachinsel verdeutlichen, das zudem einen unm ittelbaren B ezug zu den Südtiroler U m siedlern hat. 24 Zemmrich (wie Anm. 4), S. 12. 25 Zemm rich (wie Anm. 4), S. 110. 26 Hubka, Antonm: Nase mensiny a smfsené kraje na ceském jihu. Praha 1899, S. 248. 27 Zemmrich (wie Anm. 4), S. 88. 28 Zemmrich (wie Anm. 4), S. 114f. 158 P e tr L o z o v iu k Ö Z V L V I/105 D ie B udw eiser Sprachinsel Das V orhandensein der A ndersnationalen w urde seit der zw eiten H älfte des 19. Jahrhunderts in B öhm en m ehr oder w eniger als ein unnatürlicher und deshalb auch unerw ünschter Z ustand betrachtet, d er durch planm äßige Steuerung der „V olkstum sarbeit“ zu überw in den sei. Es ist signifikant, dass eine besondere R olle im nationalen Kam pf, w ie m an zeitgem äß zu sagen pflegte, den Sprachinseln zuge w iesen w urde. D ie entw eder im „S treudeutschtum “ oder in den Sprachinseln lebenden „außendeutschen V olksgenossen“ schienen m anchem V olkstum sforscher und -arbeiter der schleichenden A ssim i lation in besonderer W eise ausgeliefert zu sein. D ie G eschichten, „w ie deutsche Sprachinseln von der steigenden tschechischen Fluth verschlungen w urden“ ,29 traten sogar in Form der sog. G renzlandli teratur in die lokale deutsche B elletristik ein. Im K ontext der gesam t deutschen V olkskunde w urden deutsche E nklaven europaw eit im R ahm en der sog. S prachinselkunde30 als „soziale M ikrokosm en“31 untersucht. A uch in dem von den Schutzvereinen geführten S prachgrenzkam pf „ erfreu ten “ sich die Sprachinseln einer besonderen A ufm erksam keit. Im U nterschied zu den Tschechen, die kaum über nennensw erte E nklaven im deutschsprachigen G ebiet verfügten,32 gab es im tsche ch isch d o m in ierten L andesinneren eine R eihe alter deutscher Sprachinseln. D ie größten von ihnen w aren das Schönhengst, gleich g efo lg t von der Iglauer S prachinsel. E ine besondere A rt von Sprachinseln stellte die deutschsprachige B evölkerung einiger tsche chischer Städte dar. In der Z eit der planm äßigen Lenkung von A ssi m ilationsprozessen gingen gerade solche M inderheiten in die M ehr 29 M authner, Fritz: D er letzte Deutsche von Blatna. Dresden u. Leipzig 1887, S. 155. 30 Zum Konzept der Sprachinselvolkskunde in den böhmischen Ländern vgl. Lo zoviuk, Petr: Deutschböhm ische Kolonisten in Südosteuropa und die „Sudeten deutsche Sprachinselvolkskunde“. In: Jahrbuch für deutsche und osteuropäische Volkskunde. Marburg 1997/40, S. 1-26. 31 Vgl. Oberkrome, Willi: Volksgeschichte. M ethodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918-1945. Göttingen 1993, S. 136ff. 32 Die einzige „echte“ tschechische Sprachinsel gab es lediglich westlich von Mies. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden jedoch in Gemeinden des nordböhm ischen Industriegebiets zahlreiche tschechische M inderheiten. 20 0 2 , H e ft 2 D ie F e rs e n ta le r in S ü d b ö h m e n 159 heitsbevölkerung am schnellsten über. F ür die einen w urden die Sprachinseln als „frem dnationale K eile“ im eigenen „V olkskörper“ em pfunden, für die anderen stellten sie entw eder O asen oder „V or p o sten “ in der sonst feindlichen U m gebung der „völkischen G egner“ dar. Von der besonderen B ew ertung der Sprachinseln in der SR zeugt auch die innere E ntw icklung der deutschböhm ischen, später sudeten deutschen, volkskundlichen Forschung, in deren R ahm en die sog. Sprachinselvolkskunde eine besondere Stelle einnahm .33 D en A usgangspunkt für die B eschäftigung m it der Sprachinselbe völkerung bildete, grob gesagt, die These, dass der „V olkstum s k am p f“ in der „S prachinsellage“ etwas Spezifisches sei. Als O bjekt system atischer U ntersuchungen rückte hier zuerst die „S prachinsel k unde“, später die sog. „B lutverm ischungsforschung“ in den Vorder grund. Es ist bezeichnend, dass gerade diejenigen O rte besondere A ufm erksam keit der sudetendeutschen „V olkstum sW issenschaftler“ erw eckten, die in der tschechischen U m gebung ihren deutschsprachi gen C harakter verloren hatten. Seit dem Ende der 30er Jahre kann schon von einer ideologisch aufgeladenen sudetendeutschen „E rfo r schung der untergegangenen neuzeitlichen (deutschen) Siedlungen innerhalb des tschechischen Volksbodens“34 gesprochen w erden. Die zeitgenössische B etrachtung ethnischer Prozesse ging von der Vor aussetzung aus, dass „zu dem ew ig w erdenden und w achsenden deutschen V olkskörper unzertrennlich alle gehören, die einm al in B öhm en und M ähren gelebt haben“.35 D ie A rbeiten, die zu diesem T hem a publiziert w urden, sollten den dam aligen deutschen H err schaftsanspruch au f den böhm isch-m ährischen R aum und das „ Z u rückgew innen der eingetschechten D eutschen“36 „w issenschaftlich“ begründen und rechtfertigen. So m ündete in B öhm en die ältere S prachinselvolkskunde m it allen K onsequenzen in die rassistischen U ntersuchungen der „B lutverm ischung“ der 40er Jahre.37 33 Vgl. Lozoviuk (wie Anm. 30), S. 1-26. Ders.: Nëmectl vystëhovalci z ceskych zemf a jejich jazykové ostrovy v jihozâpadm Evropë. In: Cesi v cizinë c. 10 (usporädal Broucek S.). Praha 1998, S. 39-87. 34 Beranek, Franz: Neuzeitliche Deutschensiedlungen in Böhmen und M ähren. In: Deutsche Volksforschung in Böhmen und M ähren, Jg. 3, 1944, Heft 1/2, S. 2 3 36. 35 Zatschek, Heinz: Volksforschung und Volksgeschichte in den Sudentenländern. In: D eutsche Volksforschung in Böhmen und M ähren. M ünchen 1990, S. 18. 36 Frank, Karl H.: M ein Leben für Böhmen. Als Staatsminister im Protektorat. Kiel 1994, S. 140. 160 P e tr L o z o v iu k Ö Z V LV I/105 E in konkretes B eispiel für den Versuch, die V olkstum spolitik im P rotektorat planm äßig zu lenken, stellten die V orbereitungsarbeiten zum A ufbau der sogenannten „V olkstum sbrücken“ dar. D iese B em ü hung, deutsche Sprachinseln m it dem deutschen K om paktterritorium zu vereinigen, m üssen schon direkt m it dem Plan in Zusam m enhang gebracht w erden, V olksdeutsche in B öhm en anzusiedeln. In den b öh m ischen L ändern sollte eine solche B rücke (der sog. „deutsche D am m “) ü b er Iglau, B rünn und O lm ütz führen, um unter B enutzung deutscher Sprachinseln das kom pakte tschechischsprachige G ebiet zu zerteilen. E ine w eitere deutsche „L andbrücke“ sollte von N orden über M elnik nach Prag „aufgebaut“ w erden. Dies alles sollte m ehr oder w eniger m it Z w angsum siedlungen verknüpft sein. U m die böh m ischen und m ährischen Tschechen durch einen deutschen K orridor voneinander zu trennen, sollten Zehntausende Tschechen aus diesem R aum ausgesiedelt38 und im G egenzug dafür „siedlungsw illige deut sche B auern“ zur B esiedlung des Landes veranlasst werden. A uch die deutschsprachigen U m siedler aus Italien w urden in ein Territorium m it ähnlich „geopolitischer“ B edeutung gelenkt. Es han delte sich um ein traditionell deutschsprachiges Siedlungsgebiet rund um die Stadt B udw eis. D ie sogenannte „B udw eiser S prachinsel“, wie sie in der L iteratur genannt w urde, setzte sich noch am Ende des 19. Jahrhunderts aus fast zw anzig überw iegend deutschsprachigen D örfern zusam m en. G eographisch w aren diese Siedlungen um die bis zu den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts vom deutschen B ürgertum dom inierte Stadt B udw eis (C eské B udëjovice) gelegen. B udw eis stellte ein kulturelles, geistiges, politisches und w irtschaftliches Z en trum von ganz Südböhm en seit dem M ittelalter dar. Es ist deshalb nicht überraschend, dass der „völkischen Z ugehörigkeit“ dieser Stadt von A nhängern beider N ationallager eine enorm e B edeutung zuge schrieben w urde. D ie Stadt und ihre deutsche U m gebung w urden allm ählich S chauplatz nationaler A useinandersetzungen. 37 Ein Beispiel dafür sind Arbeiten von Heinz Zatschek, Erhard Müller, Josef Hanika, Anton Altrichter, Franz Beranek, Hans Joachim Beyer u.a. 38 Während des Krieges kam es zur Aussiedlung von Tschechen im Rahmen der „A nlage der Truppenübungsplätze“ in der Gegend von Beneschau, M ilowitz, Kammwald und Wischau. Vgl. Brandes, Detlef: Die Tschechen unter deutschem Protektorat, Teil 2. Besatzungspolitik, Kollaboration und W iderstand im Protek torat Böhm en und M ähren von Heydrichs Tod bis zum Prager Aufstand (1 9 4 2 1945). M ünchen u. Wien 1975, S. 168f. 20 0 2 , H e ft 2 D ie F e rs e n ta le r in S ü d b ö h m e n 161 In den achtziger Jahren des vorletzten Jahrhunderts kam es so in B udw eis zu G ründungen von ersten böhm ischen „S chutzvereinen“ . Es handelte sich um die im Jahre 1884 gegründete tschechische „N ârodm jed n o ta posum avskâ“ (N ationalvereinigung für das B öh m erw aldvorland) und um den seit dem gleichen Jahr tätigen „D eu t schen B öhm erw aldbund“, der nach dem Vorbild des W iener „D eu t schen S chulvereins“ organisiert wurde. Beide Vereinigungen sollten sich au f die eigenen nationalen M inderheiten Südböhm ens konzen trieren, w obei ihre H aupttätigkeit au f w irtschaftlichem und kulturel lem G ebiet lag. D ie auch in anderen Territorien m it deutschsprachi gen M inderheiten gut bekannten Schutz Vereinigungen dieser A rt hät ten die A ufgabe gehabt, „a n bedrohten Punkten der Sprachgrenze schnell und sicher“ einzugreifen, Schulen an der Sprachgrenze zu unterstützen, W eihnachtsbescherungen zu veranstalten, national ge fä h rd ete G ru n d stü ck e anzukaufen, V olksbüchereien zu gründen usw.39 N eben der Errichtung und U nterstützung von Schulen und K indergärten, B üchereien, K ulturheim en und allerlei sozialer Hilfe, w ar die prim äre Z ielsetzung der Schutzarbeit die P flicht „verlorene Seelen der N ation zurückzugeben“ .40 D ieser A ufgabe hätte m an nur dann gerecht w erden können, w enn m an beim Festigen der bedrohten „S p rachgrenze und der Sprachinseln“ auch die „M enschen des (deut schen) B innenraum s“ beteiligt hätte.41 In den gem ischten D örfern der B udw eiser U m gebung überw og die deutsche K om ponente noch bis zum tragischen Ende der D onaum o n archie. D as Z ahlenverhältnis zw ischen deutsch- und tsch e chischsprachigen B evölkerungsteilen verschob sich aber in der Z w i schenkriegszeit zunehm end zu ungunsten der D eutschen. Laut dem E rgebnis der V olkszählung aus dem Jahre 1880, die erstm als das B ek en n tn is zur U m gangssprache festzustellen versuchte, w iesen noch 16 D örfer eine deutsche M ehrheit auf. N ach 50 Jahren der tsc h e c h isc h e n ,, V ölkstum sarbeit“ gab es, den E rgebnissen der letzten tsch ech o slo w ak ischen V olkszählung vor dem Z w eiten W eltkrieg nach (1930), in keinem einzigen D orf m ehr eine deutsche M ehrheit. L ediglich in vier G em einden bekannte sich ungefähr ein D rittel aller 39 Zemm rich (wie Anm. 4), S. 99. 40 Svoboda, Jan Fr.: Jihoceské mensiny. Vyvoj nârodnostni a skolsky. Ceské Budëjovice 1925, S. 50. 41 100 Jahre Kulturarbeit für Österreich. Wien o.J., S. 2. 162 P e tr L o z o v iu k Ö Z V L V I/105 B ew ohner zur deutschen N ationalität.42 Im ganzen B udw eiser Kreis sank der A nteil der sich zum D eutschtum bekennenden B evölkerung von etw a 42 au f zirka 15,5 Prozent. N eben der „V olkstum sarbeit“ w ar diese Entw icklung vor allem eine Folge der teilw eise künstlich geleiteten Z uw anderung tschechi scher A rbeiter aus anderen B ezirken und der allm ählich einsetzenden Industrialisierung im B udw eiser B ecken. D ie M igrationsbew egun gen alleine sind jed o ch nicht im stande, eine so erfolgreiche Tschechisierung des B udw eiser K reises zu erklären. Ein w eiterer G rund für diese au f den ersten B lick überraschende Entw icklung, die jedoch ihre Parallelen auch in anderen gem ischtsprachigen R egionen der böhm ischen L änder hatte, m uss in der latenten ethnischen Indiffe renz43 der einheim ischen bilingualen B evölkerung gesucht werden. N a tio n a lso zia listisch es„ D eutschtum sprogram m “f ü r Südböhm en N ach der E rrichtung des „P rotektorats“ (1939) kam es um gekehrt zu einer ganz entgegengesetzten Entw icklung. Jetzt w ar m an w ieder bem üht, die nationalpolitische E ntfaltung der letzten Jahrzehnte rück gängig zu m achen. W ie den B erichten an den B udw eiser O berlandrat bzw. an den R eichsprotektor zu entnehm en ist, hatte m an schon im Jahr 1940 ziem lich genaue Vorstellungen über die zukünftige G estal tung der „v olkspolitischen A rbeit“ in Südböhm en. N eben der B etreu ung der hiesigen „S treudeutschen“ arbeitete m an ein V erzeichnis von M aßnahm en zur Stärkung der deutschen Positionen aus, die allm äh lich noch w ährend des Krieges zu erfüllen w aren. H ierher gehörte die „A n stellu n g “ deutscher F achleute z.B. in der Forst- und H olzw irt schaft, oder die „B eseitigung der H ärten der tschechischen B odenre form “ aus der Z w ischenkriegszeit, d.h. die A ufteilung des W ald- und A grarbodens „ in deutsche H ände“. Eine w eitere A ufgabe w urde in der „E in flu ssnahm e au f dem gew erblichen Sektor der W irtschaft“ gesehen. H ier bestand das „volkspolitische A ufgabengebiet“ in der 42 Vöndrâcek, Karel: 50 let Nârodnf jednoty Posum avské 1884-1934. Praha 1934, S. 100. 43 Zur Theorie der ethnischen Indifferenz im mitteleuropäischen Raum vgl. Lozo viuk, Petr: K problem atice „etnické indiference“ (Prlklady z ceského jazykového prostfedf). In: Cesky lid c. 3/1997, S. 201-212. 2 0 0 2 , H e ft 2 D ie F e rs e n ta le r in S ü d b ö h m e n 163 Stilllegung der „ in tschechischem B esitz befindlichen B etriebe“ , um au f diesem W ege die „K onkurrenzbedingungen der deutschen B e w erber günstiger zu gestalten“ .44 D ie G erm anisierungspolitik ruhte auch m aßgeblich auf den sogenannten „E ntjudungsm aßnahm en“ , die in der Ü berführung jü d isch er B etriebe an die D eutschen bestanden. D ie nationalsozialistische „P o litik der U m volkung“ w urde schon in den ersten K riegsjahren in Gang gesetzt. Eine besondere A ufm erk sam keit w urde der „S tärkung des D eutschtum s in den S tädten“ ge w idm et. In der südböhm ischen R egion nahm diese vor allem G estalt in der „W ohnungsfürsorge“ für die hierher versetzten „deutschen V olksgenossen“ an. Z uerst w urde die N achfrage nach Stadtw ohnun gen dadurch befriedigt, dass „tschechische N eubauten beschlag nahm t und jü d isch e W ohnungen freigestellt“ w urden. F ür die Z ukunft rechnete m an in den w ichtigsten südböhm ischen Städten jedoch m it „g rö ß erem W ohnungsbau“ für den „deutschen B e d a rf4. Im sog. „D eutschtum sbericht“ für den Oberlandratsbezirk Tabor für das Jahr 1941 wurde z.B. referiert, dass hier inzwischen 162 deutschen Familien W ohnungen zugewiesen w orden seien. Es handelte sich vorwiegend um solche Personen, die in der Kriegsindustrie beschäftigt waren. „A u ßerordentliche W ichtigkeit44für die erfolgreiche D eutschtum s arbeit hatte - laut der von m ir untersuchten A rchivm aterialien - aber die B esiedlung des Landes m it D eutschen. Das angestrebte Ziel w ar es, G rund und B oden für „eventuell einzusetzende S iedlungen“ bereit zu stellen und deutsche siedlungsw illige B auern zur B esiedlung zu gew innen.45 Ein M usterbeispiel für deutsche N eugründungen auf dem L ande stellte die „V olksdeutsche Siedlung“ der L uftw affe in D om a schin bei V lasim dar. D er B au w eiterer geschlossener deutscher S iedlungen w urde ferner in N eu-O etting, in Tabor und in Teinitz a.d. S asau geplant.46 D ie E rrichtung von W ohnungen für deutsche L and arbeiter w urde in Tutschap, Jungw oschitz und Prestaw ilk vorgesehen. Insgesam t hatte m an vor, in 30 G em einden und Städten des Bezirkes W ohnungsneubauten zu errichten. Bei der Vergabe dieser N eubau w ohnungen sollten „deutsche V olksgenossen bevorzugt berücksich tigt w erden“ .47 44 „D eutschtum sprogram m für das Jahr 1941, S O A Ü O T T rebon. 45 „D eutschtum sprogram m für das Jahr 1941“, S O A Ü O T T rebon. 46 „D eutschtum sprogram m für das Jahr 1941 (Erlass vom 11.11.1940 Nr. I l b 2367)“, SOA UOT Trebon. 47 „D eutschtum sarbeit im Oberlandratsbezirk Tabor“, SOA ÜOT Trebon. 164 P e tr L o z o v iu k Ö Z V L V I/105 D iese großzügigen Pläne stießen jed o ch von A nfang an au f riesige Problem e. Insbesondere m angelte es an deutschen Landarbeitern, die sich „au s naheliegenden G ründen“ w ährend des K rieges nicht „ b e schaffen ließ en“ . D eshalb hätte auch eine m assenhafte A nsiedlung von D eutschen in B öhm en nicht durchgeführt w erden können. D age gen „g elän g e es durch V erhängung von Z w angsverw altungen ... rund 28.000 ha für eine spätere B esiedlung sicher zu stellen“ .48 Ein gew is ses R eservoir von „M enschenm aterial“ stellten aber die ins R eich system atisch geholten „V olksdeutschen“ dar. O bw ohl die M ehrheit unter den nach Südböhm en seit 1939 zuge w anderten D eutschen der Zustrom von R eichsdeutschen aus dem benachbarten B ayern ausm achte, gab es auch kleinere „ex o tisch e“ G ruppen von Volksdeutschen, die von außerhalb D eutschlands k a m en. N eben den Südtirolern, kann hier als B eispiel die A nsiedlung der „V olksgenossen“ aus der Gottschee erwähnt werden. Es waren insgesam t 21 Personen, die sich in einem F orstam t in der N ähe von V lasim niederließen.49 F erner w urden im P rotektorat Volksdeutsche aus der D obrudscha, aus B essarabien und aus der südlichen B uko w ina angesiedelt. Insgesam t w aren bis Januar 1944 5.79750 Volks deutsche ins P rotektorat um gesiedelt w orden,51 darunter auch etliche Südtiroler. W ie erfolgreich die „D eutschtum spolitik“ in der tschechischen Provinz war, zeigt die folgende Statistik: B ei der E rrichtung des P rotektorats (M ärz 1939) gab es offiziell im ehem aligen „O b erlan d ratsbezirk Tabor“ 300 bis 400 D eutsche, im O ktober 1939 w aren es schon rund 1.800 und im A ugust 1940 stieg die Zahl au f 2.300.52 Zu dieser Z eit stellten die M ehrheit von ihnen jed o ch noch nicht neue 48 „D eutschtum sbericht der Oberlandräte (Erlass vom 30. Januar 1942 —I I b— 2000)“, SOA ÜOT Trebon. 49 „Forst-, Holzwirtschaft und Jagd, deutsche Volkstumsarbeit 1941. Forstw irt schaft. Personalpolitik“, SOA ÜOT Trebon. 50 Zum größten Teil handelte es sich um Dobrudscha-Deutsche. 51 Brandes (wie Anm. 38), Teil 1. Besatzungspolitik, Kollaboration und W iderstand im Protektorat Böhmen und M ähren bis Heydrichs Tod (1939-1942). München u. Wien 1969, S. 169. 52 „D eutschtum sarbeit im Oberlandratsbezirk Tabor. M ündliche Weisung in der O berlandrätebesprechung vom 15. August 1940“ SOA Ü OT Trebon, ähnliche Angaben beinhaltet auch „Erfassung und Betreuung der Volksdeutschen, amtli che deutsche Fürsorge, Familienunterhalt, W ohnungsfürsorge und W ohnungs neubau“, SOA ÜOT Trebon. 20 0 2 , H e ft 2 D ie F e rs e n ta le r in S ü d b ö h m e n 165 Im m igranten, sondern Personen, die durch die sog. „R ückvolkung“ gew onnen w urden.53 Südtiroler und N S-V olkstum spolitik in Südböhm en D ie näheren B edingungen und der allgem eine Verlauf der U m sied lung der S üdtiroler sind gew isserm aßen schon bekannt.54 In der L ite ratur, die diesem Them a gew idm et ist, w urde festgestellt, dass neben anderen V erheißungen den Südtiroler O ptanten ursprünglich ein ge schlossenes G ebiet für ihre N iederlassung versprochen wurde. D ar über, wo es konkret sein sollte, gingen jedoch die M einungen w eit auseinander. E inem Plan nach sollten die Südtiroler ein G ebiet in den B eskiden in G alizien besiedeln. N ach dem siegreichen F rankreich feldzug dachte m an auch an Burgund. N och später schlug m an w eiter für die A nsiedlung der Südtiroler Volksgruppe den alten deutschen Sprachinselboden der H albinsel K rim vor.55 Für unser T hem a ist von B edeutung, dass schon im M ai 1939 der „R eichskom m issar für die F estigung des deutschen V olkstum s“ H einrich Him m ler, der gerne als E xperte für „U m siedlungsfragen“ gehalten w erden w ollte, in seinem „M em o ran d u m “ ein eigenes K onzept entw ickelt hatte. „D eutschland schafft irgendw o au f seinem M achtgebiet“, schrieb er hier, „zum B eispiel im Osten, R aum für 200.000 M enschen (aus Südtirol - Anm. P. L., nicht ganz k la r ) ... D iese Landschaft ist m öglichst in einem rein frem dstäm m igen G ebiet zu w ählen und w ird von allen E inw ohnern g e rä u m t... Ich könnte m ir vorstellen, dass im böhm isch-m ährischen R aum ein solches G ebiet geschaffen w erden könnte, das den Vorteil hätte, dass M ähren, das w ieder voll und ganz deutsch w erden muß, einen w ertvollen Zuw achs von 200.000 gutrassigen, sehr bew usst deutschen und käm pferischen V ölkselem enten bekäm e ,..“56 53 Von der Polizeidirektion in Budweis wurden monatlich statistische Erhebungen unter dem Namen „Ü bersichten der Bevölkerungsbewegung im Sprengel der Polizeidirektion in Budweis“ durchgeführt, SO AÜ OCB Trebon. 54 Vgl. z.B. Latour, Conrad F.: Südtirol und die Achse B erlin-R om 1938-1945. Stuttgart 1962; M irtes, H.: Das Fersental und die Fersentaler. Zur Geographie, G eschichte und Volkskunde einer deutschen Sprachinsel im Trentino/Norditalien. Regensburg 1996; Beikircher, Ivo, Franz v. Walther: ,,... das allerschönste Stück davon ist doch die Heimat mein ...“ 1939. Die Südtiroler vor der Um sied lung. Vorgeschichte und Ausgang. Bozen 1989. 55 Beikircher (wie Anm. 54), S. 50; Latour (wie Anm. 54), S. 76. 166 P e tr L o z o v iu k Ö Z V L V I/105 In W irklichkeit ist insgesam t etw a ein D rittel aller Südtiroler O ptanten für D eutschland aus der H eim at abgew andert. In absoluten Z ahlen ausgedrückt, w aren es 74.000 M enschen. D ie überw iegende M ehrheit von ihnen hatte sich verstreut in Ö sterreich und auf dem G ebiet der heutigen alten B undesländer D eutschlands niedergelas sen. E inige hundert Personen kam en auch nach Luxem burg, L othrin gen, Polen und in das dam alige „P rotektorat B öhm en und M ähren“ . E ine spezifische G ruppe unter ihnen stellten die nach Südböhm en verschickten D eutschen aus dem Trentino dar, die als „geschlossene G ruppe in geschlossene S iedlungsgebiete im R eich“ untergebracht w erden sollten.57 D ie in Südböhm en angesiedelten U m siedler aus Italien stam m ten vor allem aus den deutschsprachigen G em einden des F ersentales (Valle del Fersina) im Trentino. Es handelte sich um insgesam t 566 M enschen58, die in der breiteren U m gebung der zuvor bereits erw ähn ten Stadt B udw eis in den Jahren 1942/43 „ in einer ihnen frem den und keinesw egs freundlich gesinnten U m gebung“59 planm äßig angesie delt wurden. Den F ersentaler K leinbauern w urden in B öhm en Höfe derjenigen zugesprochen, die angeblich B ankrott gegangen w aren und ihre B esitzungen räum en m ussten.60 In W irklichkeit w urden sie auf die m it G ew alt „freigem achten“ B auernhöfe verhafteter oder sogar schon hingerichteter Tschechen verschickt. Bei den V erhafteten ging es vor allem um solche M enschen, die angeblich das A ttentat auf den „S tellvertretenden R eichsprotektor“ R einhard H eydrich gutge heißen hatten. In der überw iegenden M ehrheit handelte es sich jedoch um eine A rt von selektiver Vertreibung. A ngehörige tschechischer Fam ilien, die ihre B esitzungen räum en m ussten, w urden oft dazu gezw ungen, in den N ebengebäuden ihrer eigenen H öfe zu wohnen. 56 Zitiert nach Latour (wie Anm. 54), S. 34. 57 Latour (wie Anm. 54), S. 148. Neben den Fersentalern gehörten zu den soge nannten „geschlossenen Gruppen“ der U msiedler weiter die Grödner, Luserner und Kanaltaler. 58 330 M enschen kamen aus Palai, 183 aus Florutz, 9 aus Gereut und 44 aus S. Orsola. Vgl. Cenni storici sulla valle die M o ch en i... In anderen Quellen spricht man jedoch von lediglich 478 Fersentaler Umsiedlern. 59 M inderheiten auf der Flucht. Krieg - Vertreibung - Exil, aus: www.ines.org/ apm -gfbv/3dossier/flucht/2kap.htm l, Z ugriff vom 6.4.2001. 60 Vysohh'd, Z.: Jak Tyrolâci germanizovali jiznf Cechy. In: Cesko-bavorské vyhledy Nr. 12, 1992, S. 6. 20 0 2 , H e ft 2 D ie F e rs e n ta le r in S ü d b ö h m en 167 Sie m ussten sogar au f ihren eigenen A nw esen als M ägde und K nechte arbeiten. Es ist offensichtlich, dass die O kkupationsorgane die P olitik natio n aler E inschm elzung durch organisierte und erzw ungene A ssim ilierung planten, die außerdem au f die A ussiedlung von Tschechen und die Im m igration von „V olksdeutschen“ hinzielte. A uch den U m sied lern aus Südtirol und den im Trentino gelegenen Sprachinselleuten w urde in den nicht vollständig realisierten Eindeutschungsversuchen von B öhm en durch die N ationalsozialisten eine aktive R olle zuge schrieben. D ie nach B öhm en ausgereisten F ersentaler sind jedoch ähnlich w ie die betroffenen Tschechen - in gew issem Sinne auch als O pfer der dam aligen Z eit zu bezeichnen. Ihre Situation in der neuen U m gebung w ar nicht ideal. Tschechischerseits w urden sie als B e standteil der feindlichen O kkupationsm acht em pfunden und schließ lich im M ai 1945 dazu gezw ungen, ihre gesam te, drei Jahre vorher m itgebrachte H abe zurückzulassen und fluchtartig Südböhm en zu verlassen. W ie schon dem oben G esagten zu entnehm en ist, gibt es auf die Frage, w arum die F ersentaler gerade in die B udw eiser G egend ge schickt w urden, eine m ehrdim ensionale A ntw ort. Es handelte sich um „S prach in seld eu tsche“, die in ihrer „frem dvölkischen“ H eim at schon erfolgreich bew iesen hatten, dass sie im stande sind, ihr „G erm anen tu m “ zu bew ahren und sogar w eiter zu pflegen. N achdem sie gezw un gen w urden, ihre H eim at zu verlassen, w urden sie absichtlich in eine neue Sprachinsellage versetzt, um in der neuen U m gebung das bei nahe schon verschw undene deutsche Elem ent zu „stärk en “ . O ffen sichtlich hoffte und erw artete m an, dass sie als „S prachinseldeut sche“ helfen w ürden, eine alte deutsche, beinahe schon „erlo sch en e“ Sprachinsel in Südböhm en „w ied er zu beleben“ .61 O bw ohl die A rt und W eise der U m siedlungsaktion, d.h. die „ g e schlossene“ A usw anderung der ganzen lokalen G ruppe, eher eine A usnahm e darstellt, kann unser B eispiel als zeitgenössische Form der „an gew andten U m volkung“ betrachtet werden. Ihre nähere Analyse, die einer detaillierten U ntersuchung bedürfte, könnte neue E rgebnis se z.B. dazu liefern, wie konkret die einfachen M enschen zu politi schen Z ielen ausgenutzt w urden. W ie die F ersentaler für die totalitäre 61 Die Südtiroler wurden jedoch nicht nur in den alten ursprünglich deutschspra chigen Dörfern angesiedelt. 168 P e tr L o z o v iu k ÖZV LVI/105 P olitik instrum entalisiert w urden, bew eist unter anderem die H altung der dam aligen M achthaber ihnen gegenüber. D en zeitgenössischen Q uellen zufolge w urden sie letztendlich für ein „w ertvolles M en schenm aterial für Siedlungs- und K riegszw ecke“62 gehalten. D er Versuch, Tiroler in B öhm en ansässig zu m achen, stellt außer dem ein bish er fast unbekanntes K apitel der südtirolisch- (bzw. deutsch-)tschechischen B eziehungen dar. F ür ihre w eitere E rfor schung b ietet sich hier eine ganze R eihe von bisher nicht diskutierten Problem feldern. Es w äre z.B. w ünschensw ert, das subjektive G e dächtnis der w enigen noch lebenden B etroffenen au f beiden Seiten zu dokum entieren. D a die um gesiedelten V olksdeutschen in A nsätzen schon w ährend des K rieges ein O bjekt für die volkskundliche F or schung darstellten (z.B. für die Studenten des Sem inars für Volkskun de an der D eutschen K arls-U niversität Prag), könnte eine ethnologi sche A nalyse dieser m issglückten U m siedlung auch aus fachge schichtlicher Perspektive unternom m en w erden. A uf jed en Fall han delt es sich um ein Them a, das es verdienen w ürde, im R ahm en eines m ultilateralen und m ultiperspektivischen Projektes eingehender un tersucht zu werden. Petr Lozoviuk, The Fersenthaler in Southern Bohemia. The Background o f a Failed Resettlement This contribution addresses the political background o f the German-Czech struggle for Volkstum (“ethnicity”) in Bohemia. The general problem of ethnic competition is first addressed, then the specific example of the South Tyrolese who were resettled in Southern Bohem ia is taken up as a case o f Nazi ethnic policies. About five hundred residents of the Germ an-speaking Fersenthal (Valle de Fersina) in the Trentino region were resettled, by plan, in the area around the city of Budweis during 1942/43. The unsuccessful attempt to settle Tyrolese in Bohemia provides a historical example of trying to resolve ethnic problems with so-called resettlement policies. 62 B eikircher (wie Anm. 54), S. 36. 20 0 2 , H e ft 2 D ie F e rs e n ta le r in S ü d b ö h m e n 169 Die ethnische Entwicklung in den Dörfern der Budweiser Sprachinsel, dargestellt aufgrund der Volkszählungen aus den Jahren 1880 und 1930 (schwarze Farbe stellt D eutsche dar, weiße Tschechen). Quelle: Vondräcek, Karel: 50 let Nârodni jednoty Posum avské 1884-1934, Praha 1934, S. 102 u. 103 170 P e tr L o z o v iu k Ö Z V L V I/105 A rchivquellen SOA - Stâtnl oblastnf archiv Trebon (Staatliches Gebietsarchiv Wittingau) SOA Ceské Budëjovice - Stâtnf okresnf archiv Ceské Budëjovice (Staat liches Bezirksarchiv Böhmisch Budweis) SOA UOCB Trebon, Bestand: Ürad oberlandrâta Ceské Budëjovice 1939-1942, und Sig. 131, Karton 4 SOA TJOT Trebon, Bestand: Ürad oberlandrâta Tâbor 1939-1942, Sig. 112, Karton 4 SOA PRCB Trebon, Bestand: Policejni reditelstvl Ceské Budëjovice (1872) 1936-1947 (1952) 1/193, Sig. CI2d SOACeské Budëjovice OUCB, Bestand: Okresnf ürad Ceské Budëjovice 1850-1947, Sig. X-12a, 637, 638, Karton 568 Österreichische Zeitschrift fiir Volkskunde Band LVI/105, Wien 2002, 171-177 Chronik der Volkskunde Volksliteratur und kulturelle Identität: Regionale und überregionale Perspektiven 15. Interdisziplinäres Sym posion zur V olkserzählung a u f der B runnenburg vom 17. bis 21. O ktober 2001 Während in einem sich immer schneller vollziehenden Prozess der Globa lisierung Länder und Kontinente enger zusammenrücken, geraten Systeme nationaler, regionaler und ethnischer Legitimation zusehends in Bedrängnis. Kulturelle Identität tritt dadurch in immer stärkerem Maße ins Bewusstsein, wird zum Diskussionsgegenstand, durchdringt autobiographisches und all tagskulturelles Erzählen. Mit der Wahl des vorliegenden Themas betonen das Institut für Europäische Ethnologie der Universität Innsbruck und der Arbeitskreis Brunnenburg die dringende Notwendigkeit eines tieferen Ver ständnisses jener Rolle, die Aspekte der Volkserzählung im Bereich kultu reller Identitätsfindung und -legitimation zu spielen vermögen. Es war bereits das 15. Interdisziplinäre Symposion zur Volkserzählung, das im Oktober letzten Jahres auf der Brunnenburg stattfand. Leander Petzoldt (Innsbruck) als Veranstalter und Siegfried de Rachewiltz (Dorf Tirol) als Gastgeber hatten wieder renommierte Kolleginnen und Kollegen aus Österreich, Deutschland, der Schweiz, Kroatien und Ungarn eingeladen. Den Eröffnungsabend gestaltete der bekannte Interpret des Nibelungenlie des Eberhard Kummer (Wien), indem er Auszüge aus dem umfangreichen Epos zu Drehleiher und irischer Harfe vortrug. Der Beitrag „Patriotismus und die Verschriftlichung von Völksliteratur“ des Kultursoziologen Justin Stagl (Salzburg) leitete am ersten Tag zum eigentlichen Thema der Tagung über. Dabei beschäftigte sich Stagl mit den für die Herausbildung der Volksliteraturforschung so wichtigen patrioti schen Tendenzen der bildungsbürgerlichen Schichten des 18. Jahrhunderts. Der bewußt weit gefaßte Begriff umschließt verschiedene Nuancierungen: Patriotismus ist danach weniger als Vorstufe zu verstehen, denn als Zwi schenform und -schritt von einem bürgerlich-territorialen zu einem ethni schen Nationaldenken. Vilmos Voigt (Budapest) diskutierte den Identitätsbegriff eingehend, wie e r unzählige Publikationen belegen dies - im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte in der ethnologisch-folkloristischen Forschung zunehmende Beliebtheit erlangt hat. 172 C h ro n ik d e r V o lk sk u n d e Ö Z V L V I/105 Gerade die defmitorische Ambivalenz des Begriffes läßt seine Verwendung auch in der Volkserzählforschung problematisch erscheinen, weshalb der Referent für dessen weitgehende Vermeidung plädierte. Anschließend fand Ingo Schneider (Innsbruck) die Gelegenheit, anhand eines reichen Materialkorpus’ die identitätsstiftende Wirkung stereotypisie render Reise- und Länderbeschreibungen darzustellen. Das vermeintliche Wissen um das allzu Fremde schärft das Bewußtsein für das Eigene. Der Referent verfolgte ähnliche Erzählmotive von vergleichbarer emotionaler Wirkung entlang zahlreicher Schriften antiker, mittelalterlicher und früh neuzeitlicher Autoren. Ausgehend von serbischer und kroatischer Volksdichtung widmete sich Maja Boskovic-Stulli (Zagreb) dem Thema der Identitätsbildung durch aktualisierte Volksüberlieferungen. Die stete Identifikation gegenwärtiger politischer Konstitutionen mit den Figuren der bekannten dichterischen Epik, aber auch ihre allegorische Ausdeutung ermöglicht erst eine Instru mentalisierung der an und für sich apolitischen Überlieferung. BoskovicStulli warnte eindringlich vor dem Trugschluß, in der Grausamkeit der balkanischen Volkserzählungen eine Erklärung für Ereignisse der jüngsten politischen Vergangenheit finden zu können. Anschließend thematisierte Bertalan Andrasfalvy (Pecs) die Bedeutung der psychischen Befindlichkeit und der eigenen Lebensgeschichte für den Vortrag von Balladen, Liedern und Tanzsprüchen. Erst das Durchleben einer dem Inhalt der Ballade ähnlichen sozialen oder psychischen Situation be rechtigt zum Vortrag, für sich selbst wie für andere. Diese Regel wurde dem Referenten durch seine Gewährsleute während seiner früheren Feldfor schungen in Südungarn eindrücklich vermittelt. Der Beitrag beinhaltete auch einen performativen Teil. Als Hommage an das gastgebende Land konnte der diesjährige Beitrag Norbert Otts (München) verstanden werden, der anhand vielfältiger Bild beispiele und des Bildprogramms von Burg Runkelstein bei Bozen den sozialen Aufstiegswillen der Familie Vintler illustrierte. Hierbei sind vor allem Darstellungen des Neidhart- und Tristanstoffes, aber auch Tumierszenen mit Herzog Albrecht III. von Österreich und deren Funktion in der Konstruktion einer ritterlich-feudalen Identität dieses Geschlechtes zu nennen. Das Impulsreferat von Norbert Ott leitete zugleich über in den folgenden Exkursionstag, an dem die Besichtigung der Runkelsteiner Fresken, des Südtiroler Archäologiemuseums in Bozen und der Landesfürstlichen Burg in Meran auf dem Programm stand. Tags darauf berichtete Helmut Fischer (Essen) über die Rolle der Rhein sagen bei der „Bewußtmachung der Rheinlandschaft“. Vorbereitet durch die touristische Entdeckung des Rheines durch englische Reisende im 17. und 2 0 0 2 , H e ft 2 C h ro n ik d e r V o lk sk u n d e 173 18. Jahrhundert, zog die Rheinlandschaft im Zeitalter der Romantik das rege Interesse deutschsprachiger Dichter auf sich. Sie waren es, die nicht einfach nur Überliefertes verschriftlichten, sondern eigentlich erst Volksliteratur geschaffen haben. Die Rheinsagen, in ihrer Versgestalt als Sondertyp er kennbar, verschafften dem Rheinland eine weltweite Bekanntheit, die sich noch heute die Tourismuswerbung zu Nutze macht. Im Rückgriff auf das Tagungsthema des Vorjahres, „Gerechtigkeit und Recht in der populären Tradition“, präsentierte Susan Tuchei (Düsseldorf) ihren Beitrag, der im Jahr zuvor aus Krankheitsgründen entfallen war. Anhand des Reineke-Fuchs-Stoffes zeigte die Referentin Wechselbeziehun gen zwischen Tierdichtung und Rechtspflegepraxis im Mittelalter auf. Der in diesen Erzählungen allenthalben gefeierte Triumph des Rechtsbrechers kündigt im Spätmittelalter eine gewandelte Einstellung zur Rechtsprechung und ihren gesellschaftlichen Institutionen an. Den Abschluß des Vormittages gestaltete Barbara Gobrecht (Gebens torf/Schweiz) mit der Besprechung von fünf Puskinschen Märchen, deren enorme Popularität und bisweilen subversive Tendenz identitätsstiftend wirken konnte. Die vieldiskutierte Frage nach dem volksliterarischen Kern seiner Märchen gewinnt gerade vor diesem Hintergrund neue Aktualität. Zur Motivgeschichte des krähenden, gebratenen Hahnes stellte Ilona Nagy (Budapest) in ihrem Beitrag umfangreiches Quellenmaterial vor. Da bei konnte das Motiv unterschiedliche Funktionen erfüllen, von der Darstel lung menschlicher Wesenszüge des Kinde Jesu in apokryphen Texten bis hin zur Kritik an Fehlleistungen mittelalterlicher Rechtssprechung in der be rühmten Jakobspilgerlegende. Eingehender mit dem Tagungsthema setzte sich Bernd Rieken (Wien) in seinem Referat über die populäre Überlieferung zur Nordsee auseinander. Gerade die Darstellung des Ausgeliefertseins als Küstenbewohner einer feindlichen Natur gegenüber zieht sich als Kontinuum durch die Volkstraditio nen dieser geographischen Zone und strukturiert lokale Identität mit. Nicht zuletzt dank seiner Erfahrung als Psychologe vermochte Rieken eindrucksvoll den inneren Konflikt seiner Landsleute zwischen Ansprüchen an den Lebens standard einerseits und Ängsten vor Umweltschäden andererseits, wie sie durch einen westeuropäischen Lebensstandard wiederum bedingt sind, darzulegen. Zum Abschluss der Tagung sprach Ljiljana Marks (Zagreb) über die Verehrung heiliger Namenspatrone im Stadtgebiet von Zagreb. Namens-, Familien- und Stadtheilige spielten bis in die jüngste Vergangenheit eine bedeutende Rolle bei der Bildung individueller wie kollektiver Identitäten. Das 16. Symposion zur Volkserzählung wird auf Einladung der Stadt Inns bruck voraussichtlich in der Zeit vom 9. bis 13. Oktober 2003 stattfinden. Oliver Haid 174 C h ro n ik d e r V o lk sk u n de Ö Z V L V I/105 freiberuflich kulturwissenschaftlich arbeiten W orkshop im Institut für Interdisziplinäre Forschung und F ortbildung in W ien am 18. und 19. Jänner 2002 Für viele junge Absolventlnnen der Geistes- und Kulturwissenschaften stellt sich über kurz oder lang heraus, dass das Überleben als ,freie1Wissenschaf terin eine Wissenschaft für sich ist. Im Bewusstsein dessen luden der Verein für Kulturwissenschaft und Kulturanalyse, der Österreichische Fachverband für Volkskunde und der Arbeitsbereich Historische Anthropologie am 18. und 19. Jänner 2002 zu einem Workshop in die Räumlichkeiten des Instituts für Interdisziplinäre Forschung und Fortbildung in Wien ein. Diese Veran staltung bot einen Überblick über Fördermöglichkeiten im Bereich der Geistes- und Kulturwissenschaften, Steuer- und versicherungstechnische Informationen sowie die Möglichkeit des Erfahrungsaustausches zwischen den Teilnehmerinnen. Nach der Eröffnung der Veranstaltung durch den Vorsitzenden des Öster reichischen Fachverbandes für Volkskunde, Olaf Bockhom, in der dieser die Bedeutsamkeit solcher Veranstaltungen betonte, machte Monika Maruska vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) den Anfang. Sie stellte den Fonds umfassend vor, und erläuterte das Prozedere der Antragstellung und Begutachtung der eingereichten Projekte. In ihrer praxisnahen Schilderung betonte sie besonders die formalen Kriterien der Einreichung, wie zum Beispiel die Anforderungen an Struktur und Form des schriftlichen Antrags. Die rege Diskussion des Beitrages war vor allem von Nachfragen danach bestimmt, welche Personengruppen Förderung beantra gen können, inwieweit auch innovative Forschungsansätze und transnatio nale Projekte unterstützt werden und wie es denn um die Förderung geistesund kulturwissenschaftlicher Untersuchungen in der Konkurrenz mit sol chen aus Bereichen der Naturwissenschaften, Technik und Wirtschaft steht. Auch Fragen bezüglich der Fördermöglichkeiten von Druckkosten bzw. dem Einsatz von neuen Medien wurden angesprochen. Monika Maruska verstand es, in sehr kompetenter Weise, in komprimierter, klarer Form die Themen abzuhandeln. (Informationen und Richtlinien zum FWF sind auf der Homepage www.fwf.ac.at nachzulesen oder von Frau Maruska persön lich zu erfragen.) In Vertretung für Evelyn Zaininger-Reiterer informierte Hedwig Slavik die Teilnehmerinnen über die Projektförderung und Subventionsmöglich keiten des Jubiläumsfonds der Österreichischen Nationalbank. Der Schwer punkt dieses Fonds liegt seit 1999 auf Medizin und Wirtschaftswissenschaf ten. Ein Drittel der Gesamtfördersumme steht Projekten der Geistes- und 20 0 2 , H e ft 2 C h ro n ik d e r V o lk sk u n d e 175 Sozialwissenschaften zur Verfügung. Nach einer kurzen prägnanten Einfüh rung ging die Referentin auf Fragen der Teilnehmerinnen ein; das Interesse der Workshopteilnehmerinnen in Bezug auf den Jubiläumsfonds war ähn lich gelagert wie beim FWF, da beide Fonds eine vergleichbare Struktur betreffend Projekteinreichung und Gutachterverfahren aufweisen. (Formu lare zum Download gibt es auf der Homepage des Fonds unter www.oenb. co.at/fonds.) Zu steuerlichen Fragen stand am Nachmittag Felix Hammerschmidt der Gruppe von freiberuflich Tätigen Rede und Antwort. Ihm gelang es, so manche - offensichtlich existierende - Hemmschwelle gegenüber Steuer beratung abzubauen. Der Bedarf an Informationen zu steuerrechtlichen Belangen war denn auch in der Runde sehr groß. Zum Einstieg wies Hammerschmidt auf die zwei unentgeltlichen Beratungsmöglichkeiten der Kammer der Wirtschaftstreuhänder und der Österreichischen Hochschüler schaft hin. Die Fragen der Teilnehmerinnen konzentrierten sich vor allem auf die Absetzbarkeit von diversen Ausgaben wie zum Beispiel Arbeitslite ratur, Büromaterialien, EDV-Ausstattung und Betriebsausgaben, sowie auf die Möglichkeit pauschalierter Absetzbeträge. (Für weitere steuerrechtliche Informationen verwies der Referent auf die Homepage http://www.interexpert.com/.) Den Abschluss dieses Tages bildete ein Vortrag von Josef Paulis, der die Sozialversicherung der Gewerblichen Wirtschaft (SVA) vertrat. Seit 1998 unterstehen freiberuflich Tätige dem Versicherungsschutz der SVA, sofern sie nicht bereits im Rahmen ihrer Tätigkeit pflichtversichert sind. Da es kaum möglich war, auf die vielen, sehr unterschiedlichen Fragen der Teil nehmerinnen detailliert einzugehen, gab Paulis einen allgemeinen Über blick über das komplexe Sozialversicherungssystem für selbstständig Täti ge. Die konkreten Fragen der Workshopteilnehmerinnen, die sich daran anschlossen, waren allerdings teilweise so speziell, dass sie wohl einer längeren Analyse bedurft hätten. Soweit dies möglich war, bemühte sich Josef Paulis dennoch, diese zu beantworten. (Für allgemeine Informationen ist empfehlenswert, die Homepage der SVA http://www.sva.or.at/sva/ home.nsf zu besuchen. Außerdem bietet die Broschüre ,,svAktuell“1 einen guten Einblick in die aktuelle Sozialversicherungspolitik.) Am zweiten Tag des Workshops standen ein Referat sowie eine Podi umsdiskussion auf dem Programm. Zu Beginn erläuterte Kurt Grünwald, freiberuflicher Betriebsberater, neuerlich jene Bedingungen und Situatio nen, wie sie bereits am Vortrag angesprochen worden waren. Durch sein 1 Paulis, Josef (Red.): svAktuell. Informationen über die Pensions- und Kranken versicherung der gewerblichen Wirtschaft. Erscheint sechsmal jährlich. 176 C h ro n ik d e r V o lkskunde Ö Z V L V I/105 konkretes Eingehen auf diverse Probleme war es ihm möglich, Steuer- und versicherungstechnische Belange näher und vor allem etwas offener zu thematisieren, als dies am Tage zuvor mit den Vertreterinnen der Institutio nen möglich gewesen war. Unter anderem gab er Tipps zu Vereinshaftungen und Funktionsgebühren und erläuterte die Unterscheidungskriterien zwi schen Dienstvertrag, freiem Dienstvertrag und Werkvertrag. Aufschlußreich war auch eine Tabelle, welche die Einnahmen-Netto-Ertragsberechnung illustrierte. Grünwald arbeitete mit den neuesten Daten und Folien und machte so Fragen und vor allem Lösungsmodelle nachvollziehbar. Sein Beitrag erleichterte das Verständnis der angesprochenen Probleme ungemein. Zum Abschluss fand unter der Moderation von Gert Dressei (iff Wien) eine Podiumsdiskussion mit freiberuflich tätigen Kulturwissenschafterlnnen statt. Das Podium war besetzt mit Gabriele Rath (Rath & Winkler; Projekte für Museum und Bildung), Emst Langthaler (Netzwerk für Regio nalstudien) und Berthold Unfried (freiberuflicher Historiker). Außerdem nahm Reinhard Tuder in Vertretung von Michaela Steinböck (kulturX3) an der Diskussionsrunde teil. Nach einer allgemeinen Vorstellungsrunde be richteten die Podiumsteilnehmerinnen kurz über ihren universitären und beruflichen Werdegang. Ihre Lebensläufe standen sozusagen exemplarisch für eine sich abzeichnende Etablierung beruflicher Selbständigkeit im kul turwissenschaftlichen Bereich. In der daran anschließenden Publikumsrun de wurden mehrmals Fragen nach dem Umgang mit dieser doch eher unsicheren Lebens- und Arbeitssituation, mit Existenzängsten und dem Fehlen eines sozialen Auffangnetzes gestellt. Gleichzeitig wurde freilich die Freiheit, sich das Leben und Arbeiten selbständig und eigenverantwortlich organisieren zu können, als positive Herausforderung betont. In die Diskus sion wurde auch die Überlegung eingebracht, ob nicht etwa Freiberufliche für bestimmte kulturrelevante Fragestellungen besonders befähigt und ge eignet seien, da sie durch ihren institutionsunabhängigen Zugang zu völlig anderen Ergebnissen kommen könnten als jene, die einer Institution ange hören. Vor allem in dieser letzten Diskussion wurde deutlich, wie sehr solche Veranstaltungen dazu beitragen können, mit anderen Kulturwissenschafte rlnnen Kontakte zu knüpfen und konkrete Ansprechpartnerinnen für einen problemorientierten Austausch zu finden. Der Wunsch nach einer Fortset zung des Workshops, der eventuell gezielt Themen, wie zum Beispiel Projektorganisation und -abwicklung, Sponsoring und Vertragsabschluss behandeln sollte, wurde von nicht wenigen Teilnehmerinnen ausdrücklich betont. Es ist den Organisatorlnnen Nikola Langreiter und Christian Stadelmann durch ihre umsichtige Planung des Workshops gelungen, einen Bogen von 2 0 0 2 , H e ft 2 C h ro n ik d e r V o lk sk u n d e 177 spezifischen Informationen zu Projektförderung über Steuer- und versi cherungstechnisches Know-How bis hin zum „Schicksal“ freiberuflich arbeitender Kulturwissenschafterlnnen zu spannen. Dieses Gefühl der Ge meinsamkeit könnte Potential und Ausgangspunkt dafür sein, eine Plattform für freiberuflich arbeitende Kulturwissenschafterlnnen zu schaffen. Wich tige Voraussetzung hierfür ist die Dokumentation des Workshops, sie wird voraussichtlich auf der Homepage des Vereins für Kulturwissenschaft und Kulturananalyse (www.kulturwissenschaft.at) veröffentlicht. Susanna Hofmann und Elisabeth Kreuzwieser Neuerscheinung Ulrich HÄGELE, Franz WIESENHOFER Zensurierte Bildergrüße. Familienfotos russischer Kriegsgefange ner 1915-1918. Wien, Verein für Volkskunde in Wien, 2002, 64 Seiten, 196 Abb., Format 33 x 23, brosch. (= documenta ethnographica 3, herausgegeben von Klaus Beitl, Franz Grieshofer, Konrad Köstlin) ISBN 3-900358-18-4 Unter bisher ungeklärten Umständen kam im Jahr 1927 ein Konvolut von 196 Fotos in die inzwischen über 60.000 Nummern umfassende Fotosammlung des Österreichischen Museums für Volkskunde. Sie waren ursprünglich an russische Kriegsgefangene des Ersten Weltkrie ges in den Lagern Wieselburg/Purgstall, Niederösterreich, adressiert gewesen, wurden jedoch zensuriert und den Gefangenen daher nie zugestellt. Die Fotos zeigen die Angehörigen der Kriegsgefangenen: Kinder, junge Frauen, Mütter mit Kindern, Eltern, Geschwister. Ein Viertel davon enthält zusätzlich handschriftliche Grüße und Mitteilun gen, die von Sorge und Anteilnahme, von Liebe und Hoffnung, von Erinnerung und Sehnsucht erzählen. Obwohl es sich bei den Famili enfotos um Privatdokumente handelt, werden sie nun erstmals der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, um solcherart Einblick in die Geschichte zu geben. Inhalt Vorwort 5; Ulrich HÄGELE: „Statt meiner, mein Bild für Dich“. Russische Familienfotografien aus dem Ersten Weltkrieg im Österrei chischen Museum für Volkskunde 6-15; Bildergrüße 16-29; Franz WIESENHOFER: Die k.u.k. Kriegsgefangenenlager im Erlauftal und der Postverkehr 30-39; Katalog 40-63 Bestellungen Österreichisches Museum für Volkskunde Laudongasse 15-19, A-1080 Wien Tel. +431/406 89 05, Fax +431/408 53 42 E-mail: office@volkskundemuseum.at EURO 11,36 (ATS 160,-) (exkl. Versand) EURO 7,76 (ATS 107,-) (für Mitglieder des Vereins für Volkskunde) Österreichische Zeitschrift fü r Volkskunde Band LVI/105, Wien 2002, 179-213 Literatur der Volkskunde NEUMANN, Michael (Hg.): Erzählte Identitäten. Ein interdisziplinäres Symposion. München, Wilhelm Fink Verlag, 2000, 304 Seiten. Für die Überlieferung menschlicher Erfahrung gibt es kein geeigneteres Transportmittel als die Erzählung. „Erzählen gehört zu den ältesten menta len Techniken des Menschen.“ Diese Grundsatzerklärung stellt Michael Neumann - Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Katholischen Universität Eichstätt - seinen anthropologischen Überlegungen über das Erzählen voran (S. 280-294, zit. S. 280). Ausgehend von Quelle und Wis sensstand machen Erzählungen Vergangenes (be-)greifbar, indem sie dasje nige Wissen weiterleiten, das die Menschen für reizvoll, wichtig und aufhe benswert erachten. Diese Zensur wählt aus der Überfülle des Stoffes aus, sichtet, prüft und bewertet, sortiert und stellt Beziehungen her. Erzählen ist eine kulturelle Technik, der sich jeder bedient, um Faktenwissen und gewon nene Erkenntnis ebenso wie Überzeugung und Selbstwahmehmung mitzu teilen. Der Zusammenhang zwischen Erzählen und Identität zählt daher zu den interessantesten Fragen, die die Kulturforschung heute beschäftigt und weit mehr als die Beiträge nur von Literaturwissenschaftlern und Märchen forschern erwarten lässt. Neumann hat den beachtenswerten Versuch unter nommen, Vertreter verschiedener Fächer - der Ägyptologie, Amerikanistik, Anglistik, Germanistik, Romanistik, Neueren Geschichte, Ethnologie, Psy choanalyse, Entwicklungs- und Neuropsychologie - miteinander ins Ge spräch zu bringen. Der von ihm herausgegebene Band publiziert die Beiträ ge eines Symposions, das im Sommer 1998 an der Katholischen Universität Eichstätt stattgefunden hat. Während gemeinsame Forschungsprojekte von Kultur- und Sozialwis senschaftlern heutzutage zum wissenschaftlichen Alltag gehören, scheint die Zusammenarbeit mit Medizinern wie Neuropsychologen oder Vertretern der Klinischen bzw. Entwicklungs- und Pädagogischen Psychologie eher Seltenheitswert zu besitzen. Ein so breit gefächerter Gedankenaustausch erfordert natürlich intensives konzeptionelles Vördenken, was sich in einem Fragenkatalog widerspiegelt, den Neumann seinen Gesprächspartnern zur Vorbereitung zukommen ließ. Dieser lenkte die Aufmerksamkeit im Vorhin ein auf die spezifischen Leistungen des Erzählens bei der Ausbildung von Identität, auf die Vergleichbarkeit von individueller und kollektiver Identi- 180 L ite ra tu r d e r V o lk sk u n d e Ö Z V L V I/105 tat, auf die Erzählstruktur und auf mögliche historische und kulturelle Unterschiede im Erzählen. Referate und Diskussion markierten schließlich drei inhaltliche Schwerpunkte, die der Publikation Struktur verleihen: I. Ar beit an der Identität, II. Probleme und Grenzen (bei der narrativen Vermitt lung von Identität - S. H.) und III. Psychogenese des Erzählens. Den Anfang macht R. Schumann-Hengsteier mit der Frage, wann sich „autobiographisches Erinnern bei Kindern“ zu entwickeln beginnt (S. 2139). Viele sind überzeugt, sich auf Erlebnisse vor ihrem fünften Lebensjahr besinnen zu können, was jedoch der alterstypischen Sprachentwicklung und der damit zusammenhängenden Fähigkeit, Erinnerungen episodisch zu spei chern und zu erzählen widerspricht. Vielmehr werden die Episoden aus der Kindheit so oft wiederholt, dass man schließlich meint, sich an all das selbst erinnern zu können. Das Erzählen traumatischer Erlebnisse als Heilungs prozess zeigt der Literaturwissenschaftler W. Wehle am Beispiel der Schä ferdichtung der Renaissance (Menschwerdung in Arkadien, S. 40-58). Hier werden Sprache und Poesie zu einem Forum, das die „inneren Verletzun gen“ des Menschen zu überwinden vermag. Die Kunst als Refugium, nicht nur für die Künstler, sondern auch für die Rezipienten! Erzählungen vermit teln neben Sachverhalten vor allem Welt- und Lebenssichten; der Erzähler präsentiert sich selbst. B. Boothe und ihre Zürcher Kollegen A. v. Wyl und R. Wepfer untersuchen den Zusammenhang von Erzählung und Selbstdar stellung und machen auf die psychosozialen Funktionen des Erzählens aufmerksam (Erzähldynamik und Psychodynamik, S. 59-76). „Wer erzäh len kann, ist seinen Wünschen nah und genießt das Glück sozialer Reso nanz.“ (S. 76) Um die soziale Integration geht es auch in der vergleichenden Studie von M. Maurer, der anhand der Lebenserinnerungen eines pietistischen Theologen und eines aufgeklärten Philosophen aus dem 18. Jahrhun dert narrative Strategien deutlich macht, egal ob diese als autobiographi scher Rückblick auf eine Berufung oder als Memoiren mit dem Anspruch auf Rechtfertigung erscheinen (Chronologische Linearität und Relationalität der Deutungshorizonte, S. 77-89). Wie sehr autobiographisches Schrei ben mit Hilfe der Erinnerung einen Kontext konstruiert, in dem der Lebens weg sinnvoll erscheint, erweist sich auch im Fall von Defoes Klassiker „Robinson Crusoe“, dessen Stoff sich tief im kollektiven Gedächtnis fest gesetzt hat. P. Goetsch zeigt am Beispiel dieser Erfolgsgeschichte, wie die Bedürfnisse des Menschen mit den gesellschaftlichen Normen der Gesell schaft in Einklang gebracht werden (Identitätskonstruktion in Robinson Crusoe, S. 90-105). „Contes de passage“ nennt M. Neumann einen Hand lungstyp, der im Bildungsroman ebenso wie in einigen Zaubermärchen und Mythen auftritt. Die Erzählungen handeln von der Emanzipation des Hel den, von seinem Erwachsenwerden, was meist als Weg durch die Fremde, 2 0 0 2 , H e ft 2 L ite ra tu r d e r V o lk sk u n d e 181 als grenzwertige Erfahrung und Abenteuer geschildert wird und schließlich mit seiner Verwandlung endet. Wie die Robinsonade folgen auch sie dem Muster „Herkunftswelt - Reise/Abenteuer - Rettung/Wandlung/Heim kehr“ (Contes de passages. Erzählte Adoleszenz, S. 106-118). Während Romane und Märchen Geschichten von individueller Identität erzählen, konstruiert der Mythos überindividuelle, kollektiv wirksame Identität. J. Assman stellt den Bericht über den Auszug der Hebräer aus Ägypten im Alten Testament der hellenistischen und der ägyptischen Überlieferung gegenüber. Sowohl bei den Juden als auch bei den Ägyptern steht die religiös motivierte Ethnogenese im Hintergrund der Episoden, die die eigene Iden tität aufzubauen versuchen, indem sie das Bild des Gegners verformen (Narrative Inversion, S. 119-133). Parallelen dazu finden wir im Aufsatz von A. v. Plato, der die ost- und die westdeutschen „Mythen des Wider stands“ (S. 202-214) gegen den Nationalsozialismus miteinander ver gleicht. Plato weist nicht nur das Eingebundensein der Geschichtswissen schaft in das jeweilige politische System nach, er macht auch die Historiker als Lieferanten für die entsprechende Politik verantwortlich. Sein Beitrag gehört allerdings schon unter das zweite Kapitel, das sich mit Fragen von Macht und Ohnmacht narrativ vermittelter Identität und mit dem gesell schaftlichen Diskurs beschäftigt. Als Ohnmacht hat B. Röttger-Rössler das Scheitern ihrer Erhebungen bei Feldforschungen auf der Insel Sulawesi in Indonesien empfunden. Trotz aller Vorliebe der Makassar für spannungsreiche Geschichten und geschlif fene Reden weigerten sie sich, aus ihrem Leben zu erzählen. Die Ethnologin sucht Antwort in den kulturellen Konventionen, die den kollektiven Aspekt des menschlichen Lebens betonen. Lebensgeschichte darf demzufolge nur durch die Augen der anderen gesehen, beurteilt und entsprechend dargestellt werden (Selbstrepräsentation und Kultur, S. 135-152). Wie sich die gesell schaftlichen Verhaltensnormen in der Literatur widerspiegeln, zeigt C. Ro senthal am Beispiel der Romane „The Woman Warrior“ von Maxine Hong Kingston (1975) und „Intertidal Life“ von Audrey Thomas (1984). Es geht um die Suche nach weiblicher Identität, die die Protagonistinnen zum Schreiben der eigenen Geschichte führt („You must not teil anybody“, S. 153-165). Literatur ist demnach einerseits ein Machtapparat, der festlegt, wer oder was dargestellt wird, andererseits aber auch ein Ort, wo Vorbilder hinterfragt und erprobt werden. J. Raab verweist auf verschiedene Strategien der Identitätsfindung in der Chicano Literatur (Inszenierte Identitäten, S. 166-186). Neben der Unterordnung und der Abgrenzung macht in den letzten Jahren eine dritte Darstellungsweise auf sich aufmerksam: die Insze nierung des Ich zwischen dem Eigenen und dem Fremden, das ständig neu zu verhandeln ist. 182 L ite ra tu r d e r V o lk sk u n d e Ö Z V L V I/105 Im Mittelpunkt des dritten Kapitels steht weniger der Stoff als das Erzählen an sich, seine vielfältigen Funktionen und Wirkungen. Aus natur wissenschaftlicher Perspektive erläutert H. J. Markowitsch anhand von Fallbeispielen die Auswirkungen von Umwelteinflüssen auf das episodische Gedächtnis, die bis zur Berufsunfähigkeit bzw. Pflegebedürftigkeit der Betroffenen führen können (Die Anfälligkeit autobiographischer Erinne rung gegenüber Stress, S. 215-229). Der psychoanalytische Dialog - gewiss eine Sonderform der zwischenmenschlichen Kommunikation und des Er zählens - hilft, konfliktbehaftete und krankmachende Erinnerung in Spra che zu fassen, so dass im Nachhinein eine „Vergangenheit“ konstruiert wird, die „Ordnung“ im Leben schafft (K. Röckerath, Wovon ist die Rede, S. 230-252). Dabei werden nicht allein Erlebnisse rekapituliert, sondern auch Träume analysiert. A. Hamburger untersucht die Gesetzlichkeit beim Erzählen eines Traums, wobei unterschieden werden muss zwischen dem Träumen in Bildern und der erzählten Wiedergabe, die die filmischen Sequenzen zu einer Geschichte zusammenfügt (Traumerzählung und inter aktives Gedächtnis, S. 253-279). Erinnern wir uns nicht generell in Bil dern? - fragt H. Friese, die damit die Notwendigkeit der begrifflichen Trennung zwischen Erinnerung und Erinnerungserzählung begründet (Bil der der Erinnerung, S. 187-201). M. Neumanns den Band abschließende „anthropologische Überlegun gen“ führen die verschiedenen Gesichtspunkte der einzelnen, fachspezi fischen Befunde wieder zusammen und richten das so gebündelte Interesse auf die singuläre Bedeutung, die das Erzählen in der Evolutionsgeschichte der Menschheit besitzt. Schon Ludwig Wittgenstein hat die Vermittlung des eigenen Erlebens im narrativen Modus als grundlegende Lebensform dekla riert. „Anschaulichkeit, Gedächtnisprägung, Verständlichkeit, Sinnstiftung, Problemlösung, Personalisierung, Perspektivierung, Identifikation, Traditi on, Information und Innovation“ - das Erzählen bringt Ordnung in die Abläufe unserer Welt, es strukturiert sie und macht sie verständlich. „Als Medium der Tradition stellt es den Lebenden die Erfahrungen früherer Generationen zur Verfügung. Als Instrument sozialer Orientierung macht es dem Einzelnen das Wissen anderer Gruppenmitglieder vom Allerneuesten der gegenwärtigen Wirklichkeit zugänglich. Als subjektives und intersub jektives Medium mentalen Probehandelns schafft es unvergleichliche Mög lichkeiten für das Entwerfen zukünftiger Wirklichkeit.“ (S. 294) Bleibt zu wünschen, dass derartige - in der Tat interdisziplinäre - Zusam menkünfte und Publikationen ihre Fortsetzung finden. Eines wird bei der Lektüre allerdings immer wieder schmerzlich bewusst. Die Ergebnisse von Volkskunde und volkskundlicher Erzählforschung werden - mit nur weni gen Ausnahmen - nicht wahrgenommen. Daran hat leider auch die Neuori 20 0 2 , H e ft 2 L ite ra tu r d e r V o lkskunde 183 entierung der Volkskunde als Empirische Kulturwissenschaft und Europäi sche Ethnologie nichts geändert. Der nach wie vor im Hintergrund schwe lende Vorwurf, beide Fächer wären zu starr ihrem Gattungskanon verpflich tet, entbehrt nicht nur jeglicher Grundlage, er reflektiert in höchstem Maße die Unbelesenheit derjenigen, die ihn aussprechen. Hieran sehen wir, dass eben auch der wissenschaftliche Diskurs Identitäten hervorbringt, die auf Zuschreibungen, Erinnerungen und Erinnerungserzählungen basieren! Susanne Hose MÜLLER-FUNK, Wolfgang: Die Kultur und ihre Narrative. Eine Ein führung. Wien, New York, Springer, 2002, 291 Seiten, Abb. Das Buch ist eine Einführung in die Kulturwissenschaft aus narratologischer Perspektive, das heißt es begreift kulturelle Phänomene als Erzählungen und verbindet damit zwei wissenschaftliche Diskurse, die im Allgemeinen ge trennt erörtert werden, nämlich jenen über Kultur und jenen über das Narrative. Zunächst wird der schillernde Begriff „Kultur“ umrissen: ein Faktor, der sich nicht auf Ökonomie, Soziologie und Politik reduzieren lässt (S. 3); ein Phänomen, das als Reaktion auf die zunehmende Globalisierung und Internationalisierung von Prozessen zu verstehen ist (S. 4). Ex positivo: Kultur meint ursprünglich Bodenkultur und ist heute ein Gegenbegriff zu Natur (S. 8). Zum anderen hängt er mit Kult zusammen, mit kollektiven Erinnerungsbeständen (ebd.), und zum dritten bedeutet er symbolische Teilhabe, das heißt das Bemühen, einen Zugang zu finden zu einer Welt, „die ansonsten fremd, sinnleer, abweisend ist“ (S. 9). Neben den deskripti ven existieren normative Bedeutungen: Kultur wird eingeengt auf Hochkul tur, auf das „Wahre, Gute und Schöne“, oder es wird ein Gegensatz zwischen Kultur und Zivilisation konstruiert (S. 9ff). Diesen möchte Müller-Funk vermeiden, und er schlägt vor, „Kultur als einen Prozess zwischen ,gelebter Lebenskultur1und exponierter, materialisierter Kultur“ zu begreifen (S. 12). Daraus ergibt sich ein „mittlerer“ Begriff von Kultur, der weder zu eng gefasst ist (als Hochkultur) noch zu allgemein, indem er „alle anderen Begriffe (Gesellschaft, Mensch, Natur) unter sich begräbt“ (ebd.). Unter Bezugnahme auf Clifford Geertz versteht er Kulturen daher als zu entschlüs selnde Texte, die nur teilweise ins Bewusstsein gelangen und im Gegensatz zur Dichtung von wirklichen Menschen handeln, die leben und sterben und leiden. (Die ausführliche Analyse latenter Erzählungen am Beispiel eines Zeitungsartikels sowie einer Werbeeinschaltung ist dem Autor auf beein druckende Weise gelungen, S. 156-164.) Ein weiterer Grund, die getrennten 184 L ite ra tu r d e r V o lkskunde ÖZV LVI/105 Erörterungen über Kultur und das Narrative zu verbinden, besteht für Müller-Funk in der Tatsache, dass in der Psychoanalyse Identität auf narra tive Weise konstruiert wird, indem der Patient oder Analysand erzählt, wer er ist. Ein dritter Grund ist schließlich in der Gemeinsamkeit zwischen den Erzähl- und Identitätsmustem der Individuen und den Erzählungen jener Gemeinschaften zu sehen, in welchen sie leben (S. 12f). Das Buch besteht aus zwei Teilen, nämlich theoretischen Grundlagen und „Anwendungen“. Im ersten Teil geht es um die Bedeutung des Narrativen in Dichtung und Wissenschaft, in Mythos, Geschichte und common sense in der Gesellschaft, während im „angewandten Teil“ Medien, Geld, Psycho analyse, Nationalismus sowie Apokalypse aus narratologischer Perspektive unter die Lupe genommen werden. Der vom Autor bevorzugte Zugang zur Kultur hat eine gewisse Nähe zur Volkskunde, und zwar in einem engeren und gleichzeitig weiteren Sinn: Kultur als Erzählung zu begreifen bedeutet Wasser auf den Mühlen der volkskundlichen Erzählforschung, denn dass traditionelle Volksprosa ge nauso wie autobiographisches Erzählen tiefe Einblicke in das kulturelle Leben gestatten, ist ihr seit jeher klar. Allerdings nimmt der Autor, abgese hen von der Strukturanalyse Vladimir Propps, weder Bezug auf Forschun gen zur Völksprosa noch zum autobiographischen Erzählen. Interessant ist in dem Zusammenhang allerdings seine These, dass die Menschen heutzu tage mehr erzählen als in traditionellen Kulturen, weil sie unter stärkerem Identitätszwang stehen (S. 28). Damit stellt sich auch die Frage nach der Funktion des Narrativen: Erzählungen ermöglichen Sinn, indem sie durch Reduktion, Abstraktion und Simplifikation eine lineare Ordnung des Zeitli chen etablieren, dergestalt Kontinuität verbürgen und die Angst vor dem Chaos bannen. Sie erlauben eine Distanzierung zum Erlebten, befreien uns vom Alp der Vergangenheit und stehen in einem ironischen Missverhältnis zum Schrecken des Tatsächlichen (S. 29f). Daher sind sie „strukturlogisches ,falsches Bewusstsein“ und (...) doch zugleich anthropologisch einiger maßen unvermeidlich (...). Zur Paradoxie der modernen Bewusstseinslage gehört es, diese perspektivische Selbstverkürzung kritisch zu hinterfragen und ihr doch zugleich nicht entrinnen zu können“ (S. 30). In allgemeinerer Perspektive, in Hinblick auf die Volkskunde als „demo kratische Kulturwissenschaft“, ist die gleichwertige Betrachtung unter schiedlicher Phänomene ein gemeinsames Anliegen. Müller-Funk beruft sich dabei unter anderem auf den Strukturalismus (Roland Barthes, Paul Ricceur, Vladimir Propp), der zwar zu wenig die kulturelle Dimension berücksichtigt, sich aber von der Frage nach Wertung verabschiedet: „Auch wenn wir heute gegenüber essentialistischen und substantialistischen Kon zepten misstrauisch sind, dann setzt doch die Redeweise vom Narrativen 20 0 2 , H e ft 2 L ite ra tu r d e r V o lk sk u n d e 185 oder von der Kultur (...) voraus, dass auf einem entsprechend abstrakten Niveau die Slumkultur von Mexiko, das Wien der Jahrhundertwende und die Trobiander gewisse Gemeinsamkeiten aufweisen, die es gestatten, alle drei als Kultu ren“ mit einer je eigenen Logik und Dynamik zu beschreiben.