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Hessisches Landestheater Marburg Inhalt Autor und Text William Shakespeare 1 1 Die ersten verlorenen Jahre: 1578 bis 1582 1 Die zweiten verlorenen Jahre: 1582 bis 1592 2 Lord Chamberlain’s Men 2 Der Zorn der Königin 3 The King’s Men 3 Rückzug 4 Im Labyrinth der Überlieferung: Hamlet 6 Schauermärchen und Mythensammlungen 6 Wer schreibt hier? 7 Abgründe und Freibriefe 9 Shakespeare hat es nie gegeben 12 Literaturhinweise Kapitel 1 15 Frauen in Schwarz 16 Der Hamletkomplex 16 Literaturhinweise Kapitel 2 21 Hamlet - Begleitmaterial - AL i Hessisches Landestheater Marburg Autor und Text William Shakespeare In der Werkstatistik des Deutschen Bühnenvereins gibt es einen bestimmten Namen, der die Liste der meist gespielten Dramatiker jeder vergangenen Spielzeit Jahr für Jahr unangefochten anführt: William Shakespeare. Da das auf Dauer langweilig wird, hat man sich in den USA entschlossen, Shakespeare für statistische Zwecke kurzerhand zu ignorieren. In Großbritannien macht man sich gar nicht erst die Mühe, zu zählen, und wählt Shakespeare stattdessen lieber gleich zum “Briten des Jahrtausends”1. Zugleich wird “der Barde”, wie ihn die Briten nennen, in Frankreich nur knapp unterhalb Molières als der großen Nation größter Bühnenklassiker gefeiert. Wundern tut uns das alles kaum — für Harald Bloom, einen führenden Shakespeare-Forscher der englischsprachigen Welt, ist Shakespeare immerhin “der Erfinder des Menschen”2. Heiner Müller glaubte gar, in Shakespeares Körper zu arbeiten und “ihn persönlich zu kennen”3 . Gehört hat von dem Barden jedes Schulkind einmal. Aber was wissen wir über ihn? William Shakespeare wird 1564 als Sohn des Handschuh- und Sattelmachers John Shakespeare in Stratford-upon-Avon in der Grafschaft Warwickshire geboren, einem kleinen Marktflecken mit Bedeutung vor allem für die Schafzucht und den Lederhandel. Das Taufregister der Holy Trinity Church verzeichnet den 26. April als Tag der Taufe; die Geburt fand mit einiger Wahrscheinlichkeit drei Tage zuvor statt. Shakespeares Familie kommt ursprünglich aus einfachen Verhältnissen, aber dem Vater gelingt eine beachtliche Karriere bis hinauf zur Position des Alderman und Bailiff (Ratsherren und Bürgermeisters) der Stadt. Seine schulische Ausbildung erhält Shakespeare an der Stratford Grammar School, für die der Vater als Alderman nicht bezahlen muss. 1578, im Alter von vierzehn Jahren, geht Shakespeare von der Schule ab. Was folgt, ist uns heute als das erste der großen Rätsel der Shakespeare-Forschung bekannt: die sogenannten “lost years”. Die ersten verlorenen Jahre: 1578 bis 1582 Für einen Autoren vom Format Shakespeares, dessen Leben und Werk von Generationen von Wissenschaftlern, Künstlern, Philosophen und Liebhabern auf’s Genaueste studiert wurde, ist es bemerkenswert, dass eigentlich bis heute nur wenig über ihn bekannt ist. Zu den großen Lücken in jeder Shakespeare-Biographie zählen die vierzehn Jahre zwischen seinem Schulabgang und seiner Hochzeit. Verbürgt ist zumindest, dass es mit den beruflichen Geschicken des Vaters in dieser Zeit bergab geht: John Shakespeare kann 1578 seine Steuern nicht bezahlen und nimmt zugleich den ältesten Sohn von der Schule. Es ist daher naheliegend, anzunehmen, dass der junge Shakespeare zunächst im Geschäft aushilft. Die Geschäftsinteressen des Vaters sind recht breit gefächert, und so hat der Sohn möglicherweise nicht nur mit der Handschuhmacherei, sondern auch mit dem Handel von Malz, Getreide, Leder und — zu damaligen Zeiten ein extrem anrüchiger Beruf! — unter dem Ladentisch mit dem Verleih von Geld zu tun. 1 BBC Umfrage, 2002 2 Bloom, Harold (1998): Shakespeare: The Invention of the Human. 3 Heiner Müller 1987 im Gespräch mit André Müller. Zitiert nach Hauschild, Jan-Christoph (2001): Heiner Müller oder das Prinzip Zweifel. Berlin: Aufbau, p. 278 Hamlet - Begleitmaterial - AL 1 Hessisches Landestheater Marburg Die wirkliche Spekulationsarbeit — Gegenstand unzähliger Pub-Diskussionen in Cambridge, Oxford, Dublin4 und der ganzen englischsprachigen Welt— beginnt an diesem Punkt aber erst. Für elisabethanische Begriffe ist der Bürgermeistersohn mit fünfzehn Jahren ein junger Erwachsener. Lange wird er also nicht im Kontor des Vaters geblieben sein — schon allein deshalb nicht, so argumentieren die Shakespeare-Exegeten, weil seine späteren Werke gründliche Kenntnisse der Astronomie, des Rechtswesens, der Seefahrt und des europäischen Auslands voraussetzen. Folglich muss Shakespeare also gereist sein, oder studiert haben, oder beides. Vielleicht war er Seemann oder Soldat. Möglicherweise hat er als Büroangestellter in einer Rechtskanzlei gearbeitet, oder er war ein Lehrer. Die Antwort lautet: wir wissen es nicht. Die zweiten verlorenen Jahre: 1582 bis 1592 Im Jahre 1582 stoßen wir im Nebel der “verlorenen Jahre” immerhin auf ein wichtiges Faktum: im Alter von achtzehn Jahren heiratet Shakespeare die acht Jahre ältere Anne Hathaway. Wie und wo sich die beiden kennengelernt haben, bleibt ein Rätsel, nicht jedoch der Grund der Hochzeit: am 26. Mai 1583 wird Shakespeares erstes Kind getauft, eine Tochter. Sechs Monate nach dem Eheschluss; zweifellos ein Skandal im kleinen Städtchen Stratford und in der mittlerweile wieder wohlangesehenen Familie Shakespeare. Weitere zwei Jahre später vermeldet das Taufregister die Geburt von Zwillingen. Und noch ein dritter Schnipsel an Beweismaterial liegt uns vor: 1589 wird Shakespeare, zusammen mit seinen Eltern, urkundlich im Zusammenhang mit einem Rechtsstreit über einen Flecken Land in der Nähe Stratfords erwähnt. Mehr ist auch über die zweite Periode der verlorenen Jahre nicht bekannt. Blieb Shakespeare während dieser Zeit bei Frau und Kindern, die zeitlebens Warwickshire nicht verließen? Reiste er, wie manche behaupten, mit Sir Francis Drake um die Welt? Nahm er Arbeit an, wo er konnte — so eine weit verbreitete Erklärung — um Haus und Hof in Stratford, zu denen er zeitlebens immer wieder zurückkehrte, erhalten zu können? Fest steht, dass Shakespeare 1592 bereits seinen Beruf gewechselt und diejenige Laufbahn eingeschlagen hatte, die ihn schließlich zum berühmtesten Dramatiker der Weltliteratur machen sollte: der englische Autor Robert Greene schreibt in diesem Jahr sein bekanntes Pamphlet Greene's Groats-Worth of Wit. Hier erwähnt Greene einen Schauspieler namens “Shakescene”5 und attackiert diesen als eine ”upstart crow”, einen Emporkömmling, der es wage, erfolgreiche Stücke zu schreiben, während akademisch gebildete Schriftsteller wie Greene selbst doch dafür um ein Vielfaches besser qualifiziert seien. Dabei bezieht sich Greene auf ein Stück, dass am 3. März 1592 am Londoner Rose-Theater durch die Lord Strange’s Men uraufgeführt worden war: Heinrich VI. Shakespeare war also in London angekommen, war den Lord Strange’s Men beigetreten, hatte ein Stück geschrieben und ausserdem offenbar auch noch Erfolg damit gehabt. Warum er die beschauliche Ruhe Stratfords verliess und in der Metropole den Beruf eines Schauspielers annahm — damals eine Branche, die kaum besser angesehen wurde als Prostitution und Hehlerei — gehört mit zu den Rätseln der verlorenen Jahre. Lord Chamberlain’s Men Das London der elisabethanischen Zeit ist ein raues Pflaster. In der zum Stadtteil Southwark gehörenden Bankside auf der südlichen Seite der Themse direkt an der London Bridge tummeln sich Trinker, Schausteller, Gauner, Huren, Hafenarbeiter und reiche Londoner auf der Suche nach Abenteuern. Inmitten des Treibens liegt hier auch das Zentrum der Londoner Theaterwelt — nicht von ungefähr, denn die meisten Londoner der Zeit sind Puritaner, denen das gottlose Treiben auf der Bühne zumindest offiziell ein Graus ist. Shakespeares Stücke allerdings kommen zunächst nicht im wilden Süden, sondern nördlich der Themse zur Aufführung, und zwar in Shoreditch, einer nur unwesentlich vornehmeren Gegend vor den Toren der City. Wenn wir Robert Greenes empörter Attacke glauben dürfen, ist Shakespeare der Urheber von Heinrich VI. und somit auch von Richard III., das zusammen mit den drei Teilen der Heinrich-Historie eine Tetralogie bildet. Alle vier Stücke müssen Kassenschlager gewesen sein, und das, obwohl die Umstände gerade im Jahre 1592 für die Londoner Theaterbranche nicht besonders günstig sind. Wieder einmal wird die Stadt von der Pest heimgesucht, und wieder einmal werden in der Folge zahlreiche Theater geschlossen. Shakespeares Produktivität tut dies keinen Abbruch. Der Versuch einer genauen Datierung ist bei den meisten seiner Werke ein hoffnungsloses Unterfangen, aber es ist anzunehmen, dass er in dieser ersten Zeit zwischen ca. 1590 und 1595 insgesamt acht Stücke schreibt. Dies sind, neben Heinrich VI. und Richard III., die Komödien Der Widerspenstigen 4 Siehe hierzu zum Beispiel James Joyce, Ulysses - Kapitel “Scylla und Charybdis” 5 den Szenen-Erschütterer - ein Wortspiel Hamlet - Begleitmaterial - AL 2 Hessisches Landestheater Marburg Zähmung, Ende gut, Alles gut, Die Komödie der Irrungen, Verlorene Liebesmüh sowie wahrscheinlich auch Die beiden Veroneser und die weniger bekannte Historie König Johann (The Life and Death of King John). Währenddessen war Shakespeare aber nicht nur Schriftsteller, sondern auch selbst Schauspieler, Regisseur und vor allem Geschäftsmann. 