Schalcks „KoKo“: Mythos und Realität1 Am 30. Oktober 1989
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Schalcks „KoKo“: Mythos und Realität1 Am 30. Oktober 1989
Schalcks „KoKo“: Mythos und Realität1 Am 30. Oktober 1989 präsentierte das DDR-Fernsehen einen großen, stämmigen Mann und stellte ihn als Dr. Alexander Schalck-Golodkowski, Staatssekretär im Ministerium für Außenhandel und Leiter des Bereiches Kommerzielle Koordinierung vor.2 Weder von der Person, noch von der von ihm geführten Institution, die danach mit ihrer bis dahin nur internen Kurzbezeichnung „KoKo“ bekannt wurde, hatten die meisten DDR-Bürger zuvor etwas gehört. Nur Außenhändlern und den Leitungen exportintensiver Kombinate waren sie bekannt, obwohl jeder DDR-Bewohner an bestimmten Bürogebäuden in Ost-Berlin sehr wohl die Türschilder „Bereich Kommerzielle Koordinierung“, „Intrac“, „Zentralkommerz“ oder „Transinter“ hatte lesen können. Dass die genannten Firmen zu KoKo gehörten und was sie genau taten, wussten sie indes nicht. Allein die „Forum Handelsgesellschaft“, ein weiteres KoKo-Unternehmen, war ausnahmslos jedem DDR-Bürger bekannt. Sie fungierte als Großhändlerin für das inländische Netz an Intershops. In der Fernsehsendung wurde Schalck durchaus freundlich behandelt. Zwar wurde er auch zur Versorgung der Politbürosiedlung in Wandlitz bei Berlin befragt, stammelte da etwas, aber insgesamt lernten die Zuschauer einen gewieften Verhandler, einen Macher kennen, kurz: den richtigen Mann für die Krise, in der die DDR im Herbst 1989 steckte. Mit ihm, so schien es, könnte man mit dem Westen verhandeln, um neue Kredite zu bekommen. Um das leckgeschlagene Schiff DDR wieder flott zu machen. 1 Der Aufsatz basiert wesentlich auf meinem Buch „Der Bereich Kommerzielle Koordinierung. Das DDR-Wirtschaftsimperium des Alexander Schalck-Golodkowski – Mythos und Realität“, Berlin 2013 (im Folgenden Judt 2013). 2 Hannes Bahrmann/Christoph Links, Chronik der Wende. Die DDR zwischen7. Oktober und 18. Dezember 1989, Berlin 1994, S. 66f. 1 Knapp fünf Wochen später sah Schalck für sich und seine Frau keinen anderen Ausweg mehr, als in der Nacht vom 2. zum 3. Dezember 1989 über den Grenzübergang Invalidenstraße in Berlin in den Westteil der Stadt zu fliehen und sich der dortigen Polizei zu stellen.3 Er war gerade erst von Verhandlungen beim Diakonischen Werk in Stuttgart in die DDR zurückgekehrt, doch sein Freund und Anwalt Wolfgang Vogel warnte ihn nun, dass seine Verhaftung bevorstehe. Der Volkskammerausschuss zur Untersuchung von Amtsmissbrauch und Korruption hatte just während Schlacks Aufenthalt in Baden-Württemberg beschlossen, ihn vorzuladen. Binnen weniger Wochen war aus dem Macher vom Oktober ein Sündenbock geworden, vermeintlich verantwortlich allein für fragwürdige und illegale Geschäfte von KoKo.4 In der Tat waren in den Wochen zwischen Schalcks Fernsehauftritt und seiner Flucht (und weiter auch danach) Berichte in den DDR-Medien erschienen, die das Bild von KoKo in der Öffentlichkeit nachhaltig prägen sollten. In Kavelstorf bei Rostock hatten Bürger ein Waffenlager der KoKo-Firma „IMES“ gefunden. Hier lagerten Waffen aus DDR-Produktion, aus anderen staatssozialistischen Ländern, aber auch solche von westlichen Herstellern. Der selbst deklarierte „Friedensstaat“ hatte also sein Geld auch mit einem schwunghaften Waffenhandel verdient.5 3 Alexander Schalck-Golodkowski, Deutsch-Deutsche Erinnerungen, Reinbek 2000 (im Folgenden Schalck 2000), S. 15. 4 Volkskammer, Protokolle, 9. Wahlperiode, Bd. 25, o.O. [Berlin] 5 Jürgen Borchert, Die Zusammenarbeit des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) mit dem sowjetischen KGB in den 70er und 80er Jahren. Ein Kapital aus der Geschichte der SED-Herrschaft, Münster 2006, S. 192-194 2 In Mühlenbeck bei Berlin wurde ein vollklimatisiertes Lager einer weiteren KoKo-Firma, der „Kunst & Antiquitäten GmbH“, entdeckt: KoKo verscherbelte also auch Kulturgüter im großen Stil, vermeintlich im Bruch der DDR-Verfassung, aber auch so fragwürdig.6 Im Ost-Berliner Stadtteil Karlshorst wurden DDR-Journalisten, die gerade aufrecht gehen lernten, in die Geschäftsräume des „Staatlichen Handelskontors Letex“ geführt. Es war zuständig für die Versorgung der Politbürosiedlung mit Obst und Gemüse aus West-Berlin und besorgte auch schon mal den einen oder anderen Schmuddelfilm für die in die Jahre gekommenen Herren aus dem Politbüro. Reporter des DDR-Jugendfernsehens „Elf99“ gelangten schließlich in die Politbürosiedlung, filmten im dortigen Sonderladen die sonst in der DDR so raren Bananen ab und zeigten, dass die Mitglieder der obersten SED-Führung auch ansonsten eher westliche Haushaltsgeräte bevorzugten. Ganz offensichtlich predigten sie öffentlich Wasser und tranken heimlich Wein. In Bezug auf KoKo taten Berichte über die Belieferung des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) mit westlicher Spionagetechnik und