Magazin Nr. 60

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Magazin Nr. 60
AUSGABE 60
MAUERN ABBAUEN – BRÜCKEN BAUEN !
TABOR
MAGAZIN
Strafgefangene und Entlassene schreiben über ihr Leben
Wenn ich ans
Sterben denke ...
Begegnungen und Erfahrungen
mit dem Sterben Gedanken zum Tod
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Liebe Freunde, Mitglieder
und Förderer des Tabor
e.V.,
besonders liebe Freunde in
den Gefängnissen!
Tod und Sterben
verdrängen viele Menschen ganz, wollen es nicht wahrhaben. Und doch ist er
immer präsent – der Tod. Täglich sterben Menschen - auch Kinder. In vielen
Gegenden der Welt sterben sogar viele
Menschen schon als Kind. Und dann
gibt es unseren Kontinent – Europa,
den Teil der Erde, in dem wir erwarten,
alt zu werden. Unsere Lebensbedingungen haben sich stark verbessert.
Wir leben mit einer guten medizinischen Versorgung, bei uns gibt es
reichlich Nahrung, mit viel Abwechslung. Wir alle können Vitamine und Enzyme zu uns nehmen, die wir brauchen,
wir haben hohe Hygienestandards, gutes und reichlich Wasser, wir können
Sport treiben und haben viel Freizeit.
Unsere Arbeit dient nicht nur der Existenzsicherung, zumindest bei den meisten. Vom Tod wollen wir nichts mehr
wissen. Ganz reiche Menschen arbeiten auf ihre Unsterblichkeit hin.
Tod. Er ist in Wirklichkeit aber auch
nicht unser Feind.
Erst in den letzten Wochen lehrte uns
ein Freund, wie gutes Sterben - und
davor, wie gutes Leben geht. Er ist von
uns gegangen mit einer großen Hoffnung. Von ihm dürfen wir uns in diesem
Magazin verabschieden, er hatte uns
immer wieder mit seinen Beiträgen beschenkt.
Und dann gibt es noch Menschen, die
das Leben nicht aushalten und sterben
wollen. Vielleicht halten sie aber auch
die Realität des Todes nicht aus. Ich
denke schon, dass manche Menschen,
die den Suizid wählen, sich nicht vom
Tod bestimmen lassen wollen. Vielleicht
haben sie soviel Angst vor dem Leben,
vor dem Leid und vor dem Tod, dass
Trotzdem haben wir ihn nicht besiegt,
den Tod! Bis jetzt trifft er immer noch
uns alle! Wir sind sterblich. Nicht wenig
Menschen werden aus dem Leben gerissen, obwohl sie noch gar nicht so alt
sind und obwohl sie immer gesund gelebt haben. Er ist nicht besiegbar – der
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sie einfach das Wann und Wie selbst
bestimmen wollen?
Wer oder was ist TABOR e.V.
Im Juristendeutsch sind wir ein Verein zur ganzheitlichen Unterstützung strafentlassener und anderweitig sozial belasteter Menschen.
Im normalen Sprachgebrauch sind wir eine Gemeinschaft von Christen, die sich ein wenig um
Menschen in Not, insbesondere um strafgefangene
und strafentlassene Menschen annehmen will.
‚Hilfe zur Selbsthilfe‘ ist unser Prinzip. Einige von
uns (z.Zt. sind wir 17 Leute) wohnen in einer Wohngemeinschaft außerhalb von München (Moosach bei
Glonn) zusammen. Dort versuchen wir uns gegenseitig Stütze auf dem manchmal beschwerlichen
Weg ins und durchs Leben zu sein. Wer nach der
Haft oder aus einer anderen sozialen Notlage heraus neu anfangen will, sein Leben ohne Alkohol,
Drogen und Kriminalität zu gestalten, der kann sich,
wenn er/sie bei uns leben will, bewerben. Wir sind
eine christlich-katholische Gemeinschaft. Wir versuchen darauf zu vertrauen, dass ER, Jesus Christus,
der Weg zum Leben ist. Zum täglichen Abendgebet,
zur Frühmesse und zum monatlichen ,Hausgottesdienst‘ laden wir ein; der Besuch ist aber freiwillig!
Einige Male im Jahr besuchen wir die umliegenden
Gefängnisse, um den Menschen dort im Gottesdienst mit Liedern und persönlichen Lebenszeugnissen Mut zu machen. In manchen Gefängnissen
bieten wir wöchentliche Gesprächsgruppen an. Auch
in Pfarrgemeinden gestalten wir schon mal den
Gottesdienst mit, um so die Christen dort auf manche Not in unserem Land hinzuweisen und Vorurteile und Berührungsängste abzubauen.
Manchmal besuchen uns in unserer Wohngemeinschaft Jugend- oder Firmgruppen, um zu sehen, wie
wir miteinander leben. Wir besuchen auch im Religionsunterricht Schüler/innen ab dem 9. Jahrgang,
um von Knast, Drogen, Kriminalität, Neuanfang und
beginnender Heilung zu erzählen. Das sind oft tiefe
Begegnungen.
Alle Leute in unserer Tabor-Gemeinschaft und im
Verein arbeiten ehrenamtlich und ohne Bezahlung.
Unser Verein erhält keinerlei staatliche oder kirchliche finanzielle Unterstützung und trägt sich weitgehend aus Eigenleistungen und Spenden.
Wenn Du Interesse hast, melde dich, mach’ mit, leb’
mit oder besuch uns! Vorstand: Ingrid Trischler, Josef Six, Konrad Brand
Hausleitung: Norbert Trischler
Altenburg 33, 85665 Moosach
Tel.: 08091/558615
info@tabor-ev.de
Manchmal sind wir ja auch schon lebendig tot. Und dies passiert wahrscheinlich am häufigsten in einer Gesellschaft wie der unseren. In einer Gesellschaft, in der wir zwar alles haben,
aber mehr als anderswo unter Einsamkeit und Unzufriedenheit leiden. Das
Leben gibt uns nichts mehr – und der
Tod?
In diesem Magazin berichten die
Schreiber davon, wie es ihnen mit Tod
und Sterben geht und wie es ihnen mit
dem Tod nahestehender Menschen
gegangen ist. Vielleicht lebt es sich
leichter und besser, wenn der Tod sein
darf, wenn wir mit ihm leben und die
Vergänglichkeit als Chance erkennen.
Ein Leben vor dem Tod gibt es wahrscheinlich nur für den, der Tod, Sterben
und Vergänglichkeit akzeptieren kann
und dadurch fröhlich und gelassen wird.
Wahrscheinlich gäbe es auch kein Raffen und keine Kriege mehr, wenn wir
den Tod hinnehmen könnten und wenn
wir mit ihm leben könnten. Wir würden
wissen, dass wir nicht für den großen
Reichtum leben, sondern für das Glück,
für uns selbst und für die anderen, für
das Fest und die Einfachheit.
Einen nachdenklichen Monat November
und einen frohen Advent
wünscht Euch/Ihnen
Ingrid
Vorsitzende des Tabor e.V.
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digung für unsere Augen. Menschen beginnen zu sterben, wenn sie nicht mehr
angesehen werden. Ohne Ansehen kann
keiner sein. Der soziale Tod ist oft noch
schmerzlicher als das reale Sterben.
Der Tod vor dem Tod
Petrus Ceelen war viele Jahre Gefängnisseelsorger und Seelsorger für Menschen am Rande. Er hat viele kranke Insassen, Drogenabhängige, Wohnsitzlose, Aidskranke auf der
letzten Strecke begleitet und auch ihre Trauerfeier gehalten.-- Ein Plädoyer für die Armen!
Am Straßenrand sitzt ein Bettler. Er macht
uns hilflos. Wie helfen? Was geben? Habe
wir uns auch schon einmal gefragt: Was
gibt uns der Bettler? Der Bettler am Boden
gibt uns einen anderen Blickwinkel. Er lässt
uns das Leben von unten sehen. ... Von
unten siehst du mehr als von oben. Die
Bettlerin hält mir meine Bedürftigkeit vor
Augen. Der Straftäter zeigt mir meinen
dunklen Bruder. Der Mörder führt mich hin
zu meiner Leiche im Keller. Durch
die Drogenabhängigen komme ich
meiner Sucht auf die Spur. Auch ich
habe das Todesurteil in der Tasche,
sagen mir die Aidskranken. Die
Obdachlosen zeigen mir, dass auch
ich eigentlich ofw = ohne festen
Wohnsitz bin. Menschen, die keine
Bleibe und oft nicht einmal das
Geld für eine Brille haben, verhelfen
mir zum Durchblick: Ich bin nur auf
der Durchreise. Die Menschen am
Rand führen mir vor Augen, was mir
auf meinem Lebensweg alles erspart geblieben ist. Von Kindesbeinen an. Ich hatte das große Glück,
dass ich in einer ,normalen‘ Familie aufwachsen durfte, Nestwärme erfahren habe.
Andere dagegen waren schon auf der Verliererstraße, bevor sie auf die Welt kamen.
Meine Damen und Herren!
Ich möchte Sie gewissermaßen an die
Hand nehmen und zu den Menschen führen, die keine Damen und Herren sind.
Zwischen ihnen und uns liegen Welten, und trotzdem sind sie uns nahe. Männer
und Frauen, die am Rande unserer Gesellschaft stehen, an den Rand gedrängt, gedrückt werden. Manche sind richtig draußen, ohne ein Dach über dem Kopf. Aber
nicht nur Obdachlose, auch Bettler, Fixer,
Gefangene, Aidskranke, Straßenmädchen,
Stricher sind Außenseiter. Menschen am
Rande - sagen wir in der Mitte. Dabei sind
wir selbst außenstehende Betrachter.
Manchmal tun wir so, als ob wir nichts sehen. Oder wir verschließen die Augen und
wollen nicht sehen. Oft schauen wir weg,
als wären die armen Schlucker eine Belei-
Herbert wurde als uneheliches Kind hinund hergeschoben zwischen Mutter, Oma
und Tanten. Als ihn keiner mehr haben
wollte, blieb nur noch das Heim. Nach einigen Jahren holte Herberts Mutter ihn nach
Hause und sagte: „Jetzt hast du einen
neuen Vater.“ Und was für einen! Er missbrauchte den Jungen, aber Herbert dachte:
Dein Vater darf das. Er hat dich lieb. Später
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wurde Herbert Stricher; Stadtpark: rein und
raus. Ihn hat es oft angeekelt, wie die Freier um ein paar Euro feilschen. Herbert lebte eine Zeit lang sowohl mit einer Frau als
mit einem Mann zusammen. Er wusste
selbst wohl nicht, wo er eigentlich hingehört. „Ich habe alles mitgenommen, was ich
kriegen konnte. Hauptsache ein wenig
Wärme!“
Als es
Herbert ganz
schlecht ging, gab
er seinem besten
Freund Geld, damit
er ihm den Stoff für
den ,goldenen
Schuss‘ besorgt.
Doch der Freund
gab ihm eine lebensgefährliche
Mischung, u.a. mit
Strychnin und Rattengift. Als Herbert
mit 46 Jahren an
einer kaputten Leber starb, war das
noch ein relativ
gnädiger Tod im
Vergleich zu den
vielen Toden, die
Herbert bis dahin
gestorben war.
rückgeholt?“ schreit Doris den Rettungsarzt
nach erneuter Überdosis an. Auch ein ,richtiger Suizid‘ kann am Ende die letzte Lösung sein. Nadine hatte sich schon mehrere Male die Pulsadern aufgeschnitten, um
feststellen zu wollen, ob sie noch lebt.
„Dieses Mal“, so schreibt sie in ihrem Abschiedsbrief, „will ich nur noch sterben. Ich
empfinde mein Leben
nicht nur unaushaltbar.
Ich finde es unerträglich.
Wenn das Blut fließt,
spüre ich Erleichterung.“
Auch Nadines Angehörige waren erleichtert,
als es dann endlich vorbei war.
Manchen scheint nichts
zu fehlen. Aber sie können nicht mehr lachen.
Als wäre kein Leben
mehr in ihnen.
Der Tod ist mehr als ein
biologisches Phänomen,
viel mehr als der Exitus.
„Für uns bist du gestorben“, bekommt der kriminelle Sohn aus gutem
Hause zu hören. - „Für
mich bist du tot“, sagt
der Vater, als seine
Tochter sich als Lesbe outet. Es ist schwer,
mit dem Todesurteil der eigenen Familie zu
leben. Tödlich ist auch das Gefühl, von
Anderen abgeschrieben zu sein. Selbst der
,hoffnungslose Fall‘ braucht noch
Menschen, die ihn nicht fallen lassen.
Manches Leben ist ein langes, langsames
Sterben. Der ,Lebenslängliche‘ Max meint:
„Du lebst und bist doch schon tot. Du
stirbst jeden Tag und lebst weiter.“ Auch
viele Suchtkranke sterben jeden Tag ein
bisschen mehr. ‘Senf‘, ein alter Fixer sagt:
„Ich bin zu feige, mir einen Strick zu nehmen, und darum begehe ich Selbstmord
auf Raten.“ Die letzte Rate ist oft auch eine
Er-lösung, die einzige Lösung von einem
unlösbaren Problem. Länger leben heißt
vielfach auch länger leiden. „Wieso habt ihr
mich wieder in dieses Scheiß-Leben zu-
Gestorben wird nicht erst am Ende, sondern mitten im Leben. Ein Unfall, eine
Krankheit, ein Schicksalsschlag ist bei vielen der Anfang vom Ende. „Als mein Bruder
tödlich verunglückt ist, da begannen meine
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Eltern zu sterben. Meine Mutter bekam
Krebs und mein Vater Parkinson.“
Die Franzosen sagen: ,Jeder Abschied ist
ein kleiner Tod.‘ Das haben wir alle wohl
schon erfahren. Bei manchem Begräbnis
tragen wir einen Teil des eigenen Lebens
zu Grabe. „Ein Teil von mir stirbt mit dir!“
„Seit deinem Tod bin ich nur noch die Hälfte!“ Wie soll ein Mensch weiterleben, wenn
er sein ,Ein und Alles‘ verloren hat?
halb verwest in seiner Wohnung liegt. Meist
macht erst der überfüllte Briefkasten Nachbarn darauf aufmerksam, dass da etwas
nicht stimmt. Oder der starke Verwesungsgeruch. Manchmal kriechen die Maden
schon unter der Tür hervor. Das kommt
nicht nur in Hochhäusern und Wohnsilos
vor, sondern auch in Mehrfamilienhäusern.
In Stuttgart lag ein Mann 15 Monate tot in
seiner Wohnung. Niemand hatte ihn vermisst. Und auch die Rente wurde weiter
gezahlt.
Auch ein Suizid kann Nahestehenden das
Leben nehmen, erst
recht wenn
sie sich am
Tod (mit-)
schuldig
fühlen.
Unter seinen
Schuldgefühlen ist
schon mancher zusammengebrochen.
Selbsttötung
geschieht
vielfach
nicht so
freiwillig, wie
das Wort
Freitod vermuten lässt. Nicht wenige sind
so verzweifelt, dass sie am Ende keinen
anderen Ausweg mehr sehen, als in den
Tod zu gehen. Manchmal sind es die ,lieben Mitmenschen‘, die jemanden in den
Tod treiben. Auch Ausgrenzung und Missachtung führen dazu, dass Frauen und
Männer langsam aus der Gesellschaft heraussterben.
„Nur der ist tot,
der vergessen
ist“, heißt es.
Demnach sind
manche schon
vor ihrem Tod
tot. Menschen,
für die sich kein
Nachbar interessiert. Frauen
und Männer, die
niemandem
noch etwas bed e u t e n . G eschweige denn,
dass irgendjemand sich um
sie kümmert.
Der Tod vor dem
Tod fing bei manchen schon vor der Geburt
an - mit Fußtritten in den Bauch oder mit
einer versuchten Abtreibung. Einmal auf
der Welt, ging es mit der Gewalt erst richtig
los: Schläge, Prügel, Misshandlung, sexueller Missbrauch.