1594 wechselt er zusammen mit Richard Burbage, dem Star seiner Richard III.-Produktion, von den Lord Strange’s Men zu den Lord Chamberlain’s Men. Als Mitstreiter, Spieler, Autor und später auch Miteigentümer sollte er dieser Truppe zeitlebens treu bleiben. Die Herrschaft der Königin Elisabeth I. neigt sich langsam dem Ende entgegen, in Irland tobt der Neunjährige Krieg, und Shakespeare, immer am Puls der Zeit, schreibt und spielt eifrig weiter. In den folgenden Jahren entstehen Romeo und Julia, Richard II., Heinrich V., Viel Lärm um Nichts, Ein Mittsommernachtstraum, Der Kaufmann von Venedig und Die Lustigen Weiber von Windsor. Im Jahre 1599 erwerben die Lord Chamberlain’s Men mit dem Kapital ihrer besser gestellten Mitglieder ein Grundstück in Southwark unweit der Themse, das Globe Theater. Als Baumaterial verwenden sie kurzerhand die Balken und Bretter des alten Theaters in Shoreditch, das sie ab- und am neuen Ort wieder aufbauen. Auch Shakespeare ist als Eigentümer eingetragen. Der Bürgermeistersohn aus der Provinz ist zu diesem Zeitpunkt fünfunddreißig Jahre alt. Frau und Kinder sind in Stratford, vor ihm in London liegt die Theaterkarriere. Zum ersten Mal in seinem Leben hat er eine eigene Bühne und eine Truppe von Schauspielern, um seine Stücke aufzuführen. Und das Geschäft läuft ausgezeichnet. Im Jahre 1596 sucht Shakespeare für seinen Vater beim College of Arms um ein Familienwappen an — ein Privileg, für das man entweder ein Ehrenmann oder wohlhabend, besser aber noch beides sein musste. Dem Antrag wird stattgegeben. Im Jahr darauf kauft er das stattliche New Place in Stratford, sozusagen das elisabethanische Äquivalent einer Villa mit Swimming Pool und Golfplatz, in dem seine Familie fortan leben wird. Daneben entstehen Meisterwerke wie Julius Cäsar, Wie es Euch gefällt und Was Ihr Wollt, das oft als Krönung der Shakespeare’schen Komödiendichtung bezeichnet wird. Besser könnte es kaum gehen: Shakespeare hat sich zum Theaterimpresario ersten Ranges gemausert. Der Zorn der Königin Im Jahre 1601 soll sich dies alles jedoch schlagartig ändern. Unverhofft bestellen zu Beginn des Jahres die Gefolgsleute des Earl of Essex, eines jugendlichen Günstlings der Königin, am Globe Theater eine Vorstellung zu dessen Ehren. Sehr zur Überraschung der Theaterleute wird die Wiederaufnahme von Richard II. verlangt. Doch Shakespeare und seine Geschäftspartner sagen zu einem Beutel Geld nicht leichtfertig nein. So wird das Stück also am 8. Februar 1601 für die übliche Summe zuzüglich eines kleinen Aufschlags von 40 Schillingen aufgeführt (nach heutiger Kaufkraft wären das in etwa 200 britische Pfund oder 235 Euro). Am folgenden Tag greift der Earl of Essex zusammen mit einigen Verbündeten in offener Rebellion gegen die Königin zu den Waffen. Unter den Aufrührern befindet sich auch der Earl von Southampton, ein bekannter Shakespeare-Gönner und Beschützer. Die Königin schäumt vor Wut: die Wahl von Richard II., in dem es um die Entthronung eines Herrschers zum Wohle der Nation geht, erscheint schlagartig als Propagandatrick. Mit den Aufrührern macht sie kurzen Prozess, und am 25. Februar wird der Earl of Essex wegen Hochverrats geköpft. Viel fehlt nicht, und Shakespeare und seine Männer wären neben ihm auf dem Scharfrichterpodest gelandet. Mit Mühe und Not überzeugen sie die Beauftragten der Königin, dass sie nur bezahlte Unterhalter waren. The King’s Men Shakespeare widmet sich wieder dem Schreiben und führt vielleicht schon ein Jahr vor der unglückseligen Episode, spätestens aber im Folgejahr 1602 sein wohl berühmtestes Stück auf: Hamlet, Prinz von Dänemark. Maß für Maß, eine der sonderbarsten “Komödien” Shakespeares, gehört in dieselbe Zeit des ausgehenden elisabethanischen Zeitalters. Am 24. März 1603 verstirbt Elisabeth I. in ihrem Palast in Richmond. Die elisabethanische Ära, diese erste Blütezeit englischer Kultur und englischen Einflusses auf der ganzen Welt, ist vorüber, und die Regentschaft der Stuarts beginnt. Einige Stunden nach dem Versterben der Königin wird James VI. von Schottland unter dem Namen James I. als neuer König von England und Irland ausgerufen. Damit befinden sich Schottland, Irland und England, obgleich politisch nach wie vor getrennt, zum ersten Mal in ihrer Geschichte unter ein- und demselben Herrscher. Dunkle Wolken ballen sich am Horizont Hamlet - Begleitmaterial - AL 3 Hessisches Landestheater Marburg zusammen: Staatsruin, Beulenpest, Bürgerkrieg. Doch zunächst bejubeln die Einwohner Londons ihren neuen König bei seinem Einzug in die Hauptstadt. An der Bankside hört man die Neuigkeiten gerne: James ist für seine Vorliebe für Maskenspiele und andere Unterhaltungen bekannt. Der Earl von Southampton wird aus dem Tower befreit, und aus den Lord Chamberlain’s Players werden per königlichem Patent The King’s Men. Neben der Ehre und dem entsprechenden Werbeeffekt bringt dies vor allem mit sich, dass Shakespeares Truppe nicht mehr von jedem örtlichen Würdenträger belästigt werden kann, dem die Darbietungen etwa missfallen sollten. Die Zukunft strahlt den frisch gebackenen King’s Men wieder hell entgegen, und daran kann selbst ein erneuter Ausbruch der Pest nichts ändern. Dieses Illustration von William Dudley zeigt zwar das Rose-Theater. Das Globe-Theater dürfte allerdings ähnlich ausgesehen haben. Quelle: Open University, 2010 In den nächsten Jahren von 1604 bis 1608 ist Shakespeare auf der Höhe seiner Schaffenskraft. In dieser Zeit schreibt er Othello, König Lear, Macbeth, Antonius und Kleopatra und Corolianus, sowie daneben die weniger beachtete Tragödie Timon von Athen und die Romanze Pericles. Rückzug Während Shakespeares Stücke Erfolg um Erfolg feiern, expandiert das Theaterimperium der King’s Men in den Wintersaisonbetrieb und erweitert seine Entwicklungsabteilung. Die typischen Theater der elisabethanischen Zeit ähnelten in ihrer Struktur offenen Arenen, deren Holzbühnen im Halbrund von Zuschauerrängen umgeben waren. Diese waren zwar überdacht, aber nicht geheizt; im Winter wurde daher in anderen Gebäuden gespielt. Im Jahre 1608 erweitern die King’s Men ihr Immobilienportfolio um eben eine solche Winterspielstätte im Londoner Stadtteil Blackfriars. Die aufwändigere Bühnentechnik der Winterbauten erlaubt Shakespeare, effektvolle Auftritte voller Blitz und Rauch in seinen Stücken Hamlet - Begleitmaterial - AL 4 Hessisches Landestheater Marburg vorzusehen. Bald danach treten Francis Beaumont und John Fletcher, zwei junge Männer aus bestem Hause, als Verstärkung dem Schriftstellerpool der Truppe bei. Fletcher beginnt schon bald, mit Shakespeare selbst zusammenzuarbeiten, vor allem an der letzten Historie der Lancaster-Tetralogie, Heinrich VIII. Cymbeline und Ein Wintermärchen entstehen in dieser Zeit, und schließlich im Jahre 1611 das wahrscheinlich letzte Werk Shakespeares, Der Sturm. Am 29. Juni 1613 erstrahlt das Globe Theater wieder einmal in prachtvollsten Glanz: es wird eine spektakuläre Inszenierung von Heinrich VIII. gegeben. Als in der vierten Szene des ersten Akts der König auftritt, verdunkelt auf einmal Rauch das Bild auf der Bühne. Beinahe augenblicklich bricht im vollbesetzten Zuschauerraum Panik aus: das reetgedeckte Dach des Theaters steht lichterloh in Flammen. Innerhalb einer einzigen Stunde stehen von Shakespeares Theater nur noch rauchende Trümmer. Wie durch ein Wunder kommt niemand zu Schaden. Die Schauspieler der King’s Men haben außerdem gerettet, was zu retten war: Shakespeare Manuskripte wurden allesamt den Flammen entrissen. Aber auch dies ist wieder eines der Rätsel der Shakespeare-Forschung. Waren es wirklich alle? Wie viele von Shakespeares Stücken gingen am 29. Juni 1613 verloren? Von wie vielen werden wir nie erfahren? Der Brand an sich ist nichts Ungewöhnliches, denn Brandschutzmaßnahmen gibt es zu Shakespeares Zeiten kaum; nur knappe sechzig Jahre später sollte halb London abbrennen, weil ein Bäcker in der Pudding Lane aus Versehen den Ofen anließ. Beinahe unverzüglich beginnen die Bauarbeiten an einem neuen Theater für die King’s Men, dieses Mal mit Tonziegeln auf dem Dach. Shakespeare selbst jedoch scheint zutiefst getroffen. Hat ihm der Verlust des geliebten GlobeTheaters die Lust am Schreiben genommen? Hat der Brand doch unersetzliche Manuskripte zerstört? Oder war Shakespeare, mit beinahe fünfzig Jahren, einfach nur etwas müde geworden? Hat er die Gelegenheit genutzt, sich aus dem Rampenlicht zurückzuziehen? Fest steht, dass der Stardichter der King’s Men an den Bauarbeiten und den weiteren Geschicken der Truppe keinen Anteil mehr nimmt. Er zieht zurück nach Stratford zu der treuen Anne und den Kindern Susanna und Judith (ihr Zwillingsbruder Hamnet, Shakespeares einziger Sohn, war im Alter von elf Jahren verstorben). Dort beginnt Shakespeare ein Leben zu führen, das er sich