überhaupt die enge Verbindung Schalcks mit dem MfS ihr Übriges. Die Eheleute Schalck waren zwei der mindestens neun „Offiziere im besonderen Einsatz“. Der Besatz an „inoffiziellen Mitarbeitern“ bei KoKo schien besonders hoch zu sein, doch niemand fragte zu diesem Zeitpunkt, was deren tatsächliche Funktion im Bereich war. KoKo wurde fortan dämonisiert, war skandalumwittert und irgendwie Schuld an der ökonomischen Misere der DDR. Viel wurde seitdem über IMES, KuA, Forum und Intrac geschrieben, aber wenig über „Delta“, „Interport“ oder „Camet“, Firmen, die von der KoKo 6 Ulf Bischof, K&A. Die Kunst und Antiquitäten GmbH im Bereich Kommerzielle Koordinierung (=Schriften zum Kulturgüterschutz), Berlin 2003; Michael Anton, Illegaler Kulturgüterverkehr, Berlin 2010, S. 1029f. 3 zwar „handelspolitisch angeleitet“ wurden, jedoch sich im Besitz bzw. der Führung durch die SED bzw. die Hauptverwaltung Aufklärung des MfS befanden. Schon deshalb ist der Mythos um KoKo, der im Herbst 1989 entstand und eigentlich bis zum heutigen Tag sich hartnäckig hält, zu hinterfragen. Doch der Mythos rankt nicht allein um die die Beteiligung an fragwürdigen Geschäften, sondern auch um tatsächliche oder nur vermeintliche besondere Fähigkeiten von KoKo. Es ist hier zu analysieren, ob KoKo die so vielfach beschworene „marktwirtschaftliche Nische“ innerhalb der DDR-Planwirtschaft war, ob KoKo tatsächlich flexibler war, marktorientierter. Auf Schalcks Flucht reagierte die Modrow-Regierung panikartig. KoKo-Konten wurden unter die Kontrolle des Finanzministeriums gestellt, IMES und KuA wurde sofort jedwede Geschäftstätigkeit untersagt. Im Hinblick auf ihre rechtlichen Rahmenbedingungen wurden die KoKo-Unternehmen den Betrieben des geplanten Außenhandels gleichgestellt. Einzelne Firmen strukturierten sich um, fast alle erhielten neue Namen. Der ihnen übergeordnete Bereich wurde in die Abwicklung geschickt.7 Am 30. März 1990, nur einen Tag weniger als 24 Jahre nach seiner Gründung, hörte der Bereich Kommerzielle Koordinierung auf zu existieren. Das knappe Vierteljahrhundert früher war KoKo indes unter ganz anderen Vorzeichen und mit wichtigen Zielen gegründet worden, deren Umsetzung in den Jahren bis 1989 es begründen, KoKo und seine Tätigkeit entschieden differenzierter zu bewerten. Die Schätzungen über die von den KoKo-Unternehmen erwirtschafteten Gewinne lassen 7 Bericht der Sonderkommission des Ministerrates zur Untersuchung von Amtsmissbrauch und Korruption im Zusammenhang mit der Tätigkeit des Bereiches Kommerzielle Koordinierung (vom 12. März 1990), in: BA Berlin, DL 2 / KoKo, Nr. VA 845 (im Folgenden „Bericht vom 12. März 1990“, Bl. 136 – 158. In diesem Text werden die Archivsignaturen so angegeben, wie sie zum Zeitpunkt der Einsicht in die Akten Gültigkeit besaßen. Das Bundesarchiv Berlin hat inzwischen neue Archivsignaturen eingeführt, die auch den Bestand „Bereich Kommerzielle Koordinierung“ (und andere) betreffen. 4 erkennen, dass sie unmöglich allein durch die Belieferung von Wandlitz mit Bananen stammen konnten. Schalck selbst erklärte in seinen 2000 erschienenen Memoiren, KoKo habe 25 Milliarden DM Gewinn erwirtschaftet.8 Zwei Volkswirte des Hamburger Weltwirtschaftsarchivs, Dieter Lösch und Peter Plötz, errechneten 1994 in ihrem Gutachten für den ersten KoKo-Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages einen Betrag über 27 Milliarden DM.9 In meiner 2013 erschienenen Studie zum Bereich Kommerzielle Koordinierung summierte ich die nicht ganz vollständigen Angaben auf wenigstens 27,2 Milliarden DM.10 Wegen fehlender Angaben zu einzelnen Firmen und Jahren kann indes begründet geschätzt werden, dass die KoKo-Gewinne den Betrag von 28 Mrd. DM überschritten haben werden. KoKo war zwar durchaus jederzeit bereit, mit fragwürdigen oder gar illegalen Methoden Devisen zu erwirtschaften: Aus Fernost bezogene Textilien wurden um etikettiert und als vermeintliche DDR-Ware im innerdeutschen Handel abgesetzt. Zigaretten wurden geschmuggelt. Kriegsgerät in Krisengebiete geliefert, und KoKo brachte es sogar fertig, im Krieg zwischen Iran und Irak in den 1980er Jahren beide Seiten zu beliefern.11 KoKo half bei der Beschaffung embargobewehrter Ware für den Einsatz in der DDR-Volkswirtschaft (was indes weit mehr von HVA-Firmen bewerkstelligt wurde. 8 Schalck 2000, S. 171. Dieter Lösch / Peter Plötz, ≫Die Bedeutung des Bereichs Kommerzielle Koordinierung für die Volkswirtschaft der DDR≪ (Gutachten im Auftrag des 12. Deutschen Bundestages 1. Untersuchungsausschuss ≫Kommerzielle Koordinierung≪), in Deutscher Bundestag, Bericht des 1. Untersuchungsausschusses des 12. Deutschen Bundestages. Der Bereich Kommerzielle Koordinierung und Alexander Schalck-Golodkowski. Werkzeuge des SED-Regimes (= Zur Sache 2/94 Anhangband), o. O. [Bonn] 1994, 60-62. 10 Matthias Judt, Der Bereich Kommerzielle Koordinierung. Das DDR-Wirtschaftsimperium des Alexander-Schalck-Golodkowski – Mythos und Realität, Berlin 2013 (im Folgenden Judt 2013), S. 261. 