Bertold Brecht sagt: „Es gibt viele Arten zu
töten. Man kann einem ein Messer in den
Bauch stechen, einem das Brot entziehen,
einen von einer Krankheit nicht heilen, einen in eine schlechte Wohnung stecken,
einen durch Arbeit zu Tode schinden, einen
zum Suizid treiben, einen in den Krieg füh-
Mitten unter uns vergehen Menschen vor
Vereinsamung, sie gehen ein in ihren vier
Wänden. Immer wieder hören oder lesen
wir, dass jemand wochen-, ja monatelang
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ren usw. Nur weniges davon ist in unserem
Staat verboten.“
wir den Tod wieder ins Leben zurück. Das
Bewusstsein unserer Endlichkeit hilft uns,
endlich zu leben. Und leben ist mehr als
existieren. Am Leben sein ist noch nicht
leben. Leben ist mehr als überleben. Zum
Leben gehört die Liebe, die uns einfach da
sein lässt für die Menschen in Not, die unsere Hilfe vielfach brauchen.
Der Tod gilt als der große Gleichmacher.
Arme, Reiche, Klofrauen, Königinnen,
,Messis‘, Millionäre, Päpste, ,Penner‘ ... Für
den ,Schnitter‘ sind alle gleich. Endlich
Gleichberechtigung! Und doch ist das Gleiche ungleich anders. Auf der Intensivstation, umgeben von Apparaten und Pieps-Geräten, stirbt ein Mensch ganz anders als
daheim, im Kreis seiner Lieben. In den Armen seines Partners einzuschlafen ist kein
Vergleich zu dem einsamen Sterben der
Ungezählten, die im Angesicht des Todes
mit ihrer Angst allein sind. Es ist wie Tag
und Nacht, ob ein Mensch im Hospiz ,gepflegt‘ sein Leben beendet oder auf einer
Parkbank elend verendet. Oder der Fixer,
der mit der Spritze im Arm und dem Kopf in
der Kloschüssel tot aufgefunden wird.
Petrus Ceelen, in:
Am Rand - mitten unter uns,
Esslingen: der Hospizverlag, 2015, S.12-22
Hautnah erzählen Hartmuts
Narben von seinen vielen Toden.
Narben am Handgelenk von
durchschnittenen Pulsadern.
Narben auf dem Arm von
Selbstverletzungen. Hilfeschreie. Sich ins eigene Fleisch
schneiden, schnipseln: Verzweifelte Notrufe um Aufmerksamkeit und Zuwendung.
Narben an der Oberlippe und
über dem linken Auge. Andenken, an die Schläge des Vaters.
Narben am Kiefer von einem
doppelten Kieferbruch.
Narben an Oberschenkel und
Bauch -überlebte Messerstiche.
Und dann sind da noch die vielen
Narben von den Löchern, die er
sich mit einer Zigarette in die
Haut gebrannt hat.
Und auch die Abszesse von Heroin und Kokain haben Narben
hinterlassen.
„Aber die größte Narbe bin
ich“, sagt der 1 Meter 85 große
Hartmut mit 32 Jahren.
Und auch nach dem Tod macht ,Freund
Hein‘ noch große Unterschiede zwischen
Menschen am Rande und denen in der
Mitte. Der arme Schlucker liegt im Flügelhemd in der billigsten Kiste. Oder er wird
gleich in einem Zinnsarg abgelegt und verschwindet sang- und klanglos. Es muss ja
keine pompöse Trauerfeier mit einer teuren
Truhe sein, aber jeder Mensch hat es verdient, dass er am Ende seines Lebens
noch einmal in die Mitte genommen und
gewürdigt wird. Nein, es ist nicht gleich-gültig, ob ein Mensch anonym unter den Rasen kommt oder sein eigenes Grab bekommt.
Meine Damen und Herren! Stellen wir die
Frauen und Männer am Rand in die Mitte.
Nehmen wir die Vergessenen in den Blick.
Sie öffnen uns die Augen für den Tod mitten im Leben. Mitten unter uns.
Wir verdrängen den Tod ans Ende unserer
Tage, drängen den Friedhof an den äußersten Rand unserer Gemeinden. Holen
Petrus Ceelen
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Nun, liebe Freunde, es gibt immer eine
Verbindung mit dem Sterben und der Trauer. Jedoch auch ein bisschen einen Grund
zu feiern. In der aktuellen Situation danke
ich meiner Mutter, dass sie mir mit Hilfe
von Gott das Leben schenkte. Ich danke
ihr, dass sie immer an meiner Seite war,
mich nie fallen hat lassen, eher getragen.
Ich war mit Sicherheit kein Sohn, den man
sich unbedingt wünscht, aber meine Mutter
hat immer um mich gekämpft und letztendlich dazu beigetragen, dass sie noch einen
anständigen und liebevollen Sohn seit 27
Jahren erleben durfte.
Gott gebe uns die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die wir nicht
ändern können, den
Mut, Dinge zu ändern,
die wir ändern können
und die Weisheit, das
eine vom anderen zu
unterscheiden.
Ich danke Euch, liebe Tabor-Freunde!
In diesem Sinne, liebe Freunde, will ich
Euch meine Erfahrungen mit dem Sterben
und dem Tod mitteilen.
Euer Herbert
1987 ist während einer meiner vielen Gefängnisaufenthalte mein Vater an Krebs
gestorben und ich durfte in Begleitung von
zwei Beamten der Beerdigung beiwohnen.
Die Tage davor und danach begleiteten
mich große Schmerzen. Ich legte damals
ein Versprechen ab, dass ich mich ernsthaft bemühe, nicht mehr straffällig zu werden. Dies gelang mir bisher seit 27 Jahren.
Memento
Vor meinem eigenen Tod
ist mir nicht bang,
nur vor dem Tode derer,
die mir nah sind.
Wie soll ich leben,
wenn sie nicht mehr da sind?
Allein im Nebel tast‘ ich todentlang
und lass mich willig
in das Dunkel treiben.
Das Gehen schmerzt nicht
halb so wie das Bleiben.
Der weiß es wohl,
dem Gleiches widerfuhr;
Und die es trugen,
mögen mir vergeben.
Bedenkt: den eigenen Tod,
den stirbt man nur,
doch mit dem Tod der andern
muss man leben.
Am 12. Januar diesen Jahres hatte ich
einen Herzinfarkt mit Herzstillstand und war
für kurze Zeit tot. Dies war ein friedliches
und sehr glückliches Erlebnis. Seit diesem
Tag habe ich keine Angst mehr vor dem
Sterben, jedoch Angst leiden zu müssen.
Dies musste meine Mutter, die am 27. Juli
2015 gestorben ist, nicht. Sie durfte friedlich und schmerzfrei mit 87 Jahren einschlafen. Inzwischen ist sie nach ihrem
Wunsch verbrannt worden und die Beisetzung ist am 13.08.2015. Da sie keinen
Pfarrer etc. wollte, werde ich wohl die
Grabrede halten und bitte Gott um die nötige Kraft.
(Mascha Kaleko)
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Ja, manchmal denke ich, das habe ich
doch schon einmal erlebt. Das Ganze fing
mit dem Tod meiner Mutter an, da war ich
siebeneinhalb Jahre. Meine Mutter kam
damals durch meinen Vater um - laut Gericht durch Gift.
Ich steh‘ am Grab
meiner Tochter
Wenn ich ans Sterben denke, so begleitet
es mich schon lange. Und doch ist es wieder ganz neu durch das Sterben unserer
Tochter, die im August letzten Jahres ihr
Leben vor der S-Bahn beendete. Sicher
wusste sie nicht, was sie da tat, und welche brutale Folgen es hat. Doch wir müssen damit weiter leben.
Seitdem fehlt mir etwas im Leben. Innerlich
ist etwas in mir tot. Ich war gefangen in
Selbstmitleid, Neid, Anhänglichkeit. Ich
suchte nach Anerkennung und hatte große
Selbstzweifel. Ich brauchte für mein Leben
viele Helfer.
In einem Seminar lernte ich,
dass ich mich für das Leben
entscheiden muss.
Nachdem ich mit vierzig
Jahren mein Leben Jesus
übergeben hatte, setzte ein
gewaltiger Prozess des Wandels in mir ein. Ich betete,
dass ich vergeben konnte,
und nach zehn Jahren
schenkte mir Jesus diese
Gnade. Es war, als zog mir
jemand einen Stachel aus
dem Fleisch.
Mit meinem Vater konnte ich
mich nie versöhnen. Ich war
damals dazu unfähig, denn er
nahm sich das Leben - auf
den Bahngleisen.
Viele Male starb ich innerlich,
doch durch die Gnade Gottes
konnte ich wieder aufstehen.
Nichts schien so schlimm zu
sein wie der Verlust der
Mutter.
Doch jetzt bin ich selber
Mutter und stehe vor dem
Grab meiner Tochter.
Juliane
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ne Verbitterung über dieses Urteil zu ertragen. Einfach so!
Aus einer Todeszelle
in Arizona/USA
Ich finde, das die Deutschen besondere
Menschen sind. Amerika könnte sehr viel
von diesen starken, gelassenen Deutschen
lernen, die wirklich verstehen, wie man sich
fühlt, unschuldig verurteilt zu sein. Das tut
mir sehr gut, und ich fühle mich heute sogar besser als vorher. Ich liebe die Deutschen, und durch die Toedts habe ich
Menschen kennen gelernt, durch deren
Briefe ich Kraft bekommen. Wenn die Post
durch meine Tür kommt mit einer internationalen Briefmarke, dann weiß ich, sie
kommt aus Deutschland mit Liebe.
Ich fühle mich an keinem Tag unglücklich,
ich richte meinen Blick auf das falsche amerikanische Rechtssystem, denn unser
Land ist auf einem Auge blind. 142 unschuldig Verurteilte wurden aus den Todeszellen in den letzten Jahren entlassen. Kein
Wunder, dass wir zu diesem Thema sogar
eine Fernsehserie haben, die von Robert
Redford produziert wurde. Erst kürzlich
berichtete CNN, dass über 2000 falsche
DNA-Tests an die Gefängnisse verschickt
wurden, darunter viele von Menschen, die
unschuldig in den Todeszellen saßen. Etliche waren schon hingerichtet worden.
Es gibt Menschen auf dieser Welt, die sind
wie Säulen auf dieser Erde. Sie geben uns
Kraft und Liebe. Nicht weil wir sind wie sie
sondern auf Grund dessen, was wir sind Kinder Gottes.
Mein Name ist Shawna Forde, und ich sitze
ein in der
Todeszelle in
Arizona/USA,
verurteilt zum
Tode. Nicht
weil ich jemanden umgebracht
habe, sondern weil ich
als Komplizin
verdächtigt
werde, obwohl ich nicht
am Tatort
gewesen bin.
Ich habe keine kriminelle Vergangenheit,
es gibt keine Beweise für eine Tatbeteiligung. Doch nun sitze ich hier in meiner
kleinen Zelle in Erwartung meiner Gerechtigkeit. Das hätte ich mir vorher niemals
vorstellen können. Ich lebe in Einzelhaft,
d.h. keinen menschlichen Kontakt, keine
menschliche Gesellschaft. Briefe sind die
einzige Brücke zur Außenwelt für mich.
Europa lehnt es ab, Giftstoffe für die Todesinjektionen an die USA zu liefern. Trotzdem
sind manche Staaten wild entschlossen zu
töten. Sie greifen dabei mit Macht zurück
auf alte Methoden. So wie beispielsweise
der Bundesstaat Utah: Dort wurde ein Gesetz verabschiedet, das den Einsatz eines
Exekutionskommandos vorsieht! Arizona,
wo ich einsitze, brauchte 2014 einmal zwei
Stunden, um einen Mann hinzurichten und
nannte das einen Erfolg!
Wenn ich nun hier sitze und darüber nachdenke, wie Amerika so drakonisch sein
Recht auf Durchführung der Hinrichtungen
beibehalten will, schaue ich auf große Na-
EinesTages erreichte mich ein Brief aus
Deutschland, mit viel Liebe geschrieben. Er
kam ohne Vorankündigung, ohne dass ich
eine Ahnung davon hatte. Monika und
Henry Toedt aus Hammelburg kamen in
mein Leben und umarmten mich. Sie wollten mir helfen, meine Einsamkeit und mei11
tionen wie Deutschland. Ich wundere mich
darüber, wie Deutschland es geschafft hat,
dass Hinrichtungen nicht mehr eine rechtsstaatliche Art der Bestrafung sind.
Wir Amerikaner versuchen der Welt zu erzählen, wir seien ein fortschrittliches Land.
Und doch stecken wir Menschen ohne die
kleinsten Beweise in Todeszellen mit der
Androhung, sie
nach 20 oder
25 Jahren
zu töten.
W i r b ezahlen
Millionen
von Dollar für
jeden Fall,
und am Ende
werden zur Zeit
24%
dieser
Menschen hingerichtet - ja 24%! Bei über
50% der zum Tode verurteilten Menschen
werden die Urteile gekippt. Die Weisheit
daraus ist, dass wir von Ländern wie
Deutschland lernen könnten. Es wäre ein
riesiger Vorteil, wenn wir gerade in dieser
Beziehung etliches von Deutschland übernehmen würden.
Deutsche Menschen wie die Toedts segnen
mich mit dem Strahl der Liebe, sodass ich
heute auf Deutschland mit Liebe schaue.
Wer traut sich
„Der Sommer ist vorüber und du willst noch
raus? Wir sind hier am Sterben.“ - „Aber die
Sonne scheint, es ist warm! Es duftet so verlockend und süß.“ - „Wenn du rausfliegst, wirst
du bald sterben. Die Dunkelheit wird dich
überraschen. Du hast kein Gefühl für diese
späten Herbsttage. Da wird es kühl, schnell
kühl. Du könntest erstarren. Wir sind hier, um
unseren Lebensabend zu verbringen. Wir
haben alles gehabt“. - „Aber das Leben ist
doch noch nicht vorbei. Ich könnte Herbstfarben sehen, letzten Nektar schlürfen.“ - „Das
ist zu gefährlich! So mancher Artgenosse ist
von so einem späten Flug nicht heimgekehrt.
Die Tage werden kürzen, die Nächte länger.
Neulich hat es schon mal kurz geschneit. Du
wagst zu viel, wenn du rausfliegst.“ - „Ihr traut
euch nur nicht, weil ihr Angst habt“ - „Es ist
nur vernünftig, sich im November einzuwintern“. - „Aber ich rieche so einen verlockenden Duft, wie ich ihn noch nie in meinem Leben aufgenommen habe! Ich glaube, das ist
von einer Pflanze, die ihr noch gar nicht
kennt.“ - „Ja, der Duft ist neu. Aber die Erfahrung lehrt, daheim zu bleiben, nichts zu riskieren, sein Leben nicht aufs Spiel zu setzen.“
„Ich will es aber wagen!“
Und nach diesen Worten verließ die Hummel
den Winterplatz ihrer Gefährten und flog hinaus in die herbstliche Landschaft. Wie groß
war das Wunder, als sie zurückkam. Ihr Körper
duftete über und über nach einer Rosenart,
wie sie alle es noch nie erschnuppert hatten.
Da gab es kein Halten mehr.
„Mammi, Mammi guck mal, da fliegen lauter
Hummeln in unserem Garten“ „Das verwundert mich aber sehr, diese Insekten noch im
November fliegen zu sehen.“
„Sie alle stürzen sich auf die letzte blühende
Rose im Garten!“ - „Welch ein Wunder!“
Shawna Forde, übersetzt von Henry Toedt
Vielleicht möchte mir noch jemand schreiben
(in Englisch), meine Adresse lautet:
Shawna Forde
# 260830 Unit Lumly
ASPC Perryville
P.O. Box 3300
Goodyear, AZ 85395
Arizona/USA
(verfasst von Gerhard Karrer)
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bei Ihnen durchgeführten Bluttest wurde
nachgewiesen, dass Sie kein Drogenkonsument sind. Auch kann man Ihnen keine
Lagerung oder Verkauf von Drogen nachweisen. Der Drogenhund hat nur im Zimmer Ihres Sohnes angeschlagen, es wurden aber keine Drogen gefunden. Nun ist
es wohl so, dass Sie wegen Mitwisserschaft angeklagt werden könnten und darauf gibt es bis zu fünf Jahren Haft.“ Anwaltsbesuch beendet! Ich muss dazu sagen, dass Biggi einer der treuesten und
ehrlichsten Menschen war,
die ich je kannte. Sie kam
vom Anwalt zurück, rannte
in meine Arme und war am
Ende. Der Anwalt sagte
nichts von Zeugnisverweigerungsrecht oder dass
man nicht verpflichtet ist,
einen Verwandten anzuzeigen und sie damit aus der
Nummer raus wäre.