“ (S. 272) Auch wenn der Autor immer wieder beteuert, dass der narratologische Zugang zur Kultur einer von vielen möglichen ist, erliegt er meines Erach tens an einer zentralen Stelle seines Argumentationsstranges dem Reduktio nismus, nämlich dann, wenn es um die Psychoanalyse geht, die er immer wieder heranzieht, weil sie „hervorragendes Anschauungsmaterial (...) für die Erfindung des (modernen) Ich“ beisteuert (S. 91). Müller-Funk glaubt allen Ernstes, dass nach therapeutischem Selbstverständnis der Patient ge heilt werde, indem er erzählt (S. 30), das heißt er unterstellt, dass Therapeu ten die Heilung auf den Akt des Sprechens reduzieren und den Patienten dadurch vom Druck der Vergangenheit befreien. Tatsächlich aber geht es in den analytisch orientierten Therapien zum einen um die Wiederbelebung des Vergangenen zwecks Durcharbeitung, das heißt von gemütlich-distanzierten Sprechakten kann keine Rede sein. Zum anderen ist es die Beziehung zum Therapeuten, welche heilt, indem Vertrauen und Akzeptanz statt direktivem Verurteilen erlebt werden. Losgelöst vom engen Rahmen der Psychothera pie heißt das: Kultur lässt sich nicht auf Erzählungen reduzieren, denn im menschlichen und kulturellen Miteinander sind auch emotionale Faktoren, etwa Ängste oder Gefühle der Zuneigung, von großer Bedeutung. Ein weiterer Kritikpunkt, bei dem man allerdings geteilter Meinung sein kann: In einer bereits erschienenen Rezension des Buches heißt es, dass es sich um eine „anspruchsvolle und zugleich gut lesbare“ Einführung handelt (http:wk.philo.at/textwmf.html). Anspruchsvoll ist es in der Tat und auch anregend, wie die bisherigen Ausführungen deutlich machen. Für gut lesbar halte ich das Buch indes nicht, weil meines Erachtens vieles zu kompliziert und elaboriert formuliert ist, etwa der folgende Satz, der nur Pars pro toto ist für eine Fülle derartiger Sätze: „Denn der Mythos ist, mit Frye gespro chen, eine Form des Erzählens, keineswegs die einzige. Der archaische, nicht individualpsychologische Charakter des Aktanten korrespondiert mit dem olympischen und referenzlosen Erzähler so wie die Einsinnigkeit des Anfangs zum Jetzt mit dem Pathos der Selbsterschaffung des jeweiligen Kollektivs.“ (S. 106) Ich denke, das könnte man einfacher formulieren, und ich persönlich halte es nicht für ein Ruhmesblatt, wenn Texte zu schwierig formuliert sind. Für mich ist das ein Ausdruck von Entfremdung zwischen Autor und Leser. Insgesamt halte ich das Buch für tief schürfend; es ist anregend, elabo riert, mitunter allerdings einseitig und insgesamt schwierig zu lesen. Bernd Rieken 186 L ite ra tu r d e r V o lkskunde Ö Z V L V I/105 LÖFFLER, Klara (Hg.), Dazwischen. Zur Spezifik der Empirien in der Volkskunde. Hochschultagung der Deutschen Gesellschaft fü r Volkskunde in Wien 1998. (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Ethnolo gie der Universität Wien, Bd. 20). Wien, Selbstverlag des Instituts für Europäische Ethnologie, 2001, 150 Seiten. Im nun schon vertrauten Orange/Schwarz dokumentiert Nummer 20 der Wiener Instituts-Reihe die Beiträge der Hochschultagung der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde 1998. Die Wartezeit auf dieses sorgfältig redi gierte Buch hat sich gelohnt, freilich nicht nur wegen der ansprechenden graphischen Gestaltung: Der Band ist bestens geeignet, sich eine Tagung, die in ihren Einzelheiten vielleicht schon aus dem Gedächtnis ist, in Erin nerung zu rufen und könnte darüber hinaus nochmals Diskussionen rund um zeitgemäße Methoden und Perspektiven entfachen. Eine verfremdete Fotografie am Titelbild zeigt einen Mann, der einer Frau mit großer Tasche zum nächsten Schritt im unebenen Gelände helfend die Hand reicht, im Hintergrund (auf der Rückseite des Buches und also erst bei genauerer Betrachtung zu entdecken) steht ein Mensch, die Hände tief in den Manteltaschen vergraben, und beobachtet aus der Distanz - Verweise auf typische Feldforschungssituationen oder Sinnbilder für die Lage der Volkskunde? Den „Essentials des Fachs“ widmete sich die community im Rahmen dieser Tagung, fasst Gastgeber Konrad Köstlin im Vorwort zusam men, an „das Eingemachte“ (S. 7) sollte es hier gehen. So eignet sich „Dazwischen“ auch, um zur Auseinandersetzung mit der Spezifik volks kundlicher Empirien anzuregen. Acht Referate, ein Thesenpapier und vier Kommentare bzw. Impulsreferate der Schlußdiskussion sowie das Nachwort der Herausgeberin Klara Löffler liefern einen Überblick zum Stand volks kundlicher Methodik. Mehr noch: sie verorten die Disziplin in der aktuellen wissenschaftspolitischen und -kulturellen Situation im deutschsprachigen Raum und vermitteln etwas von der Stimmung und Atmosphäre im Fach. Interessant - nicht nur für Einsteigerinnen - sind die mehrfach unternom menen Rückblicke in die Fachgeschichte, die über die historische Entwick lung volkskundlicher Empirie(n) Aufschluß geben. Rolf Wilhelm Brednich etwa analysiert das Spannungsfeld ,Feldforschung und Authentizität“ an hand traditioneller Volksmusik- und Erzählforschung. Besonders neugierig macht seine kleine Geschichte d e r,nicht-authentischen“Texte, in der er sich mit Betrug und Fälschung auseinandersetzt. Freilich werden in der Kürze die wichtigen Diskussionen aus der Vergan genheit des Fachs nicht aufgerollt, aber auf sogenannte Meilensteine wird hingewiesen und auf zentrale Protagonistlnnen Bezug genommen. Die Texte des Tagungsbandes bieten, indem sie über Empirie, Methodik, aktuelle 2 0 0 2 , H e ft 2 L ite ra tu r d e r V o lk sk u n d e 187 Themen, moderne Ideen und Ansätze, Standortbestimmungen und Ziele reflektieren, also einen Überblick und einen Einblick in das Innere des Faches. Aus der Lektüre ergibt sich eine Liste wichtiger Personen und Werke - wiederum hilfreich für eine (erste) Orientierung im Fach; immer wieder genannt werden zum Beispiel Leopold Schmidt, Hans Moser, Rolf Lindner, Utz Jeggle und Ina-Maria Greverus, auch Regina Bendix und aus jüngster Zeit Gisela Welz; das Fach und den deutschen Sprachraum über schreitend werden vor allem Peter L. Berger und Thomas Luckmann sowie George Marcus zitiert. Wieder und wieder wird auf Traditionsstränge hingewiesen, an die sich anknüpfen ließe: auf die multilokale Ethnographie der Chicagoer Schule der 1920er Jahre etwa oder auf das (wenigstens partiell) schon lange vorhandene Bewußtsein, daß Kulturelles als spezifische Perspektive auf das Soziale und nicht als dessen Ersatz zu betrachten sei. Gängigen Diskursen entsprechend wird stets die Notwendigkeit von Pluralität hervorgehoben, auch Mobilität ist ein prominentes Thema. Manchmal geht es um die allenthalben einge forderte räumliche Flexibilität (Studienorte wechseln etc.), gleichzeitig aber auch um adäquates, Erkenntnis unterstützendes Sich-Bewegen im For schungsfeld, um Interaktion und das ,,Er-fahren“ eines Feldes (Katharina Eisch, S. 29ff) und Rolf Lindner ist es, der hier anmerkt, daß es weniger an räumlicher denn an geistiger Beweglichkeit fehle (S. 16). Emst genommen wird Begriffsarbeit: Feldforschung, Ordnungen, Poetik, Authentizität oder Krise sind nur einige der Termini, mit denen man sich auseinandersetzt. Begrifflichkeiten werden auf ihre Bedeutungen und kul turellen Verwandtschaften, also auf Nähe hin untersucht, Neuschöpfungen hinsichtlich ihrer anvisierten Ziele bzw. eventuellen Folgen diskutiert und mehrfach ergehen Vorschläge für Begriffsbildungen im Versuch, Phänome ne, Situationen und Prozesse angemessener zu erfassen. Rolf Wilhelm Brednich zum Beispiel will die Bezeichnung „teilnehmende Beobachtung“ zugunsten von Begriffen wie „Leben im Feld“, „mitlebendes Handeln“ oder „partnerschaftliche Forschung“ (S. 89) verabschieden. Gisela Welz tritt im Zusammenhang mit ihren Überlegungen zur Inszenierung von Authentizität im Kulturbetrieb dafür ein, Inszenierung nicht im Sinne von Täuschung oder Verzerrung zu gebrauchen, sondern als „dramaturgische Aufbereitung des Handelns“ (S. 95) zu verstehen, ohne die das Authentische nicht zugänglich wäre. Erstaunt hat mich die Intensität, mit der vor einem Zuviel an Reflexion gewarnt wird. Daß Selbstbeforschung mitunter nicht nur kritisiert, sondern (in solchen Fällen leider nicht spezifizierte und nicht definierte) Reflexivität ins Lächerliche gezogen wird, läßt einigen Interpretationsspielraum. Aber auch konstruktive Auseinandersetzung mit Reflexivität findet statt, ausführ- 188 L ite ra tu r d e r V o lkskunde Ö Z V L V I/105 lieh zum Beispiel bei Katharina Eisch. Sie bietet Anregungen - in einem sehr konkreten Sinn, etwa das Wie prozeß- und situationsorientierter Feld forschung betreffend - und Bestärkung. Gleiches gilt für Andrea Hauser, die Eischs „Erkundungen und Zugänge“ fortsetzt, sich auf historische Sachkultur und den Umgang mit Archivalien konzentriert und mehrere Varianten reflexiver Begleitung präsentiert. Beide Autorinnen bleiben nahe an konkre ten Forschungen. Das erleichtert das Verständnis und die Imagination einer Umsetzung in der eigenen Arbeit. Nüchternheit und Bedachtsamkeit in allen Phasen des Forschungspro zesses bezeichnet Helge Gerndt als wesentliche Forschungsmaximen. Die dazu nötige Distanz benötigt Langsamkeit (S. 80f); Irene Götz schlägt in ihrem Resümee zur Tagung forschungsbegleitende Supervision durch pro fessionelle Berater vor. Hier hätte ich gerne gewußt, wie sich diese Anre gungen mit heutigen Rahmenbedingungen für kulturwissenschaftliche For schung (wie sie zumindest für freiberuflich Tätige gegeben sind) vereinba ren lassen. Allgemeiner gesagt fällt auf, daß diese Aspekte - der ökonomi sche Hintergrund volkskundlicher Empirien, die materielle Ausstattung kaum thematisiert worden sind. Mehrere Beiträge sind der Spezifik des Faches gewidmet: Brigitte Bönisch-Brednich äußert sich zu volkskundlicher Poetik und legt dar „Wie man sich in die Nähe schreibt“; in mehreren anderen Texten wird die Kombination der Methoden, mit denen man sich im Fach an den jeweiligen Gegenstand annähert, als die Besonderheit volkskundlicher Empirien be nannt. In gewisser Weise beruhigend ist, daß vielfach die besondere Kom petenz des Fachs erläutert wird, wenngleich oft im Konjunktiv. Auch von strukturellen Problemen der Volkskunde ist die Rede - es handle sich um eine kleine Disziplin mit wenig Ansehen und Einfluß. Nicht nur Interdisziplinarität ist oft nicht mehr als ein Schlagwort - so beklagt Hermann Heidrich die nur sporadische Zusammenarbeit von akademischer Forschung und Museen und plädiert dafür, Sachkulturforschung endlich als zentrales Anliegen anzuerkennen, um „latente Korrespondenzen“ von Kultur aufspü ren und damit kulturelle Codes besser verstehen zu können (S. 24). Walter Leimgruber bringt in seinem Beitrag zur Schlußdiskussion diverse Spezifika nochmals auf den Punkt und ruft dazu auf, sich auf die Stärken zu besinnen und sie systematisch auszuspielen. Er übt, ähnlich wie eingangs Konrad Köstlin, Kritik am Thema der Tagung, an den ewig gleichen fachin ternen Diskussionen und den anachronistischen Kämpfen. Ähnlich kom mentiert Elisabeth Katschnig-Fasch, daß man sich „freundlich und zu vor sichtig schon bekannten Forschungsproblemen“ (S. 104f) näherte, Experi mente scheute - und sie spricht sich für mehr wissenschaftliche Reflexion aus. Die Tagung sieht Katschnig-Fasch als Abbild der Situation im Fach, als 2 0 0 2 , H e ft 2 L ite ra tu r d e r V o lk sk u n d e 189 Reaktion auf diverse Krisen der Disziplin. Schließlich nimmt sie nochmals die Begriffsarbeit auf und möchte „Nähe“ durch „Anerkennung“ (S. 103) ersetzt wissen. Sabine Gieske kommt in ihrer persönlichen Reflexion der Veranstaltung zu ähnlichen Schlüssen. Sie lotet im Lauf der Tagung emp fundene Nähe und Distanz aus, letztere entstand für sie vor allem beim Begriff „Gewährsmann“, der immer wieder gebraucht worden war, Gieske fragt sich, wieso dieses Wort aus einer längst vergangenen Phase fachlicher Methodendiskussion wiederkehrt (S. 110). Irene Götz konzentriert sich in ihrem Abschlußstatement auf das Verhältnis zu bzw. auf den angemessenen Umgang mit den Medien und präsentiert bei dieser Gelegenheit berufliche Perspektiven „für den Nachwuchs“ (S. 126). Auch sie hat Vorbehalte gegen über einem Übermaß an Selbstreflexivität und sucht „Aus-Wege aus dem dekonstruktivistischen Spiegel-Kabinett“ (S. 125). Warum Reflexion hier gleichgesetzt wird mit Empirie- und Feldfeindlichkeit bleibt ungeklärt. In einem Nachwort resümiert Klara Löffler die Veranstaltung entlang einer Dekonstruktion des Tagungstitels und fasst Ausgangspunkte und Zie le - Kulturanalyse volkskundlicher Empirien und kritische Aktualisierung des empirischen Arbeitens - nochmals zusammen. Aus heutiger Sicht - eine letzte Begriffsklärung - würde sie das „Dazwischen“ aus dem Titel der Tagung durch ein „Mittendrin“ ersetzen. Denn ,mittendrin1 verweise deut licher auf die vielfältigen Zusammenhänge und Abhängigkeiten, auf die Position als Deutungsinstanz, die Verstricktheit in Prozesse, die es zu erforschen gilt oder darauf, daß die Volkskundlerlnnen in ,ihrem1Feld neben anderen arbeiten, auch in Konkurrenz zu anderen. Klara Löffler zieht den Schluß, daß Aufbruch zu verspüren war, „der Mut machen sollte, tatsächlich neue Wege zu gehen“ (S. 144). Nikola Langreiter PLESSER, Alois: Zur Kirchengeschichte des Viertels ob dem Wienerwald vor 1627. (= Geschichtliche Beilagen zum St. Pöltner Diözesanblatt, Bd. 16 u. 17). Sankt Pölten, 1998 u. 2001. Mit dem 17. Band der Geschichtlichen Beilagen zum Sankt Pöltner Diö zesanblatt findet nach über 120 Jahren ein ausgesprochen aufwändiges Unternehmen seinen vorläufigen Abschluss. 1878 war damit begonnen worden, möglichst systematisch Archivalien über einzelne Pfarreien und Klöster auszuwerten und in Aufsätzen zu publizieren. Das Projekt erwuchs aus einer Art Aufbruchstimmung eines historisch interessierten und ambi tionierten Klerus, dessen Aktivitäten von der Diözese entsprechend geför 190 L ite ra tu r d e r V o lk sk u n d e Ö Z V L V I/105 dert wurden. Unbeirrt von der Kritik, die da mutmaßte, dass ,nichtssagende1 Daten zusammengetragen würden, stellte man Band für Band jeweils für eine Reihe von Einrichtungen der katholischen Kirche Momentaufnahmen aus der lokalen Geschichte zusammen, die Eindrücke über die Organisation des Gemeindelebens in der frühen Neuzeit vermitteln. Konsequent wurde auch versucht, die Fülle an Texten, die zunächst in Abständen von einigen wenigen Jahren zu einem jeweils 650 bis 750 Seiten starken Buch zusam mengefasst wurden, mittels ausführlicher und sorgfältig erarbeiteter Indices beherrschbar zu machen. Sowie die Euphorie der gemeinschaftlich arbeitenden Priester nachließ die Zahl der Autoren in den einzelnen Bänden nahm kontinuierlich ab trat Alois Plesser auf den Plan. Das war 1895 mit der Publikation des fünften Bandes der Gesamtreihe. Geleitet insbesondere vom Interesse an Kirche und Kulturgeschichte des westlichen Niederösterreichs entwickelte der nachma lige langjährige Pfarrer von Kleinpöchlam eine geradezu manische Sam meltätigkeit. Die quellenorientierte Struktur der „Beilagen“ entsprach sei ner Arbeitsweise, doch modifizierte er später das Konzept des Projektes dahingehend, dass er die Präsentation des Archivmaterials konsequent Ort für Ort, nach dem Waldviertel und dem Viertel ob dem Wienerwald, alpha betisch aufbereitete und davon absah, dieses in Aufsätzen aufzuarbeiten lag doch seine Stärke „mehr im Aufspüren und in der Wiedergabe der Quellen als in ihrer synthetischen Verarbeitung“. Plesser übernahm mehr und mehr die Regie der „Beiträge“. Er bezog sein Material aus den zentralen Archiven in Wien und aus sämtlichen bekannten Kloster-, Schloss-, Pfarr- und Gemeindearchiven der Diözese Sankt Pölten. Ihm ist es zu verdanken, dass die „Beiträge“ in der Ersten Republik weiter geführt wurden und schließlich in der Zweiten sein Nachlass weiter einge arbeitet werden konnte. Als Plesser nämlich 1937 starb, hinterließ er gut geordnet einen handschriftlichen Materialkorpus, dessen Umfang er selbst zuvor noch mit einem Gewicht von 40 Kilogramm bemessen hatte. Aus diesen Manuskripten wurde nach Plessers Tod noch der 12. Band der Reges tensammlung publiziert, 1951, 1954 und 1977 folgten zögerlich drei weitere. Erst am Ende des 20. Jahrhunderts hat man sich dazu entschließen kön nen, die Gesamtreihe in zwei Bänden abzuschließen. Die institutioneile Betreuung erfolgte nunmehr durch das Diözesanarchiv St. Pölten, innerhalb dessen rühriger publizistischer Tätigkeit der vergangenen Jahre diese Edi tion einen Schwerpunkt ausmacht. Der alphabetischen Systematik entsprechend, ist in den letzten beiden Bänden der Geschichtlichen Beilagen zum St. Pöltener Diözesanblatt das frühe Archivmaterial zu den Ortsschlagworten „Kollmitzberg“ bis „Zwen tendorf1enthalten. Orthographie und wissenschaftlicher Apparat sind nach 20 0 2 , H e ft 2 L ite ra tu r d e r V o lk sk u n d e 191 den Angaben der Herausgeber gegenüber der Form, wie sie Plesser in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts verwendet hat, nicht verändert worden. Über Schwierigkeiten, die dadurch bei der Verwendung entstehen können, wird wohl der geplante Registerband, der auch ein Literatur- und Quellenverzeichnis enthalten soll, hinweghelfen. Wenn man nun versucht, den wissenschaftlichen Nutzen der Publikatio nen auszuloten, dann stellt man zunächst fest, dass sich die Zielsetzungen der verschiedenen Herausgeber im Laufe der Jahrzehnte kaum geändert haben. 1936, kurz vor Plessers Tod, ist die Rede davon gewesen, dass „dem Geschichtsschreiber der Geschichtsforscher vorausgehen“ müsse, dass also „vorerst die vorhandenen Archive möglichst vollständig erforscht werden müssen, ehe man an die Abfassung gründlicher Geschichten der adeligen Geschlechter, Klöster, Pfarreien und Ortschaften schreiten könne“. Heute nun wollen die Bände „als ,Findbuch“ verstanden werden, als eine Materi alsammlung zur Pfarrgeschichte in Regestenform“. In den Intentionen sind da kaum Unterschiede auszumachen, allenfalls in der Terminologie. Die Praxis zeigt, dass die Landesgeschichtsschreibung Niederösterreichs die „Beiträge“ früher wie heute interessiert aufgenommen hat, dass also in deren Ergebnisse das von Alois Plesser (und anderen) gesammelte Archiv material eingeflossen ist. Die Volkskunde aber ist bemerkenswerterweise sukzessive auf Abstand gegangen. Während bis etwa in die 1970er Jahre diese Regestensammlungen direkt oder indirekt Eingang in die einschlägi gen Forschungsarbeiten fanden, haben sich die Fragen des Faches an histo rische Quellen seither offenbar so weit verändert, dass die Geschichtlichen Beilagen zum St. Pöltner Diözesanblatt, auch wenn es um historische Themen geht, die das Land Niederösterreich betreffen, offenbar kaum noch herangezogen werden. Die erfolgreiche Beendigung dieses Editionsprojek tes sollte Anlass sein, sich dessen nicht nur zu erinnern, sondern auch zu prüfen, inwieweit es auch im Sinne rezenter Fragestellungen des Faches gewinnbringend genutzt werden könnte - ist doch damit eine enorme Fülle von weit verstreutem Archivmaterial zugänglich gemacht worden. Christian Stadelmann PRICKLER, Harald: Castellum Paris und Pfeiferei [...]. Beiträge zur Kunst-, Gewerbe- und Industriegeschichte des Nordburgenlandes. (= Bur genländische Forschungen, 80). Eisenstadt, Burgenländisches Landesarchiv und Landesbibliothek, 2000, 132 Seiten, Abb. Harald Prickler, profunder Kenner der burgenländischen Geschichte, ist einer der Wenigen, die sich auch mit der Kunst- Wirtschafts- und Hand 192 L ite ra tu r d e r V o lk sk u n d e Ö Z V L V I/105 werksgeschichte dieses Landes intensiv beschäftigen. Die hier anzuzeigen de Studie zeigt diese Tatsache wieder einmal sehr deutlich (und bringt sie ja bereits im Untertitel zum Ausdruck). Die „Paris-Mühle“ in Trausdorf ist eine der Mühlen an der Wulka, dem einzigen Fließgewässer mit nennenswerter Wassermenge im nördlichen Burgenland. Vermutlich bestand sie schon im 14. Jahrhundert. Im Laufe der Jahrhunderte wechselte sie mehrmals die Besitzer, bis sie 1693 durch Paul Esterhazy erworben wurde, der sie durch einen Neubau für Feste und Lustbarkeiten ersetzen ließ; zusätzlich fungierte sie jedoch weiterhin auch als Mühle. Zugleich mit dieser Umgestaltung wurde eine schnurgerade, von (vermutlich) 18 Statuen flankierte Allee angelegt, die von Eisenstadt zu ihr hinführte. Etwa zur gleichen Zeit wurde auch der Name von „Zaußa“ (= Gestrüpp)-Mühle in Paris-Mühle geändert. Gegen Ende des 18. Jahrhun derts wurde nach Fertigstellung des Schlosses Esterhâza die Hofhaltung mit ihren Lustbarkeiten im Sommer dorthin verlegt und die Paris-Mühle da durch zum reinen Wirtschaftsbetrieb. Daher wurde ab 1797 auch das angren zende Areal durch Errichtung gewerblicher bzw. frühindustrieller Betriebe genutzt. Ebenfalls in diesem Jahr wurde eine Anlage zur Herstellung von Branntwein erbaut, welche Weintrebern und das Lager aus den herrschaft lichen Kellern verwertete. Anfänglich von einem angestellten „Branntwein brenner“ als Eigenbetrieb geführt, wurde die Paris-Mühle nach wenigen Jahren verpachtet und 1835, als sich kein weiterer Pächter fand, eingestellt. 1802 wurde in der Nähe der Branntweinbrennerei eine Ziegelei errichtet, die vorwiegend den Bedarf für die Errichtung und Instandhaltung der herrschaftlichen Gebäude abdecken sollte. Als Brennmaterial diente die Kohle aus dem Bergwerk in Ritzing, seit 1799 im Besitz der Familie Esterhazy. Sie bestand bis 1825. 1838 wurden die Gebäude, die über ein Jahrzehnt ungenutzt geblieben waren, an den Eisenstädter Gürtler und Silberschmied Franz Brunner verkauft, der seine Tonpfeifen-Fabrik hierher verlegte. Diese bestand bis 1860, bis zum Tod des zweiten Besitzers, des Schwiegersohnes des Firmengründers. Die Studie, das Ergebnis intensiver Beschäftigung mit den archivalischen Quellen (256 Fußnoten!), enthält eine Fülle von Informationen, die natürlich vor allem den Lokalhistoriker interessieren. Dazu zählen etwa die Namen und (Kurz-)Biographien der am Bau des als „Casteilum“ bezeichneten „Lustschlosses“ beteiligten Handwerker und Künstler sowie die Geschichte des Bauwerkes bis in die Gegenwart. Darüber hinausgehend von allgemei nem, vor allem aber auch volkskundlichen Interesse sind die Kapitel über die Gewerbebetriebe des 19. Jahrhunderts auf dem Areal neben der Mühle. In vielfältigen Details zeichnet Prickler etwa die Schwerfälligkeit der fürst lichen Verwaltung und die komplizierten „Behördenwege“ nach. Er ver 20 0 2 , H e ft 2 L ite ra tu r d e r V o lk sk u n d e 193 sucht aber auch, aufgrund biographischer Angaben Lebensläufe sonst an onym bleibender, „kleiner Leute“, wie etwa von einzelnen Beschäftigten dieser Betriebe, zu rekonstruieren, und auch die Vorurteile, die diesen Menschen von Seiten der Behörde und der ansässigen Bevölkerung entge gengebracht wurden, spart er nicht aus. Bemerkenswert ist zudem, daß zumindest bei den hier dargestellten Betrieben - die Grundherrschaft als Unternehmer wirtschaftlich nicht erfolgreich war. Für den Sachvolkskundler ist wohl das Kapitel über die „Pfeiferei“ das wichtigste, werden in diesem doch die Produktion und die Produkte der Fa. Brun(n)er und Puff ausführlich dargestellt. Erstaunlich, daß zumindest ein Teil der Produktion auf der Basis von Formen der Fa. „M.HÖNIG.WWE.SCHEMNITZ“ und „K.WEISS“, einer in Papa ansässigen Firma, hergestellt wurden. Das muß wohl so gedeutet werden, daß die Trausdorfer Produktionsstätte als „Zulieferer“ (in einem „Billiglohn-Land“?) für diese Betriebe tätig war, die diese Erzeug nisse dann unter ihrem eigenen Namen vertrieben. (Eine Praktik, die auch Nagy in seiner Monographie aufzeigt). In diesem Zusammenhang sei auch auf die Studie von Nagy Zoltân, Dunântüli cseréppipa készitö mühelyek és termékeik a XIX. szâzadban [Tonpfeifen Werkstätten in Transdanubien und ihre Erzeugnisse im 19. Jahr hundert]. [= Fontes Castriferriensis, 1]. Szombathely, Vas Megyei Müzeumok Igazgatösâga, 2001, 267 Seiten, Abb. hingewiesen. Sie verfügt über eine recht ausführliche englische Zusammenfassung [Clay-pipe workshops and their products in the 19th Century Transdanubian region, 85-93], vor allem aber über rund 800 [!] Fotos bzw. Zeichnungen von Pfeifen, Pfeifen bruchstücken und Marken auf 142 Tafeln. Weiters sind Angaben zur Ge schichte und den Eigentümern von 25 Produktionsstätten, alphabetisch geordnet von B (Batiz) bis Z (Zölyom), in ihr enthalten; vier davon (Pemitz, Theresienfeld, Trausdorf und Wiener Neustadt) liegen in Österreich. All dies macht die Monographie auch für den Leser, der über keine Kenntnisse der ungarischen Sprache verfügt, zu einer wichtigen Informationsquelle. Wolfgang Gürtler GÖTTL, Berti: Der Salzburger Jahreskreis. Lostage, Kräuter und Heili ge. Salzburg, Wien, Jung und Jung Verlag, 2001, 264 Seiten, zahlreiche z.T. farbige Abbildungen. „Früher“ hätte man diesen Salzburger Jahreskreis wohl als Hausbuch oder Immerwährenden Kalender bezeichnet und mit holzschnittartigen Schwarz weiß-Abbildungen versehen. Heute ziert eine Illustration aus Hildegard von 194 L ite ra tu r d e r V o lk sk u n d e Ö Z V L V I/105 Bingens Liber Divinorum das Cover, und in nobler Zurückhaltung stehen Farbbilder aus der Schedelschen Weltchronik von 1493 neben historischen und modernen Fotos. Verlässlich verzeichnet das Buch Lostage, Kräuter und Heilige, aber eben nicht nur alte Wetterregeln, sondern z.B. auch das erst 1960 erfundene Bischofshofner Amselsingen oder einen modernen Umzug der Salzburger Köche zu Ehren ihres Schutzpatrons. Obwohl Göttis Jahres kreis ein fast ausschließlich bäuerlicher ist, unterscheiden ihn solche Hin weise von ähnlichen Produkten, die sich nur in Nostalgie ergehen. Die Grundstimmung des Textes ist eine andere; Vertrauen in die Überlieferung, so wird hier vermittelt, erleichtert Zuversicht in Hinblick auf das Kommen de. Neben sachlichen Erläuterungen enthält der Band Mundartgedichte, kunstvolle Noten-Niederschriften aus den vierziger Jahren und persönliche Erinnerungen des Autors. Berti Götti, früher Fachschullehrer und Landesrat, schreibt jetzt für die Salzburger Nachrichten. Das Interesse für die Volkskultur liegt seit langem in seiner weit verzweigten Familie (allein die Großmutter hatte 25 Geschwister, über die es viel zu erzählen gibt). Selbst musikalisch aktiv, spielte der Autor in Tobi Reisers legendärem Adventsingen den Josef. Die Texte und Bilder hat er mit (Heimat-)Liebe, Erfahrung und Phantasie zu sammengestellt. Die Geschichte von Sankt Heribert, vor 1000 Jahren Dom probst in Köln, steht neben Tipps für Naturkosmetik und Küche, Anleitun gen zum Ave-Läuten finden sich neben dem Bild einer Bauerndichterin, die Antiasseier einsammelt, Erläuterungen zum Lungauer Samson neben Hin weisen zur heilenden Wirkkraft der Königskerze, die man bei abnehmendem Mond ernten soll. Ein bunter Bauernhimmel tut sich auf. Erstaunlich, was sich die Altvor deren an Naturbeobachtung und Heilkunst zusammengereimt haben. Umso erfreulicher, dass sich der Autor mit den sonst so beliebten laienhaften Interpretationen des „uralten Brauchtums“ weitgehend zurückhält. Bei den Glöcklern spricht er von Bräuchen, d ie ,,... heute als ,echt‘ behütet werden“. Die großen Perchtenumzüge sind im vorigen Jahrhundert gewollt in die großen Märkte verlegt worden, um sie einem großen Publikum zu zeigen. Die Glöckler bringen ihr Licht bis in die Stadt und die Flachgauer Aper schnalzer schnalzen unermüdlich ..." (S. 20) Götti verweist auf die Bemü hungen eines Trachtenvereins, seit einigen Jahren Perchtenspiele wieder zu beleben und nennt den Braucherfinder des Flachgauer Dreikönigssingens beim Namen. Nur manchmal rutschen Werturteile in den Text: „M it einigem Stolz können wir im Alpenland auf eine bodenständige Kleidung verweisen, die Generationen verbindet und uns aus dem Einheitsbild der weltweiten Modekleidung heraushebt.“ Man atmet schon auf, dass Kelten und Germa nen im Hintergrund bleiben, weil der Ursprung der Bräuche nicht bis in 20 0 2 , H e ft 2 L ite ra tu r d e r V o lk sk u n d e 195 mythische Vorzeit verfolgt wird, was Hobbyheimatkundler sonst so gern tun. Doch auf den letzten Seiten geistert es wieder: Und die Christbaumku geln werden flugs zum „uralten Fruchtbarkeitssymbol“ (S. 258) erklärt. Doch werden keine Ge-Brauchs-Anweisungen gegeben, im Gegenteil: „Je der ist eingeladen, sich sein eigenes Körnchen Wahrheit herauszusuchen und auf verborgene Wunder der Natur zu stoßen. Ohne Anspruch auf Wahrhaf tigkeit und wissenschaftliche Begründung.... So steht es jedem frei, heilsa me Kräuter anzuwenden, Wettersprüche in die Tagesplanung einzubeziehen und an den Einfluß von Tierkreiszeichen und Mondrhythmen zu glauben.“ (S. 5) Helga Maria Wolf BENTHIEN, Claudia, Anne FLEIG, Ingrid KASTEN: Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle. (= Literatur - Kultur - Geschlecht. Studien zur Literatur-und Kulturgeschichte. Kleine Reihe, Bd. 16) Köln, Weimar, Wien, Böhlau Verlag, 2000, 238 Seiten, 8 s/w-Bildtafeln. Emotionen haben Konjunktur. 1995 hat der Psychologe und Kognitionswis senschaftler Daniel Goleman mit seinem in New York erschienenen Buch „Emotional Intelligence. Why it can matter more than IQ“ ein Umdenken auf breitester Basis initiiert und eine Publikationswelle ins Rollen gebracht. Der Trendforscher Matthias Horx zählt Emotionale Intelligenz zu den wich tigsten Fähigkeiten einer Kultur des 21. Jahrhunderts. Der Bestsellerautor John Naisbitt setzt 1999 dem Begriff „High-Tech“ (Hochtechnologie) das neue Wort „High-Touch“ entgegen: „High-Touch ist menschliche Emotion, Familie, das Lächeln eines Kindes, Freude, das Aufleben in der Natur, Liebe etc.“ Im selben Jahr haben sich Kulturwissenschaftler verschiedener Diszipli nen an der FU Berlin mit der Geschichte der Gefühle befasst. Die Ergebnisse sind im vorliegenden Band dokumentiert. Vom Cover blickt eine Mater Dolorosa. Dierk Bouts hat sie um 1460 gemalt. Der Ausschnitt lenkt den Blick des Lesers auf die Tränen und das gerötete Auge der Madonna. Seit der Antike werde die Verkörperung von Leid vorrangig Frauen zugeschrie ben, bemerken die Herausgeberinnen zum emblematischen Titelbild. Der Sammelband ist in der Reihe „Literatur - Kultur - Geschlecht“ erschienen. Literatur dient als Einstieg, Reflexionen über das Glück, wie jene vor 200 Jahren von Heinrich Kleist formulierten: „Glücklich zu sein ist ja der erste aller unsrer Wünsche ...“ Dieser Wunsch müsse Utopie bleiben, meinte der Dichter. Heute hingegen erscheint Glück machbar. Die westliche Kultur geht von einem Grundrecht auf Glücklichsein aus. Kultur 196 L ite ra tu r d e r V o lk sk u n d e Ö Z V L V I/105 bildet den historischen roten Faden der Kapitel. Da geht es um Euripides, um das Mittelalter, die höfische Gesellschaft des 17. Jahrhunderts, um Körpersprache im 18., um Affektkontrolle im 19. und manipulierte Gefühle im 20. Jahrhundert. Das Geschlecht der Autorinnen mag in dem Zusammen hang Zufall sein. Von den elf Beiträgen stammen sechs von Frauen und fünf von Männern. Elementare Emotionen werden als anthropologische Konstante aufge fasst, gleichzeitig werden Gefühle von jedem/jeder unterschiedlich erlebt. Sie unterliegen kulturellen und historischen Veränderungen. Gefühle als kulturgeschichtlicher Forschungsgegenstand sind dementsprechend schwierig zu behandeln. Wie kann man sich in eine Welt der Emotionen hineinfühlen, deren Kontext fremd bleibt? Eine Hilfe ist die Annäherung im Crossover der Disziplinen. So verbindet Renate Schlesier altphilologische Fachkompetenz und kul turwissenschaftlich-anthropologischen Zugang in ihrer Studie über die Dionysische Psyche. Die Verwaltung der Gefühle in Theorie, Macht und Phantasie ist das Thema des Philosophen Hermann Schmitz. Die Affekte allgemein im Gegensatz zu den „tiefen“, „echten“ Gefühlen als oberfläch lich und artifiziell bewertet - wurden im Laufe der Jahrhunderte einer zunehmenden Kontrolle unterworfen, bis sie im heutigen Verständnis zu subjektiven, innerpsychischen Regungen geworden sind. Hartmut Böhme führt diesen phänomenologischen Ansatz im Beitrag „Himmel und Hölle als Gefühlsräume“ weiter aus. „Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt“ ist nicht nur die Kurzformel quälender psychischer Unausgeglichenheit. Himmel und Hölle waren in der Kultur des Mittelalters „hochwirksame mediale Codes“. Visionsliteratur aus dem 12. Jahrhundert führt in imaginäre Jenseitsräume. Wobei die angstmachende Unterwelt mit Enge und Verlust der Intimsphäre korrespondiert, während der Himmel als unendlich weiter Raum gedacht wird, den nur harmonische Musik erfüllt. Ebenfalls mit dem Mittelalter setzt sich der Historiker Gerd Althoff auseinander, konkret mit Gefühlen in der öffentlichen Kommunikation. Er macht bewusst, dass das Leben der Menschen damals von einer nahezu unablässigen Folge ritueller Verhaltensweisen charakterisiert war. Wer die Rituale bestimmte, beherrsch te die Szene. Teilnahme bedeutete Einverständnis und Verpflichtung. Nicht teilnahme war kaum möglich. Vom Publikum wurde vorausgesetzt, dass es das Ritual bis in seine Details und Nuancen verstand. Gewisse Übertreibun gen waren daher unumgänglich. Die Frage, wann jemand „echte“ Gefühle zum Ausdruck brachte und wann er „sich aufführte“, wie sie uns heute so naheliegend scheint, stellte sich in dieser Zeit nicht. Der Literaturwissen schaftler und Mediävist Werner Röcke beschäftigt sich mit der Faszination der Traurigkeit in spätmittelalterlichen Texten. 2 0 0 2 , H e ft 2 L ite ra tu r d e r V o lk sk u n d e 197 Helga Meise analysiert das Verhältnis von Gefühl und Repräsentation an barocken Herrscherhöfen am Beispiel des Landgrafen Ludwig VI. von Hessen-Darmstadt. Die Anglistin Barbara Körte untersucht englische Ro mane des 18. Jahrhunderts als Spiegelbild bürgerlicher Körpersprache. Die Historikerin Martina Kessel beschreibt das Trauma der Affektkontrolle im 19. Jahrhundert: Spontaneität konnte für das Sozialprestige einer Dame der Oberschicht förderlich sein, während es für Herren unziemlich erschien, Emotionen zu zeigen. Ute Frevert nähert sich dem Thema und Gefühl Vertrauen in historischer Perspektive. Die Entwicklungslinie verläuft vom Gottvertrauen zur höchstpersönlichen Angelegenheit zwischen Menschen. Claudia Lenssen stellt anhand der Leni-Riefenstahl-Filme die These auf, faschistische Ästhetik ziele darauf ab, die Emotionen vom Denken, von der individuellen Kritikfähigkeit, abzutrennen. Diese Thematisierung der Inan spruchnahme von Gefühlen durch Parteipropaganda wird ergänzt durch Analysen von Klaus-Peter Köpping zur Inszenierung von Gemeinschafts gefühl, wie er sie bei Festen, in Familien und in der Arbeitswelt des heutigen Japan beobachten konnte. Daniel Goleman bezeichnet „Emotion“ als einen Begriff, „über dessen genaue Bedeutung sich Psychologen und Philosophen seit mehr als 100 Jahren in Spitzfindigkeiten ergehen“. Das Oxford English Dictionary ver stehe darunter „eine Beunruhigung oder Störung der Seele, Gefühl, Leiden schaft“. Der Mann, der die Emotionale Intelligenz populär gemacht hat, sieht die Sache differenzierter: „ein Gefühl, mit dem ihm eigenen Gedan ken, psychologischen und biologischen Zuständen, sowie dem ihm entspre chenden Handlungsbereitschaften. Es gibt Hunderte von Emotionen mit samt ihren Mischungen, Variationen, Mutationen und Nuancen. Im Grunde gibt es so viele Verästelungen der Emotion, dass uns die Worte dafür fehlen“ (Emotionale Intelligenz, S. 363). Die Herausgeberinnen des EmotionalitätSammelbandes haben viele wertvolle und anregende Überlegungen zur Geschichte der Gefühle zusammengetragen. Dafür ist ihnen zu danken und weiteren Projekten Glück zu wünschen. Nicht im Sinne des unglücklichen Kleist (der sich 35-jährig gemeinsam mit einer Freundin das Leben nahm), sondern im Sinne von Glück als einem Energie fördernden Gefühl, das „Bereitschaft und Begeisterung, jede Aufgabe anzupacken und vielfältige Ziele anzustreben ermöglicht“ (Emotionale Intelligenz. S. 23). Helga Maria Wolf 198 L ite ra tu r d e r V o lk sk u n d e Ö Z V L V I/105 WISCHERMANN, Clemens, Stefan HAAS (Hg.): Körper mit Geschich te. Der menschliche Körper als Ort der Selbst- und Weltdeutung. (= Studien zur Geschichte des Alltags, Bd. 17). Stuttgart, Franz Steiner Verlag, 2000, 345 Seiten, sAv-Abb. Das seit Jahren verstärkte Interesse der Geschichts- und Kulturwissenschaf ten am Körper manifestiert sich in einer Vielzahl einschlägiger Publikatio nen, wobei auffällt, daß dieses Interesse häufig Sammelbände mit recht heterogenen Beiträgen zeitigt. Um einen solchen handelt es sich auch beim vorliegenden Band, der aus mehreren Workshops an der Universität Münster hervorgegangene Aufsätze von Historiker/inne/n und Psycholog/inn/en ent hält. Das Vorwort macht nicht ganz klar, worin der konkrete gemeinsame Nenner der Beiträge besteht, sondern verweist lediglich auf einige sehr allgemeine Aspekte, die die grundlegende Bedeutung des Körpers betonen sollen. Als leitende Ausgangshypothese wird ein Zitat von Umberto Eco abgewandelt: „Man könnte die ganze Geschichte der Ethik unter dem Aspekt der Rechte des Körpers und der Beziehung unserer Körper zur Welt neu lesen“ - dies gilt laut Herausgeber auch für die Geschichte der Men schen allgemein. Und: Der menschliche Körper sei eine zentrale Kategorie menschlicher Sinndeutung und Handlungsorientierung. Wie die Chiffre Körper zu füllen wäre, soll in diesem Band unter Einbeziehung von An stößen aus der Geschlechtergeschichte, der Historischen Verhaltensfor schung, der Historischen Anthropologie und der Psychologie diskutiert werden. Dies geschieht in der Regel explizit an jeweils unterschiedlichen theoretischen Konzepten orientiert. Den Auftakt bildet der Beitrag von Clemens Wischermann, in dem er fragt: „Geschichte des Körpers oder Körper mit Geschichte?“ Der restliche Band ist in die Kapitel „Kategorien und Konzepte“ und „Institutionalisierungen“ eingeteilt. In ersterem finden sich folgende Beiträge: Franz Breuer: Wissenschaftliche Erfahrung und der Körper/Leib des Wissenschaftlers. Sozialwissenschaftliche Überlegungen; Petra Muckel: Sprache, Körper, Erinnerung. Wechselwirkungen zwischen Sprache und Körper; Katja Patzel-Matern: Schöne neue Körperwelt? Der menschliche Körper als Erlebnisraum des Ich; Stefan Haas: Vom Ende des Körpers in den Datennetzen. Dekonstruktion eines postmodemen Mythos Das zweite Kapitel enthält: Marcus Beling: Der Körper als Pergament der Seele. Gedächtnis, Schrift und Körperlichkeit bei Mechthild von Magde burg und Heinrich Seuse; Thomas Scharff: Die Körper der Ketzer im hochmittelalterlichen Häresiediskurs; Kerstin Rehwinkel: Kopflos, aber lebendig? Konkurrierende Körperkonzepte in der Debatte um den Tod durch Enthauptung im ausgehenden 18. Jahrhundert; Gesa Kessemeier: „Die Kö nigin von England hat keine Beine“. Geschlechtsspezifische Körper- und 20 0 2 , H e ft 2 L ite ra tu r d e r V o lk sk u n d e 199 Modeideale im 19. und 20. Jahrhundert; Katja Patzel-Mattern: „Volkskör per“ und „Leibesfrucht“. Eine diskursanalytische Untersuchung der Abtrei bungsdiskussion in der Weimarer Republik; Frank Becker: Der Sportler als „moderner Menschentyp“. Entwürfe für eine neue Körperlichkeit in der Weimarer Republik; Stefan Zahlmann: Vom Bonvivant zum Ironman. 100 Jahre Männerkörper in der deutschen Konsumwerbung; Ulrike Thoms: Körperstereotype. Veränderungen in der Bewertung von Schlankheit und Fettleibigkeit in den letzten 200 Jahren; Stefan Zahlmann: Vom Wir zum Ich. Körper und Konfliktkultur im Spielfilm der DDR seit den 1960er Jahren. Susanne Breuss Textil - Körper - Mode. (= Dortmunder Reihe zu kulturanthropologi schen Studien des Textilen). Hg. v. Gabriele MENTGES u. Heide NIX DORFF. Bd. 1 + 2 . Dortmund, edition ebersbach, 2001. 304 + 254 Seiten, s/w-Abb. Seit 1991 besteht an der Universität Dortmund der Studiengang Verglei chende Textilwissenschaft (kulturgeschichtlich), der sich aus kulturanthro pologischer Perspektive mit der textilen Sachkultur beschäftigt. Die 2001 eröffnete Reihe „Textil - Körper - Mode“ möchte den wissenschaftlichen Ertrag dieses Studiengangs der Öffentlichkeit präsentieren, wie Gabriele Mentges, seit 1996 Professorin am Institut für Textilgestaltung und ihre Didaktik/Kulturgeschichte der Textilien, im Vorwort zum ersten Band schreibt. Unter dem Titel „zeit.schnitte“ versammelt dieser erste Band drei Beiträge, die aus Magisterarbeiten von Kerstin Kraft, Heike Willingmann und Heike Jenß hervorgegangen sind. Kraft beschäftigt sich mit der Ge schichte der europäischen Schnittechnik und arbeitet dabei heraus, daß die Kunst des Zuschneidens weit mehr ist als eine handwerkliche Technik. Der Zuschnitt bildet ein wesentliches Fundament der westlichen Kleidungskul tur, ist Bestandteil des neuzeitlichen wissenschaftlichen Denkens und des mit ihm verbundenen Körperbildes und ermöglichte mit der körpermodel lierenden Kleidung vor allem auch die kulturelle Artikulation von Ge schlecht. Der Beitrag von Willingmann ist dem Umgang mit der Vergäng lichkeit von Kleidung, der Einbettung und Verstrickung von Kleidung in persönliche Lebenshorizonte und Lebensgeschichten gewidmet. Jenß unter sucht die Bedeutung von Retro-Looks in Modedesign und Jugendkultur am Beispiel von Tom Ford, Anna Sui und den Mods. In beiden Beiträgen geht es um das Verhältnis von Konsum-Laufzeiten der Mode und individuellen 200 L ite ra tu r d e r V olkskunde Ö Z V L V I/105 Gebrauchszeiten von Kleidung bzw. Rückgriffen in frühere Modezeiten sowie um das Handlungsfeld Modekonsum. Konsum bzw. Konsumption avancierte ca. seit Mitte der 1980er Jahre vor allem im angloamerikanischen Raum zu einem Leitbegriff der kulturwissenschaftlichen Kleidungsfor schung, was nicht zuletzt mit der gestiegenen ökonomischen Bedeutung der Mode- und Textilwirtschaft zusammenhängt. Die explizite Bezugnahme auf solche neueren Konzepte in der Kleidungsforschung macht deutlich, daß sich die Reihe „Textil - Körper - Mode“ weniger den Ansätzen der klassi schen Kostümgeschichte mit ihrer Schwerpunktsetzung auf die Form- und Stilgeschichte der Kleidung verbunden fühlt, sondern Mode vielmehr als Handlungsfeld versteht, in dem die jeweiligen Gestaltungen und Bedeutun gen von den historischen Akteuren und Akteurinnen immer wieder aufs neue verhandelt werden. Ins Blickfeld geraten so „vor allem die Kleidungsträ ger/innen, d.h. die historischen Subjekte mit ihrer zeit- und raumgebunde nen Wahrnehmung und Handlungsmustern mitsamt ihrem phantasmatischen Potential“, wie Mentges in ihrer Einführung zum ersten Band betont. Im jeweiligen zeit- und sozialhistorischen Kontext entfalten sich spezifische Formen des Kleidungsverhaltens und werden mit Bedeutungen belegt. Die Kleidermode gehöre nicht zuletzt auch in den Rahmen einer Kulturgeschich te der Körperlichkeit und der Sinne, da sie als eine auf den Leib zugeschnit tene Sache unmittelbar mit den Trägern und Trägerinnen verbunden ist. Der zweite Band von „Textil - Körper - Mode“ bringt unter dem Titel „Kultische Textilien“ Beiträge über Textilien verschiedenster Provenienz und Zeiten, deren gemeinsame Aspekte in deren vorwiegend kultischem Gebrauch, deren ursprünglicher Verortung im Vorderen Orient und den Methoden ihrer Quellensicherung und -erschließung bestehen. Marion Maier behandelt in ihrem auf ihrer Magisterarbeit basierenden Beitrag Qatal Hüyük und seine Bedeutung für die Textilkultur. Ebenfalls aus einer Magis terarbeit hervorgegangen ist Ina Hoffmanns Analyse von synagogalen Tex tilien im religiösen Kontext. Birgit Sensens Seminararbeit zu HochzeitsBaldachin und Tora-Vorhang aus Berliner Funden versteht sich als „Arbeit am Objekt“ und als Ergänzung zum Beitrag von Hoffmann - beide Arbeiten entstanden am Jüdischen Museum in Berlin. Gleichsam als historischer Brückenpfeiler dient ein weiterer Beitrag von Vera Bendt über „Die Lehre des Judentums und ihre schützende Hülle. Ein Rückblick bis zu den Schrift rollen von Qumran“. Ergänzt wird der Band durch ein Glossar von Vera Bendt und Ina Hoffmann. In der Einleitung erläutert Heide Nixdorff, eine der beiden Herausgeberinnen von „Textil - Körper - Mode“, das textile Medium und seine Bedeutung für die archäologische Forschung. Für die Archäologie treten Textilien immer mehr in den Forschungshorizont. Neue technische Sicherungsmethoden machen die Bergung dieser fragilen Objek 20 0 2 , H e ft 2 L ite ra tu r d e r V o lk sk u n d e 201 te in einem größeren Umfang möglich und im Kontext erweiterter Frage stellungen wird ihre Bedeutung für die Forschung zunehmend als relevant erachtet. Insgesamt hinterlassen diese beiden ersten Bände den Eindruck, daß mit „Textil - Körper - Mode“ eine innovative und anregende Reihe ins Leben gerufen wurde, in der verschiedenste Fragen und Aspekte des Textilen in einem breiten kulturwissenschaftlichen Kontext analysiert und dargestellt werden. Susanne Breuss KESS, Bettina (Hg. im Auftrag der Volkskundlichen Sammlungen der Stiftung Schleswig-Holsteinische Landesmuseen Schloß Gottorf): Ge schenkt! Zur Kulturgeschichte des Schenkens. Begleitbuch zur gleichnami gen Ausstellung in Schleswig vom 9.12.2001 bis 3.3.2002. Heide, Westhol steinische Verlagsanstalt, 2001, 172 Seiten, s/w-Abb. Der Sammel- und Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung in Schloß Gottorf „Geschenkt! Zur Kulturgeschichte des Schenkens“ verbindet gleich mehrere literarische und wissenschaftliche Genres und ist somit für eine breite Gruppe von Lesern von Interesse. Zum einen ist dies ein schön gemachter Bildband, der mit hervorragenden Objektfotografien aufwartet. Zum anderen befriedigt er mit einer Vielzahl verschiedener Beiträge zu allen möglichen Aspekten und Gelegenheiten des Schenkens die Wissbegierde von populärwissenschaftlich an diesem Thema Interessierten. Gleichzeitig handelt es sich aber auch um ein für Kulturwissenschaftler relevantes Buch, da hier die wichtigsten Forschungsansätze zum Thema Schenken abgehan delt, aber auch Analysen von insgesamt 29 Autorinnen und Autoren vorge stellt werden. In „Geschenkt!“ kann sowohl konzentriert gelesen als auch nur geschmökert werden. Das Buch gliedert sich inhaltlich in zwei Teile. Im ersten Themenkom plex sind unter dem Titel „Schenken - ein Kulturphänomen“ sechs in eher wissenschaftlichem Stil gehaltene Aufsätze subsumiert. Im zweiten, dem umfangreicheren Teil werden in insgesamt 32 kürzeren Beiträgen in alpha betischer Reihenfolge „Geschenkanlässe und Geschenktypen“ zum Thema gemacht. Von „Abschiedsgeschenk“ und „Jugendweihe“ über „Muttertag“, „Nikolaus“, „Pralinen“, „Selbstgemachtes“ und „Trinkgeld“ bis zu „Va lentinstag“, „Weihnachten“ und „Werbegeschenk“ reicht die Palette der Stichworte. In seinem Vorwort erläutert Herwig Guratzsch, leitender Direktor der Stiftung Schleswig-Holsteinische Landesmuseen, die Intention des vorlie 202 L ite ra tu r d e r V o lk sk u n d e Ö Z V L V I/105 genden Bandes. Als Museologe, der eine Ausstellung aufbauen möchte, sei man immer wieder auf Geschenke angewiesen, durch die schließlich ein „umfassendes Bild über alle möglichen beruflichen und menschlichen Zu sammenhänge“ entstünde. Der Wandel der Praxis des Schenkens, die Viel falt der Bedeutung des Schenkens, die mit dem Schenken verbundenen Bräuche sowie der Zusammenhang zwischen diesen drei Elementen, stehen, so Guratzsch, im Mittelpunkt von Buch und Ausstellung. Herausgeberin Bettina Keß skizziert in der Einleitung einige der Frage stellungen, zu denen die Autorinnen aus verschiedensten kulturwissen schaftlichen Disziplinen Beiträge geleistet haben. Was wird gewünscht und was zu welchen Anlässen geschenkt? Ist Schenken Last, Stress, Last-minute-Aktion? Welche Geschichte haben die verschiedenen Geschenktermine und -traditionen? Warum schenkt man Blumen am Muttertag? Warum sind es nicht einfach die Eltern, die die Weihnachtsgeschenke unter den Baum legen, sondern müssen es höhere Wesen sein, die uns zu Weihnachten beschenken? Im ersten Teil behandeln Wolfgang Brückner die „Offizielle Geschenk kultur“ und Gabriele Donder-Langer das „Einwickeln und Auspacken“. Mit der juristischen Frage der „Schenkung als Rechtsgeschäft“ beschäftigen sich Susan Emmenegger und Maren Wittzack. Frank Trende gibt in seinem Aufsatz „Wenn Länder schenken“ einen Einblick in die sonst verschlossene Welt der vom Protokoll bestimmten Schenkkultur der hohen Politik aus der Sicht der Schleswig-Holsteinischen Ministerpräsidentin Heide Simonis. Adelheid Schrutka-Rechtenstamm wiederum widmet dem „Schenken ein Kulturphänomen“ grundsätzliche Überlegungen: Das Schenken ist eine rituelle Handlung, für deren Verständnis, wie bei anderen Bräuchen auch, die Kenntnis des dazugehörigen Codes notwendig ist. Kennt man diesen als Schenkender oder Beschenkter nicht, so kann es zu peinlichen Situationen, aber auch „zur Beendigung der Beziehung“ kommen. Das Schenken selbst besteht aus drei Grundelementen, „die sich aus der Übergabesituation, dem Davor und dem Danach zusammensetzen“. Schrutka-Rechtenstamm setzt sich in ihrem Aufsatz nicht nur mit der traditionellen volkskundlichen Sichtweise auseinander, sondern auch mit dem „normativen Charakter des Schenkens“, dem „Geschenk als Beziehungszeichen“ und dessen emotio neller Komponente; sie bietet zugleich einen historischen Abriß des Schen kens und theoretischer Ansätze, in denen Schenk- und Tauschtheorien ver woben sind. Die Beiträge des zweiten Teils sind in Ansatz und Qualität sehr unter schiedlich. Teilweise sind sie sehr konventionell wissenschaftlich und infor mativ gehalten, es gibt aber auch solche wie unter dem Stichwort „Klei dung“ die Ausführungen von Nina Gorgus, die salopp und mit gewisser 20 0 2 , H e ft 2 L ite ra tu r d e r V o lk sk u n d e 203 Leichtigkeit, kurz und prägnant formuliert sind. Diese zwischen drei und vier Seiten langen Aufsätze sind keine Abhandlungen wie jene des ersten Teils, sondern bieten oftmals nur eine Zusammenfassung der Geschichte des jeweiligen Geschenkanlasses oder -typus. Es sollen vor allem Denkanstöße sein in Hinblick auf die vielfältigen Spielarten des Schenkens. Die zahlreichen Fotografien des Bandes sind von hervorragender Quali tät, zumeist aber leider in Schwarz-Weiß gehalten. Dies stört zwar etwas bei Objekten, bei denen Farbenpracht zu vermuten ist, macht aber den Band „Geschenkt!“ um nichts weniger interessant und schön. Sabine-Else Astfalk WOLF, Gabriele: Lesen fü r den Fortschritt. Zur Rezeption von popularer landwirtschaftlicher Fachliteratur in Bulgarien (1878-1944) (= Münchner Beiträge zur Volkskunde, Bd. 28, Wirtschaft und Gesellschaft in Südosteu ropa, hg. von Werner Gumpel, Bd. 15). Münster, New York, München, Berlin, Waxmann, 2001,342 Seiten, 1 Abb. im Text und auf Taf., 21 Tabellen und Statistiken. ISBN 3-8309-10282. Die außerordentlich gut belegte und sorgfältig erarbeitete Münchner Disser tation von 1998 greift ein relativ selten behandeltes Thema auf: populäre Fachliteratur zur Landwirtschaft, leicht faßliche Anleitungen zur Intensivie rung des Anbaus und zur Steigerung der Produktion. In Bulgarien taucht dieses Schrifttum nach der Loslösung vom Osmanischen Reich 1878 auf und wird vorwiegend von politischen und bildungsmäßigen Eliten verfasst und verbreitet, von den Bauern selbst jedoch kaum rezipiert, da die Anal phabetismusquote zu dieser Zeit noch sehr hoch liegt und die Landwirte von der jahrhundertelang geübten Praxis nicht leicht abzubringen sind. So klafft hier eine große Lücke zwischen Zielsetzung und Effektivität dieses Schrift tums; die angestrebte Agrarreform wird dann eigentlich erst vom kommu nistischen System nach 1944 eingeleitet. Die Untersuchung richtet sich demnach nicht sosehr auf die tatsächlichen Auswirkungen auf die landwirt schaftliche Produktion, sondern auf das Schrifttum selbst, das als Untergat tung popularer Literatur verstanden wird. Darauf geht die Einleitung ein (S. llff). Im ersten Kapitel wird die populare landwirtschaftliche Fachliteratur als Gattung nach Begriff und Begriffsverwendung bestimmt sowie der bisherige Forschungsstand für Bulgarien dargelegt (S. 19ff). Das zweite Kapitel widmet sich dann dieser Billigdruck-Literatur selbst: „Die Heftchen und Bücher: eine quantitative Inhaltsanalyse im historischen Kontext Bulgariens vom 19. Jahrhundert bis 204 L ite ra tu r d e r V o lk sk u n d e Ö Z V L V I/105 zum Zweiten Weltkrieg“, wobei die Titel der Unterkapitel die behandelten Gegenstände deutlich vor Augen führen: Die ersten Landwirtschaftsbücher: Zu den historischen Anfängen der landwirtschaftlichen Fachliteratur in Bulgarien (S. 40ff) - von Nachklängen der byzantinischen „geoponika“ (K. Krumbacher, Geschichte der byzantinischen Literatur, München 1897, S. 261ff), besonders aber die im Balkanraum weit verbreiteten „Geoponika“ des kretischen Mönchs Agapios Landos (Venedig 1647) ist hier nichts zu merken; es wird gleich auf die aufklärerische Kalenderliteratur westlicher Provenienz zurückgegriffen, waren doch die bulgarischen Bildungseliten gegen Ende des 19. Jahrhunderts durchwegs „Aufklärer“ Der Gesamtbe stand und die chronologische Entwicklung der populären landwirtschaftli chen Fachliteratur (1883-1944) (S. 50ff), Die Themenbereiche der populä ren Fachliteratur: problem atische1 Themen der bulgarischen Landwirt schaft im Spiegel der Fachliteratur (S. 57ff), sodann Unterkapitel zu den Übersetzungen aufklärerischer Landwirtschaftsliteratur (S. 62ff), zur Ver fügbarkeit der Schriften (Form, Auflage, Zirkulation, Druck und Vertrieb, Preise, S. 73ff), andere Maßnahmen der landwirtschaftlichen .Aufklärung1 (Presse, Beratungsdienste, Schulwesen, S. 96ff). Das dritte Kapitel geht auf die Autoren dieser Literatur ein: Die Zahl der Agrarautoren, ihre Publika tionstätigkeit und ihre Berufsfelder (S. 128ff), Entfernung aus dem bäuerli chen Milieu: gemeinsame Charakteristika in den Lebensläufen der landwirt schaftlichen Schriftsteller im Verlauf von mehreren Generationen (S. 134ff), Wege der Kommunikation: Vorstellung über den .Prozeß der Aufklärung1 der Bauern und die populare landwirtschaftliche Fachliteratur als Medium (S. 148ff), Aspekte der Textgestaltung: zu einigen didaktischen Mitteln (einfache Volkssprache, Brief und Kalender, Fragen und Vergleiche, S. 165ff). Im Gegensatz dazu stellt das vierte Kapitel die Rezeptionsseite dar: „die Leser - die Bauern“, mit Untersuchungen zur Alphabetisierung im ländlichen Raum (S. 185ff), zur wirtschaftlichen und sozialen Lage der bulgarischen Bauern (Haushalt, Produktion, Konsum), zur Diskrepanz zwi schen Autorvorstellungen und sozialer Wirklichkeit: „Imaginäre und .wirk liche1 Bauern: explizite und implizite Vorstellungen der Autoren über ihr Publikum“ (S. 218ff). Letzere Diskrepanz wird zur Gretchenfrage der Ef fektivität, die im fünften Kapitel noch genauer aufgerollt wird: „Argumen tationsstrategien in der populären landwirtschaftlichen Fachliteratur“ (S. 2 3 lff) mit ausgewählten Textbeispielen: „Anbau von Saatwicke11 (S. 238ff), „Geräte der Bodenbearbeitung: Pflug, Egge, Walze“ (S. 250ff), „Anbau der Kartoffel“ (S. 255ff). Auf die relativ geringen Konsequenzen dieser Literatur auf die tatsächlichen Produktionsmethoden geht dann noch einmal das Schlußkapitel ein: „Agrarliteratur und Agrarmodemisierung: zur Bewertung des Mediums .populare landwirtschaftliche Fachliteratur1 im 2002 , H e ft 2 L ite ra tu r d e r V o lkskunde 205 angestrebten Modemisierungsprozeß in Bulgarien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts“ (S. 277ff). Sodann folgt das umfangreiche Literaturverzeichnis (S. 287ff), das Quel lenverzeichnis zur bulgarischen landwirtschaftlichen Fachliteratur (S. 317ff), das Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen (S. 335f) sowie ein englisches summary und ein bulgarisches Resümee (S. 337ff). Register wären vielleicht angebracht gewesen und hätten auch eine selektive Benüt zung des Bandes erlaubt. In jedem Fall ist hier auf mustergültig gründliche und systematische Art und Weise ein in der südosteuropäischen Volkskunde selten behandeltes Thema erfasst: die Modemisierungsprozesse in der Land wirtschaft und ihre „aufklärerische“ Vorgeschichte. Walter Puchner MERAKLIS, Michael G.: T a Jtapap-oBia paq [Unsere Märchen], Athen, Entos-Verlag, 2001, 170 Seiten, ISBN 960-8229-03-0. Im allgemeinen sagt man, ein wissenschaftlich gutes Buch hält etwa 25 Jahre lang, bis es, von der Zeit überrollt und von neuerer Literatur überwuchert, wohl seine Funktion erfüllt habend, ersetzt werden muß. Bei Meraklis dauert es etwas länger: Sein Märchenband, der in Thessaloniki 1973 erschienen ist und lange Jahre vergriffen war, wurde ohne Änderungen von einem Athener Verlag wiederaufgelegt, unter anderem auch Zeichen dafür, wie sehr zur Zeit die Märchen in Griechenland wieder geschätzt werden. Einige Kapitel dieses ansprechenden Büchleins sind inzwischen der deutschsprachigen Leserschaft durch meinen Übersetzungsband (Michael G. Meraklis, Studien zum griechischen Volksmärchen, eingeleitet, übersetzt und bearbeitet von Walter Puchner, Wien 1992, Raabser Märchenreihe 9) bekannt geworden: so Kapitel 1 „Das griechische Märchen“ (S. 15-26, in der neuen griechi schen Ausgabe S. 38-58), Kapitel 6 „Verwandlung und Totenauferstehung als Gattungselemente in der griechischen Volksliteratur“ (S. 81-98, nun S. 110-135), Kapitel 7 „Lieder in griechischen Märchen“ (S. 99-114, nun S. 136-157), Kapitel 8 „Mechanik in Märchen“ (S. 115-124, nun S. 158— 170). Die übrigen Kapitel betreffen 1. „Das Märchen“ (S. 15-37), 2. eine Einführung, 3. „Das Märchen als Gegenstand philologischer Untersu chung“ (S. 59-74, Erstveröffentlichung in Parnassos 13, 1971, S. 521-532), eine Untersuchung über den Rückgang des Märchenerzählens, der die Märchen immer mehr zu philologisch zu untersuchenden Texten macht, 4. „Anmerkungen zum Märchen der Blondhaarigen“ [Rapunzel, Persinette, Petrosinella] (S. 75-109, zuerst in Laografia 21, 1964, S. 443-465), eine 206 L ite ra tu r d e r V o lk sk u n d e Ö Z V L V I/105 Analyse der griechischen Varianten von AaTh 310 mit internationalen Vergleichen und dem Gebrauch der Geschichte in der Hochliteratur (vgl. nun A. Angelopulu - A. Brusku, Ejie^EpYacua 7icxpa|o.'u0iaKcbv'rujtcov K ai TtapaXXaycbv AT 300^199, Athen 1999, 1. Bd., S. 161-181). Zum Liedge brauch in den griechischen Märchen und den Erinnerungsversen von Feren tinos in AaTh 313c vgl. auch M. I. Manusakas/W. Puchner, Die vergessene Braut. Bruchstücke einer unbekannten kretischen Komödie des 17. Jahrhun derts in den griechischen Märchenvarianten vom Typ AaTh 3 13c, Wien 1984 (= Österr. Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse, Sitzungsberich te, 436. Band, Mitteilungen des Instituts für Gegenwartsvolkskunde Nr. 14). In einer kurzen Einleitungsnotiz nach dem Prolog zur ersten Ausgabe weist der Verfasser darauf hin, daß es sein eigener nostalgischer Wunsch gewesen sei, an den Texten auch stilistisch nichts zu ändern. So fehlt auch, wie damals vor fast 30 Jahren, das Inhaltsverzeichnis. Eine fast bibliophile Ausgabe, über die sich der Autor, der in Kürze seinen 70. Geburtstag feiert, freuen mag. Walter Puchner FREY, Andrea: Der Stadtraum in der französischen Malerei 1860-1900. Berlin, Dietrich Reimer Verlag, 1999, 280 Seiten, 97 Abb. ISBN 3-49601194-7. Ein vielversprechender Titel, ein kulinarisches Titelbild: Auf regennasser Strasse, unverkennbar in Paris, flaniert ein elegantes Paar mit aufgespann tem Regenschirm. Auch andere Personen geben sich dem ziellosen Spazier gang hin. Die Straße ist kaum befahren, was auf Sonntag schließen läßt. Hier kündigt sich die Auseinandersetzung mit Alltagen und Freizeiten der modernen Großstadt an, mit den Veränderungen urbaner Erfahrung durch Architektur, Städtebau und neue Öffentlichkeiten. Freilich wirft der zur Debatte stehende Zeitraum eine Frage auf. 1860-1900: Hat nicht die Aus einandersetzung mit der Malerei die damaligen französischen Avantgarden eher aus der Stadt, aufs Land, ins „Exotische“ hinausgeführt? Und ist andererseits der Diskurs um das Urbane in diesem Zeitraum nicht viel deutlicher in anderen kulturellen Terrains verankert, wie der Literatur, der Fotografie, der Populärkultur und den Medien. Am Anfang und am Schluß des Buches gibt Andrea Frey auch zu erken nen, daß der Zusammenhang zwischen der Avantgarde in der Malerei und dem Stadtraum erst hergestellt werden muß: Da werden Baudelaire, Zola und Maupassant als Theoretiker zitiert, die nach einer adäquaten Darstellung 2 0 0 2 , H e ft 2 L ite ra tu r d e r V o lk sk u n d e 207 der neuen städtischen Erfahrungsräume gerufen hätten. Da wird das „Fla neur-Konzept“ bemüht, um eine kunsthistorische Untersuchung zu begrün den, die sich auf das „persönliche Erleben des öffentlichen Stadtraums und der sich dort aufhaltenden Personen“ (S. 15) konzentriert. Im Resümee gibt die Autorin zu bedenken, daß die „Inkunabeln der Stadtdarstellung ... das Bild von Paris zwischen 1860 und 1900 nicht vollständig wiedergeben“ (S. 259). Trotzdem, und das muß man der Arbeit konzedieren, hat Frey, aus der vermeintlich kleinen Schnittmenge zwischen Impressionismus und Stadtbild viel Material herausgeholt und dabei sowohl Bilder, Studien und Skizzen als auch verschiedenste Schriftquellen erfasst. Dabei beschränkt sie sich im wesentlichen auf die Klassiker Edouard Manet, Claude Monet, Auguste Renoir, Edgar Degas, Gustave Caillebotte und Camille Pissarro. Leider sind die etwa 90 Gemälde dieser Maler nicht nur in den Anhang verbannt, sondern auch derart lieblos reproduziert, daß selbst der Begriff Schwarzweißabbildung manchmal unzutreffend ist. Und noch etwas schränkt den Genuß der Lektüre deutlich ein: Die nicht enden wollenden Bildbeschreibungen und die äußerst umständliche Sprache. Bei manchen halbseitigen Satzungetümen ist kaum noch zu unterscheiden, ob es sich hier um gute, bloß verschüttete Gedanken oder um aufgeblasene Gemeinplätze handelt. Soviel also ist dem Buch zu entnehmen: Noch vor 1850 hatten sich Stadtbeschreibungen von Paris bemüht, durch Typisierungen „eine klare Ordnung innerhalb der städtischen Gesellschaft herzustellen“ (S. 28). Noch war die Stadt sozial durchmischt, und das Spiel mit Identitäten vergleichs weise vergnüglich. Mit der stadträumlichen Neuordnung von Paris unter Haussmann, durch die Trennung von privaten und öffentlichen Räumen, durch die Vereinheit lichung des Straßenbildes und die konsequente soziale Entmischung wurde der zusammenfassende Blick unmöglich. Nur mehr altmodische Maler hätten dann noch versucht, die Öffentlichkeit der Boulevards in überschau bare Szenen zu gliedern und Vertrautheiten ins Bild zu schummeln, die so nicht mehr erlebbar waren. Die Maler der Moderne hingegen mußten neue Mittel entwickeln, um das Urbane zu identifizieren und zu interpretieren. Manet etwa hatte die Stadt als Austragungsort sozialer und politischer Ereignisse thematisiert, Monet dagegen die malerischen Qualitäten des neuen Straßenraums, die Vielfalt der „weiten städtischen Landschaft“, die „zufälligen Bewegungen“ nicht mehr zu identifizierender Menschenmen gen (S. 80). Der Stadtraum wird bei ihm zum Anlaß, sich von Motivmustern und Genres herkömmlicher Stadtdarstellung zu lösen. Edgar Degas’ Porträts zeigen, wie Individualität sich aus der großstädtischen Menschenmasse konstituierte und der Stadtraum auch in kleinsten Ausschnitten den gesam 208 L ite ra tu r d e r V o lk sk u n d e Ö Z V L V I/105 ten urbanen Kontext vermitteln konnte. Renoir wiederum untersuchte die Stadt als „Freizeit und Kulturraum“ (S. 99) und sei trotz seiner Kritik an der zeitgenössischen Architektur und einer recht arroganten Haltung gegenüber den Massen, zu einer „positiven Interpretation“ des modernen öffentlichen Raumes gekommen, die - wie Frey postuliert - „eng mit der Darstellung der Frau verknüpft“ wäre (S. 118). Leider bleibt Frey gerade bei solchen Überlegungen meist auf der Ebene eines deskriptiven Befundes, ohne quel lenkritisch - und auch Meisterwerke dürfen in so einem Zusammenhang quellenkritisch untersucht werden - die Widersprüche aufzuzeigen, etwa zwischen Großstadt-Neugier und anti-urbanen Reflexen sowie daraus ab leitbaren künstlerischen Schlußfolgerungen. Gerade die Verfahren impres sionistischer Maler wären da im Vergleich mit anderen Methoden der Stadttopographie auf politische und soziale Haltungen zu untersuchen. Mit Schlagworten wie jenen von der „alltäglichen Vereinzelung und Beziehungslosigkeit“ oder dem „auf sich selbst zurückgeworfenen Individuum“ (S. 189) ist das noch nicht getan. Schade daß Verlag, Lektor oder Disserta tionsbetreuer die Autorin nach ihren verdienstvollen Recherchen nicht bei der Straffung des Materials und Steuerung der Gedanken unterstützt haben. Es hätte ein interessantes Buch werden können. Christian Rapp 2 0 0 2 , H e ft 2 B u ch a n z e ig e n 209 Buchanzeigen PAOLI, Betty: Was hat der Geist denn wohl gemein mit dem Geschlecht? Hg. u. eingeleitet v. Eva GEBER, mit einem Essay v. Karin S. WOZONIG. Wien, Mandelbaum, 2001, 202 Seiten, 7 Abb., ISBN 3-85476-050-7. Dieses Büchlein von und über Betty Paoli (1814-1894), eine in der Gegen wart leider in Vergessenheit geratene Dichterin, Schriftstellerin, Journalistin und Feuilletonistin, gliedert sich in einen kürzeren wissenschaftlichen Teil und einen längeren, mit Originaltexten der in Wien geborenen und in Baden verstorbenen Barbara Elisabeth Glück, die ab 1841 unter dem Pseudonym Betty Paoli veröffentlichte. Die wissenschaftliche Bearbeitung stammt zum einen von Eva Geber, der Herausgeberin, die sich mit Biographie und Persönlichkeit sowie dem Freundeskreis und dem Lebensumfeld, aber auch dem schriftstellerischen Wirken bis hin zum Schreibstil (und dessen Analyse) jener bemerkenswer ten Frau befasst; zum anderen von Karin S. Wozonig, die sich deren journalistischer Arbeit widmet und der wir eine den Schluß des Bandes bildende Bibliographie Paolis verdanken. Sowohl Geber als auch Wozonig (die 1999 ein Buch über Paoli veröffentlicht hat) kommt das große Verdienst zu, Leben und Werk einer außergewöhnlichen Persönlichkeit sozusagen dem „Dornröschenschlaf1entrissen zu haben. Im zweiten, längeren Abschnitt kommt „die Paoli“ - war sie doch zu Lebzeiten eine allseits bekannte, von einigen jedoch auch mißverstandene, wenn nicht gar angefeindete Person - mit fünf Feuilletons (vier davon aus der Neuen Freien Presse), etlichen Rezensionen und einem ausführlichen Nachruf auf die 1866 verstorbene Schauspielerin Julie Rettich selbst zu Wort. Diesen Teil hätte man sich durchaus umfangreicher gewünscht; hat man nämlich Betty Paolis Texte im „Originalton“ gelesen, so möchte man mehr davon. Es ist erstaunlich, ja verblüffend, derlei „modernes“ Gedan kengut, verbunden mit - besonders für die damalige Zeit - revolutionären Forderungen, in solch kluger Argumentation kennenlemen zu können - auf hohem sprachlichen Niveau verfasst von einer Frau des 19. Jahrhunderts, einer Zeit, in der man im allgemeinen den Standpunkt vertrat, daß Frauen und Bildung bzw. Politik schlichtweg nichts miteinander zu tun hätten, daß Frauen in der Öffentlichkeit nicht auftreten, geschweige denn eine eigene Meinung äußern sollten. Paolis Essays gewähren tiefe Einblicke in die soziale Lebenswelt jener Epoche, in Prozesse, welche die beginnende Industrialisierung und Urbani sierung (verbunden mit damit einhergehender Pauperisierung breiter Bevöl kerungsschichten) mit sich brachten. Besonders am Herzen lag ihr aber das 210 B u c h a n z e ig en Ö Z V L V I/105 Schicksal der Mädchen und Frauen; sie setzte sich vehement für deren Schulung und Bildung ein, da gerade sie es waren, die einerseits unter den oben angesprochenen Umwälzungen und Veränderungen zu leiden hatten, die andererseits noch in das enge Korsett des durch die Verhaltensetikette der gehobenen Gesellschaftsschichten geprägten geschlechtsspezifischen Rollenverhaltens geschnürt waren. Insgesamt handelt es sich bei dem vorliegenden Bändchen um ein höchst lesenswertes Werk, das - vor allem durch die Originaltexte - neugierig, aber auch deutlich macht, daß so manche der darin geschilderten Mißstände und Mißverständnisse (besonders was soziale und geschlechtsbezogene Fragen betrifft) immer noch - mehr oder minder geheim - weiterbestehen, daß etliche Probleme keineswegs gelöst sind (siehe: neue Armut, Sozialdumping etc.). Es handelt sich bei dem vorliegenden Buch somit um ein Werk, das durchaus Bezüge zur Gegenwart aufweist und welches gerade Frauen - das Beispiel von Betty Paoli vor Augen - auch heutzutage Mut machen sollte, den Kampf um soziale Gerechtigkeit nicht aus den Augen zu verlieren. (EB) KUCHEN, Elsbeth, Kaba ROESSLER (Hg.): Foto Schönwetter Glarus. Fotografien und 16-mm-Filme aus dem Nachlass Schönwetter 1897-1996. Näfels - Zürich, Museum des Landes Glarus - Limmat, 2001, 144 Seiten, zahlreiche Abb. Der Fotograf Johann Baptist Schönwetter (1875-1954) war nach Wander jahren Ende des 19. Jahrhunderts nach Glarus gekommen und hatte hier 1903 ein Fotogeschäft übernommen, das in den folgenden Jahrzehnten kontinuierlich ausgebaut und erweitert wurde. Ab 1935 leitete sein Sohn Hans Jakob Schönwetter (1906-1997) die Firma und später auch den ange schlossenen Ansichtskartenverlag, die er bis 1975, letzteren sogar bis 1986 weiterführte. Das gesamte Archiv des Fotohauses Schönwetter kam 1996 als Schen kung an das Museum des Landes Glarus: weit über eine halbe Million Negative, Abzüge, Postkarten und Lichtbilder, dazu mehr als 250 16-mmFilme, weiters Filme im 8-mm-Format sowie Tonaufnahmen und umfang reiche Geschäftsunterlagen. Diese breit gefächerte kantonale Sammlung (mit einer Fülle von Porträts und Aufnahmen zu den Bereichen Landschaften und Orte, Baudenkmäler und zeitgenössische Architektur, Verkehr und Industrie, Arbeitswelt und Freizeit, regionale Politik und Militär) wurde in der Folge nach Sachbereichen geordnet und zum Teil EDV-mäßig inventa risiert. Aus dem umfangreichen Material gestalteten die beiden Kuratorin- 2 0 0 2 , H e ft 2 B u ch a n z e ig e n 211 nen E. Kuchen und K. Roessler eine vom Juni 2000 bis November 2001 im Freulerpalast Näfels, dem Glarner Museum, gezeigte Ausstellung, anläßlich derer auch von zwölf Filmen des jüngeren Schönwetter neue und zur Vorführung geeignete Kopien gezogen wurden. Das vorliegende Begleitbuch, von den Gestalterinnen herausgegeben, vermag ebenso wie die Ausstellung die thematische Vielfalt der Sammlung Schönwetter einigermaßen repräsentativ anzudeuten und vermittelt außer der von den Herausgeberinnen genannten „Stimmung“ auch einen Eindruck von der Qualität der Aufnahmen und der Gestaltungskraft der Fotografie renden. Kurze Textbeiträge verschiedener Autorinnen und Autoren bilden eine informative Ergänzung: man erfährt etwas über den Archivbestand, die Familien- und Firmengeschichte, den Stellenwert der Filme. Man liest mit Interesse die Titel von Filmen und Tonbändern und einen kurzen Aufsatz zur Bedeutung der Dorffotografen. Diese „Laudatio“, verfasst von Paul Hugger (den man wohl als Pionier der diesbezüglichen volkskundlichen Forschung bezeichnen darf), verweist auf den hohen Quellenwert der Aufnahmen, die notwendige Vielseitigkeit der Fotografen, die lokalen Möglichkeiten des Bildangebotes, den Einfluß des professionellen Fotografierens auf damit in Zusammenhang stehende Rituale und Posen sowie die Auswirkungen auf die Amteurfotografie. Hugger sieht gerade in den „Dorffotografen“ ein wichtiges Bindeglied zur „Moderne“ (in der der Sehsinn dominiert); er nennt den von der Wissenschaft lange verkannten bzw. ignorierten und inzwischen zumindest punktuell entdeckten Berufsfotografen „kulturprä gend“ und äußert die Überzeugung und Einsicht, „dass solchen lokalen Fotografen eine grosse Bedeutung als Dokumentaristen und als Vermittler einer ästhetischen Kultur und gesellschaftlicher Haltungen zukommt“ (S. 53). Der hier anzuzeigende schöne und aufwendig gestaltete Band beweist diesen Satz nachdrücklich und stellt einen weiteren Anstoß zur intensiven Beschäftigung mit diesem Thema dar. (OB) MIHM, Andrea: Packend ... Eine Kulturgeschichte des Reisekoffers. Marburg, Jonas-Verlag, 2001, 128 Seiten. Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erzählen. Andrea Mihm läßt Koffer sprechen: bürgerliches Reisegepäck, Schrankkoffer, Urlaubskoffer, und die letzten Koffer jüdischer Verfolgter. Texte über letztere nehmen rund ein Zehntel des Buches ein. Interessant und hübsch im Layout wird die Kulturgeschichte des Koffers von der Gesindetruhe bis zum Business-Ge 212 B u ch a n z e ig en Ö Z V L V I/105 päck 2001 ausgepackt. Am Anfang war die Truhe, im 19. Jahrhundert „Heimstatt“ der Knechte und Mägde, Massenprodukt und Exportware dar auf spezialisierter Thüringer Tischler. Allein 1838 wurden 1960 Zentner davon ausgeführt. Für männliche und weibliche Dienstboten, die häufig ihre Arbeitsstätte wechselten, war das, was diese Truhen umschlossen, der ein zige persönliche Besitz, ein Stück Heimat, Reisebegleiter und Erinnerungs zeichen. Das Schicksal ihrer Besitzer schien vorgezeichnet. Das Auswande rergepäck derer, die in Amerika Ende des 19. Jahrhunderts eine neue Exis tenz suchten, war dagegen „Hoffnungsträger“. Ein großes Kapitel widmet sich der Entwicklung des Reisegepäcks, vom Handwerk zur Fabrikation, von den anfangs speziellen Formen für bestimmte Gegenstände (der Pick nickkoffer mit einem fixen Platz für jeden Teil erinnert noch daran) bis zu Auto- und Fahrradgepäck. Der Gepäckhersteller Louis Vuitton, dessen „Monogramm Canvas“ bis heute Exklusivität garantiert, war im Erstberuf Kofferpacker. Als professioneller Dienstleister, den Adelige und Bürger engagierten, kannte er die Bedürfnisse der Reisenden aus erster Hand. Für Filmstars wurde der Schrankkoffer zum Lebenssymbol, das Hotel zur Hei mat. Das stellt Andrea Mihm am Beispiel von Marlene Dietrich vor. Der Koffer, ein Gegenstand der Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges in sich vereint, ist, so die Autorin, „der Inbegriff des Reisens“. (HMW) KÖCK, Christoph (Hg.): Reisebilder. Produktion und Reproduktion tou ristischer Wahrnehmung. (= Münchner Beiträge zur Volkskunde, Band 29). Münster, New York, München, Berlin, Waxmann-Verlag, 2001, 242 Seiten, 50 s/w-Abb. Bevor man aber den Koffer packt, hat man sich ein Bild vom Ziel gemacht. Der Faszination der Reisebilder widmet sich ein Sammelband, dem die 5. Arbeitstagung der Kommission Tourismusforschung in der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde (München 1999) zugrunde liegt. 17 historisch orientierte und gegenwartsbezogene Beiträge verdeutlichen das volkskund liche und kulturwissenschaftliche Interesse an Fragen der visuellen Anthro pologie im modernen Alltag; es geht um Leitbilder touristischer Wahrneh mung, Produktion und Transformation von Reisebildem, „Das Authenti sche“ in touristischen Bildern, Rituale touristischer Wahrnehmung. Der Münchner Kulturwissenschaftler Helge Gerndt verfasste das grund legende Einleitungskapitel und umreisst den Forschungsgegenstand: „Das Zusammenspiel von Innen-und Außenbildem, von inneren und äußeren Erfahrungen der „gewöhnlichen Leute“ repräsentiert jenes lebensgesättigte 2 0 0 2 , H e ft 2 B u ch a n z e ig e n 213 Weltverstehen größerer Bevölkerungsgruppen, dem das Erkenntnisinteresse der Volkskunde gilt.“ (S. 11). Zu Beginn des zweiten Teils des Bandes befasst sich Karlheinz Wähler mit der Wirklichkeitskonstruktion von Reisebildem: Reisebilder sind Surrogate, entleert und entzeitlicht. In der Tou rismuswerbung abgebildete Gäste sollen der Identifikation dienen, „und zum anderen präsentieren die Bilder dem Touristen dienende und/oder ihm zur Anschauung freigegebene Einheimische.... Man mag Werbebilder als belustigend empfinden; sie kommen bei den Reisenden an, weil sie sich in diesen Bildern wiederfinden.“ In Teil drei stellt Ulla Siebert, zu deren Arbeitsschwerpunkten die Frauenreiseforschung zählt, Wahrheit und Au thentizität weiblicher Reiseerinnerungen vor. Der Erfurter Soziologe und Volkskundler Ronald Lutz hingegen schildert die (zumeist männlichen) „Duelle mit der Natur“, in deren Verlauf Erlebnisurlauber, die extreme Sportarten bevorzugen, oft den Kürzeren ziehen. Den Anfang von Teil vier macht der Tübinger Kulturwissenschaftler Friedemann Schmoll. Sein The ma ist ein ebenso Unübersehbares wie Symbolisches: der Aussichtsturm. Was sich von der hohen Warte alles sehen und bedenken lässt, reicht von bloßer Naturbeobachtung bis hin zu patriotischen Phantasien. Schmoll be nennt mit „Panorama“ ein Schlüsselwort des 19. Jahrhunderts. Es könnte auch als Motto über diesem Band der Münchner Beiträge zur Volkskunde stehen, der Blicke auf ein selten beackertes Forschungsfeld freigibt und den weiten Horizont des Faches erkennen lässt. (HMW) Neuerscheinung Martin BOTTESCH, Franz GRIESHOFER, Wilfried SCHABUS (Hg.) Die Siebenbürgischen Landler. Eine Spurensicherung. Unter Mitarbeit von Monika HABERSOHN und Lore Lotte HASSFURTHER. Wien, Böhlau, 2002. 2 Bände, insges. 1.088 Seiten, 20 SW und 24 Farbabb. Pläne. Format 17 x 24, ISBN 3-205-99415-9 Ihre fluchtartige Auswanderung aus Rumänien hat sie zuletzt wieder ins Blickfeld gerückt: Die Landler, jene aus Österreich stammenden Protestanten, die man vor bald 270 Jahren nach Siebenbürgen „transmigrierte“, um sie dort ihren siebenbürgisch-sächsischen Glaubensge nossen zu überantworten. Doch trotz der durch engste innerdörfliche Nachbarschaft bedingten Durchmischung mit diesen haben die Land ler bis zuletzt an ihrer altösterreichischen Identität festgehalten, so dass Dialekt- und Bekleidungsschranken oft quer durch die Verwandt schaft gehen. Diesem Phänomen spürt der Sammelband in 25 Beiträ gen innerhalb der Kapitel Geschichte und Integration, Identität und Kulturaustausch, Siedlung und Wirtschaft, Kirche und Gesellschaft, Biographie und Schicksal, Begegnung und Bewahrung, nach. Unter Berücksichtigung der Einbettung der Landler in die multiethnische Nachbarschaft von Roma und Rumänen entstand ein lebendiges Por trät dieser infolge von religiöser Intoleranz einst vertriebenen Men schen, deren weiteres Schicksal bis zu seiner Einmündung in das gegenwärtige Migrationsgeschehen nachgezeichnet wird. Zu beziehen über den Buchhandel oder direkt bei Böhlau Wien, Sachsenplatz 4-6, A-1201 Wien, Tel. +43/1/330 24 27-0, Fax +43/1/330 24 32, e-mail: boehlau@boehlau.at, http://www.boehlau.at Subskriptionspreis bis 30.6.2002 EURO 99,- (ATS 1.365,-), späterer Ladenpreis EURO 169,- (ATS 2.325,-). Österreichische Zeitschrift fü r Volkskunde Bond LVI/105, Wien 2002, 215-222 Eingelangte Literatur: Frühjahr 2002 Verzeichnet finden sich hier volkskundliche Veröffentlichungen, die als Rezensionsexemplare, im Wege des Schriftentausches und durch Ankauf bei der Redaktion der Österreichischen Zeitschrift für Volkskunde eingelangt und in die Bibliothek des Österreichischen Museums für Volkskunde aufge nommen worden sind. Die Schriftleitung behält sich vor, in den kommenden Heften die zur Rezension eingesandten Veröffentlichungen zu besprechen. Abrahamian Levon, Nancy Sweezy (Ed.), Armenian Folk Arts, Culture, and Identity. Bloomington/Indianapolis, Indiana University Press, 2001, 312 Seiten, Abb. ISBN 0-253-33704-6. Altdeutsches Namenbuch. Die Überlieferung der Ortsnamen in Öster reich und Südtirol von den Anfängen bis 1200. Herausgegeben vom Institut für Österreichische Dialekt- und Namenlexika (vormals Kommission für Mundartkunde und Namenforschung). Bearbeitet von Helen Bito, Isolde Hausner und Elisabeth Schuster. 13. Lieferung: Salzburg [Fortsetzung] Sittendorf. Wien, Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaf ten, 2002, S. 937-1016. ISBN 3-7001-3061-9. Beinsteiner-Krall Gertrud, Weihnachten in der Tiroler Wandmalerei. (= Tiroler Kulturgüter). Innsbruck/Wien, Tyrolia-Verlag, 2001, 96 Seiten, Abb., Karte. ISBN 3-7022-2399-1. Beitl Klaus, Erkundung von Ländernachbarschaften. (Volkskunde- und Sprachatlanten als Wegbegleiter). Sonderdruck aus: O. Danglovâ, R. Stolicnâ (Ed.), Etnolögia. Akultürne dedicstvo. Zbornlk venovany jubileu Soni Kovacevicovej. Bratislava, Üstav etnologie SAV, 2001, S. 46-55. Björk Tomas, August Malmström. Grindslantens mâlare och 1800-talets bildvärld. (= Nordiska museets Handlingar, 124). Stockholm, Nordiska museets förlag, 1997, 384 Seiten, Abb. Blöchl Arnold, Melodiarium zu Wilhelm Paillers Weihnachts- und Krip penliedersammlung herausgegeben in den Jahren 1881 und 1883. Unter Mitarbeit von Annemarie Gschwantler, Iris Mochar-Kircher und Walter Deutsch sowie Dagmar Blöchl und Romana Weixlbaumer. Herausgegeben vom Oberösterreichischen Volksliedwerk. (= Corpus musicae popularis Austriacae, 13/Teil 2; Volksmusik in Oberösterreich). Wien/Köln/Weimar, Böhlau Verlag, 2001, S. 649-1312, Abb., Noten. ISBN 3-205-99475-2. 216 E in g e la n g te L ite ra tu r: F rü h ja h r 2002 Ö Z V L V I/105 Bönsch Annemarie, Formengeschichte europäischer Kleidung. (= Kon servierungswissenschaft, Restaurierung, Technologie, 1). Wien/Köln/Wei mar, Böhlau, 2001, 373 Seiten, Abb. ISBN 3-205-99341-1. Bulitta Brigitte, Zur Herkunft und Geschichte von Spielbezeichnungen. Untersuchungen am Beispiel traditioneller Bewegungsspiele. (= Schriften der Brüder Grimm-Gesellschaft, 29). Kassel, Brüder Grimm-Gesellschaft e.V., 2000, 433 Seiten, Abb. ISBN 3-929633-49-3. Csâky Moritz, Peter Stachel (Hg.), Speicher des Gedächtnisses. Biblio theken, Museen, Archive. 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Nebehay Ingo, Robert Wagner, Bibliographie altösterreichischer An sichtenwerke aus fünf Jahrhunderten. Die Monarchie in der topographischen Druckgraphik von der Schedel’schen Weltchronik bis zum Aufkommen der Photographie. 2. Nachtrag A-Z. Mit weiteren Ergänzungen und Korrektu ren. Mit einem Ortsregister, Verzeichnis der Maler, Stecher und Lithogra phen, Verleger und Drucker sowie einem zusätzlichen Register der Ansich ten des I. Wiener Bezirkes. Graz, Akademische Druck- u. Verlagsanstalt, 1991, VIII, 247 Seiten, Abb. a. 1 Tafel, Nummer 1001-1195. ISBN 3-20101553-9. Nußbaumer Thomas, Alfred Quellmalz und seine Südtiroler Feldfor schungen (1940— 42). Eine Studie zur musikalischen Volkskunde unter dem Nationalsozialismus. (= Bibliotheca Musicologica, Tirolensia, 6). Inns bruck/Wien/München, Studienverlag und Lucca, Libreria Musicale Italiana, 2001, 390 Seiten, Abb. ISBN 3-7065-1517-2. ORF Landesstudio Salzburg, Salzburger Volksliedwerk (Hg.), Weih nachtslieder schenken. 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Konstanz, UVK-Verl.-Ges., 2001, 582 Seiten, Abb. ISBN 3-89669-810-9 (Aus dem Inhalt: Christoph DaxelmüIIer, Pessach und Michelangelo. Ein jüdischer Humanist aus Deutschland im Italien der frühen Neuzeit. 23-41; Bernd Jürgen Warneken, Negative Assimilation. Der Volkskundler und Ethnologe Friedrich Salomo Krauss. 149-169; Klaus Beitl, Eugenie Gold stern (1884-1942). Verlobungs-, Hochzeits- und Bestattungsbräuche in der Maurienne (Savoyen), Frühling/Sommer 1914. Hinterlassene Schriften be arbeitet und „restituiert“. 171-197; Konrad Köstlin, Versuchte Erdung. Oder: Der „jüdische Beitrag“ zur Wiener Kultur. 451-466; Nina Gorgus, Paris, rue des Rosiers. Von Erinnerung und jüdischer Folklore. 511-525; Hermann Bausinger, Über das Einwurzeln. 567-579). Rasche Adelheid (Hg.), Varieté und Revue. Der Kostümbildner und Kostümsammler William Budzinski, 1875-1950. Mit Beiträgen von Heike Stange, Gesine Schulz-Berlekamp. Katalog zur gemeinsamen Ausstellung der Kunstbibliothek, des Kunstgewerbemuseums und des Museums für Volkskunde der Staatlichen Museen zu Berlin. (= Sammlungskatalog der Kunstbibliothek, Lipperheidesche Kostümbibliothek, 143) Berlin, Staatli che Museen zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, 1999, 132 Seiten, Abb. ISBN 3-88609-202-X. Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte. Herausgegeben vom Zentralinstitut für Kunstgeschichte München. Lieferung 106: Fleuronné Flocktapete. München, Zentralinstitut für Kunstgeschichte in Kommission bei der C. H. Beck’schen Verlagsbuchhandlung München, 1997, Spalten 1153-1280, Abb. Richner Barbara, Plattenberger, Bätsch und Lager. Die erinnerte Schie ferindustrie von Engi/Glarus. (= Zürcher Beiträge zur Alltagskultur, 10). Zürich, Volkskundliches Seminar der Universität Zürich, 2001, 178 Seiten, Abb. ISBN 3-9521084-9-9. Rigotti Francesca, Philosophie in der Küche. Kleine Kritik der kulina rischen Vernunft. München, C. H. Beck, 2002, 125 Seiten, 111. 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Zvezek/Josephinische Landesaufnahme 1763-1787 für das Gebiet der Republik Slowenien, Karten, 2. Band. Ljubljana, Znanstvenoraziskovalni center Slovenske akademije znanosti in umetnosti/Arhiv Republike Slovenije, 1996, 19 Karten. Slovenija na vojaskem zemljevidu 1763-1787, Karte. 7. Zvezek/Josephinische Landesaufnahme 1763-1787 für das Gebiet der Republik Slowenien, Karten, 7. Band. Ljubljana, Znanstvenoraziskovalni center Slovenske akademije znanosti in umetnosti/Arhiv Republike Slovenije, 2001, 19 Kalten. Slovenija na vojaskem zemljevidu 1763-1787, Opisi. 2. Zvezek/Josephinische Landesaufnahme 1763-1787 für das Gebiet der Republik Slowe nien, Landesbeschreibung. 2. Band. Sekcije-Sektionen: 189-191, 201-205, 212-216, 219, 220. Ljubljana, Znanstvenoraziskovalni center Slovenske akademije znanosti in umetnosti/Arhiv Republike Slovenije, 1996, XXXVI, 328 Seiten, Karten. Slovenija na vojaskem zemljevidu 1763-1787, Opisi. 7. Zvezek/Josephinische Landesaufnahme 1763-1787 für das Gebiet der Republik Slowe nien, Landesbeschreibung. 7. Band. Sekcije - Sektionen: 1-6, 1-7, 1-8, 11-10,11-11,11-12,11-13, III—13,111-14. Ljubljana, Znanstvenoraziskovalni center Slovenske akademije znanosti in umetnosti/Arhiv Republike Slove nije, 2001, XLVI, 132 Seiten, Karten. 222 E in g e la n g te L iteratu r: F rü h ja h r 2002 Ö Z V L V I/105 Solly M artin, Die Italiener pauschal. 19.-21. Tausend. (= Fischer Tb, 13395). Frankfurt am Main, Fischer, 1998, 109 Seiten. ISBN 3-596-13395-5. Sonnleitner Berti, Herrenhäuser in der Eisenwurzen. Kulturelles Erbe einer Region. St. Pölten/Wien/Linz, Landesverlag, 2001, 199 Seiten, Abb. ISBN 3-85214-760-3. Theißen Peter, Mühlen im Münsterland. Der Einsatz von Wasser- und Windmühlen im Oberstift Münster vom Ausgang des Mittelalters bis zur Säkularisation (1803). (= Beiträge zur Volkskultur in Nordwestdeutschland, 101, Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen XXIIA, 13). Münster/New York/München/Berlin, Waxmann, 2001, 576 Seiten, Abb., Tab. Faltblätter im Anhang, 7 Faltkarten beigelegt. ISBN 3-89325900-7. Tlusty Ann B., Bacchus and Civic Order. The Culture of Drink in Early Modern Germany. (= Studies in Early Modern German History). Charlottesville/London, University Press of Virginia, 2001, XII, 288 Seiten, Abb. ISBN 0-8139-2045-0. Tober Barbara, Untersuchungen auf dem Kaiser-Josef-Platz in Wels 1993. (= Quellen und Darstellungen zur Geschichte von Wels. Sonderreihe zum Jahrbuch des Museal vereines Wels, 7). Wels, Musealverein Wels, 2001, 332 Seiten, Abb., Tab., Abb. a. 42 Tafeln, 1 Faltplan. Watteck Arno, Ausstellung: Amulette, Talismane, Glücksbringer. Tamsweg, Eigenverlag, 2001, 30 Seiten, Abb. Wertheimer Jürgen, Peter V. Zima (Hg.), Strategien der Verdummung. Infantilisierung in der Fun-Gesellschaft. (= Beck’sche Reihe, 1423). Mün chen, Beck, 2001, 168 Seiten. ISBN 3-406-45963-3. Wörterbuch der Bairischen Mundarten in Österreich (WBÖ). 35. Lieferung (3. Lieferung des 5. Bandes): treiben - (Dach)tropfen. (= Baye risch-Österreichisches Wörterbuch: I. Österreich). Wien, Verlag der Öster reichischen Akademie der Wissenschaften, 2002, Spalte 385-576. ISBN 3-7001-3058-9. Yapp Nick, Michel Syrett, Die Franzosen pauschal. 5. Auflage. (= Fi scher Tb, 13393). Frankfurt am Main, Fischer, 1998, 122 Seiten. ISBN 3-596-13393-9. Zimmermann Harm-Peer, Ästhetische Aufklärung. Zur Revision der Romantik in volkskundlicher Absicht. Würzburg, Königshausen & Neu mann, 2001, 647 Seiten. ISBN 3-8260-1771-4. Verzeichnis der M itarbeiter Mag. Sabine-Else Astfalk Bahnstraße 47/10 A -7000 Eisenstadt M ag. Dr. Elisabeth Bockhorn A grarpädagogische Akademie A ngerm ayerstraße 1 A -1130 Wien Ao. Univ.-Prof. Dr. O laf Bockhorn Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien H anuschgasse 3 A -1010 Wien M ag. Susanne Breuss G eorg-Sigl-Gasse 11/23 A -1090 Wien Dr. Wolfgang Gürtler Burgenländisches Landesmuseum M useum straße 5 A -7000 Eisenstadt Univ.-Prof. Dr. Ueli Gyr Volkskundliches Seminar der Universität Zürich Zeltweg 67 CH-8032 Zürich Univ.-Ass. Mag. Oliver Haid Institut für Europäische Ethnologie/Volkskunde Universität Innsbruck Innrain 52 A-6020 Innsbruck Mag. Susanna Hofmann A lbrechtstraße 77 A -3400 Klosterneuburg Dr. Susanne Hose Sorbisches Institut e.V. Bahnhofstraße 6 D-02625 Bautzen H ermann F. H ummer Österreichisches M useum für Volkskunde Laudongasse 15-19 A -1080 Wien Elisabeth Kreuzwieser Zentagasse 31/8 A -1050 Wien M ag. N ikola Langreiter Große Sperlgasse 37a/21 A -1020 Wien a.o. Univ.-Prof. Dr. Klara Löffler Institut für Europäische Ethnologie der U niversität Wien H anuschgasse 3/4 A -1010 Wien Dr. Petr Lozoviuk U stav etnologie FF UK Celetnâ 20 CZ-116 42 Praha 1 Dr. Thomas Nußbaumer Abteilung für M usikalische Volkskunde Institut für M usikwissenschaft fächerübergreifende Forschung und Lehre Universität M ozarteum Salzburg Innrain 15 A -6020 Innsbruck Univ.-Prof. Dr. W alter Puchner Soutani 19 G R -10682 Athen Dr. Christian Rapp Kaasgrabengasse 22 A A-1190 Wien Mag. Dr. B ernd Rieken Webergasse 25/21 A -1200 Wien M ag. Christian Stadelmann H ainfelderstraße 47 A-3040 Neulengbach Dr. H elga M aria W olf Hardtgasse 7/25 A-1190 Wien Österreichische Zeitschrift fü r Volkskunde Band LVI/105 ,Wien 2002, 225-226 Leopold Kretzenbacher zum 90. Geburtstag „U n ter ständiger M itarbeit von Leopold K retzenbacher“ : Seit 1987 scheint im Im pressum der Ö sterreichischen Z eitschrift für Volkskun de vier M al im Jahr dieser Vermerk auf. G erechtfertigt und angem es sen w äre ein solcher H inw eis bereits vor 40 Jahren gew esen. D enn 1947, als L eopold Schm idt m it dem 50. B and der Z eitschrift und dem ersten H eft nach dem K rieg die N um m er I der N euen Serie begrün dete, w ar der gleichaltrige K ollege und spätere Freund Leopold K retzenbacher gleich von A nfang an m it dabei: m it einem A ufsatz zum barocken Form w andel eines R enaissancethem as und dessen Fortleben im Volksschauspiel und m it einer R ezension eines schön geistigen B ändchens von Hanns Koren. M it diesem B eitrag w ar ein H auptthem a angeschlagen, das Volksschauspiel, w elches die beiden G elehrten au f ihrem gesam ten gem einsam en Weg begleitete. Seit diesem N eubeginn der Ö sterreichischen Volkskunde nach dem K rieg verging kaum ein Jahr, in w elchem der N am e L eopold K ret zenbacher in der Ö sterreichischen Z eitschrift für Volkskunde nicht als A utor präsent war. Ein bis zwei stattliche A ufsätze w aren es jedes Jahr, verschiedene B erichte über K ongresse, A usstellungen oder „W andertagungen“ und -exkursionen - ein G enre für das der Jubilar exklusive B erühm theit erlangte - , aber auch N ekrologe auf K ollegen und F reunde - in traurig steigender Zahl m it Zunahm e der eigenen L ebensjahre - und schließlich zahllose R ezensionen, die ein weites inhaltliches und geographisches Feld abdecken. A uf diese W eise verdanken w ir L eopold K retzenbacher bis heute 27 A bhandlungen, 21 chronikalische B erichte und 166 R ezensionen in „u n se rer“ und dam it „se in e r“ Ö sterreichischen Zeitschrift für Volkskunde. Selbst dieses festliche D oppelheft, das w ir ihm in dankbarer Verehrung und V erbundenheit zu seinem 90. G eburtstag darbringen, können w ir m it einem Titel aus seiner eigenen Feder eröffnen. Was könnte einen besseren B ew eis seines unerm üdlichen forschenden G eistes und sei ner, trotz zahlreicher Schicksalsschläge und B eschw ernisse des A lters ungebrochenen Schaffenskraft darstellen. Ein B lick in die von seinem N achfolger auf dem Lehrstuhl für deutsche und vergleichende Volkskunde der U niversität M ünchen im 226 L e o p o ld K re tz e n b a c h e r zu m 90. G e b u rtsta g Ö Z V LV I/105 Jahr 2000 gem einsam m it M itarbeitern herausgegebene Gesam tbiblio graphie1zeigt jedoch, daß die vorhin genannten Zahlen nur einen B ruch teil des gesamten (Euvres Kretzenbachers ausmachen. N icht verzeichnet sind in diesem 417 Num m ern und Titel um fassenden W erkverzeichnis der eigenständigen Bücher und Aufsätze seine ca. 650 Buchbesprechun gen, eine im wissenschaftlichen Betrieb meist unterschätzte literarische Gattung. D er alte Freund Leopold Schmidt, der selbst hunderte Rezen sionen - m anchm al eher kursorisch - verfaßt hat, würdigte diese von Kretzenbacher „durchaus nicht m it der linken H and“ geschriebenen sorgfältig gearbeiteten K leinform en entsprechend.2 E rreicht ein W issenschaftler vom Form at eines Leopold K retzen bacher das A lter von 90 Jahren, so hat er in der R egel zahlreiche ehrende A uszeichnungen, Festschriften und Ernennungen erhalten. Sie sind alle in der schon erw ähnten B ibliographie angeführt. In den dort zitierten L audationes zu den verschiedenen L ebensjubiläen und Ü berreichungen von hohen A uszeichnungen haben auch B erufenere, als w ir es sind, bereits ausführlich die w issenschaftlichen Leistungen, die B reite und Tiefe des Forschungszugangs, aber auch die vielen m enschlichen Q ualitäten des Jubilars gew ürdigt. Was uns von Verein und Z eitschrift für Volkskunde bleibt, ist D ank aus ganzem H erzen für unverbrüchliche Zuneigung und Treue über die G enerationen hinw eg zu sagen. 1998 hat der Verein für Volkskunde in W ien seine höchste für Verdienste um die Volkskunde Ö sterreichs zu vergebende A uszeichnung, die M ichael H aberlandt-M edaille, an L eopold K ret zenbacher verliehen. Nun, im Jahre 2002, haben w ir einen kleinen, doch respektablen K reis von M ünchner, G razer und W iener K ollegin nen und Kollegen, Schülern und Freunden gebeten, einen literarischen Kranz für Leopold Kretzenbacher zu seinem hohen Lebensjubiläum zu winden. M öge diese Gabe unserem M itherausgeber der Österreichi schen Zeitschrift für Volkskunde ein wenig Freude bereiten. M argot Schindler 1 Leopold K retzenbacher - Vergleichende Volkskunde Europas. G esamtbibliogra phie mit Register 1936-1999. In Fortführung der Zusamm enarbeit mit Elfriede Grabner, G erda Möhler, Georg R. Schroubek und Hans Schuhladen zusam men gestellt von Helge Gerndt (= M ünchner Beiträge zur Volkskunde, Band 25) M ünster 2000. 2 Schmidt, Leopold: Laudatio für Leopold Kretzenbacher. Aus Anlaß der Ü berrei chung des Erzherzog-Johann-Forschungspreises des Landes Steiermark für 1980. In: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde. GS 84/NS XXXV. Wien 1981, S. 117. Österreichische Zeitschrift f i r Volkskunde Band LVI/105, Wien 2002, 22 1 -2 3 7 Altsteirisches Rühmen Mariens als Helferin in verzweifelten Lebenslagen und Todesnähe Leopold K retzenbacher In den gegenreformierten Ländern M itteleuropas gibt es viele Schutzpatrone gegen die Nöte des Alltagslebens, wie etwa die Pestpatrone Sebastian, Rochus und Rosalia. Viel seltener kom m t in dieser Funktion M aria, die „G ottesgebärerin“ (griech., seit Ephesus 431), im Volk lieber als „G ottesm utter“ bezeichnet, vor. A uf dem „L andplagen“-Fresko des Thomas von Villach, 1485 zu Graz, fleht M aria zusammen mit dem Sohne Jesus den Richter-Gottvater als Blitzeschleuderer um Erbarmen an. In einer ähnlichen Darstellung zu Lebing, Ost steiermark, fleht M aria ihren iiber die Sünden der M enschheit zürnenden Sohn an, sie nicht mit Blitzen zu strafen. Sie fällt Jesus unmittelbar in den Arm. Auch in Liedern bittet Maria, den Tag des Gerichtes aufzuschieben, bis die Frauen geboren und die Kinder gebeichtet haben. Noch im späten 19. Jahrhun dert wurden slowenische Lieder aufgezeichnet, die Mariens Hilfe rühmten. Daß M aria, die „G ottesgebärerin“ (griech. theotökos seit Ephesus 431), als B eschützerin für die M enschheit in vielen ihrer stets bedroh ten Lebenslagen auftritt, das läßt sich zum al aus der V olksüberliefe rung vieler Völker, geprägt in B ildern wie im Wort, im m er w ieder au fzeig en .1 Es ist ein B leibendes vor allem im M ittelalter w ie auch im barocken B ilden und Erzählen. D ies aber eben nicht nur im Individuellen der E inzelfälle des M enschen in letzter N otlage.2 Es 1 Kretzenbacher, Leopold: Schutz- und Bittgebärden der Gottesmutter. Zu Vorbe dingungen, Auftreten und Nachleben mittelalterlicher Fürbitte-Gesten zwischen Hochkunst, Legende und Volksglaube (= Bayerische Akademie der W issenschaf ten, Philosophisch-H istorische Klasse, Sitzungsberichte). Jg. 1981, Heft 3, M ün chen 1981. 2 Vgl. die M otivgruppe „M aria im Jenseitsentscheid durch die Seelenwaage“ ; dazu: Kretzenbacher, Leopold: Die Seelenwaage. Zur religiösen Idee vom Jen seitsgericht auf der Schicksalswaage in Hochreligion, Bildkunst und Volksglaube (= Buchreihe des Landesmuseums für Kärnten, geleitet von Gotbert Moro, Bd. IV). K lagenfurt 1958. 228 L e o p o ld K re tz e n b a c h e r Ö Z V L V I/105 Abb. 1: Die Pestpatrone Sebastian, Rochus und die sizilianische Rosalia auf dem D eckenfresko in der W allfahrtskirche Lebing bei Hartberg von J. A. Mölck, 1772 (Foto: L. Kretzenbacher) spiegelt sich zum al auch bei uns im K ultur- und im K ult-B ereich des Sakralen, des „V olksreligiösen“ im einstigen Siedelraum des alten „In n erö sterreich“ .3 H ier blieb und bleibt es besonders deutlich im R eligiös-,,V olksfrom m en“ zum B ild gew orden oder in ein verschie densprachliches W ortkleid der L egende gefügt „leb en d ig “ . E rst vor kurzem hatte ich m ich m it den durch Jahrhunderte auch für die M enschen in B ayern w ie in Ö sterreich und w eithin in E uropa fast unablässig ängstigenden W ellen der über K onstantinopel und Venedig au f dem Seew eg und auf den vielbefahrenen H andelsstraßen 3 Vgl. das Stichwort „Innerösterreich“ bei Gerhard Taddey, Lexikon der deutschen Geschichte. Personen, Ereignisse, Institutionen. 2. Aufl., Stuttgart 1983, S. 578; dazu für die Steierm ark im Besonderen „H istorische und Kulturhistorische B eiträge“ bei: Novotny, Alexander, Berthold Sutter: Innerösterreich 1564-1619. In: Joannea: Publikationen des Steierm ärkischen Landesmuseums und der Stei ermärkischen Landesbibliothek. Graz 1967. 2 0 0 2 , H e ft 3 + 4 A lts te iris c h e s R ü h m e n M a rie n s a ls H e lfe rin 229 über die A lpen sich ausbreitenden Pestnöten befaßt.4 Vor ihnen m it ihrer so sehr gefürchteten leidigen C ontagion schützten sich die M enschen durch viele Jahrhunderte durch vielfältiges A nrufen ganz besonderer „P estp atro n e“. Im W esentlichen sind es der spätantik-rö m ische Offizier, pfeildurchbohrt als M ärtyrer St. Sebastian; der aquitan isch -sü d fran zö sisch e A rzt-H eilige R ochus von M ontpellier (tl3 2 7 ) ; ihnen reiht sich zu B eginn des 17. Jahrhunderts au f Sizilien in einer G rotte des M onte Pellegrino ob Palerm o die hl. R osalia an; sie w ar nach ihrem S chlaf seit dem 12. Jahrhundert gerade zur P est zeit von 1624 „erw ach t“ (Abb. 1). D ie Jesuiten hatten durch ihren Kult, sehr von G raz aus gefördert, w eithin in den O stalpenländern auf H underten von „P estsäu len “ die M enschen trösten lassen.5 F ür die Steierm ark aber tritt - wenn auch bisher nur vereinzelt bild-dokum entiert - auch die „G ottesm utter“ - so der volkstüm lich lieber als „G o ttesgebärerin“ gebrauchte N am e6 M ariens - hinzu. Sie 4 Kretzenbacher, Leopold: Gedanken zur Schlierseer Pestfahne von 1731. In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte, Bd. 67, Heft 3, München 2000, S. 975-990,4 Abb. 5 Vgl. das Lexikon der christlichen Ikonographie (LCI), Sonderausgabe 1994, Freiburg i.Br., „Pestheilige“ Bd. VIII, Sp. 155 f. (F. Tschochner); dazu die Ein zelnamen LCI VII, Sp. 273-275 (K. Smits, F. Tschochner). Dazu gesellt sich als einer der Letzten der norditalienische Kardinal Carl Borromaeus (1538-1584). D er gewann auch für Österreich Bedeutung: Karls-Kirche in Wien. Ein Fresko der späteren B arockzeit stellt diesen „Pesthelfer“ auch in der Steiermark, W all fahrtskirche zur „Schm erzhaften M aria“ auf dem Weizberg bei Weiz, O ststeier mark, dar. 6 Vor gar nicht langer Zeit wurde seitens der katholischen Theologie vermerkt, daß streng genommen M aria nur als „G ottesgebärerin“, entsprechend dem Konzils beschluß von Ephesus 431 als theotâkos, benannt werden solle. Der Titel „G ot tesm utter“ sei ein Emotionales, weil er „eine einmalige matriarchalische Hoheit M arias suggeriert“ (Theologische Realenzyklopädie TRE, Bd. XXII. B erlinNew York 1992, S. 138). Anders ausgedrückt: Es sei „G ottesm utter“ theologisch gesehen bedenklich, da „M utter“ eine Art „M achtstellung“ kennzeichnet. Es sei eben nicht denkbar, daß „eine sterbliche M utter M acht Uber ein unsterbliches, das göttliche K ind“ ausübe. In Gesprächen mit mir wurde auf jene evangelien bezeugte Situation bei Lukas 2,41-52 verwiesen, wo Jesus auf dem Rückwege mit M aria und Josef unterwegs seinen „E ltern“ verloren ging, bis sie ihn, nach drei Tagen Suchens, im Tempel zu Jerusalem wiederfanden im Gespräch mit den „L ehrern“. Den Vorwurf der „M utter“, daß Jesus seinen Eltern das angetan hatte, wies der Knabe zurück mit den Worten, die seine Eltern nicht „verstanden“. Zu N azaret war Jesus „ihnen wieder gehorsam “. - Daß sich daran in der Frage der M arienverehrung eine breite theologische Reflexion über die zu Ephesus 431 zur theotökos gemeinte „im m erwährende M utterschaft M ariens in der Gnadenöko nom ie“ schließt, darf nicht wundernehmen, auch wenn in der allgemeinen 230 L e o p o ld K re tz e n b a c h e r Ö Z V LV I/105 Abb. 2: M aria fällt dem Pestblitze schleudernden Christus in den Arm. Deckenfresko in der W allfahrtskirche Lebing bei Hartberg von J. A. Mölck, 1772 (Foto: L. Kretzenbacher) ist es, die au f einem barocken D eckenfresko von Jo sef A dam M ölk auch M ölck, M ölch, R itter von M ölck - im Jahre 1772 in der o ststei rischen W allfahrtskirche M aria Lebing bei H artberg m it ihren A rm en der „erzürnten G ottheit“ , die sichtlich zum Todesblitze-Schleudern bereit ist, in den A rm fällt (Abb. 2).7 D iese G ottheit aber ist auf M arienverehrung nicht erwartet werden kann, daß B egriff und W ort „G ottesm ut ter“ überall jenem der „G ottesgebärerin“ w eichen könnte und sollte. Vgl. dazu in Auswahl: Bäumer, Remigius, Leo Scheffczyk: M arienlexikon, Bd. II. St. Ottilien 1989, S. 684-692 (G. L. M üller); Kretzenbacher, Leopold: Bild-Gedan ken der spätmittelalterlichen Hl. Blut-M ystik und ihr Fortleben in mittel- und südosteuropäischen Volksüberlieferungen (= Bayerische A kademie der W issen schaften, Philosophisch-Historische Klasse, A bhandlungen, Neue Folge Heft 114). M ünchen 1997, S. 33. 7 Zum steirischen Werk des aus Wien stammenden M alers J. A. M ölk vgl. Farn berger, Herta: Die Fresken von Josef A dam M ölk im Pfarrhof von Hartberg. In: 2 0 0 2 , H e ft 3 + 4 A lts te iris c h e s R ü h m e n M arie n s als H e lfe rin 231 u nserem steirischen B arockfresko nicht, wie sonst so oft, ja m eistens, der „S ch ö p fer und R ichter Gott-V ater“ . H ier ist es M ariens „S o h n “ Jesus C hristus. E r schw ebt, halbnackt, nur von einem w eißen Linnen und einem w eit w allenden roten „M anteltuch“ teilverhüllt, über dem Rund der W eltkugel m it dem B ilde einer grünen B erge-Landschaft, in der B urgen zu erkennen sind. D eutlich sind C hristi W undm ale sichtbar. Seine Linke berührt ein - nur zum Teil, aber m it den Fußnagellöchern sichtbares - H olzkreuz. Es wird ihm von zwei auf W olken stehenden E ngeln entgegen gehalten. D am it bleibt Jesus, der sich sichtlich von seiner M utter ab- und dem Kreuz als E rlösungssym bol zuw endet, m it dem hochgehaltenen B litzebündel genau dem W ortlaut des als „ö k u m en isch “ benannten8 lateinischen W ortlaut des Credo an Steinpeißer. Zeitschrift des Historischen Vereins Hartberg. 6. Jg., 1999, S. 3-12, 6 Abb. Doch keine hier M aria Lebing betreffend. Für den freundlichen Hinweis danke ich Frau Univ.-Prof. Dr. Elfriede Grabner, Graz 2001. Zu diesem Fresko und seinem ikonographisch bedeutsamen Bildgedanken-Umfeld vgl. K retzenba cher, Leopold: M aria schützt die Steiermark in Pest-Zeiten. In: Blätter für Heimatkunde, 75. Jg., Heft 4. Graz 2001, S. 155-163, 3 Abb. 8 Der Begriff „ökum enisch“ wird in vielen Gebetbüchern der katholischen Kirche m.E. deswegen zu Unrecht verwendet, weil er im „G laubensbekenntnis“ zugegeben nicht in allen Fassungen des Credo - das seit dem Beginn des 9. Jahrhunderts, also weit über ein Jahrtausend, das zwischen der Theologie der „L ateiner“, der Romkirche und jener der Orthodoxie so sehr geradezu mit existenzieller Verbitterung umstrittene Wort Filioque enthält. Heute noch wird in den meisten Fassungen des Lateinischen über den „Heiligen G eist“ gepredigt und gebetet, daß er „vorn Vater und vom Sohne ausgeht“. D aserkennt die gesamte O rthodoxie bis heute nicht an, so viele Jahrhunderte die christlichen Theologen darüber gestritten haben. Vgl. dazu: Beck, Hans-Georg: Kirche und theologische L iteratur im byzantinischen Reich. München 1959, S. 306 ff. et passim. Solches Denken spiegelt sich auch in einem modernen „historischen“ Roman in unserer Zeit wider, der weltweit in vielen Übersetzungen aus dem Italienischen eben jetzt das Bild von Alt-Byzanz beschwört: Umberto Eco, geb. 1932, Profes sor für Semiotik an der Universität Bologna, läßt in seinem Roman „B audolino“ (M ailand 2000; deutsch von Burkhard Kroeber, M ünchen-W ien 2001), diesen B audolino als fiktiven Adoptivsohn des Kaisers Friedrich I., Barbarossa (um 1122-1190) sein geradezu abstruses „L eben“ zu Byzanz/Konstantinopel in den W irren grauenhafter Plünderungen und Brandschatzungen 1204 ff. durch die „L ateiner“ als K reuzzugs-„Pilger“ ausführlich dem bedeutenden byzantinischen H istoriker N iketas Choniates (aus Chonai 1155-1215/16) erzählen. Dessen Chronikë diëgësis umfaßt als bedeutendstes Geschichtswerk die Jahre von 1118— 1206. Darin läßt also der Dichter Umberto Eco den byzantinischen Gelehrten N iketas seinem ihm befreundeten „L ateiner Baudolino“ auch von dem „H äreti ker“ Nestorius (5. Jahrhundert n.Chr.; persischer Herkunft; zwischen 428 und 431 Patriarch von Konstantinopel; als solcher durch das Konzil von Ephesus 431 232 L e o p o ld K re tz e n b a c h e r Ö Z V LV I/105 der Stelle entsprechend, an der es von Jesus nach seiner A uferstehung heißt: et ascendit in caelum : sedet a d dexteram Patris. E t iterum venturus est cum gloria judicare vivos et mortuos. Jesus kehrt also „ in H errlichkeit wieder, G ericht zu halten über L ebende und Tote“.9 Für die Steierm ark aber tritt in ihrer alten G röße als einstiges H erzogtum (seit 1180) noch ein W eiteres aus dem an religiöser V olksdichtung so reichen B estand der alt-untersteirischen Slow enen hinzu. M aria w agt es, nicht nur der „erzürnten G ottheit“ , im oststei rischen Sonderfall zu Lebing ihrem Sohne Jesus, da er eben feurige B litze au f die sündige M enschheit schleudern will, in den A rm zu fallen .10 V ielm ehr bittet sie in einer slow enischen L iedfassung aus der U ntersteierm ark (Stajerska), aufgezeichnet „v o r 1861“, und in einer anderen aus dem 1920 im Friedens vertrag von Trianon von U ngarn an Slowenien abgetretenen „Ü berm urgebiet“ (slowen. Prekmurje) in Versionen, aufgezeichnet 1959, 1960, 1961, um nichts weniger als um „A ufschub des Jüngsten Gerichtes“, slowen. odgoditev sodnega dneP D er L iedtypus ist, w ie so oft bei den slow enischen Texten, einge bettet in „d rei T räum e“ der G ottesm utter.12U nter „ d e r grünen L inde p o d zeleno lipo“, träum te M aria, daß „d ie W urzeln der Linde in die Erde treiben. Ihre W ipfel aber w achsen in den H im m el“. D ort oben „steh t ein goldener T isch“ . D ahinter befindet sich „d er ju n g e König m it dem Schw ert in der H and - V nebesih stoji zlata miza, za m izo j e m ladi kralj z m ecem v roki“. Vor ihm kniet M aria und bittet, er m öge 9 10 11 12 abgesetzt) berichten. Nestorius und seine Nachfolger glaubten noch jahrhunder telang, daß in Christus nicht nur zwei Namen, sondern auch zwei Personen geboren worden seien. Demgemäß vertraten Nestorius und seine Anhänger ihren festen Glauben, daß „M aria nur die menschliche Person geboren“ habe. Also sei sie eben nicht „M uttergottes“, theotâkos, „G ottesgebärerin“, sondern höchstens Christotokos. Bei Eco, Umberto: Baudolino, S. 68 f., S. 42 u.ö. Schott, Anselm: Das vollständige Römische Meßbuch. Freiburg 1958, im An hang „K yriale für das Volk“, S. 55-68, 1.-4. Credo. Zum Typus vgl. Kretzenbacher, Leopold: H eimat im Volksbarock. Kulturhisto rische Wanderungen in den Südostalpenländern (= Buchreihe des Landesmu seums für Kärnten, geleitet von Gotbert Moro, Bd. VIII). Klagenfurt 1961, S. 73-80, „D ie Pfeile des erzürnten G ottes“, Literatur au f S. 165, Abb. 9-11. Ins Japanische übersetzt von Shin Kono, Nagoja 1988. Kumer, Zmaga: Vsebinski tipi slovenskih pripovednih pesmi - Typenindex slowenischer Erzähllieder. Ljubljana 1974, S. 108 f. Das „T raum “-M otiv ist aber auch sonst bei allen südslawischen und den benach barten Völkern geläufig. Vgl. Kretzenbacher, Leopold: Südost-Überlieferungen zum apokryphen „Traum Mariens“ (= Bayerische Akademie der Wissenschaften, Philo sophisch-Historische Klasse, Sitzungsberichte, Jg. 1975, Heft 1). München 1975. 2 0 0 2 , H e ft 3 + 4 A lts te iris c h e s R ü h m e n M a rie n s a ls H e lfe rin 233 den Jüngsten Tag aufschieben, bis die Frauen entbunden und die Sünder B uße getan haben - Pred njim kleci M arija in prosi, naj odgodni sodni dan, da zene porodijo in se gresniki spokorijo. In einer w eiteren Fassung aus der alten U ntersteierm ark, aus Fram am O strand des B achern-G ebirges (slowen. P ohorje, einst Frauheim bei M arburg an der Drau, M aribor), geht es w ieder um M ariens „B itte um A ufschub des Jüngsten G erichtes“. Ü ber ein w eites Feld führt eine Straße. A u f ihr „g eh t der hl. Johannes“ . Ihm begegnet M aria. Sie fragt ihn, w ohin er gehe. „Johannes sagt, er gehe nach Jerusalem , den Jüngsten Tag zu m achen - Johan pove, da gre v Jeruzalem delat sodni da n .“ D a erschrickt M aria und „b ittet ihn, es nicht zu tun wegen der schw angeren F rauen und K inder - M arija prosi, naj ga ne dela zaradi nosecih zen in otrocicev“. Das lehnt Johannes m it den W orten ab, „d aß schon ein siebenjähriges Kind für tausend Jahre Sünden began gen habe - da ima sedem letno dete grehov za tisoc let“. Trotzdem bleibt M aria bei ihrer B itte „z u warten, bis die Frauen entbunden und die K inder gebeichtet haben - naj pocaka, da zene porodijo in se otroci izpovedo“. A uch h ier w ieder ein für slow enische L ieder fast typischer E in gang: das „w eite Feld, darüber eine S traße“. A uf ihr geht „d er hl. Johannes“ . W ürde m an des w eiteren in den G edankengängen einer A rt bei religiös bestim m ten Liedern so oft in E rscheinung tretenden „U n k larh eiten “ genauer fragen, w elcher „Johannes“ hier gem eint sein m üsse, so w ürde m an Johannes den Täufer als „V orläufer“ (griech. Prodrom os) des „H errn “ gew iß nicht in B etracht ziehen. G em eint ist beim „V olke“ hier doch wohl Johannes, der „L ieblings jü n g er C h risti“ (nach Joh. 19, 26). Ihm ist ja M aria vom Crucifixus selber in der Todesstunde auf G olgatha anvertraut worden. In den gar nicht w enigen A pokryphen um „Johannes den E vangelisten“ ’3 soll er seine ihm vom sterbenden C hristus zugesprochene „M u tter“ m it nach Ephesus genom m en haben. Im m er noch zeigt m an dort ein Haus, in dem die beiden gew ohnt haben sollen. D ieser Johannes muß wohl gem eint sein in der Fünfzahl der so benannten G estalten der B ibel.14 13 Hennecke, Edgar, W ilhelm Schneemelcher: Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung. 4. Aufl. I. Bd.: Evangelien. Tübingen 1968, S. VI, Grup pe E, Nr. 6 f., S. 229-243 und dies.: II. Bd., S. 125-176. 14 Calvocoressi, Peter: W ho’s who in der Bibel. Aus dem Englischen von Angela H ausner (= dtv 11313). München 1990, 6. Aufl. 1996, S. 133-137. 234 L e o p o ld K re tz e n b a c h e r Ö Z V LV I/105 Das L ied vertritt hier eine - vielleicht oder sogar gew iß - von einem G eistlichen als „D ich ter“ vorgegebene lehrhaft-katechetische Tendenz. Das m öchte ich auch von daher annehm en, daß hier gleichsam w arnend - ein siebenjähriges Kind „ fü r tausend Jahre S ünden“ begangen habe. D iese „tausend Jahre“ als Sündenstrafe haben gew iß nichts m it „H ö lle“ und „E w igkeit“ zu tun. Sie bezeich nen verm utlich jen e „F risten “ der nur im Lehrbereich der lange um strittenen „F egefeuer-D ogm atik“ von der katholischen Kirche auch heute noch vertretenen, von der O stkirche früh schon abgelehn ten „L äuterung der S eele“ nach dem leiblichen Tod, der die A ufnah me der Seele in den „H im m el“ folgen läß t.15 Laientheologisch-K atechetisches in oft w irklich dichterischer A ussagekraft ist m ir oft in der slow enischen „V olksdichtung“, im Liede wie in der L egendentradition, b eg eg n et.16 Ein G leiches in der N othilfe M ariens w eiß auch ein w eiteres slow enisches Lied geistlichen Inhalts zu rühm en. Es w urde gleich falls zu F ram (ehem . Frauheim ) in der alten U ntersteierm ark aufge zeichnet, m eines W issens erst 1974 gedruckt.17 Auch hier w ieder zu E ingang „ein F eld “, darüber „ein P fad“ . „ A u f dem Pfad geht der hl. F lorian.“ Ihm begegnet M aria. Sie fragt ihn, w ohin er gehe. Sehr barsch, ja hart die A ntw ort dieses sonst so viel angerufenen „Volksh eiligen“ .18 „F lorian antw ortet, er gehe zur D onau und daß alles 15 Z ur,,F egefeuer“-Frage und auch ihren rein spekulativen „F risten“ vgl. Schmaus, M ichael: K atholische Dogmatik, Bd. IV/2. München 1959, § 305, S. 511-558. Dazu Kretzenbacher, Leopold: Zum Namen vice und den Vorstellungen vom „Fegefeuer“ bei den Slowenen. In: Serta Balkanica - Orientalia M onacensia. Festschrift in honorem Rudolphi Trofenik septuagenarii. M ünchner Zeitschrift für Balkankunde, Sonderband 1, München 1981, S. 47-69. Aus jüngerer Zeit: TRE Bd. XI. B erlin-N ew York 1983, S. 69-78 (Ernst Koch); LThK, Bd. III, 3. Aufl. 1995, s.v. „Fegfeuer“, Sp. 1209-1210 (Walter Hartinger). 16 Kretzenbacher, Leopold: „E s reisen drei Seelen wohl aus von der Pein ...“ . Zur Kulturgeschichte der Ballade von M aria und den drei Seelen. In: Jahrbuch des Österreichischen Volksliedwerkes, Bd. 2. Wien 1953, S. 48-59. - Bezieht sich das auf laien-theologisches Gedankengut zur Eschatologie, so glaube ich im nachfolgend untersuchten Liede eine sozialpädagogische Tendenz, religiös ver brämt, zu erkennen: ders.: Jesus ohne Freundschaft (brez slahte). Zu einem sozial bedingten M otiv im geistlichen Volkslied der Slowenen, In: M ünchner Zeitschrift für Balkankunde, 5. Jg., 1983/84. München 1988, S. 52-63. 17 Kumer (wie Anm. 11), S. 109, Nr. 85A. 18 Kretzenbacher, Leopold: Ikonotropie nach mißverstandenen Attributen, zumal bei den sogenannten „Volksheiligen“ St. Agatha, Florian und Leonhard. In: Festschrift Gerhard Pferschy zum 70. Geburtstag. Redigiert von Gernot Peter 20 0 2 , H e ft 3 + 4 A lts te iris c h e s R ü h m e n M arie n s als H e lfe rin 235 brennen w ird, wo er schreiten w ird - Florjan odgovori, da gre na D onavo in da bo vse gorelo, koder bo hodil“ . A ber auch hier ist M aria w ohl tie f erschrocken. Sie fleht den m eines W issens nirgends als grim m igen „F euerbringer“ statt „F euerlöscher“ gedachten Ffeiligen sofort an, er „so ll w enigstens m it den G ebärerinnen und den K indern in der W iege E rbarm en haben - . . . naj se usm ili vsajporodnic in otrok v zib eli“. U nd als Schlußstrophe des kurzen Liedes auch hier w ieder das so seltsam begründete, harte Nein: „F lorian antw ortet, er könne es nicht, w eil schon ein kaum siebenjähriges Kind für tausend Jahre Sünden begangen habe - Florjan odgovori, da ne more, ker ima kom aj sedem letno dete grehov za tisoc let“. G ew iß, es gibt auch in der Steierm ark w eitere B ildzeugnisse von M ariens H ilfe gegen die als allergrößte von vielen „P lag en “ gegen die M enschheit em pfundene Pest. So z.B. auf einem m ir seit m einer G ym nasiastenzeit in Graz, nach 1929, vertrauten B ilde eines großar tigen K ärntner M eisters der spätm ittelalterlichen Freskenkunst, des T hom as von Villach. Er gestaltete 1485 das an der südlichen A ußen w and der G razer D om kirche a lfresco gem alte B ildw erk der g o tsp la g um 1480 als der Türkennot, der H euschreckenschw ärm e und der Pest. Das große, einst auch großartige B ildw erk an der Südw estecke außen am St. Ä gidius-D om ist durch F eh l-,R e sta u rieru n g e n “ des 19. Jahr hunderts so gut w ie verloren. Trotzdem bem üht m an sich auch in unseren Tagen seit 2000 zu retten, was an B ruchstücken noch zu „ re tte n “ ist. D abei hilft die N achzeichnung eines Professor H einrich Schw ach, der glücklicherw eise auch die noch im m ittleren 19. Jahr hundert lesbaren Inschriften kopieren hatte können.11' So besagt die Inschrift des W eltenrichters m it seinem K reuznim bus zw ischen G ott-Sohn und G ott-H eiliger Geist, seine R echte im G riff au f drei übergroße Lanzen, diese seinen Grim m verkündenden Worte: D rum b das du m ich hast ungert („nicht geehrt“), So stirbt aus d ir ein O bersteiner und Peter Wiesflecker. Graz 2000, S. 155-170; Zu Florian; S. 160— 165, 1 Abb.; erst seit dem Beginn des 15. Jahrhunderts wird aus dem W asserkü bel-,,Söchter“-Sinnbild des nach der Legende in der Enns „ertränkten“ WasserFluß-Heiligen in einer breit wirkenden Kultwelle von der Fluß-Anzeige weg zum „Feuerlösch“-Gerät und damit zum Sinnzeichen eines Feuer-Schutzpatrones. 19 Seine solcherart geretteten Texte auf dem „Landplagenbild“ von 1485 konnte ich größtenteils mit aufnehmen und die Studien zu diesem Fresko finden sich in meinem Sitzungsbericht von 1981; siehe Anmerkung 1, S. 20-41; dazu das Faltblatt mit der Umzeichnung des 19. Jahrhunderts im genannten M ünchener SB nach S. 32. 236 L e o p o ld K re tz e n b a c h e r Ö Z V LV I/105 tail des sw ertJD er andere der P estilentz stirbt, D er drit tayl des H ungers verdirbt. D och die „F ürbitterin“ ist hier w ieder M aria. Dies gem einsam m it ihrem Sohne. D er w eist im Typus m ittelalterlicher intercessio durch die ostentatio vulnerum auf die W unden seines E rlöser-L eidens und Sterbens: Sich an Vater die Wunden m ein/G w er das gebet dy + m uter mein. U nter ihm kniet, als H im m elskönigin gekrönt, aber m it gelöstem Haar, M aria. A uch sie setzt zu ihrer Bitte ihre intercessio durch die ostentatio uberum ein, indem sie m it ihrer R echten die M utterbrust entblößt.20 A uf einem S chriftband um ihre G estalt herum w aren einst diese W orte zu lesen: 0 H err got und ainiger sun, E rparm dich über den sunder nun/Sich an die p ru sst dy saugtn dich Vergib dem sunder durch mich. M ariens L inke aber hält den einen Zipfel eines sehr langen, schleierartigen Tuches (velum). D essen anderes Ende faßt ein m it einer R undgloriole als „H eilig e r“ knieender M ann m it seiner Rechten, die G ew alt der drei Lanzen und einer Fülle von kleinen Pfeilen aufzufangen. Es ist unverkennbar, daß hier eine w eithin über die G eistesw elt des abendländischen M ittelal ters in unzählbaren B ildern verbreitete religiöse Idee, griechisch etw a um das 6. Jahrhundert als cléësis - „F ürbitte, G ebet“ geboren, in ihrer kleinen D rei-P ersonen-G estalt auch zur B ildm itte der gots plagenSzenerie zu G raz 1485 wurde. M aria und Johannes, m eist allerdings Johannes der Täufer, nicht der E vangelist, der hier in Graz ein Buch, wohl auszudeuten als die ihm durch Jahrhunderte zugeschriebene, nicht bew iesene V erfasser schaft der seit alters so bezeichneten „G eheim en O ffenbarung des Jo hannes“ in seiner L inken trägt. D arauf ist eine w inzig kleine D ar stellung des „L am m es G ottes“ gezeichnet. Es ist dies eine B ildgestal tung, die ein einziges M al in einem Evangelium und dies eben bei Johannes 1,29 und 36 genannt wird als griech. am nös toü theoü, lateinisch in der Vulgata des 5. Jahrhunderts als A gnus D e l Für uns hier zu G raz ist es eine B ildprägung nach jenem Text, der M aria in dieser déësis-intercessio auf einem der einstm als bedeutendsten B ild konzeptionen der spätm ittelalterlichen Steierm ark „lesb a r“ macht. So fügt sich der durch so viele Jahrhunderte im m er w ieder aufbran dende M arien-K ult hier in den nach-tridentinischen Jahrhunderten, 20 Kretzenbacher, Leopold: M ariens Brustweisung. Zum Reststück einer spätmit telalterlichen Wandmalerei in der alten Untersteiermark. In: Zeitschrift des Historischen Vereines für Steiermark, 88. Jg. Graz 1997, S. 93-99, 2 Abb. aus Vuzenica, ehemals Saldenhofen im Drautal. 2 0 0 2 , H e ft 3 + 4 A lts te iris c h e s R ü h m e n M arien s als H e lfe rin 237 zum al in jen en so „bilderseligen“ des B arock auch in der Steierm ark in den vieles um spannenden Rahm en m arianisch bestim m ter „V olks fröm m igkeit“.21 Leopold Kretzenbacher: Calling on Mary for Help When Near Death or When Despairing of Life in Old Styria There are many patron saints to call on for help with the afflictions of everyday life in the Counter-Reform ation countries of Central Europe, such as the plague Saints Sebastian, Rochus, and Rosalia. Mary, the “Bearer o f God” (Gr., since Ephesus 431), though far more often called “M other o f God” by the folk, is far more rarely appealed to. B ut on Thomas von Villach’s 1485 “Plague” fresco in Graz, Mary and her son Jesus together beseech God the Father - here as judge and thunderbolt-hurler - for mercy. In a similar depiction in Lebing in eastern Styria, Mary begs her son, who rages at the sins of humanity, to not punish her with lightning bolts. She falls into Jesus’s arms. In songs, M ary also begs that the Day o f Judgm ent be delayed until women have given birth and children have taken confession. Slovenian songs even in the late 19,h Century still praised M ary’s help. 21 Onasch, Konrad: Liturgie und Kunst der Ostkirche in Stichworten. Leipzig 1981, S. 81, nach: Bogyay, Theodor: Deesis und Eschatologie. In: Polychordia, Fest schrift für Franz Dölger. Amsterdam 1967, S. 59-72; Beissel, Stephan: G eschich te der Verehrung Marias in Deutschland während des M ittelalters. Ein Beitrag zur Religionsw issenschaft und Kunstgeschichte. Freiburg i.Br. 1909, Neudruck 1996; Beinert, Wolfgang, Heinrich Petri: Handbuch der M arienkunde. Regens burg 1984; Schreiner, Klaus; M aria, Jungfrau, Mutter, Herrscherin. M ünchenWien 1994, als dtv-Band 4707. M ünchen 1996. Österreichische Zeitschrift flir Volkskunde Band LVI/105, Wien 2002, 239-250 Die Verehrung des hl. Vinzenz von Saragossa als Patron der Holzarbeiter N eue K ultnachw eise aus Tirol: D er andere Teil Klaus Beitl 1972 hatte der Autor des Beitrags in der Festschrift zum 60. Geburtstag von Leopold Kretzenbacher auf der Grundlage eigener Feldforschungen die regionale Bedeutung der berufs ständischen Verehrung des Patronatsheiligen im Gebiet der N ordtiroler Kalkalpen herausgearbeitet. Nunmehr, dreißig Jahre danach, können in dieser Festgabe zum 90. Geburtstag des Jubilars, neue Belege zu diesem Thema beigebracht wer den, die auf der rezenten Erfassung der Kunstdenkm äler für den Tiroler K unstkataster beruhen. Besondere A ufmerksam keit wird dem Attribut des Heiligen gewidmet, einem zur Flößerstange umgedeuteten Feuerhaken, der auf das Feuer martyrium des hl. Vinzenz von Saragossa hindeutet. Eine Überlegung zum Begriff der „G estaltheiligkeit“ (Leopold Schmidt) bildet den Abschluß. D ie G nade eines hohen A lters in angem essener G esundheit und ungebrochener Schaffensfreude, wie eine solche L eopold K retzenba cher gew ährt ist, bietet dem N achgeborenen die ungew öhnliche G e legenheit, für die gegenw ärtige Festgabe aberm als ein T hem a aufzu greifen, das vor gezählten dreißig Jahren - in Verehrung des Jubilars anläßlich seines dam als 60. G eburtstags - eine D arstellung finden konnte: „D ie Verehrung des hl. Vinzenz von S aragossa als Patron der H olzarbeiter.“ 1 Als Ergebnis w urde dam als festgehalten, daß die K enntnis der spezifischen V olksdevotion des hl. Vinzenz von S ara gossa als H olzarbeiterpatron au f einen bis dahin unerschlossenen B ereich - d.h. die W aldgegend des tirolisch-bayerischen G renzgebir ges - ausgedehnt w erden und darüber hinaus die A usbildung einer 1 Beitl, Klaus: D ie Verehrung des hl. Vinzenz von Saragossa als Patron der Holzarbeiter. Neue Kultnachweise aus Tirol. In: Dona Ethnologica. Beiträge zur vergleichenden Volkskunde. Leopold Kretzenbacher zum 60. Geburtstag. Hg. von H elge Gerndt und Georg R. Schroubek (= Südosteuropäische Arbeiten, 71). München: R. Oldenbourg Verlag, 1973, S. 197-208, Abb. 13 und 14. 240 K la u s B eitl Ö Z V LV I/105 besonderen Form des volksfrom m en Kultes auf der Grundlage einer zeit- und regionaltypischen liturgisch-monastischen Verehrung geltend gem acht werden konnten. Zugleich wurde die Erwartung zum Ausdruck gebracht, daß vermutlich noch weitere Belege an den Tag gelangen könnten und dam it zusätzliche A ufschlüsse m öglich w ürden.2 N icht ohne Einfluß ist diese Studie zur V inzenz-Verehrung in Tirol denn auch auf die im V erlauf der siebziger Jahre unter m einem D irektorat des Ö sterreichischen M useum s für Volkskunde und des ehem aligen Instituts für G egenw artsvolkskunde der Ö sterreichischen A kadem ie der W issenschaften im R ahm en des Projektes „S tandes brauch der H olzarbeiter“ gem einsam durchgeführte F eldforschung in der W ienerw aldgem einde K lausen-L eopoldsdorf geblieben. D ie dor tige V inzenzifeier der H olzknechte anläßlich ihres Patronatstags am 22. Jänner des Jahres 1976 diente der Erkundung des brauchm äßigen U m feldes - der K ontextualisierung der R equisiten und zeichenhaf ten G egenstände sow ie des H andlungsablaufs dieses Standesfestes. Franz J. G rieshofer hat die Ergebnisse dieses speziellen Projekts in einer Studie vorgelegt3 und darin beispielhaft aufgezeigt, w ie „in klösterlichem , herrschaftlichem und aerarischem Sold stehende Wald arbeiter ... stets eine eigene soziale G ruppe bildeten, die oft unter härtesten A rbeitsbedingungen um ihre Existenz käm pfen m ußte“.4 Z unftähnliche oder bruderschaftliche O rganisationen vereinten die nicht ortsfest tätigen A rbeitergruppierungen, deren religiöse Führung durch die katholische Kirche besonders im 16. und 17. Jahrhundert sich in der D urchform ung des Jahresbrauchtum s und A bhaltung von Jahrtagen m anifestiert. Dem A ufkom m en gew erkschaftlicher B estre bungen im 19. Jahrhundert begegnete späterhin die Kirche m it einer verstärkten A rbeiterseelsorge und im konkreten Fall m it einer neuer lichen B esinnung auf die H olzarbeiterpatronate in deren jew eiligen landschaftlichen A usprägungen: so die K lem enti-Feiern in der S tei erm ark,5 das Patronat des hl. B lasius im B ereich des niederösterrei chischen W ienerw aldstiftes H eiligenkreuz6 sow ie jen es des hl. Vin 2 Beitl (wie Anm. 1), S. 207 f. 3 Grieshofer, Franz J.: Holzhackerschilder aus dem Wienerwald. In: Sammeln und Sichten. Beiträge zur Sachvolkskunde. Festschrift für Franz M aresch zum 75. Geburtstag. Hg. von M ichael Martischnig. Wien: Verband der wissenschaftlichen Gesellschaften Österreichs, 1979. S. 165-172, 10 Abb. 4 G rieshofer (wie Anm. 3), S. 166. 5 Waltner, Lisi: Die Verehrungen des heiligen Klemens in der Steiermark. Phil. Diss. Graz 1975. 2 0 0 2 , H e ft 3 + 4 H l. V in z en z v o n S a ra g o ssa als P a tro n d e r H o lz a rb e ite r 241 zenz von Saragossa im südlichen W ienerw ald und in den anschließen den W aldgebieten bis w eit ins B urgenland.7 D as salzburgisch-tirolische und oberbayrische V erbreitungsgebiet der V inzenz-Verehrung, das hier im B lickpunkt steht und zu w elchem , wie zurecht verm utet wird, das innerösterreichische G ebiet durch die Verm ittlung der aus Tirol und Salzburg in den W ienerw ald berufenen H olzarbeiter in historischer Verbindung steht,8 erfährt im folgenden durch neu zur Verfügung stehende D aten eine zunehm ende Verdich tung und auch A usw eitung des bisherigen B elegortenetzes. In E rgän zung zu m einen volkskundlichen E rhebungen aus dem Jahr 19739 sind es nunm ehr vor allem neuere kunsttopographische Angaben, die zur Verfügung stehen. D ie anschließende A uflistung von K ultbelegen stützt sich au f das Ikonographische R egister des Tiroler K unstkatas ters (Tiroler Landesregierung), der neben dem D ehio-H andbuch der K unstdenkm äler Ö sterreichs10 die „E rfassung der K unstdenkm äler“ des B undeslandes Tirol in B ild und Wort verfolgt." B ezirkshauptm annschaft Im st (D iözese Innsbruck) Nassereith, Weiler Fernpaß, Neue Nothelferkapelle. (Eigentümer Walter Heel, Fernpaßhotel, Nassereith). Deckenfresko mit der Darstellung der hll. Vinzenz, Notburga, Wendelin und Isidor als Schutzheilige über den Weiler und die Kapelle an der alten Paßstraße. Bezeichnet: „Jos. Degenhart: P“; um 1780/90. 6 Watzl, Hermann: Der heilige Blasius als Holzarbeiterpatron im Wienerwald, ln: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde (ÖZV), N.S. XII/61, Wien 1958, S. 262. 7 Friess, Edmund: S. Vincenz von Saragossa, ein Schutzpatron der Holzfäller Niederösterreichs. In: Volk und Volkstum. Jahrbuch für Volkskunde, Bd. II. M ünchen 1938, S. 355-357; Schmidt, Leopold: St. Vinzenz von Saragossa als Patron der Holzarbeiter. In: ÖZV N.S. XII/61, Wien 1958, S. 117; ders.: (Artikel) Vinzenz von Saragossa. In: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. X. 2. Aufl. Freiburg 1965, Sp. 802-803. 8 Schmidt, Leopold: Volkskunde von Niederösterreich, 1. Bd. Horn 1966, S. 2 4 7 254, bes. S. 253. 9 Beitl (wie Anm. 1), S. 199-204. 10 Die Kunstdenkm äler Österreichs: Tirol (= Dehio-Handbuch Die Kunstdenkmäler Österreichs). Wien 1980. 11 D er Sachbearbeiterin Frau Dr. Claudia Gadner danke ich für die in sehr freund licher Weise recherchierten und mir zur Verfügung gestellten Belege (Schreiben der Tiroler Landesregierung/Tiroler Kunstkataster vom 15. September 1992). 242 K la u s B eitl Ö Z V L V I/105 Mit der Verlegung der Mautstelle vom Fernstein auf die Paßhöhe wurde ein Kapellenbau zu Ehren der Vierzehn Nothelfer errichtet, der die Fern steinkapelle ersetzte. Dorthin wurde auch das von Erzherzog Sigmund 1478 gestiftete Kaplaneibenefizium übertragen; ebenso der bemerkenswerte Nothelferaltar von 1661. Quelle: Erfassung der Kunstdenkmäler für den Tiroler Kunstkataster; Bearbeiter: jf, Juni 1984; Photo-Nr. IM-219/12,13. Literatur: Hochenegg, Hans: Die Kirchen Tirols. Innsbruck 1935, S. 195; Amann, Gert: Das Tiroler Oberland. Salzburg 1978, S. 254; - Die Kunst denkmäler Österreichs: Tirol (= Dehio-Handbuch Die Kunstdenkmäler Österreichs). Wien 1980, S. 546. B ezirkshauptm annschaft L andeck (D iözese Innsbruck) Tösens, Pfarrkirche in Steinach an der alten Talstraße. Rechter Seitenaltar, Mitte des 18. Jahrhunderts, Altarblatt (17. Jahrhundert) mit der Darstellung der Anbetung der hll. Drei Könige, Statuen der hll. Vinzenz und Aloysius. Literatur: Die Kunstdenkmäler Österreichs: Tirol (= Dehio-Handbuch Die Kunstdenkmäler Österreichs). Wien 1980, S. 815. Zams, Klosterkirche hl. Jo se f der Barmherzigen Schwestern. Neuromani sche Klosterkirche, 1959 umgestaltet. Hochaltar mit Figur Christus in der Mandorla zwischen Maria und Josef sowie Figur des hl. Vinzenz von Josef Bachlechner jun., 1959. Literatur: Die Kunstdenkmäler Österreichs: Tirol (= Dehio-Handbuch Die Kunstdenkmäler Österreichs). Wien 1980, S. 891. Zams, Krankenhaus und Sanatorium der Barmherzigen Schwestern, Krankenhauskapelle von 1934. Wandbild hl. Vinzenz, bezeichnet: ,,C.R.“ (Carl Rieder). Literatur: Die Kunstdenkmäler Österreichs. Tirol (= Dehio-Handbuch Die Kunstdenkmäler Österreichs). Wien 1980, S. 894. B ezirkshauptm annschaft Schw az (D iözese Innsbruck) Achenkirch, Weiler Achen wald, Schanzkapelle südlich des Gasthofes Marie (Eigentümer: Gemeinde Achenkirch). Fresko im gesamten Deckengewölbe „Aufnahme des Hl. Sebastian in den Himmel“, Original um 1760 von Christoph 20 0 2 , H e ft 3 + 4 H l. V in z en z v o n S a ra g o ssa als P a tro n d e r H o lz a rb e ite r 243 Anton Mayr (geb. um 1720 in Schwaz, gest. 11. Dezember 1771 in Schwaz). Nach dem Umbau der Kapelle wurden die guterhaltenen Fresken ab dem Jahr 1979 bis 1983 von Prof. Pokomy in die neue Kapelle übertragen. Das Deckengemälde zeigt die Aufnahme des hl. Sebastian in den Him mel, wo er von der hl. Dreifaltigkeit, auf Wolken schwebend und von zahlreichen Putti umgeben, erwartet wird. Dem hl. Sebastian zur Seite schweben die hl. Notburga und der hl. Vinzenz mit dem Zapin, der Patron der Holzarbeiter, die im 18. Jahrhundert dem Haupterwerb der Achentaler Bevölkerung nachgegangen sind. Weiters finden sich dargestellt die hll. Johannes von Nepomuk, Benedikt (Zugehörigkeit des Achentales zum Benediktinerstift Fiecht-Georgenberg), Florian, Johannes der Täufer und Joseph. In den Ecken des Freskogemäldes sind die einstigen Hauptbeschäfti gungen im Achental (in grüner Farbe) festgehalten: Holzarbeit, Köhlerei, Schiffahrt auf dem Achensee und Schanzarbeit an der Grenze. Über den rundbogigen Fenstern sitzen auf gemalten Voluten Putten mit Marienmono gramm und Spruchband: “Trösterin der betrübten, Helferin der Christen“, ,,Heil der Kranken, Zueflucht der sinder“. Quelle: Erfassung der Kunstdenkmäler für den Tiroler Kunstkataster. Berabeiter: A. Lener, Juli/August 1987. Photo-Nr. SS Achenkirch 1/23, 33, 37, 38. Literatur: Die Kunstdenkmäler Österreichs: Tirol. (= Dehio-Handbuch Die Kunstdenkmäler Österreichs). Wien 1980, S. 142; Tiroler Kulturberich te 275/276 (April 1980); Tiroler Tageszeitung vom 3. Juli 1977; - Gertrud Pfaundler: Tirol-Lexikon. Innsbruck 1983, S. 255. Achenkirch, Weiler Achenwald, Hagenkapelle westlich des Achenbaches im Achenwald (Eigentümer: Franz Adler, Achenwald 647). Altar mit dem Bild der hll. Maria, Petrus und Paulus und der Darstellung des Hagen kirchleins und ehemaligen Hagenhofes; Seitenfiguren der hll. Vinzenz von Saragossa und Stephanus. Tischlerarbeiten des Altars von Franz Diechtl, 1856, und Altarbild von P. Josef Öfner OSB, 1855; sehr guter Erhaltungs zustand, 1982 restauriert. Auf einem viereckigen Sockel an den äußeren Enden des Retabels auf niedrigem runden goldfarbenen Sockel geschnitzte und goldfarben gefaßte Statuen der hll. Vinzenz von Saragossa und Stephanus. Quelle: Erfassung der Kunstdenkmäler für den Tiroler Kunstkataster; Bearbeiter: A. Lener, Juli 1987; Photo-Nr. SS Achenkirch 6/15Aund 16 A. Literatur: Achentaler Heimatbuch (= Schlern-Schriften, 241). Innsbruck 1965, S. 266; Die Kunstdenkmäler Österreichs: Tirol (= Dehio-Handbuch Die Kunstdenkmäler Österreichs). Wien 1980, S. 142. 