11 Hossain Marzaie-Tashnizi, Der Konflikt Iran – Irak. Eine Hintergrundanalyse, Wien 2002, ≫Bericht der Sonderkommission des Ministerrates zur Untersuchung von Amtsmissbrauch und Korruption im Zusammenhang mit der Tätigkeit des Bereiches Kommerzielle Koordinierung≪ (vom 12. Marz 1990), in: BA Berlin, DL 2 / KoKo, Nr. VA 845, Bl.146. 9 5 Im öffentlichen Bewusstsein in Bezug auf das Schalck-Wirtschaftsimperium spielte im Herbst 1989 das mit Abstand bedeutendste und umfangreichste fragwürdige Geschäft der KoKo, die Übernahme der im Gegenzug für die Freilassung politischer Häftlinge aus DDR-Gefängnissen gelieferten Rohstoffe durch Intrac eher eine untergeordnete Rolle. Dabei nahm die DDR zwischen 1962 und 1990 in diesem staatlichen Menschenhandel über 3,44 Milliarden DM ein (darunter über die KoKo-Firma etwa 3,3 Mrd. DM), mit fast 100 Prozent Gewinn, denn sie verkaufte Menschen, die das Land sowieso verlassen wollten, und erhielt kostenlos Erdöl, Kupfer, Industriediamanten, Silber und Quecksilber.12 Die fragwürdigen Geschäfte stehen allerdings insgesamt nur für etwa 15 Prozent der von KoKo erzielten Gewinne, von denen wiederum allein vier Fünftel durch den Freikauf „erwirtschaftet“ wurden. Jenseits des Häftlingsfreikaufgeschäftes brachten IMES, K&A und andere KoKo-Firmen mit fragwürdigen Geschäften weit weniger ein als es den Anschein macht. Das gerade erwähnte Beschaffen von embargobewehrten Gütern kostete eher Geld als es etwas einbrachte. Gerade im Bereich des Handels mit Kulturgütern war es zudem schon aus objektiven Gründen kaum möglich, daraus eine stetige Einnahmequelle zu machen. KoKo verdiente Geld demnach vor allem mit völlig legalen und international üblichen Geschäften. Sie machten die „restlichen“ 85 Prozent der Gewinne aus. Man könnte zu dem voreiligen Schluss kommen, deshalb eine unkritische Betrachtung der KoKo-Aktivitäten vorzunehmen. Ich meine allerdings, das eigentliche Problem bei der Tätigkeit von KoKo waren weniger die genannten fragwürdigen Geschäfte, als die Ausrichtung und Zielsetzung der international üblichen. 12 Matthias Judt, „Haftlinge für Bananen? Der Freikauf politischer Gefangener aus der DDR und das ‚Honecker-Konto‘“, in Vierteljahreshefte für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 94. Jahrgang (2007), Heft 4, S. 434. 6 Hier fragt sich zudem, warum für Handelsaktivitäten, die gleichzeitig auch von Planbetrieben durchgeführt wurden, überhaupt ein besonderer Bereich für den außerplanmäßigen Außenhandel so lange unterhalten wurde. Es ist nämlich zu unterscheiden zwischen den allgemeinen Außenhandelsbedingungen der DDR zum Zeitpunkt der Gründung von KoKo und denen in späteren Jahren. Als KoKo 1966 gegründet wurde, befand sich die DDR immer noch in einer tiefen außenpolitischen – und deshalb auch außenwirtschaftlichen – Isolation. Als Staat seit seiner Gründung nur von den eigenen Verbündeten international anerkannt und danach ausgestattet mit nur wenigen Abkommen mit weiteren Ländern, unterlag der DDR-Außenhandel deshalb sehr heftigen Beschränkungen, gerade im Hinblick auf seine Finanzierung. Ohne reguläre Handels- und Zahlungsabkommen, die zunächst vor allem technisch-organisatorische Fragen des Handels zwischen Staaten regeln, gab es nicht die Möglichkeit der wechselseitigen Anerkennung von Bankbürgschaften, also faktisch keine Möglichkeit für die DDR und ihre Firmen, reguläre Kredite bei westlichen Banken aufzunehmen. Jenseits von eingeschränkten Devisenkrediten der Sowjetunion oder der internationalen Banken des „Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe“ – also des Ostblocks – und des zinslosen Überziehungskredits im innerdeutschen Handel, dem „Swing“, hatte die DDR keine Möglichkeiten, an Bankkredite heranzukommen. Einzig Forfaitierungen, also von Lieferanten an Banken abgetretene Forderungen, die von der DDR zu begleichen waren, lieferten Beziehungen zu westlichen Banken. Das waren aber keine echten Kredite. Die DDR musste also bis weit in die 1960er Jahre hinein, kostete es, was es wollte, zunächst Devisen erwirtschaften, um sie im Nachgang für notwendige Importe einsetzen zu können. 