Meine liebe Freundin weinte die ganze Nacht. Am
Samstag früh weckte sie
mich. ,Moni, komm mal
runter, mir geht es nicht
gut!‘ sagte sie. Etwas genervt stand ich auf und
erschrak, weil ihr schlumpfblauer Schlafanzug dunkelblau vom Schwitzen war. Sie bekam Durchfall. (,Gott sei Dank, das Abführmittel
wirkt!‘) Sie fing an, sich zu übergeben
(Scheiß Übelkeit), sie lief unruhig hin und
her (Scheiß innere Unruhe!), sie lag über
meinen Beinen, während sie sich übergab,
ich massierte sie und machte kalte Umschläge. Ich wollte auf den Notknopf, doch
sie sagte: ,Nein, geht gleich wieder!‘
Biggi legte sich mit dem Kopf in meinen
Schoß, ich streichelte sie, wechselte den
kalten Lappen und versuchte sie zu beru-
Sterben im Knast
Wenn ich ans Sterben denke, dann denke
ich an meine Freundin Biggi. 2004 saß ich
in der JVA Würzburg. Oft bilden sich in
Gefangenschaft für die Zeit der Inhaftierung ganz enge Freundschaften, die einem
die Zeit erleichtern.
In meinem Fall war es so. Biggi und ich
teilten eine Zelle, unser Essen, Post von
draußen. Wir träumten von der Zukunft und
gaben uns Halt.
Biggi war in Untersuchungshaft,
weil ein Drogendealer hochgenommen wurde.
Dieser war der
Meinung: ,Je
mehr Namen ich
nenne und Leute
hinhänge, desto
weniger Strafe
bekomme ich!‘ So
brachte er meine
damals 52-jährige
Freundin Biggi
und ihren 19-jährigen Sohn in den
Knast. Die U-Haft
war die Hölle für
sie. Ihr krebskranker Ehemann kam in ein
Pflegeheim, ihr treuer Hund ins Tierheim
und ihr zweiter Sohn wandte sich ab. Ihr
Körper reagierte mit Verstopfung, Übelkeit,
innerer Unruhe, Alpträumen und Heulanfällen. Ich war da, hörte zu, machte Mut und
tröstete. Sie bekam Abführmittel, Antidepressiva, Medikamente gegen Übelkeit und
am 26. 11.04 Besuch von ihrem Anwalt.
Dieser teilte ihr mit:
„Frau L., durch einen Drogenhund, der Ihre
Wohnung durchsuchte, und durch einen
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higen. Plötzlich drehte sie ihren Kopf nach
hinten, rollte ihre Augen nach hinten und
bekam Atemnot. Ich war im Stockbett eingeklemmt, rechts von mir die Leiter, links
die Schüssel mit Wasser und in meinem
Schoß lag Biggi. Irgendwie kam ich raus
und ging auf den Notruf. Es dauerte ewig,
Samstag morgen 8.30 Uhr, kein Beamter
weit und breit. Dann meldete sich die Torwache: ,Ja?‘ - Ich stammelte: , Frau L. geht
es nicht gut!‘ - ,Ja, kommt gleich jemand!‘
Gefühlte 100 Jahre später kam der Sanitäter, sperrte auf und ich konnte raus. Eine
Beamtin sperrte mich zum Hausmädchen
und das war es dann. Vier Stunden später
wurde ich geholt. In der Küche saßen zwei
Männer, vor der Küche standen wie im
Kino alle, die was zu sagen haben: Erster
und zweiter Chef der JVA, erste und zweite
Chefin der Beamten, evangelischer und
katholischer Pfarrer. Ich betrat die Küche
und einer der beiden Herren sagte: ,Guten
Tag, Kripo Würzburg. Sie haben ja gehört,
dass Frau L. verstorben ist?‘
,Was, tot?‘ Darauf folgte der totale Zusammenbruch. Das Leben ging weiter, ohne Biggi. Im April
2005 bekam ich dann auf Grund des Traumas Halbstrafe mit der Auflage, Therapie
zu machen.
2014 wurde ich wieder verhaftet. Auf dem
Weg von Frankfurt nach Aichach musste
ich eine Woche in Würzburg bleiben. Panik, Erinnerungen und Wut - alles war wieder da. Auf der Krankenabteilung traf ich
nach zehn Jahren den Sanitäter von damals wieder. Er erkannte mich sofort. Ich
erzählte ihm von meinen Schuldgefühlen
und der Panik vor verschlossenen Zellen.
Er erzählte mir, dass Biggi nicht mehr leben
wollte. Man hat sie sieben mal wieder belebt. Beim achten mal ließ man sie gehen.
Sie starb an einem Herzinfarkt. Ihr gebro-
chenes Herz wollte keine fünf Jahre in Haft
bleiben, nur weil sie ihren Sohn nicht an die
Polizei verriet, ein anderer aber ihren Namen verriet, um besser davon zu kommen.
Wenn ich ans Sterben denke, dann denke
ich an Biggi und den Song ,tears in heaven‘.
Monika, JVA Aichach
Es gibt nichts, was uns die Abwesenheit eines lieben Menschen ersetzen kann, und man soll es auch
gar nicht versuchen. Man muss es
einfach aushalten und durchhalten.
Das klingt zunächst sehr hart; aber
es ist zugleich doch ein großer
Trost: Denn insofern die Lücke
wirklich unausgefüllt bleibt, bleibt
man durch sie miteinander verbunden.
Es ist verkehrt, wenn man sagt,
Gott füllt die Lücke aus. Er füllt sie
gar nicht aus, sondern hält sie vielmehr gerade unausgefüllt und hilft
uns dadurch – wenn auch unter
Schmerzen –, unsere Gemeinschaft
miteinander zu bewahren.
Je schöner und voller die Erinnerung, desto schwerer die Trennung.
Aber die Dankbarkeit verwandelt
die Qual in eine stille Freude. Man
trägt das Vergangene in sich wie ein
kostbares Geschenk, wie einen verborgenen Schatz, dessen man sich
gewiss ist. Dann geht Kraft und
dauernde Freude von dem Vergangenen aus.
Dietrich Bonhoeffer
14
Tunnel bewegt. Danach befindet er sich
plötzlich außerhalb seines Körpers, jedoch
in derselben Umgebung wie zuvor. Als ob
Nah-Tod-Erfahrungen
er ein Beobachter wäre, blickt er nun aus
einiger Entfernung auf seinen eigenen KörZusammen mit Elisabeth Kübler-Ross gilt per. In seinen Gefühlen zutiefst aufgewühlt,
Raymond Moody als Pionier der Sterbefor- wohnt er von diesem seltsamen Beobachschung. Mit seinem Bestseller „Leben nach tungsposten aus den Wiederbelebungverdem Tod“, in dem er Fälle von Nahtoder- suchen bei.
fahrungen schilderte, weckte er 1975 welt- Nach einiger Zeit fängt er sich und beginnt,
sich immer mehr an seinen merkwürdigen
weit das Interesse für dieses Phänomen.
Zustand zu gewöhnen.
Wie er entdeckt, besitzt
er noch immer einen
"Körper", der sich jedoch sowohl seiner
Beschaffenheit als auch
seinen Fähigkeiten
nach wesentlich von
dem physischen Körper, den er zurückgelassen hat, unterscheidet. Bald kommt es zu
neuen Ereignissen.
Andere Wesen nähern
sich dem Sterbenden,
um ihn zu begrüßen
und ihm zu helfen. Er
erblickt die Geistwesen
bereits verstorbener
Verwandter und Freunde und ein Licht und
Dieses Bild hat Anne zur Linden kurz vor ihrem Tod gemalt.
Wärme ausstrahlendes
Wesen,
wie er es noch
Raymond Moody fasste die geschildernie
gesehen
hat,
ein
Lichtwesen,
erscheint
ten Nahtoderfahrungen exemplarisch
vor
ihm.
Dieses
Wesen
richtet
ohne
Wort
zusammen:
zu
gebrauchen
eine
Frage
an
ihn,
die
ihn
"Ein Mensch liegt im Sterben. Während
dazu
bewegen
soll,
sein
Leben
als
Ganzes
seine körperliche Bedrängnis sich dem
Höhepunkt nähert, hört er, wie der Arzt ihn zu bewerten. Es hilft ihm dabei, indem es
für tot erklärt. Mit einem Mal nimmt er ein das Panorama der wichtigsten Stationen
unangenehmes Geräusch wahr, ein durch- seines Lebens in einer blitzschnellen
Rückschau an ihm vorüberziehen lässt.
dringendes Läuten oder Brummen, und
zugleich hat er das Gefühl. dass er sich Einmal scheint es dem Sterbenden, als ob
sehr rasch durch einen langen, dunklen er sich einer Art Schranke oder Grenze
Der Weg ins Licht
15
nähere, die offenbar die Scheidelinie zwischen dem irdischen und dem folgenden
Leben darstellt. Doch ihm wird klar, dass er
zur Erde zurückkehren muss, da der Zeitpunkt seines Todes noch nicht gekommen
ist. Er sträubt sich dagegen, denn seine
Erfahrungen mit dem jenseitigen Leben
haben ihn so sehr gefangen genommen,
dass er nun nicht mehr umkehren möchte.
Er ist von überwältigenden Gefühlen der
Freude, der Liebe und des Friedens erfüllt.
Trotz seines inneren Widerstandes - und
ohne zu wissen, wie - vereinigt er sich
dennoch wieder mit seinem physischen
Körper und lebt weiter.
befindet, zu dem es den Sterbenden hinzieht: das Tunnel-Erlebnis. Sie werden mit
hoher Geschwindigkeit zum Licht gezogen,
das sehr hell, aber nicht blendend ist.
- Wahrnehmung einer außerweltlichen Umgebung, einer wundervollen Landschaft mit
herrlichen Farben, schönen Blumen und
manchmal auch Musik.
- Begegnung und Kommunikation mit
Verstorbenen.
- Begegnung mit einem strahlenden Licht
oder einem Wesen aus Licht. Die Erfahrung vollkommener Akzeptanz und bedingungsloser Liebe. Man tritt mit tiefem Wissen und Weisheit in Kontakt.
- Lebensschau, Lebenspanorama oder
Rückblick auf den Verlauf des Lebens seit
der Geburt. Alles wird noch einmal durchlebt. Man überblickt das ganze Leben in
einem einzigen Augenblick, es gibt weder
Zeit noch Distanz, alles ist gleichzeitig,
man kann tagelang über diese Lebensschau sprechen, die nur einige Minuten
dauerte.
- Vorausschau. Man hat das Gefühl, einen
Teil des Lebens, der vor einem liegt, zu
überblicken und zu betrachten. Auch hier
gibt es weder Zeit noch Distanz.
- Das Wahrnehmen einer Grenze. Man
erkennt, dass nach dem Überschreiten
dieser Grenze keine Rückkehr in den eigenen Körper mehr möglich ist.
- Die bewusste Rückkehr in den Körper. Es
erfordert große Anstrengung, diese schöne
Umgebung wieder zu verlassen. Nach der
Rückkehr in den kranken Körper empfindet
man tiefe Enttäuschung darüber, dass einem so etwas Herrliches genommen wurde.
Bei einer Nahtoderfahrung müssen nicht
zwangsläufig alle genannten Elemente
auftreten, doch ist in der Regel eine Einordnung in dieses Muster möglich.
Bei seinen späteren Versuchen, anderen
Menschen von seinem Erlebnis zu berichten, trifft er auf große Schwierigkeiten. Zunächst einmal vermag er keine menschlichen Worte zu finden, mit denen sich überirdische Geschehnisse dieser Art angemessen ausdrücken ließen. Da er zudem
entdeckt, dass man ihm mit Spott begegnet, gibt er es ganz auf, anderen davon zu
erzählen. Dennoch hinterlässt das Erlebnis
tiefe Spuren in seinem Leben; es beeinflusst namentlich die Art, wie der jeweilige
Mensch dem Tod gegenübersteht und dessen Beziehung zum Leben auffasst."
Moody teilte die Nahtoderfahrungen systematisch in verschiedene Elemente auf:
- Das Unaussprechliche der Erfahrung.
- Ein Gefühl des Friedens und der Ruhe.
Der Schmerz ist verschwunden.
- Die Erkenntnis, tot zu sein. Manchmal ist
danach auch ein Geräusch zu hören.
- Ein Verlassen des Körpers oder eine außerkörperliche Erfahrung. Die eigene Reanimation oder Operation wird von einer
Position außer- und oberhalb des eigenen
Körpers aus wahrgenommen.
- Aufenthalt in einem dunklen Raum, an
dessen Ende sich ein kleiner Lichtfleck
Andreas
16
Krankenhaus benachrichtigt. In diesem
Moment ist meine Welt zusammen gebrochen und liegt heute noch in Millionen von
Einzelteilen vor mir.
Mein geliebter Papa
Gitti schreibt ihrem verstorbenen Vater
einen Abschiedsbrief.
Du weißt, ich habe dich sehr geliebt und
liebe dich heute noch sehr. Egal, was war:
ob Streit oder Ärger - du warst immer für
mich da. Du hast mir den rechten Weg
gezeigt und mich ein großes Stück darauf
begleitet. Du hast mich nie aufgegeben und
mir stets eine neue Chance gegeben. Dafür danke ich dir von ganzem Herzen.
Es ist jetzt fast vier Jahre her, seitdem du
nicht mehr bei uns bist. Ich vermisse dich
so sehr. Kann es nicht in Worte fassen, wie
sehr du mir fehlst. Ich träume oft von dir
und höre deine Stimme. Manchmal, wenn
ich in den Himmel schaue, denke ich, dass
ich dich auf einer Wolken sitzen sehe. Du
Ich weiß: Ich war nicht immer eine
einfache Tochter und habe dir Kummer und Sorgen bereitet, war
manchmal auch gemein zu dir, dachte nur an mich. Das tut mir heute
unendlich leid und ich bitte dich dafür
um Vergebung.
Einmal war ich eine Woche lang böse
auf dich, weil du mir eine Ohrfeige
gegeben hast. Ich war mit 14 Jahren
eine Nacht nicht nach Hause gekommen, du hast mich zur Rede gestellt, ich habe dir patzige Antworten
gegeben und dich provoziert, bis dir
die Hand ausrutschte. Nach einer
Woche hielten wir beide das Sich-Anschweigen nicht mehr aus und haben uns
wieder vertragen. Gut, du hattest auch deine Schwächen, warst kein Übermensch
und machtest auch Fehler. Vielleicht mag
ich gerade das an dir.
schaust zu mir herunter, lächelst und
winkst mir zu. Wenigstens in meinen Träumen kann ich dir ganz nahe sein. Wenn ich
dann wach werde, riecht es überall nach
dir, nach deinem Parfum, und mir ist ganz
warm. Ich möchte dann gar nicht aufwachen, weil ich einfach bei dir sein möchte.
Ich hätte noch so viele Fragen an dich,
würde so gerne noch einmal mit dir sprechen deine Stimme hören, dich noch einmal umarmen.
Jetzt bleibt mir nur noch das AbschiedNehmen. Ich will dich gehen lassen in deine neue Welt. Ich weiß, dass es dir dort gut
geht. Dort werden wir uns irgendwann wieder sehen. Bis dahin hast du in meinem
Herzen einen festen Platz, in meinem Herzen bist du immer da.
Ich denke an dich! Ich vermisse dich! Ich
liebe dich!
An dem Tag, an dem du starbst, war ich zu
Hause und lief den ganzen Tag auf und ab.
