Zeitschrift des Verbandes der Studierenden aus Kurdistan e.V.

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Zeitschrift des Verbandes der Studierenden aus Kurdistan e.V.
Hejmar / Nummer: 43
Adar / März 2016
Zeitschrift des Verbandes der Studierenden aus Kurdistan e.V.
Kovara Yekîtiya Xwendekarên Kurdistan (YXK)
INHALT
Editorial
Politik und Gesellschaft
5
17. Jahrestag des Internationalen
Komplotts gegen die kurdische
Freiheitsbewegung
» » JXK - Studierende Frauen aus Kurdistan
11 Villayet-e Faqih - die Realität der
Kurd_innen in Ostkurdistan
» » PJAK-Jugend
32 Kapitalistische Moderne
» » YXK Berlin
35 Demokratischer Konföderalismus
» » YXK Bochum
36 Falsche Annäherungen an die
Demokratische Autonomie
» » Die Abdullah-Öcalan-Akademie der Sozialwissenschaften
Frauenbefreiung
13 Von den Jungtürken bis Erdogan: eine
Reise in die dunkle Geschichte der Türkei
» » YXK Marburg
44 Erklärung der JXK–Jinên Xwendekar
ên Kurdistan
» » JXK (Studierende Frauen aus Kurdistan)
17 Geopfert für die Interessen der eigenen
Machterhaltung – PDK/KDP im Fokus
des Verrats
» » Yilmaz Pêşkevin Kaba
47 Bijî 8‘ê adarê! - Erklärung der JXK zum 8. März
» » JXK (Studierende Frauen aus Kurdistan)
21 Kritik des Modells Südkurdistan Herrschaft zweier Clans statt Demokratie
» » YXK Berlin
25 Kurd_innen in Deutschland – zwischen
zwei Dimensionen der Unterdrückung
» » YXK Marburg
49 Liebe und Frau
» » Abdullah Öcalan
54 Sara, Rojbîn, Ronahî...
» » YXK Marburg
57 Die Rolle der Frau in Rojava
» » Pelin (YXK Bochum)
59Jîneolojî
» » Dastan (YXK Stuttgart)
Ideologie
28 Über die Bedeutung von Selbstverwaltung
und Selbstverteidigung
» » JXK MARBURG
61Männlichkeit
» » Ein Genosse in der YXK Berlin
HOCHSCHULGRUPPEN
REGION NORD
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II
REGION NRW
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REGION SÜD
darmstadt@yxkonline.de
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nuernberg@yxkonline.de
stuttgart@yxkonline.de
JXK (ehem. YXK JIN)
jin@yxkonline.de
www.yxkonline.de/yxk-jin
64 Das Symbol der kurdischen Frau:
Şehîd Zîlan
» » Şilan (YXK Marburg)
82 Die diplomatische Dimension des
demokratischen Konföderalismus
» » Abdullah-Öcalan-Akademie der Sozialwissenschaften
67 „black lesbian feminist mother poet
warrior“
» » Helin (JXK Marburg)
Kultur, Religion und Sprache
Jugend und Internationalismus
69 An alle Jugendlichen, deren Herzen im
Takt der Freiheit schlagen
» » Abdullah Öcalan (Imrali Insel, April 2015)
72 Internationalist_innen in Rojava rufen die
Jugend auf, sich dem Widerstand in Bakûr
anzuschließen
» » ANF/ISKU (14.01.2015)
75 Europa und Freiheit
» » Rûken Sterk
90 Die Êzîden und das Êzîdentum
» » YXK Bielefeld & Yilmaz Pêşkevin Kaba
98 A REQÛÎM FOR THE DEAD GAZELLES
» » Erivan Mus
100TEMMUZUN ÇOCUKLARI
» » Hüseyin Aslan
101Dersa Pênca
» » Loqman Turgut
108Buchvorstellungen
77 Das Kommando der YDG-H Cizîra Botan
hat die YPS ausgerufen
» » YPS-Botan
79 Aufruf an die Jugendorganisationen in
Europa!
» » DTK Jugend
KOMMISSIONEN
[Ständige Kommissionen]
huseyin-celebi@yxkonline.de
ronahi@yxkonline.de
newroz@yxkonline.de
finanzen@yxkonline.de
WEBSITE
80 Abschlussresolution des 1. Dem-Genç
Kongres
» » Dem-Genç
IMPRESSUM
Verband der Studierenden
aus Kurdistan e.V.
tinyurl.com/
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c/o ISKU
Spaldingstraße 130, 20097 Hamburg
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EDITORIAL
Liebe Leser_innen, liebe Genoss_innen,
die 43. Ausgabe der Ronahî-Verbandszeitschrift der JXK und YXK erscheint zu
einem Zeitpunkt des extrem zugespitzten Krieges in Kurdistan. Die derzeitige
Phase mit ihren wichtigen Entwicklungen wird das Schicksal der kurdischen Bewegung sowohl in Kurdistan als auch hier vor Ort in großem Maße bestimmen.
Gerade in der jetzigen Situation müssen die internationale Solidarität und die
Rolle der Jugend und Frauen überall in den Vordergrund treten.