244 K la u s B eitl Ö Z V L V I/105 Steinberg am Rofan. Pfarrkirche zum Hl. Lambert. Hochaltargemälde: Maria mit dem Kind, ihr zu Füßen die hll. Lambert und Vinzenz (rechts). Ölgemälde auf Leinwand, bezeichnet und datiert „Jacob Mayr 1737“. Quelle: Erfassung der Kunstdenkmäler für den Tiroler Kunstkataster; Bearbeiter: Bundesdenkmalamt Kraft. Literatur: Die Kunstdenkmäler Österreichs: Tirol {- Dehio-Handbuch Die Kunstdenkmäler Österreichs). Wien 1980, S. 772. B ezirkshauptm annschaft K ufstein (D iözese Salzburg) Brandenberg, Pfarrkirche. Mosaik an der Nordfassade, datiert und signiert: F.P.SCH.1968 (Franz Schunbach, geb. 1898 in Freiberg, Ungarn; ungari scher Staatsbürger bis 1930, Techniker; 1930 bis 1939 Hochschule für Bildende Kunst in Budapest, Kriegsteilnehmer, nach 1945 Wahlheimat in Wörgl). Hl. Vinzenz als Patron der Holzarbeiter vor der Erzherzog-JohannKlause und Holzarbeitern. Das Mosaik wurde anläßlich der Einstellung der Holztrift im Jahr 1966 angefertigt. Eine Gedenktafel unterhalb des Mosaiks verweist darauf. Es befindet sich in der durch den gotischen Spitzbogen eingefaßten Nische an der Nordfassade. Die Darstellung ist in zwei Ebenen gegliedert; Die untere bzw. tieferliegende zeigt eine symbolische Darstellung der Klausenanlage mit der Holztrift und zwei Holzarbeiter mit Säge. Dieser „dokumentari schen“ und genrehaften Szene ist die Gestalt des hl. Vinzenz gleichsam vorgesetzt, d.h. durch ein anders strukturiertes und gemustertes Rechteck vom Hintergrund deutlich abgesetzt und solcherart auf eine andere Wirk lichkeitsebene gehoben. Der hl. Vinzenz ist im Priestergewand der Dalmatika dargestellt und hält in seinen Händen einen Hostienkelch und eine „Tupfstange“, das typische Werkzeug der Flößer zum Heranziehen oder Abstoßen der Holzstämme. Quelle: Erfassung der Kunstdenkmäler für den Tiroler Kunstkataster; Bearbeiter: Hermann Drexel, 6. Dezember 1984; Photo-Nr. KR 76/23,25. Brandenberg, Pfarrkirche. Fresken im Gewölbe des Kirchenschiffes, da tiert 1853, von Josef Arnold sen. (geb. 1788 in Stans, gestorben 1879 in Innsbruck. Einfluß von Schöps, als Gehilfe jedoch nicht nachweisbar, Stu dium in München und Wien, Romreise 1829). Hauptfresko im Gewölbescheitel des Chores: Glorie der hll. Vinzenz, Georg und Katharina. Das Bild ist in vier übereinanderliegende horizontale, durch Wolkenbänke unterteilte Ebenen gegliedert. Unten der getötete Dra che, darüber die drei Heiligen mit ihren Attributen. Der hl. Vinzenz, sitzend, mit 20 0 2 , H e ft 3 + 4 H l. V in zen z von S a ra g o s sa a ls P a tro n d e r H o lz a rb e ite r 245 dem Flößerhaken. Über diesen eine Gruppe von Engeln mit der Gottesmutter. Die Engel halten die Märtyrerkrone und einen Palmenzweig über dem hl. Georg, während die Gottesmutter durch ihre Gestik die Verbindung zwischen der Ebene der Heiligen und der höchsten Ebene der hl. Dreifaltigkeit herstellt. Quelle: Erfassung der Kunstdenkmäler für den Tiroler Kunstkataster; Bearbeiter: Hermann Drexel, 5. Dezember 1984; Photo-Nr. KR 82/4. Literatur: Hochenegg, Hans: Die Kirchen Tirols. Innsbruck 1935, S. 103; Egg, Erich: Das Tiroler Unterland. Salzburg 1971, S. 85; Atzl, Albert: Brandenberg. Aus der Geschichte eines Bergdorfes. In: Tiroler Heimatblät ter 1956, Heft 1/3, S. 14; Die Kunstdenkmäler Österreichs: Tirol (= Dehio Handbuch Die Kunstdenkmäler Österreichs). Wien 1980, S. 202; Egg, Erich: Kunst in Tirol, Band: Malerei und Kunsthandwerk. Innsbruck-W ienMünchen 1970, S. 242; Festschrift zum 300-jährigen Weihejubiläum der Pfarrkirche Brandenberg, Hg. Pfarrgemeinde Brandenberg. 1981, S. 10. Brandenberg, Pfarrkirche. Auszug des Hochaltars (Altarblatt: hl. Georg als Drachentöter) im Kirchenchor: Figur des hl. Vinzenz aus Holz, abgeflacht geschnitzt und gefaßt. Hochaltarrechnung von 1788 im Pfarrarchiv. Josef Pichler, Tischler aus Schliersee, Faßmaler Josef Zaglacher aus Ebbs. Hl. Vinzenz auf Wolken, umgeben von vier Puttenköpfen auf Wolken stücken. Der Heilige ist mit dem Priestergewand gekleidet und führt einen Palmenzweig und eine „Tupfstange“, das Werkzeug der Flößer und Holzar beiter zum Heranziehen oder Wegstoßen der Holzstämme, als Attribut. Die Kasel ist vergoldet, die Alba und Wolken sind silbrig. Quelle: Erfassung der Kunstdenkmäler für den Tiroler Kunstkataster; Bearbeiter: Hermann Drexel, 7. Dezember 1984; Photo-Nr. KR 82/21. Literatur: Hochenegg, Hans: Die Kirchen Tirols. Innsbruck 1935, S. 103; Atzl, Albert: Brandenberg. Aus der Geschichte eines Bergdorfes. In: Tiroler Heimatblätter 1956, Heft 1/3, S. 14; Egg, Erich: Das Tiroler Unterland. Salzburg 1971, S. 85; Die Kunstdenkmäler Österreichs. Tirol (= Dehio Handbuch Die Kunstdenkmäler Österreichs), Wien 1980, S. 202; Festschrift zum 300-jährigen Weihejubiläum der Pfarrkirche Brandenberg. Hg. Pfarr gemeinde Brandenberg, 1981, S. 8. Brandenberg, Pfarrkirche, Sakristei. Statue des hl. Vinzenz (?). Holz geschnitzt, leicht abgeflacht, Höhe 64 cm, Fassung beschädigt, Teile gebro chen. Vermutlich Ende 19. Jahrhundert (?). Typus und Gewandung (weiße Alba, rote Kasel) lassen trotz der fehlen den Attribute auf den hl. Vinzenz schließen. Figur in frontaler, starrer Körperausbildung. 246 K lau s B eitl Ö Z V L V I/105 Quelle: Erfassung der Kunstdenkmäler für den Tiroler Kunstkataster; Bearbeiter: Hermann Drexel, 10. Jänner 1985; Photo-Nr. KR 81/29. Brandenberg, Widum. Statuette hl. Vinzenz (Eigentum der Kirche), Holz abgeflacht geschnitzt und gefaßt, Höhe 44 cm. Ende 17. Jahrhundert. Figur des hl. Vinzenz auf kleinem vergoldeten Sockel im Priestergewand (Alba und Dalmatika), vergoldet, Dalmatika rot gefüttert. In der Linken hält der Heilige eine „Tupfstange“, das typische Werkzeug der Flößer. Erhal tungszustand: Fassung abgenützt, Kopf am Ansatz gebrochen, rechte Hand beschädigt. Quelle: Erfassung der Kunstdenkmäler für den Tiroler Kunstkataster; Berarbeiter: Hermann Drexel, 14. Jänner 1985; Photo-Nr. KR 90/2. Brandenberg, Weiler Aschau, Filialkirche Aschau. Statue des hl. Vinzenz an der Langhauswand. Holz, vollrund geschnitzt, gefaßt, Höhe 71 cm. 2. Hälfte 18. Jahrhundert. Der Heilige auf volutenartiger Konsole in Priesterkleidung (Alba und Dalmatika) mit dem Attribut einer Axt als Holzarbeiterwerkzeug in der Linken, die Rechte vor der Brust. Vergoldet, gezackter Strahlenkranz. Quelle: Erfassung der Kunstdenkmäler für den Tiroler Kunstkataster; Bearbeiter: Hermann Drexel, 15. Jänner 1985, Photo-Nr. KR 85/28. Brandenberg, Erzherzog-Johann-Kapelle. (Eigentum der Bundesforste). Im Altarraum Altaraufbau über Holzmensa an Kapellenrückwand gemalt: hl. Hubertus flankiert von den hll. Vinzenz und Leonhard in Freskogrisaille. Mensabreite 174 cm. Um 1835. Auf der linken Seite des Altars neben gemaltem Pilaster hl. Vinzenz in Dalmatika und mit einem langen Flößerhaken als Attribut in der Rechten, die Linke vor der Brust. Quelle: Erfassung der Kunstdenkmäler für den Tiroler Kunstkataster; Bearbeiter: Hermann Drexel, 18. Jänner 1985; Photo-Nr. KRc 86/14. Literatur: Die Kunstdenkmäler Österreichs: Tirol (= Dehio-Handbuch Die Kunstdenkmäler Österreichs). Wien 1980, S. 203. Brandenberg, Erzherzog-Johann-Kap eile. (Eigentum der Bundesforste). Zwei Gedenktafeln zum Bau der Erzherzog-Johann-Klause (1833/34) mit Darstellung der hll. Vinzenz und Hubertus bzw. Reinold und Barbara (Ka tharina). Ölgemälde auf Holz, schwarzer Holzrahmen mit Eckrosetten. Breite mit Rahmen 93 cm. Um 1835. In der Mitte eines jeden Bildes Darstellung eines Steinsockels mit Ge denkinschrift für die Erbauung der Klause. Beiderseits des Sockels die hll. 2 0 0 2 , H e ft 3 + 4 H l. V in zen z v o n S a ra g o s sa als P a tro n d e r H o lz a rb e ite r 247 Vinzenz (in Dalmatika und mit Flößerhaken in der rechten und Zapin in der linken Hand als Attribute) und Hubertus (mit Hirsch und Pfeil und Bogen). Die Inschrift lautet: „Unter dem Beistände Gottes wurde in den Jahren 1833 und 1834, zu welcher Zeit Herr Joseph Stadler Hofrath und Director, und Herr Andreas Egger Bergrath und Forstwesens Referent der k:k: Berg und Salinen Direction in Hall waren, unter der Leitung des k:k: Waldmeisters in Brixlegg, Gottlieb Zöttl vom Baumeister Johann Müller neu erbaut die Erzherzog Johann Klause.“ Quelle: Erfassung der Kunstdenkmäler für den Tiroler Kunstkataster; Bearbeiter: Hermann Drexel, 18. Jänner 1985; Photo-Nr. KR 86/18. Breitenbach, Pfarrkirche. Seitenaltar im Langhaus rechts, dem hl. Joseph geweiht; am Altarsockel rechts hl. Vinzenz und links hl. Laurentius stehend. Figuren aus Holz geschnitzt und schwarz-gold gefaßt. Mitte 18. Jahrhun dert. Altar 1880 durch Christian Margreiterneu zusammengestellt, 1960 von M. Lackner aus Kirchberg restauriert. Hl. Vinzenz in Dalmatika mit Axt in der linken und Flößerhaken in der rechten Hand als Attribut. Quelle: Erfassung der Kunstdenkmäler für den Tiroler Kunstkataster; Bearbeiter: Hermann Drexel, 2. Mai 1985; Photo-Nr. KR 42/34 und KR 41/8A. Literatur: Hochenegg, Hans: Die Kirchen Tirols. Innsbruck 1935, S. 102; Neuhardt, Johannes: Breitenbach. Salzburg 1968, S. 8; Egg, Erich: Das Tiroler Unterland. Salzburg 1971, S. 86; Die Kunstdenkmäler Österreichs. Tirol (= Dehio-Handbuch Die Kunstdenkmäler Österreichs). Wien 1980, S. 204. Münster, Kniepaßkapelle. (Eigentümer: Kirche). Altar Figuren der hll. Isidor und Vinzenz von Saragossa, Ölgemälde auf Holzbrett, ausgeschnit ten. Höhe ca. 100 cm. Ende 17. Jahrhundert. Hl. Vinzenz in Dalmatika und mit „Tupfstange“ in der linken Hand. Quelle: Erfassung der Kunstdenkmäler für den Tiroler Kunstkataster; Berabeiter: Hermann Drexel; Photo-Nr. KR 64/35. Wildschönau, Pfarrkirche hl. Michael in Thierbach. Kircheneinrichtung mit barocken Konsolfiguren der hll. Martin, Johannes d.T., Katharina, Margaretha, Florian, Vinzenz, Leonhard und Bartholomäus. Literatur: Die Kunstdenkmäler Österreichs: Tirol (= Dehio-Handbuch Die Kunstdenkmäler Österreichs). Wien 1980, S. 886. 248 K la u s B eitl Ö Z V LV I/105 B ezirkshauptm annschaft K itzbühel (D iözese Salzburg) Fieberbrunn, Pfarrkirche. Zwei geschnitzte, reich ornamentierte Zunft stangen. Die beiden über 250 cm langen Stangen enden in einem laternen förmigen Baldachin mit den Statuetten der hl. Barbara (Patronin des Berg baus) und des hl. Vinzenz (Patron der Holzarbeiter). Der strenge Akanthusdekor, das Granatapfelmuster und die Modellierung der Figuren datieren diese Prozessionsstangen in die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts. Quelle: Erfassung der Kunstdenkmäler für den Tiroler Kunstkataster; Mitteilung: Claudia Grabner. Literatur: Tiroler Tageszeitung vom 9. November 1981. D ie kunsttopographische D okum entation des Tiroler K unstkatasters w ird an den einzelnen B elegorten noch der N achfrage bedürfen, was die G eltung in G laube und Kult der in K irchenräum en, in K apellen und B ildstöcken bew ahrten Figuren und B ilder des hl. V inzenz b e trifft und in w elchem A usm aß sie schließlich m eine hier eingangs zitierte Interpretation der besonderen landschafts-, zeit- und gesell schaftstypischen Form der volksfrom m en Verehrung des hl. Vinzenz bekräftigt. G ew iß ist indes, daß die D arstellungen des H eiligen - abgesehen von der B eigabe eines Zapins oder einer Axt - nam entlich durch das spezifische A ttribut des zu einer F lößerstange um gedeuteten u r sprünglichen M arterw erkzeugs als Schutzpatron der H olzknechtar beiter ausgew iesen w ird.12 D iesem besonderen Zug in der ikonogra12 Anmerkung: D er hl. Vinzenz von Saragossa (Fest 22. Jänner), geboren zu Huesca und gestorben 304 in Valencia. Schüler des Valerus, B ischof von Valencia, der ihn zum Diakon weihte. Da Valerus nicht redegewandt war, überließ er Vinzenz das Predigen. Als Archidiakon zeichnete er sich durch eine gute Verwaltung der G üter zugunsten der Armen aus. Als die Christenverfolgung Diokletians aus brach, ließ dessen Statthalter Dacianus Valerus und Vinzenz festnehmen und nach Valencia bringen, wo sie verurteilt und gefoltert wurden und das Feuermartyrium erlitten (Domingo Ramos-Lissön: [Art.] Vinzenz v. Saragossa. In: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. X. 3. Aufl. F reiburg-B asel-R om -W ien: 2001, Sp. 800). Die Heiligenlegende erfährt einen frühen Ausbau, die außer dem Schutz des Leichnam s durch einen Raben bis zum 8./9. Jahrhundert viele hagiographische Topoi aufnimmt. Dargestellt wird der hl. Vinzenz als jugendlicher Diakon m it Dalmatika, Palm e und Buch, auch mit Folterhaken und Rabe. Ursprünglich in einer B asilika vor Valencia verehrt, verbreiteten sich seit dem 6. Jahrhundert Reliquien und Patrozinium schnell um das westliche Mittelmeer, in Frankreich 20 0 2 , H e ft 3 + 4 H l. V in zen z von S a ra g o s sa als P a tro n d e r H o lz a rb e ite r 249 phischen A usform ung des in den G egenden der Tiroler und bayri schen N ördlichen K alkalpen vorherrschenden H eiligenattributs sei noch eine letzte abschließende B em erkung gew idm et. D ie ikonographische U m deutung des doppelzinkigen und krallenförm igen F euer hakens als Z eichen der Feuerm arter des spanischen E rzm ärtyrers zu einer Flößerstange als typischem A rbeitsgerät der W aldw irtschaft und der dam it verbundenen H olztrift findet auch in der landläufigen B enennung als „S tupf- oder T upfstange“ ihren N iederschlag. Es ist die G estalt und der G ebrauch dieses W erkzeugs, w elche die G rundlage bilden für die volksfrom m e Interpretation des legendären F euerhakens als ein auf die religiöse Schutzherrschaft hinw eisenden Zeichens. Das den H olzarbeitern altvertraute G erät in der H and des H eiligen stellt die geistliche Identifikation sowohl des einzelnen B erufsangehörigen als auch des gesam ten B erufsstandes m it dem k irchlichen P atron her. D urch ein D ing der eigenen A rbeitsw elt erfährt die berufliche A rbeit ihre Heiligung. M an w ird in diesem Fall wohl nicht von einer „Ikonotropie nach m ißverstandenen A ttributen“ sprechen wollen, wie L eopold K retzen bacher es unlängst bei den sogenannten „V ölksheiligen“ St. Agatha, F lorian und L eonhard und früher schon für K ultbilder und Fresken in Südosteuropa geltend gem acht h at,13 wohl aber von einer „U m -D eutung eines zuvor gänzlich anders gegebenen B ild-Inhalts“ . „A ttribute in der H and von H eiligen ... sind m eist aus der passio oder überhaupt aus der vita des zur Ehre der A ltäre Erhobenen und aus den dem ,V olke4 zur Verehrung gestellten R eliquien-R equisiten entnom m en. Sie sind Sinnbilder, signa ... Als solche A ussagen an d e n ,W issenden1 w ie aber auch an den ,G läubigen1, der einstm als m ehr als in unserer säkularisierten Z eit B ilder und Zeichen auch zu ,lesen 1 verstand, ... bleiben sie g le ic h w o h l,sprechbereit1.11,4 und im Spätm ittelalter auch nach Deutschland und Ungarn (Krüger, K. H.: [Art.] Vinzenz, hl. In: Lexikon des M ittelalters, Bd. VIII. München 1977, Sp. 1704). 13 Kretzenbacher, Leopold: Ikonotropie nach mißverstandenen Attributen, zumal bei den sogenannten „Volksheiligen“ St. Agatha, Florian und Leonhard. In: Obersteiner, G. P. u.a. (Red.): Festschrift für Gerhard Pferschy zum 70. Geburts tag (= Forschungen zur geschichtlichen Landeskunde der Steiermark, 42; Zeit schrift des Historischen Vereins für Steiermark, Sonderbd. 25). Graz: Historische Landeskomm ission für Steiermark, 2000, S. 155-170; ders.: Ikonotropie zu Kultbildern und Fresken in Südosteuropa. In: Südost-Forschungen XXIX. M ün chen 1970, S. 249-266; und ders.: Säkularisierte Ikonotropie zu religiösen Bild themen Südosteuropas. In: Ebd. L, München 1991, S. 215-234. 250 K lau s B eitl Ö Z V L V I/105 D em A nlaß dieses B eitrags zur Festgabe für Leopold K retzenba cher entsprechend sei schließlich noch ein anderer A spekt angedeutet. U nter dem L eitgedanken des B äuerlichen A rbeitsm ythos hat Leopold Schm idt seinerzeit im Z usam m enhang der Verknüpfung von prakti schem A rbeitsgerät m it dessen glaubens- und brauchm äßiger G eltung seine G ru n d einsicht einer ,,tie f innerlichen V erbundenheit alles volkstüm lichen Fühlens und Flandelns“ in den B egriff der „G estalt h eiligkeit“ g efaß t.15 M it diesem A nsatz einer eigenständigen volks kundlichen T heorie hatte Leopold Schm idt den Versuch unternom m en, die von ihm sehr früh diagnostizierte Spaltung zw ischen einer rationalistischen Sachvolkskunde und der „geistigen“ Volkskunde einer Synthese zuzuführen. D ie vorliegende kleine A rbeit soll jedoch auf die B estandsaufnah m e zusätzlicher „p o sitiv er“ Fakten zu m einer vorausgegangenen, gleichfalls Leopold K retzenbacher zugedacht gew esenen Studie be schränkt bleiben und dem M otto folgen „... dam it sie nicht verloren gehen!“ In diesem Sinne sei es m ir zugestanden, beim festlichen „T u rn ier“ der Schreiber in Verehrung für den hochgeschätzten Jubi lar, für den m it Leopold Schm idt ein Leben lang eng verbundenen Freund L eopold K retzenbacher, noch einm al eine „L a n ze“ eingelegt zu haben, auch w enn diese nur eine „S tupf- oder Tupfstange“ sein mag. K laus Beitl, The Veneration of St. Vincent of Saragossa as the Patron of W oodworkers In 1972, the author contributed to the Festschrift in honor o f Leopold Kretzenbacher’s 60lh birthday. That article was based on fieldwork in the northern Tyrolese Alps to establish the regional significance of the veneration o f the patron saint. Now, thirty years later, on the occasion o f this commemorative gift to celebrate his 90,h birthday, further evidence on this topic can be provided, thanks to the recent survey o f artworks for the Tyrolian Art Registry. Particular attention is paid to one of the saint’s attributes, namely a fire poker that is reinterpreted as a rafting pole, as it points to the fiery martyrdom o f St. Vincent o f Saragossa. The article concludes with some considerations about Leopold Schm idt’s term “Gestaltheiligkeit”. 14 Kretzenbacher, Ikonotropie (wie Anm. 13), S. 169 f. 15 Schmidt, Leopold: Gestaltheiligkeit im bäuerlichen Arbeitsmythos. Studien zu Ernteschnittgeräten und ihrer Stellung im europäischen Volksglauben und Volks brauch (= Veröffentlichungen des Österreichischen M useums für Volkskunde, Bd. I. Wien 1952, S. 1-2. Österreichische Zeitschrift fü r Volkskunde Band LVI/105, Wien 2002, 251-278 „Der Sehnsuchtsschrei nach Freiheit“ E rich N achtm anns Erinnerungen an A lbanien H elm ut Eberhart 1916 bis 1918 besetzte Österreich-Ungarn weite Teile Alba niens. Erich Nachtmann war als junger Offizier Teilnehmer dieses Feldzuges und verfasste zu Beginn des Jahres 1921 ein mehrseitiges M anuskript, in dem er seine Erinnerungen nie derschrieb. Dieser spontane Text ist als Beispiel für Kriegs darstellungen „von unten“ interessant und zeichnet mit seinen zahlreichen Stereotypen ein Bild Albaniens, das nicht zuletzt durch die Kriegsteilnahme vieler Ö sterreicher in M itteleuropa vorherrscht. Somit kann dieser Erlebnisbericht auch als M o saikstein für eine Geschichtsschreibung Albaniens gelten, die nicht von W issenschaftlern oder Literaten verfasst wurde. Prolog Im Som m er 1993 verbrachte ich m it einer G ruppe von Volkskundlern und H istorikern einige W ochen zur Feldforschung in den Bergen nördlich von Shkodër.' In den folgenden M onaten und Jahren hielt ich über dieses Forschungsprojekt eine Reihe von Vorträgen, so auch 1994 au f E inladung des Salzburger Landesinstituts für Volkskunde. N ach dem Vortrag sprach m ich eine Zuhörerin an und teilte m ir mit, dass ihr Vater Erich N achtm ann als ju n g er O ffizier im Ersten W elt krieg in A lbanien gedient hatte und darüber einen kurzen handschrift lichen B ericht hinterließ. Sie sandte m ir diesen B ericht bald danach in K opie zu;2 er blieb zunächst m ehr oder w eniger unbeachtet bei m einen A lbanien-A ufzeichnungen liegen. D ie Einladung zur M itar1 Vgl. dazu die veröffentlichten Forschungsergebnisse: Eberhart, Helmut, Karl Kaser (Hg.): Albanien. Stammesleben zwischen Tradition und Moderne. Wien 1995. 2 M ein Dank gilt in diesem Zusammenhang Frau Sylvia Nachtmann, die mir nicht nur den B ericht zusandte, sondern mir auch zahlreiches Material aus dem N achlass ihres Vaters zur Verfügung stellte. Dies war für die entsprechende Kontextualisierung der Aufzeichnungen unerlässlich. 252 H e lm u t E b e rh a rt Ö Z V L V I/105 Abb. 1: Erich Nachtmann als Oberleutnant der k.u.k. Armee; die A ufnahme ent stand vermutlich in einem A telier während seines Heimaturlaubes im Juli 1918. 2 0 0 2 , H e ft 3 + 4 „ D e r S e h n su ch tssch rei n a ch F re ih e it“ 253 b eit an der vorliegenden F estschrift rie f in m ir sofort die E rinnerung an dieses M anuskript w ach und ich bin dankbar für die G elegenheit, m it dieser Studie an Leopold K retzenbachers ausgeprägte A ffinität zum B alkan erinnern zu dürfen. D er historische Rahm en Zum besseren Verständnis des nachstehend edierten und kom m entier ten B erichtes von Erich N achtm ann ist es notw endig, den außerhalb der Südosteuropa- und der Z eitgeschichte w enig bekannten A lbani enfeldzug der k.u.k. A rm ee w enigstens in groben Zügen zu skizzie ren: N ach dem Sieg Ö sterreich-U ngarns über Serbien und M ontene gro im W interfeldzug 1915/16 beschloss das A rm eeoberkom m ando, die nach A lbanien zurückw eichenden Serben zu verfolgen. Am 16. Jänner 1916 erhielt das X IX. Korps der 3. A rm ee den Befehl, nach N ordalbanien einzurücken, Skutari (= Shkodër) zu besetzen und dann an die A driaküste nach San G iovanni di M edua3 zu m arschieren, um die E inschiffung der flüchtenden Serben zu stören.4 D am it begann die etw a zw eieinhalb Jahre dauernde B esetzung des größten Teiles A lba niens durch k.u.k. Truppen. „N ichtsdestow eniger w ar der Entschluß zum Einm arsch in A lba nien ein verzw eifelt schwerer. D er G rund lag in der B eschaffenheit dieses K riegsschauplatzes. A lbanien w ar bis zum K riege das w enigst erforschte Land E uropas.“5 D ie extrem schw ierigen topographischen 3 H eute der kleine Adriahafen Shëngjin in der Nähe von Lezhë. 4 Veith, Georg: D er Feldzug in Albanien. In: Schwarte, M. (Hg.): Der österrei chisch-ungarische Krieg (= Der große Krieg 1914-1918, Band 5). Leipzig 1922, S. 511-558; hier: S. 517. 5 Veith (wie Anm. 4), S. 512; diese Feststellung galt bekanntlich bis weit nach dem Ersten Weltkrieg. Ich erinnere nur an die M etapher vom „vergessenen Land“, die allenthalben in den Texten verschiedener Autoren auftauchte. Vgl. dazu BuschZantner, Richard: Albanien. Neues Land im Imperium. Leipzig 1939, S. 7: „Europas vergessenes Land“ übertitelt er das erste Kapitel seiner Einleitung; Bernatzik, Hugo Adolf: Europas vergessenes Land. Wien 1930 (es handelt sich hier wohl um die heute kaum mehr greifbare Erstauflage seines bekannten Buches „A lbanien. Das Land der Schkipetaren“, 4. Aufl. Wien o.J.; mit dem C opyrightverm erk Wien 1930; geänderter Titel ab der 2. Aufl.); vgl. dazu Eber hart, Helmut: Von Ami Boué zu Hugo A dolf Bernatzik. Skizzen zur Geschichte der österreichischen Ethnographie in Albanien vor 1938. In: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde 101 (1998), S. 9-34; hier: S. 32, Anm. 101. Auch 254 H e lm u t E b e rh a rt Ö Z V L V I/105 Abb. 2: „B adender Train“ im Devoli; September 1917 Die Truppe nutzte an den heißen Sommertagen jede M öglichkeit, sich und die Pfer de im M eer oder in den Flüssen zu erfrischen. Verhältnisse m ahnten schon dam als zur Vorsicht. In den kom m enden Jahren sollten sich diese B efürchtungen m ehr als bestätigen. F ehlen de Infrastruktur und M alaria (siehe unten) w urden die H auptfeinde der Truppen w ährend des A lbanienfeldzuges. A m 23. Jänner w urde Skutari besetzt6 und bereits am 23. Februar begann der A n griff au f D urazzo (= D urrës). A nfang M ärz standen die Truppen am Fluß Skum bi (= Shkum binit), der als südliche B esat zungsgrenze vorgesehen war. D ie österreichische A rm ee w urde aller dings vom U m stand überrascht, dass die italienischen Truppen sich nach dem Fall von D urazzo bis Valona (= V lorë) zurückgezogen hatten, was zw angsläufig dazu führte, dass die k.u.k Truppen bis an die Vojusa (= V josës) nachrückten, um den leeren R aum auszufüllen.7 M it der E rreichung der V ojusafront durch albanische H ilfstruppen Autoren, die diese M etapher nicht bemühen, betonen die Abgeschlossenheit des Landes besonders; vgl. z.B.; von Luckwald, Erich: Albanien. Land zwischen Gestern und Morgen. M ünchen 1942: „Eigenartig mutet es an, daß sich in Europa auf uraltem Kulturboden ... ein Land ... bis vor kurzem nahezu abgeschlossen von der Umwelt hat halten können.“ (S. 5) 6 Veith (wie Anm. 4), S. 518. 7 Veith (wie Anm. 4), S. 525. 20 0 2 , H e ft 3 + 4 „ D e r S e h n su c h tssc h re i n ach F re ih e it“ 255 (siehe unten) im M ärz 1916 w ar die südlichste A usdehnung der B esatzungszone erreicht. Es kann hier nicht der geeignete Platz sein, um die G eschichte des A lbanienfeldzuges w iederzugeben,8 es m uss daher die F eststellung genügen, dass die ungefähre F rontlinie Vojusa flußaufw ärts bis M em aliaj, nach N orden zum Fluß O sum (= Osum it), w iederum flussaufw ärts bis C erevoda (= Qorovodë), dann entlang der G ebirgshöhen in R ichtung O hridsee die m axim ale A usdehnung der B esatzungszone bildete. Sie hatte im W esentlichen bis zum Som m er 1918 B estand, ehe der R ückzug des XIX. Korps begann, der erst m it der E inschiffung der letzten Truppenteile am 23. N ovem ber 1918 seinen A bschluss fand. D ie Ö sterreicher trieben in diesen Jahren nicht nur die Verbesse rung der V erkehrsinfrastruktur voran (dies lag prim är im Interesse der B esatzer), sondern engagierten sich bei der Erforschung des Landes au f verschiedenen Gebieten: „Ind essen arbeiteten K ünstler und G elehrte verschiedener Fächer an der E rforschung des Landes, nicht nur im Etappenraum , sondern auch in der Front und stellenw eise selbst zw ischen den Fronten; die teilw eise A usgrabungen der in vorderster Linie gelegenen antiken Städte A pollonia und Byllis, die A ufdeckung zahlreicher anderer antiker Siedelungen, Straßen und B rücken, verbunden m it einer groß zügigen B ergungsaktion gefährdeter Denkm äler, dann w eitgehende zoologische, botanische, geologische und ethnographische9 Studien, gekrönt von einer auf w issenschaftlicher B asis durchgeführten Volks zäh lu n g ,10 sind die erfreulichen Ergebnisse dieser ... K ulturarbeit.“ 11 8 Neben Veith (wie Anm. 4) sei hier vor allem auf das umfassendste Werk zu diesem Them a verwiesen: Glaise-Horstenau, Edmund (Projektleiter): Ö ster reich-Ungarns letzter Krieg 1914-1918, Bd. 4 und 5: Das K riegsjahr 1916, 1. und 2. Teil, Wien 1933; Bd. 6: Das Kriegsjahr 1917, Wien 1936; Bd. 7: Das K riegsjahr 1918, Wien 1938; Bd. 7 wurde von Glaise-Horstenau gemeinsam mit Rudolf Kiszling geleitet. 9 Zu den wichtigsten Unternehmungen aus kulturwissenschaftlicher Sicht gehört die Reise A. Haberlandts im Sommer 1916 nach M ontenegro und Albanien, die in einer beachtlichen Publikation ihren Niederschlag fand: Haberlandt, Arthur: K ulturwissenschaftliche Beiträge zur Volkskunde von Montenegro, Albanien und Serbien. Ergebnisse einer Forschungsreise in den von den k.u.k. Truppen besetzten Gebieten (Zeitschrift für Volkskunde, Ergänzungsband XII zum XXIII. Jg. 1917). Wien 1917. 10 Vgl. dazu: Seiner, Franz: Ergebnisse der Volkszählung in Albanien in dem von den österr.-ung. Truppen 1916-1918 besetzten Gebiete (= Schriften der Balkan komm ission, Linguistische Abteilung XIII). Wien und Leipzig 1922. Seiner 256 H e lm u t E b e rh a rt Ö Z V LV I/105 W enn auch diesen A ussagen G eorg Veiths ein w enig das Pathos des „K u ltu rb rin g ers“ anhaftet, so b leibt die Tatsache bestehen, dass Ö sterreich in A lbanien keinesfalls nur als B esatzungsm acht auftrat, sondern sich ernsthaft m it der K ultur des Landes auseinander setzte. Als B eispiel dafür m ag auch gelten, dass man 150 Exem plare einer B roschüre m it dem Titel „Stam m esgliederung, Sitten und G ebräuche der A lbaner“ drucken ließ, die am 23. N ovem ber 1916 dem K riegs m inisterium überm ittelt wurden. Sie dienten „ z u r B eteilung der m it der A usbildung der m oslim itischen und albanischen K riegsfreiw illi gen betrauten E rsatzkörper“ .12 Insgesam t verfolgte das w issenschaftliche E ngagem ent Ö ster reich-U ngarns m it den vielen Projekten zur Erforschung des Landes wohl keinen Selbstzw eck, sondern stand in der Tradition der statis tischen A ufklärung bzw. der K am eralistik und folgte dem M otto, dass m an über Länder, die m an beherrschen und verw alten will, auch g eo g rap h isch e, w irtsch aftlich e und kulturelle K enntnisse haben m uss. G erade der V ielvölkerstaat Ö sterreich-U ngarn verfügte auf diesem G ebiet über eine entsprechende Tradition. Erich N achtm ann: Biographische N o tizen13 E rich N achtm ann entstam m te einer A pothekerfam ilie. Sein Vater F riedrich N achtm ann w ar A potheker in Schum berg an der D esse (B öhm en), wohin die Fam ilie aus H artberg (O ststeierm ark) zugezo gen war. F riedrich N achtm ann entw ickelte „N achtm anns R aucher wertete die Ergebnisse nur in einem ersten Überblick aus. Die Gesamtergebnisse der Volkszählung werden derzeit in einem größeren Forschungsprojekt unter der Leitung von Helmut Eberhart und Karl Kaser aufbereitet. Die Daten sollen nach Abschluss des Projektes (Sommer 2003) für weitere Forschungen zur Verfügung stehen. 11 Veith (wie Anm. 4), S. 539. 12 Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Kriegsarchiv, 1916, 2/W 7-4, Schreiben des A rmeeoberkomm andos an das k.u.k. Kriegsministerium vom 23.11.1916; Ich habe bereits einmal auf dieses Material hingewiesen (vgl. Eberhart [wie Anm. 5], S. 25) und damals festgestellt, dass es mir nicht möglich war, diese Broschüre im Original einzusehen. Leider war es mir auch in den letzten fünf Jahre nicht möglich, ein Exem plar dieser Broschüre zu finden. 13 Die knappe biographische Skizze erfolgte aufgrund verschiedener Dokumente (Zeugnisse, Wehrpass u.a.) aus seinem Nachlass, die mir seine Tochter Sylvia N achtmann zur Verfügung stellte (vgl. auch Anm. 2). 2 0 0 2 , H e ft 3 + 4 ,D e r S e h n s u c h ts s c h re i n a ch F re ih e it“ 257 w olle“ , einen Z igarettenfilter, der in Schum berg industriell produziert wurde. Seine M utter M arie w ar eine geborene von L eitner und N ach kom m e K ajetan Franz von Leitners (1768-1805) und seines Sohnes, des D ichters Karl G ottfried von L eitner (1800-1890). K ajetan spielt für die G eschichte der Volkskunde eine gew isse Rolle, w ar er doch ein w ichtiger Vertreter der „vaterländischen R eisenden“ und m it seiner 1798 veröffentlichten „V aterländischen Reise von G rätz über E isenerz nach S teyer“ bekannt gew orden.14 E rich w urde am 6. Juni 1895 in Schum berg geboren und besuchte nach der G rundschule zw ischen 1911/12 und 1913/14 die „S ch lesi sche landw irtschaftliche Landesm ittelschule in O ber=H erm sdorf“ . Sein A bschlusszeugnis trägt das D atum 1. Juli 1914. A nschließend m eldete sich N achtm ann als „einjährig F reiw illiger“ zum M ilitär. N ach B eendigung seiner A usbildung im Som m er 1915 kam er zu nächst nach Sarajew o, um dann im N ovem ber m it seiner Einheit in R ichtung A lbanien aufzubrechen, wo er bis K riegsende blieb. Am 2. Juli 1918 erhielt er als „L eutnant der R eserve“ das Eiserne Kreuz 2. K lasse“ ; am 10. N ovem ber 1918 schied er als O berleutnant der R eserve aus der Arm ee. Seine erste A nstellung führte N achtm ann zunächst nach O beröster reich, wo er vom 15. D ezem ber 1918 bis 15. Jänner 1921 als „Ö k o nom ie-P raktikant“ bei der Ö konom ie-V erw altung K leinm ünchen bei Linz tätig war. A nschließend arbeitete er bis 30. A pril 1922 auf dem L andgut der N ettingsdorfer P apierfabrik als Adjunkt, um schließlich als V erw alter zur H errschaft H agenberg (Prägarten in O berösterreich) zu w echseln. E r blieb dort m it einer längeren U nterbrechung bis 1. Juli 1937.15 1926 wird ihm der Titel „Ing enieur“ verliehen. 1922 heiratete er zum ersten M al (er ließ sich später scheiden, um sich erneut zu verehelichen). Im Jänner 1939 finden w ir ihn zur „U m schulung auf deutsche A usbildung“ in der „F ahrtruppenschule“ in Hannover, ehe er dann am 26. A ugust 1939 als O berleutnant der R eserve in eine „F ah rk o 14 von Leitner, Kajetan Franz: Vaterländische Reise von Grätz über Eisenerz nach Steyer. Wien 1798; Neudruck 1978; zu Leitners Bedeutung für die Volkskunde vgl. Schmidt, Leopold: Geschichte der österreichischen Volkskunde (= Buchrei he der Zeitschrift für Volkskunde, Neue Serie, Bd. II). Wien 1951, S. 54; zu seinem Sohn Karl Gottfried vgl. List, Rudolf: Kunst und Künstler in der Steier mark. Ein Nachschlagewerk, 13. Lieferung. Ried im Innkreis 1974, S. 495. 15 Die Lücke in seiner Biographie zwischen dem 1. Mai 1929 und dem 15. Juni 1936 kann aufgrund der vorhandenen Unterlagen nicht geschlossen werden. 258 H e lm u t E b e rh a rt Ö Z V L V I/105 lonne“ eintritt. N och vor K riegsende scheidet er am 3. A ugust 1944 als M ajor der R eserve aus der W ehrm acht au s16 und arbeitet w ieder als G utsv erw alter, diesm al übernahm er einige M eiereien des S chw arzenberg’schen B esitzes im böhm ischen Krum au. N achtm ann blieb dort bis 5. M ai 1945. N ach einer w eiteren Lücke in seiner B iographie bis 15. N ovem ber 1948 finden w ir ihn von da an bis zum 15. A ugust 1952 in der L andw irtschaftskam m er von O berösterreich, ehe er zum letzten M al seinen D ienstgeber w echselt, um bis zum 31. D ezem ber 1960 die H artm ann’sche Forst- und G utsverw altung in S tain ach zu leiten. S einen R uhestand verbringt er zunächst in Stainach, anschließend in A schach und die letzten Jahre in Bad Schallerbach, wo er am 18. Jänner 1975 stirbt. Q uellenkritische Anm erkungen Das vorliegende M anuskript um fasst zw ölf handschriftliche Seiten au f m ehreren D oppel- und E inzelblättern im F orm at 34 x 21,5 cm: Seite 1 auf einem D oppelblatt (erstes B latt recto beschrieben; R est leer) Seite 2 auf einem B latt (nur recto beschrieben) Seiten 3 und 4 au f einem D oppelblatt (jew eils recto beschrieben) Seiten 5 und 6 auf einem D oppelblatt (jew eils recto beschrieben) Seiten 7 und 8 au f einem D oppelblatt (jew eils recto beschrieben; abw eichendes Papier: geringere Stärke, dunklere Farbe) Seiten 9 und 10 auf einem D oppelblatt (jew eils recto beschrieben) Seiten 11 und 12 auf einem D oppelblatt (jew eils recto beschrieben) Das M anuskript w eist einige nachträgliche B leistiftkorrekturen auf, die als H inw eis auf eine beabsichtigte V eröffentlichung zu w erten sind. L inks oben ist ebenfalls nachträglich m it B leistift das D atum „21. 1 .2 1 “ verm erkt. Ob es sich dabei um das D atum einer allfälligen V eröffentlichung in einer Zeitung oder um das nachträglich eingetra gene D atum der M anuskripterstellung handelt, w äre nur durch eine system atische Suche in allen in Frage kom m enden Tageszeitungen und M agazinen festzustellen.17 Das M anuskript ist m it F eder in kur 16 Im Wehrpass wird dafür keine nähere Begründung angegeben. 17 Nach A uskunft von Sylvia Nachtmann kommt am ehesten das „Salzburger Volksblatt“ in Frage. Eine Recherche in einschlägigen Salzburger Zeitungen der damaligen Zeit führte allerdings zu einem negativen Ergebnis: Die „Erinne- 2 0 0 2 , H e ft 3 + 4 „ D e r S e h n su c h tssc h re i n ach F re ih e it“ 259 rent geschrieben und trug ursprünglich nur den N am en des Verfassers und dessen A dresse, jed o ch kein D atum . Es gibt jedoch m ehrere H inw eise, die eine A nnäherung erlauben: Zunächst schreibt N acht m ann von der Erm ordung Essad Paschas. D ieses D atum lässt sich historisch m it dem 13. Juni 1920 festm achen (siehe dazu K om m entar zur E dition). H ilfreich ist auch sein H inweis: „W as m ich aber neuer dings an m einen dreijährigen A u fe n th a lt... erinnert, ist das Erdbeben, von dem ein großer Teil A lbaniens vor einigen W ochen heim gesucht w urde, dem 15 O rtschaften, darunter die fast 15.000 M enschen zäh lende Stadt Elbasan ... zum O pfer fielen.“ (M anuskript S. 1) N un gibt es für ein derart verheerendes Erdbeben in Elbasan keinerlei H inw ei se, sehr wohl aber für das schw ere Beben, das unm ittelbar vor dem 11. D ezem ber 1920 Tepelenë dem E rdboden gleich m achte (siehe E dition und K om m entar in Anm. 24). D ieser Z eitpunkt fügt sich auch besser in die angenom m ene A bfolge der G eschehnisse ein. D ie Ver w echslung Tepelenë m it Elbasan ist für N achtm ann nicht ungew öhn lich und steht beispielhaft für einige Irrtüm er, die diese spontan geschriebenen E rinnerungen kennzeichnen. Schließlich schreibt N achtm ann am Ende noch von der bevorste henden Selbstständigkeit A lbaniens (M anuskript S. 11 f.) und bezieht sich dabei offenbar auf die B em ühungen des Landes um seine U nab hängigkeit. A lbanien befand sich dam als in einer „h eiß en “ Phase der S taatsw erdung zw ischen dem N ationalkongress in Lushnjë (2 8 .31.1.1920), in dessen Rahm en die Selbstständigkeit proklam iert w ur de, und der internationalen A nerkennung als souveräner Staat bzw. der A ufnahm e in den Völkerbund, die erst am 17. D ezem ber 1920 erfolgte. D ie U m setzung der zugesprochenen Souveränität sollte allerdings noch eine längere Z eit dauern. Das E rdbeben ereignete sich um den 10. D ezem ber 1920; die A ufnahm e in den V ölkerbund erfolg te am 17. D ezem ber 1920. D a N achtm ann zw ar vage, aber für unsere Z w ecke präzise genug, anm erkt, das Erdbeben habe „ v o r einigen W ochen“ stattgefunden, ist m it R echt anzunehm en, dass er auch von der A ufnahm e A lbaniens in den Völkerbund K enntnis hatte. (Die rungen ..." sind w eder im Salzburger Volksblatt, noch in den Zeitungen „S alz burger Chronik“, „Salzburger Wacht“ und „Salzburger Volksboten“ am infrage komm enden Tag gedruckt worden; auch nicht in den Tagen davor oder danach. Für die Recherche danke ich Frau Lucia Luidoldt und Frau Sonja Vallant, beide Salzburg. Im Nachlass von Erich Nachtmann befindet sich jedenfalls kein A b druck des M anuskriptes, was eher gegen eine Veröffentlichung spricht. 260 H e lm u t E b e rh a rt Ö Z V L V I/105 Presse berichtete dam als regelm äßig über die m ehrere W ochen dau ernde K onferenz des Völkerbundes in Genf.) Verm utlich bezog er sich m it seiner Form ulierung: „B ald w ird A lbanien von dem ja h re langen frem den Joch befreit sein!“ (M anuskript S. 11) gerade auf diesen internationalen Akt (siehe K om m entar zur E dition). D ie ange führten F akten und Interpretationen lassen es zu, das M anuskript einigerm aßen genau zu datieren: D er vorliegende B ericht w ird frü hestens zur Jahresw ende 1920/21 w ahrscheinlich aber erst im Jänner 1921 geschrieben w orden sein. Das nachträglich eingefügte D atum ist som it als E ntstehungsdatum nicht auszuschließen. N achtm ann hatte sich offensichtlich nicht die M ühe gem acht, eigens für seinen B ericht zu recherchieren. D er Text ist aus der E rinnerung geschrieben und spontan entstanden. D em entsprechend sind F ehler und ungenaue A ngaben häufig, w enn es sich um konkrete A ussagen handelt: Zum B eispiel sind O rtsangaben oft ungenau oder falsch w iedergegeben. Was m acht aber diesen Text dennoch für die heutige F orschung interessant? D er B ericht des jungen O ffiziers zeigt sehr deutlich, was an kurzfristig abrufbaren E rinnerungen von einem Ereignis bleibt, das sicher prägend für das w eitere Leben war. Die A ussagen zu K ultur und L ebensw eise der A lbaner bleiben sehr oft in stereotypen Vorstellungen verhaftet und verm itteln bzw. verstärken jenes B ild des „w ilden, rauen Landes m it seinen ebenso rauen und kriegerischen M enschen“, das bis heute unsere Vorstellungen von A lbanien prägt. Es handelt sich außerdem um einen der w enigen bekannten B erichte über die Teilnahm e am A lbanienfeldzug im E r sten W eltkrieg und som it um einen M osaikstein zur B eschreibung dieser w elthistorischen M arginalie aus der Sicht „v o n unten“ . Viel leicht könnte die gezielte Suche in A rchiven und privaten N achlässen noch w eiteres M aterial zutage fördern und so ein - w enn auch kritisch zu analysierendes - B ild dieser R egion zu Beginn des letzten Jahr hunderts ergeben, das nicht von G elehrten oder L iteraten entw orfen wurde. M it E inschränkung käm en dafür auch die zahlreichen A n sichtskarten in B etracht, die von Soldaten zw ischen 1916 und 1918 nach H ause geschickt w urden.18 18 Es ist natürlich zu berücksichtigen, dass die Postkarten der M ilitärzensur unter lagen; von Nachtmann liegt nur eine Karte an seine Eltern in seinem Nachlass, die das Aufgabedatum 13.VIII. 1918 trägt und auf der Bildseite eine Ansicht von Shkodër zeigt. Nachtmann berichtet kurz von seiner Reise nach Albanien nach einem Heimaturlaub. Er berichtet aber auch von einem Konzertbesuch während 2 0 0 2 , H e ft 3 + 4 „ D e r S e h n su ch tssch rei n ach F re ih e it“ 261 A ußer N achtm anns B ericht liegt m ir nur ein vergleichbarer Text vor, den ein K riegsteilnehm er offenbar 1922 als Vortrag verfasst hatte und der 1923 veröffentlicht w urde.19D ieser B ericht ist deutlich exak ter recherchiert, w enn auch über w eite Strecken ähnliche B ilder verm ittelt w erden. Es fehlt ihm jedoch die Spontaneität des N achtm ann’schen Textes. E rgänzend sei noch verm erkt, dass sich im N achlass von Erich N achtm ann auch ein Fotoalbum befindet, das E rinnerungen an den A lbanienfeldzug beinhaltet. Es enthält 107 A ufnahm en überw iegend aus A lbanien. Das A lbum zerfällt m ehr oder w eniger deutlich in zw ei Teile: Z unächst überw iegen A nsichtskarten und professionelle Fotos, m it denen N achtm ann Städte wie Tirana, Elbasan und D urazzo zeigt, dann überw iegen persönliche E rinnerungsfotos an den E insatz seines Trainzuges in A lbanien: Portraits und Fotos seiner M annschaft sind dabei ebenso vertreten, wie B ilder von Pferden und seinen Flunden. Etw as abw eichend sind sieben A ufnahm en, die w ährend seines H ei m aturlaubes 1918 entstanden sind. D ie Z usam m enstellung des A l bum s w irkt eher zufällig und folgt keinem zeitlichen A blauf und keinen w eiteren inhaltlichen Schw erpunkten. E dition D ie E dition erfolgt grundsätzlich w ortgetreu; in einigen Fällen w ur den offensichtliche R echtschreibfehler korrigiert, bzw. die G roß- und K leinschreibung angepasst. Frem dsprachige B egriffe blieben in der von N achtm ann verw endeten Schreibw eise, die sich sehr stark am H ören orientiert. In diesen Fällen erfolgten nach M öglichkeit E rläute rungen in den A nm erkungen. In einem Fall w ar jedoch die Schreib w eise um zustellen: der nur im K ontext verständliche „M u sein “ w ur de zum „M u ezzin “ . eines Rasttages in Shkodër und erlaubt damit ein kurzes Schlaglicht auf den zivilen Alltag in den Städten. 19 Huber, Alois: Erinnerungen aus dem Vormarsch der 20. Ldst. Brigade in Albanien 1916. In: M ilitärwissenschaftliche M itteilungen 54 (1923), S. 146-155 und S. 257-261, hier: S. 150. 262 H e lm u t E b e rh a rt Ö Z V LV I/105 (Seite 1:) E rinnerungen an A lbanien E rich N achtm ann Das Interesse für A lbanien ist seit den U m sturztagen schon öfter in dem Vordergrund gestanden. Ich erinnere m ich an die Streitigkeiten der A lbanesen m it den Jugoslaw en und Italienern, die auch ihre R echtsan sp rü che au f A lbanien ausdehnten,20 an den politischen M ord, begangen an dem einstm aligen frevelhaften M achthaber von A lbanien, E ssad Pascha,21 der kurz vor A usbruch des K rieges den 20 Nachtmann bezieht sich auf die Auseinandersetzungen unmittelbar nach Kriegs ende. Nach dem Abzug der österreichisch-ungarischen Truppen hatten jugosla wische Einheiten Albanien besetzt und versuchten, vollendete Tatsachen zu schaffen. Jugoslawien stritt dabei mit Italien und Griechenland um die Vor herrschaft über Albanien und wollte ein unabhängiges Albanien vermeiden. Schon am 29. Juli 1919 hatten Griechenland und Italien die Abtretung des N ordepirus (Südalbanien) an Griechenland und die Errichtung eines italienischen Protektorates über Restalbanien vereinbart. Vgl. dazu: Schmidt-Neke, Michael: Geschichtliche Grundlagen. In: Grothusen, Klaus-Detlev (Hg.): Albanien (Südosteuropa-Handbuch VII). Göttingen 1993, S. 26-56, hier: S. 37. Diese Aus einandersetzungen bedeuteten im Grunde die Fortsetzung der Streitigkeiten zwischen 1912 und 1914. Albanien hatte sich nach dem Ende der osmanischen H errschaft über die Balkanhalbinsel am 28.11.1912 für unabhängig erklärt und war som it erstmals in seiner Geschichte ein - zumindest formal - souveräner Staat. Serbien, Montenegro, Griechenland und auch Italien wollten diese Unab hängigkeit verhindern und setzten sich entweder für eine A ufteilung oder für ein Protektorat (Italien) ein (vgl. Schmidt-Neke [wie Anm. 20], S. 34 f.); vgl. dazu auch Anm. 55. 21 Esat Pasha Toptani (in der zeitgenössischen deutschen Literatur meist Essad Pascha) w ar einer der schillerndsten Politiker der Frühzeit Albaniens als eigener Staat. Sultan Abdul Hamid ließ seinen Bruder Gani Bey Toptani ermorden und unterstützte gleichsam als Ausgleich - und um ihn ruhig zu halten - den Bruder Esat, der mit 30 Jahren schon Polizeichef von Joannina war und den Titel Pascha trug (vgl. Busch-Zantner [wie Anm. 5], S. 198). Esat Pasha versuchte schon ein knappes Jahr nach der Unabhängigkeitserklärung im Oktober 1913 eine Gegen regierung zu bilden und die M acht an sich zu reißen (vgl. Schmidt-Neke [wie Anm. 20], S. 35). Albanien wurde aber auch auf seinem Weg zur Selbstbestim mung noch fremdbestim mt und so einigten sich Rom und Wien auf Vorschlag Rumäniens, dem Neffen der rumänischen Königin Elisabeth, dem deutschen Prinzen Wilhelm zu Wied die Fürstenkrone Albaniens anzubieten (Schmidt-Neke [wie Anm. 20], S. 36). Esat Pasha schwenkte daraufhin um und war selbst Leiter jener Delegation, die noch im Herbst 1913 dem deutschen Prinzen das Fürsten tum antrug. Esat Pasha intrigierte jedoch auch gegen Wied, in dessen Kabinett er Kriegs- und Innenm inister war. Als er im Sommer 1914 einen missglückten Aufstand gegen W ied anzettelte, musste er nach Italien fliehen und ging an- 20 0 2 , H e ft 3 + 4 ,D e r S e h n su ch tssch rei n a ch F re ih e it“ 263 Fürsten von W ied in sein Land lockte, aus dem er durch Essads Intrigen m it knapper N ot sein Leben durch Flucht rettete.22 Was mich aber neuerdings an m einen dreijährigen A ufenthalt in diesem heißen Lande erinnert, ist das Erdbeben, von dem ein großer Teil A lbaniens vor einigen W ochen heim gesucht wurde, dem 15 O rtschaften, darun ter die fast 15.000 M enschen zählende Stadt Elbasan (Stadt der L iebe),23 viele Tote und Verwundete zum O pfer fielen.24 schließend nach Paris. Nach dem Krieg versuchte er von Frankreich aus erneut, die M acht an sich zu reißen (Busch-Zantner [wie Anm. 5], S. 68) und wurde am 13.6.1920 in Paris von einem albanischen Studenten erschossen (Schmidt-Neke [wie Anm. 20], S. 38). Die Meinung der meisten westlichen Schriftsteller, Diplo m aten und Politiker über Esat Pasha bringt Friedrich Wallisch auf den Punkt: „E ssad Pascha war zur einen Hälfte ein großer Usurpator mit der genialen Skrupellosigkeit eines Condottieres der Renaissancezeit, zur anderen Hälfte war er ein Schlaum eier mit der pfiffigen Art des orientalischen K aufmanns.“ (Wal lisch, Friedrich: Neuland Albanien. Stuttgart 1931, S. 14). Auch Erich N acht mann kennzeichnet ihn grundsätzlich ähnlich, nur wird hier aus der intriganten Schläue Verrat, was wohl auch mit der Rolle Nachtmanns als Offizier zu tun hat. 22 Prinz Wilhelm zu Wied (1876-1945) nahm am 6.2.1914 die Herrschaft an, die man ihm im H erbst 1913 angetragen hatte. In Albanien fand sich offenbar kein K andidat mit einer entsprechend hohen Integrationskraft. Er kam am 7. März 1914 in das Land, um eine kurze Regentschaft anzutreten. Umgeben von schlech ten Beratern, versuchte er Albanien von der Hafenstadt Dürres aus zu regieren, was schließlich misslang, als er bedingt durch den Beginn des Ersten Weltkrieges auch noch die Unterstützung Deutschlands und Österreichs verlor, die sich ihren eigenen Problemen zuwandten. Wied musste das Land bereits am 3. September 1914 w ieder verlassen, um nicht „ein Nachfolger M aximilians von M exiko zu w erden“ (Wallisch [wie Anm. 21], S. 16). Vgl. dazu auch Schmidt-Neke (wie Anm. 20), S. 36, der auch die Gründe für Wieds Scheitern herausarbeitet. 23 Dieser Beinam e ist in Albanien nicht geläufig; ob sich Nachtmann hier auf persönliche Erinnerungen bezieht oder vielleicht das in ganz Albanien bekannte Frühlingsfest von Elbasan vor Augen hatte, als er diese Zeilen schrieb, lässt sich nicht mehr feststellen. Für den Hinweis auf das Frühlingsfest danke ich Gentiana Kera, Graz und Tirana. 24 Die Bemerkung über das „v o r einigen Wochen“ stattgefundene Erdbeben scheint der konkreteste Hinweis auf eine Datierung des M anuskriptes zu sein. Wie schon oben ausgeführt (vgl. auch Abschnitt Quellenkritische Anmerkungen) kommt hier wohl nur das große Erdbeben von 1920 in Frage, das allerdings nicht Elbasan, sondern das weiter südlich gelegene Tepelenë zerstörte. Größere Zerstö rungen in Elbasan lassen sich in der einschlägigen Literatur nicht finden. Zur Zerstörung Tepelenës hingegen finden sich mehrere Hinweise: vgl. dazu vor allem Louis, Herbert: Albanien. Eine Landeskunde (= Geographische Abhand lungen, Zweite Reihe, Heft 3). Stuttgart 1927, S. 86; Löffler, Joachim: Erdbeben in Albanien und ihre geologischen Ursachen. In: Geographische Berichte. M ittei lungen der Geographischen Gesellschaft der Deutschen Demokratischen Repu- 264 H e lm u t E b e rh a rt Ö Z V LV I/105 Viele, die durch das neidische G eschick ihren K riegsdienst in dem allgem ein als unw irtlich bekannten Lande versehen m ussten, erin nern sich noch oft an ihr schw eres Leben in A lbanien. G lücklich schätzten sich nur diejenigen, w elche keine M alaria oder andere heim tückische K rankheiten von dort nach H ause brachten.23 Es sind gew iß nur w enige, doch die erzählen w ohl heute noch gern von ihren Erlebnissen, von der Eigenart des Landes und des Volkes. Es w ar wohl A benteuergeist, nicht zuletzt auch eine gute physische K örperbe schaffenheit, sow ie Interesse für die N atur notw endig, auch gute E indrücke aufzunehm en. In diese K ategorie von M enschen gehörte auch ich glücklicherw ei se. In 3 Jahren m eines dortigen A ufenthaltes26 durchquerte ich A lbablik, Heft 29 vom Dezember 1963, S. 265-270, hier: S. 268. Bei Louis und Löffler finden sich keine genaueren Hinweise auf den Zeitpunkt des Bebens. Die Suche in der Tagespresse ist hier zielführender. Am 12. Dezember 1920 widmen etwa die beiden steirischen Tageszeitungen „K leine Zeitung“ und „Tagespost“ unter Berufung auf einen Korrespondentenbericht diesem Ereignis eine gleich lautende Meldung: „E in heftiges Erdbeben hat sämtliche Dörfer im Bezirke Tepeleni zerstört. Die Stadt Tepeleni selbst ist dem Erdboden gleichgemacht. M ehr als 200 Personen sind ums Leben gekommen, 15.000 sind ohne Obdach. Die Erdstöße dauern an.“ (Kleine Zeitung: S. 4; Tagespost: S. 3) Die Kleine Zeitung beruft sich zusätzlich auf eine Meldung vom Vortag, also 11. Dezember, in der italienischen Presse. Die Erdstöße müssen also in den Tagen unmittelbar davor erfolgt sein. W ie Louis berichtet, hatte Tepelenë vor dem Beben 5000 Einwohner, danach nur mehr 190! (vgl. S. 86) 25 Insbesondere die M alaria machte den Truppen im Ersten Weltkrieg schwer zu schaffen. In den historischen Studien über den Weltkrieg wird mehrfach von großen Ausfällen durch M alaria berichtet. Vgl. dazu beispielsweise: Veith (wie Anm. 4), S. 553: ,,... und nach der üblichen Inkubationsfrist von 2 -3 Wochen brach die Seuche lawinenartig los. Von den Abgängen des M onates Juli entfielen auf Gefechtsverluste etwa 3900, auf Erkrankungen 2600 M ann; im August betrugen erstere wenig über 2000, letztere 18000!“ ; vgl. weiters: Glaise-Horstenau (wie Anm. 8), S. 66; auch andere Autoren berichten im mer wieder von der M alaria in Albanien, die gerade in diesem Land mit seinen ausgedehnten Sum pf landschaften besonders verbreitet war: „Ein Schreckgespenst für unsereins ist hier die M alaria.“ (Wallisch [wie Anm. 21], S. 78). 26 Der Aufenthalt Nachtmanns dauerte von Februar 1916 bis längstens O ktober/No vember 1918. Während der Beginn seines Albanienaufenthaltes annäherungs w eise aus seinen Aufzeichnungen abzuleiten ist, kann aufgrund seines W ehrpas ses aus dem Zweiten Weltkrieg geschlossen werden, dass er vermutlich bis etwa Allerheiligen 1918 in Albanien blieb. Im Wehrpass ist als Datum seines A usschei dens aus der Armee der 10. November 1918 angegeben. Die letzten Truppenteile verließen am 25. N ovember 1918 Ragusa (= Dubrovnik); damit war der Feldzug gegen Albanien zu Ende; vgl. dazu Veith (wie Anm. 4), S. 558. 2 0 0 2 , H e ft 3 + 4 ,D e r S e h n s u c h ts s c h re i n a ch F r e ih e it“ 265 Abb. 3: Österreichische Offiziere und Soldaten mit „B andenführer“ Kajo und einigen seiner Kämpfer, März 1918 Die Aufnahme trägt auf der Rückseite folgende Beschriftung: Valbona Banden in Strelca, B andenführer Kajo, März 1918, Lt. Imre Fahri aus Argyrocastra gefallen am Klosterberg sdl. vom Maliksee. nien öfter von N orden nach Süden und von O sten nach W esten. Im D ezem ber 1915 m arschierte ich als Staffelkom m andant aus der h err lichen orientalisch anm utenden Stadt Sarajevo in B osnien ab und nach 1 1 /2 m onatlichen A ufenthalt an der w ilden Tara in M ontenegro ging es in R iesenm ärschen über Podgoritza, au f der einstigen R ück zugslinie der Serben, nach Skutari. W ir w aren dam als (Seite 2:) aber infolge der schlechten N achschubverhältnisse m it Lebensm itteln schlecht versorgt. D as albanische zerklüftete R andgebirge w ar m it unzähligen M enschenleichen und P ferdekadavern, die vom serbi schen R ückzug herrührten, förm lich übersät.27 H ie und da versperrte uns undurchdringliches G estrüpp den W eg und m it scharfen H acken bahnten w ir uns einen neuen. Wasser, H olz, selbst Platz zum Lagern für 100 M ann und über 200 P ferde fehlten. Das größte Ü bel w ar w ohl der andauernde R egen, der w ochenlang währte. A m N achm ittag vor unserem E intreffen in Skutari verschoben sich endlich die W olken und die zarten S onnenstrahlen spendeten uns 27 Zum indest von den vielen toten Pferden, die die Serben zurückließen, berichten auch die offiziellen Quellen; vgl. dazu Veith (wie Anm. 4), S. 511. 266 H e lm u t E b e rh a rt Ö Z V L V I/105 reichlich Wärme. An einem B erghange bezogen w ir Lager, die w as sertriefende L ast der Tragtiere lag ausgebreitet am B oden und die letzten Vorräte brodelten im Kessel. N achdem für das leibliche Wohl der M annschaft und Pferde gesorgt war, erging sich fast Alles in einen w ohlverdienten, tiefen Schlaf. Ich begab m ich m it einigen kräftigen, zähen B osniaken auf die Suche nach A lbanern, denen w ir noch nicht begegnet waren, um G ew ißheit über die w eiteren W egverhältnisse zu bekom m en; denn die K arten w aren gänzlich unverläßlich. Bald er klom m en w ir ein W ohnhaus „skutscha“,28 das hoch am B erge lag. Bis an die Zähne bew affnet, stand vor diesem ein graubärtiger Albaner, (Seite 3:) der nicht gerade einladend aussah und uns auch nicht so em pfangen hat. Sein H aupthaar hing in langen Strähnen bis an die Schultern herab und aus seinem tiefgebräunten G esicht blickten uns fast zornfunkelnde A ugen entgegen. Wir waren w ohl die ersten Ö ster reicher, die er zu G esicht bekam . Seine K leidung bestand aus einer grobleinenen H ose, die m anschettenartig am Fuße auslief. D er O ber körper w ar m it einem starken W ams bedeckt und m it schw eren Ketten geziert. In seinem M unitionsgürtel steckten eine U nm enge P atro nen - italienischer Provenienz. D ie K opfbedeckung fehlte, die F uß bekleidung w aren Opanken. A uf sein G ew ehr stützend w iegte er sich unaufhörlich hin und her.29 Eine Verständigung m it dem M anne war unm öglich, trotzdem er seine Sprache m it allm öglichen G ebärden zu unterstützen suchte. So zogen wir denn w ieder talabw ärts, nachdem w ir uns gegenseitig m it Tabak und Zigaretten beschenkt hatten. U nser E rfolg bestand nur darin, daß der edle Skipetar vielleicht einsah, daß sein gegen uns gehegtes M ißtrauen unnötig war. D ie „sk u tsch a“ lag an einem herrlichen Punkt. M an sah den Tabarosch-30, auf dem Sonnenstrahlen auf und ab kletterten, einen Weg, der 28 Nachtmann überträgt hier das serbische und kroatische Wort ,,kuca“ (Haus) in falscher Schreibweise auf Albanien. Im Albanischen gibt es nur einen ähnlich klingenden B egriff für eine einfache halb in die Erde versenkte und nur temporär bewohnte Hütte: „K acor“ (vgl. dazu Nopcsa, Franz: Albanien. Bauten, Trachten und Geräte Nordalbaniens. B erlin-Leipzig 1925, S. 8). Dieser Typ hat auch im südslawischen Raum seine Entsprechung und wird dort „K acara“ genannt. 29 Obwohl die Beschreibung ein wenig nach Karl May klingt und der stereotypen Vorstellung der M alësoren (Bergbewohner) Nordalbaniens entspricht, hat sie sicher reale Bezüge, wie auch Ansichtskarten und Fotos in zeitgenössischen Publikationen bestätigen. Insbesondere die von österreichischen Soldaten in die Heim at geschickten Ansichtskarten haben dazu beigetragen, das Bild des ,,bis an die Zähne“ bewaffneten Albaners zu verstärken. 30 Eigentlich „Tarabos“ . Der Tarabos liegt am Südwestufer des Skutarisees (heute: 2 0 0 2 , H e ft 3 + 4 „ D e r S e h n s u c h ts s c h re i n a ch F re ih e it“ 267 Abb. 4: Bergbew ohner aus Nordalbanien, 1918 oder früher Ansichtskarten dieser A rt wurden in großer Zahl von österreichischen Offizieren und Soldaten zu Verwandten geschickt und trugen das Ihre dazu bei, das Stereotyp des kriegerischen und stets kampfbereiten Albaners zu prägen. sich in unendlichen Serpentinen au f ihn wand. A m Fuße dieses B erges liegt der herrliche Skutarisee, au f dem m eine A ugen lange nachdenk lich ruhten. A u f ihm lagen (Seite 4:) viele Fischerfahrzeuge, von Liqeni i Shkodres [alb.] oder Skadarsko jezero [serb.]) und an der Grenze zu Montenegro. D er Berg ist auf den üblichen Karten heute nicht m ehr zu finden, jedoch findet er in der zeitgenössischen Literatur mehrfach Erwähnung: z.B. beschreibt Wallisch den Berg (wie Anm. 21, S. 60); auch Gopcevic beschreibt diesen Berg bereits 1881 (vgl. Gopcevic, Spiridion: Oberalbanien und seine Liga. Leipzig 1881, S. 69). Ein w eiterer m ir vorliegender Bericht eines Offiziers des Ersten W eltkrieges über seinen Einsatz in A lbanien nennt den Tarabos als Samm elpunkt für den Marsch nach Skutari: „A m Fuße des ,Tarabosch“ ... sam m elte sich unsere Kolonne zum Einm arsch in die Stadt“, H uber (wie Anm. 19), S. 150. 268 H e lm u t E b e rh a rt Ö Z V LV I/105 denen einige in lautloser Stille kreuzten. In den Lüften wiegten sich silbergraue Möwen. Im Nordosten lag die Stadt Skutari mit ihren bunten Häusern, weißen M oscheen und melonenförm igen Kuppeln. Unzählige M inaretts und schlanke Cypressen hoben sich als Silhouetten vom H im m el ab. Am Fuße unserer Anhöhe erschien ein M uezzin, der seine Gläubigen in langen lauten Rufen zum Gebete aufforderte. Es w urde im m er dunkler. D er See erschien nicht m ehr wie schw er bew egtes Q uecksilber, sondern es lag auf ihm ein m atter Schein der untergehenden Sonne. A m nächsten M orgen zogen w ir endlich in Skutari ein, wo uns einige Tage R uhe vergönnt w aren. D ie Stadt, die auf albanisch „S ch k o d ra“31 heißt, liegt am gleichnam igen See und hat gegen 30.000 Einwohner. D iese sind vorw iegend M oham m edaner. Den kleineren Teil bilden Katholiken und Griechen. „Schkodra“ hat schöne Häuser, die oft bis zu den Giebeln m it Efeu um rankt sind. M it ihren hellen Fensterläden nehm en sie sich m itunter recht m alerisch aus. An der breiten Hauptstraße liegen große europäische Gebäude, wie man sie vornehmlich in Skutari findet, ohne (Seite 5:) der Stadt den ergreifenden, m elancholischen Charakter des Orients abzuschwächen. Bei unserer Ankunft in Skutari herrschte dort reges Leben. Österreichische Abtei lungen zogen ein und aus, stets von den neugierigen Augen der Einw oh ner verfolgt. In den unzähligen Kaffeehäusern, „kafanas“, hockten zum eist alte Türken auf kleinen Erhöhungen und tranken „echt Türki schen“. Im m oham medanischen Stadtteil gibt es endlose schmale Gas sen, die durch die M auereinfriedungen der Harems gebildet werden. Sie um geben das Geheimnisvolle, nach dem unser Auge schaute, gew öhn lich aber nichts sah als einen Liebeswerber, der sich m it einem am Tore befindlichen Ring, durch Aufschlagen desselben, anmeldete. Die Tür kinnen sah m an zuweilen tief verschleiert von einem zum anderen Tor huschen. Sie trachteten uns in solchen engen Gassen nicht zu begegnen. Einem aufmerksam en Beobachter entging es aber trotzdem nicht, daß die Türkinnen oft einen schneeweißen Teint, bem alte Augenbrauen und Fingernägel hatten. Gekleidet sind sie in schwarze Seidenm äntel.32 D er albanische Türke hat zum eist nur eine Frau und die Verm äh lung geschieht nach Sonnenuntergang, zu w elcher Z eit der N euver m ählte erst in den H arem geführt werden darf. Das B rautkleid der 31 Alb.: „Shkodër“ oder „Shkodra“. 32 Z ur Tracht in Nordalbanien vgl. die wohl nach wie vor beste Darstellung in deutscher Sprache bei Nopcsa (wie Anm. 28), S. 155-225. 20 0 2 , H e ft 3 + 4 „ D e r S e h n su c h tssc h re i n ach F re ih e it“ 269 Türkin ist stets purpurrot. B esonders begehrensw ert sind beleibte Frauen. (Seite 6:) D a der Türke seine Frau vor der H ochzeit wenig kennt, sind E hescheidungen häufige Erscheinungen. D en G eschiede nen steht aber nach den Vorschriften des Korans das R echt der W iederverehelichung zu. G eschieht dies zum dritten M ale, wobei er auch eine seiner früheren Frauen w ieder heiraten kann, ist dies eine Scheinheirat, die m an als „h ü h le“ bezeichnet. Das „h ü h le“ ist dem allgem einen G espött ausgesetzt und der klägliche H eld heißt „hühledschi“ . D a aber das „h ü h le“ m it einem G eldgeschenk verbunden ist, w ird in der H insicht viel U nfug getrieben.33 L eider dauerte unser A ufenthalt in Skutari nur einige Tage. W ir w aren vorbereitet auf w eitere Strapazen, an denen es später nicht gem angelt hat. M it dem A uszug aus Skutari ließen w ir auch buchstäb lich jed e K ultur zurück, soviel von derselben gesprochen werden konnte. W ir kam en in öde Gegenden, sow ohl in das H ochgebirge, als auch in w eit ausgedehnte Steppen und w aren uns selbst überlassen. In den Frühjahrs- und H erbstregenperioden verw andelten sich weite Flächen in einen ausgedehnten Sumpf. W ir versanken oft bis zu den K nien und die Pferde w aren nach 2 -3 W egstunden derart entkräftet, daß sie liegen bleiben m ußten. U nscheinbare B äche w urden reißende Ström e, die w ir durchw aten m ußten, um den Truppen Verpflegung und M unition nachzuschaffen. Dabei verschw anden oft M ann und Pferd (Seite 7:) in den w ilden Fluten. An unseren M onturen klebte oft tagelang derselbe Schm utz. W ie beneideten w ir da so m anchen Infan teristen, der gegen einen anderen Feind, als gegen die gew altige N atur zu käm pfen hatte.34 33 Diese „Scheinheirat“ wird in der mir vorliegenden zeitgenössischen Literatur nicht beschrieben: vgl. z.B. einige ausführliche Schilderungen: Gopcevic, Spiridion: Das Fürstentum Albanien. Berlin 1914, S. 160-168; Siebertz, Paul: Alba nien und die Albanesen. Wien 1910, 2. Aufl., S. 231-241; Durham, Mary Edith: Some Tribal Origins, Laws and Customs o f the Balkans. London 1928, S. 192— 202. Bei „hühle“ handelt es sich offenbar um „hfle“, was soviel wie „Trick, List, Tücke oder H interlist“ bedeutet. Es findet sich auch eine Entsprechung zum „hühledschi“, nämlich „hileqâr“ (Betrüger oder Täuscher); Lohr, Astrid: Fjalor Shqip Gjerm anisht - Wörterbuch Albanisch - Deutsch. Tirana 1996, S. 135 (für den Hinweis danke ich Gabriele Ponisch, Graz). 34 Diese eindringliche Schilderung der katastrophalen Wegverhältnisse in Albanien findet sich als eines der Haupthindernisse der Truppenbewegungen in allen Darstellungen des Albanienfeldzuges, sowohl in den großen historischen Werken (vgl. z.B. Veith [wie Anm. 4], S. 513 f.) als auch - besonders dramatisch - im Erlebnisbericht Alois Hubers (wie Anm. 19): „knietief im W asser ging es weiter“ 270 H e lm u t E b e rh a rt Ö Z V L V I/105 In D urazzo, der H aupt- und einstm aligen R esidenzstadt A lbaniens, eingetroffen, begrüßten uns feindliche Flugzeuge m it Bom ben. W ir w aren aber völlig apathisch und zogen in unserem gleichm äßigen T rott ein. Das schreckliche G espenst, die C holera, w ütete dort furcht bar, sodaß ich es vorzog, am Festungshügel zu lagern. Ich besichtigte das Palais des Prinzen W ied, das von den W ellen der A dria überspült w ird.35 D ie fü rstliche E inrichtung w ar zum größten Teil fortge schleppt, das Palais selbst arg beschädigt. D er O rt w ar seit jeh er ein großer Schm utzw inkel. D ie um liegenden Süm pfe m achen D urazzo zum H erd von vielen K rankheiten. W ir nannten die G egend „die H eim at der M alaria“. W ir w aren froh, als w ir w eiterziehen konnten. Je südlicher w ir aber kam en, desto ärger hatten w ir zu leiden. Die R egenperiode w ar vorüber und w ir traten plötzlich in die heiße Zeit ein. D ie Tropenhitze w ar täglich 6 5 -7 0 Grad. Sie zw ang uns zu N achtm ärschen; denn an einen erquickenden S chlaf konnten wir infolge der M oskitoplage nicht denken, außerdem w aren w ir dann w enigstens den heißen Sonnenstrahlen nicht ausgesetzt. N ur einiger m aßen w urden w ir durch das B aden in der A dria entschädigt, das uns, M ann wie Pferd, für kurze Z eit erquickte (siehe Abb. 2). B ald schli chen sich aber die heim tückischen K rankheiten auch bei (Seite 8:) uns ein, trotzdem ich auf strengste Einhaltung der G egenm aßnahm en hielt. D ie Ruhr, C holera, sow ie die M alaria forderten ihre Opfer. Die M alaria trat oft in ihrer tropischen Form auf.36 Selbst die Pferde w urden m alariakrank und standen oft in 2 -3 Tagen um [= sie starben, Anm. Eberhart]. (S. 257); „knietief im Sum pf ... versanken wir im aufgeweichten Lehmboden“ (S. 259), „M it Schaudern setzten wir ... durch Lachen und Bäche den Leidens weg fort“, „E s folgte Watpartie um Watpartie, wir kamen überhaupt aus dem Wasser nicht mehr heraus“ (S. 260). 