Um 19.15 Uhr bin ich auf einmal von der
Couch aufgesprungen und wusste, dass du
stirbst. Um 22.40 Uhr hat mich dann das
Deine Tochter Gitti
17
drei Titanblättchen im Schädel erwachte ich
aus der Narkose. Ich habe mir die Seele
aus dem Leib gekotzt, mir ging es wirklich
nicht gut. Aber ich habe dieses Martyrium
überlebt, obwohl ich nicht daran geglaubt
habe.
Zur Vorsorge habe ich eine Art Testament
hinterlassen, falls doch etwas schief gelaufen wäre. Meine Kinder und meine Familie
sollten gewisse Anweisungen haben, falls
etwas passiert wäre.
Der Neurologe meinte, ich hätte
tausend Schutzengel gehabt.
We r we i ß? Vi e l l e i c h t
stimmt das wirklich.
Wenn ich ans Sterben denke ...
... dann verbinde ich das mit sehr viel Leid
und fürchterlichen Schmerzen am eigenen
Leib.
Alles begann nach meinem Arbeitsunfall.
Ich hatte zwei Wochen danach extreme
Schmerzen in meiner rechten Schädelseite. Ich hatte schon mehrere Ärzte aufgesucht, ein CT war gemacht worden, niemand hatte etwas gefunden. Meine letzte Anlaufstelle war der
Gang zu einem Neurologen, da meine Schmerzen unerträglich wurden
und meine Augen - rot
unterlaufen - ständig
tränten. Ich konnte
nichts mehr lesen, es
war alles verschwommen. Beim Arzt machten wir sofort eine MRT.
Nachdem die Untersuchungsergebnisse da waren,
sofort wieder ins Arztzimmer. Der
Arzt wertete die Bilder aus, und an seinem
Blick konnte ich erkennen, dass da irgendetwas war. Er sagte zu mir, ich hätte da
was im Schädel. Er können mir aber nicht
sagen, was das ist. Ich müsse umgehend
ins Krankenhaus. Schock! Mein Körper
erstarrte. Tränen schossen mir in die Augen, und ich dachte: ,Das war‘s!‘ Niemand
kann sich vorstellen, was mir da durch den
Kopf ging. Im Bruchteil einer Sekunde sah
ich mein ganzes Leben an mir vorbei laufen, eine Sekunde, die für mich eine ganz
andere Bedeutung bekam. Im Krankenhaus wurde ich weiter untersucht und über
die Risiken aufgeklärt.Man fand eine Gehirnblutung, drei Aneurysmen. Die Diagnose: Schlaganfall. Nach einer mehrstündigen Operation und mit drei Titanclips sowie
Meinen Glauben habe
ich elf Monate danach
verloren. Mein Neffe,
den ich sehr lieb hatte,
starb nach langer
Krankheit. Er war noch
sehr jung und hatte sein
ganzes Leben vor sich.
Nach seinem Tod ging es
mir noch schlechter als zu der
Zeit nach meiner schweren Schädel
OP. Ich sah es als Strafe an, diese OP überlebt zu haben. Warum musste ich erneut leiden und zerstörerische Schmerzen
ertragen? Wenn ich nicht zwei so wunderbare Töchter hätte, die mich damals nach
alldem so unterstützt hatten und auch heute noch an mich glauben, dann würde ich
die Haftzeit nicht so gut überstehen. Ich
glaube daran, dass meine gesundheitlichen
Probleme irgendwann einmal weg sind und
hoffe, dass ich dann anders über das Sterben denke. Denn wer dem Sterben schon
so nahe war, lebt anders. Und mir wurde
bereits ein Teil meines Lebens genommen.
Hätte ich nicht gekämpft, hätte ich verloren.
Ich wünsche euch allen viel Kraft und
DJ-Swini, JVA Aichach
Glauben.
18
Der Tod war mir
ein ständiger Begleiter
niemand mehr von meinen Freunden und
den Menschen, die mir in dieser Zeit nahe
waren, die mit mir Drogen nahmen.
Kuno erzählt über seine Tod-Erfahrungen
Der Tod hat für mich einen Namen und ein
Gesicht, darum will ich die Menschen, die
mir sehr nahe waren, nicht namenlos lassen. Der erste, der mir sehr nahe stand,
war Meik, 1985 gestorben, ich hatte ihn
noch besucht, zwei Tage später war er tot.
Michael, drei kleine Kinder
und eine liebe Frau,
hat sich vor den Zug
geworfen, weil er keinen anderen Ausweg
mehr sah.
Sigi ist an einer Leberzirrhose elendig zu
Grunde gegangen, ich
habe seine letzte Zeit
noch mitbekommen.
Seine Schwester Monika haben sie tot vor
die Türe ihrer Mutter
gelegt: Überdosis. Mit
ihr war ich auch eine
Zeit lang zusammen.
Heute darf ich euch mal an einem anderen
Aspekt meiner Lebensgeschichte teilhaben
lassen. Manche kennen mich und Teile
meiner Lebensgeschichte schon aus anderen Beiträgen. Noch mal kurz zu meiner
Person: Ich heiße
Kuno und war selbst
über zwanzig Jahre
schwerst drogenabhängig und durch meine Sucht und deren
Kriminalisierung in den
verschiedensten Gefängnissen.
Als Kind hatte ich immer schon sehr große
Ängste; wo kamen sie
her? Vielleicht, weil ich
mich nicht geliebt gefühlt habe und schon
früh rebellierte. Auch
habe ich sehr viel gelogen. Eigentlich suchte ich Liebe und Aufmerksamkeit, aber es
entstanden Ängste und
Verhaltensstörungen,
die mich sehr blockierten. So habe ich damals schon in einer gewissen Weise im Tod gelebt. Diese Ängste,
meine Art, alles nur schwarz zu sehen und
totale Minderwertigkeitskomplexe begleiteten mich durch den größten Teil meines
Lebens. Das war eine Art Tod für mich,
denn ich habe ja nicht wirklich gelebt.
Bernd ist vom dritten
Stock seiner Wohnung
auf eine sehr befahrene Straße gesprungen, weil zwei Polizisten vor seiner Tür
standen. Er hat gemeint, dass sie ihn
wieder verhaften würden. Dabei wollten sie
ihn nur darauf hinweisen, dass sein Auto
vor seinem Haus im Parkverbot steht.
Ich könnte noch so weiter erzählen, aber
ich will euch von meinen eigenen Todeserfahrungen erzählen.
Das erste Mal, dass ich so richtig den Tod
mit Todesangst erlebte, war, als ich eine
größere Menge an Drogen und Bargeld zu
In meiner Drogenabhängigkeit habe ich
dann den sichtbaren, realen Tod erlebt und
auch selbst erfahren. Es lebt heute fast
19
Hause hatte und ein Bekannter mich überfiel. Mitten in der Nacht stand er plötzlich
als Frau verkleidet in meiner Wohnung an
meinem Bett und würgte mich. Es ist zu
einem Kampf gekommen, bei dem es nur
noch ums Überleben gegangen ist. Ich
hatte wirklich Todesangst. Zum Glück
konnte ich ihn dann nach langem Ringen
überwältigen, und er floh aus meiner Wohnung.
Drogen. Ich konnte den Entzug nicht ertragen. Ich war so hoch dosiert, dass für mich
ein unüberwachter Entzug lebensgefährlich
war.
Das Schlimmste aber war es, die Realität
zu sehen, dass mein Leben keinen Sinn
hatte. Mein Leben war auf nichts aufgebaut, meine Vergangenheit nur eine Last,
keine Perspektive für die Zukunft, nicht der
leiseste Ansatz, wie ich mein Leben je auf
die Reihe bekäme. So ging meine Drogenabhängigkeit weiter. Gefängnis rein, Gefängnis raus, wieder auf Drogen - der
einzige Zustand, der mich das Leben überhaupt ertragen ließ. Aber man stirbt innerlich. Es ist kein Leben, und man wünscht
sich eigentlich, dass es bald zu Ende ist.
Einmal hatte ich einen Selbstmordversuch
unternommen, der nicht geglückt ist und
viele Male hatte ich eine Überdosis, in denen ich dem Tod ganz nahe war.
Ein weiteres Erlebnis möchte ich noch erzählen: Ich wurde zweimal kurz hintereinander mit Drogen erwischt, in Frankfurt
und in Bremen, wurde aber nicht eingesperrt, weil es ja nicht in Bayern war,
wo ich wohnte. Ich wollte aufhören und
habe drei Tage nichts genommen. Die
Folgen waren, dass ich mich nicht
mehr bewegen konnten und eine totale
Atemlähmung hatte. Ich wurde sofort
ins Krankenhaus auf die Intensivstation gebracht. Die Ärzte verständigten
meine Eltern und teilten ihnen mit,
dass ich im Sterben läge. Für mich war
das ein eigenartiges Erlebnis. Ich
konnte nichts mehr bewegen, mich
nicht mehr rühren und habe doch alles
um mich herum wahrgenommen. Ich
habe mitbekommen, wie die Ärzte mit
meinen Eltern sprachen, ihnen sagten,
dass sie sich keine Hoffnung machen
sollten, dass ich das überleben würde.
Ich habe meinen Vater und meine
Mutter weinen gesehen, habe alles
gehört und gesehen. Man hat mir später gesagt, dass ich zu dieser Zeit im
Koma gelegen habe. Das war eine
seltsame Erfahrung.
Zwei Tage später, ich war noch im
Krankenhaus, nahm ich schon wieder
20
Heute weiß ich um das wahre Leben. Ich
habe mir ein normales Leben gewünscht,
einfach leben, mich und mein Leben annehmen können, ich konnte und wollte
nicht mehr so weiter machen. Ich habe es
mit einer Therapie versucht, die mir geholfen hat, mich aber nicht von meiner Drogensucht befreit hat. Die Hoffnungslosigkeit, die innere Zerrissenheit, die Vergangenheit, die Ängste ... Wohin mit dem alten
Leben?
habe viele wieder fallen gesehen, drei starben an einer Überdosis, obwohl sie schon
länger auf einem guten Weg waren. Ich
sehe und erlebe oft das Scheitern und die
Hoffnungslosigkeit, die sie begleitet: ,Woher nehme ich Kraft, was gibt Hoffnung,
woher nehme ich Leben?‘
Für mich ist der Glaube an Gott das größte
Geschenk, denn ER gibt mir wirklich Kraft
zum Leben, ER befähigt mich, immer wieder neu aufzustehen. Der Glaube gibt mir
auch hier und jetzt schon Leben. Jesus
Christus ist für mich dieses Leben. ER hat
sein Leben hingegeben, dass ich nicht im
Tod bleiben muss, sondern dass ich das
Leben auch jetzt schon in Fülle habe. Wie
in der Bibel geschrieben ist: Für viele ist
der Glaube an Jesus Christus eine Torheit,
dem anderen ist er ein Ärgernis, für die
aber, die glauben, ist er Gottes Kraft.
Ich hatte in meiner Gefängniszeit schon
mal eine sehr starke Glaubenserfahrung
machen und erleben dürfen, als ich anfing,
nach dem Sinn des Lebens und nach Gott
zu fragen. Gott gibt Antwort. Das war auch
für mich der Grund, mich nach meiner langen Odyssee an Gott zu wenden. Ich habe
erlebt, wie Gott mir im Verborgenen näher
war als all die Menschen um mich herum.
Wenn mir das früher jemand erzählt hätte,
hätte ich ihn belächelt. Aber ich habe diese
Erfahrung selbst machen dürfen.
Ich wünsche Euch allen den Trost, den
Gott verheißt, die Hoffnung, die ER schenkt
und das neue Leben, das schon heute gegenwärtig ist.
Seit ich meinen Glaubensweg gehe, habe
ich eine ganze Menge Menschen kennen
gelernt, die ähnliche Erfahrungen gemacht
haben; Menschen, die heute frei sind. Ich
bin vom Tod ins Leben gegangen. Wo früher alles grau und finster, hoffnungslos und
leer war, da ist heute Leben, Licht und
auch Trost. Für mich war sehr wichtig, dass
ich Versöhnung und Vergebung erleben
durfte.
Gott segne Euch!
Kuno
Der Tod,
den die Menschen fürchten,
ist die Trennung
der Seele vom Körper. Ich arbeite in einer kleinen Gartenbaufirma.
Mit der Emmaus-Gemeinschaft gehe ich
regelmäßig als ehrenamtlicher Mitarbeiter
in die JVA Bernau. Ich sehe sehr viele
Menschen scheitern. In unserer Firma arbeiten viele Menschen, die Therapie gemacht haben und jetzt in München Außenorientierung machen. Einige machen bei
uns ein Praktikum und manche können
auch bei uns fest zu arbeiten anfangen. Ich
Der Tod aber,
den die Menschen
nicht fürchten,
ist die Trennung von Gott. (Hl. Augustinus)
21
starb 1999 an Knochenkrebs. Zum Zeitpunkt ihres Todes (morgens um 4.30 Uhr)
wurde es ganz hell. Seitdem bin ich überzeugt, dass sie ins Licht gegangen ist. Für
mich heißt das: zu Gott. Das macht mich
froh, und ich bin fest davon überzeugt,
dass auch ich ins Licht gehen werde. Aus
meinem Glauben ist Gewissheit geworden.
Dafür bin ich Gott sehr dankbar. Meine
Angst vor dem Tod ist nicht mehr da. Natürlich denke ich manchmal an den Sterbeprozess und weiß, dass er sehr schmerzhaft und leidvoll sein kann, wahrscheinlich
auch ist. Letztendlich aber weiß ich, dass
Gott mich erlöst und ich ins Licht gehen
werde.
Ins Licht gehen
Vor einigen Tagen wurde das Erntedankfest in den Kirchen gefeiert. Während der
Messe kamen mir meine Großeltern in den
Sinn. Ich hatte auf einmal das Bedürfnis,
ihnen und auch meinen Eltern für mein
Leben zu danken. Gleichzeitig war der Gedanke da, dass sie ja alle nicht mehr leben.
Und mich überfiel eine Traurigkeit, dass ja
auch mein Leben hier auf dieser Welt zeitlich begrenzt ist. Diese Traurigkeit war im
nächsten Augenblick wieder vorüber.
Mir kam der längere Leidensweg meiner
Lebensgefährtin Edelgard in den Sinn. Sie
Erich, 63 Jahre, ehem. Tabor-WG
Vielleicht ist es kein Weggehen,
sondern Zurückgehen?
Sind wir nicht unterwegs
mit ungenauem Ziel
und unbekannter Ankunftszeit,
mit Heimweh im Gepäck?
Wohin denn sollten wir gehen
wenn nicht
nach Hause zurück?
(Anne Steinwart)
An einer alten Brücke in Wien
steht die Inschrift:
Alles ist nur Übergang
Merke wohl die ernsten Worte,
von der Stunde, von dem Orte
treibt dich
eingepflanzter Drang,
Tod ist Leben, Sterben Pforte,
alles ist nur Übergang.
22
STERBEN IN WÜRDE
Der Wert, den wir dem Menschen und
seinem Leben zumessen, auch dann, wenn
es leidvoll ist und sich dem Ende neigt,
sollte – für Befürworter wie Gegner gleichermaßen – der Ausgangspunkt jeglicher
Überlegungen bezüglich der Sterbehilfe
sein.
Eine Stellungnahme der Deutschen Bischöfe
Viele Menschen fürchten sich davor, dass
sie am Lebensende unnütz und einsam
sind und nicht mehr über sich selbst bestimmen können. Sie fürchten sich vor
Schmerzen und einem schwer ertragbaren
Schwebezustand zwischen Leben und Tod.
Sie möchten in Würde sterben können.
Das Leben eines
jeden Menschen ist kostbar
Aus Sorge um den Menschen setzen sich
Christen dafür ein, dass das Leben eines
jeden Menschen – gerade auch in der Nähe des Todes – zu jedem Zeitpunkt ge-
Verbot der Hilfe
bei der Selbsttötung aufheben?
Seit einiger Zeit ist
eine Debatte entbrannt, ob aktive
Sterbehilfe und
assistierter
Selbstmord erlaubt
werden sollten.
Dürfen wir der
Erlösung von Leid
und Schmerz
nachhelfen? Eine
Gruppe von Medizinern hat die Forderung an die Politik gestellt, das
Verbot von Hilfe
bei der Selbsttötung aufzuheben
und dies Ärzten
unter bestimmten
Umständen zu
erlauben.