7 Nur wenige Jahre nach Gründung von KoKo setzte gegenüber der DDR eine Anerkennungswelle ein. Bis Ende 1973 anerkannten 100 Staaten die DDR diplomatisch an. Das war in der Regel mit dem Abschluss von Handels- und Zahlungsabkommen verbunden, was einer Normalisierung der allgemeinen Außenhandelsbedingungen für die DDR gleichkam, wenigstens im Vergleich zu anderen Ostblockländern und deren Rahmenbedingungen in ihrem Westhandel. Der Aufbau von KoKo und die endgültige Ausgestaltung der rechtlichen Rahmenbedingungen vollzogen sich just in den Jahren, in denen die Gründe entfielen, den Bereich Kommerzielle Koordinierung überhaupt unterhalten zu müssen. Im Gegenteil: Mit Ausnahme der formalen, aber nach wie vor nur intern gehaltenen Unterstellung des Bereiches unter den SED-Wirtschaftssekretär Günter Mittag im November 1977 war der Aufbau von KoKo bereits bis 1972 abgeschlossen.13 Mit diesem Jahr wird in der Literatur irrtümlich vor allem das Verleihen des Status als Devisenausländer an KoKo verbunden. Ihn hatte KoKo indes von Beginn an. 14 Hierin unterschied sich der Bereich in der Tat markant von den Betrieben des geplanten Außenhandels. Während diese alle Deviseneinnahmen aus Exportgeschäften wegen des sogenannten staatlichen Außenhandelsmonopols an die DABA bzw. die Staatsbank abzuliefern hatten, und umgekehrt für Importgeschäfte Devisen beantragen mussten, blieben große Teile der einmal von KoKo erwirtschafteten Devisen zunächst in der Verfügung des Bereiches. Er konnte mit ihnen realwirtschaftliche mit finanzwirtschaftlichen Geschäften verbinden. Das Ablieferungs“soll“ an Devisen wurde in den 1980er Jahren auf einen festen 13 Bericht vom 12. März 1990, Bl. 139f. „Mitteilung des Ministers für Außen- und innerdeutschen Handel über die erfolgte Bildung des Bereiches ›Kommerzielle Koordinierung‹ und die Festlegung ihrer Hauptaufgaben, Befugnisse und Pflichten mit Wirkung vom 01.10.1966“, o. D. [Ende 1966], ohne Seite [Seite 2 des Dokuments], abgedruckt in Horst Fischer, Schalck-Imperium. Ausgewählte Dokumente (= Kritische Aufarbeitung der DDR und Osteuropas. Band 3), Bochum 1993. In der Publikation wurde keine Seitennummerierung vorgenommen. 14 8 jährlichen Betrag begrenzt. Was 1972 zum besonderen Jahre in der Geschichte von KoKo machte, war allein der Umstand, dass der Bereich ab da weitgehende Befugnisse bei der Gestaltung der DDR-Zollpolitik erhielt. Statt KoKo wieder aufzulösen und nur solche Geschäfte bei KoKo-Firmen zu belassen, die ein besonderes Maß an Vertraulichkeit erforderten (der Häftlingsfreikauf etwa), seltener und ohne notwendige Planung (Spekulationsgeschäfte mit Beständen der DDR-Staatsreserve etwa) oder nur auf der Grundlage klar illegaler Geschäftspraktiken (Schmuggelgeschäfte etwa) durchgeführt werden konnten, passierte das Gegenteil. Das verdeutlichen zunächst einige Angaben zum Umfang des außerplanmäßigen und des planmäßigen Außenhandels der DDR. 1975 wurden knapp 85,5 Prozent der Exporte in westliche Länder und mehr als 87,8 Prozente der Importe von dort durch den Planhandel durchgeführt. Bis 1988 sank sein Anteil bei den Exporten jedoch auf gut 71,5 Prozent und bei den Importen sogar auf unter 61,3 Prozent.15 1984 wurden gar mehr Importe aus dem Westen über den außerplanmäßigen Außenhandel realisiert als über den Planhandel. Der Planhandel war seit 1981 insgesamt nicht mehr defizitär. Importüberschüsse im Westhandel der DDR waren seitdem demnach allein vom außerplanmäßigen Handel zu verantworten.16 Diese Relationen haben mich in meinem Forschungsprojekt dazu gebracht, mich vornehmlich für solche KoKo-Geschäfte zu interessieren, die immer legal und international üblich waren, 15 Berechnet nach: „Zur Entwicklung der Ex- und Importe insgesamt, einschließlich der sonstigen Exund Importe“, in: SAPMO-BA, DY 30 (hier Abteilung Planung und Finanzen), Nr. 7073, o. Bl. 16 Judt 2013, S. 232. 9 vor allem aber fortgesetzt und regelmäßig durchgeführt wurden. Ich möchte hier auf einzelne wichtige Geschäfte und dabei vor allem auf ein Handelsgebiet eingehen. Bereits kurze Zeit nach dem Ende der Berlin-Blockade begann die DDR ab 1950, West-Berlin mit Benzin, Diesel und Heizöl zu beliefern. Zunächst wickelten verschiedene Betriebe des geplanten Außenhandels diese Geschäfte ab. 1959 wurde der AHB Chemie alleiniger Geschäftspartner auf DDR-Seite. Auf West-Berliner Seite trat die Rex Schulte-Frohlinde GmbH & Co KG als Vertragspartner auf. Ihr Chef, Otto Schulte-Frohlinde (1916-1990) war nicht nur erfolgreicher Kaufmann, sondern zudem Turnierpferdezüchter: Der Firmenname Rex leitete sich von Rennpferden ab, die Schulte-Frohlinde gemeinsam mit Alwin Schöckemöhle, dem Goldmedaillengewinner bei den Olympischen Spielen in Montreal 1976, besaß. Bis 1972 war Schulte-Frohlinde nicht von ungefähr Vorsitzender der West-Berliner Landesverbandes der Reit- und Fahrvereine. Mit seiner Mineralölhandelsfirma schloss die KoKo-Firma Intrac 1969/70 erste Lieferverträge für flüssige Kraft- und Brennstoffe ab. Intrac trat damit hälftig in das bis dahin allein von einem Betrieb des geplanten Außenhandels durchgeführte Liefergeschäft ein. Beide, Intrac und AHB Chemie, sicherten damit der DDR in West-Berlin inzwischen einen Marktanteil von 50 Prozent. Das heißt, jeder zweite, 1970 in West-Berlin getankte Liter Benzin, Diesel oder Heizöl stammte aus der DDR, und hier vor allem aus dem Petrolchemischen Kombinat in Schwedt, das zu diesem Zweck in den 1970er Jahren sogar noch ausgebaut werden sollte. 17 17 „Konzeption über das weitere Vorgehen zur Sicherung der Exporte der DDR nach Westberlin in bezug auf Mineralölerzeugnisse und Baustoffe“, o. D. [1977], in SAPMO-BA, DY 30 (hier Büro Mittag), Nr. 2996, Bl. 221 – 230, hier Bl. 223. 