35 Eine Schilderung des Palais bringt Gopcevic in seinem „Fürstentum A lbanien“ (wie Anm. 33), S. 355 f. Das Palais dürfte aber bereits um 1930 nicht mehr existiert haben, da Wallisch 1931 schreibt: „In nächster Nähe des kleinen Stadtparks von Durazzo, also auch in der Nähe der Stelle, an der das Schloß des Fürsten Wilhelm stand, beginnt der Boulevard Zogu.“ (wie Anm. 21, S. 17) 36 Vgl. dazu Veith (wie Anm. 4), S. 514: „D ie eigentliche A nsteckungsfrist beginnt an der Küste (Vojusamündung) etwa Anfang oder M itte Juni und schreitet ziemlich langsam landeinwärts fort; Berat z.B. wird erst nach etwa sechs Wochen erreicht. In dieser Zeit überwiegt die als „M alaria tertiana“ bekannte Form; Im H ochsomm er setzt dann die „M alaria tropica“ ein, erreicht ihren Höhepunkt etwa zu Beginn der Regenzeit und erlischt nicht vor Mitte oder Ende November.“ Zur M alaria vgl. auch Anm. 25. 2 0 0 2 , H e ft 3 + 4 .D e r S e h n su ch tssch rei n a ch F re ih e it“ 271 G ott sei D ank w urden w ir in unserer schw ersten Z eit von der Vojuza37 in das albanische G ebirge dirigiert, da gab es w ieder frische M atten38, au f denen w ir lagern konnten. Das herrlichste G ebirgsw asser sprudelte aus vielen Quellen. An deren R ändern gab es unzählige, uns m eist unbekannte Blum en, die m it aller Energie aufgeschossen waren, um ihre kurze D aseinsfrist auszunützen; denn bald versiegten so m anche Q uellen, die die F lora ernährt hatten. A u f den schm alen Pfaden kletterten die m unteren Tragtiere, von den lauten Z urufen ihrer Führer stets angeeifert, bergauf. So steil es b ergauf ging, ging es au f der anderen Seite des B erges hinunter. Dabei w ar es w underlich anzusehen, wie sich die Pferde in die U m laufgur ten setzten und buchstäblich den Berg hinabrutschten. Das albanische M ittelgebirge bildet unheim lich entzückende, wild rom antische G egenden. D ort gibt es tiefe Täler, an deren Sohlen kein Sonnenstrahl hinabzudringen verm ag, R isse in den Bergen, die durch die E rosion der W ildbäche entstanden sind, die bei Sonnenschein silbern erglänzen. Vom C afa Tum ulus39 1500 m über dem M eere sieht m an sogar über die G renzen von A lbanien hinaus. (Seite 9:) Gegen Südw esten breitet sich die tiefblaue A dria aus, gegen O sten liegt der M aliksee, aus dem der Devoli fließt,40 dessen L auf lange in einem 37 Heute Vjosës; ein Fluß in Südalbanien und zugleich die südlichste Frontlinie der österreichischen Truppen (sog. Vojusafront); vgl. dazu Glaise-Horstenau (wie Anm. 8), Beilagen 3 und 29 zu Bd. 4, Beilage 17 zu Bd. 5, Beilagen 1 und 5 zu Bd. 6, Beilagen 1, 8, 25 und 29 zu Bd. 7. 38 Dass Nachtmann hier den ungewöhnlichen A usdruck,,M atten“ verwendet, dürf te mit seiner landwirtschaftlichen Ausbildung Zusammenhängen, da es sich um einen geographischen „Terminus technicus“ handelt. Allerdings gibt Cay Lienau für Albanien die M attenzone erst ab einer Höhe von 2000 m an und beschreibt sie als „offenere Rasenfluren, Polstervegetation und xerophile Gräser und Zw ergsträucher“ (Lienau, Cay: Geographische Grundlagen. In: Grothusen [wie Anm. 20], S. 1-25, hier: S. 13). Nachtmann dürfte „M atten“ eher allgemein für die Wiesen der bewirtschafteten Almen benutzt haben. 39 Diese Ortsangabe konnte ich nicht verifizieren. Caf (alb.: qafë oder qafë mali) steht allgemein für Pass bzw. Gebirgspass. 40 A uf neueren Karten wird man den Maliqsee vergeblich suchen, während ihn die alten Karten sehr wohl verzeichnen (vgl. z.B. Andrees Handatlas, 2. Aufl., zweiter revidierter Abdruck, Bielefeld und Leipzig 1890, Blatt 78 und 79). Auch in den Landesskizzen der vor dem Zweiten Weltkrieg erschienenen Bücher über Albanien findet man den See verzeichnet. Eine ausführlichere Beschreibung des Maliqsees bietet etwa H erbert Louis, der auch erwähnt, dass der See in seiner Ausdehnung zur Zeit des Ersten Weltkrieges offenbar erst M itte des 19. Jahrhun derts nach einem Erdbeben entstanden sein soll (Louis [wie Anm. 24], S. 123). 272 H e lm u t E b e rh a rt Ö Z V L V I/105 tiefen Tale verfolgt w erden kann. H underte von B ergen reihen sich aneinander und bilden lange Ketten. Bei günstigem W etter sieht m an bis nach G riechenland, wo sich der m ächtige Olym p erhebt.41 Die B erge sind nur spärlich bew achsen und w erden von herum zie henden Schafherden bevölkert, feste m enschliche W ohnsitze findet m an selten, dafür bilden diese G ebirge die D om änen von allerlei R aubtieren, hauptsächlich von W ölfen, die dort ihr U nw esen treiben und uns ganz em pfindliche Verluste im Pferdebestand bereiteten. Im Süden von A lbanien fand ich vorw iegend K atholiken.42 Sie sind sehr genügsam , betreiben A ckerbau und Viehzucht. M it großem Ver ständnis bauen sie Wein, M ais und Tabak an.43 D urch sinnreich angelegte B ew ässerungen erhöhen sie ihre Erträge. Zum Teil sind die K atholiken sehr arbeitsam . Die Frauen spielen bei ihnen eine sehr untergeordnete R olle und die H auptlast im täglichen Leben ruht auf ihnen.44 Im A llgem einen ist aber der Albaner, gleich ob K atholik oder 41 42 43 44 Wallisch vergleicht den See am ehesten mit „überschwem m tem Flachland“ . Dies erklärt auch sein Verschwinden auf den jüngeren Karten nach der Trockenlegung in komm unistischer Zeit. Heute ist das Gebiet des Sees u.a. als Anbaugebiet für Zuckerrüben bekannt (vgl. dazu: Lienau [wie Anm. 38], S. 18). D er Devoli gehört zu den großen Flüssen Albaniens, der vom äußersten Osten fast quer durch ganz Albanien fließt, ehe er sich mit dem Osumit vereint und als Semanit bei Fier in die Adria mündet. Diese Stelle kann als Beispiel für die manchmal eher fiktive Erzählweise N acht manns gelesen werden, die eher Bilder als W irklichkeiten vermitteln will. Dass Erich Nachtmann diese Art auch im alltäglichen Erzählen pflegte, bestätigen seine Tochter und auch sein Neffe Harald Seyrl, Wien, dem ich ebenfalls für A uskünfte und Hinweise herzlich danken möchte. Nachtmann suggeriert den Lesern hier bew usst oder unbewusst, man könne von einer Passhöhe im albani schen M ittelgebirge bis zum Olymp sehen. Schon der Blick vom M aliqsee bis zur Adria, also vom Osten Albaniens bis zum äußersten Westen ist aus der geschilderten Höhe undenkbar. Nachtmann irrt in diesem Fall: Im Süden Albaniens, nahe der griechischen Grenze, leben überwiegend orthodoxe Christen. Vgl. dazu allgemein: Bartl, Peter: Religionsgem einschaften und Kirchen. In: Grothusen (wie Anm. 20), S. 587-614. Speziell M ais und Tabak gehörten noch in den Jahren zwischen den Weltkriegen zu den wichtigsten Kulturpflanzen Albaniens; vgl. dazu Zavalani, Dalib: Die landwirtschaftlichen Verhältnisse Albaniens (= Berichte über Landwirtschaft, Neue Folge, 140. Sonderheft). Berlin 1938, S. 50; zur Entwicklung der Land wirtschaft in der kommunistischen Phase vgl. W ildermuth, Andreas: Land- und Forstwirtschaft. In: Grothusen (wie Anm. 20), S. 343-375. Z ur Rolle der Frauen in den überwiegend katholischen Stam mesgesellschaften (allerdings in Nordalbanien!!) vgl. Pufitsch-Weber, Margit: „Schade, daß Du 20 0 2 , H e ft 3 + 4 „ D e r S e h n su ch tssch rei n ach F re ih e it“ 273 M oham m edaner, kein großer Freund des Arbeitern.45 Er liebt Gesellig keit, zieht m it großer Vorliebe gruppenweise zu Markte, wo er seine Produkte, wie Tabak, M ais, Pfirsiche, Feigen usw. anbringt. Freund schaften findet m an nur innerhalb einer Religion oder eines Stammes. D ie A lbaner, F elsbew ohner (Skipetaren),46 (Seite 10:) von den Türken, ihren einstigen B eherrschern, A rnauten genannt, teilen sich meine Sprache nicht sp ric h st..." Frauenleben zwischen Tradition und Emanzi pation. In: Eberhart/K aser (wie Anm. 1), S. 47-63; auch Studien aus dem frühen 20. Jahrhundert behandeln mehrfach die untergeordnete Rolle der Frau in der patriarchalisch organisierten G esellschaft Albaniens; vgl. z.B.: Siebertz (wie Anm. 33), S. 142-147; Gopcevic, Fürstentum (wie Anm. 33), S. 76-89; zur gesellschaftlichen Struktur der Balkanbewohner allgemein vgl. Kaser, Karl: Hirten - Kämpfer - Stammeshelden. Ursprünge und Gegenwart des balkanischen Patriarchats. W ien-K öln-W eim ar 1992; ders.: Familie und Verwandtschaft auf dem Balkan. Analyse einer untergehenden Kultur, W ien-K öln-W eim ar 1995. 45 Das Stereotyp des ,,faulen“ Orientalen wird hier bemüht; gemeinsam mit einem weiteren Stereotyp, dem des kriegerischen Albaners, das Nachtmann einige Zeilen w eiter unten anführt, bringt er das einseitige und falsche, aber nur schwer ausrottbare Bild des männlichen Balkanbewohners generell und des Albaners im besonderen aus der Sicht M itteleuropas auf den Punkt. H erbert Louis charakte risiert 1927 (wie Anm. 24) das (weitgehend bis heute vorherrschende) Bild Albaniens in W esteuropa mit folgenden Worten: „D er Name Albanien hat einen eigenen Klang. Er lenkt die Gedanken auf etwas Außergewöhnliches und zu gleich Unbestimmtes. Dunkle Vorstellungen von einem wilden Gebirgslande mit einer rauen, kriegerischen Bevölkerung, mit Blutrachesitten und unaufhörlichen inneren Streitigkeiten werden durch ihn erweckt. Sehr gering ist die Zahl derer, die mehr damit verbinden.“ (S. 1) 46 N achtm ann bezieht sich hier auf die offizielle Bezeichnung für Albanien „shqipëri“ und für Albaner „shqipëtarë, das die Albaner selbst meist von „A d lersöhnen“ oder „B ergbew ohner“ (von shqipe = Adler) ableiten. Im Glossar bei Gashi/Steiner wird z.B. vorsichtig formuliert: „B edeutet m öglicherw eise,Adler söhne' oder a b e r,Bewohner der B erge“ 1(Gashi, Dardan, Ingrid Steiner: Albani en. Archaisch - Orientalisch - Europäisch. Wien 1994, S. 269; Unter Sprachwis senschaftlern gilt hingegen die Ableitung von „shqip“ für „verstehen“ im Sinne von „unsere Sprache verstehend und sprechend“ als wahrscheinlicher (vgl. dazu jüngst Fiedler, Wilfried: Die albanische Sprache, ihre Geschichte und die Ge schichte ihrer Erforschung. In: Albanien. Reichtum und Vielfalt alter Kultur, hg. vom Staatlichen M useum für Völkerkunde. München 2001, S. 105-111; hier: S. 106). Die These geht auf den bedeutenden österreichischen Sprachwissen schaftler Gustav M eyer zurück, der den Begriff auf das lateinische „excipere“ (=verstehen) zurückführte (vgl. dazu Meyer, Gustav: Etym ologisches W örter buch der albanischen Sprache. Straßburg 1891). Dass diese Herleitung damals unter den österreichischen Offizieren durchaus bekannt war, beweist Alois Hu ber, der in seinen „Erinnerungen“ (vgl. Anm. 19) festhielt: „D ie Albanesen nennen sich Schiptaren ... d.h. die Verstehenden ...“ (S. 147). 274 H e lm u t E b e rh a rt Ö Z V LV I/105 in viele Stäm m e,47 die m an in 2 H auptstäm m e zusam m en fassen kann. D ie G renze bildet der Skum bifluß.48 W ährend die nördlich des Skumbi lebenden A lbanesen m eist eine dunkle G esichtsfarbe und ebensol che H aare haben, findet m an im Süden vorw iegend blondhaarige A lbaner m it blauen A ugen.49 D iese H auptstäm m e w eichen nicht nur äußerlich, sondern auch in ihren C haraktereigenschaften voneinander ab. A uch sprachlich sind sie verschieden und hassen einander furcht bar. A lle sind sie jedoch kriegerisch veranlagt, lieben ihre W affen über alles, schw ärm en für Freiheit, ohne sie einm al besessen zu haben, dulden keine O brigkeit und sind A nhänger von Traditionen, wie B lutrache und F austrecht.50 T rotzdem der einzelne selbstsüchtig und unzuverlässig ist, hat das seinerzeitige k.u.k. K om m ando von A lbanien nicht nur „B anden“ sondern auch reguläre A lbanerbataillone gebildet, die m itunter er folgreich gekäm pft haben. D ie „B an d en “ rekrutierten sich hauptsäch lich aus Felsbew ohnern, die B erufskrieger w aren. B ekannt w aren die 47 Zur komplexen Struktur der Stam mesgliederung vgl. neben Kaser (wie Anm. 44) jüngst auch Kaser, Karl: D ie albanische Stammesgesellschaft. In: Albanien. Reichtum und Vielfalt (wie Anm. 46), S. 153-157. 48 Der auf der Höhe von Elbasan von Ost nach West verlaufende Shkumbinit (Skumbi) bildet nicht die Grenze zwischen zwei „H auptstäm m en“, sondern zwischen dem gegischen und toskischen Dialekt, die nicht unerheblich vonein ander abweichen, wie Fiedler (wie Anm. 44) feststellt (S. 105). Obwohl sowohl Durrës als auch Tirana im gegischen Dialektbereich liegen, hat sich inzwischen das Toskische durchgesetzt und wurde gleichsam „von oben“ zur offiziellen Amtssprache erklärt. 49 Ob Nachtmann diese nicht der Realität entsprechende Feststellung eigener selek tiver Wahrnehmung oder anderen mündlichen oder schriftlichen Quellen ent nahm, ist heute kaum nachvollziehbar. 50 Neben Unrichtigkeiten über die äußeren und charakterlichen Abweichungen beinhaltet dieser Absatz auch weitere stereotype U nschärfen wie die Ver mischung von Blutrache und Faustrecht. Ich will hier nicht über das komplexe Them a Blutrache schreiben, das Bestandteil so gut wie jeder Publikation über die G esellschaft insbesondere Nordalbaniens ist (stellvertretend seien genannt: Siebertz [wie Anm. 33]; Gopcevic, Fürstentum [wie Anm. 33]; Durham [wie Anm. 33]), jedoch ist zumindest daraufhinzuw eisen, dass Blutrache keinesfalls in die Nähe von Faustrecht zu rücken ist, und dass Faustrecht auch keine albanische Tradition ist. Gerade die Blutrache war damals noch entsprechend dem geltenden Gewohnheitsrecht strengen Regeln unterworfen und somit kei nesfalls Faustrecht (vgl. dazu von Godin, M arie Amelie: Das Albanische Ge wohnheitsrecht. In: Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft 56 [1953], S. 1—46; 57 [1954], S. 5-7 3 ; 58 [1956], S. 121-198). 20 0 2 , H e ft 3 + 4 „ D e r S e h n su ch tssch rei n a ch F r e ih e it“ 275 Salibudka und G ilardibanden.51 E iner der bekanntesten Führer w ar der grausam e w eißbärtige K ajo (siehe Abb. 3), der m it Vorliebe französische K olonialkrieger skalpierte, weil diese angeblich ver w undete A lbanesen tot gebissen haben.52 Es standen sich also gleich s t Die sogenannten „A lbanerbanden“ waren schon sehr früh in das Konzept der Kriegsführung Österreich-Ungarns integriert worden. Man erhoffte sich dadurch nicht nur stärkeren Rückhalt in Albanien selbst, sondern auch die zumindest teilweise Erleichterung der gewaltigen Nachschub- und Versorgungsprobleme im Land. Veith nim mt in seiner umfassenden Darstellung über den Albanienfeld zug mehrfach auf diese Einheiten Bezug: „M it ihnen trat eine der originellsten und umstrittensten Gestalten dieses Feldzuges auf den Schauplatz: .Kapitän ‘ Ghilardi. Ghilardi war österreichischer Offizier gewesen und hatte sich später in wildes A benteuerleben gestürzt, aus dem er schließlich als eine Art Balkankondottiere hervorging; als solcher hatte er im Balkankrieg und in den Kämpfen des Prinzen von W ied eine R olle gespielt. Seine eigentliche Domäne blieb Albanien, das er kannte wie irgendeiner und für dessen Freiheit er ohne weiteres sein Leben einzusetzen bereit war, natürlich mit der Absicht, in dem mit seiner Hilfe geschaffenen Staate einen seinem Ehrgeize entsprechenden W irkungskreis zu finden. Er w ar auch stets ehrlich ,austrophil‘ geblieben. ... Als die Besetzung Albaniens aktuell wurde, meldete sich Ghilardi, der damals in bulgarischen Bandendiensten stand, beim VIII. Korpskommando und übernahm die Banden organisation im größten Stile. In kurzem hatte er in Nordalbanien neun Bataillone zu 500 Mann aufgestellt, die zur Zeit der Einnahme Durazzos (23.-26. Februar 1916, Anm. Eberhart) verwendungsfähig standen.“ (Veith [wie Anm. 4], S. 526) Veith beschreibt in der Folge noch weitere Details des Einsatzes von Ghilardi (S. 525-527); Salih Bei B utka war im Gegensatz zu Ghilardi Albaner und genoß in Albanien einen zumindest ebenso großen R uf wie Ghilardi. „M an war sich wohl klar darüber, daß die Verwendung als stehende Abschnittsbesatzung dem Wesen der Banden gar nicht entsprach; wenn dieselben trotzdem in der Folge die ihnen zugemutete Aufgabe überraschend gut gelöst haben, so ist der Hauptgrund wohl darin zu suchen, daß es gelang, einen Führer von überragender Bedeutung zu fin d en ,..., Salih Bei Butka, einen wahren Wallenstein des Balkans an Autorität und Werbekraft, auf dessen Befehl sich auch der gefeiertste Räuberhauptmann der albanischen Berge willig beugte. Eine Reihe glanzvollster Namen dieser Art stellte sich samt Gefolgschaft unter sein Kommando, darunter der über 70 Jahre alte .K apitän1 Kajo und der ebenso gefürchtete Bandit M alka Dzvarista; im ganzen verfügte Salih Butka über sechs Banden. Sie stellten einen ganz anderen Typus dar als die Ghilardibanden; diese waren regelrechte Stammesaufgebote gewesen, jene waren bunte Haufen von Balkan=Komitadschis, gruppiert um einen Kern in der Kampfgegend selbst heimischer Kämpfer, die wieder die engere G efolgschaft der demselben G ebiet entstammenden Führer bildeten, auf deren Namen die ganze Bande eingeschworen war.“ (Veith [wie Anm. 4], S. 529) Die K äm pfer Salih Butkas wurden hauptsächlich gegen französische Truppen an der albanischen Südostfront eingesetzt (zu Ghilardi und Salih Bei Butka vgl. auch Anm. 53). 276 H e lm u t E b e rh a rt Ö Z V L V I/105 w ertige B erufsgenossen gegenüber. Schon M itte des Jahres 1918 w aren die A lbaner sehr kriegsm üde und ihre Erfolge w aren gering.53 D er K leinkrieg w ar ihnen auch sym pathischer. (Seite 11:) N icht unerw ähnt w ill ich eine G ruppe von A lbanern lassen, die au f dem halben B alkan zu finden sind. Es sind dies Zigeuner, die keinen festen W ohnsitz haben und sich im ganzen Land bettelnd herum treiben. Es ist ein furchtbar armes Volk, das bei den eigentlichen A lbanern die untergeordnetsten D ienste versieht. Sie sind m it den gefährlichsten K rankheiten, w ie A ussatz und Tuberkulose, behaftet und durchw egs m alariakrank. Sie kam en oft in die Lager von Truppen, wo sie A bfälle sam m elten und diese w ie sie waren verzehrten. Selbst rohe M ais- und H aferkörner, die die P ferde verstreuten, nahm en sie zu sich.54 D ie Z ukunft A lbaniens ist vorläufig noch im düsteren politischen H orizont verborgen. D er Sehnsuchtsschrei nach F reiheit ist aber so gew altig, daß m an heute fast annehm en kann, daß sie erreicht wird. Das bew eisen nicht nur die siegreichen K äm pfe der A lbaner gegen die Italiener, sondern auch die E insicht der Entente, daß A lbanien auch ein R echt au f S elbstständigkeit hat, das klägliche m ilitärische Regim e Italiens nim m t ein Ende! B ald wird A lbanien von dem jahrelangen frem den Joch befreit sein!55 Das letzte schw ierige, aber 52 Eine schon beinahe skurrile Feststellung, die ein wenig nach „Lagerfeuererzäh lung“ der Soldaten „riecht“ bzw. eine Art „m oderne Sage“ darstellen dürfte, insofern aber wiederum für eine Kulturwissenschaft, die sich für stereotype Zuschreibungen interessiert, von gewisser Bedeutung. 53 Im Laufe des Juli 1918 stellten die in verschiedenen Formationen für ÖsterreichUngarn kämpfenden A lbaner die Kriegshandlungen weitgehend ein. G. Veith schreibt darüber: „D ie in der Front eingeteilten Albanerkompagnien waren einfach verschwunden; die Ghilardibanden hatten sich schon am 6. Juli schlecht geschlagen und großenteils verlaufen, den Rest führte Ghilardi nach Elbasan, wo er ihn auflöste. Salih Butka aber hatte nach Erhalt des Rückzugsbefehles gem el det, er sehe sich genötigt, aus der Preisgabe seiner Heimat die Konsequenzen zu ziehen und dort zu kämpfen, wo er Haus und H of zu schützen h ä tte ;... Bald darauf wurde die Verwendung von Albanern in der Kampffront vom Armee=Oberkommando gänzlich eingestellt.“ (Veith [wie Anm. 4], S. 546) 54 Nachtmann spricht hier vom nicht-sesshaften Anteil der Roma in Albanien; vgl. dazu Schukalla, Karl-Josef: Nationale M inderheiten in Albanien und Albaner im Ausland. In: Grothusen (wie Anm. 20), S. 512-514. 55 Albanien stand zur Zeit der Verfassung des M anuskriptes vermutlich knapp vor oder knapp nach der Aufnahme in den Völkerbund, die am 17. Dezember 1920 erfolgte; es sollte aber noch bis zum 9. N ovember 1921 dauern, ehe die damals entscheidenden Staaten Albanien in den Grenzen von 1913 anerkannten; vgl. dazu Schmidt-Neke (wie Anm. 20), S. 39 f; vgl. dazu auch Abschnitt „Q uellen 2 0 0 2 , H e ft 3 + 4 ,D e r S e h n su c h tssc h re i n ach F re ih e it“ 277 für die Zukunft des Landes entscheidenste M om ent ist dann die Zusam m ensetzung der R egierung.56 Essad Pascha der einstige, gefährliche M achthaber A lbaniens ist für im m er unschädlich gem acht w orden!57 D er größte V olksverräter A lbaniens ist aus der W elt geschafft worden, ein G lück für die A lbanesen, da er es vielleicht verstanden hätte, die M acht w ieder an sich zu reißen. Jetzt gibt es auch keinen Freund für Italien mehr. P rinz W ied, der dem Volke (Seite 12:) wie ein H albgott erschien, hätte sich als Fürst von A lbanien behaupten können, wenn er nicht von E ssad Pascha, der stets m it Italien geliebäugelt hat und dam it sein Volk unter frem den Joch hielt, so schändlich und ehrlos hintergangen w orden wäre. Zu spät hat das Volk erkannt, daß Essad das U nglück A lbaniens war. D afür w ar er dem Volk derart verhaßt, daß ihn nun das prophezeite Schicksal erreicht hat. D en A ufstieg zur K ultur kann das Volk nun beginnen. Das Land liegt nicht so brach darnieder, als m an allgem ein annim m t. A bgesehen davon, daß in albanischer Erde noch Schätze schlum m ern, kann es auch enorm e M engen anderer Produkte, wie W olle, Häute, Olivenöl, Feigen, Tabak usw. ausführen.58 Eine H andelsflotte w äre der Segen des Landes. V ielleicht dauert es nicht m ehr allzu lang, bis A lbanien bew eisen kann, daß nicht nur die Italiener die A dria beherrschen. N achtm ann Erich, Salzburg, Elisabethstr. kritische A nm erkungen“ und Anm. 20. 56 Fast prophetisch spricht Nachtmann hier das größte Problem des Landes in der Frühzeit der Staatswerdung an, das völlige Fehlen eines Politikers mit integrativer Kraft auf demokratischer Basis. Das Land sollte denn auch in den Jahren nach der zweiten Unabhängigkeit ab 1920 große Krisen durchmachen, die ab 1925 zur D iktatur König Zogus (König 1928-1939) führten und schließlich in neuerlicher B esetzung durch fremde Trappen knapp vor (durch Italien) und im Zweiten W eltkrieg münden sollten. Dies änderte sich erst im N ovember 1944, als die Kommunisten unter Enver H odscha ganz Albanien kontrollierten. Damit begann praktisch die seither andauernde Souveränität des Landes; vgl. Schmidt-Neke (wie Anm. 20), S. 55 f. 57 Vgl. dazu Anm. 21. 58 Insgesam t machten die landwirtschaftlichen Produkte in den späten 20er Jahren m ehr als 80% des gesamten Exportvolumens aus (vgl. Zavalani [wie Anm. 43], S. 50). 278 H e lm u t E b e rh a rt Ö Z V L V I/105 Skizze von Albanien nach Busch-Zantner (1939); die Schreibweise der N amen wurde übernommen. Helm ut Eberhart, “The Yeaming Call for Freedom ”. Erich N achtm ann’s Recollections of Albania A ustro-Hungary occupied wide Stretches o f A lbania from 1916 to 1918. Erich Nachtmann was a young officer at the time and participated in this m ilitary campaign, and in early 1921 preserved his mem ories in m anuscript form. This text is interesting not ju st as an example of war depicted “from below ”, but also for its numerous stereotypes of Albania that were prevalent, due not least to the participation in the war on the part o f many Austrians in Central Europe. These reported experiences can thus serve as a piece o f the mosaic in writing a history o f Albania, one composed neither by scholars nor literary figures. Österreichische Zeitschrift fü r Volkskunde Band LVI/105, Wien 2002, 279-295 Milzbrand-Geschichten T hesen zur Sagenforschung in der globalisierten Welt H elge Gerndt Nach dem Terroranschlag auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001 tauchten in den USA mit M ilz brand verseuchte Briefe auf. In kurzer Zeit wurde dazu in den M assenmedien eine Fülle von Berichten und Erzählungen publiziert, die weltweit auch auf mündlichem und elektroni schem Wege (Internet, E-mail) weiter verbreitet worden sind. An diesem Beispiel wird diskutiert, ob es sich bei den M ilz brand-Geschichten um „m oderne Sagen“ handelt, und dann anhand mehrerer Thesen die Auffassung erläutert, daß die volkskundlich-kulturwissenschaftliche Sagenforschung ihren Gegenstand und ihr Erkenntnisinteresse unter den B edin gungen der globalisierten Welt neu überdenken muß. Sogenannte „m oderne S agen“ (urban oder Contemporary legends) sind im Z eitalter der G lobalisierung ein beliebter B etrachtungsgegen stand der Volkskunde. U nbefragt - und falls doch, dann unklar und kontrovers beantw ortet - bleibt allerdings durchw eg, als wie gehalt voll w ir die m it ihnen verbundenen Erkenntnisbem ühungen einzu schätzen haben. Sind Sagen w ichtige Phänom ene unseres A lltags? A nders gefragt: W elche B edeutung d arf die volkskundliche E rzähl forschung heute in der scientific com m unity für sich beanspruchen? Speziell: W elchen Einfluß hat der gegenw ärtige G lobalisierungs prozeß nicht nur auf das Erzählen selbst, sondern auch auf die P ro blem stellungen, m it denen sich ein K ulturw issenschaftler (als Volks kundler/E uropäischer E thnologe) befassen sollte? O ffensichtlich ist, daß die R ahm enbedingungen unseres A lltagsle bens seit kurzem besonders gravierenden V eränderungen unterliegen. Das m uß sich natürlich auch au f die w issenschaftlichen Zugänge ausw irken. Was, zum B eispiel, bedeutet es für eine Erzählform wie die Sage, die nach herköm m licher D efinition inhaltlich an bestim m te O rte und Z eiten gebunden ist, w enn räum liche M obilität und zuneh m ende B eschleunigung w esentliche K riterien des Lebens in der M o- 280 H e lg e G e rn d t Ö Z V L V I/105 derne darstellen? W ie verändert das Sagenerzählen dam it seine tradi tionellen A usdrucksform en? Ist es vielleicht überhaupt obsolet ge w orden? O der sind im G egenteil Erzählungen über m erkw ürdig-verstörende E rlebnisse, die w ir Sagen nennen, in einer Z eit global verbreiteter U nsicherheiten und Ä ngste aktueller denn je? D ie verstörenden E reignisse des 11. Septem ber 2001, als ein Ter rorakt die gigantischen Türm e des W orld Trade C enters in New York zum Einsturz brachte, haben eine Fülle von sagenhaften G eschichten ausgelöst, die - durch M assenm edien, Internet oder p er SMS rasch w eitergetragen - überall in der W elt erzählt wurden: In der N acht vor dem Inferno habe ein B örsenm akler im Traum von Jesus den A uftrag erhalten, anstatt zur A rbeit in die K irche zu gehen, um zu beichten; der M ann überlebte. - Ein oft publiziertes Foto zeigt im Feuerqualm ein unheim liches G esicht, das angeblich viele B ürger gesehen und darin Satan, bin Laden oder Jesus erkannt hätten. - Ein Polizist sei, als einer der Türm e einstürzte, vom 82. Stock auf einem Trüm m erteil zu B oden gesurft; er brach sich „n u r“ beide Beine. - Ferner die G eschichten über ein rettendes Ufo in den obersten Stockw erken, absurde V erschw örungstheorien und eine behauptete (von anderen als Fälschung erklärte) Prophezeiung dieses A nschlags bereits durch N ostradam us im 16. Jahrhundert.1 Hier soll eine kleine, bald darauf aktuell werdende Gruppe von G eschichten interessieren, die (wie sich später erwies) faktisch gar nichts m it dem Terrorakt zu tun hatte und doch ohne diesen Kontext nicht verstanden werden kann. Es handelt sich um den M ilzbrand-Komplex, einen „S puk“ tatsächlich oder angeblich m it Krankheitserregern ver seuchter Briefe, der ziemlich genau einen M onat lang virulent blieb, dann über einige Wochen noch abklang und nach insgesam t etwa drei M onaten, so als wäre nichts gewesen, vollkomm en verflogen war. K ennzeichnend für unsere global zusam m engerückte W elt ist ein dichtes, w eltum spannendes Inform ationsnetz, das auch dem Erzählen neue R ah m enbedingungen setzt.2 B esonders ch arakteristisch er scheint die geradezu explodierende K om m unikationstechnologie, die durch Telefon, Telefax, H andy oder Internet potentiell fast alle M en schen synchron m iteinander verbindet, sow ie die enorm e F ülle und 1 Z.B. Bild(-Zeitung), Nürnberg, 24.9.2001. 2 Vgl. Gerndt, H.: Kulturwissenschaft im Zeitalter der Globalisierung. Volkskund liche Markierungen. M ünster u.a. 2002; bezüglich moderner Sagen bes. das Kap. „Erzählen und W irklichkeit“, S. 29-46. 20 0 2 , H e ft 3 + 4 M ilz b ra n d -G e sc h ic h te n 281 V ielfalt der M assenm edien (Zeitung, Illustrierte, R adio, Fernsehen, Kino, C om paktdisketten, Hör- oder Taschenbücher), die gleichzeitig aufeinander einw irken. A lle P ublikationsorgane unterliegen dem w irtschaftlichen Druck, unablässig N euigkeiten zu generieren. Wenn in im m er kürzerer Zeit im m er m ehr Inform ationen und M einungen über große Strecken verm ittelt werden, m üssen dann nicht schon allein auf G rund des m enschlichen A uffassungsverm ögens die kon kreten Inhalte im m er kurzlebiger und flüchtiger w erden? Verringert dabei eine F lut von N achrichten aus allen W inkeln der Erde das G ew icht lokaler E reignisberichte aus der N ahw elt der K om m unikan ten? E rhöhen andererseits Fernsehen und Internet die soziale D urch lässigkeit im G eschichtenaustausch? O der bilden sich hier neue G ren zen aus, die m it der F ertigkeit des Lesens und der Lust daran Zusam m enhängen? W elche Folgen hat all das für die Sagenüberlieferung? Im m er häufiger w erden w ir erzählend m it Problem en konfrontiert, die überall in der W elt in gleicher oder ähnlicher Form w irksam sind. Im überm ächtigen Inform ationsstrom w ird die A usw ahl des B edeut sam en (bzw. die A usscheidung des B elanglosen) im m er w ichtiger und zugleich schwieriger. A ktuelle Problem felder, über die w eltw eit kom m uniziert w ird, sind zum B eispiel ein grenzüberschreitend agie render Terrorism us, w irtschaftliche M achtkäm pfe zw ischen interna tio n alen K onzernen, schw ere K orruptions- und D opingskandale, technische und naturbedingte K atastrophen, E ntw icklungsperspek tiven der B iotechnologie. All diese Them en verbindet, daß sie G efähr dungen signalisieren und in ihrer K om plexität schw er durchschaubar sind, daß hier R eales und Vörgetäuschtes, Sein und Schein für den N orm albürger ungeklärt bleiben. Im B lick auf diesen Sachverhalt kann m an die m oderne Sage m it André Jo lles’ K ategorie der G eistes beschäftigung als sogenannte „E infache Form “ begreifen, die dem W iderspruch von W ahrheitszum utung und Täuschungsem pfindung entspringt.3 Irritierende W irklichkeitserfahrung ist ihr K eim und ihre G estalt eine A usdrucksform existentieller U nsicherheit. Thesen zu r Sagenforschung D ie G egebenheiten des m odernen A lltags bestim m en die B edin gungen für seine A nalyse und dam it auch die G rundsätze für die U ntersuchung sagenhafter G eschichten in der G egenw art. 3 Vgl. Jolles, A.: Einfache Formen. Halle 1930. 282 H e lg e G e rn d t Ö Z V LV I/105 1. Volkskundliche Sagenforschung sollte, wie öffentlich geförderte W issenschaft generell, nicht von m arginalen Phänom enen, sondern von lebenspraktisch bem erkensw ert erscheinenden P roblem feldern handeln, d.h. vorrangig ist die R elevanz und nicht der ästhetische Reiz eines Sagentexts. Im O ktober 2001 w ar es die A ngst vor der A nsteckung durch M ilzbrandbakterien, die als vieldiskutiertes Them a von allen M edien aufgegriffen w urde und unter den Politikern ebenso wie beim „M ann auf der S traße“ die G em üter erhitzt hat. E rörtert w urden dabei alle als w ichtig em pfundenen A spekte der Problem atik, nicht nur die eine oder andere eigenartige G eschichte. 2. Sagen sind sprachliche Ä ußerungen, die als Schlüssel zum besse ren Verständnis der alltäglichen Lebensw elt dienen können, d.h. vorrangig ist (bereits bei der M aterialsam m lung) der m ögliche E r kenntnisgew inn, nicht etw a der U nterhaltungsw ert eines Textes. M ilzbrand-G efahr w urde zuerst als eine bedrohliche N achricht für die M enschen interessant. B edeutsam w aren da alle erreichbaren Inform ationen, aus w elchem K ontext auch im mer, und diese Tatsache verlangt vom K ulturanalytiker ebenfalls, neben den E rzählvarianten auch K urzm itteilungen und Sachberichte zu berücksichtigen, die in erzählerischer H insicht w enig aussagekräftig erscheinen m ögen. 3. Sagen sind zuerst und in erster Linie B estandteile einer K om m uni kationssituation und w eniger autonom e Einzelgeschichten, d.h. vor rangig auszugehen ist von Im puls und Wirkung einer sagenhaften Ä ußerung, erst dann von deren Inhalt und Form. M ilzbrand-M itteilungen hatten eine eindrückliche, aufschrecken de W irkung. Sprachlich w aren sie oft im P erfekt form uliert, einer Tem pusform , die konzentrierte A ufm erksam keit beim R ezipienten hervorruft (w ährend m an G eschichten, die im Präteritum erzählt w erden, entspannt folgen kann).4 Sie forderten R eaktionen heraus, drängten die G esprächspartner direkt oder indirekt zur Stellung nahm e und stim ulierten andere A ktivitäten. 4. Sagen stehen als K om m unikationsinhalte in lebensw eltlichen K on texten m it anderen Erzähl- und B erichtform en, d.h. vorrangig ist die fu n ktio n a le N ähe, w eniger die ästhetische Verw andtschaft zw ischen verschiedenen Textgattungen (vgl. M odellschem a). 4 Weinrich, H.: Tempus. Besprochene und erzählte Welt. Stuttgart 1964. 20 0 2 , H e ft 3 + 4 M ilz b ra n d -G e s c h ic h te n 283 M odellschema: Funktionale Einordnung der Sage M ilzbrand-G eschichten begegneten m eist als Erzählberichte, die form al w ie Sagen zw ischen M itteilungen einerseits und Erzählungen andererseits einzuordnen sind, und auch inhaltlich als M ischkategorie m it faktischen und fiktionalen B estandteilen. Sie w ollten W ahres 284 H e lg e G e rn d t Ö Z V L V I/105 aussagen, ohne unw ahr Scheinendes zu unterdrücken, und ließen anders als es z.B. bei einer N achricht oder einem M ärchen intendiert ist - Z w eifel über den berichteten Sachverhalt nicht zur R uhe kom men. 5. Sagen sind als K om m unikationsm ittel in die zeitbedingten K om m unikationssystem e der jew eiligen G esellschaft eingebunden, d.h. vorrangig zu beachten sind heute die durch M assenm edien gestützten K om m unikationsw ege, nicht nur der direkte Weg von M und zu Ohr. D ie M ilzbrand-G eschichten w urden gleicherm aßen m ündlich wie schriftlich und elektronisch w eitergetragen.5 N eben oralen Ä uße rungsform en gew annen die m it ihnen vernetzten m edialen Textsorten (sam t E-m ail und SM S) große B edeutung; als Presseprodukt w aren vor allem vier K ategorien zu unterscheiden: die berichtende N ach richt, die erläuternde Inform ation, die erzählende R eportage und der bew ertende K om m entar (einschließlich der Glosse). 6. Sagen konkurrieren als sprachliche B otschaften in einer zuneh m end visuell geprägten L ebensw elt verstärkt m it B ildsym bolen, d.h. vorrangig m uß die A ufm erksam keit dem sagenhaften G ehalt, nicht zuletzt auch in bildlicher Form, gelten. D en M ilzbrand-Z eitungsartikeln waren, insbesondere als B eglau bigungsm ittel, sehr häufig A bbildungen beigegeben, vor allem Fotos, z.B. m ikroskopische A ufnahm en der Keim e, B ilder von betroffenen Personen und besonders von Sicherheitspersonal in klobigen S chutz anzügen, gelegentlich K arikaturen, die die unheim lich-gespensti schen und bedrohlichen E m pfindungen durchaus verstärken konnten. 7. Sagenhafte G eschichten w echseln in einer w eltw eit vernetzten G esellschaft unablässig von einer Sprache oder K ultur in die andere und auch w ieder zurück, d.h. vorrangig erscheinen w eniger einzelne in terk u ltu relle M ißverständnisse als vielm ehr generelle A spekte transkultureller Vermittlungs- und Wandlungsprozesse. In den M ilzbrand-G eschichten traten kulturspezifische A usprä gungen -je d e n fa lls auf den ersten B lick - kaum hervor. D ie europä isch-am erikanische K om m unikationstechnologie hat offenbar global 5 Vgl. Schneider, I.: Erzählen im Internet. Aspekte komm unikativer Kultur im Zeitalter des Computers. In: Fabula 37 (1996), S. 8-27. 20 0 2 , H e ft 3 + 4 M ilz b ra n d -G e sc h ic h te n 285 vereinheitlichend gew irkt und im B ereich dieser beängstigenden B e richte ein dom inant transkulturelles M uster hervorgebracht. C hronologie d er M ilzbrand-G eschichten Z w ischen dem 6. O ktober und dem 6. N ovem ber 2001 sind in der Süddeutschen Z eitung (SZ) insgesam t 50 A rtikel, die sich m it M ilz brandbakterien befaßten, erschienen. Das sind zahlenm äßig im M o natsdurchschnitt gut zw ei B eiträge pro Zeitungsausgabe, vom Text quantum her etw a zur H älfte N achrichten und Inform ationen, zur anderen H älfte R eportagen und K om m entare. In den folgenden gut drei M onaten von N ovem ber 2001 bis Februar 2002 taucht das M ilzbrand-T hem a dann nur noch vereinzelt auf, insgesam t zehn M al (vgl. T abellenschem a).6 O bw ohl in den USA bereits seit dem 25. Septem ber 2001 m ehrere B riefe, die eine pulverartige Substanz enthielten, registriert worden w aren, publizierte die SZ erstm als am 6. O ktober auf ihrer P anora m a-Seite (d.h. unter verm ischten G esellschaftsnachrichten) eine 26Z eilen-N achricht, daß in F lorida ein M ann an M ilzbrand erkrankt sei, m it der B em erkung, daß „d er 63-Jährige unw eit von dem Flughafen w ohnt, an dem einer der H auptattentäter der A nschläge auf das W orld Trade Center, M oham m ed Atta, Flugstunden genom m en hatte.“ D och G esundheitsm inister Tommy Thom pson w arne vor Panik. „E s han delt sich um einen Einzelfall. Das hat nichts m it Terrorism us zu tun.“ Zwei Tage später m eldete eine 20-Zeilen-N otiz den Tod des M ilz brandpatienten und schloß: „N ach m edizinischen Erkenntnissen steht praktisch fest, daß sich der M ann die K rankheit durch Einatm en der im E rdboden lebenden B akterien zuzog.“7 A berm als zw ei Tage darauf publizierte die SZ jedoch im p oliti schen Teil auf einen Schlag vier B eiträge zum Them a M ilzbrand: zwei handelten von biologischen W affen, einer über M ilzbrandforscher in D eutschland, und ein vierspaltiger, m it drei Fotos bestückter reporta6 Es werden, um einer eklektizistischen Beliebigkeit vorzubeugen, hier die Berich te nur einer einzigen überregionalen (seriösen) Tageszeitung berücksichtigt. In ihrer G esam theit dürfen diese Belege wohl für die M edienlandschaft als reprä sentativ gelten. 7 Das genaue Belegdatum der jeweiligen Zitate ist dem Tabellenschema zu entneh men. 286 H e lg e G e rn d t Ö Z V L V I/105 Tg Art./Tg Textsorte: N= Nachricht; 1= Information; R= Reportage; K= Kommentar 1. 19 N Milzbranderkrankung 3. ■ N Patient gestorben 5. 1111 I R “Ü berraschung hinterlassen” 7, mm mmm NK Trittbrettfalirer; Briefträger 10. NRK Angst vor Biowaffen; Ein Land m it blank liegenden Nerven 11. B illü N IK Angst; M ilzbrand-Spur deutet au f Todespiloten 17.10, 12. N IK 135 Mill. Wam-Schreiben; Medikamente; Verdächtiges Pulver 18.10. 13. N IK Kapitol geschlossen; Bioterror-Anschläge gegen Medien 19.10. 14. N IK Medikamente; Postauto-Karikatur 1 Tödliche Winzlinge NR Anthrax-Alarm Kapitol; M it B ackpulver ist nicht zu spaßen N V erdächtige B riefe überall: P o stsortierer in Lebensgefahr Datum Wo 6.10.01 8.10. I. 10.10. 12.10. 15.10. 2. 16.10. 23.10. 18. ummmm mmmm mmm m mm m 24.10. 19. ■■■ NI Anthrax im Weißen Haus; Abtöten von Erregern; Therapie 25.10. 20. mmm N iR Pillen. Trittbrettf.; O er Tod komm t m it d er Post ins Haus 26.10. 21. ■■ NK Milzbrand in Poststelle des State Departments 27.10. 22. NK Milzbr. CIA; Irak . Biowaffenexpertin u. A nthrax-V erdacht N Medikament; Patentschutz R Erregendes im Tiefkühlschrank (Robert Koch-Institut) 20.10. 22.10. 15. 3. 17. 30.10. 25. mm mm m 3.11. 29. i N [Künstler versendet 30 Pakete mit Pulver aus Anlaß 30. Geb. | 31. mmm N IK Spiel mit d er Angst (Trittbrettfahrer) 32. n K Krieg gegen die Zivilisation m N Anthrax-Post an amerikanischen Senator ■ N Auffällige Todesfälle 29,10. 5.11. 4. 5. 6.11. 19.11. 7. 21.11. 23.11. 24. ■ I/R Die Angst vor der schnellen Entwarnung 29.11. 8. ■ N US-Biüwaffenexperte d er M ilzbrand-A ttentate verdächtigt 10.12. 10. ■ N M ilitärv e rtrete r hinter A nthrax-Post verm utet 13.12. ■ N Milzbrand-Alarm bei BND in Pullach 14.12. m m N Milzbrandspureii in Diplomatenpost in Wien Foto Angst vor Anthrax [Jahresrückblick] 31.12. 13. Tabellenschema: M ilzbrand-Nachrichten und -Geschichten in der Süddeutschen Zeitung 20 0 2 , H e ft 3 + 4 M ilz b ra n d -G e s c h ic h te n 287 geartiger R edaktionsbericht trug den U ntertitel „E ine E-m ail läßt verm uten, daß die Erkrankungen in den USA keine natürliche U rsa che h aben“ . D enn inzw ischen gäbe es zw ei w eitere Erkrankungen. Einer, ein K ollege des verstorbenen M itarbeiters der Sun, soll wie dieser „ein en verdächtigen B rief an die R edaktion in H änden gehal ten haben. In dem U m schlag habe sich ein Pulver befunden, das m öglicherw eise die M ilzbrand-B akterien enthielt. ... Schließlich soll es im F lorida-B üro der Sun einen arabischen Praktikanten gegeben haben, der sich m it der E-m ail ,Ich habe euch eine Ü berraschung h in terlassen 1 verabschiedete“. D am it w urde die schlichte M ilzbrandN achricht, h ier zunächst explizit in der M öglichkeitsform präsentiert, m it sagenhaft zu entfaltenden E rzählkeim en angereichert: ein m it P ulver gefüllter B rief, ein verschw undener Araber, eine geheim nis volle A nkündigung. N un aber löste die N achricht - m edial und m ündlich verbreitet sofort N achahm erhandlungen aus, so daß w ieder zw ei Tage später in der SZ m ehrfach von sog. Trittbrettfahrern berichtet wurde: A u f dem M ünchner H auptbahnhof, z.B., hatte ein Päckchen m it der A ufschrift „Ü b errasch u n g “ A larm ausgelöst, ein M ünchner Postam t m ußte, weil aus einem B rief w eißes Pulver rieselte, evakuiert w erden. Ein Foto m it M ännern in Schutzanzügen dokum entierte den G roßeinsatz. Die Streiflichtglosse dieses Tages begann so: „D ie W elt ist anders gew or den, das stim m t. W ir m erken es schon am M orgen, wenn der B rief träger vor unserem Haus sein Fahrrad s to p p t...“ und weiter: „In der Z eitung stand, der M ilzbrand sei nach F lorida gekom m en, verkleidet als L ieb esb rief an die Sängerin Jennifer Lopez.“ D ie nunm ehr zur erzählerisch angereicherten G eschichte verw an delte M ilzbrand-N achricht entw ickelte V irulenz, sowohl faktisch wie erzählerisch. A m 10. Tag nach der ersten M eldung in der SZ kündete der A ufm acher, also der H auptartikel auf der Titelseite, von M ilz b rand-N achw eisen in drei am erikanischen B undesstaaten. Die Ver sendung von M ilzbrandbakterien m it der Post sei, so urteile der G esundheitsm inister jetzt, „sicherlich eine terroristische Tat.“ Er und w eitere M inister schlossen „eine Verbindung zw ischen den M ilz brandfällen und dem M uslim extrem isten O sam a bin Laden nicht aus.“ A m 11. Tag lautete die Schlagzeile schon präziser: „M ilzbrandSpur deutet au f Todespiloten“, m it dem H inweis, daß die Frau des C hefredakteurs der Sun ihre W ohnung in F lorida an zw ei der F lug zeugentführer vom 11. Septem ber verm ietet hatte. In USA, wo S ena 288 H e lg e G e rn d t Ö Z V L V I/105 tor D aschle einen m it M ilzbrand infizierten B rief erhalten hatte, wurden 31 seiner M itarbeiter (später auf 28 verbessert) positiv auf A nthrax-E rreger getestet. Jeden Tag fand m an nun au f der ganzen W elt irgendw o verdächtiges Pulver, z.B. in der M ünchner U -Bahn, die gesperrt w erden m ußte, oder im B erliner K anzleram t, was jew eils G roßeinsätze der Polizei erforderte. Am 12. Tag w urde in W ashington ein Teil des K apitols, am 13. vorsorglich das R epräsentantenhaus geschlossen, und die U S-Post versandte 135 M illionen W arn-Schreiben an ihre Kunden. Prim är- und Sekundärereignisse w aren kaum m ehr zu trennen. N ach knapp 14 Tagen sum m ierte ein dreispaltiger K om m entar: „D ie Liste der B ioterror-O pfer ergibt ein klares M uster. E rst traf es den Verlag A m erican M edia Incorporated in B oca Raton, Florida, der K latschpostillen w ie ... Sun herausgibt. D ann folgten der Fernsehsender N BC und die New York Times. V erm eintliche A nschlä ge au f ein Film studio der Sony Pictures, ein M icrosoft-B üro sowie die P rovinzzeitungen Kansas Star und C olumbus D ispatch w urden bestätigt. U nd als der Fernsehsender A BC am M ontagabend ... ver kündete, der kleine Sohn eines M itarbeiters sei an M ilzbrand er krankt, schien es keine Zw eifel m ehr zu geben - die M edienw elt ist Z ielscheibe des Terrors. ... D och es ist kaum anzunehm en, daß alle B io-A nschläge aus dem selben L ager kam en.“ A m 14. Tag erschien die K arikatur eines rasenden „M ilzbrandb rief-E xpress“-B usses, an dem geisterhafte T rittbrettfahrer hingen (Abb. 1). D ie D ram atik nahm zu. A m 18. Tag w aren „Infizierte P ostsortierer in L ebensgefahr“, am 19. „zw ei am erikanische P ostbo ten gestorben“ und der 20. Tag brachte eine sechsspaltige, m it BriefF aksim iles bebilderte R eportage unter dem Titel „D er Tod kom m t m it der Post ins H aus“, U ntertitel: „P ostbedienstete arbeiten m it M und schutz und H andschuhen - w ie die A ngst vor dem giftigen Pulver den A lltag in den U SA verändert“ . A bgedruckt w urde u.a. ein B rieftext „T his is next. Take penicillin now. D eath to A m erica. D eath to Israel. A llah is great.“ Als einen Tag später „M ilzbrand in der Poststelle des State D epartm ent“ gem eldet wurde, endete die N achricht folgender m aßen: „D er m uslim ische E xtrem ist O sam a bin Laden bestellte nach A ngaben eines V ertrauten vor etw a drei Jahren per Postversand M ilzbranderreger.“ E r habe die E rreger m it H ilfe indonesischer M us lim rebellen gekauft und sich in O steuropa auch K olibakterien und Salm onellen beschafft. W ieder drei Tage später w urden „S puren von M ilzbrand auch bei der C IA “ gem eldet, und in einem K om m entar 2 0 0 2 , H e ft 3 + 4 M ilz b ra n d -G e s c h ic h te n 289 Abb. 1: SZ-Zeichnung: Heinz Birg, 19.10.2001 geriet R ihab Taha, irakische B iow affenexpertin, unter Anthrax-Verdacht: „F ühren die Spuren des Schreckens w ieder einm al zu Saddam H ussein? Führen sie besonders zu jen er Frau, die im G eheim dienst m ilieu schon „D r. B azillus“ genannt w ird?“ F ast täglich tauchten neue M otive au f und strukturierten den Erzählkom plex zunehm end zum Sagen-Plott. Som it w aren gut drei W ochen nach der ersten M ilzbrand-N achricht nicht nur w eltw eit unzählige als verseucht fingierte P ulverbriefe entdeckt - z.B. in der U S -B otschaft in M alaysia, in Sri Lanka, in Japan, im E lysée-Palast in Paris, in w ichtigen Postverteilzentren D änem arks und Finnlands etc. - , und es w urden allein in D eutschland durch „T rittb rettfahrer“ bei Post, Polizei, Feuerw ehr und G esund heitsäm tern M illionenschäden registriert, sondern zugleich sind auch eine F ülle von E rzählm otiven für sagenhafte R äubergeschichten durch alle M edien verstreut worden. Ab der vierten W oche konzen trierte sich die Suche nach echten M ilzbrand-B riefen auf die USA. D ie dortigen B ehörden erklärten jetzt, daß R echtsradikale die B riefe verschickt hätten (einer der ersten war, was nun erst auffällt, an eine A btreibungsklinik versandt w orden). D ann w urden die N achrichten spärlicher. In der 7. W oche tauchte erneut ein verseuchter A nthrax B rief auf, der aber zeitgleich m it früher registrierten B riefen in New 290 H e lg e G e rn d t Ö Z V L V I/105 Jersey aufgegeben und bisher übersehen w orden war. Das FB I ver dächtigte je tz t keinen A l-Q aida-A nhänger mehr, sondern suchte einen ,,,einsam en, w ütenden1M ann m ittleren A lters“, „d er verm utlich kein A m erikaner ist, aber in den USA lebt“. In der 8. W oche verm utete m an als Täter einen U S-B iow affenexperten, „d er auf die B edrohung durch biologische K riegsführung aufm erksam m achen und G eld für die F orschung erpressen wollte. ... M öglicherw eise w ollte er der U S -R egierung aber auch A rgum ente für einen M ilitärschlag liefern.“ Jedenfalls habe der A ttentäter, m einte eine B eraterin des Ex-Präsidenten B ill C linton, „n ich t voraussehen können, daß die E rreger durch die Poren der B riefum schläge hindurch sickern könnten.“ N ach zehn W ochen hieß es in einer N achricht am 10. D ezem ber 2001 lapidar, daß ein „M ilitärvertreter“ hinter der A nthrax-P ost ver m utet w ürde und die M ilzbranderreger w ahrscheinlich aus einem früheren U S-W affenprogram m stam m ten. Zugleich wurde gem eldet, in Seattle sei an B ord eines Flugzeugs Pockenviren-A larm geschla gen, bei dem beschuldigten M ann aber nichts Verdächtiges gefunden w orden. Schließlich rekurrierte der Jahresrückblick der SZ m it einem Schutzanzugm änner-Foto vor dem K apitol auf die - jedenfalls in E uropa inzw ischen w eitgehend verflogene - „A ngst vor A nthrax“ . (Insgesam t w aren in A m erika bis Anfang D ezem ber fünf M enschen an M ilzbrand gestorben und 22 w eitere erkrankt). M itte Januar 2002 berichtete die SZ noch einm al von hohen Strafen für zw ei A nthraxT rittbrettfahrer in M ünchen, die einer N achbarin ein Pulverkuvert m it der A ufschrift „S chöne H autm ilzbrand-G rüße von einem N atur freund“ geschickt hatten, freilich - wie der R ichter abw ägend urteil te - glaubhaft m achen konnten, „daß nicht böse A bsicht hinter dem Vorfall steckte, sondern nur ein m akabres Verständnis von H um or.“ U nd als M itte F ebruar 2002 - jetzt auf der W issenschaftsseite der SZ - vorerst zum letzten M al M ilzbrand erw ähnt w urde, daß näm lich der letzte B austein des A nthrax-G iftes entschlüsselt w orden sei, da w urde m it keinem Wort m ehr au f die M ilzbrand-G eschichten und die öffentlich ungeklärt gebliebene Täterschaft B ezug genom m en.8 8 Nachtrag: Erst am 22.8.2002 tauchte - nun sinnigerweise wieder auf der Panora ma-Seite der SZ - erneut eine M ilzbrand-Nachricht auf: New Yorker Forscher hätten erstmals ein M ittel gegen die Bakterien entdeckt; ebenfalls ohne jeden Hinweis auf die weltweit so intensiv ausgelebte Anthrax-Angst vor einem D rei vierteljahr. Am 24.8.2002 aber erinnerte dann eine umfangreiche Reportage „E in Jahr nach den Milzbrand-Attacken: A ngst vor der täglichen Post“ (etwas ver früht) an die zwei im W ashingtoner Briefzentrum verstorbenen Postbeamten. 2 0 0 2 , H e ft 3 + 4 M ilz b ra n d -G e sc h ic h te n 291 Sagenforschung in der globalisierten Welt Inw iefern d arf m an M ilzbrand-G eschichten tatsächlich als m oderne Sagen betrachten? D en K eim bildet eine N achricht über eine brieflich (m it falschem A bsender) versandte pulverartige Substanz, durch die A nfang O ktober 2001 in Florida/U SA ein M ann, der dam it in B erüh rung kam , an M ilzbrand erkrankte und starb, w ährend Täter und Tatm otiv geheim nisvoll blieben. R asch kam en Varianten dieser N ach richt auf: M ehrere ähnliche B riefe, unter anderem an den Senator Tom D aschle und an den G ouverneur von New York G eorge Pataki, w urden verschickt; es erkrankten verschiedene M itarbeiter von F ern sehsendern und Zeitungen, einm al ein B aby sow ie m ehrere P ostbe am te. Z um indest zw ei B riefe stam m ten vom gleichen Absender. D ie N achricht hat rasch Folgetaten generiert: B ald w erden H un derte von „T rittbrettfahrer“-G eschichten verbreitet, die in der Regel von harm losem Pulver handeln, aber gelegentlich m it schriftlichen (scherzhaften?) D rohungen. Fast überall w ird m öglichen G efähr dungen m it strengen Sicherheitsvorkehrungen, hohem finanziellen A ufw and sow ie Strafverfolgung und V erurteilungen nachgegangen. G leichzeitig entfaltet sich der ursprüngliche N achrichtenkeim : In kurzen A bständen w erden im m er neue B eobachtungen und Verm u tungen, die von Tätern und M otiven des als M ilzbrand-A nschlag gedeuteten Ereignis-K om plexes in den U S A handeln, den M eldungen hinzugefügt. Aus den B erichten entstehen so (auch m ündlich w eiter gegebene) E rzählungen eines m ehrfach etwas variierend auftretenden G eschehens, bei dem anonym in B riefen versandtes Pulver auf tücki sche W eise K rankheit und Tod bringt. O rt und Z eit sind sagengem äß durchw eg genau bestim m t. Die verbrecherische Tat w ird aktuellen E xtrem -B ösew ichtern (bin Laden, H ussein) zugeschrieben. U nnenn bare A ngst erfaßt nicht nur einfache Postangestellte, sondern viele m ehr und auch w eniger bekannte Personen (sow ie die H örer und L eser dieser G eschichten). Die W ahrheit des B erichteten w ird durch u nterschiedliche Zeugnisse und Q uellenverw eise (m eist auf P resse berichte) beglaubigt, gleichzeitig bleibt aber im m er auch eine Spur von Z w eifel an bestim m ten B ehauptungen haften, und m anches er Beginnt damit und mit ähnlichen Rückblicken in anderen M assenmedien im „Som m erloch“ der Zeitungsmacher - stellvertretend für „N essie“ - ein Revival der M ilzbrand-Geschichten? 292 H e lg e G e rn d t Ö Z V LV I/105 w eist sich dann in der R ückschau tatsächlich als eine P hantasievor stellung. D ie M ilzbrand-G eschichte ist insgesam t (noch?) zu kurzlebig, um als traditionell gelten zu können, aber sie scheint doch das S agenkli m a unserer Z eit (wie es L inda D égh in „L egend and B elief“ beschw o ren hat) besser zu repräsentieren als „das H uhn m it dem G ipsbein“ oder „ d ie M aus im Jum bo-Jet“ und ähnliche G eschichten.9 W enn man sie - nicht w eniger gut oder schlecht als die gängigen urban legends an traditionelle Sagen anschließen will, z.B. an Pest- oder C holeraSagen, erscheint das Sagenhafte aktueller N achrichten, obw ohl sie ältere S agenelem ente (Briefe, Heim tücke, undurchsichtige Verbre cherfiguren, „Z auberkünste“) aufnehm en, allerdings etwas anders eingefärbt: Statt des W irkens von D äm onen herrscht heute - im nach N eu ig k eiten gierenden und som it rasch M otive ausw echselnden K om m unikationsprozeß - eine generelle Verunsicherung durch die ja w ahrlich „sag enhaften“ w issenschaftlichen und technischen M ög lichkeiten der M oderne, w elche auch von Terroristen (wie z.B. in den Jam es B ond-Film en) für destruktive Zw ecke nutzbar gem acht w er den können. D er Form enkreis der A ngst wächst. H insichtlich ihrer G laubw ürdigkeit w irken solche ständig w iederholten und dam it die A ngst zur H ysterie potenzierenden B erichte ähnlich wie die alten Sagen, und die verm ittelten Ä ngste erscheinen kaum w eniger auf w ühlend und existenziell. B em erkensw ert sind die m it den Erzählungen verbundenen B ild vorstellungen. Sie scheinen heute oft m erkw ürdig abstrakt, para doxerw eise gerade dadurch, daß die in M assenm edien verbreiteten G eschichten heute kaum m ehr ohne die Illustration durch Foto oder Film auskom m en. D a m an einen M ilzbranderreger faktisch nicht sieht, w erden w enig anschauliche M ikroskopaufnahm en gezeigt oder der N ew Yorker B ürgerm eister Giuliani, wie er B riefe - um die B evölkerung zu beruhigen - ungeschützt eigenhändig öffnet. Vor allem aber publiziert m an im m er und im m er w ieder m it Spezialgerät bew affnete Schutzanzug-U ngetüm e, die als adäquate Sagengestalten der technischen W elt erscheinen. Von rund 30 A bbildungen zum T hem a allein in der SZ w aren etw a die H älfte w enig unterscheidbare Fotos von M ännern in Schutzanzügen, dazu ein chinesischer P ostan gestellter m it Latexhandschuhen und G esichtsm aske, außerdem Fak9 Vgl. Dégh, L.: Legend and Belief. Dialectics o f a Folklore Genre. Bloomington 2001; Brednich, R. W.: Sagenhafte Geschichten von heute. M ünchen 1994. 2 0 0 2 , H e ft 3 + 4 M ilz b ra n d -G e s c h ic h te n 293 Abb. 2: D er Briefträger war da! - tz-Zeichnung: H orst Haitzinger, 17.10.2001 sim iles verschickter D rohbriefe. Einen gezeichneten B ildkom m entar, der einen gespenstischen E indruck verm ittelt, hat die SZ nur einm al publiziert. Es sei aber darauf hingew iesen, daß in anderen M edien, z.B. dem Satire-M agazin Titanic oder einem B oulevard-B latt, die sagenartige T hem atik gew isserm aßen au f eine Schw undstufe gerückt und öfter zum B ildw itz geronnen ist (Abb. 2 ).10 D er M ilzbrandkom plex dem onstriert die S chnelligkeit von S agen bildung und Sagenauflösung in der G egenw art, auch die K urzlebig keit vieler Erzählvarianten und andererseits die B eständigkeit des A ngstm achenden. E r zeigt die Einbettung in ein allgem eines K lim a der U nsicherheit (T errorism us-“H ysterie“), die V ielörtlichkeit der G eschehnisse, die V erflechtung nicht nur unterschiedlichster M ittei lungsform en, sondern auch eine R ückw irkung au f ganz gew öhnliche A lltagshandlungen, eine vielfältige G enerierung der von den E rzäh lungen angeregten R ealisierungsversuche (T rittbrettfahrer-“Scherz e “). Im K o m m unikationsvorgang selbst w erden verschiedene D istanzierungsrituale sichtbar, z.B. durch die Verw endung des K on junktivs, und zugleich die A nhäufung von B eglaubigungsangeboten, 10 Titanic, H. 12 (Dezember 2001), S. 48 und 65. 294 H e lg e G e rn d t Ö Z V L V I/105 die m eist aus ungeprüften Verweisen auf andere M edienprodukte bestehen. N eben Sprachbildern leiten auch spezielle V isualisierungen die W ege der Phantasie und bieten zugleich eine spezifische Form der B eglaubigung an, die freilich ihrerseits im Felde digitaler (spurenlo ser) M anipulationsm öglichkeiten ganz neuartige Irritationen erzeugt. Was folgt aus all diesen Ü berlegungen? Die traditionelle volks kundliche Sagenforschung m uß sich, w enn sie auch auf aktuelle E rscheinungen reagieren und relevante Einsichten für das A lltagsle ben der G egenw art gew innen will, deutlich verändern, indem sie G egenstand, B etrachtungskontext und E rkenntnisziel von den Fragen und B edingungen der heutigen Zeit her neu bestim m t. 1. D er G egenstand urban oder Contemporary legend („m oderne Sage“ , „sag enhafte G eschichte“) bedarf gegenüber der „S ag e“ for mal der E rw eiterung und inhaltlich der Präzision. D ie Sagen unserer Z eit sind w eder reine Erzählungen noch bloße M itteilungen, sondern G eschichten, die in der Regel sowohl erzählende als auch berichtende E lem ente in G em engelage enthalten. D ie m oderne Sage erscheint noch stärker als ihre Vorgängerin als eine M ischkategorie, als ein (m ehrstim m iger) E rzählbericht, in dem sich Verunsicherung und Z w eifel artikulieren. Wo O bjektivität behauptet wird, herrscht gleich w ohl eine gew isse U ndurchsichtigkeit; wo W ahrheit beansprucht wird, bleibt ein G efühl von Täuschung, Trug oder Tücke. Sagenhafte G eschichten m arkieren das U ngeklärte einer m odernen A lltagsw elt, w elche au f Ü berprüfbarkeit und Sicherheit eingeschw oren ist und doch unabdingbar auch m it der Suspendierung von R ationalität leben muß. 2. Sagenhafte G eschichten sind, im G egensatz zu unterhaltenden Erzählungen, nur im K ontext, in einem K om m unikationszusam m en hang w irklich existent. W er sie angem essen analysieren will, hat den gesam ten P roblem kom plex ins Auge zu fassen und die gesam te Ü berlieferungssituation m it ihren sozialen und m edialen Im plikatio nen zu berücksichtigen. Eine sich m ehr oder w eniger linear vollzie hende V erm ittlung isolierter E rzählinhalte ist kaum m ehr irgendw o zu erw arten; das gleiche gilt für die ausschließlich m ündliche W eiter gabe oder die Speicherung und Ü berm ittlung stets allein in W ort oder Schrift. Sagenhafte G eschichten leben nur in reaktiven Bezügen, die sich au f auditive, visuelle und/oder elektronische W eise m anifestie- 20 0 2 , H e ft 3 + 4 M ilz b ra n d -G e sc h ic h te n 295 ren können; sie sind nicht nur herauslösbare B estandteile des K om m unikationsprozesses, sondern als G eschichtenkom plex ein Ü berlie ferungsvorgang per se. 3. Sagenhafte G eschichten, die nicht in erster L inie auf ästhetische E insichten zielen, sondern einer generell kulturw issenschaftlichen E rkenntnisfindung dienen sollen, sind nicht als Indikatoren im natur w issenschaftlichen Sinne aufzufassen. Sie sind vielm ehr als Sym pto m e zu verstehen. Sie verw eisen nicht, sondern sie repräsentieren. Sie sind w eniger A nzeiger als A nzeichen. Das w eist darauf hin, daß sie keine kulturellen G esetzm äßigkeiten sichtbar m achen, sondern allen falls gew isse R egelhaftigkeiten, daß sie kulturelle Transform ation nicht streng erklären, sondern exem plarisch beleuchten. Sagenfor schung kann in einer hinsichtlich ihrer einzelnen B estandteile hoch gradig vernetzten und beschleunigten K om m unikationssituation ku l turelle S achverhalte so gut wie nie faktengetreu erklären. Sie kann allerdings B etroffenheiten und V erhaltensm uster beispielhaft durch spielen und das rational nicht A uflösbare durch A nalogien und mit m etaphorischen M itteln einsichtig erhellen. Darin liegt die Essenz k ulturw issenschaftlich-volkskundlicher Erkenntnis. Helge Gerndt, Anthrax Stories. Theses on Legend Research in the Globalized World A nthrax-infected letters were found in the US soon after the terrorist attacks on the World Trade Center in New York on September 1 Ith, 2001. Shortly thereafter, a host of stories and reports appeared in the mass media and they were quickly spread around the globe by word o f mouth and electronic media (Internet, e-mail). This example raises the question whether such stories about anthrax are “modern legends” or not. Based on a variety of approaches, this paper asks whether legend research, as it has been conducted in folklore and ethnological studies until now, needs to rethink its subject m atter and its focus given the conditions o f today’s globalized world. Österreichische Zeitschrift fü r Volkskunde Band LVI/105, Wien 2002, 297-314 Succarath - ein Fabeltier in Münchner Krippen des frühen 19. Jahrhunderts Nina Gockerell In M ünchner Krippen des frühen 19. Jahrhunderts taucht in der Szene der Flucht nach Ägypten häufig die Schnitzfigur eines Fabeltieres auf, das die Jungen auf seinem Rücken mit Seinern breiten Schwanz beschirmt. Die erste Erwähnung mit Abbildung unter dem Namen Succarath findet sich in Conrad Gessners Historia Animalium von 1551. Bis ins 18. Jahrhun dert hinein folgen weitere Beschreibungen in naturkundlichen Werken. Im Barock wird das Tier zum Emblem für die Flucht nach Ägypten (z.B. in der Sala del Tesoro in Loreto). Vermut lich handelt es sich nicht - wie vermutet wurde - um ein ausgestorbenes Riesenfaultier, sondern um eine frühe Zusam menfügung verschiedener Präparate exotischer Tiere. D ie nachw eihnachtliche Szene der Flucht nach Ägypten w urde in den M ünchner K rippen des frühen 19. Jahrhunderts m eist besonders dra m atisch darg estellt.1Das den K rippenbauern w eitgehend unbekannte Land Ä gypten w ar in den figurenreichen W echselkrippen w ohlhaben der M ünchner Fam ilien bew ohnt von teils exotischem , teils der F abelw elt entsprungenem Getier. D arunter findet m an aufrecht ge hende M ähnenaffen,2M eerkatzen verschiedener Art, Strauße, Löwen, Schlangen, L eoparden, nilpferdartige V ierfüßler und das Succarath, dem diese U ntersuchung gilt (Abb. 1). A lle Tiere sind aus L indenholz gearbeitet und farbig gefaßt, wobei sowohl die hohe Q ualität der 1 In der K rippensammlung im Bayerischen Nationalmuseum wird die ungewöhn liche Szene des Übersetzens der heiligen Familie in einem Kahn über den Nil gezeigt (Krippe 94), wobei das ägyptische U fer von exotischen und von Fabel tieren bewohnt ist. 2 Diesen aufrecht gehenden Affen mit dem von einer M ähne umgebenen Gesicht findet man beispielsweise in Bernhard von Breydenbachs 1486 in M ainz erschie nener „R eise ins Heilige Land“ auf einer Holzschnittillustration zusammen mit Krokodil, Kamel, Einhorn, Giraffe und verschiedenen Ziegenarten mit der Bild unterschrift: „H ec animalia sunt veraciter depicta sicut vidimus in terra sancta.“ 298 N in a G o c k e re ll Ö Z V LV I/105 Abb. 1: Weibliches Succarath aus einer Krippe Holz, geschnitzt und farbig gefaßt M ünchen um 1820/30 Bayerisches N ationalmuseum M ünchen, Inv.-Nr. 96/968 S ch n itzerei als auch die fein differen zierte B em alung auffällt. M ünchner K rippenfiguren der Jahre nach 1800 sind in stilistischer H insicht sehr einheitlich und daher leicht zu bestim m en, obw ohl sie aus unterschiedlichen W erkstätten stam m en. Sie sind dem unter dem E influß der M alergilde der N azarener entw ickelten orientalischen Typus der K rippe verpflichtet. N ur w enige Schnitzernam en w urden überliefert, keine der bisher bekannten erhaltenen F iguren ist signiert, eine verläßliche Z uschreibung an bestim m te K ünstler ist daher nicht m öglich. D ie V ielzahl der qualitätvollen Tierfiguren - übrigens auch der heim ischen Tierw elt m it R indern, Schafen, Ziegen und H irten hunden - läßt darauf schließen, daß gerade ihnen zu dieser Z eit die besondere Zuneigung der K rippenkäufer und -bauer galt. In kaum einer der bis heute erhaltenen M ünchner K rippen des frühen 19. Jahrhunderts fehlt das Succarath. A u f seinem raubtierarti- 20 0 2 , H e ft 3 + 4 S u c c a ra th - e in F a b e ltie r in M ü n c h n e r K rip p e n 299 Abb. 2: M ännliches Succarath aus einer Krippe Holz, geschnitzt und farbig gefaßt M ünchen um 1820/30 Bayerisches Nationalm useum M ünchen, Inv.-Nr. 96/969 gen K örper sitzt ein Kopf, der oftm als beinahe m enschliche Züge aufw eist. Das w eibliche T ier trägt stets drei bis vier Junge auf dem R ücken und beschirm t sie m it seinem breiten, wie ein D ach w irken den, zurückgelegten Schw anz. G egenüber zahlreichen w eiblichen S uccarathfiguren konnte bisher nur ein einziges m ännliches, das augenscheinlich keine besonderen A ufgaben übernim m t, ausfindig gem acht w erden (Abb. 2). Das Tier ist w eder in der K rippenkunst im übrigen süddeutschen oder im alpenländischen R aum bekannt, noch in Tirol, auch nicht in den großartigen italienischen W eihnachtsszenarien, nicht in spani schen oder französischen; es ist auch nicht in K rippen aus L ateinam e rika oder A frika zu finden - es kom m t nur in M ünchen und nur zu Beginn des 19. Jahrhunderts vor. Es m uß einen S chnitzer gegeben haben, der das Tier - verm utlich von einer graphischen Vorlage ins 300 N in a G o c k erell Ö Z V LV I/105 D reidim ensionale übersetzt - in die K rippe eingeführt hat. Sicherlich sind nicht alle Succaraths aus seiner Hand. E r wird w ohl rasch N achahm er gefunden haben, die die N achfrage nach der ungew öhn lichen F igur ebenfalls befriedigen konnten. M anche in ihrer A usfüh rung deutlich schw ächere B eispiele lassen auf Epigonen schließen. U m es gleich vorw egzunehm en: Es ist bisher nicht gelungen, das Incognito des Succarath-Erfinders zu lüften. D ennoch soll hier der Weg dieses ungew öhnlichen Tieres durch die Zeiten seines gelegent lichen A uftretens zw ischen der M itte des 16. und der M itte des 18. Jahrhunderts - also vor seinem Einzug in die M ünchner K rip pen - nachgezeichnet werden. B eim T hem a „F lucht nach Ä gypten“ drängen sich zu allererst jene L egenden in die Erinnerung, die von zahm gew ordenen Löw en und Panthern, von anbetenden D rachen und stürzenden G ötterbildern beim Vorüberziehen der heiligen Fam ilie berichten.