neben seiner Londoner Theaterkarriere schon seit vielen Jahren durch geschickte Landkäufe aufgebaut hat: das eines wohlhabenden Grundbesitzers. Wenn man den Erzählungen Glauben schenken darf, ließ der Barde es sich in diesen letzten Jahren in seiner alten Geburtsstadt durchaus gut gehen. Finanziell hatte er ausgesorgt. Der Familienname würde zwar mit ihm aussterben, dürfte aber — so wird er vielleicht damals schon geahnt haben — nicht so bald in Vergessenheit geraten. Zudem war er von illustren und geistreichen Freunden umgeben, unter ihnen der hochgebildete Dramatiker Ben Johnson und der Poet Michael Drayton. Johnson und Drayton waren es denn auch, mit denen Shakespeare im März 1616 ein fröhliches Zechgelage veranstaltet haben soll — so lesen wir zumindest in einem Bericht von John Ward, damals Pfarrer in Stratford-upon-Avon. Als Folge der Sauferei, so Ward, zieht sich Shakespeare ein “Fieber” zu. Seine Gesundheit verschlechtert sich schnell. Am 25. März macht er sein Testament, in dem er seiner Tochter Judith 300 Pfund (heute ca. 33,000 Euro) und eine Silberschale vermacht, seiner Tochter Susanne den gesamten Rest einschließlich des Hauses, und seiner Frau “das zweitbeste Bett im Haus” — ein weiteres, letztes Rätsel der Shakespeare-Forschung. William Shakespeare verstirbt am 23. April 1616 in Stratford-upon-Avon. Er wird in der Holy Trinity Church in Stratford begraben, wo man noch heute seinen Grabstein besuchen kann. Hamlet - Begleitmaterial - AL 5 Hessisches Landestheater Marburg Im Labyrinth der Überlieferung: Hamlet Die Welt der englischen Renaissance, voll mit Pest und Puritanern, bitterer Armut, Glanz, Bürgerkriegen, Seeschlachten, Bärenkämpfen und den ersten Theaterstars der Neuzeit, liegt weit hinter uns zurück. Der Stoff, den Shakespeare vor über vierhundert Jahren in eines der berühmtesten Theaterstücke der Weltgeschichte verwandelte, ist selbst allerdings noch viel älter — so alt sogar, dass er sich nicht datieren lässt. Schauermärchen und Mythensammlungen Im allgemeinen wird von Literaturwissenschaftlern die Gesta Danorum (lateinisch: Die Taten der Dänen) als wichtigste Quelle von Shakespeares Hamlet identifiziert — eine sechzehnbändige Geschichte Dänemarks und Skandinaviens, die von der prähistorischen Periode bis zum späten 12. Jahrhundert in etwa alles erwähnt, was an Gottes-, Helden- oder Kriegstaten in diesem Zeitraum überhaupt erwähnenswert war. Der Autor des Geschichtswerkes, Saxo Grammaticus, war ein dänischer Schriftgelehrter des 13. Jahrhunderts und wahrscheinlich ein Angestellter des Erzbischofs von Lund. Die Gesta Danorum sind ein faszinierendes Werk und eine so reichhaltige Quelle von Einblicken in die Politik und Kultur des Hochmittelalters sowie in die skandinavische Mythologie, dass sich ohne weiteres viele Bände mit der Beschreibung allein ihrer Chronologie füllen ließen. Für unsere Zwecke genügt jedoch ein Blick auf Buch 3 und 4 der Gesta: Hier erzählt Saxo die Vita Amlethi (lateinisch: Das Leben Amleths), in der zwei Brüder, Orvendil and Fengi, vom König Rørik Slyngebond die Herrschaft über Jutland erhalten. Bald heiratet Orvendil die Tochter des Königs, Geruth, die ihm als ersten und einzigen Sohn Amleth gebärt. Solch Übermaß an häuslichem und politischen Glück stößt dem Bruder Fengi böse auf. Er bringt den armen Orvendil um und reißt nach kurzer Trauerzeit die Witwe des Bruders selbst an sich, Krone inklusive. Amleth rächt den Mord, überlebt, wird zum neuen und rechtmäßigen Herrscher Jutlands und bricht, als schließlich alles erledigt ist, zu neuen Abenteuern auf. Viele der Details des Hamlets, den wir kennen, sind in dieser Geschichte bereits enthalten: der Mord eines verborgenen Spions, die Aussprache mit der Mutter, der vorgespielte Wahnsinn, die Prüfung durch eine junge Frau und die Vereitelung eines Mordplans durch das geschickte Vertauschen der Opfer. Zu Shakespeares Zeiten war dieses Buch unter Gelehrten weit verbreitet, und somit wäre also die Quelle seiner Inspiration genau bestimmt und datiert. Leider liegen die Dinge aber etwas komplizierter. Shakespeare war selbst kein Gelehrter, sondern Theatermann. Und mit einiger Wahrscheinlichkeit verstand er bei weitem nicht genug Latein, um ein sechzehnbändiges Geschichtswerk nach interessanten Ideen durchforsten zu können. Wahrscheinlicher ist es, dass Shakespeare stattdessen die Histoires Tragiques des Schriftstellers François de Belleforest zu Rate zog, die dieser im Jahre 1570 in Paris veröffentlicht hatte. Diese histoires tragiques waren ein ursprünglich aus Italien stammendes, im 16. und 17. Jahrhunderts überaus populäres Genre, das sich in heutiger Terminologie getrost mit “Schauermärchen” übersetzen ließe. Die Verfasser solcher Gruselgeschichten fanden ihre Inspiration überall, von Bocaccios Decamerone bis zu den “Polizeiberichten” ihrer Zeit. So ist es also nicht weiter erstaunlich, dass Belleforest sich seinen Stoff bei Saxo Grammaticus lieh und dessen lateinische Prosa auf ungefähr die doppelte Länge ausschmückte. Belleforests wichtigste Zutat, gänzlich abwesend beim Dänen Sexo, war die melancholische Grundstimmung des Titelhelden. Allerdings wurden die Histoires Tragiques zunächst nur auf Französisch veröffentlicht, und so stellt sich auch hier wieder die Frage, ob Shakespeare dieser Sprache überhaupt mächtig war. Aus wenigen Hinweisen in Tagebüchern und Briefen theaterbegeisterter Zeitgenossen schließt heute eine Minderheit der Shakespeare-Forscher, dass die wahrscheinlichste Hauptquelle des Barden daher weder ein lateinisches Geschichtswerk noch eine französische Gruselgeschichte, sondern vielmehr ein englisches Theaterstück war — ein so-genannter Ur-Hamlet, der bereits ab dem Jahre 1589 existiert haben soll. Wenn es den Ur-Hamlet jemals gab, ist er heute gänzlich verloren. Über Handlung und Personen wissen wir nichts. Zu fragen wäre zumindest, wer der Verfasser war — etwa Shakespeare selbst, oder doch sein etwas älterer Konkurrent, der Dramatiker Thomas Kyd? Kyd hatte in den späten 1580ern großen Erfolg mit seinem Stück The Spanish Tragedy, in dessen recht komplizierter Handlung es vor Blut und Gedärmen nur so spritzte. Die Hauptthemen der Spanish Tragedy waren Mord und Rache unter Königsleuten, und Kyd fand damit so starken Zuspruch beim Publikum, dass er ein neues Genre im elisabethanischen Theater, die Revenge Tragedy (Rachen-Tragödie) begründete. Wichtige Elemente dieser neuen Form, die bereits in der Spanish Tragedy selbst effektvoll zum Einsatz kamen, waren der Auftritt von Geistern und die Aufführung eines Hamlet - Begleitmaterial - AL 6 Hessisches Landestheater Marburg Stücks-im-Stück. Ein Ur-Hamlet wäre also Kyd leicht von der Feder gegangen. Möglicherweise wurde aber Shakespeare selbst vom Theatergeschehen seiner Zeit inspiriert und beschloss daher, die neuen Mode der Revenge Tragedy mit seinem eigenen Stück Hamlet aufzugreifen? Vielleicht ist die Suche nach der einen, ultimativen Hamlet-Vorlage müßig. Denn wenn man es genau nimmt, so ist der Kern der Tragödie, das Motiv eines Brudermordes und der anschließenden Rache durch den Sohn, noch um vieles älter als Saxo Grammaticus’ Text. Saxo war seinerseits von skandinavischen und römischen Sagen beeinflußt, die er teils gelesen, teils in mündlicher Überlieferung gehört haben muss. Das Hamlet-Motiv findet sich nicht nur in diesen Traditionen und der Sagenwelt Islands, sondern auch im spanischen und sogar im arabischen Kulturraum. Und so verliert sich die Spur immer mehr, je länger wir ihr folgen, bis hin schließlich zur indo-europäischen Völkerwanderung vor ca. 9000 Jahren. Fest steht, dass die Geschichte des Brudermordes um Frau und Macht, gefolgt von der Rache durch den Sohn des Ermordeten, weder Shakespeares eigene Idee war noch die seiner Vorgänger. Vielmehr haben wir es hier zu tun mit einer der ältesten narrativen Strukturen der europäischen Kultur. Wer schreibt hier? Shakespeares Stücke wurden bereits zu seinen Lebzeiten in Buchform veröffentlicht, und zwar mehr als nur einmal. Sehr zum Ergötzen aller nachfolgenden Shakespeare-Forscher bedeutet dies allerdings nicht, dass die Texte auf diese Weise fixiert wurden — ganz im Gegenteil. Die ersten erhaltenen Drucke von Shakespeares Werken waren fast alle so genannte “Quartos”, wurden also aus Papierbögen hergestellt, die jeweils mit vier Buch-Seiten bedruckt und dann zwei Mal gefaltet wurden. Heraus kamen mehr oder weniger kleine, schodderige Heftchen für den Hausgebrauch, deren Inhalte, soweit wir heute zwischen mehreren überlieferten Quarto-Versionen noch vergleichen können, mitunter bei gleichem Stücktitel erheblich voneinander abwichen. Ein Grund hierfür ist, dass Shakespeare selbst einige seiner Stücke bereits zu Lebzeiten erheblich abänderte; dies betrifft unter anderem auch Hamlet, aber vor allem den König Lear. Darüber hinaus hatten aber bereits die Quarto-Texte nicht nur einen, sondern eine ganze Reihe von “Autoren”. Der Begriff des Urheberrechts war nämlich dem elisabethanischen Zeitalter noch weitgehend unbekannt, und die Konkurrenz unter den Schauspieltruppen