10 Die Belieferung der West-Berliner Endverbraucher oblag wiederum den westdeutschen Tochtergesellschaften der großen internationalen Ölfirmen, die in der eingemauerten Stadt einen abgeschotteten Markt an Tankstellen mit wenigen freien und keinen Supermarkttankstellen vorfanden. Anfang 1976 übernahm der damals noch bundeseigene VEBA-Konzern die Mehrheit der Anteile an Rex, ohne den Firmengründer Otto-Schulte-Frohlinde vollständig aus der Firma heraus zu drängen.18 Ab dem gleichen Jahr wurde der Handel kompatibel zum planwirtschaftlichen System in der DDR durchgeführt. Auf – wohlgemerkt – Initiative der westlichen Partner19 erfolgte er nunmehr im Rahmen von Fünfjahresverträgen, die zeitgleich mit den Fünfjahresplanzeiträumen in der DDR liefen, mit Jahresprotokollen zu Mindest- und Maximalhöhen der Lieferungen und schon länger unter Anwendung eines fixen Preisbildungsmechanismus abgewickelt wurden. Das verschaffte jedem Beteiligten ein extrem hohes Maß an Planungssicherheit und Gewinnen: Die DDR orientierte sich im Verkauf der Mineralölerzeugnisse an den Spotmarktpreisen in Rotterdam und versah sie mit einem Aufschlag von 12 Prozent. Rex sparte beim Einkauf die Mehrwertsteuer und die bereits erwähnten großen bundesdeutschen Mineralölgesellschaften konnten in West-Berlin wegen ihrer marktbeherrschenden Position 18 Judt 2013, S. 64f. Information (von Werner Schlitzer) vom 10. Juli 1975 „Betr. Rex Handelsgesellschaft“, in BStU, MfS, AG BKK, Nr. 1126, Bl. 6. 19 11 höhere Abgabepreise an den Tankstellen durchsetzen als in vergleichbaren westdeutschen Ballungsräumen. Vermeintlich kam ja das Benzin, der Diesel und das Heizöl von weit her.20 Die genannten Firmen aus Ost und West bildeten somit ein gesamtdeutsches Kartell. Versuche des damaligen West-Berliner Senators Elmar Pieroth vom Beginn und vom Ende der 1980er Jahre, mittelständische Mineralölhändler in das Geschäft einzubeziehen, scheiterten.21 Noch im September 1989, als der Strom von DDR-Flüchtlingen über Ungarn und Österreich und die westdeutschen Botschaften in Prag und Warschau anschwoll und Demonstrationen in der DDR gegen die SED-Diktatur erst ein paar Tausend, etwas später ein paar Zehntausend und schließlich (ab Oktober) Hunderttausende Teilnehmer auf die Straßen brachten, konnten die westdeutschen Partner anlässlich der Unterzeichnung des nächsten Jahresprotokolls vermelden, dass ein weiterer Versuch von Wirtschaftspolitikern und mittelständischen Mineralölhändlern, in das lukrative Geschäft mit einzusteigen, abgewehrt worden war.22 Ende der 1980er Jahre betrug der Marktanteil der DDR in West-Berlin bei flüssigen Kraftund Brennstoffen 60 bzw. 70 Prozent.23 Nunmehr wurden zwei von drei Litern an Benzin, Diesel oder Heizöl, die in West-Berlin getankt wurden, aus der DDR angeliefert. Rex, Aral, BP, Shell, Texaco wollten diesen Kuchen nicht weiter aufteilen. 20 Vgl. Die Zeit vom 22. Juli 1983; Bericht des Inoffiziellen Mitarbeiters „Hermann“ vom 16. Marz 1988 („Bericht über ein kurzes Gespräch mit Herrn … – BP Hamburg“), in BStU, MfS, AG BKK, Nr. 1166, Bl. 20 – 23, hier Bl. 21. 21 Die Zeit vom 22. Juli 1983; Bericht vom 26. Oktober 1988, in BStU, MfS, AG BKK, Nr. 1126, Bl. 63 – 66; zum gleichen Thema: am 2. November 1988 beim Treff mit IMS „Hermann“ gegebener „Bericht über Verhandlungen mit der Firma Rex und den Mineralölgroßgesellschaften BP, Shell, Aral und Esso anlässlich des traditionellen Jahrestreffens“, in ebd., Nr. 1166, Bl. 34 – 36. 22 Arbeitsgruppe BKK, Bericht zum Treff mit IMS „Hermann“ am 6. September 1989 „Bericht über ein Gespräch mit der Rex-Handelsgesellschaft am 4. 9. 1989 in Leipzig“, in BStU, MfS, AG BKK, Nr. 1126, Bl. 176 f., hier Bl. 177. 23 „Konzeption über das weitere Vorgehen zur Sicherung der Exporte der DDR nach Westberlin in bezug auf Mineralölerzeugnisse und Baustoffe“, o. D. [1977], in SAPMO-BA, DY 30 (hier Büro Mittag), Nr. 2996, Bl. 221 – 230, hier Bl. 223; Der Tagesspiegel vom 27. Juli 1988, zitiert nach BA, DL 2 /KoKo, Nr. 641/1, Bl. 170. 12 Mehr noch: Schon früher hatte sich die DDR darum bemüht, in diesem Geschäft die Vertriebskosten für die Anlieferung der Mineralölerzeugnisse nach West-Berlin weiter zu minimieren. Im Zusammenhang mit der Erweiterung der Erdölverarbeitungskapazitäten im PCK Schwedt, die im Rahmen eines mit einer West-Berliner Firma arrangierten Kompensationsvorhabens durchgeführt werden sollte, schlug die DDR am 8. Juni 1973 dem Senat vor, eine bereits bestehende Produktenpipeline zwischen Schwedt und Seefeld (nordöstlich von Berlin) bis nach Ruhleben im Westteil der Stadt zu verlängern.24 Dieser Teil des Projektes kam zwar letzten Endes nicht zustande (alle anderen schon), doch zeigt er, wie eingespielt die Lieferbeziehungen bereits zu Beginn der 1970er Jahre gewesen sein müssen. Genau konnte ich nicht ermitteln, was das