Simon Geissbühler Zablotow: Manès Sperbers

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Simon Geissbühler Zablotow: Manès Sperbers
Projekt 36 - Occasional Papers
Occasional Paper No. 4
Simon Geissbühler
Zablotow: Manès Sperbers ostgalizisches Shtetl,
der Holocaust und ein vergessener Friedhof
[Zablotow: Manès Sperber’s East Galician Shtetl, the Holocaust
and a Forgotten Cemetery]
© 2011 Projekt 36, Bern / Simon Geissbühler
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Simon Geissbühler
Zablotow:
Manès Sperbers ostgalizisches Shtetl, der Holocaust
und ein vergessener Friedhof
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Einleitung
Ein Reisender im heutigen Ostgalizien, in der westlichen Ukraine, wird – wenn er nicht sucht
– kaum Spuren jüdischen Lebens finden. Wer die Spuren sucht, stösst auf
a past mostly forgotten, a present committed to rewriting the past, and a
kind of reverse archeological undertaking in which the last remains of
destroyed civilizations are being buried (Bartov 2007: xv).
Ein früheres ostgalizisches Shtetl – ich verstehe darunter in Anlehnung an Yehuda Bauers
(2009: 3) Definition „a township with 1,000 to 15,000 Jews, who formed at least a third of
the total population, and their life was regulated by the Jewish calendar and by customs derived from a traditional interpretation of the Jewish religion” –, das Omer Bartov in seinem
wichtigen Buch “Erased” über ehemalige Shtetlech Ostgaliziens nicht berücksichtigt hat, ist
Zablotow. Zablotow liegt im südöstlichsten Teil Galiziens – auf halben Weg zwischen
Czernowitz und Ivano-Frankiwsk. Die beiden grösseren Städte rund 20 Kilometer von
Zablotow entfernt sind Kolomea (im Westen) und Sniatyn (im Osten). Seit dem 17. Jahrhundert sollen in Zablotow Juden gelebt haben. Zablotow ist als Untersuchungsgegenstand
interessant, weil es von Manès Sperber (1905-1984), der dort geboren wurde, ausführlich beschrieben worden ist. Wir können somit die vergangene und die heutige Realität im Fall von
Zablotow besonders deutlich herausarbeiten – auch wenn hervorzuheben ist, dass Sperbers
Autobiographie mit quellenkritischer Distanz gelesen werden sollte.
Abbildung: Karte Südostgaliziens
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Mit den Teilungen Polens am Ende des 18. Jahrhunderts kam Galizien zu Österreich-Ungarn.
Nach dem 1. Weltkrieg, der gerade für die jüdischen Bewohner Galiziens eine mehrjährige
Leidenszeit mit unterschiedlichen Besatzungsregimes darstellte, kam die Region unter
polnische Kontrolle. 1939 begann eine 21 Monate dauernde sowjetische Herrschaft, die mit
der Operation Barbarossa ihr Ende fand:
The whole population, with out an exception, welcomed the Russians with
joyous cries and with [a] festive welcoming ceremony […]. However, the joy
was short lived. A majority of the citizens were evacuated from their homes,
with the just emptied apartments handed over to Russian businesses and
their workers. The rich were dispossessed of their belongings and deported to
Russia (Memorial Book 1949).1
Der Südteil Galiziens (und somit auch Zablotow) wurde im Sommer 1941 von ungarischen
Truppen besetzt. Die Situation für die Juden in den ungarisch kontrollierten Gebieten war
insgesamt etwas besser als dort, wo die Deutschen das Sagen hatten (Pohl 1996: 49f.). Letztlich verzögerte sich der Massenmord an den Juden in der Region aber nur um einige
Wochen.
Abbildungen: Der jüdische Friedhof von Zablotow im Oktober 2010
Für die sowjetische Besatzungszeit und ihren Einfluss auf die jüdisch-polnischen und jüdisch-ukrainischen
Beziehungen in Galizien vgl. Golczewski 2008: 127-129.
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Manès Sperbers ostgalizisches Shtetl
Manès Sperber (1993: 19, 21) beschreibt in seiner Autobiographie „Die Wasserträger Gottes“
die „Armseligkeit“, „Hässlichkeit“ und „Unsauberkeit“ Zablotows, eines typischen Shtetls
[which] looked at that time like all the other Jewish towns and Shtetls in
eastern Galicia. Although the main trains line from Lwow to Chernovtsy
passed through our town, it was still like a hole in the middle of no-where as
far as its cultural level and people's knowledge about world affairs was
concerned (Heinish 1949).