war groß. Impresarios wie Shakespeare ließen sich daher einiges einfallen, um ihre Skripte im eigenen Haus zu behalten — unter anderem die Aufteilung der Stücke in die aneinandergereihten Repliken der einzelnen Figuren mit ihren jeweiligen Stichworten, von denen das englische Wort “Part” (Rolle) und unser deutsches Wort “Rolle” kommen. Als “Regiebücher” oder prompt copies wurden entweder Shakespeares eigene Manuskripte, die so genannten foul papers, oder professionell (und wahrscheinlich fehlerhaft) abgeschriebene Reinschriften, die fair papers, verwendet. Und diese ließ Shakespeare nach Probenschluss flugs wieder in der eigenen Tasche verschwinden. Woher kamen also die Quartos? Die Antwort ist einfach — wahrscheinlich zum größten Teil von Raubkopierern, die während oder nach der Vorstellung so gut es ging niederschrieben, was auf der Bühne gesagt wurde. Diese Stenographien wurden sodann an Drucker und Kopisten weitergereicht, die vermutlich ihrerseits wieder Fehler machten oder eigenmächtig Ergänzungen einfügten. Liebhaber, Konkurrenten und Neider Shakespeares werden außerdem ihre Mitschriften vor der Weitergabe um eigene Randbemerkungen und Korrekturen bereichert haben. Oder waren es gar die Schauspieler der Truppe selbst, die Shakespeares Stücke für die Nachwelt festhalten (und an den Meistbietenden verkaufen) wollten? Die Spieler müssen ihre Stücke sehr gut gekannt haben. Wenn dies der Fall war, sind dann aber nicht zumindest einige der Quartos originalgetreuer als andere? Und wie steht es mit den späteren Ausgaben, die allesamt nach Shakespeares Tod entstanden und daher von ihm nicht autorisiert werden konnten? Die Debatte um die Frage, wie viel von Shakespeare eigentlich Shakespeare ist, tobt unter Philologen und Shakespeareianern seit dem achtzehnten Jahrhundert. Und ein Ende ist nicht in Sicht. Die erste “Folio”-Ausgabe — ein Großformat mit offiziellem Anspruch und teurer Ausstattung — entstand sieben Jahre nach Shakespeares Tod und enthielt sechsunddreißig Stücke, darunter etwa zwanzig, für die uns heute außerhalb des Folios keine weiteren Quellen mehr vorliegen. Unter Shakespeare-Forschern wird diese Ausgabe “The First Folio” genannt, und sie galt lange Zeit als autoritativ — nicht zuletzt deshalb, weil Shakespeares Freund und Konkurrent Ben Johnson im Vorwort feierlich vor den “gestohlenen und betrügerischen” Quartos warnte. 1623 wurden im Auftrag der King’s Men ca. 1000 Bücher gedruckt und für je 1 Pfund verkauft, also für etwa 100 britische Pfund in heutiger Währung. Wer heute eines dieser Hamlet - Begleitmaterial - AL 7 Hessisches Landestheater Marburg Exemplare besitzt, kann sich glücklich schätzen: Von den ca. 228 Kopien, die überlebt haben, ging 2006 zuletzt beim Auktionshaus Sotheby’s in London eine einzige für 3,5 Millionen Pfund über den Ladentisch. Wäre Hamlet eines der zwanzig Stücke, die für uns erst ab der ersten Folio-Ausgabe existieren, wäre unsere Abschweifung in die Editionsphilologie hiermit beendet. Leider, oder zum Glück, ist dies nicht der Fall. Hamlet wurde, soweit wir wissen, bereits vor 1623 zwei Mal gedruckt, und zwar ein Jahr nach der Uraufführung im Jahre 1603 und ein zweites Mal im Jahr 1604, vielleicht auch ein drittes Mal in 1611. Im Vergleich mit den Quartos weist die Folio-Ausgabe einige Lücken auf, deren berühmteste Hamlets Monolog “Wie alles, was geschieht, mich gleichsam anklagt…” (S. 88 bei Gosch-Schanelec) und die vorhergehende Szene sind. Beide fehlen in der Folio-Ausgabe komplett. Woher kommen diese Worte also? Genau lässt es sich nicht sagen. Wahrscheinlich lag dem Hamlet der Folio-Ausgabe eine Kombination aus einem Shakespeare-Manuskript und einer der Quarto-Ausgaben zu Grunde. Allerdings dürfen wir nicht vergessen, dass Shakespeares Players seine Manuskripte auf der Probe benutzten und folglich Striche und Bühnenanweisungen darin festhielten. Außerdem wurde “The First Folio” selbst von fünf verschiedenen Setzern gedruckt, die alle unterschiedliche Schreibgewohnheiten und Auffassungen sowohl von der eigenen als auch von Shakespeares Rechtschreibung hatten. Nachdem die ersten etwa hundert Seiten aus der Presse gekommen waren, wurden die Druckfahnen Korrektur gelesen und korrigiert, bevor man weiter druckte. Selbst die einzelnen Exemplare des Folios unterscheiden sich also voneinander, ebenso wie die Quartos und wahrscheinlich auch die Manuskripte, die foul und fair papers. Mit all diesen Verwicklungen und unzähligen “Autoren” haben wir uns bisher immerhin in das Jahr 1623 vorgearbeitet. Richtig kompliziert wird es eigentlich aber erst danach. Bis zum Ende des siebzehnten Jahrhunderts erschienen noch drei weitere Folios, die sich — wie wäre es anders zu erwarten — natürlich alle voneinander unterscheiden. Im achtzehnten Jahrhundert nahm sich dann die Textkritik erstmals der Sache an, und Nicholas Rowe gibt im Jahre 1709 die erste kritische Gesamtausgabe Shakespeares zusammen mit dem ersten Versuch einer Shakespeare-Biographie heraus. In Rowes Fussstapfen folgten zahlreiche andere Herausgeber, nicht zuletzt auch illustre Namen wie Alexander Pope und Samuel Johnson, bis zwischen 1803 und 1821 dann die ersten drei Varioria der Shakespeare-Ausgaben erschienen, also Zusammenstellungen aller vorhergehenden Editionen und Korrekturbemühungen. Einige Jahre zuvor, nämlich ab 1798, entstand in Deutschland unter August Wilhelm Schlegels Namen diejenige Übersetzung, die auch heute noch von vielen als Maßstab aller deutschen Übertragungen (und als eine der besten Shakespeare-Übersetzungen überhaupt) betrachtet wird. Wieder einmal gab es nicht nur einen, sondern mehrere Verfasser: neben Schlegel selbst waren vor allem noch Ludwig Tiecks Tochter Dorothea, ihr Vater und der deutsche Diplomat Heinrich Graf von Baudissin beteiligt. Als Vorlage verwendete das Team natürlich die englischen Folio-Ausgaben, aber vor allem im Falle Hamlets auch die Quartos und andere Quellen. Varianten gab es mittlerweile ja zur Genüge, und nicht zuletzt hatten Schlegel und Tieck, Romantiker die sie waren, auch äußerst großzügige Vorstellungen von der dichterischen Freiheit des Übersetzers. Also fragen wir erneut: Woher stammen diese Worte? Es scheint fast, als hätte an dem, was wir heute als “Shakespeares Werke” lesen, mehr oder weniger halb Europa mitgeschrieben: Angefangen von elisabethanischen Raubkopierern und halb-betrunkenen Druckerlehrlingen über englische Aufklärer, deutsche Klassiker und Berliner Romantiker bis hin zu Theaterleuten wie Thomas Brasch, Peter Handke, Jürgen Gosch oder der Filmemacherin Angela Schanelec. Vielleicht erklärt dies wenigstens zum Teil, warum Shakespeares Popularität auch heute, beinahe vierhundert Jahre nach seinem Tod, weiterhin ungebrochen ist. Was wir heute unter dem Titel Hamlet lesen, ist weder 400 Jahre alt noch gegenwärtig, sondern beides zugleich — und alles dazwischen! Schicht um Schicht haben im Laufe der Jahrhunderte Shakespeares unzählige Ko-”Verfasser” die Interpretationen und Sprachen ihrer eigenen Zeit zu dem jeweils Überlieferten hinzugefügt. Und dabei sprechen wir hier noch gar nicht von der weitergehenden Deutung des Stückes, von Philosophie und Weltbild, sondern in erster Linie von den elementaren Vorgängen des semantischen Verständnisses und der Übersetzung des Textes. Hamlet - Begleitmaterial - AL 8 Hessisches Landestheater Marburg Abgründe und Freibriefe Welche Kluft mit jeder Lektüre oder Aufführung Shakespeares überbrückt wird, wird noch klarer, wenn wir uns vor Augen führen, wie fremd uns als heutigen Rezipienten die eigentlichen Worte des Dichters erscheinen. So, wie wir sie in den Quellen der Folios und Quartos vorfinden, sind uns Shakespeares Stücke über weite Teile gar nicht mehr unmittelbar zugänglich. Gerade in Großbritannien und anderen englischsprachigen Ländern, wo Shakespeare meist in einer Fassung des historischen Textes aufgeführt wird, versteht heute kaum mehr ein durchschnittlich gebildeter Theaterbesucher, was es zum Beispiel mit der folgenden Passage auf sich haben könnte: His vertues els be they as pure as grace, As infinite as man may undergoe, Shall in the generall censure take corruption From that particuler fault: the dram of eale Doth all the noble substance of a doubt To his own scandle. (Hamlet, I. Akt, 4. Szene. Gosch-Schanelec: Seite 24). Bei dieser in der Shakespeare-Forschung wohl bekannten “dram of eale” Passage, die ausschließlich im zweiten Quarto erscheint und heute in den meisten Fassungen enthalten ist, handelt es sich um ein so genanntes Crux. In der Fachterminologie der Textkritik ist das eine Stelle, die im Laufe der Überlieferung schwerwiegend korrumpiert oder verändert worden ist und deren Bedeutung nicht ohne weiteres aufgeklärt werden kann. Was bedeutet “dram of eale”? Hier noch einmal dieselbe Passage in heutigem Englisch: Whatever other virtues they have, even if they are As pure as grace, as infinite as men may have, Shall in the general opinion be labeled corrupt From that one particular fault. The dram of eale Often causes doubt about all the virtues they