-'' In nicht w enigen alpenländischen wie auch in M ünchner K rippen sind Figuren für diese Szenen vorhanden. U nter sie m ischt sich das Succarath, das aus anderem Z usam m enhang kom m t und in gänzlich anderer B edeutung auftritt, denn es dient nicht der Illustration von L egenden oder A po kryphen, sondern ist Em blem oder Symbol. D ie früheste bisher aufgefundene B eschreibung und A bbildung des Tieres findet sich im Jahr 1551 in der „H istoria anim alium “ des Schw eizers C onrad Gessner. Gut ein Jahrzehnt später-1563 - brachte der Z ürcher A rzt, N aturforscher und Physiker, der gerne als „S ch w ei zer P linius“ bezeichnet wurde, als Z usam m enfassung der beiden B ände seines lateinischen W erkes die deutsche Version m it dem Titel „T h ie rb u ch “ heraus. Das kunstvolle T itelblatt b eider A usgaben schm ückt nicht etw a das B ild eines bekannten und den Lesern ver trauten Tieres, sondern eine D arstellung des Succarath. Laut Titel hatte D. C unrat Forer den lateinischen Text von G essner „ in das Teutsch gebracht“ und dem A bschnitt über unser Tier folgende Ü ber schrift gegeben: „D as aller schützlichest (= scheußlichste) thier so geseyn m ag/Su genant in den neuw en landen.“ N eben der äußerst sorgfältig gezeichneten A bbildung der Text: „Es ist ein ort in dem neuw erfundnen land/welches ein volck eynwonet Patagones in jrer spraach genent/vnd diewyl das ort nit seer warm ist/so bekleidend sy sich mit beltzwerck von einem thier/welches sy Su nennend 3 A uflistung der Legendentypen und Literaturangaben etwa im Lexikon für christ liche Ikonographie unter dem Lemma „Flucht nach Ägypten“ . 2 0 0 2 , H e ft 3 + 4 S u c c arath - e in F a b e ltie r in M ü n c h n e r K rip p e n 301 aller rrf)Ufi(i®c|c tliicr fo gc|ei)tt mag/@ tt genaue tu t>en ndi&ert lanoeth @ tftetnoJcm feem nettt» erfttnb* nen l«nb/ welches ein PolcE eynwonct paM goticöi« j'rec fpcaadj gettettt/ »Hi> öierc-yl b a s o:t nie feer w arm tji/fo beEtcibcnb fy (Idjmitbelij# weccE »on einem rtjfct/ welches fy © u nennenb b a s tfi rpaffer/atif »:fad> b a f es ber mercr tljetl bey bcn waffeten wonet/ jifi feerréu? big/fcbeut;ltd> wie bife gcßaltuf? weypr. © oesP O R ben Regeren-, p q a g t/m m p t es feine jungen aiiff * — — feinen ruggen/becEt fy m it einem langen fd jw sn tj/ fliedjt atfo bauen/ wiirbt mit gtâ« ben gefangen Ptib m it pfcylen erfci)o|feii. Abb. 3: Holzschnitt aus Conrad Gessner: Thierbuch. Zürich 1551 (deutsche Ausgabe 1563) das ist wasser/auß ursach daß es der merer theil bey den wasseren wonet/Ist seer roeubig/scheutzlich wie diese gestalt vßweyßt. So es von den Jegeren gejagt/nimpt es seine jungen auff seinen ruggen/deckt sy mit einem langen schwantz/fliecht also dauon/wirdt mit grueben gefangen vnd mit pfeylen erschossen.“4 A u f den H olzschnitt im Text, der auch für das Titelblatt verw endet wurde, gehen die m eisten der späteren D arstellungen des Tieres m ehr oder w eniger direkt zurück. G essners Su ist im P rofil nach rechts in Schrittstellung auf einem R asenstück dargestellt (Abb. 3). Das Tier hat einen löw enähnlichen Körper, der sich zum B ecken hin stark verjüngt, angedeutete Zitzen am tiefhängenden O berkörper, krallen bew ehrte Tatzen, an den Schenkeln und an der B rust zottiges Fell 4 Gessner, Conrad: Thierbuch. Das ist ein kurtze bschreybung aller vier=füssigen Thieren/so auff der erde vnd in wassern wonend/sam pt irer conterfactur: alles zu nutz vn gutem allen liebhabern der künsten/A rtzeten/M aleren/B ildschnitzern/W eydleuten vnd Köchen/gestelt. Erstlich durch den hoch=geleerten herren D. Cunrat Geßner in Latin beschriben/jetzunder aber durch D. Cunrat Forer zu mererem nutz aller m engklichem in das Teutsch gebracht/vnd in ein kurtze kom=liche Ordnung gezogen. Zürich 1563. 302 N in a G o c k erell Ö Z V LV I/105 sow ie den beschriebenen langen, breiten Schwanz, der wie eine große Feder wirkt. Sein G esicht ist geprägt von hervorquellenden Augen m it stechendem B lick unter beinahe m enschlich w irkenden A ugen brauen, einer flachen, breiten Nase, einer aufgeschw ollenen O berlip pe, einem "Maul m it verm utlich scharfen Zähnen, einem zw eigeteilten Spitzbart und kleinen, spitzen Ohren. Von den vier Jungen auf dem R ücken des Tieres sitzen die beiden m ittleren einander im Profil zugew endet, das vordere schaut m it leicht zur Seite geneigtem K opf nach vorne, das hinten sitzende m it dem sehr stum pfen K opf blickt zum Schw anz der M utter. D ie Jungen ähneln E ichhörnchen, denn sie halten ihre federartigen Schw änze w ie diese steil aufgerichtet parallel zum R ücken.5 D iese früheste bekannte D arstellung des Succarath dürfte einem der geschnitzten Exem plare (Abb. 4) aus M ünchner K rippen im B ayerischen N ationalm useum unm ittelbar zu G runde liegen, auch w enn hier nur drei nach vorne blickende Junge vorhanden sind. Schon w enige Jahre nach dem E rscheinen seines lateinischen W er kes und einige Jahre vor der H erausgabe der deutschen Version, finden sich Gessners Angaben, ins Französische übersetzt, in dem 1558 in Paris erschienenen W erk „L es singularités de la france antarctique autrem ent nom m ée am érique et de plusieurs terres et iles découvertes de notre tem ps par frère andré thevet natif d ’angoulem e“ .s A ndré T hevet w ar Schatzm eister der K atharina von M edici, H istoriograph und K osm ograph Karls IX. von F rankreich sowie erfolgreicher Südam erikaforscher. Er veröffentlicht die D arstellung des Succarath als B ew ohner B rasiliens, nennt es, wie er sagt „ in der Sprache der E inheim ischen“ Su und schildert sein A ussehen und V erhalten folgenderm aßen: „Ceste region est de mesme temperature que peut estre Canada, & autres pais approchans de nostre Pole: pource les habitans se vestent de peaux de certaines bestes, qu’ils nomment en leur langue, Su, qui est autant â dire, comme eau: porrtant selon mon iugement, que cest animal la plus part du temps, reside aux riuages des fleuues. Ceste beste est fort rauis5 A uf der 1976 herausgegebenen und mittlerweile ungültig gewordenen 50-Franken-Note der Schweizerischen Nationalbank, die dem Gelehrten Conrad Gessner gew idm et war, war außer seiner Eule zusammen mit seinem Porträt auch die Titelvignette seines Thierbuches, das Su, abgebildet. 6 Als antarktisches Frankreich wurde im 16. Jahrhundert das von den Franzosen besetzte Rio de Janeiro bezeichnet. 2 0 0 2 , H e ft 3 + 4 S u c c a ra th - e in F a b e ltie r in M ü n c h n e r K rip p e n Abb. 4: Weibliches Succarath aus einer Krippe Holz, geschnitzt und farbig gefaßt M ünchen um 1820/30 Bayerisches Nationalm useum M ünchen, Inv.-Nr. Krippe 51 Abb. 5: Holzschnitt aus André Thevet: Les singularités ... Paris 1558 303 304 N in a G o c k erell Ö Z V L V I/105 sante, faite d ‘vne facon fort estrange, pour quoy iela vous ay bien voulu representer par figure. Autre chose: Si eile est poursuyuie, comme font les gens du pais, pour en auoir la peau, eile prend ses petis sus le dos, & les couurant de sa queue grosse & longue, se sauue â la fuite.“ Im folgenden beschreibt Thevet die Jagdm ethoden der E inheim i schen, die jew eils in der N ähe der A ufenthaltsorte dieser Tiere einen tiefen G raben auszuheben und m it grünen B lättern zu bedecken pflegen, in die das „arm e T ier“ ( la pauure beste) m itsam t seinen Jungen hineinfalle, diese, die A usw eglosigkeit der Situation erken nend, sofort töte und m it seinem m arkerschütternden K lagegeschrei die Jäger, die es dann m it Pfeilen erlegen, ganz bew ußt anlocke.7 T hevet bezieht sich im Prinzip auf Gessner, schm ückt den Text jedoch m it seinen W orten erheblich aus. D abei betont er w eniger die Verwen dung des Tierfells durch die Eingeborenen, als vielm ehr die A rt und W eise, wie sie durch w enig w aidm ännische M ethoden in dessen B esitz zu kom m en pflegten. Thevet gibt Gessners Illustration im w esentlichen sehr exakt wieder, zeigt sie jedoch seitenverkehrt, was beim „ab k u p fern“ ja leicht passieren kann, und fügt vor dem Tier und unter seinen H interbeinen auf dem B oden jew eils einen Stein m it dahinter hervorsprießender Pflanze hinzu (Abb. 5). E benfalls au f G essner geht die D arstellung des Tieres bei A m boise Paré 1579 in seinem in Paris erschienenen „P rem ier livre des Anim aux & de l ’excellence de l ’hom m e“8 zurück, begegnet hier jedoch in einem ganz neuen Zusam m enhang. H ieß das Tier bei G essner und dann natürlich auch bei Thevet „ S u “, was seinem B ericht nach in der Sprache der dort Lebenden „W asser“ bedeutete, nennt der D oktor Paré die erste A bbildung seines Kapitels X, in w elchem es unter anderem um die Liebe der Tiere zu ihren Jungen geht, „P ourtraict du S uccarath“ . Ihn interessiert das Tier nicht als Exot aus frem dem Land, dessen Fell die B ew ohner vor den U nbilden der W itterung zu schüt zen verm ochte, sondern als Vorbild für Elternfürsorge und -liebe. Paré berichtet ganz allgem ein von dem verschiedenen Tieren eigenen B eschützerverhalten wie etw a dem A blenken der Jäger von den Jungen oder der getrennten U nterbringung der einzelnen Jungtiere an verschiedenen Orten, um sie nicht alle gleichzeitig den selben G efah 7 Thevet, Andre: Les singularités de la france antarctique autrement nommé amérique. Paris 1558. Hier zitiert nach der Neuauflage Paris 1981, S. 108 f. 8 Paré, Amboise: Prem ier livre des/Animaux & de l’excellence de l’homme. Paris 1579, S. 47. 20 0 2 , H e ft 3 + 4 S u c c arath - e in F a b e ltie r in M ü n c h n e r K rip p e n 305 ren auszusetzen. D ann kom m t er auf seine A bbildung zu sprechen, zitiert ordentlich seine Q uelle en ayant pris le pourtraict ect. De Teuet, liure 23. caph. 1. Tome. 2. de sa C osm ographie ...“) und schreibt weiter: „Elle est nommee de ce peuple (en la floride) Succarath, & des Canibales Su. Cest animal la plus part du temps fait sa residence au riuage des fleues, & est rauissante, & d’vne facon fort estrange, tele que la voyez figuree. Si eile est poursuiuie, eile prend ses petits sur son dos, lesquels eile couure de sa queue, qu’elle a assez longue & large, & se sauue â la fuitte. Toutesfois les sauuages pour la prendre, font vne fosse, dedans laqueJle eile tombe sans se douter de teile ambuscade.“ A m boise Paré übernim m t Textinhalt und A bbildung von Thevet, gibt dem Tier aber eine andere B ezeichnung, beziehungsw eise erw eitert den frem den N am en Su um zw ei zusätzliche Silben und nennt es Succarath. H ieße das Tier Succurath, läge die Verm utung nahe, m it dieser m öglichen A bleitung vom lateinischen „su cu rrere“ - zu Hilfe eilen - sollte auf das beeindruckende Verhalten des M uttertiers im Falle der G efahr B ezug genom m en w erden; für das Wort Succarath ist keine direkte etym ologische Spur zu finden. In die ersten Jahre des 17. Jahrhunderts läßt sich die bisher einzige bekannte m alerische U m setzung des bei G essner veröffentlichten H olzschnitts datieren. Ab 1605 führte C ristoforo R oncalli genannt Pom arancio die Freskierung der Sala del Tesoro der W allfahrtskirche von L oreto aus. Das B ildprogram m vereint die erw artungsgem äß dom inierenden Szenen aus dem M arienleben m it Präfigurationen aus dem A lten Testam ent, Sibyllen, Propheten, Engeln und M ariensym bolen. Z ugleich w eist der G oldene Saal einen der frühesten Em blem Z yklen außerhalb von H andschriften auf.9 Als Em blem für die Flucht nach Ä gypten hat der M aler das Tier Succarath gew ählt (Abb. 6). Die Szene der Flucht ist äußerst bew egt gestaltet: Joseph, grau gekleidet, in R ückenansicht gegeben, schreitet kräftig aus; er trägt sein Bündel an einem Stock über der linken Schulter und führt den Esel m it der rechten Hand. M aria, traditionell in R osa und Blau, sitzt seitlich auf dem Tier und hält den fast nackten Jesusknaben vor sich. Das Kind um greift m it seiner linken H and ein Büschel D atteln und reckt seine rechte nach oben zur H and eines blaugeflügelten E ngelchens, das ihm 9 Angaben hierzu bei: Kemp, Cornelia: Emblem. In: Marienlexikon, Bd. 2. St. Ottilien 1989, S. 331-334, bes. S. 333. 306 N in a G o c k erell Ö Z V L V I/105 Abb. 6: Em blem der Flucht nach Ägypten in der Sala del Tesoro in Loreto Cristoforo Roncalli gen. Pomarancio, nach 1605 Foto: Peter Becker, Altötting w eitere D atteln von einer grünen Palm e reicht; ein zw eiter Putto schw ebt über M aria. D argestellt ist hier das Palm w under, das im Z usam m enhang m it der F lucht nach Ä gypten ebenso häufig wie die zu B eginn erw ähnten L egenden von den w ilden Tieren erzählt w ird .10 Das dieser Szene zugeordnete Em blem , oberhalb des B ildes ange bracht, zeigt eine R ahm ung aus perspektivisch gem alten M uschelor nam enten m it halbfigurigen w eiblichen Engeln und in der M ittelkar tusche das Succarath, nach rechts gew endet m it vier Jungen au f dem R ücken. K örperform , Pfoten, Z ottelfell an B einen und B rust, S pitz ohren und -bart sow ie die starke O berlippe lassen den Stich im W erk von G essner deutlich als Vorbild erkennen. Etw as verändert hat Pom erancio jed o ch die A nordnung der Jungen, von denen hier ledig lich das erste nach vorne schaut, w ährend sich die anderen drei einheitlich nach hinten w enden. Im G egensatz zur G raphik steht das Tier hier im Fresko in einer w eißen (verschneiten?) B erglandschaft, 10 Zum Palm wunder siehe: Die Flucht nach Ägypten. In: Schiller, Gertrud: Ikono graphie der christlichen Kunst, Bd. 1. Gütersloh 1966, S. 127-134, bes. S. 128. 2 0 0 2 , H e ft 3 + 4 S u c c a ra th - ein F a b e ltie r in M ü n c h n e r K rip p e n 307 Abb. 7: W eibliches Succarath aus einer Krippe Holz, geschnitzt und farbig gefaßt M ünchen um 1830 Bayerisches Nationalm useum M ünchen, Inv.-Nr. Krippe 50 ü ber der sich blauer H im m el wölbt. Das weiße, kunstvoll gerollte S chriftband trägt die A ufschrift „V N A SALV(S) O M N IB V S “ . E ine Schnitzfigur aus den B eständen der K rippensam m lung des B ayerischen N ationalm useum s w eist - vor allem im G esicht - große Ä hnlichkeiten gerade m it dieser italienischen B ilddarstellung auf (Abb. 7). D ie Spitzohren, die m enschlich w irkenden A ugen, die fla che, breite N ase, die hervorquellende O berlippe, das geöffnete M aul und auch der m ehrfach geteilte S pitzbart sind unm ittelbar vergleich bar; die Z ahl der Jungen ist dagegen, w ie bei allen bisher bekannten Schnitzfiguren, au f drei reduziert. 1658 w urde unser Tier in den ersten B and von E dw ard Topsells in L ondon erschienenem W erk „T he H istory o f four-footed beasts and serpents and in sects“ 11, der sich ausschließlich m it den V ierfüßlern beschäftigt, aufgenom m en. D er A utor bekennt auf dem Titel freim ü 11 Topsell, Edward: The history o f four-footed beasts and serpents and insects. Bd. 1. Nachdruck. New York 1967, S. 510. 308 N in a G o c k erell Ö Z V L V I/105 tig seine Quelle: „T aken principally from the H istoriae A nim alium o f C onrad G esner (sic!).“ Es m ag überraschen, daß er in der M itte des 17. Jahrhunderts auf eine bereits über hundert Jahre alte Publikation zurückgreifen m ußte, doch standen ihm zu seiner Zeit, in der m an sich noch im m er am besten bei A ristoteles oder Plinius dem Ä lteren in der Z oologie bilden konnte, kaum andere U nterlagen zur V erfügung.12 U nter dem Titel , , 0 f the Su. O f a W ilde B east in the N ew -found W orld called Su“ bildet Topsell die bekannte Vorlage ab und berichtet in einem gegenüber früheren K om pilationen ziem lich ausführlichen Text von der jü n g st entdeckten G egend m it N am en „G ig an tes“ und den dort lebenden „P atagones“ sowie deren Vorliebe für P elzklei dung, die sie aus dem Fell des Su m achen. D ie A bbildung des „äußerst unförm igen und unzähm baren Tieres“ hat er - nach eigenem B ekun den - von T hevet übernom m en; dieser Publikation gegenüber er scheint sie bei ihm jedoch seitenverkehrt und verzichtet außerdem auf die für T hevet typischen Pflanzen und Steine; er hat die A bbildung also entgegen seinen eigenen A ngaben wohl eher von G essner ent lehnt. Topsell bringt bisher unbekannte A usschm ückungen: „... when the Hunters that desire her skin set upon her, she flyeth very swift, carrying her young ones upon her back, and covering them with her broad tail: now for so much as no Dog or Man dareth to approach neer unto her (because such is the wrath thereof that in the pursuit she killeth all that cometh near her:).“ H ier folgt die schon bekannte Schilderung des Fangens im blätterbe deckten G raben und der Folgen dieser grausam en Jagdm ethode. Topsell steigert sich dabei in einer W eise in die angebliche G rauenhaftigkeit des Tieres hinein, daß nur seine eigenen W orte davon einen E indruck geben können. „This cruel, untamable, impatient, violent, ravering, and bloudy beast, perceiving that her natural strength cannot deliver her from the wit and policy of men her hunters, (for being inclosed, she can never get out again,) the Hunters being at hand to watch her downfall, and work her overthrow, first of all to save her young ones from taking and taming she destroyeth them all with her own teeth; for there was never any of them taken alive; and when she seeth the Hunters come about her, she roareth, cryeth, howleth, bryeth, and uttereth such a fearfull, noysome, and terrible clamor, that the men which watch to kill her, are not thereby a 12 Vgl. hierzu: Ley, Willy: Unpaginierte Einleitung zum N achdruck von Topsell (wie Anm. 11). 2 0 0 2 , H e ft 3 + 4 S u c c arath - e in F a b e ltie r in M ü n c h n e r K rip p e n 309 little amazed, but at last being animated, because there can be no resistance, they aproach, and with their darts and spears wound her to death, and then take off her skin, and leave the carcass in the earth. And this is all that I finde recorded of this most savage Beast.“ So w urde aus einem ursprünglich naturw issenschaftlich-neutral an m utenden Text über das Su oder Succarath einm al - bei Paré - das M uster m ütterlicher Liebe und Fürsorglichkeit in der Tierw elt und ein anderes M al - bei Topsell - das B ild eines ungew öhnlich gefährli chen, abstoßenden, w ilden U ngeheuers. B eide A utoren haben selbst nicht recherchiert, sondern lediglich zur Verfügung stehende Infor m ationen nach ihren subjektiven Eindrücken und für ihre Zw ecke passend um geschrieben, beziehungsw eise die G ew ichtung des In halts in die von ihnen jew eils intendierte R ichtung erheblich ver schoben. Z usam m en m it G ürteltieren, Schlangen, A ligatoren und Echsen, L eoparden, einem Skorpion und einem unbestim m baren, zw ei Junge säugenden Tier, erscheint das Succarath au f einer sehr fein in K upfer gestochenen T afelabbildung in dem W erk „Icones A rborum , Fructicum et H erbarum ...“ , das ohne Jahresangabe, aber w ohl um 1720, in Leiden erschienen ist.13 D ie Tafel 25 trägt die Ü berschrift: „A nim alia diversi generis G uatim ala proferens.“ Das Succarath ist - was K ör perform , Schw anz und darunter verborgene Jungtiere betrifft - nach G essner gestaltet. Leichte A bw eichungen ergeben sich beim G esicht, das w egen der H aartracht hier noch m enschlicher wirkt, doch zeigt ein V ergleich m it dem K opf des Leoparden, daß auch er ähnliche Züge m it einem ebenfalls sehr breitgezogenen M aul aufw eist. Im Text w ird h ier au f das Tier nicht w eiter eingegangen. E ine w eitere - diesm al süddeutsche - B ildquelle kann für die B ild w irksam keit des Succarath als (verm eintlicher) Vertreter der Tierw elt Südam erikas stehen. Im Jahr 1722 bestellte der K em ptener F ürstabt R upert von B odm an bei Johann B aptist Spiegel einen E rdglobus.14 D ie K upferkugel m it einem D urchm esser von 85 cm zeigt die viel 13 Ohne Autor: Icones/Arborum , Fructicum et Herbarum/Exoticarum quarundam a Rajo, M entzetio, aliisque Botanophilis/quidem descriptarum, est non delineatarum: ut et Animalium Peregrinorum Rarissimorum,/tam Volatilium, quam Qua drupedum ac Aquatilium,/in extremis oris et desertis Indiarum et aliis Locis repertorum . Lugduni Batavorum, o.J. (um 1720). 14 BNM , Inv.-Nr. R 6911. Siehe dazu: Seelig, Lorenz: Erdglobus. In: Bürgerfleiß und Fürstenglanz. Reichsstadt und Fürstabtei Kempten. Augsburg 1998, S. 2 6 2 264. 310 N in a G o c k erell Ö Z V LV I/105 fach belebte E rdoberfläche und die M eere in äußerst qualitätvollen G ravierungen (Abb. 8). A u f den W asserflächen sind neben Schiffen auch S eeungeheuer zu finden, auf den K ontinenten Vertreter der dort lebenden Völker w ie etw a in N ordam erika Indianer. Im Süden des K ontinents, in Patagonien, ist ein Succarath eingraviert m it dem D reizeiler darunter: „Perniciosa Bestia haec nomen habet/Sucarathe, cum a Venatoribus impetitur,/pullos suos in tergum corripit, atque ita fugit.“ Aus der w ilden B estie ist bei Spiegel ein V ierbeiner gew orden, der an ein freundliches H ündchen erinnert. Das zurückgew endete G esicht zeigt große, runde Augen, ein wie lächelnd w irkendes M aul und hundeartige, w uschelige Spitzohren. Stolz trägt dieses heitere Tier drei Junge unter seinem leicht w ellenförm ig gestalteten Schwanz. Das S uccarath galt auch diesem K ünstler im ersten Viertel des 18. Jahrhunderts dem nach als R epräsentant der Tierw elt Südam erikas schlechthin, w obei seine H eim at in den Texten häufig m it Patagonien, daneben aber auch m it B rasilien oder G uatem ala angegeben wird. Eines der Schnitzfigürchen in der K rippensam m lung des B ayerischen N ationalm useum s zeigt große Ä hnlichkeit m it dem Su au f dem G lo bus - jedenfalls läßt auch dieses Tier seine H erkunft aus Gessners T hierbuch kaum m ehr erkennen (Abb. 9). U nd was ist das Succarath w irklich? Es wird im m er w ieder er w ähnt - leider aber nie m it exakten A ngaben belegt - daß eine L on doner Zeitung, verm utlich im frühen 20. Jahrhundert, eine E xpedition ausrüstete, die das Tier Su aufspüren sollte. „D as U nternehm en endete in einem so vollständigen M isserfolg, dass der L eiter schliess lich nicht nur das Vorhandensein des Tieres sondern auch der Sage leugnete.“ 15 S eit dem 19. Jahrhundert hat es Versuche gegeben, im Succarath ein ausgestorbenes R iesenfaultier (M egatherium )16 oder einen Ver w andten des A m eisenbären zu sehen oder es m it der legendären M anticora in Zusam m enhang zu bringen. D ieses in Indien verm utete T ier zeichnet sich durch einen L öw enkörper m it einem trotz der 15 Clair, Colin: Unnatürliche Geschichten. Ein Bestiarium. Zürich 1969, S. 87. 16 Vgl. hierzu: Heuvelmans, Bernard: Sur la piste des bëtes ignorées. Amérique, Sibérie, Afrique. Paris 1956, S. 45 ff.; Wendt, Herbert: A uf Noahs Spuren. Die Entdeckung der Tiere. Troisdorf 1956, S. 221 ff.; Ley, Willy: Drachen, Riesen, Rätseltiere. Enträtselte M ythen - R ätselhafte W irklichkeit. Stuttgart 1956, S. 268 ff.; D eLery, Jean: Brasilianisches Tagebuch 1557. Tübingen 1967, S. 199. 2 0 0 2 , H e ft 3 + 4 S u c c a ra th - e in F a b e ltie r in M ü n c h n e r K rip p e n Abb. 8: Erdglobus von Johann Baptist Spiegel Gravierung auf Kupfer, Kempten 1722 Bayerisches N ationalmuseum M ünchen, Inv.-Nr. R 6911 Abb. 9: W eibliches Succarath aus einer Krippe Holz, geschnitzt und farbig gefaßt München um 1840 Bayerisches N ationalmuseum M ünchen, Inv.-Nr. Krippe 48 311 312 N in a G o c k erell Ö Z V LV I/105 w eiblichen E ndung des N am ens m ännlichen M enschengesicht aus, das im G egensatz zum Succarath auch M enschenohren aufw eist sow ie drei R eihen von Zähnen. D er Schw anz ähnelt dem jenigen eines Skorpions und ist m it Stacheln gespickt, die das Tier gezielt auf seine Jäger abschießen und sich dann nachw achsen lassen kann. D ie M anticora galt als M enschenfresser.17 M it dem Schw anz des auf dem B oden lebenden großen A m eisen bären hat der Schw anz des Succarath durchaus Ä hnlichkeit, doch kann der A m eisenbär ihn lediglich hinter sich herziehen. Sein im m er einzelnes Junges allerdings trägt er tatsächlich m eist au f dem Rücken. N ahezu keinen Schw anz hat das R iesenfaultier, doch w erden ihm annähernd m enschliche G esichtszüge nachgesagt, wie sie beim Suc carath recht deutlich hervortreten. D ie Pfoten oder Tatzen sowie der K örperbau des Succarath sind diejenigen eines R aubtiers. Das Z w erg opossum trägt seine Jungen - w ie seine unm ittelbaren Verwandten das auch tun - ebenfalls au f dem Rücken; sie ringeln ihre Schw änze um den nackten Schw anz der M utter, um sich festzuhalten (Abb. 10). A ffenm ütter tragen ihre Jungen auf dem R ücken, auch B raun- und E isbären kennen diese T ransportart für den N achw uchs. B is ins 16. Jahrhundert hinein schöpften Tierbücher einerseits aus dem W issen der A ntike und andererseits aus den Interpretationen der frühen W erke, die diese im M ittelalter zum Zw ecke der Verwendung einzelner Passagen in P redigten erfahren hatten. Die L eichtgläubig keit der B evölkerung w ar m angels eigener Erfahrungen groß, der W unsch nach Ü berprüfung des B erichteten noch kaum entw ickelt, die Vorliebe für Legenden und Fabeln beträchtlich, was den F ort schritt der N aturw issenschaften erheblich verzögerte. D azu kam , daß zw ar in den fürstlichen Tiergärten auf dem K ontinent, nicht aber beispielsw eise in England vor dem 19. Jahrhundert andere als die üblichen H aus- und W ildtiere zu sehen waren. So w ar m an lange auf B erichte und bildliche D arstellungen von geringem W ahrheitsgehalt angew iesen. G essner verbannte als erster - nahezu - alle F abeltiere aus seinem fünfbändigen W erk und schuf dam it die B asis für die m oderne Zoologie. A usgerechnet auf dem T itelblatt aber blieb ein Fabeltier. In der M itte des 16. Jahrhunderts brachten die ersten Südam eri kaforscher m anches zu ihrer Z eit als Fabelw esen em pfundene Tier 17 Zajadacz-Hastenrath, Salome: Die Manticora, ein Fabeltier aus Indien. In: Aa chener Kunstblätter 41/1971, FS für Wolfgang König, S. 173-181. 2 0 0 2 , H e ft 3 + 4 S u c c a ra th - e in F a b e ltie r in M ü n c h n e r K rip p e n 313 Abb. 10: A eneasratte aus: Prof. Dr. K. Lampert: Bildatlas des Tierreichs, Teil I Säugetiere - Beuteltiere. 1913 Schreiber-M useum, Eßlingen nach Europa. D ie lebend eingeführten E xoten w urden nach ihrem Tod häufig präpariert. Es w urden aber verm utlich auch P räparate angefer tigt, deren Teile nicht nur von einem einzigen Tier stam m ten oder deren A ussehen erheblich m anipuliert w urde, w obei dahingestellt sei, ob das aus S ensationsgier oder aus N achlässigkeit geschah. Jedenfalls kann m an sich des Eindrucks kaum erw ehren, daß das Succarath in gew isser W eise ein Vorfahr des W olpertingers ist. Es sind verm utlich allerhand Inform ationen aus dritter und vierter H and m iteinander verm engt und m anche D etails durch A ssoziation hinzugefügt worden, um das Tier, das C onrad G essner gew iß nicht aus eigener A nschau ung - vor allem nicht lebend - gekannt hat, zu k reieren.18W arum sich G essner entschlossen hat, gerade dieses ungew öhnliche Tier für die Titelvignette seines bedeutenden B uches zu verw enden, bleibt ein R ätsel. V erblüffend ist seine äußerst exakt-naturw issenschaftlich an m utende B eschreibung vom A ussehen und von den V erhaltensw eisen 18 D iese Überlegungen fassen Erkenntnisse aus Gesprächen mit Vertretern der Fachrichtung Kryptozoologie in M ünchen zusammen. 314 N in a G o c k erell Ö Z V LV I/105 des Tieres. N och aufschlußreicher ist die unterschiedliche G ew ich tung einzelner Eigenschaften bei Gessners Epigonen. Es d arf ver m utet w erden, daß B eurteilungen wie diejenige von A m boise Paré über die große M utterliebe des Tiers zu seiner A ufnahm e in den Schatz christlicher Em blem e geführt haben. D ie Frage, ob die Ver knüpfung m it der Flucht der heiligen Fam ilie, w ie sie in der Sala del Tesoro in Loreto begegnet, im 17. Jahrhundert allgem ein bekannt war, läßt sich aufgrund der bisherigen Q uellenkenntnis ebensow enig beantw orten w ie diejenige, wann und wo ein bestim m ter, uns aber nicht nam entlich bekannter M ünchner K rippenschnitzer das Tier in seiner Verw endung als Sym bol für diese B ibelszene gesehen hat. Es kann jed o ch als ziem lich sicher gelten, daß er das Tier bereits in diesem christlichen Z usam m enhang kennengelernt hat und nicht als Illustration des G essnerschen Thierbuchs oder eines anderen „ n a tu r w issenschaftlichen“ Werkes. Nina Gockerell, Succarath. A Fabulous Beast in the M unich Christmas M angers of the early 19th Century M unich mangers from the early 19th Century showing the flight to Egypt often included the carved figure o f a fabulous beast whose broad tail protected the young ones he carried on his back. The first mention of the name Succarath, with picture, can be found in Conrad G essner’s Historia Animalium o f 1551. Further descriptions can be found in natural Science works into the 18lh Century. The beast became an emblem for the flight to Egypt (as in the Sala del Tesoro in Loreto) in the Baroque era. The speculation has been that this fabulous beast was an extinct giant sloth, but it is more likely that it was an early joining together o f thepreserved specimens o f various exotic animals. Österreichische Zeitschrift flir Volkskunde Band LVI/105, Wien 2002, 315-333 Das „Petrinerkreuz“ Ein sichtbares Z eichen kirchlicher M issionierung als A usdruck gegenreform atorischer G laubensm anifestation im O stalpenraum E lfriede G rabner Noch heute kann man in einigen Kirchen des Ostalpenraumes an den Kanzelbrüstungen die sogenannten „Petrinerkreuze“, bekleidete Holzarme, die ein Kruzifix halten, erkennen. Es handelt sich dabei um M issionskreuze des 18. Jahrhunderts, die als sichtbare Kultzeichen in den Nachklängen der Gegen reformation und der Missionierung des wiederaufflammenden Geheimprotestantismus an den Kanzeln mancher ba rocker Gotteshäuser angebracht wurden. Sie sind lange Zeit Objekte der Volksfrömmigkeit im religiösen Alltagsleben ge blieben. V ielfach kann m an noch heute, wenn m an als aufm erksam er B esucher barocke K irchenräum e in unserem O stalpenraum betritt, an den B rü stungen so m ancher Kanzel einen ausgestreckten, bekleideten Arm erkennen, der in der H and ein K ruzifix hält. Es ist dies ein sichtbares Z eichen gegenreform atorischer M aßnahm en des 18. Jahrhunderts, für das, vor allem im oberen Ennstal, noch der N am e „P etrinerkreuz“ geläufig ist. D iese eigenartigen K ultzeichen stam m en fast alle aus der 2. H älfte des 18. Jahrhunderts und können als A usdruck gegenrefor m atorischer G laubensm anifestation gew ertet werden, m it denen ei gens eingesetzte M issionare durch Predigten den um diese Z eit sich stark ausbreitenden G eheim protestantism us entgegentreten sollten, um „glaubensverdächtige P ersonen“ zur R ückkehr in die katholische K irche zu bew egen. N ach solchen M issionspredigten heftete m an dann den A rm m it dem Kruzifix, der oft eine ordenshabitähnliche U m kleidung trug, an die K anzelbrüstung jen er Kirchen, in denen die von der K aiserin M aria Theresia (1740-1780) ins Leben gerufenen, großangelegten B ekehrungsaktionen, wie sie etw a auch im oberen Ennstal durchgeführt wurden, stattfanden (Abb. 1 und 2). D er N am e „P etrinerkreuz“ - die K anzelkruzifixe wurden bei den m eisten neuzeitlichen R estaurierungsarbeiten vielfach entfernt - ist 316 E lfrie d e G ra b n e r Ö Z V L V I/105 heute bei K unsthistorikern und Theologen nicht m ehr geläufig. Wohl w erden sie in - vor allem älteren - K unsttopographien und kunsthi storischen A rbeiten als „M issionskreuz“, „P redigerhand m it K ruzi fix “, „M issionsarm m it K ruzifix“, „H olzarm m it K ruzifix“ , „ P rie sterarm m it K ruzifix“, „P redigerkruzifix“ teilw eise zur Kenntnis genom m en, jed och w ird w eder ihre H erkunft noch ihre K ultgeschich te näher erklärt. D er N am e „P etrinerkreuz“ ist sow ohl in der kunst historischen wie auch in der kirchenhistorischen L iteratur unbekannt. Ich habe ihn jedoch schon früh als Studentin an der U niversität von m einem L ehrer Leopold K retzenbacher, der in Vorlesungen und E x kursionen im m er auf solche K ruzifixe m it dem Predigerarm an den K anzelbrüstungen hinw ies, vernom m en.1 S olche K anzelkruzifixe w urden auch m.W. nie w issenschaftlich erfaßt und bearbeitet.2 A uch über die sog. „P etrin er“ gibt es oft nur sehr ungenaue Erklärungen. So etw a jene, die sie als „M itglieder einer Salzburger O rdensgem einschaft“ bezeichnet, die als M issionare im oberen E nns tal eingesetzt w urden.3 Es handelt sich aber, wie nachfolgend aufge zeigt w erden soll, bei den Petrinern um keine O rdensleute, sondern um W eltpriester. D ie heute nicht m ehr verw endete B ezeichnung „P etrin er“4 läßt sich jed o ch schon aus der 1. H älfte des 18. Jahrhunderts belegen. 1726 hat der Salzburger W eltpriester M artin W eißbacher, „V icarius bey U nser L ieben Frauen W allfahrt in der A lm “ - heute M aria Alm bei Saalfelden - , ein zw eibändiges „H eiliges Petriner Jahr“ vor1 Im oberen Ennstal ist die Bezeichnung „Petrinerkreuz“ auch heute noch teilweise geläufig. Vgl. Stipperger, W.: Zeugnisse der Zeitgeschichte in den Kirchen des oberen Ennstales. In: Da schau her. Beiträge aus dem Kulturleben des Bezirkes Liezen, 14/4, 1993, S. 12. 2 So wird etwa in einer einschlägigen kunsthistorischen Arbeit über die Entw ick lung der Kanzel in der Steiermark im 18. Jahrhundert auf diese Kanzelkruzifixe überhaupt nicht eingegangen, obwohl im Bildteil auf einigen Fotos diese eindeu tig zu erkennen sind. So z.B. jene in den Pfarrkirchen von Unzmarkt, St. Nikolai in der Inneren Sölk, Assach, M ureck, Ranten, Bad Aussee oder in der Piaristenkirche in Gleisdorf. Vgl. Schweigert, Horst: Die Entwicklung der barocken Kanzel in der Steiermark. Ungedruckte Dissertation. Graz 1971, Bildband. Ders.: Die Entwicklung der Kanzel des 18. Jahrhunderts in der Steiermark. In: Jahrbuch des kunsthistorischen Institutes der Universität Graz. 1973. 3 Wie Anm. 1, S. 12. 4 So etwa führt die 3. völlig neu bearbeitete Auflage des Lexikons für Theologie und Kirche. Freiburg, Basel, Rom, Wien 1999, diese Bezeichnung überhaupt nicht mehr. 2 0 0 2 , H e ft 3 + 4 D as „ P e trin e rk r e u z “ 317 Abb. 1: Kanzel in der Pfarrkirche Assach, Bez. Liezen, mit „Petrinerkreuz“, spätes 18. Jahrhundert Foto: Landesm useum Joanneum, Bild- und Tonarchiv gelegt, das er elf Jahre später „n o ch einm al zusam m engetragen und nunm ehr u n ter dem Titel einer L egend“ 1737 bei P hilipp und M artin Veith in A ugsburg und G raz in zw ei B änden in D ruck erscheinen läßt.5E r geht darin auch au f den N am en „P etrin e r“ ein, der sich „vom Hl. Petrus, dem Fürste der A postel“ herleite: D er H eil. P etrus das H a u p t d er E rtz-V atter a ller P rie ste r/ so nderbahr d erjen ig en / w elche in keinem O rdens-Stand sich b efin d en / u n d dahero 5 Weißbacher, Martin: Legend/D er Heiligen Petriner/Das ist:/Lebens=Beschreibung der Jenigen/W elche/In dem Ehrwürdigen Petriner/Oder sogenannten/W eltPriester-Stand/Von der ersten Weyhe/Bis auf die höchste Päpstliche W ürde/Hei lig gelebet/m it W under-Zeichen g e leu ch tet... Augsburg und Graz 1737. 318 E lfrie d e G ra b n e r Ö Z V L V I/105 nach seinem H eil. N am en P etrin er/ von den m ehristen a b er w eltliche P riester g enennet w e r d e n /...6 F ür ihn ist es sichere G ew ißheit, daß in den ersten Jahrhunderten, in denen es noch keine „regulierten O rdens-L euth“ gab, die C hristliche R eligion durch diese Petriner erfolgreich verbreitet w urde.7 1741 w eiß Johann Zedlers „G roßes vollständiges U niversal-Lexik on“, das bereits das Stichw ort „P etriner“ aufgenom m en hat, über diese W eltpriester zu berichten: „Petriner, w erden diejenigen G eist lichen genennet, so keine M önchs-O rden sind, gleichw ohl aber M eße lesen, und w erden gem einiglich die Pfarr- und C apellanen-Stellen bey vornehm en H erren m it ihnen besetzet. M an nennet sie auch w eltliche G eistliche.“8 Ä hnliche E rklärungen finden sich auch in verschiedenen anderen Lexika der 2. H älfte des 18. Jahrhunderts, die sich allerdings m eistens auf Z edier beziehen: „P etriner w erden die jenigen P riester genennet, w elche in keinem M önchsorden sind. Insgem ein w erden m it denselben die Pfarr- und K aplaneyen besetzt. M an nennet sie auch W eltgeistliche.“9 N och im späten 19. Jahrhundert fand die B ezeichnung Petriner A ufnahm e in die K onversations-Lexika, wobei ausdrücklich au f ihre F unktion hingew iesen wird: „clerici non canonici (Petriner) sind G eistliche, w elche nur in Hof- und H auskapellen angestellt sind.“ Sie seien „katholische W eltgeistliche, w eil der A postel Petrus als Stifter des Predigtam tes gilt“ .10 W ie sehr die B ezeichnung „P etrin er“ für W eltgeistliche vor allem im süddeutschen R aum geläufig w ar - und verm utlich auch von hier ihren A usgang nahm geht aus der N achricht von der G ründung eigener „P etriner-H äuser“ in der 1. H älfte des 18. Jahrhunderts her vor. D ort g ründete im Jahre 1717 P hilipp F ranz L indm ayr (1*29.1.1750), ein B ruder der heiligm äßigen K arm elitin A nna M aria Lindm ayr, der am G erm anicum studiert hatte und als G eneral visitator des B istum s Freising unter F ürstbischof Franz E ckher von K apfing 6 Ebd., 1. Teil, S. 515. 7 Ebd., 3. Teil, Vorrede. 8 Zedier, Johann: Großes vollständiges Universal-Lexikon, Bd. 27. Leipzig und Halle 1741; Nachdruck: Graz 1961, Sp. 1121. 9 Johann Hübners neu vermehrtes und verbessertes reales Staats=Zeitungs= und Conversations=Lexikon ... Wien 1780, S. 975. 10 M eyers Konversations-Lexikon. 4. gänzlich umgearbeitete Auflage, 12. Bd. Leipzig 1888, S. 838 und 920. 20 0 2 , H e ft 3 + 4 D as „ P e trin e rk r e u z “ 319 Abb. 2: „Petrinerkreuz“ in der Pfarrkirche von St. Jakob in Freiland, Bez. Deutschlandsberg, spätes 18. Jahrhundert Foto: E. Grabner und L iechteneck die tridentinische R eform in A ltbayern durchführte, im M arkte D orfen in O berbayern ein Priesterhaus m it einer K apelle zu E hren des hl. Petrus. Ihm folgten noch andere „P etriner-H äuser“ in M iesbach (1722), L enggries (1723) und M ünchen (1735 das A sam haus St. Johann N epom uk in der Sendlingerstraße). In diesen H äusern führten die W eltpriester nach ihrer Priesterw eihe bis zur A nstellung ein gem einsam es Leben, und fanden auch - w ie in M iesbach - fran zösische P riester w ährend der R evolution eine Z ufluchtsstätte.11 11 Heimbucher, Max: Die Orden und Kongregationen der katholischen Kirche, 2. Bd. Paderborn 1934, S. 598. Dieselbe Darstellung übernimm t auch noch die 2. Aufl. des Lexikons für Theologie und Kirche, Bd. 8, 1936, Sp. 128. 320 E lfrie d e G ra b n e r Ö Z V L V I/105 Schließlich sei hier auch noch die Erw ähnung in einem H andbuch über geistliche O rden und K ongregationen in B öhm en von 1991 genannt, das eine P etriner K ongregation erw ähnt, die 1888 in B ud weis (C eské B udëjovicé) vom W eltpriester P. M. K lem ent Vâclav Petr gegründet wurde, nach dem sie benannt ist. Von dieser B udw eiser K ongregation seien jedoch die Petriner des 18. Jahrhunderts zu un terscheiden, die dem Stuhl Petri unterstellt, wie auch die K ongrega tion der Petriner, die in B rünn zw ischen 1945 und 1950 tätig w aren.12 D ie B ezeichnung Petriner wird in steirischen B elegen öfters ver w endet. So etw a in den R echnungen des Stiftes R ein für den R einer h o f zu Graz, wo 1705 m ehrm als „arm e P etriner“ m it A lm osen be dacht w u rd en .13 U nd im R echtsstreit um den Leichnam und das Grab des italienischen O rdensm annes und Feldpredigers P. G iovanni A n tonio di L u cca14w ird anläßlich eines B egräbnisses für einen Stradener D echanten 1739 vom „beysein von 24 P etrinern“ gesprochen.15 E inen Zusam m enhang der eingangs angesprochenen K anzelkruzi fixe m it den P etrinern läßt sich nur aus den historisch belegten Fakten der gegenreform atorisehen G laubenskäm pfe und der B ekäm pfung des im frühen 18. Jahrhundert w ieder erstarkenden G eheim protestan tism us erklären. N ach dem erzw ungenen A bzug der Salzburger Em igranten unter dem Salzburger E rzbischof L eopold III., Ernst G raf Firm ian (1739— 1763), in dessen Z eit sich in m anchen G egenden der O bersteierm ark der G eheim protestantism us rasant ausbreitete, w urde dessen B e käm pfung energisch in A ngriff genom m en. Schon sein Vorgänger, E rzbischof Jakob II., G raf Liechtenstein (1 728-1738) hatte zur B ekäm pfung des G eheim protestantism us in der Steierm ark und in K ärnten 1733 aufgerufen und zur W iederher stellung des katholischen Glaubens bestim m te R ichtlinien gesetzt, nach denen in Gegenden, wo es viele geheim e A nhänger Luthers gab, 12 Jirâsko, Ludëk: Geistliche Orden und Kongregationen in den böhmischen Kronländern. Präm onstratenser-Kloster Strahov 1991, S. 96. 13 Müller, Norbert: Zur Geschichte des ehemaligen Reinerhofes in Graz. In: M agi strat Graz, Abt. f. Wohnbau und W ohnbauförderung (Hg.): Der Reinerhof. Das älteste Bauwerk in Graz. S. 124. 14 Kretzenbacher, Leopold: Rechtsstreit 1714/15 um Leichnam und Grab eines italienischen Ordensmannes und Feldpredigers in der Steiermark. In: Forschun gen zur Rechtsarchäologie und Rechtlichen Volkskunde, Bd. 14, Zürich 1992, S. 15, Anm. 8. 15 Diözesanarchiv Graz, Straden, fase. X. a 1/f. 20 0 2 , H e ft 3 + 4 D as , , P e trin e rk re u z “ 321 vorgegangen w erden sollte. A ber beim Klerus scheint die Art, wie m an die R ekatholisierung durchführen wollte, keinen großen A n klang gefunden zu haben. A uch B ischof Jakob II. dürfte nicht dafür gew esen sein, so daß in der Steierm ark in seiner Z eit m it den P rote stanten bei w eitem nicht so schroff verfahren w orden ist, wie es nach den K onferenzbeschlüssen hätte sein m üssen. Wohl w urden 1735 an einigen O rten der O bersteierm ark zum ersten M ale M issionare ange stellt, die teils dem W eltpriesterstand (Petriner) angehörten. Sie soll ten durch H ausbesuche, katechetische U nterw eisung der K inder und Jugendlichen, aber auch durch Predigten die G eheim protestanten in die katholische K irche zurückführen.16 Sein Nachfolger, E rzbischof Leopold III., baute dann diese M issionen w eiter aus und suchte 1738 bei Papst K lem ens XII. (P. M. 1730-1740) um B estätigung dieser M issionsstiftungen an, wie es 1784 eine Salzburger N achricht und vier Jahre später der „V ater der steirischen G eschichtsschreibung“ A quilinus Julius C aesar (1720-1792), Vorauer C horherr und Pfarrer von D echantskirchen und Friedberg, zu berichten wissen: „N ach dem A bzug d ieser E m igranten errichtete d er E rzb isc h o f L eo p o ld von Salzburg, um die M ischung d er R eligionen in dem E rzstifte zu verhindern, verschiedene M issionen, theils aus Petrinern, theils aus B enediktinern, F ranziskanern, K apuzinern und A ugustinern, und n u r die Jesuiten nahm er zu diesem G eschäfte nicht. Im Jahre 1738 suchte er auch ü ber die M issionsstiftungen bey dem P abste K lem ens XII. um K ohfirm azion an, w elcher sie unter den größten L obeserhöhungen m it dem dd. R om ae 12. Jan. 1739 ertheilte, daß die hiebey angestellten M issionärs n icht allein den N am en a postolischer M issionärs haben, sondern auch alle P rivilegien, Indulten und F reyheiten der apostolischen M issionärs gem essen, u nd ein je d w e d e r E rzb isch o f das D irektorium u n d P räsidium ü ber solche fü h re n sollte. “ I7 D ieses hier angesprochene B reve des Papstes K lem ens XII., das sich als A bschrift aus dem D om kapitelprotokoll von 1739 im Salzburger L andesarchiv befindet, enthält allerdings nur die B estätigung der vom 16 Klamminger, Karl: Jakob II. Em st G raf Liechtenstein (1728-1738). In: Amon, Karl (Hg.): Bischöfe von Graz-Seckau. 1218-1968. Graz, Wien, Köln 1969, S. 342 f. 17 Caesar, A. Julius: Staat- und Kirchengeschichte des Herzogthum s Steyermark. 7. Bd. Graz 1788, S. 519, § 20; von Kleinmayrn, Johann Franz Thaddäus: Nach richten vom Zustande der Gegenden und Stadt Juvavia vor, während, und nach Beherrschung der Röm er bis zur Ankunft des heiligen Ruperts und von dessen Verwandlung in das heutige Salzburg. Salzburg 1784, S. 232. 322 E lfrie d e G ra b n e r Ö Z V L V I/105 E rzbischof Leopold als Folge der P rotestantenaustreibung gegründe ten M issionsniederlassungen in Salzburg durch den P ap st.18 F ür diese S alzburger M issionsstationen w erden nun verschiedene heim ische O rdensgem einschaften als B etreuer nam haft gem acht. So etw a betreuten 1. die A ugustiner-E rem iten H allein und den D ürrn berg ubi su n t Salinarum fo sso res, 2. die K apuziner von W erfen aus die S tationen A btenau und G olling, sie w aren auch 3. für ihre eigene S tation in R adstadt zuständig, 4. betreuten die K apuziner des K lo sters in Tam sw eg den L ungau bis zu r K ärtner G renze und die gesam te S tation des L andgerichtes M oosheim (M oosham ), 5. w aren die B en ediktiner in Schw arzach für die S tationen St. Johann, W agrein, G roßarl, G astein, G oldegg und St. Veit zuständig, und 6. betreuten die F ranziskaner in H undsdorf die M issionsstationen in Taxenbach, R auris und Z ell am S ee.19 D am it w urden die G ebiete des Erzstiftes in überschaubare M issionsbereiche aufgeteilt. D ie K om petenzen der O rdensleute w urden genau um schrieben. So hatten sie U nw issende im katholischen G lauben zu unterw eisen, die Zw eifelnden zu bestär ken, aber auch die H äuser V erdächtiger zu durchsuchen und ver botene B ücher aufzuspüren sow ie A nhänger des P rotestantism us zu überführen. D ie B ezeichnung „P etrin e r“ für die w eltlichen Priester in den M issionsstationen läßt sich aus dem lateinischen Text des päpstlichen B reve allerdings nicht erschließen. In einigen O rten der O bersteierm ark hatten sich jed o ch schon früher erstm als M issionare zur B ekäm pfung des w ieder stark aufgeflam m ten G eheim protestantism us betätigt. 1752 w ird dann ein aus führlicher B ericht verfaßt, der ausdrücklich verlangt, daß an allen Orten, wo sicher oder auch nur verm utet, G eheim protestanten w oh nen, unverzüglich M issionare anzustellen seien. A uch die R egierung legte größten W ert au f die E rrichtung solcher M issionsanstalten. Folgende O rte w urden dafür auserw ählt und bestim m t: Pichl an der E nns, D o n n ersb ach und D onnersbachw ald, N iederhofen, H ohentauern, W ald, B retstein, P usterw ald, S chönberg bei N iederw ölz, K rak au d o rf, S tadl, P redlitz, O berlaßnitz, W egscheid, G roßsölk und T auplitz. 18 Salzburger Landesarchiv, Domkapitelprotokoll 1739, pag. 206-254. Für freund liche Ablichtung und Zusendung der A bschrift habe ich Herrn Dr. Hubert Schopf vom Salzburger Landesarchiv zu danken. 19 Ebd., S. 211. 2 0 0 2 , H e ft 3 + 4 D a s „ P e trin e rk re u z “ 323 U nter B ischof Leopold III., G raf Firm ian, w urde in G raz ein Priesterhaus gegründet, das den ähnlichen Zw eck erfüllen sollte, wie die erw ähnten „P etriner-H äuser“ in Bayern, die von Philipp Franz L indm ayr dort in der 1. H älfte des 18. Jahrhunderts gegründet w ur den. D ie A nregung für die G ründung ging von K aiserin M aria T he resia aus. Z w eck der G ründung des Priesterhauses w ar es, jungen Priestern nach B eendigung der theologischen Studien G elegenheit zu bieten, sich hier einige Jahre auf die praktische Seelsorge vorzube reiten und unter der A nleitung eines erfahrenen älteren Priesters ein asketisches L eben zu führen.20 N ach diesem Exkurs über die B ekäm pfung des G eheim protestan tism us und der von der katholischen K irche angew endeten M ittel, zu denen natürlich auch die von der Kanzel sicherlich oft w ortgew alti gen Predigten dieser M issionare gehörten, zurück zu jenem im B a rock des späten 18. Jahrhunderts an den K anzelbrüstungen ange brachten A rm m it dem Kruzifix, für den die - verm utlich wohl nur in V olkskreisen verw endete - B ezeichnung „P etrinerkreuz“ Verbrei tung fand. In den A rchivalien allerdings läßt sich dieser N am e für solche K anzelkruzifixe nicht verifizieren. Die B ezeichnung scheint vielm ehr ausschließlich im ostalpinen Raum, und hier besonders im steirischen Ennstal und in m anchen anderen steirischen Landesteilen, in Salzburg, K ärnten, aber auch in der historischen U ntersteierm ark21, w ohl auch in Krain, in Volkskreisen geläufig gew esen zu sein. Es handelte sich dabei also um K anzelkruzifixe in den katholischen K irchen, die als ein Z eichen der Verkündigung die P redigt m it dem H inw eis auf den K reuzestod C hristi verstärken und diesen den G läu bigen besonders eindringlich vor A ugen führen sollten. Dies ist von um so größerer B edeutung und für die E inführung solcher K anzelkru zifixe entscheidend, da an katholischen K anzeln in früheren Zeiten der G ekreuzigte nie in das ikonographische Program m integriert wurde. An den protestantischen K anzeln hingegen w urde dem K ru zifix bzw. der K reuzigungsszene m eist ein hervorragender Platz ein 20 Klam m inger (wie Anm. 16), S. 343-352. 21 In der historischen Untersteiermark scheint sich die Bezeichnung „Petriner kreuz“ ebenfalls lange gehalten zu haben. Sie wurde mir von meiner einstigen Hörerin, Frau Mag. I. Schuster, ehemals Religionslehrerin in Graz, bestätigt, die auf gemeinsamen Fahrten mit Religionslehrern in der ehemaligen U ntersteier mark von einem slowenischen Pfarrer diese Bezeichnung gehört, der ausdrück lich auf solche M issionskreuze der Prediger hingewiesen hatte. 324 E lfrie d e G ra b n e r Ö Z V L V I/105 geräum t,22 was im ausklingenden B arock dann im katholischen B e reich gleichsam einen gew issen N achahm ungseffekt bew irkte. Insge sam t hat die K anzel in der katholischen K irche ihre B edeutung erst im Zuge der G egenreform ation zusam m en m it der P redigt erhalten. So w ird im 18. Jahrhundert ebensooft wie in lutherischen K irchen das K ruzifix au f der katholischen K anzel und dem P rediger gegenüber angebracht.23 W ill m an nun die A usbildung solcher K anzelkruzifixe und ihre E ntw icklung richtig einordnen, m uß m an w esentlich w eiter zurück greifen, um die Zusam m enhänge richtig zu verstehen. D enn nicht nur am Altar, dem Ort des eucharistischen O pfergeschehens und der A ufbew ahrung des A llerheiligsten im Tabernakel hat das K ruzifix im G otteshaus einen besonders sinnvollen Platz, sondern auch dort, wo das W ort Christi, die B otschaft der Erlösung durch das K reuz ver kündet wird, näm lich an der Kanzel, dem Predigtstuhl. Schon der A postel Paulus kennzeichnet die christliche B otschaft, indem er sich von den H eilsvorstellungen der Juden und G riechen m it den W orten abgrenzt: „W ir dagegen verkündigen C hristus, als den G ekreuzigten: für Juden ein em pörendes Ärgernis, für H eiden eine T orheit.“ (1. Kor. 1, 23) D ie A postel haben, wie es M atthäus Tympius (1566-1616), Verfasser und Ü bersetzer geistlicher L iteratur im frühen 17. Jahrhun dert, in seinem Z erem onienbüchlein von 1609 ausdrückt, durch ihre P redigt „das C reuzfähnchen C hristi durch die ganze W elt getragen“ .24 Schon im 5. Jahrhundert bestand der Brauch, das K reuzzeichen wie in der Apsis über dem A ltare, so auch vor dem Lesepult (Am bo) anzubringen. D ie feierliche Verkündigung von dieser Stelle aus hieß „d as Singen vom K reuz h er“ .25 Schon gegen Ende des 4. Jahrhunderts 22 Poscharsky, Peter: Die Kanzel. Erscheinungsform im Protestantismus bis zum Ende des Barock. Gütersloh 1963, S. 162 f. (= Schriften des Instituts für Kir chenbau und kirchliche Kunst der Gegenwart 1). 23 D ers., Stichw ort „K anzel“. In: Theologische Realenzyklopädie (TRE), Bd. XVII, Berlin, New York 1988, S. 601. 24 Tympius, Matthaeus: Der Ceremonien Warumb/Das ist/Lautere und klare Ursa chen und außlegungen der fürnemsten Ceremonien/welche auß einsprechung deß H. Geistes bey dem H. Gottesdienst inn der gantzen H. Christenheit von alters her gleichförmig und einhellig gebrauchet werden ... M ünster 1609, S. 242; M. Tympius (Paulus Pytthmaetus), 1566-1616, Verfasser und Übersetzer geistlicher Literatur, w ar der fruchtbarste Autor der katholischen Reform bewegung in Westfalen im frühen 17. Jahrhundert. 25 De cruce cantare. Vgl. Herzog, J. J.: Real-Enzyklopädie für protestantische Theologie und Kirche. Hamburg, Stuttgart, Gotha 1854-1868, VIII, 59. 2 0 0 2 , H e ft 3 + 4 D a s „ P e trin e rk r e u z “ 325 w urde die P redigt von diesem „A m b o “ gehalten. Z w ischen alt- und neutestam entlicher Lesung w urde ein Psalm vom Am bo aus gesun gen, von seinen Stufen w urde das (deshalb so genannte) G raduale angestim m t.26 C hristliche M issionare haben seit alters her, und später bei der begeisterten M issionsarbeit im Z eitalter des B arock, m it dem Kreuz in der H and die C hristusbotschaft verkündet und häufig an der Stätte der ersten P redigt ein K reuz errichtet.27 So etw a zeigt eine für den österreichischen B oden seltene D arstellung von 1470 den 1450 hei liggesprochenen italienischen M inoriten und V olksprediger B ernhar din von Siena (1380-1444) in der D ekanatskirche in K öflach m it K reuz und B uch in H änden als gew altigen W ortverkünder (Abb. 3). D em onstrativ haben in nachtridentinischer Z eit auch die P rediger bei den Volksm issionen in katholischen G ebieten auf der Kanzel oft mit großer G estik das B ild des G ekreuzigten erhoben, um die Z uhörer zu Zerknirschung, Reue und Vertrauen zu bew egen. Je nach der beab sichtigten W irkung ihrer W orte pflegten m anche P rediger den Zuhö rern plötzlich das K ruzifix entgegenzuhalten oder es ihren B licken zu entziehen, es zu verhüllen oder zu verstecken. Es gab im 18. Jahrhun dert sogar K ruzifixe, an denen die A rm e C hristi bew eglich w aren und durch einen verborgenen M echanism us in Tätigkeit gesetzt w erden konnten, w enn der Prediger seinen W orten einen besonderen N ach druck verleihen w ollte. So setzte z.B. der berühm te italienische V olksprediger und W egbereiter der K reuzw egandacht Leonhard von Porto M aurizio (f 1751) die A rm e eines K ruzifixes in Bew egung, w ährend er au f der Kanzel über die bew egende Liebe C hristi sprach und ausrief: „H ebt die A ugen und seht, m it w elcher Liebe der G e kreuzigte beide A rm e vom K reuz löst und m it der R echten dich, R achsüchtiger, um arm t und m it der Linken deinen Feind, und euch beide liebevoll ans H erz drückt.“28 D er ju n g e italienische A dvokat A lphons von Liguori (1696-1787), später Priester und B ischof von S. A gata d e’ Goti, nördlich von 26 Vgl. Peter Poscharsky (wie Anm. 23), S. 599. 27 Vgl. Wagner, Georg: Volksfromme Kreuzverehrung in Westfalen von den A nfän gen bis zum Bruch der mittelalterlichen Glaubenseinheit. M ünster 1960 (= Schriften der volkskundlichen Kommission des Landschaftsverbandes Westfa len-Lippe), S. 15 f. 28 Pohlmann, Constantin: Kanzel und Ritiro. Der Volksmissionar Leonhard von Porto Maurizio. Ein Beitrag zur Predigt, Frömmigkeits- und Kulturgeschichte Italiens. Werl 1955 (= Franziskanische Forschungen, 12. H.), S. 101. 326 E lfrie d e G ra b n e r Ö Z V L V I/105 Abb. 3: Bernhardin von Siena. Öl auf Holz, D ekanatskirche Köflach, um 1470 Foto: M ichael M alina, Krems 2 0 0 2 , H e ft 3 + 4 D as „ P e trin e rk re u z “ 327 N eapel, 1839 heiliggesprochen, erlebte es, als er 1723 bei den L aza risten in N eapel die für seinen Lebensw eg entscheidenden Exercitien m itm achte, daß der P rediger von der Kanzel aus ein K reuzigungs gem älde vorzeigte, w elches B randspuren von Frauenhänden trug. Er erklärte diese als M ahnzeichen einer in schw erer Schuld verstorbenen Dam e, die ihrem noch lebenden Sündengefährten erschienen sei und ihn durch das Vorzeigen dieses B randm ales vor der H ölle gew arnt und zur B uße gerufen habe.29 A lphons hat später als Priester derartig krasse P redigtm ethoden nicht gutgeheißen. An die Volksm issionare der von ihm im Jahre 1732 gegründeten „K ongregation vom allerhei ligsten E rlö ser“ (R edem ptoristen) erließ er im Jahre 1744 eine A n w eisung zur M äßigung: „B etreffs der Funktion w ird verboten, Ver w ünschungen auszusprechen, K etten oder andere zur blutigen G eiße lung gezeigten Instrum ente zu gebrauchen, m it der Fackel sich zu brennen, und dergleichen. Das B enützen des Strickes oder des Toten kopfes kann vom Superior ein paar M al gestattet werden, sofern es m it Geist, K lugheit und B esonnenheit geschieht.“30 Ü berhaupt erwies sich A lphons - insbesondere dem R igorism us der Jansenisten31 ge genüber - als ein M ann der A usgew ogenheit und als ein Verkünder nicht so sehr der Strenge G ottes als vielm ehr der B arm herzigkeit des gekreuzigten Erlösers. In dieser R ichtung hat er auch durch die A bfassung einer volkstüm lichen K reuzw egandacht die Fröm m igkeit des Volkes im 18. Jahrhundert w eit über Italien hinaus beeinflußt.32 Als M issionsprediger wird er daher oft im schw arzen O rdensgew and m it einem K reuz, einer Schreibfeder oder einem R osenkranz in der H and bildlich dargestellt. G ew isse Zeiten, vor allem jen e der G egenreform ation und der G laubenskäm pfe, deuten darauf hin, daß drastisch barocke P redigt w eisen, zum al bei V olksm issionen der Jesuiten, gelegentlich ange 29 Dudel, E.: Anwalt Gottes und der Menschen. Bonn 1963, S. 31 f. 30 Ebd., S. 101. 31 Der Jansenism us ist eine Bewegung innerhalb des Katholizismus, die ausgehend von einer überzeitlich-theologischen Fragestellung die theologische A useinan dersetzung des 17. und 18. Jahrhunderts prägte und dabei mit anderen Bereichen in Berührung kam. Sie entzündete sich an dem Hauptwerk des Theologen Cornelius M. Jansenius d.J. ( t 1638) über Augustinus, das allerdings erst nach seinem Tod herausgegeben wurde und zu heftigen Auseinandersetzungen in der katholischen Kirche führte. Vgl. dazu: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 5, 3. völlig neu bearb. Auflage. Freiburg i.Br., Basel, Rom, Wien 1996, Sp. 739-745, 32 Wagner, Georg: Barockzeitlicher Passionskult in Westfalen. M ünster 1967, S. 93. 328 E lfrie d e G ra b n e r Ö Z V L V I/105 w andt w orden sind. Es wird deutlich, wie in der religiösen Volksun terw eisung des B arock die Predigt, die im frühen M ittelalter w enig stens in den vorliegenden N iederschriften erstaunlich trocken und affektlos ist, sichtlich erregter wird. D ie Prediger suchen je tz t nach w irksam er hom iletischer B ehandlung besonders des Leidens C hristi und der B etrachtung des Todes und arbeiten m it im m er drastischeren M itteln. Sie gestikulierten m it Totenköpfen au f der Kanzel und geißelten sich vor den Zuhörern. Bei den Volksm issionen, die bis zu 14 Tage dauern konnten, lebten die mittelalterlichen M ethoden wieder auf. Ungeheueren Zulauf hatten vor allem die südländischen Prediger, wie etwa der Jesuit P. Paolo Segneri ( t 1694), der in den Jahren 1665 bis 1692 Völksmissionen dieser Art veranstaltete, dessen M ethode selbst im 18. Jahrhundert noch lebhafte Aufnahme fand. Zu solchen szenischen K anzeldem onstrationen gehörte natürlich auch die Weihe der M issions kreuze. Daß solche von ekstatischen und affektvollen Südländern ver anstalteten P redigt-Szenarien dann auch im deutschen N orden A uf nahm e fanden, lassen sich nur aus der G efühlslage der dam aligen F röm m igkeit und den nach religiöser G este und nach A ffekt hindrän genden A usdrucksform en des B arock verstehen.33 W ie sehr in der Zeit des B arock das K ruzifix in der H and des Predigers geradezu zum Leitzeichen wurde, kann an der G estalt des K apuziner-Predigers M arkus von Aviano (C arlo D om enico C hristofori) (1 6 91-1699) abgelesen werden. D er seit 1665 als hinreißender P rediger in Venetien und als W undertäter G efeierte kam auf W unsch der katholischen Fürsten 1680 zur ersten M issionsreise über Tirol, B ayern, Linz, Schw aben, Franken bis D üsseldorf, 1681 über Turin bis vor Paris, w urde aber verhaftet und nach Flandern abgeschoben und kehrte dann durch W est- und Süddeutschland und die Schw eiz an den K aiserhof nach W ien zurück. D ort verband den K apuziner eine enge Freundschaft m it K aiser Leopold I. In seiner E igenschaft als p äpstlicher Legat und apostolischer M issionar nahm er aktiven A nteil am antitürkischen Kreuzzug, der seine H öhepunkte in der B efreiung von W ien (12.9.1683), von B uda (2.9.1686) und von B elgrad (6.9.1688) erreichte.34 Z ur Ikonographie des K apuziners M arco 33 Veit, Ludwig Andreas, Ludwig Lenhart: Kirche und Volksfrömmigkeit im Zeit alter des Barock. Freiburg i.Br. 1956, S. 91 f. 34 Vgl. Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 7, 2. Aufl. Freiburg i.Br. 1962, Sp. 10; Criscuolo, Vincenzo: S tich w o rt,,M arkus v. Aviano“. In; M arienlexikon, hg. von R. Bäumer und L. Scheffczyk, 4. Bd. St. Ottilien 1992, S. 330 f. 2 0 0 2 , H e ft 3 + 4 D as „ P e trin e rk re u z “ 329 d ’Aviano gehört die im m er w iederkehrende D arstellung, die den Prediger m it einem Kreuz in der erhobenen rechten H and zeigt. Die D arstellung geht au f eine E pisode zurück, in der erzählt wird, wie der P ater w ährend der E ntsatzschlacht um W ien 1683 m it einem Kreuz in der H and von einem H ügel aus die Soldaten anfeuerte. Dieses K reuz, das einstm als m it 16 R eliquien versehen w ar - das O riginal ist au f einem S eitenaltar des D om es von K otor (C attaro) ausgestellt, eine K opie befindet sich im K apuzinerkloster zu W ien - hatte also im L eben des Predigers M arkus von Aviano eine besondere B edeutung erlangt. E r hatte es nicht nur bei seinen Predigten in der Hand, sondern auch an jen em 12. Septem ber 1683, an dem es zur entscheidenden T ürkenschlacht um W ien kam . Zeugen und D okum ente berichten darüber in vollkom m ener Ü bereinstim m ung, w ie etw a ein italieni scher M itstreiter des Predigers: ,,11 padre M arco d ’Aviano e venuto al soccorso alia testa d ell’arm ata con C rociffisso in m ano“ (Pater M arkus ist zu H ilfe gekom m en, m it dem K ruzifix in der H and stellte er sich an die Spitze des Heeres). U nd w eiter w ird berichtet, „daß M arkus w ährend der Schlacht überall, wo die G efahr am größten war, von einem O rte zum anderen m it dem erhobenen K ruzifix geeilt, teils die christlichen Streiter segnend, teils das heiligste Zeichen der E rlösung gegen die Feinde wie zur A bw ehr ausstreckend und hiebei die W orte der heiligen K irche rufend, die sie gegen alle A nschläge des bösen Feindes als Palladium gebraucht: ,,Ecce Crucem D om ine, fu g ite p a rtes adversae“ (Sehet das Kreuz des Herrn, fliehet ihr feind lichen M ächte)35 (Abb. 4). B esonders in der Pietas A ustriaca gehörte das K reuz zu den „G ru n d festen “ und seine Verehrung w ar eine Fam ilientradition der H absburger, hatte aber vor allem auch eine politische D im ension, da m an das K reuz als Siegeszeichen im G laubenskam pf gegen die H ä resie und den H albm ond auffaßte.36 35 Ludwig, Vinzens Oskar: Marcus von Aviano. Der Retter Europas. Wien 1935. S. 91 f. Hier wird nur der erste Teil des sog. Antoniussegens verwendet, der in seiner Fortsetzung einen von der Apokalypse abhängigen Wettersegen darstellt. Er kom m t bereits erstmals in einer Tegernseer Handschrift des 11. Jahrhunderts vor. In den alten, mit kirchlichen Segensformeln angereicherten magischen Zauberbüchlein wird der Antoniussegen als Benedictio S. Antonii dem Paduaner Heiligen zugeschrieben, obwohl es sich um eine viel ältere liturgische Formel handelt. Vgl. Münsterer, H. O.: Amulettkreuze und Kreuzamulette. Regensburg 1983, S. 86 und 187. 36 Wodka, Josef: Kirche in Österreich. Wegweiser durch die Geschichte. Wien 1959, 330 E lfrie d e G ra b n e r Ö Z V L V I/105 Abb. 4: M arkus von Aviano als Prediger in der Türkenschlacht um W ien 1683 Holzschnitt von Rose Reinhold, W ien, um 1935 Das K reuz in der H and des Predigers hat also sicher zur A usbildung der K anzelkreuze beigetragen und V orbildw irkung für die erst im B arock an den katholischen K anzeln sich ausbildenden K ruzifixe gehabt. Aber, und das d arf nicht übersehen w erden, es sind diese K anzelkruzifixe, allerdings ohne Predigerarm , durchaus nicht nur auf den O stalpenraum beschränkt. W ir finden sie in gar nicht so geringer Z ahl auch in W estfalen, etw a in der ehem aligen F ranziskanerkirche zu G eseke, in der ehem aligen K apuzinerkirche zu B rakei, in der A lten Kirche zu W arstein und in der Pfarrkirche zu F ürstenberg - um nur S. 243; Coreth, Anna: Pietas Austriaca. Ursprung und Entwicklung barocker Fröm migkeit in Österreich. Wien 1959, S. 36 u. 42. 20 0 2 , H e ft 3 + 4 D a s „ P e trin e rk re u z “ 331 einige zu nennen w obei es sogar, wie im letztgenannten F ürsten berg, durch ein m it G elenken versehenes B andeisen verstellbar an der B rüstung angebracht, ^sowohl zum Volke im K irchenschiff hin wie zum P rediger und auch zum A ltare hin geschw enkt w erden kann. Sicher aber ließ sich das Volk unter w estfälischen K anzeln von einer T heatralik, w ie sie in südlichen Ländern bei den barocken Predigern beliebt war, w eniger leicht beeinflussen.37 O bw ohl auch die w estfälischen K ünstler die barocken K anzelkreu ze prachtvoll und abw echslungsreich zu gestalten wußten, fehlt doch bei all diesen - und das ist w ohl im H inblick auf die „P etrinerkreuze“ ausschlaggebend - der an der K anzelbrüstung angebrachte und her ausragende P redigerarm m it dem Kruzifix, wie w ir ihn eingangs vielfach an den B arockkanzeln des O stalpenraum es festhalten konn ten38 (Abb. 5). Solche K anzelkruzifixe sind vor allem in der Steier m ark, in Salzburg39, in K ärnten40 und teilw eise in Tirol - in Südtirol wird dafür der N am e „Ignatiusarm “ verw endet41 - , aber auch in 37 Wagner (wie Anm. 32), S. 94, dort auch Abb. 90 u. 91. 38 Ders., S. 94 mit weiteren Abb. Vgl. auch Intorp, Leonhard: W estfälische Barock predigten in volkskundlicher Sicht. M ünster 1964 (= Schriften der volkskundli chen Kommission des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe, H. 14), Abb. 3-8 (Zwillbrock, Geseke, Paderborn, M arienfeld, Hallenberg). 39 A uffallend häufig werden in den Salzburger Kunsttopographien diese als „P rie sterarm “ oder „A rm mit dem Kruzifix“ bezeichneten Petrinerkreuze genannt. Dafür lassen sich noch 28 Belege erbringen. Vgl. Österr. Kunsttopographie, Bd. X (1913), Bd. XI (1916), Bd. XX (1927), Bd. XXII (1929), Ostmärkische K unsttopographie, Bd. 28 (1940). Für die Steierm ark erw ähnt die Österr. K unsttopographie des Gerichtsbezirkes M urau nur 3 solcher „Predigerkruzifixe“ an den Brüstungen der Kanzeln in Saurau (Filialkirche M aria Dorn), Krakau ebene (Pfarrkirche hl. Ulrich), Turrach (Pfarrkirche hl. Josef). Vgl. Österr. K unsttopographie Bd. XXXV, bearb. u. hg. von I. W oisetschläger-Mayer. Wien 1964, S. 47, 82, 151. Aus Eigenerhebungen konnte ich für die Steiermark „Petrinerkreuze“ durch Bilddokumentation in folgenden Pfarrkirchen belegen: Anger, Jagerberg, Koglhof, M ureck, Osterwitz, Preding, Ranten, St. A ndrä im Sausal, St. Jakob in Freiland, St. Peter ob Judenburg. 