Die Frage, ob wir aktiv am Tod eines anderen Menschen mitwirken dürfen, auch
wenn er sich dies wünscht, ist nur oberflächlich eine. Sie sprengt den Rahmen der
staatlichen Regulierungsmöglichkeiten,
denn sie berührt im Wesentlichen unsere
Einstellung zur Würde des Menschen; ihre
Beantwortung ist auf das Engste verknüpft
mit unserem grundlegenden Menschenbild.
schützt wird. Sie glauben daran, dass wir
alles, was ist, Gott verdanken. Gott hat den
Menschen als sein Abbild geschaffen und
ihm eine unantastbare Würde verliehen.
Diese Würde gründet nicht in seiner Leistung oder in dem Nutzen, den er für andere
hat. Die Würde des Menschen folgt daraus,
dass Gott ihn bejaht. Aus dem Wissen um
Gottes Zuwendung und Liebe heraus darf
und kann der Mensch auch im Leiden und
im Sterben sein Leben bejahen und seinen
23
Tod aus Gottes Hand annehmen. Aus der
Überzeugung, dass das menschliche Leben von Gott geschenkt ist, folgt auch die,
dass der Mensch keine volle Verfügungsgewalt über sein Leben haben kann. Christen müssen bekennen: In Würde stirbt, wer
anerkennt, dass sein Leben als solches
unverfügbar ist. Es hat einen Wert in sich,
auch wenn der Körper keine Leistung erbringt oder nicht voll funktionsfähig ist. Die
Entscheidung gegen das eigene Leben,
auch wenn es durch Schmerzen und Leid
geprägt ist, widerspricht fundamental dem
Wesen des Menschen.
Anfang und Ende des Lebens sind der Verfügung des Menschen entzogen. Daraus
folgt, dass der Tod nicht herbeigeführt werden sollte.
notwendig, die Palliativversorgung und die
Hospizarbeit in ambulanten und stationären
Einrichtungen zu fördern und auszubauen.
Sie stellen eine zunehmend wichtige Antwort auf die Lebenslage und Bedürfnisse
der Menschen dar. Viele haupt- und ehrenamtliche Hospizhelfer leisten einen wertvollen Dienst, indem sie Menschen im Sterben
beistehen.
Die Gesellschaft darf nicht zulassen, dass
der künstlich herbeigeführte Tod in der
Endphase eines Lebens zu einer ärztlichen
Dienstleistung wird. Eine gesetzliche Reglung, die derartige Angebote duldet, würde
dazu führen, dass der innere und äußere
Druck auf alle Alten, Schwerkranken und
Pflegebedürftigen zunimmt, von derartigen
Optionen Gebrauch zu machen – um keine
Last für Angehörige zu sein.
Sterbende begleiten
und den Tod zulassen
Gleichzeitig bedeutet dies aber auch, dass
der Tod zugelassen werden darf. Sterben
in Würde zu ermöglichen, bedeutet aus
christlicher Sicht, dass der Sterbende an
der Hand eines Menschen stirbt und nicht
durch sie. Gerade in seinem letzten Lebensabschnitt braucht der Mensch Zuwendung, Schutz und Trost. Ein Sterben in
Würde für jeden Menschen zu ermöglichen, ist daher auch eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
Ein Klima der selbstverständlichen
Solidarität schaffen
Ein würdevolles Sterben kann die Gesellschaft aber nur dann gewährleisten, wenn
sie ein Klima der selbstverständlichen Solidarität und Hilfe schafft, in der sich Sterbende nicht als Last empfinden. Wer die
Humanität schützen und die Freiheit des
Sterbenden wahren will, muss gleichsam
einen Schutzraum eröffnen, in dem umfassende palliativmedizinische Betreuung und
helfende, liebende Annahme stattfinden.
Die Kirche setzt sich dafür ein, dass anerkannt wird: Der Mensch ist Mensch bis
zuletzt. Aus christlicher Sicht soll der Tod
eines Menschen nicht künstlich hinausgezögert werden, wenn es keine Chance
mehr auf Heilung oder ein erträgliches Leben gibt. Den Tod willentlich herbeizuführen aber kann aus christlicher Perspektive
keine Alternative zu einer liebevollen und
mitfühlenden Begleitung des Menschen auf
seiner letzten Wegstrecke sein.
Die katholische Kirche spricht sich nachdrücklich gegen alle Formen der aktiven
Sterbehilfe und der Beihilfe zur Selbsttötung aus. Sie ist der Überzeugung, dass
der Staat dann ein würdevolles Sterben
ermöglicht, wenn er die flächendeckende
medizinische und pflegerische Begleitung
Schwerstkranker und Sterbender in den
Mittelpunkt stellt und nach Kräften fördert.
Die Kirche beteiligt sich hier mit einer intensiven seelsorglichen Betreuung der
Sterbenden und ihrer Angehörigen. Es ist
www.dbk.de/themen/sterben-in-wuerde/
24
wurde ich wach mit einem komischen Gefühl. Als ich die Augen öffnete, stand mein
Opa am Bettende und weinte. Da spürte
ich, dass es ein Abschied war, und zwar für
immer. Ich sah ihn nie wieder, aber ich spüre ihn oft. Gerade wenn ich Sorgen und
Ängste habe oder traurig bin, spüre ich ihn
in meiner Nähe und rieche sein extrem
duftendes Aftershave. Es erfüllt den ganzen Raum. Dann weiß ich, er ist da, passt
auf mich auf, und das spendet mir Trost.
Meine Erfahrungen mit dem Tod
Als ich 14 Jahre alt war, bekam ich eine
Herpes-Enzephalitis. Diese Krankheit manipuliert und zerstört die Gehirnzellen extrem. Sie kann bis zum Gehirntod führen.
Dank meines Bruders Björn, der sie rechtzeitig erkannte und den Rettungswagen
rief, konnte ich behandelt werden. Gerade
noch rechtzeitig. Einige Zeit später hätte
ich einen Gehirntod erlitten. Somit bin ich
dem Tod entwischt. Vielleicht habe ich deshalb die Gabe, die Seelen von Verstorbenen zu spüren und ihren Schmerz und ihre
Trauer zu fühlen.
Es heißt in einigen Geschichten und Märchen: „Der Tod hüllte sie ein. Sie nahmen
ihn wie einen Freund an und er nahm sie
fest in seine Arme.“
Ich habe mittlerweile keine Angst mehr vor
dem Tod. Denn ich glaube fest daran, dass
der Tod nicht das Ende, sondern vielmehr
ein Neuanfang ist. Ich muss ihn nur annehmen, dann spendet er Trost.
Als ich mit meiner damaligen Schulklasse
einmal ins Konzentrationslager nach
Dachau fuhr, fröstelte es mich die ganze
Zeit über, obwohl es draußen sehr warm
war. Ich glaube, es war an diesem Tag über
30° war, aber ich spürte nur Kälte, Angst
und Trauer. Ich hörte innerlich die Schreie
der hier getöteten
und verstorbenen
Menschen und
vernahm in meinem Inneren lautes
Kinderweinen.
Nach einer halben
Stunde musste ich
das Gelände des
KZ verlassen. Ich
war nervlich am
Ende, und mir liefen die Tränen die
Wangen herunter.
Als mein Opa
Josef starb - er
lebte in der Nähe
von Magdeburg schlief ich in meinem Bett in München. Plötzlich
Astrid, JVA München
Manchmal scheint es wie das Ende eines Tages zu sein.
Doch es ist nicht Sonnenuntergang - es ist die Morgendämmerung, die uns zu einem neuen Anfang führt.
25
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Sterben ist ein Teil des Lebens, der letzte Weg für die
Sterbenden - mit den Lebenden.
Die Zeit zum Sterben ist eine
intensive, letzte Lebenszeit.
Die Begegnung mit dem Tod ist
die Auseinandersetzung mit
dem Leben. Mit allem, was war,
was ist und was nicht mehr
sein wird.
Mit allem, was dennoch bleibt.
Es ist schwer, Abschied zu
nehmen - für die Sterbenden
und die, die weiterleben. Es ist
wichtig, sich dafür Zeit zu
nehmen.
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26
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„Ich muss mich vom Hass fern halten“, das
ist ihr Rezept in der Stadt, die Juden, Muslimen und Christen heilig ist und in der die
Spannungen explodieren.
1889 gegründet, liegt das Hospital an der
Nahtstelle zwischen dem jüdischen Westteil und dem arabischen Ostjerusalem. Von
Saint Louis aus sieht Monika Düllmann die
jüdische Neustadt, den islamischen Felsendom und die Grabeskirche. „Wir sind
kein echtes Hospiz und keine Palliativeinrichtung, aber doch ein Haus für Menschen
in der letzten Lebensphase“, sagt die Fünfzigjährige mit den kurzen grauen Haaren
im schlichten Rock mit Bluse. Seit 1999
arbeitet die Düsseldorferin hier, seit 2004
leitet sie das Haus mit fünfzig Betten. Unter
den Patienten sind Krebskranke, Schlaganfallopfer und Komapatienten, aber auch
alte Menschen ohne Angehörige. Die meisten sind Juden, zwanzig Prozent sind
Christen und zwanzig Prozent Muslime.
Ein Leben
gegen den Hass
Monika Düllmann arbeitet
in einem Haus für Sterbende
in Jerusalem
Gleich im ersten Jahr ihres Einsatzes in
Jerusalem sagte ein Palästinenser zu ihr:
„Wir erwarten von Euch, dass ihr Brücken offenhaltet“. Das, so Düllmann, „ist
so etwas wie das Programm meiner Arbeit
geworden“. Denn aus der menschlichen
Not heraus können politische und religiöse
Gegensätze überwunden werden. „Das
geht ganz schnell“. Wenn jemand an Krebs
im Endstadium leidet und im Nachbarzimmer auf jemanden mit dem gleichen
Schicksal trifft, verschwinden die oft so
zähen Vorbehalte. Unter den sechzig Angestellten sind Palästinenser wie Israelis,
außerdem helfen 25 Freiwillige aus aller
Welt. Auch Monika Düllmann war einmal
Freiwillige im Saint Louis, danach trat sie in
den Orden ein.
Monika Düllmann ist ein optimistischer
Mensch. Doch wie es in Jerusalem weitergehen kann, weiß auch sie nicht. Dabei
fand das Gespräch mit ihr ein paar Tage
vor dem Mordanschlag auf Betende in einer Synagoge statt. Monika Düllmann ist
Krankenschwester, Ordensfrau vom „Orden
des heiligen Josef“. Sie leitet das französische „Saint-Louis-Hospital“ für Menschen
in der letzten Lebensphase.
„Wer nicht mehr allein essen kann, braucht
jemanden, der sich zu ihm setzt und ihn
achtsam füttert“, sagt die Schwester. „Das
27
können wir nur dank der vielen Freiwilligen“. Finanziert wird das Krankenhaus zu
80 Prozent aus den Tagessätzen der israelischen Krankenversicherung, den Rest
steuern Spender aus aller Welt bei … „Bei
uns wird viel gelacht, wir machen viele Witze“.
Sie feiern gemeinsam das islamische Opferfest mit Lamm für alle, zu Ostern gibt es
Ostereier und an Pessach Mazzenbrot. Es
werden Grenzen überwunden, die im so
genannten Heiligen Land sonst oft unüberwindlich erscheinen. Zum Beispiel wenn
ein Rabbiner mithilft, ein islamisches Trauerritual vorzubereiten. „Wenn mich ein
Rabbiner fragt, wo bekomme ich denn das
Brot, um einem schwerkranken Katholiken
die Kommunion zu bringen, dann sind wir
wirklich weit“; dennoch: jede und jeder soll
bis zuletzt nach den Regeln seiner Religion
leben dürfen.
Meine Mutter starb am 9.5.2011 im
84. Lebensjahr. Beim Aufräumen ihres
Schreibtisches fanden wir diese letzte
Uli
Bitte:
Meine letzte Bitte!
Alle, die ihr mich lieb habt
und mich überlebt - seid
nicht traurig! Weint nicht,
dass ich von dieser Welt in
eine andre gehen durfte. Ich
hoffe mit Sicherheit, in ein
neues Leben zu kommen, wo
es nichts Negatives gibt, wo
alle menschlichen Versagen
aufgehoben, vergeben und bereinigt sind. Und darum
bitte ich Euch: Seid dankbar
und fröhlich, denn mir geht
es dann nur noch gut! Tragt
bitte nach meinem Tode keine
Trauerkleider. Diese Sitte
lehne ich ab, sie gehört zu
den Gesetzen, die die
Menschen gemacht haben und
nicht von Gott sind.
Politik ist in Saint Louis tabu. Was zählt ist
Menschlichkeit. Im Sommer, nach dem
Mord an den drei Talmudschülern, kam ein
palästinensischer Angestellter zu seinem
jüdischen Kollegen, der in einer Siedlung
auf der Westbank lebt. „Das muss sehr
schwer für dich sein“, sagte der palästinensische Kollege. Doch außerhalb des Krankenhauses wachsen Hass und auch religiöser Extremismus in letzter Zeit spürbar
an. „Meine Mutter hat Araber gehasst“,
erzählt die Tochter einer kürzlich verstorbenen Patientin. Doch am Ende ihres Lebens
hatte sich der Hass aufgelöst. Denn da
begegnete die alte Dame dem palästinensischen Pfleger Adel; er sei “der beste
Pfleger der Welt“, habe sie oft erklärt.
Wenn Sterbende so Frieden und Versöhnung schenken, empfindet Monika Düllmann ihre Arbeit als zutiefst sinnvoll.
Elisabeth Zimmermann
Claudia Mende
in: Publik Forum 1 / 2015, 32
28
Ich will für dich beten, noch etwas für dich
tun in meiner augenblicklichen Hilflosigkeit.
DER SELBSTMÖRDER
„Gott, warum?“ stammle ich. „Warum hat
keiner seine Verzweiflung bemerkt? Warum
hat er sich keine Hilfe gesucht? Es gibt
doch hier Seelsorger, Psychologen, Sozialarbeiter, auch einfühlsame Beamte,
verständnisvolle Mitgefangene!“
Ich stehe in deiner Zelle. Sie haben mich
zu dir gerufen. Du könntest eventuell noch
kirchlichen Segen brauchen.
Du liegst am Boden. Nackt ausgezogen!
Erstarrt. Die Augen weit aufgerissen! Wo
schauen sie hin? Sie haben kein irdisches
Ziel mehr.
Schauen sie ins Leere, ins Nichts? Oder
haben sie bereits das Jenseitige im Blick?
In mir kommen Schuldgefühle auf. Ich hab’
dich zwar nur flüchtig gekannt. Small talk
vor der Zellentür. Nebensächlichkeiten
ausgetauscht! Ein „Hallo, wie geht’s?“ Nicht
viel mehr!
Hätte ich genauer hinschauen sollen, deine
Not sehen, Anzeichen erkennen?
Du seist bereits seit ca. fünf Stunden tot,
meint der Notarzt. Du hättest dir das Leben
genommen, vermutlich Tabletten eingewor-
Er hätte in den letzten Tagen seine Schulden bei den
Kumpels bezahlt, ein paar
Habseligkeiten verschenkt;
er wäre auffallend nachdenklich und zurückgezogen gewesen, wissen jetzt
seine Mithäftlinge auf dem
Gang. Auch sie machen
sich Vorwürfe: ‚Hätte ich
doch …!’ Hinterher ist man
immer klüger!
Und sie sind tief betroffen.
Denn da ist keiner unter
ihnen, der nicht auch selbst
schon mal daran gedacht
hätte …!
Wird deine Tat zum Nachdenken oder zum Nachahmen ermuntern?
fen, eine Plastiktüte über den Kopf, zugebunden, dich hingelegt …
Ich stehe bei dir in der Zelle, allein. Ich
versuche zu beten. Doch meine Gedanken
schweifen ab:
Wie nüchtern und kühl seine Worte klingen!
Routinearbeit für ihn! Mir läuft ein Schauer
über den Rücken. Ich bin erschüttert. Mir
ist kalt. Du bist der dritte in diesem Jahr,
der ‚so einfach’ sein Leben wegwirft und
kapituliert.