have To men’s own disgrace. Die Mehrheit der heutigen Briten hätte schon gewisse Schwierigkeiten, von der ersten Passage auf die zweite zu schließen — allerdings würde diese Mehrheit auch nicht unbedingt freiwillig einer historischen Shakespeare-Produktion beiwohnen. Selbst das kultivierte Mittelklassen-Publikum, das man etwa im heutigen Stratford bei der Royal Shakespeare Company erwarten könnte, stände allerdings den Wörtchen “dram of eale” einigermaßen ratlos gegenüber. Die Worte machen keinen Sinn — einen “dram of whisky” nennen die Schotten ein Schlückchen Whisky, und “eale” heißt nun vollkommen gar nichts. Vielleicht war von Shakespeare “evil” gemeint? Der Schauspieler hat möglicherweise während der Vorstellung leicht genuschelt, und das Wort wurde von einem eifrigen Mitschreiber nur phonetisch festgehalten? Oder handelt es sich einfach um einen Druckfehler? Hat der Meister hier geschmiert, oder gar heiße Tränen auf sein Manuskript geweint? All dies ist möglich, und “evil” anstelle von “eal” macht immerhin Sinn. Dieses Rätsel wäre somit annähernd gelöst. Allerdings gibt es in den Folios und Quartos hunderte solcher Cruces, von denen viele sich nie werden aufklären lassen. Shakespeare also, der “echte Shakespeare”, wenn es ihn denn gibt, ist seinen Landsleuten heute im Grunde zutiefst fremd. Seine Sprache ist der Mehrheit zu großen Teilen unverständlich. Und doch ist das heutige Englisch zugleich voller Redewendungen und Wörter, die sich auf Shakespeare zurückführen lassen; und doch hat schon jeder englischsprachige VorstadtIntellektuelle drei bis vier Shakespeare-Zitate zum jederzeit passenden Einbau parat; und doch kennt jedes Schulkind den Kaufmann von Venedig oder den Lear. Als deutsche Theatermacher und Zuschauer haben wir es in gewisser Hinsicht leichter, da sich zwischen uns und Shakespeare meist zwangsläufig das vermittelnde Hirn eines Übersetzers einschaltet. Man könnte meinen, dass uns damit von Tieck, Gosch, Schanelec und Kollegen etwas abgenommen wird, was uns von Rechts wegen zustünde — die Entscheidung zum Beispiel, ob mit “eale” nun “bösartig” oder vielleicht doch eher “Aal” (eal) gemeint war. Das ist nicht so Hamlet - Begleitmaterial - AL 9 Hessisches Landestheater Marburg trivial, wie es klingt: Gertrude und Ophelia zum Beispiel wären allein auf der Grundlage des ersten Quartos weitaus vielschichtigere Figuren, als sie uns — bedingt durch den Filter der Schlegel-Tieck Übersetzung — hierzulande im allgemeinen bekannt sind. Lässt man den nur in Quarto Nummer zwei erscheinenden Monolog “Wie alles, was geschieht, mich gleichsam anklagt” kurzerhand weg, so hat dies gravierende Konsequenzen für das Bild, das wir uns auf Grundlage des Textes von Hamlets Seelenverfassung machen können. Für solche Entscheidungen gäbe es gute Gründe, denn Shakespeares Freunde müssen als Herausgeber des ersten Folio noch recht gut gewusst haben, wie der Meister es genau haben wollte und was er aus welchen Gründen gestrichen hatte. Dennoch hat sich der Monolog bis heute erhalten, die zusätzlichen Ophelia- und Gertrude-Passagen dagegen nicht. Müssten wir nicht also, anstatt szenisch zu proben, die ersten vier Wochen unserer Arbeit zunächst gemeinsam mit dem Studium des elisabethanischen Zeitalters, seiner Sprache und der Quellentexte verbringen? Es gibt in den Vereinigten Staaten und Großbritannien Theatertruppen6, die dies tun, und in Anbetracht aller bisher beschriebenen Komplikationen der Shakespeare-Überlieferung kann man solch akademischer Gewissenhaftigkeit und Todesverachtung nur herzlich gratulieren. Die Alternative besteht darin, dass wir uns als Theaterpraktiker in bester Shakespeare-Tradition dazu ermächtigt fühlen, den Text als Heutige mit heutigen Augen zu lesen und dabei alle vierhundert Jahre an Vor- und Filter-Entscheidungen, die immer bereits in ihn eingeschrieben sind, zunächst einmal mit in Kauf zu nehmen. Den “reinen, echten Shakespeare-Text” hat es wahrscheinlich ohnehin nie oder nur für sehr kurze Zeit gegeben. Und selbst wenn Hamlet heute im Original, direkt aus Shakespeares Feder und mit seinem offiziellen Segen, vor uns auf dem Probentisch läge, wäre uns der Text so fremd, dass wir kaum etwas damit anzufangen wüssten. Allerdings muss ein solches In-Kauf-Nehmen nicht bedeuten, dass wir uns blindlings durch das Labyrinth der Überlieferung tasten. Das Bewusstsein und Wissen um Shakespeares Ko-”Autoren” und deren Kontexte ist wichtig, weil es uns bevollmächtigt und auch überhaupt erst in Stande setzt, den Text kritisch zu befragen. Mit Shakespeares eigenen Absichten, wenn wir sie denn kennen würden, könnten wir heute möglicherweise wenig anfangen. Auch nach ihnen können wir fragen, aber noch interessanter ist es, den unzähligen Ko-Autoren des Dichters genauer auf die Finger zu sehen. So schreibt zum Beispiel das Schlegel-Tieck Übersetzerteam am Ende des letzten Aktes, nach der ersten Runde des Duells: KÖNIGIN Er ist in Schweiß und außer Atem. Hier Hamlet, nimm mein Tuch, reib dir die Stirn! Die Königin trinkt auf dein Glück, mein Hamlet. Gosch und Schanelec übernehmen dies, behalten den Blankvers bei und entromantisieren lediglich die Sprachebene: KÖNIGIN Er schwitzt und kann kaum noch. Hier, Hamlet, nimm mein Tuch für deine Stirn. Die Königin trinkt auf dein Glück, mein Hamlet. Aber was hat Shakespeare, ebenfalls im (hier verkürzten) fünfhebigen jambischen Blankvers, dazu zu sagen? QUEEN He's fat, and scant of breath. Heere's a Napkin, rub thy browes, The Queene Carowses to thy fortune, Hamlet Hamlet schwitzt nicht, er ist fett! Eine unwesentliches Detail, das sich ohne weiteres historisch erklären ließe: Richard Burbage, der erste Hamletdarsteller der Weltgeschichte, wog angeblich um die 17 stone (107 kg). Aber ist es nicht sonderbar, dass Schlegel, Tieck und Co. gerade an der Vorstellung eines fetten Prinzen Anstoß genommen haben sollten? 6 Am bekanntesten Patrick Tuckers Riverside Shakespeare Company, die sich in den frühen 80er Jahren in New York formierte. Tucker ent- wickelte mit seinen Schauspielern eine Methode, die die nach seiner Meinung in der Folio-Ausgabe enthaltenen originalen Regieanweisungen Shakespeares auf die Bühne übersetzte. Hamlet - Begleitmaterial - AL 10 Hessisches Landestheater Marburg Welches Bild hat sich hier im Laufe der Jahrhunderte in unsere Köpfe eingeschlichen — das eines mageren, femininen Intellektuellen, ganz in schwarz gekleidet, mit traurigen Augen und Totenschädel in der Hand? Und welche Rückfolgerungen können wir daraus schließen, was Geschlechterrollen, gesellschaftliche Strukturen und Machverhältnisse betrifft? Traum aller britischen Schwiegermütter: Laurence Olivier als Hamlet in der Verfilmung von 1948. Quelle: BFI Eben dies ist gemeint, wenn in dem kurzen Hamlet-Kommentar im Spielzeitheft von einem Raum die Rede ist, der durchzogen sei von “symbolischen Ordnungen”. In jedem Text, aber gerade in einem Text wie Hamlet, der schon seit einigen hundert Jahren durch unser Bedeutungsuniversum schwirrt, schlagen sich zusammen mit der Sprache auch die sozialen, ökonomischen und machtpolitischen Strukturen verschiedener Zeiten, Kulturnationen und Bedeutungssysteme nieder. Im Falle Hamlets führt dies zu einem schier endlos anmutenden, vielschichtigen Bedeutungsraum, der sich vor unseren Augen auftut und in dem wir navigieren müssen. Diese Endlosigkeit wäre entmutigend, wenn sie nicht zugleich mit dem Freibrief einher ginge, in diesem Raum einen eigenen Weg zu suchen und seine scheinbaren und tatsächlichen Begrenzungen mit kritischen Augen zu untersuchen. Ein Freibrief übrigens, den Shakespeare selbst vermutlich ohne zu zögern unterzeichnet hätte. Hamlet - Begleitmaterial - AL 11 Hessisches Landestheater Marburg Shakespeare hat es nie gegeben Der Verfasser des Hamlet, so haben wir bisher argumentiert, muss in den vierzehn “verlorenen Jahren” von 1578 bis 1592 weit gereist sein, er muss gearbeitet, studiert oder zumindest viel gelesen haben, und er muss allgemein auch späterhin mit den Gedanken, Moden und Machtverschiebungen seiner Zeit wohlvertraut gewesen sein. Um die Quelltexte allein des Hamlet verstehen zu können, so haben wir festgestellt, waren gründliche Kenntnisse des Lateinischen oder Französischen notwendig. Viele der Gedanken des “Sein oder Nicht-Sein”-Monologs, um ein weiteres Beispiel zu nennen, gehen auf das Werk De Consolatione (Über den Trost) des italienischen Renaissance-Gelehrten, Mathematikers und Erfinders des Kombinationsschlosses Hieronymus Cardanus zurück. De Consolatione wurde zwar 1573 aus dem Lateinischen ins Englische übersetzt, aber Bücher solcher Art waren damals relativ wenig verbreitet und wurden nur von einer kleinen Elite gebildeter Männer und Aristokraten gelesen. Lange Zeit vermutete man, dass es sich bei dem Buch, welches Hamlet vor seiner Unterredung mit Polonius liest (Gosch-Schanelec: S. 43), um Cardanus’ De Consolatione handeln müsse. So lässt sich also schlussfolgern, das Shakespeare sehr viel gebildeter war, als es seine abgebrochene Ausbildung an der Stratford Grammar School nahelegen