40 Kienzl, Barbara: Die barocken Kanzeln in Kärnten. K lagenfurt 1986, S. 232, Anm. 279 (= Das Kärntner Landesarchiv 13). Aus dem beigegebenen Bildmate rial lassen sich 20 solcher Petrinerkreuze, hier als „M issionsarm e“ bezeichnet, erschließen. 41 Freundliche M itteilung von Frau Mag. I. Schuster, die den Namen „Ignatiusarm “ aus Gesprächen m it Priestern aus den Sarntaler Alpen und aus Brixen festhalten konnte. Der „Ignatiusarm “ bezieht sich auf den Gründer des Jesuitenordens, Ignatius von Loyola (1491-1556), dessen M itglieder vor allem im Barock eine rege M issions- und Predigttätigkeit entfalteten. 332 E lfrie d e G ra b n e r Ö Z V L V I/105 Abb. 5: „Petrinerkreuz“ in der Pfarrkirche von M alecnik/St. Peter bei M arburg a.d. Drau, spätes 18. Jahrhundert Foto: E. Grabner Slow enien (einschließlich der historischen U nter Steierm ark)42 noch heute zu finden, allerdings nur m ehr selten unter dem N am en „ P e tri nerkreuz“ . D iese B ezeichnung, vor allem noch im oberen Ennstal geläufig, findet sich w eder in der einschlägigen Literatur, noch w issen die heutigen kirchlichen Stellen darüber B escheid. W ir können aber eindeutig festhalten, daß es sich bei diesen sog. P etrinerkreuzen um M issionskreuze handelte, die vor allem in der 2. H älfte des 18. Jahr 42 Etwa nach eigener Bilddokumentation in: Sv. Areh/St. Heinrich am Bachern, Sv. Duh/Hl. Geist am Osterberg, Jeruzalem, M alecnik/St. Peter bei Marburg, M ari bor/M arburg a.d. Drau, Puscava/M aria in der W üste, Ormoz/Friedau, Piran, Tri Fare/Drei Pfarren bei M etlika, Sticna/Sittich. 2 0 0 2 , H e ft 3 + 4 D as „ P e trin e rk re u z “ 333 hunderts als N achklänge der G egenreform ation und der M issionie rung im R ahm en des w ieder aufflam m enden G eheim protestantism us an vielen K anzeln der barocken G otteshäuser im O stalpenraum an gebracht wurden. O bw ohl die K anzel in den katholischen Kirchen erst zusam m en m it der P redigt im Zuge der G egenreform ation B edeutung erlangte, lassen sich Vorläufer solcher ikonographischen B esonderheiten w e sentlich w eiter zurückverfolgen. Sie erhielten durch südländische, m it dem K ruzifix in der H and predigende Priester und O rdensleute, vor allem in den erregten Zeiten der G egenreform ation, Vorbild w irkung und es ist unschw er zu erkennen, wie dieser ausgestreckte A rm m it dem K ruzifix allm ählich zum R equisit des Predigers w urde und schließlich auch an der K anzel als M issionskreuz seinen Platz fand. D ie vielen, zum Teil noch erhaltenen B eispiele, vor allem in unserer steirischen H eim at, aber auch in Salzburg, K ärnten, der historischen U ntersteierm ark, in Slow enien und wohl auch in Krain, geben Z eugnis davon, auch w enn der N am e „P etrinerkreuz“ dafür nur m ehr w enigen geläufig ist. D iese M issionskreuze m it dem P redi gerarm scheinen auch früher einm al kaum kunsthistorisches Interesse erw eckt zu haben. Sie w aren vielm ehr O bjekte der V olksfröm m igkeit im religiösen A lltagsleben, was sie, unbeschadet einstiger und gegen w ärtiger „R ein igungs“-Tendenzen auch bis in die unm ittelbare G e genw art noch geblieben sind. Elfriede Grabner, The “Petrine Cross” . A Visible Sign o f M issionarizing as a M ani festation o f Counter-Reform ation Beliefs in the Eastern Alpine Region In some churches in the Eastern Alpine region one can still see the so-called “petrine crosses” on the pulpit balustrades. These are wooden arms overlain with wood that hold a crucifix, and they date from the 18th Century. These missionary crosses are visible signs o f the echoes of the Counter-Reformation, and the efforts to beat back a reawakening secret Protestant!sm; they were affixed to the pulpits o f a number of Baroque Houses of God. They remained objects of folk piety in everyday religious life for many years. Ö sterreichische Zeitschrift fü r Volkskunde Band LVI/105, Wien 2002, 335-344 Jenseitsvorstellung einer Scheintoten aus Kitzeck Franz G rieshofer In dem Beitrag wird ein kürzlich vom Österreichischen M u seum für Volkskunde in Wien erworbener Einblattdruck vor gestellt. Es handelt sich um eine Darstellung des Jenseits nach den Aussagen einer Scheintoten aus Kitzeck im Hochsausal, Steiermark, aus dem Jahr 1848. Interessant erscheint dabei die klare räumliche Differenzierung. D urch einen glücklichen Zufall gelangte das Ö sterreichische M use um für Volkskunde jü n g st in den B esitz eines Einblattdruckes, der ein B ild des Jenseits w iedergibt, wie es eine Scheintote erschaute.1 Die H erausgabe eines Sonderheftes der Ö sterreichischen Z eitschrift für V olkskunde aus A nlaß des 90. G eburtstages von Univ.-Prof. Dr. L eopold K retzenbacher bietet nun gleich auch die w illkom m ene G elegenheit, dieses B latt vorzustellen und es in den Jubiläum sstrauß der G ratulanten einzubinden. Es lassen sich näm lich in m ehrfacher H insicht B ezüge zum Jubilar herstellen. D a ist einm al vordergründig ein örtlicher Bezug: Bei dem B latt handelt es sich näm lich um die „D arstellung jen er W elt nach der A ussage einer Scheintodten in H ochsausal Pfarre M aria 7 Schm erzen in K itzegg U ntersteier geschehn im O ktober 1848“ . K itzeck liegt im Zentrum jen er Landschaft, zu deren auffälligstem K ennzeichen der sogenannte K lapotetz zählt, dem der Jubilar eine feinsinnige H uldigung zu Teil w erden ließ.2 Beim A nblick des Flugblattes, das nach dem B ericht einer Scheintoten aus K itzeck angefertigt und im „E igenthum und Verlag von B. G eiger in G raz“ herausgegeben wurde, erinnert m an sich aber auch der zahlrei chen A rbeiten L eopold K retzenbachers, in denen er den visionären Jenseitsvorstellungen in B ildkunst und legendenhafter Erzählung nachgeht.3 1 Kupferstich, 34 x 41, ÖMV Inv.-Nr. 79.115. 2 Kretzenbacher, Leopold: Windradi und Klapotetz. Ein landschaftseigenes Sinn zeichen der Heimat im untersteirischen Weinland. München 1975, 62 Seiten, 9 Abb. 336 F ran z G rie sh o fe r Ö Z V L V I/105 ,,D arstellung je n e r W elt“ D er E inblattdruck folgt einem übersichtlichen A ufbau m it klar abge grenzten Z onen, dazw ischen liegenden W egen und textlichen E rläute rungen. A uf der untersten Ebene m arkiert ein runder Lanzenzaun jenen Ort, an dem sich der M ensch nach seinem Tod w iederfindet. Innerhalb des Zaunes w ird eine tote Seele in G estalt eines liegenden m it einem H em d bekleideten M ädchens von einem Engel in Em pfang genom men, andere anthropom orph w iedergegebene Seelen w erden von E ngeln au f einem steilen Weg nach oben begleitet. N eben dieser Szene steht folgender Text: „ M ache selig, o H err! D ein Volk und segne D ein Erbe. Segne mich, o Jesu! Und gib m einer Seele die Kraft, von dem irdischen m ich abzuschälen, und zu suchen, was oben ist, wo Du, m eine Liebe und m eine Freude, sitzest zur R echten des Vaters. “ In der M itte des Weges w erden die Seelen von der H im m elskönigin und einem E ngel m it einem B uch erw artet. Von diesen beiden zw eigt der „ Weg in das Paradies “ ab. A uf ihm w erden ein unschuldiges Kind von einem Engel an der H and und eine heiligm äßige Seele von zw ei E ngeln direkt in das von einer hohen rechteckigen M auer um gebene Paradies geführt. In dem eingezäunten E m pfangsbereich erblickt m an außerdem auf der linken Seite den G ekreuzigten, von dessen Seitenw unde ein B lutstrahl auf eine K niende in schw arzem K leid niederfällt, die von einem däm onischen Engel aufgerichtet und in B eschlag genom m en wird. Eine andere schw arze Seele w ird von zw ei Teufeln abgeführt, die in jen e R ichtung deuten, die am W egesrand angeschrieben steht: ,, H ier ist der Weg zu r Hölle. “ Zw ischen dem Kreuz und der von 3 Kretzenbacher, Leopold: Versöhnung im Jenseits. Zur W iderspiegelung des Apokatastasis-Denkens in Glauben, Hochdichtung und Legende (= Sitzungs berichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, phil.-hist Klasse, Jg. 1971, H. 7). München 1971, 79 Seiten. Ders.: Legendenbilder aus dem Feuer jenseits. Zum M otiv des „L osbetens“ zwischen Kirchenlehre und erzählendem Volksglauben (= Sitzungsberichte der Österr. Akademie d. W issenschaften, phil.hist. Klasse, 370). Wien 1980, 55 Seiten, hier S. 5 -8. Ders.: Richterengel am Feuerstrom. Östliche Apokryphen und Gegenwartslegenden um Jenseitsgeleite und H öllenstrafen (= Zeitschrift für Volkskunde 59). Stuttgart 1963, S. 205-220, 2 Bildtafeln. Ders.: Die Seelenwage. Zur religiösen Idee vom Jenseitsgericht auf der Schicksalswage in Hochreligion, Bildkunst und Volksglaube (= Buchreihe des Landesmuseums für Kärnten, 4). Klagenfurt 1958, 243 Seiten, 65 Abb. 20 0 2 , H e ft 3 + 4 J e n s e itsv o rste llu n g e in e r S c h e in to te n aus K itz e ck 337 Einblattdruck mit der Darstellung des Jenseits nach der A ussage einer Scheintoten aus Kitzeck, Steiermark, im Oktober 1848 338 F ran z G rie sh o fe r Ö Z V L V I/105 C hristus abgew andten Seele ist zu lesen: „M ein B lut schreit zu m einem Vater um Rache. Wen eine verlohr(ne) Seele vorübergeht, so flie ß t das B lu t zum Zeichen, dass es frü h e r um sonst geflossen ist. “ In diesem Teil des Jenseits befindet sich auch noch der von einem Zaun um gebene „Stein von dem alles zu übersehen und zu überhören ist. “ Im Zentrum des B lattes steht der „R ichterstuhl C h risti“. A uf ihm sitzt Jesus m it ausgebreiteten Arm en, flankiert von zw ei stehenden Engeln, der eine m it dem Buch der guten Taten und der andere mit einer Lilie. D avor befinden sich w iederum zw ei Steine, au f denen die Seelen gerichtet werden: ein rechteckiger, der als „ S ch a m e i“ be zeichnet wird, und ein runder, schwarzer, für die „ verlohrenen See le n “. A u f dem rechteckigen Stein kniet eine reuige Sünderin. N eben ihr steht der E rzengel M ichael m it seiner W aage und dem flam m enden Schw ert. „W ohl dem, dem G ott seine Sünden vergeben h a t“, steht dabei zu lesen. A uf dem runden Stein steht ein Teufel m it aufgeschla genem B uch neben einer K nienden und hält ihr vor: „du hast betro g e n “. D ieser M ittelszene, die C hristus als W eltenrichter zeigt, sind zw ei w eitere Sprüche zugeordnet. D er eine lautet: „O H err! ve rw irf m ich nicht in die Finsternis, wo H eulen und Znäneknirschen (sic!) ist, bewahre m eine Seele vor dem ewigen Tode. “ U nd der andere: „ Erbarm e dich H err Jesu C hristi d er arm en Seelen, w elche im fin s te r G efängnise des F egefeuers schm achten, laß sie hinaufführen durch den h. E rzengl M ichael in das L icht der H eiligen. “ D ie hier angesprochenen Orte finden sich auf dem E inblattdruck überaus drastisch dargestellt: A uf der linken Seite ein runder gem au erter H ochofen, angefüllt m it Qualm , in dem eine an den Arm en angekettete teuflische G estalt m it riesigen K rallen eine Person m it erhobenen H änden zu ergreifen versucht. D ass es sich bei diese G estalt, die von einem Flam m ennim bus um geben ist, um Luzifer handelt, w ird auch schriftlich bestätigt: „In d er H öll ist der L ucifer an 4 K etten a ngeschm iedet“ In den Feuerofen, der sich - wie die Felsen andeuten - in der U nterw elt befindet, führt ein aus Steinqua dern gefügtes Tor. (Es) „ ist die höllische Pforte, wo die Verdamten ihren Lohn em pfangen “. D er H ölle gegenüber befinden sich das Paradies und das Fegefeuer. Das Paradies w ird von einer rechteckigen M auer m it vier Toren um schlossen. Im Schnittpunkt der durch diese Tore führenden Wege steht eine zw eitürm ige Kirche. Links neben der Kirche führt eine B rücke über einen Bach, rechts von ihr steht der B aum der Erkenntnis 20 0 2 , H e ft 3 + 4 J e n s e itsv o rste llu n g e in e r S c h e in to te n aus K itz e ck 339 m it der Schlange und darunter A dam und Eva. Vom H im m el fallen Strahlen au f das Paradies. A nschließend an „das vom H im m el er leuchtete P aradies“ befindet sich das Fegefeuer. Es weist, wie die Hölle, ebenfalls ein rundes gem auertes Steinfundam ent auf und dazu ein eisernes Gitter, hinter dem in den lodernden Flam m en die zum H im m el flehenden A rm en Seelen zu sehen sind. D arüber schw ebt auf einem Strahlenbündel der ,,H. L aurenzius“, der unschw er an seinem A ttribut, dem Feuerrost, erkennbar ist. Er zieht gerade eine A rm e Seele m it seinem A rm empor. ,,D er H. Laurenzius ko m m t“, wie zu lesen ist, ,,a lle Freitag und erlöst eine Seele aus dem Fegefeuer, die zu ihm in frü h e n Leben beten. “ D urch ein in das G itter eingelassenes Tor führt über Stufen der ,,Weg aus dem F eg efeu er“ empor. U nd tatsächlich sieht m an eine G ruppe von Engeln, wie sie eine weiß gekleidete Seele au f dem von der D ornenkrone begrenzten Weg nach oben geleiten. D ie voranschreitenden Engel blasen auf Posaunen, die anderen tragen K erzen und Rosen. Die Seele aber ruft: , , 0 wie frö h lich kann ich m it den E ngeln singen, w eil sie m ich schon zum H im m el bringen, Alleluja. “ Eine w eitere G ruppe schreitet gerade durch ein gotisches Tor, das auf eine A rt trapezförm ige B ühne führt. L aut Inschrift handelt es sich dabei um den ,, Vorhim m el“. D er spitz zulaufende Vorhimmel w ird von gerafften Vorhängen m it K ordeln eingesäum t und von einem großen, reich geschm ückten Tor m it einem ebenso gerafften Vorhang abgeschlossen. Im Tor steht der Hl. Petrus in Erw artung der Seelen, die von Engeln herangebracht werden. A uf dem Platz vor dem Tor befindet sich außerdem noch ein rechteckiger Korb m it Steinen. D arüber steht das hebräische Wort ,,A rm a g ed o n “. D urch das große Tor gelangt m an vom Vörhimmel in ein fest gefügtes, reich verziertes, m it Edelsteinen besetztes Haus, das einem Palast beziehungsw eise einer Festung gleicht. D ieses Haus, das die obere H älfte des B lattes ausfüllt, steht als M etapher für den H im m el. Es besteht aus drei Stockw erken und vier E cktürm en m it Z w iebeldä chern, au f denen strahlende Perlen sitzen. Dem E rdgeschoß ist eine B alustrade vorgelagert, die an einer Stelle unterbrochen ist, da sich hier eine K anzel befindet. Vom rechten R undbogenfenster gehen Strahlen zum Paradies aus. Im zw eiten Stockw erk sieht m an zw ischen spitzbogigen Fenstern vier engelhafte W esen m it dem K opf eines L öw en, eines Jünglings, eines A dlers und eines Stieres. A uch ohne die darüber angebrachten N am en lassen sich diese G estalten un schw er als die Sym bole der vier Evangelisten M arkus, M atthäus, 340 F ran z G rie sh o fe r Ö Z V LV I/105 Johannes und Lukas erkennen. Das dritte Stockw erk trägt den Satz aus Joh. 14,2 ,,In m eines Vaters H ause sind viele W ohnungen“. Im G iebel des H auses ist das Auge G ottes abgebildet und darunter ist zu lesen: ,,G o tt ist ein G eist und die ihn anbeten m üssen ihn Im Geiste und in d er W ahrheit (anbeten). “ (Joh. 4,24) D ieser bildlichen Darstellung des Jenseits ist zusätzlich noch die m ündliche Aussage der Scheintoten in schriftlicher Form angefügt. Sie befindet sich gemäß den Einblattdrucken im unteren Teil angesiedelt. „ K urze B eschreibung d es B ildes nach d e r A n g a b e d e r S cheintodten: D er H im el ist 4ecket, a u f je d e r E cke ist eine K ugel und fla c h e s Dach, 3 Stockw erke von G old und E delstein u nd ein Vorhimel m it Vorhäng und Q uasten, am m ittleren S tock ist ringsherum ein G ang m it einem goldenen G itter u nd ein Kanzel, beim ersten S to ck ist ein F en ster g rö ß er als die ändern, von w elchen ein Schein in das P aradies h in u n ter geht; am E ingänge beim Vorhimmel ist ein E delsteinerner Stock, a u f w elchen zu sitzen ist, d er P latz ist jener, w elcher a u f H ebräisch A rm a g ed o n gen a n t wird. Joh. Offenbar .4 C hristus sitzet in seinem R ichterstuhle um geben von dem heiligen M ich a el m it dem Schw erte in d er einen und m it d er Wage in d er ändern Hand, d er heilige Schutzengel m it dem B uche d er guten Werke und dan noch andere Engeln, dan kom t d er Scham ei a u f dem die n u r etw as w eise Seelen g erich tet werden, w eiter ist d er schw arze Stein a u f dem w erden die verlo h n ten Seelen gerichtet, je d e Seele vom F egefeuer ko m t fr ü h e r in das P aradies d ort bekom t sie eine K rone a u f den K o p f und w ird dan m it M usik und in B egleitung von E ngeln in den H im m el ein g efü h rt werden, die E ngel u n d die fro m m en Seelen halten in d er R echten eine brennende Kerzen, in der L inken einige Rosen. B ei d er H ölle ist ein schw arzes Thor m it 2 Flügel, dan ist ein eisernes G ütter a u f je d e r Seite ebenfalls m it 2 Flügel. D ie P a ra d iesth ü r ist von G old u n d d a r a u f ein silbernes K reuz die Strassen im P aradies sin d wie ein Kreuz, eine durch die L änge und eine durch die Breite, über den F luß ist eine Brücke, m itten im P aradies ist eine große Kirche m it 2 hohen Thürm, a u f d er K irchenthür ist a u f einem F lügel ein Serafin abgebildet, a u f den anderen die Schrift: H ie r kan m an die Z ierde des H im els sehen, neben d er K irche steh t d er Ä pfelbaum , m it gelben B lättern u n d rothen Ä pfeln, d er sch ö n er ist als die ändern, a u f dem B aum ist eine Schrift: D ies ist der B aum d er E rkenntnis des G uten u nd Bösen. E igenthum u. Verlag von B. G eiger in Graz. “ 4 D er in der Johannes-Apokalypse genannte Ort bezeichnet jene Stelle, an der sich die M ächte für den großen Endkam pf versammeln. 20 0 2 , H e ft 3 + 4 J e n s e itsv o rste llu n g e in e r S c h e in to te n aus K itz e ck 341 Räum e und Wege im Jenseits W iew ohl es sich beim Jenseits um einen im aginären B ereich handelt, ist die V orstellung darüber analog zur realen W elt überaus konkret. W ie die D arstellung au f dem Einblattdruck zeigt, erw eist sich das Jenseits als ein O rt m it klar ausdifferenzierten R äum en.5 In ,,je n e r W elt“ finden sich der H im m el m it einem Vorhimmel, die Hölle, das F egefeuer und das Paradies. D er H im m el erscheint auf dem Flugblatt als das Haus des Vaters m it vielen W ohnungen, als eine Burg, als ein reich m it G old und E delsteinen besetzter Palast, dessen Tor von Petrus „b ew ach t“ wird. Sein Inneres bleibt dem Auge der Scheintoten ver wehrt. Im Vorfeld des H im m els findet m an außerdem die A ufnah m estation in den H im m el und die R ichtstätte der Seelen im Jenseits verortet. Innerhalb dieser R äum e begegnet der Scheintoten eine Viel zahl an angestam m tem und zugezogenem Personal. An der Spitze der U reinw ohner steht C hristus: einm al als Richter, w esensgleich m it dem Vater, der als Person zw ar unsichtbar bleibt, dem jedoch, wie sein A uge zeigt, nichts entgeht, und der som it allgegenw ärtig ist, einm al als G ekreuzigter. Ihm zur Seite stehen der heilige Erzengel M ichael, die Schutzengel als B uchhalter der guten W erke, und dann noch andere Engel. Ihre G egenspieler sind die schw arzen, ausge stoßenen Engel, die teuflischen D äm onen m it Luzifer als Anführer. K aum vertreten sind die H eiligen. Explizit wird nur der Hl. L auren zius genannt, doch sind auch M aria m it Szepter und Petrus im H im m elstor m it B uch zu erkennen. Im Paradies findet sich noch das erste M enschenpaar A dam und Eva. Groß ist hingegen die A nzahl der Seelen, die allesam t in M ädchengestalt m it langen H aaren erscheinen. Sie sym bolisieren die A ufhebung geschlechtlicher, altersbedingter (m an sieht allerdings auch zw ei Kinder) und sozialer U nterschiede. E ntscheidend ist vielm ehr das Kriterium , ob sie ihr Sein in der G nade oder in der V erdam m nis verbringen m üssen. Die im irdischen Leben getroffene Wahl des Weges findet im Jenseits seine Fortsetzung: Er führt entw eder durch die höllische Pforte in den Feuerofen oder, wie 5 U nter dem Titel „W ir lassen uns den Himmel nicht rauben“ protestiert eine Gruppe „A postel der letzten Zeiten“ twww.etika.com~)gegen Aussagen von Papst Johannes Paul II, die er im Somm er 1999 anläßlich von Generalaudienzen tätigte, in denen er Himmel, Hölle und Fegefeuer entsprechend der theologischen Lehrmeinung nicht als Räume im Jenseits, sondern als Zustände in der Welt betrachtet f www.stjosef.af). 342 F ra n z G rie sh o fe r Ö Z V L V I/105 die Scheintote berichtet, vom F egefeuer in das Paradies, wo der Seele eine K rone aufgesetzt und sie dann m it M usik in B egleitung von E ngeln in den H im m el eingeführt w ird.6 D as M edium Flugblatt D er vorliegende, aus der M itte des 19. Jahrhunderts stam m ende E in blattdruck steht in einer langen Tradition populärer D ruckgraphik.7 N eben m eteorologischen H im m elserscheinungen, etw a H aloerschei nungen, N ahrungsw undern, B lutw undern bzw. W underregen und W underw esen finden sich, wie M ichaela Schw egler in der jüngsten Folge der „B ayerischen Schriften zur Volkskunde“ aufzeigt, auf früh neuzeitlichen Flugblättern und Flugschriften auch W underzeichenbe richte über A uferstandene und Scheintote.8D ie A uferstehung w ird als ein von G ott gew irktes W under angesehen. D ie in A nlehnung an die A uferstehung C hristi m eist drei Tage im Z ustand des Todes ver harrenden M enschen em pfangen w ährend dieser Z eit N achrichten von G ott und gew innen dabei E inblick in H im m el und Hölle, den sie an andere w eitergeben. A uch wenn es sich bei den A uferstandenen um Scheintote handeln dürfte, wird das Phänom en des Scheintodes erst im 17. Jahrhundert erkannt. Inhalt der Flugblätter ist nun nicht m ehr die B otschaft vom Jenseits, sondern das Ereignis des S cheinto des selbst. So existieren über den Fall von Frau R ichm odis aus Köln, der sich im Jahre 1357 zugetragen haben soll, m ehrere Flugblätter.9. D ie Frau erw achte näm lich aus ihrem Scheintod, als G rabschänder das Grab öffneten. In der Folge beginnt m an sich m it dem Problem des Scheintodes auseinanderzusetzten. Die A ngst, scheintot begraben zu w erden, gerät im 18./19. Jahrhundert zur H ysterie. D esw egen sucht m an nach M ethoden zur genauen B estim m ung des Todes. Eine w eitere V orsichtsm aßnahm e w ar die E rrichtung von Leichenhäusern 6 Scharfe, Martin: Zwei-Wege-Bilder. Volkstümliche Aspekte evangelischer B il derfrömmigkeit. In: Blätter für württembergische Kirchengeschichte 90 (1990), S. 123-144, Abb. 9. 7 Stellvertretend sei hier nur Brückner Wolfgang: Populäre Druckgraphik Europas. Deutschland. Vom 15. bis zum 20. Jahrhundert. München 1975, genannt. 8 Schwegler, M ichaela: „Erschreckliches W underzeichen“ oder „natürliches Phänomenon“? Frühneuzeitliche W underzeichenberichte aus der Sicht der W issen schaft (= Bayerische Schriften zur Volkskunde, Bd. 7). M ünchen 2002. 9 Ebda., S. 162 ff., Abb. 28. 2 0 0 2 , H e ft 3 + 4 J e n s e itsv o rste llu n g e in e r S c h e in to te n aus K itz e ck 343 beziehungsw eise die Propagierung eigener Rettungssärge. Inzw i schen scheint die A ngst, lebendig begraben zu werden, w eitgehend beseitigt, doch kom m en - wie aktuelle M eldungen bew eisen - derar tige Fälle im m er noch vor.10 D a die N achfrage bezüglich einer Scheintoten im Pfarram t K itzeck kein E rgebnis erbrachte, scheint bei dem Ereignis aus dem Jahr 1848 offensichtlich nicht m ehr der aktuelle A nlass, sondern ein theologi sches Interesse im Vordergund gestanden zu sein. M it der H erausgabe des F lugblattes w aren jedenfalls katechetische G ründe verbunden. D afür spricht auch der in Graz w irkende Verleger und D rucker B. Geiger, der auf religiöse D ruckw erke spezialisiert war. U berlieferungsstränge Da, wie gesagt, die näheren U m stände - w egen der K ürze der Z eit noch nicht ausreichend recherchiert w erden konnten, m uß offen blei ben, ob die „D arstellung jen er W elt“ tatsächlich auf den A ussagen einer S cheintoten basieren. U nabhängig davon eröffnet das Flugblatt aber einen aufschlußreichen E inblick in den Jenseitsglauben um die M itte des 19. Jahrhunderts. Es ist davon auszugehen, daß sich in dem B ericht der Scheintoten von K itzeck überkom m ene Jenseitsvorstel lungen w iederspiegeln. D iese Vorstellungen stam m en sow ohl aus eschatologischen Texten w ie aus der m ittelalterlichen B ilderw elt, aus L egendenerzählungen und V isonsliteratur. In diesem Zusam m enhang sei kursorisch nur au f die w ichtigen P ublikationen von Peter D inzelbacher verw iesen, au f sein W erk „V ision und V isionsliteratur im M ittelalter“ 11, in dem er den „visionären R äum en“ der Hölle, des Fegefeuers, des Paradieses und des Him m els breiten R aum w idm et oder au f seinen A rtikel über Jenseitsvisionen in der E nzyklopädie des M ärch en s.12 D ie Vorstellungen vom Jenseits und die Frage des Lebens nach dem Tod hat zu allen Zeiten die M enschen beschäftigt. A rbeiten von 10 Koch, Tankred: Lebendig begraben. Geschichte und Geschichten vom Scheintod. Leipzig 1990. - Dazu liefert auch das Internet entsprechende Berichte. 11 Dinzelbacher, Peter: Vision und Visionsliteratur im Mittelalter (= M onographien zur Geschichte des M ittelalters, Bd. 23). Stuttgart 1981. 12 Dinzelbacher, Peter: Artikel ü b e r, Jenseitsvisionen“. In: Enzyklopädie des M är chens, Bd. 7, B erlin-N ew York 1993, S. 533-546. 344 F ra n z G rie s h o fe r Ö Z V L V I/105 R aym ond A M oody oder der von L otte Ingrisch herausgegebene „R eisefü h rer ins Jenseits“ m ögen die A ktualität dieses Them as un terstreich en .13 Franz Grieshofer, Im agination o f the Hereafter by an Apparently Dead Woman This contribution describes an engraving from 1848 recently acquired by the Austrian Museum of Folk Life and Folk Art. The hereafter is described in the words of a woman from Kitzeck, Hochsausal region, Styria, who was seemingly dead. The picture is interesting for its clear spatial differentiation. 13 Ingrisch, Lotte: Reiseführer ins Jenseits, Wien 1990. Österreichische Zeitschrift fü r Volkskunde Band LVI/105, Wien 2002, 345-362 „Mit aller Hochachtung Ihre ergebene Josefa Gerharter“ E in B riefw echsel als Q uelle zur frühen Sam m lungsgeschichte des Steirischen Volkskundem useum s R osw itha O rac-Stipperger A us der A ufbauphase des 1913 gegründeten Steirischen Volkskundemuseums existiert ein aufschlussreicher Brief wechsel zwischen dem M useumsgründer und -leiter Viktor Geramb und der einfachen Störnäherin Josefa Gerharter aus Schladming. Gerharter vermittelte dem M useum zahlreiche volkskundliche Objekte, über deren H erkunft und Verwen dung sie ausführlichst in ihren Briefen berichtet. Diese Sachgeschichten sind wichtige M osaiksteine in der frühen Samm lungsdokum entation, B eispiele gediegener M undart und Zeugnisse regionaler Lebensumstände in der Zeit des Ersten Weltkrieges. M it B eschluss des Steierm ärkischen Landesausschusses vom 16. Juni 1913 w urde das Volkskundem useum im ehem aligen K apuzinerklos ter in der G razer Paulustorgasse als selbständige A bteilung des S tei erm ärkischen Landesm useum s Joanneum gegründet und V iktor G e ram b m it der L eitung der neuen Sam m lung betraut. D ieser E ntschei dung w aren bereits m ehrere Jahre intensiver volkskundlicher M u seum sarbeit vorausgegangen. Geram b, 1909 zum Sekretär des Joan neum skuratorium s ernannt, erhielt 1911, im Jubiläum sjahr des Joan neum s, den A uftrag, die volkskundlich relevanten Sam m lungsbe stände des L andesm useum s für eine Sonderausstellung zu bearbeiten, zu sichten und auch die Sam m lung zu erw eitern. Volkskundliches M aterial w ar bis dahin in der „K ulturgeschichtlichen und K unst gew erbeabteilung“ in der N eutorgasse konzentriert. D ort hatte Karl Lacher bereits seit den achtziger Jahren eine interdisziplinäre Basis für das spätere V olkskundem useum gelegt.1Vom Z eitpunkt der Ü ber siedlung in ein eigenes M useum sgebäude betrieb G eram b den Sam m lungsaufbau und die Einrichtung der A usstellungsräum e m it großer 1 Vgl. dazu Lacher, Karl: Die Hausindustrie und Volkskunst in Steiermark. In: Zeitschrift des Historischen Vereines. Graz 1906, IV. Jg., Heft 1, S. 19-32. 346 R o sw ith a O ra c -S tip p e rg e r Ö Z V L V I/105 Abb. 1: „A n oits Taia“ - Ein alter Teller. So lautet die Objektbezeichnung für Inv.-Nr. 313 im Inventar des Volkskundemuseums Energie und nach einem klar definierten Program m . Z iel w ar eine m öglichst um fassende und lebensnahe D arstellung aller Ä ußerungen des bäuerlichen Lebens entsprechend der w issenschaftlich-volks kundlichen S ichtw eise der Z eit und unter B erücksichtigung des volkskundlichen Kanons. W enn auch durch die E reignisse des Ersten W eltkrieges das M useum nicht planm äßig eröffnet w erden konnte, so wurde das inhaltliche K onzept doch zügig um gesetzt. G roße B edeu tung hatte eine system atische E rw eiterung der Sam m lung. D abei hatte G eram b ganz konkrete V orstellungen und die L iste der D eside rata w ar unerschöpflich. B esonderen W ert legte er dabei au f eine E inbindung der B evölkerung und knüpfte unzählige K ontakte zu M enschen in allen L andesteilen. E r richtete im m er w ieder A ufrufe2 zur M itarbeit an die M enschen in der Steierm ark und sah in dieser 2 So bereits in der von ihm verfassten Broschüre: Die volkskundlichen Samm lungen im neuen M useumsgebäude. Ein Führer und ein Programm. Graz 1911, S. 2-5. 20 0 2 , H e ft 3 + 4 „ M it a lle r H o c h a c h tu n g Ih re e rg e b e n e Jo se fa G e rh a rte r“ 347 V organgsw eise wohl auch einen Teil seines volksbildnerischen A uf trages. D er direkte K ontakt zur B evölkerung, intensive Feldforschung und nicht zuletzt seine ausgedehnten Sam m lungsW anderungen prägten auch seine w issenschaftliche Arbeit. Z ur A usgestaltung der M u seum sräum e, der er die aktuelle R aum geistidee des bayerischen M u seum sexperten G eorg H ager3 zu G runde legte, suchte G eram b nach K ünstlern und H andw erkern, die m it Sensibilität und H ausverstand seine K onzepte um setzen konnten. Ein glücklicher Zufall - wie G eram b schreibt - hat ihn A nfang 1914 die B ekanntschaft des jungen M alers Franz W inkler in Straßen gel bei Judendorf, in der N ähe von Graz, finden lassen. E r beschreibt ihn als einen, der im besten Sinne das ist, „w as m an zu G roßväterzei ten einen geschickten B auernm aler nannte“ .4 D ieser K ontakt sollte in m ehrerer H insicht besonders ergiebig für das ju n g e M useum werden. Franz W inkler (1887-1945) w ar gebürtiger G razer und hat sich über das von ihm erlernte M alerhandw erk hinaus zu einem vielseiti gen M aler und R estaurator w eitergebildet. Er interessierte sich für alte F arbzusam m ensetzungen ebenso wie für überlieferte M altechni ken und w ar bald in der Lage, altes bäuerliches M obiliar fachgerecht zu restaurieren oder aber auch neu geschaffene O bjekte in alter M altradition auszugestalten. D aneben beschäftigte er sich auch m it der Technik der Freskom alerei und erhielt unter anderem den A uftrag zur R estaurierung spätgotischer Fresken im G razer Dom . D er K ünst ler w ar auch bei der Innenausgestaltung zahlreicher R atsstuben, W einkeller und Schlösser beteiligt. Im Völkskundem useum w ar er m aßgeblich an der dekorativen A usgestaltung der Schauräum e und Vitrinen beteiligt. D urch H eirat m it der Schladm ingerin C ornelia (Nelli) G erharter hielt sich W inkler häufig im oberen Ennstal auf und verfügte bald über beste O rtskenntnisse in der Gegend. 3 Vgl. dazu Kundegraber, Maria: Viktor von Geramb an seine Nachfolger. Ein Beitrag zur Geschichte des Steirischen Volkskundemuseums. In: Blätter für Heimatkunde. Hg. vom Historischen Verein für Steiermark. Graz 1984, 58. Jg., Heft 1, S. 7 f. 4 Im Bericht über die Volkskundliche Abteilung. Zur Geschichte der neuen Samm lung in den Jahren 1914 und 1915. In: 103. und 104. Jahresbericht des Steier märkischen Landesmuseums Joanneum über die Jahre 1914 und 1915. Hg. vom Kuratorium. Graz 1916, S. 90. 348 R o sw ith a O ra c -S tip p e rg e r Ö Z V L V I/105 Abb. 2: D er Zirbenholzkasten mit Prophetendarstellungen, datiert 1860, wird in mehreren Briefen ausführlich beschrieben 2 0 0 2 , H e ft 3 + 4 „ M it a lle r H o c h a c h tu n g Ih re e rg e b en e Jo se fa G e rh a rte r“ 349 In der Sam m lung des V olkskundem useum s befindet sich eine Serie von rund 120 detailgetreuen A quarellen des M alers, die ländliche B aukultur und Tracht der R egion wiedergeben. W ährend die bauli chen D etails von ihm im Zustand der Jahre 1915 bis 1920 festgehalten w urden, bediente er sich bei den T rachtenzeichnungen einer M etho de, die unter anderem auch K onrad M autner anw endete. Er reprodu zierte L ichtbilder aus der Z eit ab etw a 1860 zu farbigen A quarellen. D ie F arbeindrücke dazu gew ann er durch zeitgleiche O riginalkleider, die ihm als zusätzliche Vorlagen dienten. Schließlich verm ittelte W inkler eine große A nzahl von Sam m lungsobjekten für das im A ufbau befindliche M useum . Als M aler kam er w eit in der Steierm ark herum , er kannte G eram bs Sam m lungs konzept und konnte so aus verschiedenen R egionen Sam m lungsgut beitragen. Zu einer außergewöhnlichen Gewährsperson und Vermittlerin wurde für Viktor Geramb und das Volkskundemuseum Winklers Schwiegermutter, die einfache Schladm inger Störnäherin Josefa Gerharter. Ein reger Briefw echsel aus den Jahren 1914 bis 1918 zwischen dem „geehrten Herrn D oktor“ und der einfachen Handwerkerin mit bäuerlichen W ur zeln ist voll von aufschlussreichen Einzelheiten über Herkunft und Funktion heutiger Sammlungsobjekte und ein Spiegelbild bäuerlicher Lebensweise im oberen Ennstal des frühen 20. Jahrhunderts. D ie B riefe sind in gediegener O berennstaler M undart verfasst, neben nur phonetisch zu identifizierenden W orten und alten B egriffen überrascht ein teilw eise flüssiger Stil. D er G esam teindruck w eist auf eine große L ust am Schreiben trotz einfacher H erkunft hin. In der Folge soll versucht werden, vorw iegend aus den B riefen der Josefa G erharter, w eniger aus den A ntw orten Geram bs, eine C harak teristik ihrer Person und ihren W ert für die Sam m lungsgeschichte darzulegen. F ast gleichzeitig m it den ersten K ontakten zw ischen Viktor G e ram b und Franz W inkler, zu Beginn des Jahres 1914, setzt auch die K orrespondenz zw ischen G eram b und Josefa G erharter ein. Zunächst noch au f dem U m w eg über ihre Tochter ist die Störnäherin bestrebt, K ontakt zum M useum sleiter zu bekom m en. Liebe Tochter! Sei so gut und zeige diesen großen Herrn im Museum dieses Schreiben, da ich in der Umgebung wohl bekannt bin und solche allerhand Sachen 350 R o sw ith a O ra c -S tip p e rg e r Ö Z V LV I/105 schon gesehen habe in den Häusern wo ich genäht habe. (...) Z.B. könnte mann noch solche Gattung Kästen schiken wie meiner war nur ist wieder etwas anders die Malerein, auf einen sind auch Rosen und Blumen drauf und noch geht eine Bäurin in die Stadt mit einen Korb voll Äpfel zum Verkaufen und ist auch von dießen etwas Schrift dabei die Jahreszahl 1835 noch ganz in guten Zustandf und einen weiß ich ein Zirmholzkasten sehr stark noch, sind die 4 Evangelisten drauf genialen und hab noch nie keinen solchen gesehn (,..)6 Ich möchte diesen Herren schon allerhand altertümliches einhändigen hier von Obersteier wen mans gut zahlen kann. Bitte schreibet mir dann gleich zuriik was im Museum gesagt haben daß ich mich erkundige darüber.1 N ur ein einziges M al m uss Nelli W inkler für ihre M utter verm itteln, dann w endet sich die Schladm ingerin schon ohne Scheu persönlich an den großen Volkskundler. B ereits am 11. Februar 1914 richtet Josefa G erharter ihr erstes Schreiben direkt an Geram b, stellt sich vor und bietet ihre V erm ittlerdienste an. Guter Herr Doktor! Am Anfang muß ich um Entschuldigung bitten, daß ich an Sie schreibe. Ich bin nemlich durch meine Tochter Frau Winkler zu einen Ihrigen Heft gekomen vom Johaneum wo ich sehr vieles gelesen habe was Sie in Ihren Museum haben und noch haben wollten. Ich wäre daher gern bereit weil ich oft in die Bauernhäuser kome nähen (auf die Stehß Ihnen allerhand alte Sachen einzuhändigen (altes Zeug) wen ich genau wüßte, was Sie auch noch alles kaufen oder brauchen, weil dieses Heft schon im 11 Jahr gedrukt wurde so denke ich, werden Sie alles nicht mehr brauchen was drin steht.9 (...) Ich möchte mich bemühen meinen Vater sein Arbeitsgestel 5 Es handelt sich um ein seltenes Stück, einen sogenannten „Ä pfelbrockerkasten“ , 6 7 8 9 der mit Inv.-Nr. 10.434 in die Sammlung aufgenommen wurde, später publiziert bei Viktor Theiß. Deutsche Volkskunst. Steiermark. Weimar 1940, Abb. 79 sowie im Ausstellungskatalog des Landschaftsmuseums Schloss Trautenfels, Alte Bau ernmöbel. Volkstümliche Möbel aus dem Bezirk Liezen. Trautenfels 1979, S. 40. Im Samm lungsinventar konnte durch den Hinweis im B rief der fehlende Her kunftsverm erk ergänzt werden. Der Kasten wurde erst 1935 ohne Angaben zu Erw erbungszeit und Vorbesitzer inventarisiert - daher auch die hohe Inventar nummer. Über diesen Kasten, Inv.-Nr. 1.938, wird in folgenden Briefen noch ausführlich berichtet. Undatierter Brief, vor 11. Februar 1914, der, obwohl an Nelli W inkler gerichtet, schließlich wunschgemäß im M useum landete. Stör. Es dürfte sich dabei um die Broschüre ,,D ie volkskundlichen Sammlungen im neuen M useum sgebäude“, wie Anm. 2, handeln. 20 0 2 , H e ft 3 + 4 „ M it a lle r H o c h a c h tu n g Ih re e rg e b e n e J o s e fa G e rh a rte r“ 351 Abb. 3: „N iem and soll sich seiner Stärke und W eissheit überheben, sondern demüthig sein.“ Spruch auf einer Schüssel vom vlg. Tag in Pruggern, dem G eburtsort von Josefa Gerharter noch zu erfragen als Wollenschlager mit dem er uns kümerlich unser sechs Kinder als 50jähriger Witwer durchgebracht hati0, (...) Geehrter Herr könten Sie so was brauchen? Einen Krisengeldspatel werde ich Ihnen auch schiken und noch allerhand so Kramuri, brauchen Sie auch noch einen Drifuß fü r offenen Herd? bemalte Trüherln? Und Kastln? Hofngatzl?u (■■■) Um alte Bauerngesänge müsste ich mich auch bekümern aber da müßte ich halt gar nach Graz weil Sie sonst die Weis (Melodie) nicht wüßten, daß ich’s Ihnen singat,u Hochachtungsvoll grüßt Sie Fr. Josefa Gerharter, Näherin in Schladming, Berggasse Nr. 63 10 Ob es in der Folge tatsächlich dazu gekommen ist, lässt sich nicht eindeutig feststellen. 11 Schöpfgefäß aus Kupfer, unter Inv.-Nr. 577 in die Sammlung aufgenommen. B ezeichnend ist die ambivalente Einstellung von Josefa Gerharter gegenüber den von ihr ausfindig gemachten Sachgütern. Sie wechselt zwischen großer W ert schätzung und Aussagen wie „alter K ramuri“. 12 In der Folge organisiert sie für Geramb und Viktor Zack Gewährsleute und M aterialien für Volksliedaufzeichnungen. 352 R o sw ith a O ra c -S tip p e rg e r Ö Z V LV I/105 Und in einem N achsatz erw ähnt sie: Meinen Kasten haben Sie so auch gekauft von meinen Schwiegersohn Franz Winkler in Graz. 13 Am 19. Februar folgt G eram bs erste Antw ort, die in ihren w ichtigsten Punkten hier w iedergegeben wird. In der Folge beschränken sich die O riginalzitate durchw egs auf Passagen aus den B riefen der Josefa Gerharter. (...) Sie brauchen sich durchaus nicht zu entschuldigen, dass Sie mir schreiben, ich bin Ihnen viel mehr fü r jede Auskunft sehr dankbar, da mir die Mitarbeit von Personen, die mitten in bäuerlichen Gebieten leben, besonders wertvoll ist. (...) Ich bitte Sie aber, ehe Sie etwas kaufen, mir auf einer Karte zu schreiben, was es ist, dann ganz genau wie es von den Bauern genannt wird, und was es kostet. (...) Übrigens glaube ich, wäre es am besten, wenn sie mir einmal auf einem Bogen Papier eine Liste zusammenschreiben würden, von allem, was sie bekommen könnten und was es kostet und ich würde dann im Frühjahr mit einem Herrn, der die alten Lieder aufschreibt, zu Ihnen hinaufkommen. 14 Ich danke Ihnen nochmals sehr fü r Ihre Bemühungen und bitte Sie, auch weiterhin uns zu helfen. Denn es wird eine sehr schöne und echt steirische Bauernsamm lung werden. Schon nach w enigen W ochen, am 1. M ärz 1914, folgt der nächste B rief m it w eiteren D etails und Angeboten. (...) Den Zirmkasten hab ich schon käuflich erworben und werden den selben bald schiken samt mehreren Kleinigkeiten darin dieser wird Ihnen wohl gefallen mit Evangelisten16 Jesaias, Jeremias, Daniel, Josea auch ist eine Inschrift über der Thüren hab nie keinen solchen gesehen aus wendig ein verborgener Spalt zum Schlüssel verstehen den ich anzeichnen werde. (...) Ein bemaltes Schnapsglas wo der Engel die ersten Menschen aus dem Paradies austreibt Adam und Eva, das würden Sie auch brauchen können nicht wahr? (...)]1 13 Der mit 1811 datierte Kasten der Theresia Weiglhofer, Inv.-Nr. 10.432, war ein Erbstück aus der Familie von Josefa Gerharter. Er wurde 1849, 1874 und 1913 w eiter vererbt. Cornelia Winkler, die ihn in fünfter Generation 1913 von ihrer M utter vererbt bekam, muss ihn erstaunlicherweise bald danach dem M useum verkauft haben. 14 Gemeint ist Viktor Zack. 15 In den Akten des Steirischen Volkskundemuseums unter GZ: 10/3 aus 1914 abgelegt. 16 Gem eint sind nicht die Evangelisten, sondern Propheten. 17 Inv.-Nr. 309. 20 0 2 , H e ft 3 + 4 „ M it a lle r H o c h a c h tu n g Ih re e rg e b e n e J o s e fa G e rh a rte r“ 353 Abb. 4: Zweihenkelige Schüssel mit floralem Dekor. Am 9.8.1917 um 1 K dem Volkskundemuseum verkauft W ährend sie hier das O bjekt au f H ochdeutsch beschreibt, lautet die E in trag u n g im S am m lungsinventar „G m olns S ch n o p stlasl“ , m it hochdeutscher „Ü bersetzung“ . U nter B em erkungen ist angeführt: „In dem Schnopstlasl kriagt m a bam H oagoschtngehn an Schnops d rein“ .1S V erw underlich ist, dass die im B rief erw ähnte interessante P aradiesesdarstellung au f dem in die Sam m lung au f genom m enen bem alten Schnapsglas nicht erw ähnt wird. D ort ist nur von B latt- und B lütenzierat die Rede. D er zuvor erw ähnte Z irbenholzkasten m it den P rophetendarstel lungen ist T hem a m ehrerer B riefe. B esonders inform ativ ist ein Schreiben vom 22. M ärz 1914, in dem Josefa G erharter Einzelheiten ü ber E ntstehung und Vorbesitzer, sow ie K onstruktionsdetails schildert, die selbst bei der Inventarisierung und O bjektdokum entation 18 Was sinngemäß ungefähr bedeutet: „In solchen Schnapsgläsern bekom m t man bei Besuchen oder geselligen Zusamm enkünften Schnaps serviert.“ Diese Be merkung lässt sich durch keine Briefnotiz belegen. Geramb hat offensichtlich auch mündliche Angaben im Dialekt genau festgehalten. Hier besonders ,,-tlasl“ für ,,-glasl“. 354 R o sw ith a O ra c -S tip p e rg e r Ö Z V LV I/105 nicht berücksichtigt w urden und erst im Zuge der B earbeitung des Schriftverkehres G eram b - G erharter kom plettiert w erden konnten. Wie ich Ihnen schon früher einen Brief sandte, wegen den Zirmkasten, so kann ich Ihnen mittheilen, daß ich denselben endlich jetzt aufgeben konnte auf die Bahn früher ließ mir die Besitzerin davon eine Taglöhnerin nichts wegführen weil sie im noch brauchte bevor der Tischler den Neuen nicht fertig hatte. Es hatte nemlich ein Familienvater die Idee, es war ein Bauer und Mühlbesitzer aus der Winkelmühl seinen Kindern solche eigenthümliche Kästen machen zu lassen eine Serie, er war sehr gottesfürchtig und sein Sohn Herman dem dieser Kasten gehörte fuhr nach Amerika wo er bald starb, der Kasten blieb natürlich zurück. Bitte sehen Sie inwendig nach auf der linnken Seite oben, ist ein vor stehender Valz fü r den Schlüssel den man von außen hineinlegen kann dessen Leistl mit den das Loch verschlossen ist, ist jetzt zugenagelt damits nicht verloren geht der Kasten ist durch und durch zirma, 19freilich schon etwas schadhaft von den herumwandern. Den Preis davon können wir hier nicht bestimmen, nach Ihrer großmüthigen Anschauung hoffentlich darf Niemand schaden leiden, welches Geld Sie dafür schicken, weil sonst unentberlich war. Auch habe ich von anderen Leuten noch Kleinigkeiten in den Schuwa20 vom Kasten hineingegeben fü r das Sie halt auch nach Ihrer Bewertung zahlen möchten, freilich wenn ’s gut gezahlt wird, so bekomt mann doch leichter was, weil schon nicht mehr viel vorhanden ist und immer und immer wurde aus gekauft von verschiedenen Personen (...) Einm al m ehr lässt Josefa G erharter hier ihre diplom atische Taktik erkennen, deutlich darauf hin zu weisen, m an m öge entsprechend bezahlen, dam it w eitere V erm ittlungen leichter m öglich sind. G leich zeitig überlässt sie die Preisgestaltung dem „geehrten H errn D oktor“, an dessen G roßherzigkeit sie appelliert. Aus dem selben B rief erfahren w ir auch: (...) hier in Schladming ist ein Mann, welcher schon ein Museum völlig beisamen hat und immer noch kauft. (...)2! 19 aus Zirbenholz. 20 Schublade. 21 Gemeint ist der Friseur und Privatsammler Karl Baizar. Grotesk ist die Tatsache, dass Geramb im Mai 1914 einen großen Teil der volkskundlichen Objekte der Sammlung Baizar, die als Schladminger Ortsmuseum geführt worden war, über einen Hinweis des Vereins für Heimatschutz, für das Volkskundemuseum ange kauft hat. Wie Anm. 4, S. 102. Dazu auch GZ. 29 f aus 1914. 2 0 0 2 , H e ft 3 + 4 „ M it a lle r H o c h a c h tu n g Ih re e rg e b en e Jo se fa G e rh a rte r“ 355 G erharter sieht darin eine gew isse K onkurrenz zu ihrer V erm ittler tätigkeit. L obend erw ähnt G eram b m ehrfach die G enauigkeit bei der B eschrei bung der einzelnen Stücke, so auch in seinem Schreiben vom 31.3. 1914: (...) Besonders dankbar bin ich Ihnen flir die genaue Angabe der bäuer lichen Benennungen der einzelnen Stücke. (...) Aus der R eaktion von Josefa G erharter au f einen Vorschlag von G eram b, am K arfreitag des Jahres 1914 für V olksliedaufzeichnungen nach Schladm ing zu kom m en, können w ir die typische konfessionelle S ituation in und um Schladm ing sehr deutlich erfahren. Es am üsiert fast ein wenig, dass die einfache Störnäherin den gelehrten Volks kundler in die Schranken w eist und ihn an die Sitten und B räuche ihrer H eim at erinnert, w enn sie schreibt: Geehrter Herr Dkt. Wie ich aus Ihren Schreiben entnahm wollen Sie zu Ostern hieher komen (...) daß Sie vielleicht schon am Carfreitag komen dürften, so muß ich eben berichten, daß daselm wohl beßer wäre noch nicht, weil wir hier großentheils protestantische (lutherische) sind und da haben wir den feierlichsten und heiligsten Tag vom ganzen Jahr der stille Freitag, so ist mit die Leute hier nicht viel zu machen nicht viel los, geht alles beichten am Todestag unseres Herrn, deshalb wäre mit Singen gar nichts. (...)22 N icht im m er verläuft der K ontakt zw ischen Josefa G erharter und V iktor G eram b reibungslos. B ereits nach w enigen M onaten scheint G erharter eine derartige E igendynam ik zu entw ickeln, dass sie im m er w ieder Postsendungen ungebeten an das Völkskundem useum schickt. A uf ablehnende und ungehaltene A ntw orten Geram bs hin pflegt sie entschuldigend und untertänigst zu reagieren. Schnell stim m t sie den M useum sm ann dam it w ieder m ilde, die Spannungen sind beseitigt und nach w enigen W ochen folgt m eist schon w ieder ein w eiterer B rief m it O bjektange boten. Im L au f der Jahre w erden zw ar die H inw eise auf eigenm äch tige L ieferungen von Sam m lungsstücken m erklich weniger, auch G eram b scheint nicht m ehr so streng in der A usw ahl zu sein, da er bis dahin bereits genügend B eispiele für die Q ualität der verm ittelten O bjekte bekom m en hat. D afür sorgen unterschiedliche Preis- und 22 B rief vom 2.4.1914. 356 R o sw ith a O ra c -S tip p e rg e r Ö Z V L V I/105 i Abb. 5: Fayencekrüglein mit geometrischen Ornamenten. Ebenfalls aus der „L ieferung“ Gerharters vom 9.8.1917 W ertvorstellungen für bereits ausgew ählte oder gesendete Stücke zu hartnäckigen M einungsverschiedenheiten, die sich oft über m ehrere B riefe erstrecken. A u f briefliche Z urechtw eisungen und für sie unbe friedigende A ngebote G eram bs reagiert sie m itunter sarkastisch. So zum B eispiel im Fall einer von ihr zu alt und zu w ertvoll eingeschätz ten Truhe, für die sie dem Vorbesitzer den von ihr geschätzten K auf preis von 24 K im Voraus bezahlt, von G eram b aber lediglich fünf, später acht K ronen ersetzt bekom m t. Als G eram b sie nachdrücklich vom m inderen W ert des Stückes, das sich zu diesem Z eitpunkt aber schon in G raz befindet, zu überzeugen versucht, antw ortet Josefa G erharter: (...) Ich muß frei einmal eigens nach Graz fahren und schaun ob Sies wohl zu einer Kohlentruhe haben. ('...J23 G leichzeitig verlangt sie von G eram b eine m aschinschriftliche E rklä rung, um gegenüber dem Vorbesitzer besser da zu stehen. (...) wenn Sie nicht bei der Truhe noch etliche K dazu geben, vielleicht jetzt wegen den Krieg, (bitte ich) mir das beigelegte Papier mit Schreib maschine und Ihrer Unterschrift versehene Ursache schreiben, warum Sie 23 B rief vom 28.2.1915. 20 0 2 , H e ft 3 + 4 „ M it a lle r H o c h a c h tu n g Ih re e rg e b en e Jo se fa G e rh a rte r“ 357 nicht mehr schiken als 5 K, den sonst glaubens mir die Leute gar nicht. (...)24 Im m er w ieder verblüffen V erhandlungsgeschick und A rgum entation der einfachen Frau. N icht zuletzt durch die große G eduld und das Verständnis G eram bs lösen sich m ancherlei K onflikte - m eist zu G unsten von Josefa Gerharter. D er Eindruck, den m an bei Lektüre der gesam ten K orrespondenz von G eram bs w ichtiger Schladm inger V erm ittlerin gew innt, ist stark von deren G eschäftstüchtigkeit geprägt, die zeitw eilig sehr im Vorder grund steht. T rotzdem darf m an nicht übersehen, m it w elchem enor m en E insatz sie bei der Sache ist. So schildert sie m ehrfach den T ransport von O bjekten aus entlegenen Tälern etw a dem Schladm ingtal, einem O rtsteil der heutigen G em einde R ohrm oos-U ntertal. (...) Habe soeben die 3 K von Ihnen dankend erhalten, aber thun Sie nicht schimpfen, daß ich diese Kleinigkeit unerlaubt gesandt habe, ich habs so 2 1/2 Stunden von hintersten Scliladmingthal herausgezahrt weil ich dachte, brauchen werden Sies schon können und so kann ich dann nicht wieder eigenst so weit hingehn darum, f...)25 Ihr W irkungs- und Sam m lungsbereich erstreckt sich auch auf die R am sau und das G ebiet um Pruggern, ihren G eburtsort, fast zw anzig K ilom eter östlich von Schladm ing. Die zusam m engetragenen Sam m lungsgegenstände w erden von ihr höchst persönlich zur B ahn ge bracht. Selbst so sperrige Stücke w ie die beschriebenen K leider schränke zieht sie eigenhändig auf einem H andw agen zum Bahnhof. Sie sorgt selbst für die Verpackung oder lässt spezielle Frachtkisten gegen E ntgelt anfertigen und erledigt die Frachtform alitäten. Z w ei fellos verfügt Josefa G erharter über ein ausgeprägtes O rganisations talent w enn es darum geht, Transporthilfe zu finden oder den S tati onsdiener m ittels Trinkgeld dazu zu bringen, künftige M useum s stücke bevorzugt zu befördern. H äufig erschw eren kriegsbedingte U nterbrechungen im B ahnverkehr einen planm äßigen Transport des Frachtgutes zw ischen Schladm ing und dem 200 km entfernten Graz. M it großer B estim m theit teilt die Schladm ingerin ihre O bjektvor schläge m it. So auch bei einer W iege, die sie beim B auern W eikl in der Klaus bei Schladm ing entdeckt: 24 Ebda. 25 B rief vom 5.3.1916. 358 R o sw ith a O ra c -S tip p e rg e r Ö Z V L V I/105 (...) Eine sehr sonderbare Wiege hab ich auch angefunden so eine auf ge hängte Schuttzwiege wen Sie mal Geld haben, die muß in das Museum komen solche hab ich noch nie gesehn. (...)26 Ein w eiteres O bjekt, das Josefa G erharter ebenfalls dem M useum beschaffen konnte, w urde erst durch die Recherche für diesen A ufsatz identifiziert.27 Es handelt sich um die ehem alige Tür zur Rauchküche, einem der drei durch G eram b im M useum eingebauten O riginalräu me. W ährend die R auchstube im Erdgeschoß des M useum s und die rauchfreie K achelstube im ersten Stock von einem G ehöft au f der P ack 1914 ins M useum übertragen w urden und exakt dokum entiert sind, stam m en die E inrichtungsgegenstände der R auchküche aus unterschiedlicher H erkunft. Ebenso w ie die R aum hülle von R auch stube und K achelstube nicht als Inventarstücke sondern als Einbauten anzusehen sind, w ar m an bislang der M einung, dass auch die T ürkon struktion der R auchküche als B auelem ent zu sehen sei. Ü berraschend w ar daher die Entdeckung, dass diese zw eigeteilte Tür E nnstaler P rovenienz ist und auch auf Verm ittlung von Josefa G erharter ange kauft w urde. D a sie G eram b typologisch für dieses R aum ensem ble zugesagt haben dürfte, bildete die E nnstaler Tür über m ehr als acht Jahrzehnte den Zugang zur R auchküche des M useum s m it der ange schlossenen w eststeirischen Kachelstube. In der F olge „b e ste llt“ G eram b 1916 bei Josefa G erharter die B ettausstattung für säm tliche ausgestellten B etten im M useum , so auch für seine „O bersteirische S chlafstube“, eine O bjektzusam m en stellung, die dem B esucher stark authentischen C harakter suggeriert hat, obw ohl sie aus M öbelstücken unterschiedlicher regionaler H er kunft gestaltet wurde. D ie N äherin fühlt sich sehr geehrt, dass sie die B eschaffung von L einw and für B ettzeug, die H erstellung der Strohsäcke und alle N äharbeiten übernehm en darf. Ü berhaupt erw ähnt sie m ehrfach, m it w elchem Stolz es sie erfülle, au f diese A rt am Aufbau des Volkskun dem useum s m itw irken zu dürfen. 26 U ndatierter Brief, vermutlich 1916. Das beschriebene Objekt, eine querschwin gende Hängewiege, wurde mit 10.8.1917 unter Inv.-Nr. 2161 ins Inventar aufge nommen. Die volkstümliche Bezeichnung „Schutzw iege“ leitet sich vom ober steirischen M undartausdruck „schützen“ für hin und her bewegen, schaukeln, ab. Vgl. dazu Unger, Theodor, Ferdinand Khull: Steirischer Wortschatz als Ergänzung zu Schmellers Bayerischem Wörterbuch. Graz 1903, S. 558. 27 als Inv.-Nr. 9616. 20 0 2 , H e ft 3 + 4 „ M it a lle r H o c h a c h tu n g Ih re e rg e b e n e J o s e fa G e rh a rte r“ 359 ■ sn ^^n Abb. 6: Inv.-Nr. 9616, eine doppelteilige Tür mit Hühner-Schlupfloch. 1915 durch Geramb um 25 K von Josefa Gerharter erworben (...) wen ich die Arbeit haben dürfte, würde mich freuen wen ich alles zusamen richten dürfte ganz komplet weil es sonst wohl niemand beßer weiß wie es hier bei die Bauern früher da Brauch war, weil ich haupt sächlich mein Geschäft bei die Bauern habe so hätte ich eine Freude wen ich in der Abtheilung Ihre Kochelstum2S (Schlafzimmer) zusamen richten dürfte, bin ja zufrieden was mir Herr Dkt. Gäbe fü r die Arbeit. (...)29 In einem w eiteren B rief aus dem selben Jahr schreibt sie auch: (...) Wenn Ihnen die Sachen paßt haben, hab ich eine große Freude, ich bin so närisch, daß es mich wirklich freut, wen ich bei dieser Sache auch was leisten, mitwirken darf, denn sonst bin ich freilich nur immer der Null Anderl. (...) Bei der A usführung dieses A uftrages, bei dem G eram b auf eine genaue D ifferenzierung der B estandteile nach der sozialen Stellung 28 Kachelstube. 29 B rief aus 1916 ohne nähere Datumsangabe. 360 R o sw ith a O ra c -S tip p e rg e r Ö Z V LV I/105 ihrer B esitzer W ert legt, treten bem erkensw erte M issverständnisse auf, die au f die regional unterschiedliche B ettausstattung zw ischen dem oberen E nnstal und der m ittleren Steierm ark zurück zu führen sind. In detaillierten Schilderungen in m ehreren B riefen erfahren w ir sow ohl durch G eram b als auch durch Gerharter, woraus sich in der jew eiligen R egion der Inhalt einer Liegestatt zusam m ensetzt. H inw eis au f zahlreiche über Verm ittlung von Josefa G erharter ins V olkskundem useum gekom m ene O bjekte gibt ein w eiterer B rief aus dem Jahr 1916:30 Vorläufig sende ich Ihnen nochmals eine andere Kleinigkeit einen Spahleuchter3] wie Sie vielleicht solche Gattung noch nicht haben, einen Kirschenhagl32, einen Pecherhut33 (...) ein Leinlkacherl34 zum Leinöl brennen ein Gimplnest35 zur Zucht u. einen h. Geist ob den Speisntisch herunter gehangen ist36 und einen Waßrill31 zum Milchausseihen auf der Alm u. zu Haus, ist von die Kiihschwänz gemacht (...) Die ändern Sachn wird ich jetzt wohl bald schiken können, die Bauern wollten mirs noch nicht lassen dieweil es noch kalt war, weil sie die Decken noch brauchten, das Neue ist auch alles schreklich theuer zum ersetzen, bitte schreiben Sie, ob ich die Deken waschen soll oder nicht, sie sind schmutzig. (...) D ie Schladm inger N äherin dürfte im Laufe der B ekanntschaft mit G eram b auch dessen G attin F rieda kennen gelernt haben. Etw a ab 1916 versäum t Josefa G erharter es nicht, in ihren B riefen auch im m er die „gnädige F rau“ oder die „F rau G em ahlin“ anzusprechen oder sie grüßen zu lassen. G eradezu ins Schw ärm en gerät sie in ihrem dritt letzten B rief vom 4. A pril 1918. (...) Ich möchte jetzt wohl wieder einmal gern hineinsehn in das Museum, vielleicht kom ich doch heuer auch einmal hinunter, wenn einmal Frieden wär und die Bahn billiger war, dann käme ich zu Ihnen Herr u. gnädige Frau Dk. Bauernkost kochen, zeigen Schottsupm Einbrennkoch a Muas roganö Kropfn und Weizemö Straum u. Povösnschnittn Neunhäutlnull und Vötlkropfn Schnurausbenl und a Ramkoch a Griesmuas und a Oa30 31 32 33 34 35 36 37 Ohne nähere Datierung. Inv.-Nr. 615. Inv.-Nr. 612. Inv.-Nr. 614. Inv.-Nr. 613. Inv.-Nr. 609. Inv.-Nr. 610. Inv.-Nr. 611. 20 0 2 , H e ft 3 + 4 „ M it a lle r H o c h a c h tu n g Ih re e rg e b en e Jo se fa G e rh a rte r“ 361 straum a Scheitahäuföl u. Lözetwuzl und zlöst a Brantweinsupm Heilig geist Kropfii sind nur zu die Pfingstn dabrauch und d Foamknöpfl zanHolzgehn Weinbeerkrapfl u. Hönögkropfii zan Hochzeitgehn. Aber jetzt müssen wir uns das alles nur denken,38 V ereinzelt finden sich 1918 noch A nhaltspunkte über Verm ittlung von Sam m lungsobjekten aber w esentlich w eniger detailliert und auf schlussreich als in den Jahren zuvor. Nach diesem E inblick in die N ahrungsgew ohnheiten im oberen Ennstal folgt am 9. April noch ein Schreiben, das w ieder auf m assive U nstim m igkeiten zw ischen G e ram b und G erharter über geleistete und nicht geleistete, versprochene und erhoffte Zahlungen schließen läßt und m it folgendem Satz endet: (...) Mit aller Hochachtung grüße ich Sie herzlich und bitte, über alle Irrtümer genau nachzudenken, ich will Sie nicht hintergehen. (...) Versöhnlich klingt schließlich der letzte erhaltene B rief dieser facet tenreichen K orrespondenz, vom 18. April 1918: Muß Ihnen soeben meinen verbindlichsten Dank aussprechen fü r das gesandte Geld, wo ich wieder sehr zufrieden bin und bin in der Hoffnung, daß Sie die Überzeugung haben, Sie nicht hintergangen zu haben, den daß bin ich nicht gewohnt und wäre mir sehr unlieb. (...) So hat die Schladm inger Störnäherin Josefa G erharter in nur vier Jahren dazu beigetragen, die ju n g e volkskundliche Sam m lung des Steierm ärkischen Landesm useum s Joanneum um rund einhundert bedeutende O bjekte aus dem oberen Ennstal zu bereichern, ganz im Sinne des M useum sgründers- und -leiters V iktor Geram b, der be strebt w ar „w irk lich nur steirische V olksaltertüm er“39 zu erwerben. Roswitha Orac-Stipperger, “With Highest Respect, Your Devoted Servant Josefa Gerharter” . An Epistolary Exchange as a Source for the Early History of the Collection at the Styrian Folklore M useum The Styrian Folklore M useum was founded in 1913. An instructive series o f letters from just before that date, exchanged between Viktor Geramb, the founder and director o f the Museum, and the ordinary traveling seamstress Josefa Gerharter, from 38 Diese A ufzählung gibt die Vielfalt regionaler Speisen wieder. Es handelt sich hauptsächlich um anlassgebundene Süßspeisen und Schmalzgebäcke. 39 Wie Anm. 4, S. 96. 362 R o sw ith a O ra c -S tip p e rg e r Ö Z V L V I/105 Schladming, has been preserved. Gerharter conveyed numerous objects of folkloric interest to the M useum, and provided extremely detailed descriptions in her letters as to their origin and use. These histories of material objects are not only important elements for understanding the mosaic of the early history of the collection, but also provide good examples o f dialect as well as evidence of regional life at the time. Österreichische Zeitschrift fü r Volkskunde Band LVI/105, Wien 2002, 363-373 Ein kykladisches Herodesspiel in Prosagriechisch zur Zeit der Türkenherrschaft im Archipelagus Walter P uchner Das jüngst in kritischer Edition erschienene kykladische Hero desspiel (zwischen 1650 und 1750) aus dem jesuitischen Archiv der Insel Syra bildet einen hochbarocken kaleidoskopartigen Bilderbogen eines elaborierten Weihnachtsspiels mit insgesamt acht Handlungssträngen, das als erstes Prosadrama der neugrie chischen Literatur eine wichtige Bereicherung der griechischen Barockdramatik darstellt. Neben kirchensprachlich-theologischem Duktus und volkssprachlich-dialektischen Passagen, über vierzig italienischen Bühnenanweisungen, die auf eine Auffüh rung hinweisen, finden sich eine ganze Reihe von volkskundlich interessanten Realia, so z.B. die erste namentliche Anführung der griechischen Zwölftendämonen „kalikantzari“. D em N estor der so oft propagierten, doch so schw ierig einlösbaren „E th n o lo g ia E uropaea“, m einem Lehrer und Freund L eopold K ret zenbacher m öchte ich zum besinnlichen Anlaß des 90. G eburtstags in die herbe E insam keit der Südsteierm ark ein leuchtendes Kleinod kykladischer K unst aus der Ä gäis in den G eburtstagsgeschenkkorb legen, das zw ar nicht idolhaft in die D äm m erung m enschlicher Früh kultur führt, aber das ihn sicherlich m it den A nfängen seiner eigenen F orschungstätigkeit verbindet: ein Zeugnis jesuitischer T heatertätig keit im „A rchipelagus turbatus“ 1 der Türkenzeit, das dem Volks schauspiel im m itteleuropäischen Sinne nahekom m t, Zeugnis der A npassungsfähigkeit und Intergrationsstrategie des Ordens in die jew eilig en Lokalkontexte, zugleich das einzige bisherige griechische W eihnachtsspiel, das zudem noch ein B eispiel dafür darstellt, daß der S tilbegriff des H ochbarock auch in der neugriechischen L iteratur seine B erechtigung hat2. Also ein interessantes Them a, das den Kla1 Der Ausdruck stammt von Slot, B. Z.: Archipelagus turbatus. Les Cyclades entre colonisation latine et occupation ottomane c. 1500-1718. 2 Bde. Istanbul 1982. 2 Dazu letzthin D anezis, G.: „G riechisches Literaturbarock (eine Skizze)“ [griech.], Enthymesis. Gedenkband für N. M. Panagiotakis. Heraklion 2000, S. 171-186. 364 W alter P u c h n e r Ö Z V LV I/105 potetz sich drehen läßt wie die W indm ühlen der K ykladeninseln unter des Ä olos nie erm üdenden Backen. Ü ber die gesam te Frage der T heatertätigkeit der katholischen O r den im Ä gäisraum des 17. und der ersten H älfte des 18. Jahrhunderts, auch in K onstantinopel selbst, habe ich kürzlich um fassend R echen schaft abgelegt,3 die einschlägigen A ufführungsberichte und ihre Q uellen sind zusam m engestellt - freilich ist nach gezielten A rchiv studien noch w eiteres M aterial zu erw arten4 - , und die einschlägigen D ram entexte sind in kritischen Editionen ediert5. A uf der Insel Chios w aren auch orthodoxe G eistliche an dieser S chultheateraktivität b e teiligt; hier kennen w ir sogar die N am en der D ram atiker: M ichael Vestarchis, G regorios K ontaratos und G abriel Prosopsas sow ie einige D aten aus ihrer Lebenslaufbahn6. D er erste von ihnen w ar auch als 3 Puchner, W.: Griechisches Schuldrama und religiöses Barocktheater im ägäischen Raum zur Zeit der Türkenherrschaft (1580-1750). Wien 1999 (= Österrei chische Akademie der W issenschaften, phil.-hist. Klasse, Denkschriften 277). 4 Seither sind noch weitere Daten dazugekommen: Puchner, W.: W eitere N achrich ten über Theatervorstellungen in Konstantinopel im 17. Jh. K apuziner und Jesuiten 1665/66 [griech.]. In: Thesaurismata 29 (Venedig 1999), S. 327-334; Puchner, W.: Griechische (und französische) Theateraufführungen in Konstan tinopel 1600-1900. Ergänzungen zur türkischen Theatergeschichte. In: SüdostForschungen 58 (1999) S. 41-64. 5 Puchner, W.: Herodes oder Der bethlehemitische Kindesmord. Religiöses Weih nachtsspiel eines unbekannten Dichters in Prosa aus dem Raum der Kykladen zur Zeit der Gegenreformation. Kritische Ausgabe mit Einleitung, Anmerkungen und Glossar [griech.]. Athen 1998 (Parabasis. Scientific Bulletin Departm ent of Theatre Studies University of Athens, Beiheft: Texte 1) [in der Folge, Puchner: Herodes]. Puchner, W.: Entw urf eines religiösen Dramas eines unbekannten Dichters aus Chios über den Hl. Isidoros zur Zeit der Gegenreformation. K riti sche Ausgabe mit Einleitung, Anmerkungen und Glossar [griech.]. In: Thesau rismata 28 (Venedig 1998), S. 357-431. Panagiotakis, N. M., W. Puchner: Die Tragödie des Hl. Demetrius. Religiöses Drama mit komischen Intermedien eines unbekannten Dichters, das am 29 Dezember 1723 auf Naxos aufgeführt wurde. K ritische A usgabe mit Einleitung, A nm erkungen und G lossar [griech.], Heraklion, Creta University Press 1999. M anusakas, M. I., W. Puchner: U nver öffentlichte Versdramen des religiösen Theaters des 17. Jahrhunderts. Werke der orthodoxen Kleriker von Chios Michael Vestarchis, Gregorios Kontaratos, Gab riel Prosopsas. Kritische Ausgabe mit Einleitung, Scholien und Indices [griech.], Athen, Akademie Athen 2000. 6 Zur Biographie des ersten Papadopulos, Th., W. Puchner: Neues M aterial zum chiotischen Kleriker und Dramatiker M ichael Vestarchis (f 1662) [griech.]. In: Parabasis. Scientific Bulletin Departm ent o f Theatre Studies University of Athens 3 (2000), S. 63-122. 20 0 2 , H e ft 3 + 4 E in k y k la d isc h e s H e ro d e ssp ie l in P ro sa g rie c h isc h 365 L ehrer an der Jesuitenschule des Klosters des Hl. A ntonios „ v o r der S tadt“ (exom eritis) tätig und bezog, zum indest zeitw eise das G ehalt eines M issionars von der Propaganda Fide in R om 7. Wozu sich also nochm als m it einer abgeschlossenen Sache beschäftigen? Im geistigen Radius des Ö sterreichischen Volkskundem useum s durfte ich bisher auf zw ei Phänom ene speziell aufm erksam machen: die barocken F ronleichnam sprozessionen der französischen Jesuiten m it ihren „T h eaternum m ern“ auf N axos8, und die theatroiden F est veranstaltungen der K apuziner auf Chios 1783 anläßlich des Sieges der Franzosen über die H olländer bei M aastricht9. M it der vorlie genden Studie sei das austrische Triptychon vollendet, das sowohl A ufführung w ie den D ram entext betrifft, uns w iederum in die K ykla den führt, w obei jedoch ungew iß bleibt, auf w elche Insel und zu w elchem Zeitpunkt. N ach them atischen und stilistischen K riterien sow ie dem K ontext der Spieltätigkeit des katholischen und orthodo xen Schultheaters auf den Ä gäisinseln ist der Text irgendw o zw ischen 1650 und 1750 anzusiedeln. N ach der philologischen Edition eines D ram entexts m it apparatus criticus, Scholien und G lossar sow ie einer erschöpfenden Einleitung m it A ngaben zu H andschrift, Autor, D atierung, Q uellen, Einflüssen, Inhalt, D ram aturgie, Sprache, Stilistik, Einordnung in die L iteratur geschichte usw. erfolgt gew öhnlich eine Phase erschöpfter B efriedi gung, in der sich beim Editor die Ü berzeugung festigt, daß dieses T hem a nun erledigt sei. D och die F ilter der Zeit, und m anchm al auch neu hinzugew onnene Erkenntnisse und Z usatzdaten lassen m anches aus dem A bstand in einem etwas anderen L icht erscheinen. Dies bildet die dünne B erechtigungsgrundlage für eine neuerliche B e schäftigung. Im Falle des H erodesspiels geht es aber auch um die E inordnung in Stilepochen, die für die nachbyzantinische griechische L iteratur erst allm ählich an B oden gew innen: Ich denke an den 7 Vgl. auch Puchner, W.: Griechisches Schul- und Ordenstheater der G egenrefor mation und Orthodoxie in der Ägäis (1570-1750). Ein Forschungsbericht. In: Orientalia Christiana Periodica 39 (Rom 1993), S. 511-521. 