Was werden sie sagen: Deine Frau draußen, deine Kinder, deine Freunde …? Wie
werden sie mit der Last, die du ihnen durch
deinen Selbstmord aufbürdest, fertig werden? Ist es nicht für ein Kind eine lebens29
lange irre Belastung zu wissen: Mein Vater,
der mir hätte Kraft geben sollen, hat mich
im Stich gelassen und hat sich umgebracht? Werden auch sie daran zerbrechen? Wolltest du das?
War es nicht feige und verantwortungslos
von dir, dich einfach davonzuschleichen?
Der Wind der Vergangenheit
Er weht durch mein Gehirn
Entfacht das längst vergessene Feuer
Die Vernunft versucht zu löschen
Die Triebe holen Brennholz
Der Teufel reicht mir sein Streichholz
Das Gewissen versteckt
die Zündholzschachtel
Sehnsucht bringt das Feuerzeug
Der Verstand stößt es weg
Die Triebe reichen mir Benzin
Die Augen funkeln
Oooh nein...
Zisch!
Eine kurze Stichflamme.
Übrig bleibt nur Asche...
Meine Asche...
War deine Verzweiflung so unermesslich,
deine Angst so quälend, deine Leere so
schwer auszuhalten, deine Dunkelheit so
erdrückend, dass du in diesen Abgrund
gesprungen bist?
Ich stehe da in deiner Zelle und verstehe
nichts. Gleich werden sie dich holen, die
Leute vom Bestattungsdienst. Sie werden
dich in einen Plastiksack einpacken und
zur Gerichtsmedizin bringen.
Doch nicht dich werden sie mitnehmen,
sondern nur deine irdische Hülle. Das bist
nicht mehr ‚Du’, was da am Boden liegt.
Nur deine sterblichen Überreste. Es ist der
Kokon, der Schmetterling ist geschlüpft und
fliegt, wohin auch immer.
Nun ist mir kalt.
So kalt....
Walter Wipplinger
Letzter Versuch
Endlich gelingt es mir zu beten:
Ich habe mich zu erhängen gesucht:
Der Strick ist abgerissen.
Ich bin ins Wasser gesprungen:
Sie erwischten mich bei den Füßen.
„Du, guter Gott, du kennst unser
Herz! Du kennst auch die tiefsten
Abgründe unseres Lebens. Du weißt,
wie finster unsere Nacht ist, wenn
wir keine Hoffnung mehr haben; du
weißt, wie haltlos wir ins Leere stürzen, wenn wir keinen Sinn mehr erkennen! Und doch können wir nie tiefer fallen als in deine Hände, Gott.
Auch Alfred hier ist in deine Hände
gefallen. Fang du ihn auf, Gott, und
sei seiner Seele gnädig!“
Ich habe die Adern geöffnet mir:
Man hat mich noch gerettet.
Ich sprang auch einmal
zum Fenster hinaus:
Weich hat der Sand mich gebettet.
Den Teufel! Ich habe nun alles versucht,
Woran man sonst kann verderben –
Nun werd' ich wieder zu leben versuchen:
Vielleicht kann ich dann sterben.
Norbert
Ada Christen
30
Verständnis von Jesus Christus, dem Sohn
und damit auch von Gott, dem Vater, kaum
in Worte fassen.
JUDAS - der klassische
Selbstmörder
Biblische Forschung
Die biblische Forschung der letzten drei/
vier Jahrzehnte ist zur Erkenntnis gekommen, dass sich Judas in Jesus getäuscht
hat. Er hat einen politischen Messias erwartet, der die Römer, die römische Besatzung aus dem Land vertreibt. Nun meint er,
er könne der guten Sache einen Dienst
erweisen, wenn er Jesus an die Hohenpriester ausliefert. Die sollten ihn dann aus
dem Verkehr ziehen. Judas hat nie damit
gerechnet, dass Jesus zum Tode verurteilt
wird. Seinen Tod hat er nicht gewollt.
Das Ende des Judas
Judas hatte also Schluss gemacht. Er hatte
sich erhängt, weil er verzweifelt war. Aus-
In einem Kapitell
(vom lat.: capitellum = Köpfchen:
Das ist der obere Teil einer Steinsäule, der meist reich
verziert oder gestaltet ist!) in der Kirche von Vézelay (Vézelay ist eine kleine französische Gemeinde in
Burgund.) sieht man folgendes: Es zeigt zwei
Darstellungen des Judas, also des Jüngers, der Jesus verriet. Das erste Relief
(hier rechts) stellt das Ende des Verräters dar.
Judas hängt am Strick. So hat er nach dem
Matthäusevangelium sein Leben beendet.
Das zweite Relief auf der Rückseite des
gleichen Kapitells (rechte Seite) überrascht
über alle Maßen. Da steht Jesus, unverkennbar. Er hat den Strick um den Hals von
Judas gelöst und trägt den toten Freund
auf seinen Schultern - den, der ihn verraten
hat. Dabei entspricht die Armhaltung Jesu
der eines Hirten, welcher ein Schaf auf
seinen Schultern trägt. Damit wollte der
Steinmetz aus dem 12. Jahrhundert an die
Worte vom Guten Hirten erinnern. Er lässt
die 99 Schafe in der Wüste, um das eine
verlorene Schaf zu suchen. Selten ist in
einem Kunstwerk gute Theologie so schön
dargestellt. Besser kann man das
31
gerechnet den, der ihm meisten bedeutete,
hatte er verraten. Und mit einem Mal war
ihm klar, dass er mit seinen Absichten den
Absichten Gottes entgegenstand. Judas
hatte sich selbst das Existenzrecht abgesprochen.
- In der Hoffnungslosigkeit war sie plötzlich
da, die Hilfe und Unterstützung, der Ausweg.
- Mein Glaube gibt mir die Kraft, Dinge zu
akzeptieren, die ich nicht ändern kann.
Bei Jesus ist
kein Mensch wertlos
Die Darstellung im Kapitell von Vézelay sieht das anders. Sie lässt
erkennen: Kein Mensch ist wertlos,
kein Mensch wird wertlos, so dass
man nichts mehr auf ihn geben kann.
Selbst Judas, so die überraschende,
ungewohnte, aber wahre Aussage
des Kapitells, selbst Judas wird nicht
zurückgelassen, vergessen, übersehen. Selbst Judas wird mit Ehrerbietung und Respekt heim geholt.
Tragen kann, wer sich
selbst getragen weiß
Christus trägt Judas auf seinen
Schultern. Ein tröstliches Bild. Es ist
schon krass: Christus, der Ermordete, trägt seinen Mörder bzw. den, der
ihn ans Messer geliefert hat. Wie ist
das möglich? Das Opfer erbarmt
sich seines Henkers. Christus kann
tragen, weil er sich von Gott getragen weiß. Leben ist von Gott getragen.
- Wie der Gute Hirte das verlorene
Schaf trägt, so trägt Jesus auf dem
Kapitell in Vézelay den toten Judas auf
der Schulter.
...und am Ende meiner Reise
hält der Ewige die Hände,
und er winkt und lächelt leise,
und die Reise ist zu Ende.
- Judas – der Inbegriff menschlichen Versagens.
- Doch stärker als alles Versagen – Jesu
Liebe.
Matthias Claudius
32
TOD und LEBEN
Wenn Millionen Kinder verhungern, Tausende auf der Straße sterben, Hunderte
sich umbringen, ist das nur eine Zahl, von
der wir in den Medien hören. Es betrifft uns
kaum. Wenn ein Kind, mein Partner, ein
nahestehender Mensch aus dem Leben
gerissen wird, dann bin ich sehr betroffen.
Mir wurde das wieder deutlich bewusst, als
vor kurzem mein Firmpate und meine
Nachbarin starben. Beide waren gerade
während meiner Kindheit wichtige Begleitpersonen. Die warme Art meiner Nachbarin
gewährte Freiraum. Die Besuche meines
Onkels waren aufregende Bereicherung.
Jetzt mit ihrem Tod wird mir wieder ganz
nah vor Augen geführt: Auch ich werde
sterben, zu meinem Leben gehört der Tod.
Doch der Tod erinnert mich auch daran:
Lebe ich wirklich? Lebe ich bewusst?
Worüber mach ich mir eigentlich unnötige
Sorgen? Worüber reg ich mich nicht alles
auf, was eigentlich belanglos ist?
Durch den Tod nahestehender Menschen
werde ich auf das Wesentliche meines
Lebens verwiesen.
Wissen Sie, was für Sie ganz wichtig und
bedeutsam für Ihr Leben ist?
Was würden Sie noch tun oder lassen,
wenn Sie wüssten:
Ich sterbe in drei Monaten?
Martin Luther sagte: Ich würde heute
noch ein Apfelbäumchen pflanzen.
Also leben Sie bewusst, denn heute
beginnt der Rest ihres Lebens.
Gerhard Karrer,
+ 06.10.2015
Lieber Gerhard,
Du mein Freund,
im vorigen Jahr hast du mich gefragt, ob
ich deine Beerdigung halten würde, wenn
du gestorben bist. Ich habe gelacht und
gesagt, dass du jünger wärest als ich, gerade mal 56 Jahre, sportlich und gesund.
Ich würde sicher eher sterben als du.
Als wir vor acht Wochen zu einem Kurzurlaub in den Bergen waren, hast du gesagt:
„Nun habe ich meine Beerdigung fertig
vorbereitet.“ Sechs Wochen später hattest
du plötzlich deinen Herzstillstand. Mindestens zwanzig Minuten keine Sauerstoffversorgung für das Gehirn. Wiederbelebung
und mit Maschinen künstlich am Leben
erhalten. Du hattest eine Patientenverfügung: Keine lebensverlängernden Maßnahmen! Zwei Wochen später beendeten
die Ärzte diese Maßnahmen. Du konntest
loslassen und durftest heimgehen.
Gerhard Karrer
An diesem Dienstag Abend, an dem du
gegangen bist, durfte ich dich im Krankenhaus noch besuchen. Deine Frau und deine Pflegetochter waren nach Hause gegangen und ich saß für eineinhalb Stunden
allein an deinem Totenbett. Ich habe viel
gebetet und nachgedacht. All die gemein-
Es sind die Lebenden,
die den Toten die Augen schließen.
Es sind die Toten,
die den Lebenden die Augen öffnen.
Slawisches Sprichwort
33
samen Erlebnisse kamen mir ins Gedächtnis. Urlaubsreisen nach Assisi, deinem
Lieblingsort. Du hast uns den Hl. Franziskus mit Geschichten, Gedichten, Gottesdiensten und Naturerlebnissen näher gebracht.
nen Körper verlassen und bist heimgekehrt
ins Licht, in die Liebe, zu Gott. Ich glaube,
dass ER dich mit offenen Armen in Empfang genommen hat und du am Ziel deiner
Reise angelangt bist: im Himmel.
Leb wohl, mein Freund, ich lasse dich gehen. Die Liebe und Freundschaft zu dir
bleibt in meinem Herzen. Wir hier haben
noch ein wenig Zeit auf der Erde, um unsere Aufgabe zu erfüllen: zu wachsen in der
Liebe. Wenn unsere Zeit gekommen ist,
folgen wir. Das wird ein Fest!
Ich erinnere mich an herrliche Wanderungen in unseren bayrischen Bergen, bei
denen wir beide über die Wunder in Gottes
großartiger Natur staunten. Der Blick über
die Berggipfel in die Weite des Himmels bei
einer Brotzeit auf der Alm machte unsere
Herzen weit.
Dein Freund Norbert
Mir fallen viele gute Gespräche ein, von
Mann zu Mann, von Freund zu Freund,
über Gott und die Welt, übers Leben und
den Tod, übers Lieben und Leiden von uns
Menschen. Wir hatten die gleiche Wellenlänge, die Chemie hat gepasst.
Tod und Leben –
es darf alles geben
Auf der Friedhofsmauer des La Verna Klosters
verweile ich.
Im Blick die Ruhe des Klosters.
Ich höre die Stille. Ab und zu schreitet jemand
über den Klosterhof und ich höre das Klappern
der Schuhe. Doch die Natur der Beschaulichkeit hüllt die Geräusche ein, trägt sie fort, überlagert vom Gezwitscher der Vögel und vom
sanften Rauschen des Windes hinein in das
Grün des Frühsommers. Zauberhaftes junges
Grün bestrahlt die Seele.
Dann denke ich an unsere Männergruppe,
die sich einmal im Jahr zu einem Austauschwochenende traf. Du hast sie geleitet und begleitet mit all deiner Behutsamkeit und großem Einfühlungsvermögen. Du
warst ein Mann, der auch seine weibliche
Seite leben konnte. Auch die lustigen
Stüberl-Abende bei Wein, Bier und Gesang
(oder war es Gegröle?) gehörten dazu. ...
„Tot, tot“, sprechen die Grabsteine unter mir im
Friedhof.
Es darf alles geben: Tod und Leben.
Den Tod verarbeiten müssen nur
die Zurückgebliebenen. Nur sie brauchen
die Totenverehrung, die Grabpflege,
das Andenken, den Schmerz, die Trauer,
die Trauerarbeit, das Loslassen
und Abschied Nehmen.
So sitze ich bei deinem Leichnam im Krankenhaus und neben all meiner Traurigkeit
kommt eine große Dankbarkeit in mir auf:
Danke, dass ich dein Freund sein durfte,
danke, dass du mein Freund bist und
warst. Traurig darüber, dass die gemeinsame Zeit vorüber ist, spüre ich doch, dass
da in mir durch unsere Freundschaft ein
großer Schatz herangewachsen ist, der
den Tod überdauert. In meinem Herzen
wirst du immer einen Platz haben.
Es darf alles geben:
Tod und Leben.
Was bleibt ist die Wärme des Lichtes
im Herzen und in der Natur.
(Gerhard Karrer, auf dem La Verna 2001)
Du bist nicht mehr in dem toten Körper, der
vor mir auf dem Sterbebett liegt. Wie ein
Schmetterling den Kokon, so hast du dei34
Tod und Leben
Ein Zwiegespräch
Leben:
Steh auf, Jesus, das Kreuz, das Leiden ist
vorbei. Alles ist zu Ende. Du brauchst keine
Angst mehr zu haben. Bleib nicht liegen.
Steh auf!
Bring die Hoffnung, das Leben, das Auferstehen in die äußerste Finsternis. Bring
das Licht des Lebens, dem Tod neues
Leben. Tod, deine Urruhe wird so zum
Urgrund des Lebens.
Tod:
Bleib liegen! Hier liegt es sich doch gut.
Endlich Ruhe, Stille. Endlich Frieden. Endlich alles loslassen. Bleib hier. Ruh dich
aus.
Tod:
Ich will mich nicht verändern, verwandeln
lassen. Geh weg, Dein Lebenslicht macht
mir Angst. Ich will, dass alles so bleibt, wie
es ist. Das Nichts, der Tod, der Karsamstag, das Ruhen, die ewige Ruhe, die Bewegungslosigkeit lässt mich leben.
Leben:
Das hier ist nur Todesstille, Totenruhe. Hier
ist kein Leben, nur Tod. Steh auf. Lass alles
los.
Leben:
Hab keine Angst, Bruder Tod.
Wir sind Geschwister. Wir gehören zusammen. Wir sind der Kreislauf des Lebens. Tod ist nicht das Ende, nicht das
Letzte. Tod ist Neubeginn. Vertraue mir,
wage den Aufstand (Leben streckt dem
Tod die Hand entgegen).
Ich, Jesus, bin das Leben, das Licht, die
Wahrheit, der Weg, die Achtsamkeit, das
Wort, die Liebe, das Leiden, das Kreuz
und die Auferstehung. Lass das Leben in
dir aufkeimen, aufleuchten. Nimm meine
Hand, Bruder Tod. (Tod zögert, ob er die
Hand nehmen soll, hält seine Hand etwas
hin, zieht zurück, hält wieder hin) Kann ich
dem Leben trauen?
Tod:
Aller Kampf, alle Anstrengung ist vorbei.
Bleib im Grab. Bleib im ewigen, schützenden, bergenden Winter. Du hast es geschafft, hast alles hinter dir gelassen.