Pipelineprojekt nach Ruhleben zu Fall brachte, doch es hätte den Einwohnern der besonderen politischen Einheit West-Berlin gezeigt, woher tatsächlich das von ihnen verbrauchte Benzin kam. Tatsächlich bemühte sich die DDR fortwährend, ihre Marktanteile bei Kraft- und Brennstoffen noch über die 60 oder 70 Prozent zu erhöhen. Das wurde indes von westlicher Seite wegen der Erfahrungen mit der Berlin-Blockade von 1948/49 immer abgelehnt. In gewisser Weise wurde die DDR deshalb ein spätes Opfer der Blockade. Die DDR lieferte noch weitere Produkte nach West-Berlin, zum Teil über den geplanten Außenhandel, sonst über KoKo-Firmen. Fleischerzeugnisse, Zement für die Bauwirtschaft, Braunkohlebriketts und Obst sind dafür weitere Beispiele. Allein aus dem Zementwerk in Rüdersdorf gelangten 25 Prozent des West-Berliner Bedarfs an diesem Baustoff. 24 „Information zum Stand der Verhandlungen über den Bau und Betrieb einer Erdölraffinerie in Schwedt sowie einer Produkten-Pipeline aus der DDR nach Westberlin“, vom 17. Dezember 1973 (im folgenden Information vom 17. Dezember 1973), in SAPMO-BA, DY 30 (hier Büro Mittag), Nr. 2944, Bl. 4-12., hier Bl. 6. 13 Seit dem Ende der 1960er Jahre nahm die DDR Bauschutt und andere Abfälle aus WestBerlin ab. Beginnend mit einzelnen Verträgen und einer sogenannten Kurzfristvereinbarung von 1973 wurde die Abnahme von Abfallstoffen mit Wirkung vom 1. Januar 1975 auf einen sogenannten Langfristvertrag mit einer Laufzeit von 20 Jahren umgestellt.25 Auch dieses Geschäft steht als Beispiel für den Eintritt einer KoKo-Firma in Verträge, die ursprünglich allein von einem Betrieb des geplanten Außenhandels der DDR betreut worden waren. Auf der DDR-Seite war nämlich zunächst der AHB Bergbauhandel aktiv, der seit Ende der 1970er Jahre auch aus Hamburg Abfallstoffe abnehmen sollte. 1981 wurde er indes ersatzlos zugunsten der Intrac abgewickelt, die hiernach über die Hamburger Geschäftspartner Abnahmeverträge für Abfallstoffe aus weiteren westdeutschen Bundesländern und einigen westeuropäischen Staaten abschließen sollte.26 In Bezug auf West-Berlin sind derlei Geschäfte jedoch geeignet, mit wechselseitig vorgetragenen Klischees über die Rolle der Teilstadt kritisch umzugehen. Sie wurde von den einen als „Vorposten der Freiheit“ gefeiert und von den anderen als „Agentenzentrale des Imperialismus“ geziehen, als „Pfahl im Fleische des Sozialismus“. Dabei brauchten die DDR und West-Berlin einander: In West-Berlin wäre ohne die DDR kein privates Auto gefahren und man hätte in den 1970er nicht darauf verzichten können, ein zweites Müllverbrennungswerk zu bauen, nicht zu sprechen von den Problemen, neue Lagerstätten für Bauschutt innerhalb der Stadt zu finden. Die DDR wiederum hätte ihre chronischen Defizite im innerdeutschen Handel mit dem früheren Bundesgebiet nicht 25 Judt 2013, S. 67-76 und 192-205. Brief Bergbau-Handel an das Ministerium für Gesundheitswesen vom 30. Dezember 1980, zitiert in Beschlussempfehlung und Abschlussbericht des 1. Parlamentarischen Untersuchungsausschusses nach Artikel 34 der Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern gemäß Beschluss des Landtages vom 09. Dezember 1994 (vom 10. Juni 1998), o. O. [Schwerin], S. 81. 26 14 weitgehend ausgleichen können. Mehr noch: Die Bundesregierungen hätten ohne das Ziel, die Versorgungssicherheit West-Berlins zu gewährleisten, durchaus das Interesse an der Aufrechterhaltung des innerdeutschen Handels insgesamt verlieren können. Die Insel West-Berlin war für die DDR aber auch noch in anderer Hinsicht von enormer Bedeutung. Wegen der millionenfachen verwandtschaftlichen und freundschaftlichen Beziehungen zwischen Ost- und Westdeutschen konnte die DDR weit stärker als andere staatssozialistische Länder Geschäfte mit der Spaltung Europas machen. Unterhielten Polen, die Tschechoslowakei oder die Sowjetunion jeweils ein sehr kleines Netz von „Pewex“-, „Tuzex“- oder „Berijoska“-Läden, meist in Devisenhotels, sollten in der DDR seit Ende der 1950er Jahre zuletzt Hunderte von „Intershops“ eröffnet werden. Zwischen 1971 und 1989 setzten sie Waren im Werte von 14,3 Milliarden DM um und strichen dabei zwischen 8,5 und 9 Milliarden DM an Gewinnen ein.27 Beliefert wurden sie ab 1976 von der KoKo-Firma „Forum Handelsgesellschaft“, die ab 1979 auch Namensgeber für die „Forum-Schecks“ wurde, die DDR-Bürger gegen die Auflieferung von harten Devisen bei der Staatsbank erhalten sollten. Die Umsatzrendite, in Devisen betrachtet (in den 1970er Jahren etwa 55 bis 56 Prozent, in den 1980er Jahren bis zu 70 Prozent), war deshalb so ungewöhnlich hoch, weil der überwiegende Teil der Vertriebskosten in DDR-Mark anfiel, viele Güter aus der inländischen Gestattungsproduktion westlicher Markenartikel stammten und tatsächlich aus dem Westen eingeführte Erzeugnisse mit großen Mengenrabatten versehen waren. Zudem kassierte die DDR faktisch die Mehrwertsteuer, ohne sie selbst im Einkauf entrichten zu müssen. 