Schon der Name Zablotows erschien Sperber unangenehm, weil er „auf den lehmigen Boden,
auf die ungepflasterten Strassen“ anspielte:
All das verschwand, wurde unsichtbar – und das Städtchen war schön,
sobald der Schnee es einhüllte, seine schiefen Dächer in hügelige Landschaften verwandelte, seine Gässchen und Strassen mit weissen Teppichen
belegte, die Löcher und Schutthaufen verbargen (Sperber 1993: 19f.).
Abbildung: Jüdische Kinder in einem Dorf in der Nähe von Kolomea/Zablotow2
Von den 3'000 Einwohnern Zablotows waren gemäss Sperber (1993: 21) Anfang des 20.
Jahrhunderts rund 90% Juden. Die Zablotower Juden bildeten so
eine scharf profilierte, in ihren Grundlagen gefestigte autonome Gemeinschaft mit einer eigenartigen Kultur – dies inmitten von Armut und Hässlichkeit, und eingekreist von Feinden des jüdischen Glaubens. Das Städtel war ein
Zentrum, von dem aus gesehen die slawischen Dörfer periphere Agglomerationen waren […]. In all seiner Misere war das jüdische Städtchen eine
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http://www.shtetlinks.jewishgen.org/kolomea/yidpho1.jpg [Download vom 3.1.2011].
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kleine Civitas Dei – geistig und geistlich erstaunlich, in mancher Hinsicht um
Jahrhunderte zurückgeblieben, nicht selten abstossend, aber dennoch bewundernswert, weil das Leben dieser Menschen täglich, ja stündlich und bis
in die letzte Einzelheit durch ihre wahrhaft beispiellose Treue zu einem unablässig fordernden Glauben bestimmt wurde (Sperber 1993: 26).3
Der Holocaust
Der Völkermord an den Juden in Galizien begann im Oktober 1941. Am 12. Oktober 1941,
dem „Blutsonntag von Stanislau” – Stanislau war damals der Name von Iwano-Frankiwsk –
wurden in der Stadt 10’000 bis 12’000 Juden exekutiert. Etwas später als in Stanislau wurde
auch in Kolomea eine Aussenstelle des Kommandos der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes (SD) (KdS) unter der Leitung von SS-Obersturmführer Peter Leideritz eingerichtet, die hauptverantwortlich war für den Massenmord an den Juden in der Region (vgl.
Pohl 1996: 137ff.; Sandkühler 1996: 149ff.). In den Wintermonaten 1941/1942 war die KdSAussenstelle „kontinuierlich für Massenmorde an Juden verantwortlich” (Pohl 1996: 149).
Am 22. Dezember 1941 kam es zur 1. „Aktion” in Zablotow:
At that day [22.12.1941], at 7 [AM], the Gestapo burst into town from
Kolomyja and attacked our poor brethren. Again, with the assistance of the
local Ukrain[ians], armed with knives and axes, they surrounded the city.
From street to street, house to house, the rioting murderers took out all Jews
men women and children, beat them ferociously, shattered their skulls, poked
their eyes and lead this half dead crowd to their death […]. When about a
thousand arrived at the digs, they were placed in rows and lowered unto
wood planks over the pits. Running on the planks they were shot, they fell,
some dead some just wounded into the pits. […] They were ordered to
maximize the space and squeeze babies and small children in the corners.
Those infants were not shot, in order to save on bullets, but had their heads
smashed against the trees growing nearby and thrown into the pits
(Memorial Book 1949).
Rund 900 Juden von Zablotow wurde an diesem Tag umgebracht (Pohl 1996: 149; Memorial
Book 1949).
Im April 1942 wurden Leideritz und seine Truppe wiederum aktiv in Zablotow und Umgebung. Tausende Juden wurden in der Region innerhalb von wenigen Tagen erschossen, viele
Überlebende wurden ins Vernichtungslager Belzec abtransportiert (Pohl 1942: 191). Auch das
jüdische Zablotow erlebte seine 2. „Aktion”:
On the first day of Passover 5,702 (11.4.1942) [t]he Ukrain[ians] and the
Germans ransacked the remaining Jews. They burst into homes with axes
and hatchets and dragged out the living, ravaged every valuable property
which were hidden and concealed; in most houses a hiding place was prepared for people together with hidden access. About 250 Jews were rounded
up that day by the Gestapo (Memorial Book 1949).