würde. War der Barde ein weit gereister, genialer Autodidakt? Die große Mehrheit aller Shakespeare-Forscher, um so viel bereits vorwegzunehmen, geht nach wie vor von dieser Annahme aus. Wenn auch nicht alle Vertreter der Disziplin so weit gehen würden, sich den Dichter in kühner Welterforschung an der Seite von Sir Francis Drake vorzustellen, so besteht doch nach wie vor ein breiter Konsens darüber, dass Shakespeare sich das für das Verfassen seiner Stücke notwendige Wissen irgendwie angeeignet haben muss. Was aber, wenn nicht? Könnte es nicht immerhin sein, dass Shakespeare die Zeit der “verlorenen Jahre” tatsächlich damit verbrachte, im väterlichen Kontor den Bauern das Fell über die Ohren zu ziehen? Die drei Gesichter des Barden, von links: Das Cobbe Porträt (1610), das Chandos-Porträt (frühes erstes Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts) und der Droeshout-Stich von 1622. Quelle: Internet, 2010 Hamlet - Begleitmaterial - AL 12 Hessisches Landestheater Marburg Wäre dies die Grundlage unseres Shakespeare-Bildes und nicht die Vorstellung des genialen Autodidakten, so hätte das weitreichende Konsequenzen. Es würde bedeuten, dass nicht der Stratforder Bürgermeistersohn, sondern ein anderer oder gar unterschiedliche Autoren “Shakespeares Werke” verfasst haben. Eine dritte Möglichkeit gibt es nicht — entweder hat Shakespeare genug gewusst, um seine Stücke zu schreiben, oder er hat sie eben nicht, oder nicht allein geschrieben. Willkommen beim “größten literarischen Rätsel aller Zeiten”: der schon beinahe zweihundert Jahre währenden Debatte um Shakespeare Autorschaft. Dass wir über William Shakespeare aus Stratford wenig wissen, ist an sich nicht weiter beachtlich. Das Leben des kleinen Mannes in der Renaissance wurde, mit Ausnahme der in Kirchen- und Gerichtsregistern enthaltenen mageren Daten, kaum dokumentiert. Das Wenige, was festgehalten wurde, ist heute außerdem zum größten Teil verloren. So wäre es also das wissenschaftlich Richtige, die Lücken in unserem Wissen mit der einfachsten Hypothese zu schließen, die alle offenen Fragen erklärt — und das wäre die des Autodidakten. Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts gab es denn auch kaum öffentliche Zweifel an der Urheberschaft der Shakespeare’schen Werke. Spätestens seit der Veröffentlichung eines Buches von Joseph C. Hart7 im Jahre 1848 sollte jedoch die These vom “Multigenie Shakespeare”, der Geschäftsmann, Privatgelehrten, Schauspieler und Schriftsteller in sich vereinte, zunehmend an Glaubwürdigkeit verlieren. Aus Gerichtsakten wissen wir zum Beispiel, dass Shakespeare aus Stratford seine Kontrahenten auch wegen vergleichsweise geringer Beträge gerne vor den Richter zitierte. Wie erklärt es sich dann, dass ein solchermaßen litiganter Geschäftsmann die eigenen Werke nicht besser beschützte? Ganz abgesehen von der Praxis der Raubkopien gab es bereits zu Shakespeares Lebzeiten Druckausgaben minderwertigerer Stücke, deren Verleger diese im Interesse der Absatzzahlen kurzerhand mit dem erfolgreichen Namen Shakespeare verbanden. Shakespeare selbst ging nie gegen diesen Missbrauch seiner “Hausmarke” vor. War dies, weil er selbst frei mit den Werken anderer umging und eine andere Vorstellung von intellektuellem Eigentum hatte als wir heute? Oder war der Grund, dass der wahre Autor der Werke anonym bleiben musste? Andere Zweifel ranken sich vor allem um Shakespeares Testament, das ohnehin schon ausreichend rätselhafte Verfügungen zugunsten (oder vielmehr zuungunsten) seiner Angehörigen enthält. Wenn der Dichter wirklich Autodidakt war, hätte er dann nicht eine umfangreiche Bibliothek besitzen müssen? Bücher waren sehr teuer; er hätte diese also seinen gebildeten Freunden und sicher nicht seiner wahrscheinlich analphabetischen Tochter vermacht. Aber das Testament erwähnt nicht ein einziges Buch. Theatermänner und Schauspielkollegen werden zwar unter den Begünstigten aufgeführt, allerdings nur zwischen den Zeilen, so also, als seien sie nachträglich eingefügt worden. Zur Beerdigung erschienen sie offenbar auch nicht — im Gegensatz zu Ben Johnson, Edmund Spenser oder Walter Raleigh wurde Shakespeares Versterben von seinen Zeitgenossen kaum öffentlich betrauert. Vor allem aber haben wir keinen Nachweis, dass Shakespeares Erben jemals Geld für seinen Anteil am Globe Theater oder für die Nachdrucke seiner Stücke verlangt hätten. Hat der Barde, als er sich 1613 aus dem Theaterleben zurückzog, seine Bibliothek verkauft und seine Investitionen liquidiert? Ist es seiner Tochter im ländlichen Stratford einfach nicht eingefallen, dass mit dem Nachlass des Vaters Tantiemen zu verdienen wären? Oder war der Barde gar kein Barde? Wieder einmal wären wir an einer Frage angelangt, die landauf landab in den Pubs der englischsprachigen Welt — und nicht nur dort — heißblütig und ausdauernd diskutiert wird. Von den verschiedenen Kandidaten, die im Laufe der letzten zweihundert Jahre von Englischlehrern, Shakespeare-Forschern, Schriftstellern, Hobbyisten und immerhin auch zwei amerikanischen High Court-Richtern vorgeschlagen wurden, ist der momentane Favorit Edward de Vere, der siebzehnte Earl of Oxford. De Vere lebte von 1550 bis 1604, war ein Mitglied des Hochadels, ein wichtiger Förderer der Künste und zeitweise einer der größten Günstlinge Elisabeths I. Zwar wissen wir von ihm, dass er ausgiebig geschrieben hat, aber von den Werken, die die Zeitgenossen so begeistert priesen, sind heute nur noch wenige Gedichte erhalten. War de Vere auch Dramatiker, so wie es Zeitzeugnisse nahe legen, so sind seine Werke heute samt und sonders verschollen — zumindest 7 Hart, Joseph C (1848)(2010): The Romance of Yachting. Voyage the first. New York: Harper Hamlet - Begleitmaterial - AL 13 Hessisches Landestheater Marburg diejenigen, die unter eigenem Namen verfasst wurden. Es wäre aber plausibel zu vermuten, dass es dem Earl of Oxford gar nicht einfiel, Veröffentlichungen solcher Art auch nur zu anzustreben. Das öffentliche Theater der englischen Renaissancezeit wurde von der damaligen Oberschicht nur mit äußerst spitzen Fingern berührt. Über lange Zeiträume — immer dann nämlich, wenn die puritanischen Strömungen gerade wieder die Oberhand hatten — war Theater schlicht verboten oder stark zensiert. Ausgeschlossen also für einen Earl of Oxford, anders auf diesem Gebiet in Erscheinung zu treten als in vornehmem Abstand, als milder Gönner und Schutzherr. So waren von den Zeit- und Standesgenossen Edward de Veres einige durchaus ebenfalls als Schriftsteller bekannt — Sir Walter Raleigh zum Beispiel, der berühmte Entdecker, oder Sir Philip Sidney. Keiner dieser aristokratischen Multitalente jedoch veröffentlichte zu Lebzeiten Anderes als höfische Lyrik. Für diese so genannte Oxford-Hypothese spricht vieles, nicht zuletzt das, was wir über die Erziehung und Ausbildung des siebzehnten Earl of Oxford wissen. De Vere war weit gereist, kannte natürlich den Lebensstil der Aristokratie, war selbst für kurze Zeit ein militärischer Führer gewesen, hatte Rechtswesen studiert und sprach Latein und Griechisch. Zwar wäre zu fragen, wie es nach 1604 noch Shakespeare-Stücke geben konnte, wenn deren wirklicher Verfasser in diesem Jahr starb. Feststellen lässt sich allerdings, dass die regelmäßige Veröffentlichung neuer Shakespeare-Stücke in Raub- und Gebrauchsdrucken im Jahre 1604 in der Tat versiegte. Und es wäre für den Earl ein Leichtes gewesen, den erfolgreichen Theaterimpresario, der Shakespeare ohne Zweifel war, als Frontmann seiner Werke und öffentlichen Pseudonym-Verleiher zu gewinnen. Hat es also Shakespeare — so, wie wir ihn zu kennen glauben — nie gegeben? Gab es möglicherweise nur Shakspere, Shakspe oder Shaksper, wie die verschiedenartigen Unterschriften des Stratforder Bürgermeistersohns und späteren Schauspielerstars lauteten? Außer der momentan populären Oxford-Hypothese gibt es noch die Francis Bacon-Hypothese, die Christopher Marlowe-Hypothese und zahlreiche andere. Die Argumente auf Seiten der Shakespeare-Verfechter wie auch ihrer Gegner sind zahlreich, und viele funktionieren in beide Richtungen: Wie konnte der Provinzkaufmann Shakespeare zum Beispiel so genau wissen, wie es am Hofe zuging, dass er einen Polonius erfinden konnte? Wie konnte aber der Earl of Oxford eine Totengräber-Szene schreiben, oder sich in einen Falstaff oder Bottom hineinversetzen? Am Anfang dieses Kapitels hatten wir den Vorsatz gefasst, die Entstehungsgeschichte des Textes und das Leben seines Autors zu beschreiben. Das ist auf ganzer Linie misslungen: statt eines Textes haben wir nun einen losen Stapel von Manuskripten und Versionen, an denen im Laufe der letzten vierhundert Jahre halb Europa mitgeschrieben hat, und statt eines Autors haben wir deren zwei, vier, fünf oder gar mehr. Festhalten lassen sich jedenfalls zwei Dinge: an den Lesarten des Hamlet ebenso wie am jeweiligen Stand der Urheber- und Textkritik-Debatten erfahren wir immer mehr über uns selbst und über die eigene Zeit als über Shakespeare. Und was letztlich gemeint war in den Texten, ist kaum