27 Berechnet nach: Armin Volze, „Die Devisengeschäfte der DDR. Genex und Intershop“, in: Deutschland Archiv 24 (1991) 11, S. 1155. 15 Im Falle West-Berlins kam noch ein weiteres wichtiges Detail zum Tragen: Der in Ost-Berlin gelegene Bahnhof Friedrichstraße wurde nicht nur zum wichtigsten Grenzübergang bei Reisen in die DDR. Zwei S-Bahnsteige (von dreien), der Fernbahnsteig und eine UBahnstation lagen in seinem „westlichen“ Teil, für DDR-Bürger nur erreichbar, wenn sie in den Westen reisen durften. Hierhin kamen aber auch viele West-Berliner ohne Einreisewunsch in die DDR und kauften in den Intershop-Kiosken auf den Bahnsteigen Tabakwaren, alkoholische Getränke, Textilien und anderes ein und fuhren anschließend zurück in den „richtigen Westen“. In den Kiosken des Bahnhofs Friedrichstraße wurden zwischen 10 und 15 Prozent des Gesamtumsatzes aller Intershops in der DDR realisiert.28 Der Bahnhof war damit für die DDR eine Goldgrube, die er nicht in diesem Maße hätte sein können, wäre West-Berlin ein Vorort von Helmstedt im Bundesgebiet gewesen. Die Preise in den Intershops, die sich immer an der Höhe der Einzelhandelspreise in WestBerlin und im nahen Grenzgebiet in der Bundesrepublik orientierten, erhielten im Westteil des Bahnhofs Friedrichstraße (wie auch an anderen Grenzübergangstellen) ein spezielles „Güst“Niveau. Es lag etwas unter West-Berliner Standard, während in den Intershops im DDRHinterland geringfügig höhere Preise verlangt wurden: Im ersten Fall sollten Westkunden angelockt werden, die immerhin mit dem Einkauf ohne Einreise in die DDR gegen WestBerliner Zollbestimmungen verstießen. Im zweiten Fall sollte zwar das maximal mögliche Preisniveau ausgereizt, aber wiederum verhindert werden, dass die westreisende Großmutter den Auftrag erhielt, die Jeans aus dem Westen mitzubringen.29 KoKo hat umfänglich Statistiken zu Preisen in West-Berlin geführt. 28 Vgl. u.a. Philipp Springer, Bahnhof der Tränen. Die Grenzübergangsstelle Berlin Friedrichstraße, Berlin 2013. 29 Judt 2013, S. 79. 16 Der KoKo-Firma Forum und den Intershops kam jedoch noch eine weitere Funktion zu. Der innerdeutsche Handel wurde seit Ende der 1940er Jahre im Clearing-Verfahren abgerechnet. Die sogenannten Verrechnungseinheiten (VE) fungierten hier als reines Buchgeld auf Konten, deren Salden nur einmal im Jahr in DM auszugleichen waren. Wollte die DDR indes im Laufe des Jahres VE-Guthaben in Devisen aktivieren, musste sie dazu ein sogenanntes SwitchGeschäft durchführen. Sie kaufte dafür Waren in der Bundesrepublik ein, verbrauchte also VE, und setzte diese dann über das Intershop-Netz ab, nahm also dort vor allem DM, aber auch andere konvertierbare Devisen ein. Mithin waren die Intershops auch finanztechnisch ein wichtiges Instrument, die Liquidität der DDR in westlichen Währungen zu erhalten. KoKo war zudem bei der seit den 1970er Jahren verstärkten Durchführung von sogenannten Kompensationsgeschäften beteiligt, ohne unbedingt aktiv bei deren Umsetzung dabei zu sein. Viele Ostblockländer waren an solchen Geschäften interessiert, verringerten sie doch den notwendigen Einsatz von Devisen beim Import von Anlagen und Maschinen und sicherten sie zudem den Absatz eigener Produkte. Sie waren so gestaltet, dass der größere Teil des Anlagenimports durch vorab festgelegte Gegenlieferungen refinanziert wurde. Diese konnten mit Hilfe der importierten Anlagen selbst oder auch andernorts hergestellt worden sein. Nach ihrer internationalen Anerkennung schloss die DDR eine ganze Reihe von Verträgen ab, in deren Rahmen Großanlagenimporte für die Petrochemie, in der metallverarbeitenden Industrie oder auch im Fahrzeugbau realisiert wurden. Bei vielen Vorhaben traten Akteure der KoKo direkt oder wenigstens indirekt auf. Beim Ausbau des Mineralölhandelsgeschäftes mit West-Berlin trat Schalck Anfangs als Koordinator von Verhandlungen verschiedener Betrieb des geplanten Außenhandels mit westlichen Partnern auf. Später sollte die Intrac ein komplexes Geschäft, das den Anlagenimport aus dem Westen, den Ankauf von Rohöl aus der 17 Sowjetunion gegen Devisen und den Absatz von daraus verarbeitetem Produkt umfasste, auftreten.30 Bei anderen Vorhaben, etwa im Bau von Fahrzeugen kamen Vereinbarungen mit Volvo, General Motors und Citroen über den Bau von LKW und PKW in der DDR zwar nicht zustande, doch sie zeigen selbst im Misserfolg, wie sehr die DDR – und namentlich KoKo – bereit war, zur verlängerten Werkbank westlicher Produzenten zu werden. Die Herstellung von Schuhen unter den Markennamen „Salamander“ – als Gestattungsproduktion – bzw. „Design International“ – als sogenannte Beratungsproduktion – stellte dabei eine Ausnahme dar. Der Export der von Salamander entworfenen Schuhe in westliche Länder war ausdrücklich untersagt. Die DDR-Seite musste fortgesetzt Lizenzgebühren und einige notwendige Materialeinfuhren in Devisen bezahlen und war trotzdem an