8 Puchner, W.: Barocke Fronleichnamsprozessionen auf den Kykladen im 17. Jahr hundert. In: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde LII/101, 1998, S. 391— 408. 9 Puchner, W.: Barocke Ordensfestivitäten auf Ägäisinseln zur Zeit der Türken herrschaft. In: Grieshofer, F., M. Schindler (Hg.): Netzwerk Volkskunde. Ideen und Wege. Festgabe für Klaus Beitl zum siebzigsten Geburtstag. Wien 1999, S. 605-610. 366 W alter P u c h n e r Ö Z V L V I/105 B egriff des Literaturbarock, der gerade au f dem Feld der D ram atik eine relativ ju n g e E rscheinung darstellt10. Doch zunächst die „h ard facts“ : die H andschrift m it Signatur ATIS 57y K. 1302 des Jesuitenklosters au f Syra, ein schnurgebundenes großform atiges H eft m it 18 B lättern, von denen das erste und das letzte fehlt, stark feuchtigkeitsbeschädigt, m it Löchern in den Seiten und schw eren R andbeschädigungen vor allem am A nfang und am Ende, die zu Textverlusten führen, dichtbeschrieben in gut leserlicher Schrift, m it vielen V erbesserungen, D urchstreichungen und In-K lam m er-Setzungen11 enthält ein unbetiteltes undatiertes P rosadram a eines unbekannten A utors über H erodes und C hristi G eburt; dem Stück wurde inhaltsgem äß der konventionelle Titel „H erodes oder D er bethlehem itische K inderm ord“ verliehen. Das V ielpersonenstück ist m it zahlreichen italienischen (und einigen lateinischen) B ühnenan w eisungen versehen, die w ahrscheinlich nachträglich hinzugefügt w orden sind und auf eine tatsächliche A ufführung hinw eisen, und weist auch andere Spuren von nachträglicher Ü berarbeitung auf. Das Stück gehört zu den „erw eiterten“ W eihnachtsspielen und verbindet T hem enkerne, die im M ittelalter auch als separate Vorstellungen b ek an n t sind: C h ristg eb u rt und H irtenspiel, D rei-K önigs-S piel, bethlehem itischer K inderm ord und R achel-K lage wie auch das Herodes-Spiel m it dem persönlichen D ram a der M ariam ne12. Doch fin den sich in dem konglom eratartigen dram atischen G ebilde auch noch andere Them en: die A ussendung des kleinen Johannes Prodrom os in die W üste, um zu lehren und später Christus zu taufen, w ie auch die E rscheinung des Propheten D avid an der O berw elt, um das K om m en des H eilands anzukündigen. D azu tritt noch die G egenhandlung der D äm onen und allegorischen Personifizierungen m enschlicher Laster und Übel, sow ie die zahlreichen E ngel jeglicher Größe und K atego rie, die die hochbarocke Fülle des Szenarium s noch vervollstän d ig en 13. 10 Den Begriff des Literaturbarock hat Mario Vitti für die neugriechische Literatur geschichte seit 1971 eingeführt (vgl. jetzt Vitti, M.: Storia della letteratura neogreca. Rom a 2001). 11 Genaue Beschreibung in: Puchner, W.: Dramaturgische Studien [griech.], Athen 1995, S. 101-140, bes. S. 103 f. 12 An dieser Stelle sei, im Sinne einer hommage, nur auf Leopold Schm idt’s frühe Arbeit Formprobleme deutscher Weihnachtsspiele, Emsdetten 1937 verwiesen. 13 Puchner, Herodes (wie Anm. 5), S. 135 ff. 20 0 2 , H e ft 3 + 4 E in k y k la d isc h e s H e ro d e ssp ie l in P ro sa g rie c h isc h 367 D er verlorene A nfang dürfte den Prolog des Ersten A ktes beinhaltet haben, die 1. Szene (1/1) sow ie den Beginn der Szene 2 (1/2): Dämon, Ehrgeiz, Z orn und Irrsinn tun sich zusam m en, um dem neugeborenen C hristus den G araus zu m achen; ihr W erkzeug soll H erodes sein, den D äm on und Zorn in Verkleidung als B erater Philainos und Alkim os zum K inderm ord anstiften sollen. 1/3 zeigt die Hl. D rei K önige auf ihrem W eg durch die N acht, indem sie dem Stern folgen. 1/4 erschei nen H irten m it ihren Fam ilien und K indern in der nächtlichen L and schaft: Sie sind auf der Flucht vor Herodes und erinnern sich m it R ührung an die Szene von C hristi Geburt. Das Schw ertergeklirre von H erodes’ Soldaten, die das Land durchkäm m en, reißt sie aus ihren Träum en. Zu B eginn von A kt II erscheint der Ehrgeiz, der in seinem Prolog sich in T rium phtiraden über seinen Erfolg ergeht: H erodes läßt schon den Jesusknaben suchen, w eil er vom neuen „K ö n ig “ seinen eigenen Thron gefährdet sieht. Szene 2 zeigt dann H erodes m it seinen zw ei däm onischen B eratern, die ihm die Idee eingeben, doch die H ohepriester zu fragen, wo sich C hristus befinde, dam it auch er ihn scheinbar anbeten könne. H erodes läßt sie in der folgenden Szene (II/3) zu sich bringen, doch w issen sie den O rt der G eburt des M essias nicht. So gibt H erodes nach einigem Zögern und auf das unnachgie bige D rängen seiner B erater den B efehl zum bethlehem itischen K in derm ord. D ie folgende Szene zeigt w ieder die D rei Könige, die dem Stern folgen, der nun über der H öhle in B ethlehem zum Stehen kom m t; ein E ngel berichtet ihnen, daß dies der G eburtsort des H ei lands sei. II/4 zeigt dann die heilige Fam ilie und die A nbetung der M agier aus dem Osten. - Eine neuerliche Engelerscheinung rät ihnen am B eginn des III. Aktes zur Flucht vor H erodes. Sodann folgt ein Prolog des Irrsinns, der es beklagt, daß die Drei K önige entflohen sind: Statt des neugeborenen C hristus w erden nun Tausende von K leinkindern sterben. III/l bringt Johannes den Vorläufer als K lein kind im G espräch m it einem Engel, der ihn auf seine R olle in der H eilsgeschichte vorbereitet, ihn m it einer K am elhaut in die W üste schickt und ihm prophezeit, daß er C hristus im Jordan taufen werde. In der nächtlichen L andschaft tauchen III/2 M ariam ne und der kleine A ntigonos, Frau und K ind des Herodes, auf, die um ihr Leben bangen und vor dem rasenden Tyrann geflüchtet sind, der auch sein eigenes K ind um bringen will. Sodann (III/3) entdeckt sie der gutherzige H öfling Sam uel im Finstern, der von den W ahnsinnstaten des H erodes berichtet, w ie er an dem K inderschlachten selbst aktiv teilnim m t. Die 368 W alter P u c h n e r Ö Z V LV I/105 letzte Szene (III/4) bringt den alten B alaam auf die B ühne (dessen Frau die A m m e der K önigin gew esen ist), der m it vielen E inzelheiten berichtet, wie H erodes selbst seine beiden K inder um gebracht habe, w ährend seine Frau den Flam m en zum O pfer gefallen sei. In Panik vertraut ihm M ariam ne ihren Sohn an, um ihn in zerlum pten K leidern vor dem W ahnsinn des Königs zu retten. - A kt IV. bringt im Prolog D avid, der aus der U nterw elt kom m t und die H eilige Fam ilie vor H erodes w arnt und ihr rät, nach Ä gypten zu fliehen. In IV/1 gibt ihr der Engel das Signal zum A ufbruch. Die folgenden Szenen zeigen den Kinderm ord: IV /2 Judith und A nna sind m it ihren K indern (K rispos und A riel) in der D unkelheit den Soldaten entw ischt und verstecken die K leinen in der G eburtshöhle m it dem Stall (wo sie bereits zw ei andere K inder versteckt vorfinden); IV/3 vier Soldaten (M elas, Karbo, A nthrax, A ithon) entdecken die beiden Frauen, diese aber klagen derart, als hätten sie ihre K inder schon getötet; IV /4 schon im W eg gehen hören sie jedoch die ängstlichen Stim m en in der H öhle und töten die versteckten Kinder; die Leichen werfen sie den lam entie renden Frauen in den Schoß. IV/5 verkündet der H erold den B efehl des H erodes, alle K inder unter zw ei Jahren zu töten und die Drei K önige aus dem M orgenland festzunehm en und dem K önig auszulie fern. - Im Prolog des V. Aktes spricht der Zorn, erbost über den M ißerfolg, den Jesusknaben zu töten, und w endet sich nun gegen H erodes, um ihm Zorn und K rankheit einzuhauchen, dam it er dem L eben seines eigenen Sohnes nachstelle. V/1 freut sich H erodes m it seinen falschen R atgebern über den Erfolg der Aktion, die seinen Thron nun endgültig sichert und hört nicht auf die B otschaften des H erolds über den A ufruhr und die Em pörung des Volkes. D ie Freude verkehrt sich jed o ch schnell in Verzweiflung, da in der folgenden Szene (V/2) durch w iederholte B otenberichte schlechte N achrichten eintreffen: die Drei K önige sind entflohen, der kleine Johannes der Vorläufer ist entw ischt (statt seiner w ird der H ohepriester Zacharias im Tempel erm ordet), das Volk hat sich gegen den Tyrannen erhoben (dies m eldet der Soldat Karbo, der nur als B auer verkleidet dem Volkszorn entgehen konnte). H erodes hofft, sich m it falschen S chw ü ren und billiger Schauspielerei zu retten. V/3 haucht ihm der D äm on den Haß gegen seinen eigenen Sohn ein und schlägt ihn m it Tollwut und W ahnsinn. D er König glaubt, an der antiken G igantom achie teilzunehm en, und sieht sich in eine Schlacht gegen die Pygm äen verw ickelt, die die kleinen K inder darstellen, die er geschlachtet hat. 2 0 0 2 , H e ft 3 + 4 E in k y k la d isc h e s H e ro d e ssp ie l in P ro sa g rie c h isc h 369 K arbo hat den B alaam m it dem kleinen A ntigonos entdeckt und schleppt sie vor den König: D ie W iedererkennung des K leinen als K önigssohn schützt ihn nicht vor der M ordlust des Tyrannen. Mariam ne befiehlt, den W ahnsinnigen in die Zw angsjacke zu stecken, da ihn erste K risen m it Schaum austreten, Schw eißausbruch, Ekzem en usw. überkom m en. D er A rzt M achaon diagnostiziert die Tollwut. V/4 spielt offenbar vor dem Palast: B alaam erzählt Sam uel, wie es dem w ahnsinnigen K önig letztlich doch gelungen ist, den K leinen zu enthaupten, w obei auch M ariam ne zu Tode gekom m en sei. V/5 zeigt den Tyrannen, wie er langsam zu sich kom m t und seine Schandtaten bereut, die nun w ie eine K rankheit über ihn herfallen. Inzw ischen verfault er tatsächlich bei lebendigem Leibe. V/6 kom m en unerw artet die drei M agier aus dem Osten, um das Ende des Tyrannen m itzuer leben: D ie Tollwut entstellt bereits seinen K örper und M achaon diagnostiziert sein baldiges Ende. Die „scen a ultim a“ zeigt Balaam im Threnos um die königliche Fam ilie, in K ontrafaktur dazu die kram pfartigen L am entationsausbrüche des H erodes; M achaon ver sucht, dem Sterbenden (w ahrscheinlich Gift) einzuflößen, um sein Ende zu beschleunigen. Das Stückende fehlt; doch auf den Tod von H erodes folgt w ahrscheinlich noch ein didaktischer E pilog14. A lso ein farbensatter barocker B ilderbogen m it optischer E xtraver tiertheit, dram atischer G egensätzlichkeit, einer V ielfalt von H and lungen (insgesam t acht verschiedene), einer K ontrafaktur von hohen und niedrigen H andlungsebenen, H aupt-und-Staatsaktion und H ir tenszenen, religiösen und w eltlichen Them en, die zw ischen kirchen sprachlichen und volkssprachigen Stillagen hin- und herpendeln; offene dram aturgische Strukturen, parataktische R eihung der K ern szenen, psychologische Ä nderungen und E ntschlüsse w erden wie im B arocktheater üblich durch allegorische Figuren personifiziert, rhe torische und spektakuläre Elem ente des H ochbarock wie B ibelzitate neben V olkssprichw örtern, Visionen, Träum en, W ahnsinn, F urcht und Flucht, grausam es K inderschlachten und w iderliche L eichenschän dung m it sadistischen D etails auf offener Bühne, L am entationen der M ütter, B ru talität und H ypokrisie, K rankheiten und som atische D eform ierungen, reicher Schim pfw ortgebrauch, Einzelheiten und Termini des A lltagslebens der Hirten, C hristus und die H eilige Fam i lie au f der B ühne, Engel, H ym nen, die Hl. Drei K önig m it dem Stern, 14 Die Zusamm enfassung nach Puchner, Herodes (wie Anm. 5), S. 136 f. 370 W alter P u c h n e r Ö Z V LV I/105 die P roskynese im Stall usw. Die H andlung spielt vorw iegend in der N ach t15. D ie Suche nach direkten Vorbildern ist hinfällig: Es geht um Jesuitentheater, die O rdenslehrer arbeiten direkt aus den Q uellen (M atth. 2, 1-19, M ark. 1, 408, Luk. 2, 1-20, Protoevang. Jakob 21, 1—4, 22, 1-3,23, 1, „Jüdische A rchäologie“ des Josephus Flavius). In dem S tück sind in eigentüm licher L egierung drei verschiedene S p rach sch ich ten kom biniert: eine ky k lad isch -k retisch e D ialek t schicht, eine kirchensprachliche Schicht sowie eine großteils dialekt freie Stilschicht, die dem „S tandard M odern G reek“ nahekom m t, aber trotzdem Innovationen aufw eist16. Es handelt sich um das frühe ste P rosadram a der gesam ten neugriechischen Theaterliteratur. Für eine genauere dram aturgische A nalyse ist hier nicht der O rt17, auch nicht für die A nalyse der über 40 italienischen B ühnenanw eisungen, die vom nachträglichen Eingreifen eines erfahrenen S pielorganisa tors bzw. Inspizienten in den D ram entext zeugen18. Die Verwendung der italienischen Termini „ a tto “ und „scen a“ bei den Akt- und S ze nentiteln ist in griechischen Stücken schon seit der kretischen Spät renaissance-D ram atik ü b lich 19. D ie Volksnähe dieses eindrucksvollen und spannenden B ilderbo gens bilden die Realien der H irtenkultur sowie die Schim pfw örter, m it denen die M ütter und die Soldaten einander bedenken, dies im stärksten K ontrast zur theologischen W ürde der D rei-K önigs-Szenen, den etwas süßlich rokokonahen Stallszenen der C hristgeburt, dem erhabenen Lyrism us der Stillen N acht (Josef wacht vor der Höhle), der dram atischen W ucht des Theaterbösew ichts H erodes und seines abscheulichen Endes, sowie der giftigen Schläue der D äm onensze nen. E ine ganze R eihe von W ild- und H austieren ist genannt, realia 15 16 17 18 Puchner, Herodes (wie Anm. 5), S. 137. Puchner, Dramaturgische Studien (wie Anm. 11), S. 120 ff. Puchner, Herodes (wie Anm. 5), S. 137-146. Puchner, W.: Italienische Bühnenanweisungen in griechischen Jesuitendramen auf den Ägäisinseln zur Zeit der Gegenreformation. In: Rivista di Studi Bizantini e Neoellenici, n. s. 32 (1995), S. 211-231. 19 Puchner, W.: Zur Gattungstermiologie der griechischen Dramatik vor 1800. In: Kaklamanis, St., A. M arkopulos, G. M avromatis (Hg.): Enthymesis, Gedenkband für N. M. Panagiotakis. Heraklion 2000, S. 631-639. Zum kretischen Theater und seiner Dramatik vgl. Puchner, W.: „K retisches Theater“ zwischen Renais sance und Barock (zirka 1590-1669). Forschungsbericht und Forschungsfragen. In: M aske und Kothurn 26 (1980), S. 85-120 und neuerdings Holton, D.: Literature and society in Renaissance Crete. Cambridge 1991. 20 0 2 , H e ft 3 + 4 E in k y k la d isc h e s H e ro d e ssp ie l in P ro sa g rie c h isc h 371 des H irten- und Soldatenlebens, aber auch der Volksm edizin, die vor allem der A rzt M achaon im fünften Akt vorbringt. Von besonderem volkskundlichen Interesse sind die B ezeichnungen aus dem M asken w esen („k u d u n atos“ , der G lockenbehangene, Narr, V erkleideter20, und „m u tzu n aria“ für M askierung, Sich-V erstellen21) sow ie aus der D äm onologie: drakaina, die Frau des drakos, der bekannten M är ch en fig u r des „ o g re “ aus den balkanischen M ärchen22, D rache, W olfsm ensch (lykanthropos), G eist (stichio, phantasm aj 23, gialou (die altgriechische G ello)24 und kalikantzaros, der bekannte griechi sche Z w ölftendäm on25. U nd hier beginnt die Sache auch neuerdings w ieder interessant zu w erden, denn der N am e des behenden und haarigen und in die Speisen urinierenden, dum m en und bösartigen Zw ölftendäm ons, der im G e gensatz zu anderen B rauch- und V erkleidungsetym ologien (wie „ ro g a “ und „p erp eruna“)26 im byzantinischen Schrifttum nicht nach 20 Puchner, W.: Brauchtum serscheinungen im griechischen Jahreslauf und ihre Beziehungen zum Volkstheater. Wien 1977 (= Veröffentlichungen des Österrei chischen M useums für Volkskunde 18), S. 395 mit dem einschlägigen Stichwort und Seitenverweisen. 21 Ebd., S. 397. 22 Als „dracul“ im Rumänischen. Vgl. Karlinger, F.: Rumänische Märchen außer halb Rumäniens. Kassel 1982, S. 13. Zum drakos in Auswahl Diller, I.: Vom Draken, einer dämonischen Figur im griechischen Volksmärchen. In: Vom M en schenbild im Märchen. Kassel 1982, S. 117-120, 154 ff. und Meraklis, M. G.: Drache und Drake. Zur H erkunft einer neugriechischen Märchengestalt. Ü ber einstimmungen und Abweichungen. In: M ärchenspiegel 5/2 (1994), S. 5 -8. Zur drakaina auch Meraklis, M. G.: Studien zum griechischen Märchen. Eingeleitet, übersetzt und bearbeitet von W. Puchner. Wien 1992 (= Raabser M ärchen-Reihe 9), S. 16. 23 Zur Übersicht über die neugriechische Dämonologie Puchner, W.: Groteskkörper und Verunstaltung in der Volksphantasie. Zu Formen und Funktionen som atischer Deformation. In: Innovation und Wandel. Festschrift für O. Moser. Graz 1994, S. 337-352 (mit älterer Literatur), sowie Stewart, Ch.: Demons and the Devil. Moral Im agination in Modern Greek Culture. Princeton 1991. Als nun schon älterer Beitrag sei Vlachos, Th.: Geister- und Dämonenvorstellungen im südost europäischen Raum griechischer Sprachzugehörigkeit. In: Österreichische Zeit schrift für Volkskunde XXV/74 (1971), S. 217-248 angeführt. 24 Puchner, Groteskkörper (wie Anm. 23). 25 Puchner, Brauchtum serscheinungen (wie Anm. 20), S. 121 ff. mit der gesamten weitverstreuten Literatur. 26 Puchner, W.: Beleski kum onomatologijata i etimologijata na bülgarskite i grückite nazvanija na obreda za düzd dodola/perperuna (English summary: ,,Notes on the Onomatology and the Etynology of Bulgarian and Greek Nantes 372 W alter P u c h n e r Ö Z V L V I/105 zuw eisen ist (ihm entpricht bei M ichael Psellos der babutzikarios)21, aber auch nicht in der nachbyzantinischen V olksliteratur28, ist in diesem D ram entext chronologisch zum erstenm al nachzuw eisen, was ein erhellendes L icht auf die kom plexe Etym ologie-Frage wirft, die durch eine w eit gestreute M orphologie und N am ensfülle kom pliziert w ird29. D a der A usdruck auch bei anderen B alkanvölkern und in K leinasien, in vielen Variationen allerdings, verbreitet ist, w ürde die beschränkte zeitliche Tiefendim ension in der griechischen Sprachtradition eher auf eine V erbreitung im O sm anischen R eich und auf eine türkische H erkunft verw eisen, ohne den südslaw ischen Raum , wie im Falle von vrikolakas - vurkolak von vornherein auszuschließen30. Die griechische Forschung hat bisher eine solche M öglichkeit nicht ins A uge gefaßt, obw ohl die plausible A bleitung vom „S chönkäfer“ (kalos kantharos) sachlich und sprachlich nicht recht überzeugen w ill; dies gilt auch für andere etym ologische Versuche, die im m er nur einen Teil der breit gestreuten M orphologie erfassen. Die ganze Frage m üßte einer neuen U ntersuchung auf gesam tbalkanisch breiter ange legtem N am ensm aterial zugeführt w erden; bei der M orphologie der E rscheinungsw eisen dieser Zw ölftendäm onen ist aufgrund der übli chen A m bivalenz solcher D äm onenvorstellungen ohnehin kein ein deutiges E rgebnis zu erw arten. W örter und Sachen gehen eben viel fach getrennte W ege31. 27 28 29 30 31 for the ,D odola/Perperuna‘ Rite“). In: Bülgarski Folklor IX/1 (1983), S. 59-65 und ders.: Die „Rogatsiengesellschaften“. Theriomorphe M askierung und adoleszenter U m zugsbrauch in den Kontinentalzonen des Südbalkanraums. In: Südost-Forschungen 36 (1977), S. 109-158. Kukules, Ph.: Leben und Kultur der Byzantiner [griech.], Bd. l/II. Athen 1948, S. 251. Vgl. Kazazis, I. N., T. A. Karanastasis: Auszug aus dem Lexikon des mittelgrie chischen volkssprachigen Schrifttums 1100-1660 von E. Kriaras [griech.], Bd. 1. Thessaloniki 2001. N euere M aterialzusam menstellung bei Karagiannis-M oser, E.: Hors d ’ici. Les ëtres fantastiques et la parole dans les légendes populaires grecques modernes. Athènes 2001 (unveröff. Manuskript). Vgl. dazu ausführlich Burkhart, D.: Vampirglaube und Vampirsage auf dem Balkan. In: Beiträge zur Südosteuropa-Forschung. München 1966, und in: Kul turraum Balkan. Studien zu Volkskunde und Literatur Südosteuropas. Ber lin/Hamburg 1989, S. 65-108. Ein schönes Beispiel dafür ist das Nachleben des spätrömischen Rosalienfest, das auf der Balkanhalbinsel ganz verschiedene Brauchhandlungen und M askie rungen bezeichnen kann (vgl. Puchner, W.: Zum Nachleben des Rosalienfestes auf der Balkanhalbinsel. In: Südost-Forschungen 46 (1987), S. 197-278). 20 0 2 , H e ft 3 + 4 E in k y k la d isc h e s H e ro d e ssp ie l in P ro sa g rie c h isc h 373 D er derart „ sp ä te “ N achw eis des W ortes in der griechischen Tra dition bildet einen B efund, der die künftige Zusam m enstellung der W ortm o rp h o lo g ie und ih rer V ariationen au f eine breitere, ver gleichend balkanische G rundlage zu stellen hat. - M anchm al lohnt sich der zw eite B lick auf eine schon abgeschlossene Arbeit. Das spezielle T hem a hat den Jubilar selbst schon eingehend beschäftigt32. Walter Puchner, A Cycladic Herod-Play in Greek Prose from the Time o f Turkish Rule in the Archipelago A Herod play from the time between 1650 and 1750, from the Jesuit archives on the Island of Syra in the Cyclades, has recently been published in a critical edition. It provides a kaleidoscopic set of images from the high Baroque o f an elaborate Christmas play with a total o f eight threads of action. As the first dram a in prose in New Greek literature, it Stands as a significant enrichment o f our knowledge o f Greek dram a in the Baroque epoch. The work contains churchly and theological ductus as well as passages o f folk speech and dialect. There are also more than forty stage directions in Italian, which indicate a likely performance. A whole series of items of folkloric interest may also be found, including the first mention by name of the Greek twelfth demon “kalikantzari” . 32 Kretzenbacher, L.: Kynokephale Dämonen südosteuropäischer Volksdichtung. Vergleichende Studien zu M ythen, Sagen, M askenbräuchen um Kynokephaloi, W erwölfe und südslawische Pesoglavci. München 1968, S. 129 f. Österreichische Zeitschrift fü r Volkskunde Band LVI/105, Wien 2002, 375-388 Heulen und Zähneklappern G edanken zur M im ik in der m ittelalterlichen Kunst Thomas R a ff Die frühesten Darstellungen der Hölle in der christlichen K unst zeigen vermutlich nicht (wie die späteren) spezialisierte Strafen für genau definierte schwere Sünden. Vielmehr illu strieren sie jene wenigen Textstellen der Bibel, in denen von den Zuständen in der Hölle die Rede ist. Eine der markantes ten biblischen Aussagen über die Hölle ist, dass dort „Heulen und Zähneklappern“ herrscht. Dieses sprachliche Bild wird in der byzantinischen Kunst im mer wieder expressis verbis illu striert. Der Aufsatz versucht, auch für die westliche Kunst D arstellungen des „H eulens und Zähneklapperns“ nachzu weisen, vor allem im W eltgerichts-Tympanon des Bamberger Doms (um 1230/40). Ü ber die Z ustände in der Hölle, m it denen sich der Jubilar Leopold K retzenbacher in seinen w issenschaftlichen A rbeiten im m er w ieder befasst h a t1, m acht die H eilige Schrift nur sehr w enige und zudem ziem lich allgem ein gehaltene Angaben. Für den B ereich des Alten Testam ents ist das nicht w eiter erstaunlich, denn in ihm finden sich ohnehin kaum A ndeutungen einer H öllenvorstellung2, weil diese dem 1 Arbeiten von Leopold Kretzenbacher zum Themenkomplex „H öllenstrafen“: Richterengel am Feuerstrom. Östliche Apokryphen und Gegenwartslegenden um Jenseitsgeleite und Höllenstrafen. In: Zeitschrift für Volkskunde 59 (1963), S. 205-220 (nochmals in: Kretzenbacher, L.: Geheiligtes Recht. Wien, Köln, Graz 1988, S. 42-55). - Der „H öllentrunk“ . Zur Frage der W eiterformung apo krypher A pokalypse-M otive in der spätmittelalterlichen Ikonographie und in den Legendenballaden bei Deutschen und Slawen. In: Carinthia I, 154 (1964), S. 40 -6 2 (nochmals in: Kretzenbacher, L.: Geheiligtes Recht. Wien, Köln, Graz 1988, S. 198-216). - Eschatologisches Erzählgut in Bildkunst und Dichtung. Erscheinungsformen und exemplum-Funktion eines apokryphen HöllenstrafeMotives. In: Volksüberlieferung. FS für Kurt Ranke. Göttingen 1968, S. 134150. 2 Ps 63(62),10-11; Is 14,15; 66, 14-16; 66, 24; Ez 32,18-31; Weish 17,2-20. Erst in den spätesten Büchern des AT finden sich deutlichere Spuren einer Höllen Vorstellung, so z.B. bei Daniel 12,1-3 (um 160 v. Chr. redigiert). Meist 376 T h o m as R a ff Ö Z V LV I/105 frühen Judentum offensichtlich frem d w ar3. A ber auch das N eue Testam ent4 en tw ick elte k eine eigentliche H öllenlehre, sondern spricht nur an ganz verstreuten Stellen von irgendw elchen Jenseits strafen, etw a im G leichnis vom reichen Prasser und vom arm en L azarus5, bei der A nkündigung der zw eiten W iederkunft des H errn6 oder in der A pokalypse des Johannes7. Fast im m er ist dabei von Feuer, gelegentlich auch von D unkelheit die Rede. H inzu kom m t m ehr m als - vor allem im M atthäus-E vangelium - der drohende H inweis, es w erde dort „H eulen und Z ähneklappern“ herrschen (,,ibi erit fle tu s et strid o r dentium “).s Die christliche K unst der Spätantike und des frühen M ittelalters kannte noch keine B ilder des Jüngsten G erichts und der Hölle. Wenn überhaupt, deutete sie diese Them en nur indirekt an, etw a durch die Parabel von der Scheidung der Schafe und der B öcke.9 E igentliche W eltgerichtsbilder, in denen auch die H ölle m ehr oder w eniger aus führlich behandelt wird, lassen sich erst etw a seit dem 9. Jahrhundert fassen. E ine G ruppe von byzantinischen oder stark byzantinisch b eeinflussten W eltgerichtsdarstellungen system atisiert dabei die ver schiedenen A bteilungen der H ölle ganz exakt und verm eidet durch die geom etrische A nordnung das norm alerw eise als besonders ty pisch für diesen Strafort angesehene Chaos. ,,H eulen und Z ähneklappern“ in der byzantinischen K unst Das w ohl früheste B eispiele ist eine E lfenbeintafel aus dem 10. Jahr hundert im Victoria & A lbert M useum L ondon10. Die verschiedenen 3 4 5 6 7 8 9 10 aber stellte man sich die Strafen für Unrechtes Tun als rein weltliche vor: Krankheiten, Hungersnöte, verlorene Kriege, Gefangenschaft usw. Baschet, Jéröme: Les justices de l’au-delâ. Les représentations de Tenfer en France et en Italie. XIIe-X V c siècle (= Bibliothèque des Ecoles Franjaises d ’Athènes et de Rome 279). Rom 1993, S. 16-19. M t 3,12; 18,8 f.; 25,41; Mk 9,43-48. Lk 16,19-31. M t 25,31 ff. Apk 19,20; 20,10-15; 21,8. Mt 8,12; 13,42; 13,50; 22,13; 24,51; 25,30; Lk 13,28. M t 2 5 ,3 1 -3 3 . Longhurst, Margaret H.: A byzantine ivory panel for South Kensington. In: The B urlington M agazine 49, Nr. 280 (1926), S. 38-43. - Goldschmidt, A dolf und Weitzmann, Kurt: Die byzantinischen Elfenbeinskulpturen des 10.-13. Jahrhun 20 0 2 , H e ft 3 + 4 H e u le n u n d Z ä h n e k la p p e rn 377 E lem ente sind hier streifenförm ig auf der R elieffläche angeordnet, die H ölle erkennt m an in der rechten unteren Ecke, also „z u r L inken“ des W eltenrichters und in größtm öglicher G ottesferne. Sie ist in zwei deutlich unterschiedene Z onen eingeteilt: Oben thront, von Flam m en um lodert, Satan auf einem vierköpfigen D rachen; er ist als nackter, w ürdiger G reis m it einem Kind auf dem Schoß dargestellt. D ieses K ind w urde unterschiedlich gedeutet, als A ntichrist oder als die Seele des Judas, jed en falls bildet diese G ruppe das negative G egenstück zur D arstellung des Lazarus in A braham s Schoß auf der Paradiesesseite. D ie Zone darunter ist in drei hochrechteckige Felder gegliedert: Im linken stehen eng gedrängt, wie frierend, einige nackte M enschen; das m ittlere Feld ist w aagrecht nochm als zw eigeteilt: oben acht Schädel, bei denen die Zähne sehr betont sind, unten acht Köpfe, in die sich W ürm er bohren; im rechten Feld, sozusagen der gottfernsten A bteilung, sitzt - groß und allein - der reiche Prasser des G leichnis ses und deutet, wie üblich, m it dem Finger auf seinen dürstenden M und. Z w ei ziem lich ähnliche D arstellungen des Jüngsten G erichts fin den sich in einem berühm ten byzantinischen T etraevangelion“ des 11. Jahrhunderts (Bibliothèque N ationale, Paris, Cod. Par. gr. 74). H ier sei nur die ausführlichere Version auf fol. 51 v besprochen, und w iederum allein die D arstellung der Hölle. Die einzelnen Elem ente ähneln dem L ondoner Elfenbein, doch sitzt z.B. der reiche Prasser hier näher bei Satan, näm lich direkt in dessen Feuersee. D ie übrige H ölle ist durch sechs arkadenartig um rahm te Felder verbildlicht: In zw eien davon sind nackte (frierende?) M enschen als H albfiguren dargestellt, eines enthält nach links blickende Profilköpfe, die drei restlichen sind m it Schädeln angefüllt. A llgem ein w ird angenom m en, dass hierm it unterschiedliche H öllenstrafen gem eint sind, es ist aber unklar, ob m it diesen Strafen auf bestim m te D elikte angespielt w er den so llte12. derts, Bd. 2, Berlin 1934, Taf. 45. 11 Omont, Henri: Evangiles avec peintures byzantines du Xe siècle. Reproduction du manuscrit gr. 74 de la Bibliothèque Nationale. 2 Bde. Paris 1908. - Brenk, Beat: Tradition und Neuerung in der christlichen K unst des ersten Jahrtausends. Studien zur Geschichte des Weltgerichtsbildes (= W iener byzantinische Studien 3). Graz, Wien, Köln 1966, Abb. 24. 12 Opitz, M arion: Monumentale Höllendarstellungen im Trecento in der Toskana. (= Europäische Hochschulschriften, Reihe XXVIII, Bd. 320). Frankfurt am M ain u.a. 1998, S. 15, schreibt: ,,D ie Art der dort zu verbüßenden Strafen ist 378 T h o m as R a ff Ö Z V L V I/105 Das berühm teste B eispiel dieser B ildtradition ist das große W elt gerichtsm osaik in Torcello bei Venedig, zu B eginn des 12. Jahrhun derts, verm utlich von griechischen Künstlern, geschaffen. Die Hölle rechts unten ist w iederum ähnlich in drei Streifen eingeteilt: D er oberste enthält nur das Flam m enm eer um den Thron des Satan. W ieder ist dieser als nackter, w ürdiger - hier dunkelhäutiger - Greis dargestellt. Das Kind auf seinem Schoß trägt eine T unika m it „ C la vis“ und dürfte deshalb als A ntichrist zu deuten sein. Von den rings um den T hron im F euerm eer verteilten Sündern sieht m an nur die K öpfe oder höchstens Teile der Schultern, so tief stehen sie im Feuersee. D ie Personen sind deutlich differenziert und gehören über w iegend wohl den höheren Ständen an: M an erkennt K aiser und K aiserin, B ischöfe und M önche, w ohl auch einen M uselm an. Sie haben übrigens alle geschlossene M ünder. U nter diesem durchgehen den Streifen folgen zw ei w eitere, die jew eils in drei rechteckige Felder eingeteilt sind, so dass auch hier sechs Felder entstehen. Im oberen Streifen folgen von links nach rechts: 1) der inm itten von lodernden Flam m en sitzende reiche Prasser und neben ihm noch zwei w eitere nackte M änner; 2) vier nackte M änner m it unterschiedlichen Gesten; zw ei von ihnen scheinen sich in die H ände zu b eiß en 13; 3) nackte, dunkle G estalten stehen bis zur B rust im Wasser. In der untersten Reihe: 4) siebzehn Schädel m it W ürmern; 5) elf K öpfe in Flam m en, von denen die m eisten m it O hrringen ausgestattet sind; 6) Schädel, Hände, Füße und R ippen vor dunklem Grund. D iese abgetrennten U nterabteilungen der H ölle w erden von den K unsthistorikern gelegentlich als „B u lg en “ bezeichnet. D er B egriff geht zurück au f Dante, der im achten Kreis des „ Inferno“ schildert, wie die einzelnen B etrügergruppen in zehn durch Felsw ände vonein ander geschiedenen „bolge“ (G ruben) bestraft w erden, ein jed er nach seiner S ünde14. W ährend D ante aber von zehn „bolge“ schreibt, sind nicht zu differenzieren. Die Tatsache, daß Abteilungen (bulgen) existieren, legt jedoch die Vermutung nahe, daß verschiedene Strafen gemeint sind.“ 13 Zu dieser Geste s. Barasch, Moshe: Gestures of despair in medieval and early renaissance art. New York 1978. 14 Der achte Kreis der Hölle mit seinen zehn schluchtartigen, trichterförmig und konzentrisch um den Brunnen der Apokalypse verlaufenden „bolge“ wird in den Inferno-Gesängen 18-31 beschrieben. Als Sünder werden hier u. a. erwähnt: die Kuppler und Verführer, die Schmeichler und Dirnen, die Simonisten und Wahr sager, die Zauberer und Betrüger, die Heuchler und Diebe, die bösen Ratgeber und Zwietrachtstifter, die unterschiedlichsten Fälscher. Das Wort ,, bolgia “ ist 20 0 2 , H e ft 3 + 4 H e u le n u n d Z ä h n e k la p p e rn 379 es im Par. gr. 74 und im M osaik von Torcello nur je sechs, die leider nicht durch B eischriften erläutert werden. D iese Sechszahl könnte eine byzantinische Tradition sein. So beschreibt A.-N. D idron15im K om m entar zu seiner A usgabe des „M alerbuchs vom B erge A thos“ ein (allerdings nach-byzantinisches) W eltgerichtsfresko auf der Insel Salam is, hier zitiert nach der deut schen Ü bersetzung von G odehard S chäfer16: „D ie Verdam m ten w er den bis an den H als in einen sechsfachen Feuersee eingetaucht; sie erheben daraus das Haupt, w elches feurig, wie der See selbst, und rot wie glühendes E isen ist. U nter dem ersten See steht geschrieben: ,hö brygm ös tön o d ö nton‘17 (das Z ähneknirschen); unter dem zw eiten: ,hâ skölex ho a kö im eto s‘ (der W urm, der nicht ruht); unter dem dritten: ,hé géenna tön p y rö s ‘ (das Feuergehenna); unter dem vierten: ,hâ tâ rtaros‘ (der Tartaros); unter dem fünften: ,tö p y r to âsb esto n ‘ (das Feuer, das nicht erlischt); das sechste ist das äußere Feuer, ,tö p y r tö exâteron D urch den „sechsfachen F euersee“ w erden in diesem B eispiel also nicht etwa, w ie m an vielleicht erw arten w ürde und w ie es in so vielen H öllendarstellungen der Fall ist, einzelne, besonders schw ere Sünden oder Sünder aufgezählt, die am jew eiligen Ort auf irgendeine b e ziehungsreiche W eise gequält werden. V ielm ehr w erden einige jener w enigen B ibelstellen verbildlicht, in denen, w enn auch nur andeu tungsw eise, die H ölle beschrieben wird: das Zähneknirschen (M t 8,12; 13,42; 13,50; 22,13; 24,51; 25,30; Lk 13,28); der nie ruhende W urm (Jes 66,24; M k 9,481S); das Feuergehenna (M t 5,22; 18,9); der Tartarus (2. P etr 2,4); das nicht erlöschende Feuer (M k 9, 43/45); das äußere F euer (vielleicht abgeändert aus: „to skötos to exöteron“, die Finsternis draußen, nach M t 22,13; oder falsch gelesen für „ tö p y r tö a iönion“, das ew ige Feuer, nach M t 25,41; oder eine Verknüpfung der toskanisch für ,,borsa“ und bedeutet eigentlich Tasche, Sack. 15 Didron, Adolphe-Napoléon: Manuel d ’iconographie chrétienne grecque et latine (...) traduit du manuscrit byzantin, le guide de la peinture, par le Dr. Paul Durand. Paris 1845, S. 273. 16 Schäfer, Godehard: Das Handbuch der Malerei vom Berge Athos, aus dem handschriftlichen neugriechischen Urtext übersetzt, mit Anmerkungen von D i dron d. Ä. und eigenen. Trier 1855, S. 272. 17 Didron und Schäfer (wie Anm. 15/16) schreiben: „ho orygmos tön odönton“, wsls aber ein Lesefehler sein dürfte. 18 Hier ist allerdings nicht vom „nie ruhenden“, sondern vom „nie sterbenden“ bzw. „nie endenden“ Wurm die Rede, was aber am Sinn nichts ändert. 380 T h o m as R a ff Ö Z V LV I/105 beiden Zitate?). Es wäre also zu überlegen, ob sich dies nicht auch au f die drei eingangs genannten frühen H öllendarstellungen übertra gen lässt. Im m erhin fällt auf, dass im Par. gr. 74 und in Torcello genau sechs „H ö llen bulgen“ dargestellt sind - wenn auch jew eils unter schiedlich. D iese „H ö llenbulgen“ finden sich auch in der m ittel- und nach byzantinischen W andm alerei. So hat sich in der K irche Panagia ton C halkéon zu Thessaloniki in der Vorhalle eine der frühesten m onum entalen D arstellungen des Jüngsten G erichtes (bald nach 1028) erhalten. Verm utlich w aren auf der Südw and „H öllenbulgen“ dargestellt, aber der Z ustand der M a lerei ist hier so schlecht, dass sich kaum eine sichere A ussage darüber m achen lässt19. Eindeutiger sind die M alereien (von etw a 1320) in der N ebenkirche (dem Parekklesion) der K ariye D jam i (C hora-K irche) in Istanbul: H ier gibt es im G ew ölbezw ickel ein eigenes Feld für den reichen Prasser; an der W and daneben vier klar abgetrennte, farblich stark unterschiedene, quadratische Felder, die - sow eit erkennbar ohne B eischriften blieben. Verm utlich sind hierm it w ieder „ d ie F in sternis draußen“, „d e r nie ruhende W urm “ und „das nicht erlöschen de F euer“ dargestellt. Das vierte Q uadrat ist so schlecht erhalten, dass sich nicht entscheiden lässt, ob hier, wie zu erw arten, „das Z ähne klappern“ verbildlicht w ar20. A lso auch hier - verm utlich - nur B ilder zu den genannten B ibelzitaten. D agegen finden sich in den W andm alereien einiger A thosklöster21 (16. Jahrhundert) in der Regel zw ei verschiedene A rten von „H ö llen bulgen“ nebeneinander: solche, in denen spezielle Sündergruppen bestraft, und solche, in denen die B ibelstellen zitiert werden. Ein viel früheres und zudem sehr eindrucksvolles B eispiel hierfür bietet die einsam gelegene K irche Panagia P horbiötissa in A sm ou/Zypern. In ihrem N arthex sind jew eils vier H öllenszenen au f die Laibungen zw eier A rkaden gem alt (datiert 1332/33) und in interessanter W eise 19 Papadopoulos, Karoline: Die W andmalereien des XI. Jahrhunderts in der Kirche Panagia tön Chalkéon in Thessaloniki (= Byzantina Vindobonensia II). Graz, Köln 1966, S. 57-76, Falttafel neben S. 56. 20 Underwood, Paul A.: The Kariye Djami. London 1967, Bd. I, S. 200, 209 f.; Bd. III, Abb. S. 398-403. 21 Etwa in der Trâpeza des Klosters Mégiste Lâvra (Abb.: Millet, Gabriel: M onu ments de l ’Athos, Bd. I. Paris 1927, Taf. 149/2); im Kloster Dochiariou; im Kloster Iwi'ron (vgl. Kretzenbacher, L.: Richterengel (wie Anm. 1), S. 45 f., Abb. 2). 20 0 2 , H e ft 3 + 4 H e u len u n d Z ä h n e k la p p e rn 381 verteilt: In der östlichen A rkade sehen w ir exem pla für bestim m te Sündergruppen, in der w estlichen dagegen die in diesem A ufsatz behandelten verbildlichten B ibelzitate. Da sich hier überall gut les bare Inschriften22 finden, sollen die beiden „A bteilungen“ genauer beschrieben werden. In der östlichen A rkade w erden pro Feld zw ei Sündertypen aufge zählt: 1. D er G renzsteinversetzer („ho p a ra b la kistés“) und der betrügeri sche M üller („ho p a ra m ylo n â s“). 2. D er D ieb („ho klé p te s“) und der Verleum der („ho ka tâ la lo s“). 3. D er W ucherer und F älscher der W aage („ho tokistés kâi parazyg ia s é s “) und die ungläubige N onne („hé a p okalâgria“). 4. D er ungläubige M önch („ho apokalâgeros“) und die Verderberin der K inder („hé apostréphousa tâ n é p ia “). D agegen finden w ir in der w estlichen A rkade w ieder vier Bibelzitate: 1. D er nie ruhende W urm („ho skölex ho akö im eto s“): viele m ensch liche Gesichter, dazu Striche, w elche die W ürm er andeuten sollen. 2. Das K lappern der Zähne („ho brygm os tön o d â n to n “): K öpfe m it w eißen, flam m enden Zungen. 3. D er Tartaros („ho tâ rta ro s“): Köpfe, die fast im dunklen H inter grund verschw inden. 4. D ie Finsternis draußen („to skötos to exöteron “): ein figurenloses, dunkles Feld. D ie K ünstler oder A uftraggeber von A sm ou unterschieden also offen b ar zw ischen zw ei verschiedene „M ethoden“, die H ölle abzubilden: einer - w ie ich glaube, älteren - durch Paraphrasierung der einschlä gigen B ibelstellen, und einer zw eiten - jüngeren - durch exem plari sche A ufzählung von M issetaten, die ihnen als besonders verw erflich galten. In der m ittelalterlichen K unst des W estens w urde - trotz überaus zahlreicher H öllendarstellungen - die ältere „M ethode“ w eniger an gew andt, auch das „H eulen und Z ähneklappern“ nicht so explizit dargestellt w ie in der byzantinischen. Im folgenden w ird indes die H ypothese aufgestellt, dass sich in m anchen w estlichen H öllenbil dern dennoch A nspielungen auf diesen Topos der biblischen Sprache finden lassen. 22 Buckler, William H.: The church of Asinou, Cyprus, and its frescoes. In: Archaeologia or Miscellaneous Tracts relating to Antiquity 83 (1933), S. 327-350. 382 T h o m as R a ff Ö Z V L V I/105 Viele T eufelsdarstellungen der rom anischen K unst zeigen die Teu fel m it w eit geöffnetem M und und deutlich sichtbaren Zähnen. B e sonders ist dies in der burgundischen Skulptur der Fall, so etw a im Tym panon des G islebertus in A utun oder auf einigen K apitellen von Vézelay oder bei dem in der M itte sitzenden O berteufel des G e richtstym panons in C onques-en-R ouergue. D urch diese fratzenhaft verzerrten G esichter und die bedrohlichen Zähne soll sicher einerseits die Schrecklichkeit der Teufel veranschaulicht w erden, auch weil nach m ittelalterlicher - und späterer - Ä sthetik das H ässliche zu gleich A usdruck des B ösen und D äm onischen ist (im G egensatz zum „G uten, W ahren, Schönen“). M an hat auch versucht, den aufgerisse nen M und der Teufel als ein Lachen oder Schreien zu interpretieren. Ein L achen (das Lachen des Teufels) ist w ohl auszuschließen, denn für ein derartiges Lachen gibt es keinerlei V ergleichsbeispiele in der m ittelalterlichen K unst23. B leibt das Schreien. Nun könnte m an sich fragen, w arum die Teufel, w elche ja m eistens gezeigt werden, wie sie gerade den verdam m ten M enschen Leiden zufügen, schreien sollten. Als zusätzliche Qual für die A rm en Seelen? Aus sadistischer Freude am Q uälen? O der sollten sie gar selbst unter der H ölle leiden? In den m eisten D arstellungen, in denen die Teufel ihre M äuler w eit geöffnet haben, halten die gem arterten oder sonstw ie beteiligten M enschen ihre M ünder geschlossen. D ie sorgenvollen oder ausgem ergelten Falten in den G esichtem dieser Teufel sprechen eher dafür, dass ein Schreien gem eint ist. K önnte hierdurch nicht auch auf das „H eulen und Z ähneklappern“ angespielt sein? D as B am berger Jüngste Gericht Im folgenden sollen einige Skulpturen des B am berger Dom s betrach tet w erden, vor allem jen e des Jüngsten G erichts im Tym panon des N ordportals, dem sogenannten Fürstenportal (Abb. 1). H ier fällt zu nächst auf, dass viele Figuren durch ein sonst in der m ittelalterlichen K unst kaum bekanntes, auf genauen anatom ischen Studien beruhen des „G rin sen “24 charakterisiert werden. D iese ungew öhnliche M im ik 23 Es scheint mir hier sogar eine Übertragung heutiger Formen des Lachens vor zuliegen, die dem Schreien oft verdächtig ähnlich sehen. 24 Der B egriff „grinsen“ findet sich schon 1901 bei Vöge, Wilhelm: Ü ber die Bam berger Domsculpturen. In: Repertorium für Kunstwissenschaft 24 (1901), 20 0 2 , H e ft 3 + 4 H e u le n u n d Z ä h n e k la p p e rn 383 Abb. 1: Bamberg, Tympanon des Fürstenportals, Gesamtansicht, um 1230/40 (Foto: Lim m er 5204) findet sich sow ohl bei den Seelen in A braham s Schoß wie bei jenen, die einen gnädigen R ichterspruch erhoffen dürfen; bei den Engeln, w elche die Seligen begleiten (Abb. 2), ebenso w ie beim hl. Stephanus der A dam spforte. Das G rinsen steht also offensichtlich für die F reu den des P aradieses, w ie sie gew isserm aßen durch Jesus in der B erg predigt angekündigt w urden: „S elig, die ihr je tz t weint, denn ihr w erdet lachen.“25 A uch dass Stephanus als einziger H eiliger m it diesem G rinsen dargestellt wird, lässt sich theologisch gut begrün den: N ach A ngabe der A postelgeschichte26 sah er kurz vor seinem M artertod „den H im m el offen und die H errlichkeit G ottes“ ; bei diesem H eiligen ist das „selig e G rinsen“ also ein ganz konkreter H inw eis au f die Vita, sozusagen A ttribut. S. 224. - Später bei Boeck, Wilhelm: D er Bamberger Meister. Tübingen 1960, S. 130 und bei Feldmann, Hans-Christian: Bamberg und Reims. Die Skulpturen. 1220-1250 (Phil. Diss.) A mmersbek bei Hamburg 1992, S. 37. 25 Lk 6, 21. - Bei der entsprechenden Stelle Mt 5, 1-12 werden Lachen und Weinen nicht so explizit gegeneinander gesetzt. 26 Apg 7,55. 384 T h o m a s R a ff Ö Z V L V I/105 Abb. 2: Bamberg, Tympanon des Fürstenportals, linke Hälfte (Selige) (Foto: Marburg 6396) Von der K unstgeschichtsforschung w ird die B am berger B ildhauer schule seit langem m it französischen Vorbildern in V erbindung ge bracht. H eute ist unbestritten, dass die sogenannte „jüngere B am ber ger B ildhauergruppe“, eb e n je n e, die unter anderem am F ürstenportal tätig war, vorher in R eim s m itgearbeitet oder gelernt hatte. G erade auch für die „grinsenden“ G esichter w ird gerne au f R eim ser S kulp turen verw iesen: Tatsächlich lächeln dort einige E ngel27 und andere G estalten, aber doch w esentlich verhaltener als in B am berg. Das „R eim ser L ächeln“, das w ohl der dam aligen V orstellung von ju g en d licher A nm ut entsprach, findet sich auch in B am berg, aber eben nicht bei den diversen „S elig en “ , sondern etw a bei der sog. M aria der 27 Lächelnde Engel finden sich in Reims etwa: bei der Verkündigung M ariä (mitt leres Westportal, rechtes Gewände); bei der Krönung M ariä (Wimperg über dem mittleren Westportal); bei den zwei Engeln, die den hl. Nicasius flankieren (nördliches Westportal, linkes Gewände). 20 0 2 , H e ft 3 + 4 H e u le n u n d Z ä h n e k la p p e rn 385 i» H — Abb. 3: Reims, südliches Querschiff, Ostturm, K onsolkopf an der Südost-Ecke (Foto: M arburg LA 508/25) H eim suchung, bei der Synagoge und der K aiserin K unigunde. Es ist h ier aber diskreter als in R eim s ausgebildet. M an könnte verm uten, dass die B am berger B ildhauer durch das „R eim ser L ächeln“ zw ar angeregt w urden, überhaupt lächelnde F i guren zu schaffen, was bis dahin eher verpönt w ar (und auch später bleiben sollte). A ber die deutschen K ünstler haben das französische L ächeln gew isserm aßen neuartig eingesetzt: Sollte es edle M enschen, vor allem edle Frauen, charakterisieren, so w urde es zurückhaltender als in R eim s geform t. N eu scheint aber vor allem die Idee zu sein, die him m lische Seligkeit durch ein „G rin sen “ auszudrücken. D enn im R eim ser W eltgerichtstym panon (linkes Portal des N ordquerschiffes) zeigen die Seligen (z.B. die in A braham s Schoß) und die sie beglei tenden E ngel keinerlei Lächeln. D ie R eim ser V erdam m ten w iederum zeigen zw ar sorgenvolle M ienen, aber m an sieht nicht, w ie in B am berg, geöffnete M ünder oder gar Zähne. Es könnte sein, dass die B am berger K ünstler zu ihrem deftigen G rinsen durch einige R eim ser K onsolköpfe (Abb. 3) angeregt w urden, die, an dieser dienenden 386 T h o m as R a ff Ö Z V LV I/105 Stelle, stark von der allgem einen Schönheitsnorm der Z eit abw eichen und eher expressiven C harakterstudien gleichen. Insgesam t handelt es sich in B am berg aber um eine originelle ikonographische N eu schöpfung. Die deutlichste A usstrahlung des „B am berger G rinsens“ findet sich am M agedeburger Dom: An den G ew änden des sog. P aradiespor tals stehen sich die K lugen und Törichten Jungfrauen des neutestam entlichen G leichnisses (M t 25,1 ff.) gegenüber. D ieses Them a dien te oft als E rgänzung zu oder als Ersatz für D arstellungen des Jüngsten Gerichts: D ie K lugen Jungfrauen hatten noch Öl in ihren Lam pen, als der H im m lische B räutigam kam . D a w urden ihnen die Pforten der S eligkeit aufgetan. Den Törichten jedoch, die kein Öl m ehr für ihre Lam pen hatten, blieb das Tor verschlossen. D ie von B am berg beein flussten B ildhauer (um 1245)28 unterscheiden die beiden G ruppen deutlich durch die M im ik: W ährend die Törichten in unterschiedli chen Form en des W einens und K lagens gezeigt w erden, w eisen die K lugen einen A usdruck heiterer B ew egtheit, ja Freude auf. U nd wie in B am berg w ird als m im isches Zeichen des seligen A ngenom m en seins ein L ächeln gew ählt, das sich bei einigen F iguren dem „B am berger G rinsen“ nähert - hier wie dort m it geschlossenen Lippen. Z urück zum W eltgerichtstym panon des B am berger Fürstenportals: A lle Figuren auf der linken Seite (auch die fürbittende M aria) sind m it diesem L ächeln der Seligen ausgezeichnet (vgl. Abb. 2). Sie freuen sich über den R ichterspruch „ Venite, benedicti patris m ei Ihr G rinsen geschieht stets m it geschlossenen Lippen. Ganz anders fällt die M im ik auf der rechten Seite aus, zu w elcher der R ichter sprach: „D iscedite a me, maledicti, in ignem aeternum “.29 H ier sind die G esichter schm erzverzerrt, w einend dargestellt (Abb. 4). Ein m oder ner B etrachter könnte dieses W einen leicht für ein breites Lachen halten, denn die M im ik des Lachens und des W einens liegen so nahe beieinander, dass m an m anchm al zw eifelt, ob jem and lacht oder weint. L eonardo da Vinci wies in seinem M alereitraktat30 darauf hin, 28 Gosebruch Martin: Das oberrheinisch-bambergische Elem ent im M agdeburger Dom: In: Ullmann, Ernst (Hg.): Der M agdeburger Dom, ottonische Gründung und staufischer Neubau. Leipzig 1989, S. 132-140 (Zitat S. 133). 29 M t 25, 34 und 41. 30 Das Buch von der Malerei, III. Teil, Nr. 384/38: ,,In Augen, M und und Wangen ist zwischen einem, der lacht, und einem, der weint, kein Unterschied. N ur die Starrheit der Augenbrauen unterscheidet sie, welche sich beim Weinenden zu sammenziehen, während sie bei dem, der lacht, in die Höhe gehen.“ Zit. nach der 2 0 0 2 , H e ft 3 + 4 H e u le n u n d Z ä h n e k la p p e rn 387 Abb. 4: Bamberg, Tympanon des Fürstenportals, rechte Hälfte (Verdammte) (Foto: Lim mer 5224) der K ünstler m üsse bei w einenden G estalten vor allem auf die Form der A ugenbrauen achten. A nders als beim L achenden w ürden sie beim W einenden bew egte L inien bilden. G enauso hatten es - lange vor L eonardo - auch die B am berger B ildhauer gehalten: die A ugenbrau en sind in geschw ungenen L inien gebrochen, die Stirnen voller b e w egter Falten. F ast alle ,,m aledicti“ haben die M ünder klagend g e öffnet, bei zw eien von ihnen - dem m eineidigen König und der G estalt gleich neben dem K opf des R ichters - sind die Zähne überaus betont: Es sind auffällig viele Zähne und sie sind in sehr gutem Zustand. W ährend gesunde und zur Schau gestellte Zähne heute ein w ichti ges A ttribut von Schönheit, A ttraktivität und Erfolg bilden, galt dem Ausgabe, die hg., übersetzt und erläutert wurde von Heinrich Ludwig. Wien 1882, Bd. I, S. 381. 388 T h o m a s R a ff Ö Z V L V I/105 M ittelalter n ur der geschlossene M und als schön31. N ur ganz ran d ständige oder als negativ beurteilte G estalten w urden m it sichtbaren Z ähnen dargestellt: B ettler und G eisteskranke, unw ürdig-geile G reise und Trauernde, Teufel und D äm onen usw. N un sollen die Verdam m ten des B am berger W eltgerichts sicher als Trauernde oder W ehklagende charakterisiert w erden, wie in den m eisten W eltgerichtsbildern. A ber die besondere B etonung der Z ahnreihen bei den beiden genannten G estalten scheint m ir doch noch eine konkretere B edeutung zu haben: Es soll eben nicht nur das „H eu len “, sondern auch das „Z ähneklap p ern “ veranschaulicht w erden32. D ass es hierfür eine byzantinische T radition gab, w urde eingangs dargelegt. Thomas Raff, Weeping and Wailing and Gnashing the Teeth. Thoughts on Expressive Im agery in Medieval Art The earliest depictions o f Hell in Christian art did not show particular punishments for specific, grave sins. Rather, they illustrated the descriptive references in the Bible to the conditions found in Hell. One o f the B ible’s most striking references is that Hell is a place where “there shall be wailing and gnashing o f teeth” (Matt. 13:50). This im agery was repeatedly and expressly illustrated in Byzantine art. This paper tries to show that there were comparable depictions o f “weeping and gnashing of teeth” in Western art as well, especially in the Last Judgm ent tympanum o f the Bamberg Cathedral in Germany. 31 Vgl. hierzu Raff, Thomas: Lächeln, Lachen, Zähne-Zeigen. Gedanken zum Wandel der Mimik. In: Jahrbuch für Volkskunde, N.F. 24 (2001), S. 163-188. 32 Diese Vermutung findet sich auch schon bei Feldmann, 1992 (wie Anm. 24), S. 113. Österreichische Zeitschrift fü r Volkskunde Band LVI/105, Wien 2002, 3 8 9 ^ 0 2 Heilige Zeiten - Traumzeiten E in B eitrag zur G eschichte und B edeutung des Salzburger A dventsingens Oliva W iebel-Fanderl D er Artikel zeigt, warum sich die Besucher der Salzburger Adventveranstaltungen auf die Reise nach Salzburg begeben und was sie im Festspielhaus erwartet, aber auch seit wann und warum es das Salzburger Adventsingen gibt und welche Veränderungen und Entwicklungen es genommen hat. Im Rahmen dieser Veranstaltung finden unterschiedliche Ge fühlslagen und Träume der Zuschauer ihren Ort. Das Advent singen ist Trägerin einer Utopie, in die Vergangenheit ebenso hinein projiziert werden kann wie Zukunft. Die Emotionen, die dadurch jedes Jahr neu ausgelöst werden, ergeben sich nicht reflexartig aus dem Schauspiel, sondern immer aus bereits vorhandenen Erfahrungen, die mit dem gerade Erleb ten zusammen gelesen werden. Soziale W irklichkeit als sym bolische W irklichkeit konstruiert sich letztendlich erst durch die Interpretationsprozesse der einzelnen Akteure. 1. Problem aufriß D ie Vorstellung, daß bestim m te Zeiten besonders heilig sind, findet sich w eltw eit in K ulturen der Vergangenheit und G egenw art.1 In leb ensgeschichtlichen Erzählungen w erden heilige Zeiten im m er w ieder als Z eiten des Träum ens erinnert. Was bedeutet das W ort Traum in der A lltagssprache? Was m einen M enschen, w enn sie sagen „D as w ar ein schöner Traum “? H ier w ird m an w ohl überw iegend interpretieren, daß sie vom G egensatz zur R ealität sprechen. Im D uden der sinn- und sachverw andten W örter steht neben dem Verb träum en das W ort hoffen. N eben dem A ttribut „ h e ilig “ findet m an das Synonym „g ö ttlich “.2 1 M itterauer, M ichael: Heilige Jahre. In: Wolfgang Müller-Funk (Hg.), ZEIT. MYTHOS, PHANTOM, REALITÄT. Wien 2000, S. 79-91, hier: S. 79. 2 Duden. Sinn- und sachverwandte Wörter und Wendungen, Bd. 8. Wien 1972, 390 O liv a W ie b el-F a n d erl Ö Z V L V I/105 Zu den bekannten w eihnachtlichen K alenderritualen in den K ir chen3, M edien und B rauchveranstaltungen von R egionen, die von der christlichen K ulturgeschichte geprägt sind, gehört alljährlich die E r innerung an die H offnung auf das „F riedenslicht von B ethlehem “ , das laut literarischer Tradierung m it der G eburt des K indes in der K rippe anbricht. Licht gehört zu den zentralen Zeichen der A dvents zeit und w ird als Sym bol des Glaubens und Friedens them atisiert. Im Salzburger A dventsingen w ird das W issen um den L ichtträger und F riedensfürsten der W elt alljährlich auf der B ühne tradiert. D ie B e sucher kom m en m it B ussen aus ganz D eutschland, aus Italien und aus den östlichen N achbarländern.4 D ank des A dventsingens ist Salzburg zu einer Zeit, in der in anderen Städten w enig Tourism us stattfindet, für G äste aus dem In- und A usland anziehend.5 In diesem K ontext stellt sich die Frage, ob die kulturelle Deutung eines bestim m ten K alenderabschnittes im Jahreslauf U rsache für die E ntsteh u n g von Em otionen und religiösen S ehnsüchten ist oder grundlegende m enschliche Sehnsüchte und B edürfnisse traditionelle K alenderrituale am Leben halten. Im Folgenden soll geklärt w erden, w arum sich die B esucher von den Salzburger A dventveranstaltungen auf die R eise nach Salzburg begeben und was sie im Festspielhaus erw artet, aber auch seit wann und w arum es das Salzburger A dventsingen überhaupt gibt und w el che V eränderungen und Entw icklungen sich an dieser adventlichen V eranstaltung beobachten lassen. 2. Z u r M ethode U m die vorgestellten Fragen klären zu können, galt es an den U nter suchungsgegenstand au f verschiedenen Ebenen heranzutreten. E r stens befragte ich Teilnehm er an einer B usreise zum Salzburger S. 325. 3 Vgl. dazu beispielsweise den 18. Pfarrbrief von Sankt Peter in Passau vom Jahr 1999. Dieser zeigt auf dem Titelblatt eine brennende Kerze, deren Schein die Stadt überstrahlt mit der Aufschrift: „A dvent: Zeit sich dem Licht zu stellen!“ A uf der darauf folgenden Seite wird die „alte Sehnsucht, vom Dunkel zum Licht zu komm en“ thematisiert. Die Andachten der Pfarrei stehen unter dem Leitge danken „B ehütetsein - trotz schlimmer Zeit.“ 4 Reiser, Tobias: Salzburger Adventsingen, Salzburg 1997, S. 8. 5 Reiser (wie Anm. 4), S. 129. 200 2 , H e ft 3 + 4 H e ilig e Z e ite n - T rau m ze ite n 391 A dventsingen au f der Hin- wie auf der R ückfahrt, B esucher des Salzburger C hristkindlm arktes sow ie Teilnehm er und B esucher im F estspielhaus vor B eginn der V eranstaltung über ihre M otivation, am A dventsingen teilzunehm en. U m die R epräsentativität der 45 aufge nom m enen Erzählungen überprüfen zu können, sah ich W eihnachts erzählungen der D okum entation lebensgeschichtlicher E rzählungen in W ien sow ie eine von U rsula R ichter und W olf-D ieter Stubel herausgegebene Sam m lung m it dem Titel „W eihnachtsgeschichten am K am in“ durch.6 Zw eitens untersuchte ich im Vorfeld bereits die Interessen und A bsichten der Veranstalter und Träger des A dventsingens, um bei den erhobenen Interview s feststellen zu können, ob die Interessen von Veranstaltern, Trägern und Teilnehm ern konvergieren und/oder divergieren. H ierzu benützte ich neben Erzählungen als Q uelle auch Selbstdarstellungen der Veranstalter in B üchern und W erbeprospekten sow ie Texte, Schallplatten und CD -Produktionen. 3. Zur Geschichte des Salzburger Adventsingens und zu seinen Trägem Das Salzburger A dventsingen hat sich im L aufe der Jahre von einer Volksm usik- und B rauchveranstaltung zu einem szenischen O ratori um entw ickelt. Seine G eschichte beginnt im N ovem ber 1946 als der P ongauer W irtssohn Tobi R eiser d.Ä. (1907-1974)7 einige Freunde zusam m enrief, um beim gem einsam en M usizieren jen er K am eraden zu gedenken, die im Krieg gefallen waren oder denen die R ückkehr in die H eim at noch nicht vergönnt war. M it vertrauten Liedern, M usik und W orten des Trostes und der H offnung sollte „W ärm e in die H erzen“ gebracht w erden.8 Dieses T reffen w ar der G rundstein für das bedeutsam ste vorw eihnachtliche K ulturereignis im Land Salzburg. Nach den A nfängen im G em einschafterheim und im Kleinen Saal des M ozarteum s übersiedelte das A dventsingen 1950 in die Residenz, denn dort bot der K aisersaal 6 Richter, U rsula, Wolf-Dieter Stubel: Weihnachtsgeschichten am Kamin. Weih nachtliche Erlebnisse von NDR-2-Hörern, 2 Bde. Braunschweig 1984 und 1985. 7 Tobias Reiser wurde 1907 als Sohn von Tobias und Anna Reiser geboren. Die Eltern werden in der Geschichte des Salzburger Adventsingens als „Sangesfreu dige W irtsleute des Gasthofes .Schwarzer A dler1 in St. Johann im Pongau“ beschrieben. Vgl. Reiser (wie Anm. 4), S. 21. 8 Reiser (wie Anm. 4), S. 15. Die ersten M itwirkenden waren ein paar Musikanten aus Salzburg und dem Pongau. 392 O liv a W ie b el-F a n d erl Ö Z V L V I/105 Platz für 250 Zuschauer. U nter den Ehrengästen des ersten offiziellen Salzburger A dventsingens im Jahre 1950 befanden sich nach den M eldungen des Salzburger Volksblatts vom 4. D ezem ber 1950 L an deshauptm ann Dr. Josef Klaus und Erbprinz A lbrecht von Bayern. D ieser H inw eis ist ein B eispiel dafür, daß das A dventsingen seit A nbeginn von B esuchern aus fast allen sozialen M ilieus angenom m en w urde und das Haus W ittelsbach m it seiner bekannten W ert schätzung der V olksm usik hier verm utlich auch eine Leitbildfunktion hatte.9 Im Jahre 1950 w urde von Sepp D engg10 der Salzburger Volks liedchor gegründet, der bis in die G egenw art die A ufführungen w e sentlich prägt. N icht m ehr w egzudenken vom A dventsingen sind seitdem L ieder w ie „Jetzt fangen w ir zum Singen an“, „E s m ag net finster w erden“ oder „Im m er wenn es W eihnacht w ird“ und als krönender A bschluß der Andachtsjodler, in den die B esucher bei der W iederholung, vielfach m it Tränen in den Augen, bew egt einfallen. B ereichert w urden die m usikalischen D arstellungen durch den A uf tritt von B rauchtum sgestalten, wie beispielsw eise den Pinzgauer T resterern.11 Das Szenario zeigt die A bsicht der Pflege von B rauch und E m otionsgedächtnis. Im Jahre 1951 hatte Tobi R eiser d.Ä. den Einfall zum Salzburger H irtenspiel, das bis heute ein unverzichtbarer, heftig beklatschter Program m punkt des A dventsingens geblieben ist.12 D ie H irtenbuben, die Salzburger Tracht tragen und in M undart sprechen, m üssen sich auf das M usizieren verstehen. Denn sie bringen dem Jesuskind im Stall, im U nterschied zu anderen alpenländischen H irtenspielen, nicht nur Butter, Käse oder sonstige N aturalien m it, sondern auch M u sik .13 D azu gehört etw a das „P aschen“ eines typischen Innviertler 9 Die M itwirkenden kamen in der Folge nicht nur aus der Umgebung von Salzburg. M it dem Vortrag von Texten, der in Riedering am Simssee lebenden Annette Thoma, einer bekannten Pflegerin des geistlichen Volksliedes, wurde eine Brücke nach Bayern geschlagen. 10 Reiser (wie Anm. 4), S. 19. Dengg stammte aus einer Lehrerdynastie, die das Volkslied seit Generationen pflegte. Er suchte geeignetes Liedgut für die Auffüh rungen. 11 Vorgeführt von der Perchtentanzgruppe der Alpinia sowie kleinen Spielszenen der Anklöpfler und den Hirtenbuben, die damals Stemsing-Kinder genannt wurden. 12 Reiser (wie Anm. 4), S. 21. 13 Hier zeigt sich ein Zusammenhang mit der alten Volksweisheit: „W o es singt und klingt, da laß dich fröhlich nieder.“ 20 0 2 , H e ft 3 + 4 H e ilig e Z e ite n - T rau m ze ite n 393 Landlers. E in w eiterer G lücksfall für das Salzburger A dventsingen w ar der in W agrain lebende D ichter Karl H einrich W aggerl, der sich 1952 dem Kreis der Veranstalter anschloß und bis zu seinem Tod das A dv en tsin g en 20 Jahre w esentlich m itp räg te.14 Tobi R eiser d.J. schreibt über sein M itw irken: „D er unnachahm liche M eister der E rzählkunst w ärm te m it seinen K indheitserinnerungen, seinen L e bensw eisheiten und den .inw endigen G eschichten um das Kind von B eth leh em 1 die H erzen der M enschen.“ 15 A llerdings erfuhren die A uftritte von W aggerl nicht ungeteilte Zustim m ung. Hohe kirchliche W ürdenträger, w ie der dam alige E rzbischof von Salzburg, fanden seine Erzählungen, wie etw a ein Floh in der K rippe das C hristkind durch sein K itzeln im O hr zum ersten M al zum L ächeln brachte, gar nicht heiter. W aggerl m einte darauf, daß sich die T heologen einm al die Frage stellen m üßten, w arum so viele M enschen zum A dventsin gen ins Theater kom m en würden, um sich auf W eihnachten einzu stim m en, anstatt diese B edürfnisse in den K irchen zu stillen. W aggerl starb im Jahre 1973 und 1974 folgte ihm Tobi R eiser d.Ä. B eide gingen als „V äter“ des A dventsingens in die E rinnerungs literatur ein. D er Sohn Tobi R eiser d.J. führte das Erbe des Vaters fort, jed o ch nicht in der gleichen Form . Er suchte A lternativen zu den stim m ungsstiftenden G eschichten W aggerls und veränderte das A d ventsingen zu dem heute bekannten O ratorienspiel, das A dvent als biblisches Them a m it dem Schw erpunkt H erbergsuche darstellt. 1980 stand das Salzburger A dventsingen, das inzw ischen im Salz burger F estspielhaus eingezogen war, beispielsw eise unter dem M ot to „B ethlehem , du bist überall“ .16 Dieses Spiel sollte vom A nspruch her m ehr als Stim m ung liefern. Es w ird ein M edium für Sozialkritik. 1982 bereicherte R eiser die H irten um die F igur des B linden S ehers,17 der die Ereignisse voraussieht. Das m ystische Elem ent, das bis je tz t im m er von den Perchten verkörpert worden war, wurde, inspiriert durch Carl Orffs Weihnachtsspiel, mit Hilfe von auftretenden Hexen ausgedrückt. Sie sind die „Finsteren M ächte“, die das M ißtrauen der M enschen untereinander darstellen, insbesondere auch die Zweifel des Josef. Dadurch bekam die Gestalt des Josef m ehr Profil. 14 Reiser (wie Anm. 4), S. 31. 15 Reiser (wie Anm. 4), S. 32. 16 Das Spiel bringt die Einsam keit zweier Menschen nahe, denen die Tür gewiesen w ird und die nur Trost in ihrer Aufgabe und ihrer Bestimmung finden. 17 Reiser (wie Anm. 4), S. 59. 394 O liv a W ie b el-F a n d erl Ö Z V LV I/105 Das A dventsingen von 1982 erfuhr jedoch heftige Kritik, da vielen B esuchern die D unkelheit zu bedrückend wirkte. Es w ar aus der Sicht der Z uschauer zu ernst und zu kritisch geraten. M anche fühlten sich je tz t im Vergleich zu den vorhergehenden A ufführungen um die erw artete schöne Stim m ung und um erw artete Träum e b etrogen.18 Im Jahr darauf entstand als R eaktion das L ied „A L ia ch t is aufkem m a“, '9 das dem szenischen O ratorium von 1983 seinen N am en geben sollte. H ier erzählen zw ei H irtengruppen die biblische W eihnachts geschichte.20 Das Lied „A L iacht is aufkem m a“ leitet die Szene „A n g st und V erschwörung der Finsteren M ächte“ ein, die beratschla gen, wie m an der B edrohung - dem Licht der H offnung, dem Licht des K indes, das im M utterleib geschützt ist und ihnen A ngst m ache entgegentreten könne. D er Fürst der Finsternis weiß Rat. „D ie M en schen selbst dürften das Kind nicht annehm en. M an m üsse in B ethle hem die Türen versperren, N eid und Haß schüren und durch Geld Z w ietracht unter den M enschen säen.“21 In der folgenden H erbergsu che deutet sich diese Versuchung bereits an. Josef und M aria können nur bei den H irten eine U nterkunft finden. D ie A ufführungen des szenischen O ratorium s „A L ia ch t is aufkem m a“ w aren von Erfolg gekrönt. Die neue Form des A dventsingens wurde vom Publikum angenom m en, denn es entsprach den W ünschen der Besucher, in dieser Zeit w ieder einm al über Träum e nachzuden ken und au f W eihnachten als Fest der B eziehungspflege, des m ensch lichen M iteinanders, eingestim m t zu werden. N icht zuletzt deshalb konnte ein w eiteres Stück entstehen, das zu den persönlichsten Reisers gehört, da es seine eigenen lebensgeschichtlichen E rinnerungen verarbeitet. Es erhielt den Titel „S onst bliebe es ein Traum “ . R eiser bekam von seinem Vater vor dem Schlafengehen lange Zeit eine G eschichte erzählt und läßt nun in seinem neuen szenischen Spiel einen Vater seinem Sohn jeden A bend ein Stück W eihnachtsgeschich te erzählen. B evor die Volkszählung angeht, zu der M aria und Josef 18 Tobi Reiser d.J. erklärte diese Ungleichgewichtigkeit von Licht und Dunkel im Nachhinein mit einer Hepatitis, die ihn zur Zeit dieser Spielvorbereitungen im G riff hatte. 19 Ü bersetze „E in Licht ist aufgekommen“. 20 Reiser (wie Anm. 4), S. 64; Irgei träumt von der Verkündigung des Engels an M aria, wird aber von seinen ungläubigen Freunden Simmerl und Isidor als Spinner abgetan. 21 Reiser (wie Anm. 4), S. 64. 20 0 2 , H e ft 3 + 4 H e ilig e Z e ite n - T rau m ze ite n 395 nach bib