Komm zu Dir. Alles ist aus.
Leben:
Du hast deinen Lebensweg geschafft. Doch
er ist nicht zu Ende. Mitten in der Nacht, in
der Dunkelheit, mitten in der Krise, im Leiden, mitten im Tod beginnt das Leben, der
immer währende Frühling. Alles lebt neu
auf. Komm zum Leben, zu deiner wahren
Bestimmung.
Tod:
In die tiefste Tiefe geh hinunter. Geh auf
den Grund. Da gibt es kein Fallen mehr.
Nichts mehr ist haltlos. Du bist am Urgrund
angekommen. Bleib im Tod, der alles
nimmt, der von allem befreit. Tod ist doch
Leben am Urgrund des Seins, in Ur-Ruhe.
Leben:
(ergreift die Hand des Todes und Tod lässt
es zu)
Hinabgestiegen in das Reich des Todes,
der Finsternis, der Nacht bringe ich das
Licht des Lebens. Ich bin das Leben.
Leben und Tod:
(Zünden gemeinsam die Osterkerze an,
sprechen): Jetzt kann es Ostern werden.
Leben:
Ja, steig hinab in die tiefste Dunkelheit und lass auch dort neues
Leben aufkeimen.
Gerhard Karrer
35
Fragebogen „Tod“
Der Schweizer Schriftsteller Max Frisch hat zu verschiedenen Lebensbereichen einen
Fragebogen an seine Leser verfasst, auch zum Thema „Tod“. Die z.T. listigen Fragen
regen zum Nachdenken an. Hier ein Auszug davon:
2. Was tun Sie dagegen?
10. Wenn Sie jemand beneidet oder gehasst
haben und zur Kenntnis nehmen, dass er
verstorben ist: Was machen Sie mit Ihrem
bisherigen Hass auf seine Person bzw. mit
Ihrem Mitleid?
3. Möchten Sie unsterblich sein?
11. Haben Sie Freunde unter den Toten?
4. Haben Sie schon einmal gemeint, dass
Sie sterben, und was ist Ihnen dabei eingefallen:
a) was Sie hinterlassen?
b) die Weltlage?
c) eine Landschaft?
d) dass alles eitel war?
e) was ohne Sie nie zustanden kommen
wird?
f) die Unordnung in den Schubladen?
12. Haben Sie schon Tote geküsst?
1. Haben Sie Angst vor dem Tod und seit
welchem Lebensjahr?
13. Wenn Sie an Ihren persönlichen Tod
denken: Sind Sie dann erschüttert, d.h. tun
Sie sich selbst leid, oder denken Sie an Personen, die Ihnen nach Ihrem Hinscheiden
leid tun?
14. Möchten Sie lieber mit Bewusstsein sterben oder überrascht werden von einem fallenden Ziegel, von einem Herzschlag, von
einer Explosion usw.?
5. Wovor haben Sie mehr Angst: Dass Sie
auf dem Totenbett jemand beschimpfen
könnten, der es nicht verdient, oder dass
Sie allen verzeihen, die es nicht verdienen?
15. Wissen Sie, wo Sie begraben sein möchten?
16. Wenn Sie an ein Reich der Toten (Hades)
glauben: Beruhigt Sie die Vorstellung, dass
wir uns alle wieder sehen auf Ewigkeit, oder
haben Sie deshalb Angst vor dem Tod?
6. Möchten Sie wissen, wie Sterben ist?
7. Wem gönnen Sie manchmal Ihren eigenen Tod?
17. Können Sie sich ein leichtes Sterben
denken?
8. Wenn Sie gerade keine Angst haben vor
dem Sterben, dann deswegen, weil Ihnen
dieses Leben gerade lästig ist, oder weil
Sie gerade den Augenblick genießen?
18. Wenn Sie jemand lieben: Warum möchten Sie nicht der überlebende Teil sein, sondern das Leid dem Andern Überlassen?
9. Was stört Sie an Begräbnissen?
19. Wieso weinen die Sterbenden nie?
Max Frisch, Tagebuch II; Frankfurt, 1972
36
blieben alle Versuche sein Leben zu retten
erfolglos. Damals habe ich wohl schon
diese Erkenntnis gewonnen: Gott hat's (das
Leben) gegeben und ER kann's jederzeit
nehmen bzw. zurückfordern.
Die Erinnerung an den Tod meines Vaters
ist für mich auch immer mit dem Beginn
meines sexuellen Missbrauchs durch einen
meiner Brüder verbunden. Ich hatte kein
gutes Verhältnis zu meinem Vater und mit
ihm starb damals auch meine Kindheit! Es
waren viele Jahre lang sehr schmerzhafte
Erinnerungen, doch auch diese hat Jesus
geheilt und wenn ich heute an meine Eltern
und meinen Bruder denke, bin ich von
Frieden erfüllt. Und ich bin oft sprach- und
fassungslos, wenn ich auf mein Leben zurückblicke, wie Gott doch mein ganzes
Chaos immer wieder zum Guten und Heil
gewendet hat. Unglaublich! Erst heute hat
mir ein Kollege gesagt: "Sophia, wenn man
dich ansieht glaubt man wirklich, dass du
glücklich bist! Das Strahlen in deinen Augen und dein Lächeln!" Darauf habe ich
ihm nur geantwortet: "Das Leben ist
schön!" Ja, obwohl ich doch einen recht
schweren Weg gegangen bin, auf dem ich
selber viele lebensbedrohliche Situationen
erlebt habe und durch viele Täler der Tränen gegangen bin, ist das Leben schön!
"Wenn ich ans Sterben
denke, denke ich heute ans
Heimgehen."
Das war nicht
immer so. Im
Laufe meines
Lebens habe
ich viele Begegnungen und
Erfahrungen
mit dem Tod
gehabt und
sammeln dürfen. Erst vor ein
paar Tagen ist
ein guter Bekannter ganz
plötzlich aus
d i e s e r We l t
abberufen worden - gerade mal 52 Jahre
waren ihm geschenkt worden.
Meine erste Erinnerung stammt aus meiner
ganz frühen Kindheit. Die Oma unseres
Nachbarn wurde auf den Friedhof gefahren
und ich saß an unserem Küchenfenster
und sah den Sarg auf dem Wagen den Hof
verlassen. Meine nächste Erinnerung in
Bezug auf Tod und Sterben habe ich, als
ich so um die sechs Jahre alt war. Da ich
so was wie eine kleine "Anführerin" in unserem Dorf war, habe ich den Kindern das
Hochfest Maria Himmelfahrt erklärt. Und
ich wollte sie davon überzeugen, dass wir
alle so leben müssten wie Maria - ohne
Sünde -, damit wir das Fegefeuer umgehen
könnten. Schöne Kinderträume!
Bis zu meiner Verhaftung vor fast acht
Jahren hatte ich immer einen Traum, der
mich schweißgebadet erwachen ließ. Er
verfolgte mich sogar während meines sorgenfreien Lebens im Diplomatischen
Dienst, als Geld wirklich gar keine Rolle
spielte und mein Lebensmotto war: Was
kostet die Welt? Ich träumte, ich lag auf der
Totenbahre, wurde plötzlich wach und stellte mit Entsetzen fest, dass ich nun tot sei
und bei all meinem Tun das Leben vergessen hatte! Und ein entsetzliches Bedauern
über all das Wichtige, was ich in meinem
Leben versäumt hatte, erfüllte mich. Wie
Als ich gerade mal acht Jahre alt war, kam
eine sehr einschneidende Begegnung mit
dem Tod: Mein Vater starb vor meinen und
den Augen meiner Familie. Obwohl zwei
Ärzte und der Krankenwagen da waren,
37
froh war ich jedesmal, dass es doch nur ein
Traum gewesen war.
eskandidaten, die einem selbst am Leben
hindern. Vergebung ist das Einzige, was
wirklich frei macht und wer frei ist, kann
das Leben in Fülle haben, wie Jesus uns
das verheißen hat.
Seit meiner Verhaftung am 28.12.2007
hatte ich diesen Traum nicht mehr. Und ich
denke der Grund dafür ist, dass ich seinerzeit im Knast die Entscheidung traf: Ich will
leben! Trefft auch Ihr diese
Entscheidung.!Macht es nicht wie mein
damaliger Freund, der mir aus dem Knast
schrieb: "Mausl, die Zeit hier im Gefängnis
ist tote Zeit." Für ihn war es wohl tote Zeit,
ein Jahr später war er wirklich tot!
Und wenn es für einen Christen um den
Tod geht, geht es auch um das Thema
Märtyrertum. Da werden viele lachen. Für
den Glauben sterben geht doch gar nicht
hier in Deutschland, wir haben doch Glaubensfreiheit. Das stimmt - noch haben wir
das, aber in wie vielen Ländern dieser Erde
werden die Christen verfolgt und sterben
auf brutalste Weise für ihren Glauben?.
Und es gibt ja nicht nur das rote - blutige
Märtyrertum, sondern auch das weiße. Und
dieses Märtyrertum ist in unserer glaubensfeindlichen Welt nicht so abwegig, zumal
ich mich hier in Berlin oft wie ein Schaf
fühle, das man unter die Wölfe geschickt
hat. Von meinen elf männlichen Arbeitskollegen hat keiner mit Glauben was am Hut.
Aber ich nehme dieses Kreuz gerne auf
mich, zumal es ja sowieso Jesus trägt. In
diesem Sinne: Im Kreuz ist Heil, im Kreuz
ist Leben und der Tod ist nicht das Ende
sondern der Beginn!
In meinem Leben habe ich viele Menschen
sterben sehen, manche friedlich, im Reinen
mit sich, Gott und der Welt. Aber auch jene,
die nicht loslassen konnten, weil noch etwas zu klären war, und das war immer ein
sehr schweres Sterben. Aber eine schöne
Erinnerung möchte ich Euch noch kurz
schildern. Mein Beinah-Schwiegervater war
krank und mein Freund und ich haben ihn
besucht. Er lag auf der Palliativstation und
für meinen Freund war der Anblick seines
hilflosen Vaters unerträglich und er ging.
Ich blieb und als man ihn zur Bestrahlung
abholte und rausschob, bat er mich um
einen Schluck Wasser. Er konnte seine
Arme und Hände nicht mehr bewegen. Ich
gab ihm ein Glas Wasser und sein "Danke"
ist das Letzte, was ich von ihm hörte. Am
nächsten Morgen war er tot! Ja, und genau
dieses "Danke" behalte ich von ihm in Erinnerung, alles Negative lasse ich los.
Der Segen und
die Allmacht
des Vaters
bewahre Euch,
die Liebe,
Weisheit und
Barmherzigkeit
des Sohnes
regiere Euch
und die Gnade
und Kraft des
Heiligen Geistes führe und
stärke Euch.
Die Volksweisheit "Über Tote spricht man
nicht schlecht!" enthält viel Wahrheit. Man
soll sich an das Gute erinnern und das
Schlechte loslassen und um seiner selbst
willen vergeben, damit man selber Frieden
findet. Es gibt kaum schlimmere Sätze als:
„Dem/der werde ich das nie vergessen!"
Damit begibt man sich und nimmt andere in
die Gefangenschaft der Unversöhnlichkeit,
sprich Hass, Zorn, Verbitterung - alles Tod-
Sophia
38
ne dieser "Präambel" umgesetzt bzw. ausgelegt werden. Als Ergebnis davon erwartet
also die Gesellschaft mit Recht einen
strengen, aber sinnvollen Strafvollzug, an
dessen Ende ein resozialisierter ehemaliger Straftäter wieder als vollwertiges Mitglied in die Gemeinschaft eingegliedert
werden kann.
Plädoyer für einen humaneren und pro-sozialen
Strafvollzug
Teil 2:
Strafvollzug schadet der Gesellschaft, wenn ...
Aber durch das zum Teil exzessive Auslegen von "Gummiband-Begriffen und -Bestimmungen" des Gesetzes durch die Vollzugsbürokratie, durch restriktive Verwaltungsbestimmungen sowie rigide Hausordnungen und Einzelweisungen vor Ort wird
deren Sinn fast ins Gegenteil verkehrt. Das
Ergebnis: Die Mehrzahl der Haftentlassenen wird wieder straffällig, hat sich durch
die Haft eher negativ entwickelt und die
In Teil 1 wurde dargestellt, warum der
Strafvollzug ein "blinder Fleck" mitten in
unserem Gemeinwesen ist. Kritikpunkte
waren vor allem:
- das Fehlen eines staatlichen Konzepts
zur positiven Veränderungen von Strafgefangenen,
- das für die Verantwortlichen folgenlose
Versagen bei ihrem Resozialisierungsauftrag sowie
- der große Raum für Willkür
beim Umgang mit Inhaftierten.
Im Folgenden geht es um
Schäden, die der Strafvollzug
der Gesellschaft zufügt, wenn
er denn so bleibt, wie er überwiegend ist. Als Beispiel dienen
erneut persönliche Erlebnisse
aus Vollzugsanstalten in Bayern.
Das zentrale Korrekturinstrument der Justiz - der
Strafvollzug - beugt das Gesetz willkürlich
anderen, sowie viele betroffene Familien
verursachen dem Sozialstaat hohe Kosten
- die verheerenden Folgen für potenzielle
Opfer noch gar nicht eingerechnet.
Die Strafvollzugsgesetze der Länder formulieren gute Grundsätze und Rahmenbedingungen, nach denen der Freiheitsentzug zu
gestalten ist, in Bayern z. B. in den Artikeln 26. Es sind richtungweisende Aussagen,
mit ähnlicher Funktion wie die Präambel für
das Grundgesetz. Der Gesetzgeber will,
dass die sonstigen Bestimmungen im Sin-
Weil das gegen den Sinn des Gesetzes
gerichtete Handeln und Argumentieren des
Strafvollzugs so flächendeckend gleich
angewendet wird und weil dies zum Teil
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auch noch durch erste Gerichtsinstanzen
geduldet wird, muss man davon ausgehen,
dass es sogar der politische Wille ist, zwar
ein schönes Gesetz herzuzeigen, aber
einen rigiden Vollzug mit belastenden Folgen für Gefangene zu praktizieren. Wegsperren, Außenkontakte austrocknen und
billig verwahren scheinen die eigentliche
Präambel für die Entscheider im Alltag zu
sein. Der Resozialisierungsauftrag wird
zumeist nur geringschätzig belächelt. Das
kommt u. a. davon, dass kein Bediensteter
dafür verantwortlich gemacht wird, wenn
die Wiedereingliederung von Haftentlassenen (zumeist!) misslingt. So wird nicht nur
der Anspruch von Gesetzgeber und Souverän missachtet, sondern auch das Gesetz
systematisch gebeugt, zum sozialen und
finanziellen Schaden der Gesellschaft!
Zum Beispiel gibt das Gesetz vor:
Bediensteten Ermessenssache. So kann
also auch "Behandlung" alles oder nichts
sein. Wieder bleiben deshalb die Gefangenen sich selbst überlassen.
3. Nach dem "Angleichungsgrundsatz"
soll "das Leben im Vollzug den allgemeinen
Lebensverhältnissen so weit wie möglich
angepasst werden". Man könnte also meinen, dass es hier z. B. um den Schutz der
Familienbeziehungen, die Internetnutzung
oder respektvolle Umgangsformen geht.
Aber was genau gemeint ist und was "so
weit wie möglich" bedeutet, bleibt wieder
Ermessenssache. "Möglich" kann also alles
oder nichts sein. In der Praxis bleiben deshalb den Gefangenen die "allgemeinen
Lebensverhältnisse" verwehrt. So verweigern z. B. Anstalten trotz gähnender Leere
in manchen Besucherräumen jegliche weitere Besuchsgewährung über die ein bis
zwei Stunden Regelbesuch pro Monat hinaus. Welcher normale Mensch in Freiheit
wäre in der Lage, auch nur einen Bruchteil
seiner sozialen Beziehungen aufrecht zu
erhalten, wenn er dazu nur ein bis zwei
Stunden pro Monat verwenden dürfte?
1. Die Aufgabe des Vollzugs (neben dem
Schutz der Allgemeinheit vor weiteren
Straftaten) soll es sein, die Gefangenen zu
"befähigen, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen".