dem Geschäft interessiert. Die Produktion von Salamander-Schuhen in der DDR ersetzte den vorher notwendigen massenhaften Import von Schuhen aus westlichen Ländern. Devisen wurden also nicht verdient, aber gespart, was ökonomisch für die DDR den gleichen Effekt hatte. Die hier genannten Geschäfte richten unseren Blick allerdings auf ein generelles Problem der Tätigkeit von KoKo. Die Fokussierung auf solche Waren und Dienstleistungen, bei denen Schalck und seine Mitarbeiter faktisch von vorneherein wissen konnten, dass sie im Westen absatzfähig waren, lässt ein kritisches Moment der Aktivitäten von KoKo erkennen. Es war zwar ganz generell nicht die Aufgabe des DDR-Außenhandels, für die Entwicklung von international konkurrenzfähigen Erzeugnissen in der DDR zu sorgen, doch belegt die Konzentration der KoKo-Firmen auf den Handel mit Rohstoffen, Chemie- und 30 18 Vgl. Judt 2013, S. 94-117 und 211-216. Agrarerzeugnissen oder solchen aus der Gestattungsproduktion, dass sie auf „Nummer Sicher“ gingen: Sie waren im Westen immer absetzbar, „Trabant“, „Wartburg“ oder andere echte DDR-Erzeugnisse hingegen schon lange nicht mehr. Sich vorrangig auf in jedem Fall absetzbare Westprodukte zu konzentrieren, verstärkte sich noch in den 1980er Jahren, nach dem Ende der Kreditkrise vom Beginn des Jahrzehnts. Ende 1981 musste Alexander Schalck Günter Mittag mitteilen, dass westliche Banken keine weiteren Kredite an die DDR ausreichen wollten.31 Ein Kassensturz von Anfang 1982 offenbarte die Gefahr einer akuten Zahlungsfähigkeit für das III. Quartal 1982.32 Das massive Ausweiten des Exports auf Kosten der Binnenwirtschaft und des Binnenhandels stellte eine Sofortmaßnahme dar. Das Einfädeln von besonderen Finanz- und Warenoperationen mit der UdSSR ein anderes. Die Strauß-Kredite hingegen diesbezüglich keines. Bei den besonderen Finanzoperationen lieferte die UdSSR zusätzliches Rohöl gegen harte Devisen, jedoch mit einer erheblich verlängerten Zahlungsfrist bei gleichzeitiger Erlaubnis für die DDR, das Rohöl oder Produkte daraus zu den international üblichen, kürzeren Zahlungsfristen zu verkaufen. Sie war sogar bereit, dann allerdings zu einem Preisabschlag von 5 Prozent, das Rohöl selbst zurückzukaufen, ebenfalls mit kurzer Zahlungsfrist.33 Kombiniert wurde das Ölgeschäft mit einem Agrargeschäft. Dazu kaufte die DDR mit international üblich langer Zahlungsfrist Weizen in Frankreich und Schweinehälften in der Bundesrepublik, tauschte die Ware zur Wahrung des Re-Exportverbots gegen inländische aus 31 Information (vom 24. Dezember 1981 von Schalck an Mittag), in: BA Berlin, DL 2 / KoKo, Nr. 1232, Bl. 899 – 901, hier Bl. 899. 32 Judt 2013, S. 137. 33 Judt 2013, S. 147 – 155. 19 und lieferte mit sehr kurzer Zahlungsfrist an die Sowjetunion weiter, ebenfalls mit Preisabschlag. In der Folge konnte die DDR Liquiditätslinien von bis zu 450 Tagen Länge herstellen und geriet somit zu keinem Zeitpunkt in eine tatsächliche Zahlungsunfähigkeit. Mit den Strauß-Krediten wurde demnach die DDR nicht gerettet, doch sie öffneten der DDR ein letztes Mal die Türen bei weiteren westlichen Banken für weit geringere Kreditsummen als von den westdeutschen Großbanken gewährt.34 In der Folge aber leitete die Kreditkrise vom Beginn der 1980er Jahre ein Verhalten bei KoKo ein, das dem in volkseigenen Betrieben oder in den Privathaushalten innerhalb der DDR glich. Wie erste Material horteten, um jederzeit ihre Produktionspläne auch bei ausbleibenden Zulieferungen erfüllen zu können, und zweite ihr Konsumverhalten nach dem SKL-Prinzip gestalteten („sehen – kaufen – lagern“), begann KoKo ab 1984, Devisenreserven zu horten. Statt Exportüberschüsse für einen schnelleren Schuldenabbau oder die Finanzierung von Importen an modernen Anlagen zu nutzen, wurde mit den Reserven nach außen hin eine bessere Bonität vorgetäuscht und darüber hinaus nach innen das Abfangen einer für den Beginn der 1990er Jahre erwartete erneute Zahlungskrise vorbereitet. Seit 1988 plante KoKo die Mobilisierung dieser Reserven in den Jahren 1991 bis 1995, und es war Schalck, der in das Analysepapier von fünf führenden Wirtschaftsfunktionären vom Oktober 1989 die dort zu lesenden überaus ambitionierten – um nicht zu sagen – unerreichbaren Exportüberschüsse im Westhandel hineinbrachte.35 34 Schalck 2000, S. 303. Vorlage für das Politbüro, Gerhard Schürer, Gerhard Beil, Alexander Schalck-Golodkowski, Ernst Höfner, Arno Donda, „Analyse der ökonomischen Lage der DDR mit Schlussfolgerungen“ (vom 30. Oktober 1989), in SAPMO-BA, DY 30, J IV 2/2A, Nr. 3252, o. Bl. (22 Seiten), nachgedruckt u. a. in Deutschland Archiv 25 (1992) 10, S. 1112 – 1120, in Teilen auch in Judt 1997, 145 – 147. 35 20 War die DDR vielleicht 1989 noch nicht wirtschaftlich am Boden, so ist doch begründet zu vermuten, dass sie nur noch wenig länger überstanden hatte. Diesen Zustand zu erreichen, war indes auch Ergebnis der Tätigkeit von KoKo. 21