ein größeres Rätsel als das, was sie uns im Augenblick des Lesens und Spielens bedeuten. Hamlet - Begleitmaterial - AL 14 Hessisches Landestheater Marburg Literaturhinweise Kapitel 1 Schwanitz, Dietrich (2006): Shakespeares Hamlet und alles, was ihn für uns zum kulturellen Gedächtnis macht. Frankfurt: Eichborn. Eine unterhaltsam geschriebene, interessante Nacherzählung und Erläuterung der Hintergründe des Stückes. Schwanitz, ehemals Professor der Anglistik in Hamburg und heute vor allem durch Sachbücher bekannt wie „Bildung. Alles was man wissen muss“, ist hier auf heimischem Terrain. Schabert, Ina (ed) (2000): Shakespeare-Handbuch. Die Zeit. Der Mensch. Das Werk. Die Nachwelt. Stuttgart: Kroener Alfred GmbH + Co. Das Kompendium des Shakespeare-Wissens – sehr umfangreich, mit zahlreichen Essays zur ShakespeareForschung, Rezeption auf der Bühne, Problemen der Übersetzung und auch zur Wirkung Shakespeares in Kunst, Literatur, Musik und Philosophie. Müller, Andre (2004): Shakespeare verstehen. Das Geheimnis seiner späten Tragödien. Berlin: Eulenspiegel. Müller beschäftigt sich hier vor allem mit der Zeit um die Entstehung des Hamlet, also der Übergangsperiode zwischen Elisabeth I. und ihrem Nachfolger James I. Mit James’ I. unbedachter Hinwendung zum Katholizismus und zur Aristokratie entstanden in der elisabethanischen Gesellschaft Verwerfungen, die sich in Shakespeares Stücken bereits erahnen lassen. Gurr, Andrew (1992): The Shakespearean Stage. Cambridge: Cambridge University Press. Leider meines Wissens nur auf Englisch verfügbar, aber nach wie vor die umfassendste Einführung in die Bühnenpraxis des elisabethanischen Zeitalters. Enthält Informationen über Shakespeares London, die Lord Chamberlain’s Men und andere miteinander konkurrierende Truppen der Zeit, den sozialen Status und das Alltagsleben der Spieler, die Theatergebäude, Inszenierungen und das Publikum. Hamlet - Begleitmaterial - AL 15 Hessisches Landestheater Marburg Frauen in Schwarz Der Hamletkomplex „Hamlet ist wir alle”, konstatierte der englische Essayist William Hazlitt 8 im 19. Jahrhundert — der „Abdruck der Gestalt des ganzen Zeitalters” (Gosch-Schanelec S. 61). Der Anspruch gerade dieser Rolle könnte in der Tat kaum größer sein; wer „Hamlet” spielt, der spielt spätestens seit den Zeiten der Shakespeare-Fieber im Sturm und Drang und in der europäischen Romantik eine der bedeutendsten Rollen der Weltliteratur. So steht die Geschichte der Hamlet-Darsteller nicht nur unter dem Zeichen künstlerischer Herausforderung, sondern auch beruflichen Ehrgeizes. Als “wir alle” ist Hamlet aber nicht nur Mann, sondern auch Frau. In der Männer- und Machtwelt des Claudius, Polonius und Hamlet senior ist es gerade die Femininität des Prinzen — vermeintlich oder tatsächlich —, die uns als Kritiker, Künstler, Darsteller und Zuschauer fasziniert. Kann die Untersuchung von Subjektivität, Handlung und Ausdruck, die sich immer wieder an dieser Figur manifestiert, überhaupt in einem geschlechtsneutralen Raum stattfinden? Muss nicht vom Regelbrecher und Rebellen Hamlet auch diese Grenze, nämlich die des Genders, des Geschlechts in seiner sozialen Dimension, schließlich thematisiert und gesprengt werden? Solche Sprengungen oder Aufhebungen von Geschlechterrollen fanden als Einbahnstraßenverkehr natürlich schon zu Shakespeares Zeiten statt: die Schauspielerin wäre den puritanischen Zeitgenossen ein sittliches Gräuel gewesen, und somit wurden alle Frauenrollen von (meist jungen, und folglich bartlosen) boy actors gespielt. Das “Cross-Dressing” ist Shakespeares Stücken und ihrer Aufführungspraxis von Hause aus eingeschrieben. Kein Wunder also, dass diese Einbahnstraße seit dem 18. Jahrhundert auch zunehmend in beide Richtungen befahren wurde. Als Ziel und Höhepunkt einer Theaterkarriere stellten sich der Herausforderung dieser Rolle im Laufe der Aufführungsgeschichte immer wieder auch Frauen — und zwar durchaus zu Zeiten, als dies noch alles andere als sozial akzeptabel war. Die Geschichte der weiblichen Hamlets ist zu einem guten Teil zugleich die Geschichte weiblicher Emanzipation in der (Theater-)Öffentlichkeit westlicher Gesellschaften. Bemerkenswert ist allerdings, dass wir heute so wenig von dieser Geschichte kennen. Der erste Film-Hamlet9 — ein kurzer Streifen von 1900, der nur das Duell zeigt — war eine Frau, und zwar Sarah Bernhardt. Der erste Radio-Hamlet, dreiundzwanzig Jahre später, war die englische Schauspielerin Eve M. Donne. Diesen beiden gingen unzählige andere voran, und weitere folgten: Sarah Siddons, Charlotte Clarke, Charlotte Cushman, Asta Nielsen und Eva Le Gallienne, um nur einige der berühmtesten Namen zu nennen. Woher rührt die Faszination mit dem weiblichen Hamlet, woher die teils heftige 8 Hazlitt, William (1900): Lectures on the Literature of the Age of Elizabeth and Characters of Shakespear's Plays. London : George Bell and Sons, S. 73-81 9 auf YouTube zu sehen: http://www.youtube.com/watch?v=7jiAs5gG1AA Hamlet - Begleitmaterial - AL 16 Hessisches Landestheater Marburg Ablehnung dieser Überschreitungen? Und warum wurde diese Tradition bis vor kurzem so sehr ignoriert, dass wir noch heute einen weiblichen Hamlet als Provokation, Frevel oder Ikonoklasmus deuten können? Die erste „Frau in Schwarz”, von der uns aus erster Hand schriftlich berichtet wird, betritt die Bühne des Weltgeschehens um das Jahr 1747 in der englischen Provinz. Die Berichterstatterin ist die Darstellerin selbst: Charlotte Charke (1713-60), Mitglied einer prominenten englischen Künstlerfamilie, Schauspielerin, Schriftstellerin, öffentlicher Transvestit und SkandalKönigin. In ihren Memoiren „A Narrative of the Life of Mrs. Charlotte Charke” (1755) spielt sie ihre Entscheidung, sich der bereits damals hochberühmten Hamletrolle anzunehmen, bewusst herunter: es sei eben in ihrer kleinen Truppe, die durch englische Provinzstädte tourte, „gerade niemand Besseres da gewesen.” Solch ostentative Lässigkeit muss dabei nicht zwangsläufig als vorauseilende Defensive gegen die Kritik der männlichen Zeitgenossen verstanden werden. Diese blieb zwar nicht aus. Aber Charlotte Charke stand ohnehin mit ihrem Leben, das sie über Bühnen, Jahrmarktstände, in die Schlafzimmer des Hochadels und ins Schuldnergefängnis führte, außerhalb jeglicher bürgerlicher Moralvorstellungen. Trotzdem wurde sie nicht nur geduldet, sondern sogar verehrt — ein gewisses Maß an Nonchalance wurde in der ansonsten durchaus zugeknöpften Gesellschaft des georgianischen Englands nicht nur akzeptiert, sondern insgeheim sogar genossen. Über Charkes Kollegin Fanny Furnival, die ihren Hamlet bereits im Jahre 1741 spielte (und uns damit das erste offizielle Dokument einer weiblichen Hamletdarstellerin lieferte), schrieben die Kritiker, sie sei als Hamlet „all ihren Vorgängern um ein Weites überlegen”10 . Am Anfang der weiblichen Hamlet-Tradition stand neben dem lustvoll begafften Skandal also bereits eine gewisse Würdigung. Charkes Entscheidung, im Leben und auf der Bühne als Mann aufzutreten, reflektierte die Enge der Geschlechterrollen im georgianischen England ebenso wie den Freiraum, den man am Rande dieser Gesellschaft zumindest einer Schauspielerin zubilligte. Shakespeares Zeiten der boy actors waren lange vorüber, und Frauen in Männerrollen waren an sich nichts Ungewöhnliches. Die Praxis der travesti war in England bereits seit der Zeit der Stuart-Restauration in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts weit verbreitet, und Schätzungen zufolge enthielten von den 375 Stücken, die in London zwischen 1660 und 1700 produziert wurden, beinahe ein Viertel eine oder mehrere Hosenrollen11. Dies sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, das weibliche Hamletdarstellerinnen von Anfang an eine Transgression darstellten, deren ‘halbseidene’ Legitimität mit wenigen Ausnahmen nur im Rahmen einer Subkultur bestehen durfte. Shakespeares Stücke waren von ihrer Entstehungszeit bis etwa zur Mitte des 19. Jahrhunderts keineswegs der Hochkultur vorbehalten. Auch Hamlet wurde, in vielerlei Bearbeitungen, auf den Unterhaltungsbühnen New Yorks, des Londoner East Ends und des Pariser Montmartre einem Publikum präsentiert, das sich vorwiegend aus Arbeitern, Kleinbürgern und „Vergnügungssüchtigen” zusammensetzte. Die weiblichen Hamlets konnten vor allem in diesem Kontext des Burlesken und des Kuriositätenkabinetts toleriert und gefeiert werden — umso mehr, als die Hosenrolle, mit der sich im England der StuartZeit immerhin noch beide Geschlechter identifizieren konnten, zunehmend in erster Linie männlicher Gratifikation diente. So folgten in Charlotte Charkes Fußstapfen Sarah Siddons (1755-1831), Jane Powell (1761-1831) und viele weitere in England, Mme Judith (Julie Bernat, 1827-1912) in Frankreich und Felicita von Vestfali (Anne Marie Staegemann,1829-80) in Deutschland. Im offiziellen Diskurs vor allem der viktorianischen Bühnenhistoriker fand sich für diese Künstlerinnen dagegen meist allerhöchstens „Ekel” oder eine quasi-medizinische Pathologisierung zum Freak. Travesti war