Wann "künftig" ist und wer sie wodurch
befähigen soll, bleibt für jeden Bediensteten Ermessenssache. Befähigung kann
also alles oder nichts sein - in der Regel
bleiben deshalb die Gefangenen sich
selbst überlassen. Es gibt Gefangene, denen bis zum Entlassungstag verweigert
wird, sich durch Vollzugslockerungen um
Wohnung und Arbeit zu kümmern. Die Folge: Der erneute Absturz bald nach der Entlassung.
4. Nach dem "Gegenwirkungsgebot" ist
schädlichen Folgen des Freiheitsentzugs
(die der Gesetzgeber eingesteht) entgegenzuwirken. Es handelt sich hier sogar
um einen der leider seltenen IST-ZUGrundsätze, d. h. es MUSS so verfahren
werden. Dennoch sind Beziehungsabbrüche, schlechte Einflüsse durch die Subkultur und Kommunikationsverweigerung an
der Tagesordnung für Gefangene. Wer
versucht, dagegen anzugehen, hört höchstens: "Sie wissen doch, wo Sie hier sind",
"das ist halt kein Wunschkonzert" oder ähnlich dümmliche Geringschätzungen. Man
bekommt zu spüren, dass oft gar kein Wille
vorhanden ist, entgegenzuwirken - im Gegenteil: Wo der kleine Machtbereich einzelner Bediensteter es zulässt, wird gerne
2. Der "Behandlungsauftrag" definiert
Behandlung leider nur als "alle geeigneten
Maßnahmen", deren Art und Umfang an
den Defiziten der Gefangenen orientiert
werden sollen. Der Vollzug interessiert sich
aber zumeist weder für deren Defizite,
noch für deren Stärken oder gar deren Pläne. Was also "geeignet" ist, bleibt für jeden
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noch eine Repression draufgesetzt. Die
Gefangenen sehen sich einer Grundhaltung des Misstrauens und von ihnen als
schikanös empfundener Maßnahmen gegenüber. Spricht man das an, kann man zu
hören bekommen: "Mit einem …..... diskutiere ich nicht!"
Als letztes Beispiel die Vorgaben zur "Planung des Vollzugs", wonach "die Planung
der Behandlung mit dem Gefangenen erörtert wird". Dazu wird ein Vollzugsplan
erstellt und jährlich fortgeschrieben. Das
liest sich so, als würde sich der Vollzug
planerische Gedanken machen und diese
dann mit dem Gefangenen synchronisieren. Weit gefehlt. So kann es schon mal
passieren, dass ein Gefangener nach vier
Jahren Haft gesagt bekommt, dass noch
gar kein Vollzugsplan erstellt wurde! Die
"Erörterung" kann z. B. so aussehen, dass
man vor eine Art Tribunal zitiert wird, wo
der fertig ausgedruckte Vollzugsplan auf
dem Tisch liegt. Man kann ihn dann entweder mitnehmen oder liegen lassen. Eine
Erörterung ist spürbar unerwünscht, weil
man lieber über Betroffene hinweg entscheidet, als sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Zudem wäre eine Diskussion ja
auch vergebens, denn das Dokument ist
bereits ausgefertigt. Liest man Vollzugspläne, so findet sich darin fast nie das Wort
Planung oder gar konkrete konstruktive
Maßnahmen mit Zeitplan. Das Papier beschränkt sich in der Regel auf die Aufzählung dessen, was war und was ist, z. B. die
inhaltsschweren Aussagen, was der Gefangene für einen Zivilberuf hatte und dass
er nun in einer Einzelzelle untergebracht
ist. Selbst zahlreiche und beanstandungsfrei absolvierte Lockerungsmaßnahmen
werden nicht zwangsläufig aufgenommen.
Auf Nachfrage hört man: "Wen das interessiert, der kann ja in der Gefangenenakte 41
nachschauen". In die Zukunft gerichtete
Aussagen finden sich zumeist nur in der
verwehrenden Form, z. B.: "Ist noch verfrüht", aber ohne den Zusatz, was man
denn tun könnte, um das zu ändern oder
ab wann es nicht mehr verfrüht wäre. Die
guten Gesetzesvorgaben zur Vollzugsplanung werden vom Apparat eher als lästiges
5. Der "Eingliederungsgrundsatz" gibt
dem Vollzug auf, den Gefangenen zu helfen, sich in das Leben in Freiheit einzugliedern. Von Hilfe (gar freiwilliger) ist aber
kaum etwas zu spüren. Die dafür bezahlten
Fachdienste sind, wenn sie denn zu den
Willigen gehören, personell so unterbesetzt, dass nicht mal diejenigen Gehör bekommen, die sich nach Kräften darum bemühen, geschweige denn, dass jedem
Gefangenen aktiv Hilfe angeboten würde.
So kann es Wochen dauern, bis man zu
einem Gespräch vorgelassen wird und
viele Anliegen sind bis dahin allein durch
Zeitablauf den Bach hinunter gegangen.
6. Nach dem "Mitgestaltungsgrundsatz"
sollen Gefangene an der Gestaltung ihrer
Haftzeit mitwirken. Es ist sogar "ihre Bereitschaft hierzu zu wecken und zu fördern". Man kann aber kaum beschreiben,
wie krass gegenteilig verfahren wird! Wer
zu erkennen gibt, dass er eigene Ideen in
die Gestaltung der Haftzeit einbringen will
(zumeist schriftlich, denn Gespräche mit
Betroffenen werden wo immer möglich
vermieden), wird schnell Gegenwind spüren und dass das System erwartet, dass
der Gefangene schweigt, hinnimmt und
keine Arbeit verursacht - schon gar keine
Ansprüche stellt, so begründet oder legitim
sie auch sein mögen. Wer dennoch mitwirken will, ggf. auch unter der Nutzung von
Rechtsmitteln, wird als Querulant abgestempelt und noch schlechter behandelt,
als wenn er einfach alles hätte mit sich
machen lassen.
41
Übel betrachtet und verkommen zu einem
folgenlosen Papiertiger.
ländern?) geben, in denen grundsätzlich
anders verfahren wird, aber das macht die
Analyse nicht besser - letztlich ist auch das
(positive) Willkür im System.
Tote Zeit
Es ist beeindruckend, wie der
Gesetzgeber (der Souverän)
dem Vollzug Inhalt, Sinn und
Perspektive geben will und
darauf abhebt, die Entlassung
und reibungslose Wiedereingliederung bestmöglich vorzubereiten. Aber im Alltag
würgt der Strafvollzug diese
Zielrichtung sukzessive ab.
Was bleibt, beschreiben die
meisten Gefangenen als "vertane Zeit", "Langeweile" oder
"Zeit totschlagen" - mit oft
unwürdiger, menschenfeindlicher Behandlung, der Arroganz und Willkür von Mächtigeren ausgeliefert.
Ohne die Schuld von Straftätern zu verkennen, aufgrund
derer sie mit Freiheitsentzug
bestraft werden - aber so
schadet der Strafvollzug mehr
als er nutzt. Das "Objekt"
Strafgefangener, der Problemfall von damals, wird mit so
einer "Behandlung" höchstens
konserviert oder entwickelt
sich sogar negativ, bis er
dann mit der Entlassung zum
noch größeren Problem für die
Gesellschaft wird. Fazit:
Teil 3 wird aufzeigen, wie Strafvollzug mehr
Sinn machen und der Gesellschaft besser
dienen könnte:
Dieser Strafvollzug schadet der Gesellschaft, verschwendet Steuergelder und
ist schuldig der unterlassenen
Hilfeleistung für künftige Opfer!
Strafvollzug als konstruktive Herausforderung - human und pro-sozial
Zwei Betroffene aus dem Strafvollzug in Bayern
Die Namen sind der Redaktion bekannt.
Sicher, es gibt viele Bedienstete, die ihr
Bestes geben oder gerne geben würden,
es soll auch Anstalten (in anderen Bundes42
Mein Gott für immer
O Herr, ich bitte dich
nach dieser langen Zeit.
Ich frage mich:
Ist es nun so weit?
So viele Jahre Einsamkeit,
Glieder müde, Haar wird grau.
Sehnsucht macht sich in mir breit.
Ich will den Himmel sehn in blau.
Fast 30 Jahre ist es her,
als ich in Freiheit lebte.
Ich wünscht‘, ich hätt‘ vom Leben mehr,
kein Blut, das an den Händen klebte.
Das Dasein fristen in der Haft,
nur Mauern, Einschluss, Gitter.
Es saugt aus meinem Körper Kraft,
ist öde, trist und bitter.
Schenke Du mir neues Leben,
gib mir all das, was mir so fehlt.
Deine Liebe will ich weiter geben.
Das ist es, was jetzt wirklich zählt.
Du hast mich auf die rechte Bahn gelenkt,
hast mich gestützt, getragen.
Mit festem Glauben mich beschenkt.
Nun will ich neues Leben wagen.
Zerbrich die Mauern um mich rum,
schließ auf verschlossne Türen!
Lass es werden - bleib nicht stumm!
Du wirst mich in die Freiheit führen.
Ich will Dir noch mal Danke sagen,
für alles, was Du mir gegeben.
Nun werd ich niemals mehr verzagen.
Du bist und bleibst mein Segen!
Dirk, JVA Straubing
43
Wieso?
Wieso kann ein Mensch gleichzeitig "lebendig" und doch "tot" sein?
Wieso verschwende ich so viel Lebenszeit in
einer selbst gemachten Gefängniszelle der
Angst, der Unmöglichkeiten, der Hoffnungslosigkeit, des Alleinseins?
Wieso fühle ich mich gefangen, unbeteiligt
und leblos, obwohl ich in Freiheit lebe?
Wieso bin ich noch lebensresistent und damit
todgeweiht?
Wieso lasse ich ein Sterben auf Raten zu?
Wieso verweigere ich das Leben
und die Liebe?
Wieso widerstehe ich nicht dem Tod alter
Gewohnheiten, zugemüllter Gedankengebäude, alter lebloser Rituale?
Wieso ergreife ich nicht mit Offenheit das
Neue?
Wieso bin ich eher todesmutig und nicht lebensmutig und lebensfroh?
Wieso glaube ich eher den Angeboten der
Welt und nicht den Versprechungen und Zusagen Gottes auf das wahre Leben?
Wieso verweigere ich noch den Weg zum
Licht, da es doch heißt: ICH bin der Weg, die
Wahrheit und das Leben?
Wieso glaube ich noch nicht, dass der Tod
besiegt ist, durch Jesus Christus?
Wieso …
Dieses Bild hat Anne zur Linden
kurz vor ihrem Tod gemalt.
Ella Anders
44
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Ein Brief ist
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Herzzelle
Mein Herz ist gefangen in einer Zelle, mit meinen Gefühlen trete ich auf derselben Stelle.
Auf der Stelle, an der wir uns das letzte Mal gesehen, und ich wusste, dass
die Zellen unserer Herzen sich blind verstehen.
In deinem Wesen konnte ich immer meine Gefühle, die ich für dich habe, widergespiegelt lesen.
Nun habe ich manchmal Angst, dass mir dein Wesen fremd, während die
Zellwand mein Herz einklemmt und jedes Gefühl, das sich mir trotzdem aufdrängt.
Es ist die Zelle, die mich beengt und nach und nach die Fähigkeit des Fühlens einschränkt.
Es ist jede Zelle in meinem Herzen, die sich teilt vor Schmerzen.
Gefangene meiner Gefühle, die ich noch fühle, gibt es endlose Schichten der
Erinnerungen, durch die ich mich gedanklich wühle.
Und jede Zelle meines Herzens pocht - toch - toch, wenn das Gefühl zu dir
hochkocht und hinaus zu dir will und drängt bis ins letzte Loch.
Ins letzte Loch der Zelle, gegen deren Wände ich mit meinem Herzen prelle:
tonk - tonk
So weiß ich, es gibt keinen Weg da raus und ich komme auch meinen Gefühlen nicht aus. So höre ich auf, nach außen zu drängen und mich dadurch nur
zu beengen. Deshalb such ich in mir den kleinsten Teil von dir.
Denn in meinem Herzen da ist eine Stelle, da gehört dir jede einzelne Zelle.
Wenn ich denke, gefangen zu sein, dann schau ich in mein Herz hinein und
spüre: Es pocht: toch - toch -, da ist noch kein Loch.
Mit vielen Zellen meines Herzens muss es nicht mehr schmerzen, bin ich bei
dir. Auch wenn ich dich mal verlier, mich - gefangen in einer Zelle zu dir - distanzier.
Lass ich es zu und was ich in meinem Herzen finde, ist was mich mit dir verbindet.
So schau ich nach innen und lasse die Zeit verrinnen, so bin ich frei, habe
dich im Herzen immer dabei.
Du hast mich eingefangen und ich lasse mich gefangen nehmen, bis meine
Herzzellen ableben und keine Liebe mehr geben.
Doch noch bist du in meinen Herzzellen, bis unsere Wesen wieder aufeinander prellen.
Noch bist du in meiner Herzzelle gefangen, bis wir uns wieder sehen dann.
Dann...
Natascha, JVA München
46
TERMINE
28.10.15
13.12.15
27.12.15
20.01.16
17.04.16
17.30 Uhr Firmgruppe Poing Tabor WG
8.00 Uhr Gottesdienst in Stadelheim und Schwarzenberg
15.00 - 18.00 Weihnachtsfeier in der Tabor WG
17.30 Uhr Firmgruppe Gelting, Tabor WG
10.00 Gottesdienst St. Josef, Puchheim
Weihnachtsfeier TABOR e.V.
Wie jedes Jahr laden wir auch heuer wieder Freunde und Bekannte,
Neugierige, ehemalige Bewohner ... zu einem
weihnachtlichen Nachmittag in unsere Wohngemeinschaft ein:
Sonntag, 27.12.15, 15.00 - 18.00 Uhr
Bei gemeinsam gesungenen Liedern, Geschichten, Plätzchen, Tee, Kaffee wollen wir das Weihnachtsfest nachklingen lassen.
Wenn Ihr etwas von Eurem Weihnachtsgebäck übrig habt, könnt ihr gerne davon
mitbringen. Auch eigene weihnachtliche Geschichten oder Gedichte freuen uns.
Abholdienst von S-Bahn Kirchseeon ist möglich!
Das nächste Tabor-Magazin erscheint zu Ostern 2016
zum Thema:
"Barmherzig sein? - Kann ich mir nicht leisten!?"
Wenn Du einen Beitrag (eigener Bericht, eine eigene Geschichte, ein
Gedicht, ein gemaltes Bild etc.) veröffentlichen willst, dann schreibe an:
Tabor-Rundbrief-Redaktion, Altenburg 33, 85665 Moosach
Einsendeschluss: 1.März 2016
47
IMPRESSUM
Herausgeber:
Redaktion:
Anschrift:
Telefon:
E-Mail:
Homepage:
Druck:
Auflage:
Fotos:
Erscheinungsdatum:
TABOR e.V.
Josef Six, Norbert Trischler
Altenburg 33, 85665 Moosach
08091-5586-15/-0
info@tabor-ev.de
www.tabor-ev.de
Jugendwerk Birkeneck
1600 Stück
N. Trischler
Herbst, November 2015
An diesem Heft haben mitgearbeitet:
Sophia Brandl, Dirk Landwehr, Gitti, Ella, Marcel. Natascha, Andreas, Natascha, Astrid, Juliane, Kuno,
Herbert M., Josef Six, Ingrid und Norbert Trischler, A., H.Martin, Tyson Monika, Zimmermann Uli, Sabine,
Shawna, Gerhard
Die Artikel geben grundsätzlich die Meinung der Verfasser wieder, was nicht unbedingt
der Meinung des Tabor e.V. entspricht. Wir konnten nicht alle uns zugesandten Beiträge
ins Heft aufnehmen und bitten um Verständnis.
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Das Buch des Lebens geschrieben
erloschen des Lebens Licht
Das Kreuz - Hoffnung auf ,drüben‘
Noch seh‘ ich die Grenze nicht.
Doch ich vertrau‘ auf IHN, den ,Ich-bin-da‘.
49
ER ist mir hier und drüben
nah!
Vlasta Levorová
JVA Aichach