Vgl. auch Heinish 1949: “Since worship was more important than Torah studies, the Chasidic Movement and its
variations took a strong hold in town and most Jews congregated under various dynasties of Rabbis”.
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Im September 1942 wurden im Rahmen einer 3. „Aktion“ auch die wenigen in Zablotow verbliebenen Juden umgebracht oder nach Belzec deportiert (Pohl 1996: 228). 1941/42 wurde
die jüdische Bevölkerung Zablotows faktisch ausgelöscht. Von den 140'000 Juden, die 1939
im Bezirk Stanislau gelebt hatten, wurden 94,2% umgebracht (Kruglov 2008: 284).
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Ein vergessener Friedhof
Gewiss, es gibt einen Ort Zablotow, genau dort, wo unser chassidisches
Städtchen existiert hat; es ist nun von Nichtjuden, hauptsächlich von
Ukrainern bewohnt (Sperber 1993: 65).
Zablotow ist heute ein schmuckloses Strassendorf. Der jüdische Friedhof liegt hinter einem
Heldendenkmal, einem christlichen Friedhof und in der Nähe eines Sportplatzes. Er macht
einen heruntergekommenen, vernachlässigten Eindruck. Einige Grabsteine stehen auf einer
Wiese, der grösste Teil des Friedhofs ist mit Büschen und Sträuchern überwachsen. Offenbar
wird der Friedhof auch als Abfalldeponie missbraucht.
Die meisten Grabsteine dürften aus dem späten 19. Jahrhundert und frühen 20. Jahrhundert
stammen. Es ist nicht auszuschliessen, dass einige Grabsteine etwas älter sind. Im Bericht
der „United States Commission for the Preservation of America’s Heritage Abroad 2005”
wird angegeben, der Friedhof stamme aus dem 18. Jahrhundert.4 Dort, wo die Massenerschiessung am 22. Dezember 1941 stattfand, soll ein Mahnmal sein.5 Ich habe es nicht besucht. Vielleicht gibt oder gab es einen zweiten, älteren jüdischen Friedhof. Denn Sperber
(1993: 116) schreibt von einem Friedhof „auf de[m] Hügel”. Der von mir besuchte und hier
fotografisch dokumentierte Friedhof ist aber im Dorf und nicht auf einer Anhöhe. Vielleicht
hätte ich suchen müssen nach anderen Spuren...
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http://www.heritageabroad.gov/reports/doc/survey_ukraine_2005.pdf [Download vom 3.1.2011].
Vgl.: http://www.iajgsjewishcemeteryproject.org/ukraine/zabolotov.html [Download vom 3.1.2011].
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Literatur und Quellen
Bartov, Omer (2007). Erased. Vanishing Traces of Jewish Galicia in Present-Day Ukraine.
Princeton.
Bauer, Yehuda (2009). The Death of the Shtetl. New Haven/London.
Golczewski, Frank (2008). Shades of Grey: Reflections on Jewish-Ukrainian and GermanUkrainian Relations in Galicia, in Brandon, Ray and Wendy Lower (eds.). The Shoah in
Ukraine. Bloomington, pp. 114-155.
Heinish, Meir (1949). The Town where I was born, in A City and the Dead. Zablotow Alive
and
Destroyed.
Memorial
Book
of
Zabolotov
(Zablotow)
(Ukraine):
http://www.jewishgen.org/Yizkor/zabolotov/zablotow.html.
Kruglov, Alexander (2008). Jewish Losses in Ukraine, 1941-1944, in Brandon, Ray and
Wendy Lower (eds.). The Shoah in Ukraine. Bloomington, pp. 272-290.
Memorial Book (1949). A City and the Dead. Zablotow Alive and Destroyed. Memorial Book
of Zabolotov (Zablotow) (Ukraine). (Translation of Ir u-metim; Zablotow ha-melea ve-hahareva): http://www.jewishgen.org/Yizkor/zabolotov/zablotow.html.
Pohl, Dieter (1996). Nationalsozialistische Judenverfolgung in Ostgalizien 1941-1944.
Organisation und Durchführung eines staatlichen Massenverbrechens. München.
Sandkühler, Thomas (1996). „Endlösung“ in Galizien. Der Judenmord in Ostpolen und die
Rettungsinitiativen von Berthold Beitz 1941-1944. Bonn.
Sperber, Manès (1993). Die Wasserträger Gottes. All das Vergangene… Band 1. Frankfurt a.
M.
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