hochwillkommen, solange sie im Verborgenen männliche Erwartungen erfüllte — krankhaft, sobald sie sie öffentlich in Frage stellte. Mit dem allmählichen Wandel der Geschlechterrollen im 19. Jahrhundert sollte sich allerdings auch die Stellung der weiblichen Hamlets ändern. Im Jahre 1867 spielte Felicita von Vestfali Hosenrollen in London, Mme Judith gab ihren Hamlet in Paris, und im englischen Parlament hielt John Stuart Mill eine Rede, die, in den Worten Simone de Beauvoirs, „zum ersten Mal in der Geschichte offiziell das Wahlrecht für Frauen forderte.”12 Drei Jahre zuvor, zum Anlass des dreihundertjährigen Jubiläums von Shakespeares Geburt, feierte Alice Marriott als Hamlet einen richtungsweisenden Erfolg mit ihrer 10 Lee Lewes, zitiert nach Howard, Tony (2007): Women as Hamlet. Performance and Interpretation in Theatre, Film and Fiction. Cambridge: CUP, p. 38 11 Howe, Elizabeth (1992): The First English Actresses: Women and Drama 1660-1700. Cambridge: CUP 12 de Beauvoir, Simone (1983): The Second Sex. Harmondsworth: Penguin. Zitiert nach Howard, Tony (2007), p. 86 Hamlet - Begleitmaterial - AL 17 Hessisches Landestheater Marburg „positivistisch-rekonstruktiven”, pseudo-mittelalterlichen Inszenierung am Londoner Sadlers Wells Theater. Wichtig war Marriotts Arbeit vor allem, weil sich hier der Tradition der weiblichen Hamlets auf der Bühne demonstrativ ein künstlerischer und sogar wissenschaftlicher Anspruch zugesellte. Viele ihrer Zeitgenossinnen verfolgten ähnliche Ziele mit ähnlichem, oder gar noch größerem Erfolg. Sp spielte die Amerikanerin Charlotte Cushman (1816-76), eine der wichtigsten Schauspielerinnen des 19. Jahrhunderts und eine Schlüsselfigur im Prozess der nordamerikanischen Frauenemanzipation, nicht nur Hamlet, sondern auch Romeo, Kardinal Wolsey und über fünfundzwanzig weitere Männerrollen zur allgemeinen Bewunderung der westlichen Welt. In einigen Äußerlichkeiten — dem öffentlichen Auftritt in Männerkleidern, den gelegentlichen Skandalen — erinnert uns Cushman an ihre Vorgängerin Charlotte Charke. Hundert Jahre später stand für die jüngere der beiden Charlottes am Ende ihrer Theaterkarriere aber nicht die abgrundtiefe Armut, sondern Reichtum, Ruhm und künstlerische Anerkennung. Sarah Bernhardt in einem Werbefoto für die Londoner Produktion von 1899. Wenn auch der Reiz des Verruchten noch bis in die Zeiten einer hosentragenden Marlene Dietrich nachklingen sollte, so war den „Frauen in Schwarz” (oder besser gesagt, in schwarzen Kniehosen) im Laufe des 19. Jahrhunderts doch zumindest der Ausbruch aus Sexshow und Kuriositätenkabinett gelungen. Es ist nicht von ungefähr, dass viele der Hamletdarstellerinnen dieser Zeit enge Beziehungen zur Suffragettenbewegung pflegten und sich, wie etwa Fanny Kemble, entweder aktiv für Frauen- und Gleichberechtigungsorganisationen einsetzen oder, wie zum Beispiel Charlotte Cushman, daneben selbst zum Idol und Modellbild befreiter Frauen wurden. „Über drei Jahrhunderte,“ schreibt Simone de Beauvoir, waren Hamlet - Begleitmaterial - AL 18 Hessisches Landestheater Marburg Schauspielerinnen „die einzigen Frauen, denen es gelang, sich eine konkrete Unabhängigkeit im Zentrum der Gesellschaft zu bewahren.”13 Das mag sein. Zugleich zeigt uns aber gerade die Geschichte der weiblichen Hamletdarstellerinnen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts die engen Grenzen dieser Unabhängigkeit auf. Hamlet ist das Drama der Individuation und der Überschreitung, der Verletzung und Re-etablierung von Ordnungen. Spürt man den Schicksalen der frühen weiblichen Hamletdarstellerinnen nach, so zeigt sich, dass in ihren Händen das Stück darüber hinaus beinahe ausnahmslos zum Drama einzelner, in erster Linie persönlicher Befreiungen wurde. Viele bezahlten, wie Frauen in anderen Berufsfeldern auch, für diese Freiheit entweder mit gesellschaftlicher Ächtung oder manövrierten, später im 19. Jahrhundert, mit größter Vorsicht und Klugheit innerhalb der Grenzen des gerade noch Tolerierten. Hinter den geschickten Unterwanderungen männlich dominierter Strukturen, denen sich alle weiblichen Hamlets bedienen mussten, stand von Charke bis Cushman die Behauptung persönlicher Identität und der Kampf um persönliche Ausdrucksfreiheit. Die Schauspielprofession war für lange Zeit eines der wenigen Felder, in denen dieser Kampf überhaupt erst aufgenommen, wenn auch noch lange nicht immer gewonnen werden konnte. Die Situation der Schauspielerin kann somit als Metapher für die Stellung der Frau im 19. Jahrhundert verstanden werden: eine Ausnahme, an der sich die wachsende innere Widersprüchlichkeit des patriarchalischen Regelwerkes manifestierte. Die Tradition der frühen weiblichen Hamlets hat folglich eine unmittelbare sozialpolitische Bedeutung, zugleich aber auch aus heutiger Sicht eine nur noch eingeschränkte, in der Hauptsache historische Relevanz für die künstlerischen und im engeren Sinne theatralischen Dimensionen des Stückes. Alle weiblichen Hamlets dieser Linie stellten, mit wechselnden Graden an Androgynität, Männer in einer Männerwelt dar. Beinahe alle entsprachen in allem außer eben dem Geschlecht der Hauptdarstellerin den jeweils dominierenden Vorstellungen vom dänischen Prinzen. Von den frühen Wasserzeichnungen der Siddons im Hamletkostüm (1802) bis zu den Fotografien von Cushman und Marriott im späten 19. Jahrhundert: immer wieder sehen wir „Frauen in schwarz”, mal in Mäntel gehüllt, mal in kurzer Tunika, immer mit Dolch und Totenschädel, immer im historisierenden Gewand. Auch Sarah Bernhardts Hamlet, der im letzten Jahr des 19. Jahrhunderts den Höhepunkt und Abschluss dieser Tradition bildet, stellt in dieser Beziehung keine Ausnahme dar. Die Originalität der individuellen schauspielerischen Leistungen soll damit nicht geschmälert werden, im Gegenteil: im Rahmen der Theatertraditionen des 18. und 19. Jahrhunderts wurde das Verständnis und Bild der Hamletfigur von ihren weiblichen Interpreten maßgebend weiterentwickelt und mitbestimmt. Dennoch ließe sich behaupten, dass das Erbe dieser frühen Hamletdarstellerinnen vor allem in den gesellschaftlichen Freiräumen besteht, die sie mit herbeiführten, vorspielten und erkämpften. Nicht nur auf der Bühne, sondern vor allem in ihrer eigenen Welt mussten die frühen weiblichen Hamletdarstellerinnen Hamlet sein — also Regelbrecherinnen, kluge Unterwanderinnen und Rebellinnen. Sobald der Ausbruch aus der Sphäre des Anrüchigen gelungen war, ließ sich von Kritikern und Zuschauern ein weiblicher Hamlet nicht mehr als bloße Kuriosität deklarieren; dafür waren die Züge der Figur stets zu intelligent, ihre Monologe stets zu direkte Einladungen zur Identifikation. Eine Frau, die nicht nur aussah wie ein Mann, sondern augenscheinlich auch denken und schließlich handeln konnte wie ein Mann — gerade hieran entzündete sich bis in das 20. Jahrhundert hinein immer wieder lautstarker Protest. Noch in den Jahren 1911 bis 1916 bezweifelte der amerikanische Rezensent William Winter die Fähigkeit von Frauen, „präzise zu denken” oder gar auf idealistische Weise zu lieben, und konstatierte daher, dass „der weibliche Hamlet notwendigerweise immer hybrides Zwitterwesen oder armselige Frivolität bleiben”14 müsse. Cushmans Biograph W T Price brachte bereits 1894 den Nagel für viele auf den Punkt: wenn eine Frau Hamlet spielen wollen, könne dem allerhöchstens „Exzentrizität und Sensationslust”15 zu Grunde liegen. Damit war der Fall für Price erledigt; falscher allerdings hätte er kaum liegen können. Weder Exzentrizität noch Sensationslust, sondern vielmehr eine gesteigerte Aufmerksamkeit für die künstlerischen Implikationen weiblicher Hamletdarstellung sollte in den folgenden hundert Jahren das Geschehen bestimmen. Mit der Ablösung des actor-manager Theaters und der Aufwertung der Rollen von Regisseur und Bühnenbildner, wie sie sich mit Edward Gordon-Craig, Alphonse 13 de Beauvoir, Simone (1983), pp 711-712 14 Winter, William (1911-16): Shakespeare on Stage. New York: Blom, pp. 427-37 15 Price, W T (1894): A Life of Charlotte Cushman. New York: Brentano’s, p. 141 Hamlet - Begleitmaterial - AL 19 Hessisches Landestheater Marburg Appia, Max Reinhardt und anderen zu Beginn des 20. Jahrhunderts ankündigte, sollte auch die Geschichte der weiblichen Hamlets unter neue Vorzeichen treten. Hamlet - Begleitmaterial - AL 20 Hessisches Landestheater Marburg Literaturhinweise Kapitel 2 Lacan, Jacques (1986): Hamlet. Vorträge I-IV. In: Wo Es War 2, Wien: Hora-Verlag, S. 3-60 Lacan, Jacques (1987): Hamlet. Vorträge V-VIII. In: Wo Es War 3-4, Wien: Hora-Verlag, S. 5-45 (ASIN: B002Y52MKK) Lacan, Jacques: Seminar VI, 4.3.1959 und 22.4.1959 Braun, Christoph (2007): Die Stellung des Subjekts: Lacans Psychoanalyse. Berlin: Parodos, S. 164-181 Fink, Bruce (1996): Reading Hamlet with Lacan. In: Lacan, Politics, Aesthetics, eds. Richard Feldstein and Willy Apollon. Albany: Suny Press, S. 181ff. Zizek, Slavoj (2001): Hamlet vor Ödipus. Die Postmoderne als Mythos der Moderne. In: texte, 2/2001, 21. Jahrg., Wien: Passagen, S. 106-108 Hamlet - Begleitmaterial - AL 21