Es liegt an uns, auf den Krieg gegen die Kurd_innen, das PKK-Verbot, die zunehmenden Repressionen und die Totalisolation von Abdullah Öcalan, die nun
seit einem Jahr andauert, angemessen zu reagieren und zu antworten. Die Jugend und die Frauen in Kurdistan haben sich für den Weg der Selbstverteidigung
und Selbstverwaltung entschieden. Überall rufen sie zum aktiven Widerstand
gegen das kapitalistische, nationalistisch-etatistische und patriarchale System
auf. Dementsprechend liegen diese Themen im Zentrum dieser Ausgabe. Das
Verständnis für die Ideologie der kurdischen Freiheitsbewegung muss stärker
werden. Die häufigen Missverständnisse über die Konzepte von Selbstverwaltung, demokratischer Autonomie und Frauenbefreiung stehen dem gemeinsamen
Kampf im Weg und führen zur ständigen Entfremdung von der kurdischen Realität.
Die Frage danach, was Selbstverteidigung und Selbstverwaltung bedeuten, wie
wir sie in unserem praktischen Leben anwenden und die revolutionäre Bewegung
in Kurdistan verstehen und unterstützen müssen, steht momentan auch im Fokus
der Neustrukturierung, in welcher sich die JXK und die YXK aktuell befinden.
In unseren bevorstehenden Kongressen sollen neue Perspektiven entwickelt werden, die sowohl der Realität in Kurdistan als auch unser Realität als kurdische
Jugend in Europa gerecht werden.
Das kurdische Neujahrs- und Frühlingsfest Newroz steht in diesem Monat bevor.
Dieses Fest, das in mehreren Kulturen gefeiert wird, stellt für uns Kurd_innen
ein besonderes Symbol für den Widerstand dar. Diesen Widerstandsgeist müssen
wir wieder aufleben lassen - der Frühling muss wieder Frühling werden. Machen
wir diesen Frühling gemeinsam zu einer revolutionären Phase, indem wir einen
verstärkten Kampf gegen den Faschismus führen. Ohne diesen Widerstand können wir den kalten Winter nicht überwinden. Berxwedan jîyan e!
Mit solidarischen Grüßen,
eure Ronahî-Redaktion
»» Internationaler Komplott gegen Öcalan
RONAHÎ #43
17. Jahrestag des Internationalen Komplotts gegen Abdullah Öcalan 17. Jahrestag des Internationalen Komplotts gegen die
kurdische Freiheitsbewegung
» » JXK - Studierende Frauen aus Kurdistan
Die Kurdische Frage ist eines der gravierendsten gesellschaftlichen Probleme des Nahen und Mittleren Ostens. Sie hält die Gesellschaften Syriens, Iraks, Irans und vor allem der Türkei über die Grenzen der bestehenden Nationalstaaten hinweg in Atem. Die kurdische Identität ist nach wie vor nicht akzeptiert, sodass
Kurd_innen ihre kulturellen und politischen Rechte vorenthalten werden. In der Vergangenheit wurde die
kurdische Identität vollständig verleugnet und verboten.
Dagegen richtet sich seit langem Widerstand, unter
anderem der der 1978 gegründeten Arbeiterpartei
Kurdistans (PKK), deren Mitbegründer und damals
wie heute führender Theoretiker und Praktiker Abdullah Öcalan ist. Die PKK wandte sich gegen die
Verleugnung und Unterdrückung der Kurd_innen;
zunächst durch die sozialwissenschaftliche Erforschung, Organisierung und Aufklärung der Bevölkerung Kurdistans, nach dem Militärputsch in der
Türkei von 1980, der jegliche zivile Opposition
unmöglich machte, aber auch mittels des Guerillakampfes. Der bewaffnete Konflikt zwischen der
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RONAHÎ #43
»» Internationaler Komplott gegen Öcalan
Freiheitsbewegung, die sich rasch um die PKK bildete und dem türkischen Staat, kostete über 45.000
Menschenleben, etwa 4.500 Dörfer und Siedlungen
wurden zerstört, Millionen wurden zu Flüchtlingen.
Seit den frühen 90er Jahren sucht die PKK den Dialog mit den Staat, um eine friedliche Lösung des
Konflikts herbeizuführen. Die mehrfachen Versuche
sich einander anzunähern – wie einseitige Waffenstillstände – gingen zumeist auf die Initiative Abdullah Öcalans zurück, der sich innerhalb der kurdischen
Freiheitsbewegung, aber auch gegenüber allen Konfliktparteien immer wieder für eine friedliche Lösung
der kurdischen Frage stark machte. In diesem Sinne verließ er 1998 Syrien, dem die Türkei mit Krieg
drohte, würde es weiterhin Abdullah Öcalan auf dem
eigenen Staatsterritorium dulden, Richtung Europa,
um hier den Weg für einen Frieden in Kurdistan zu
ebnen. Die historische Entwicklung des Internationalen Komplots gegen Abdullah Öcalan trägt sich wie
folgt zu:
zu führen. Die Odyssee ging weiter. Am 2. Februar
1999 landete Rêber Apo in Nairobi, Kenia. Er wurde
in der dortigen griechischen Botschaft untergebracht.
Der15. Februar 1999 ist der Tag, der Verschleppung
des Parteivorsitzenden im Rahmen einer Geheimdienstoperation, an der die CIA und Mossad maßgeblich beteiligt waren. Sie lieferten ihn an die Türkei
aus. Bereits einen Tag später wurde er auf die Gefängnisinsel Imrali gebracht. Die Häftlinge, die sich
zu dieser Zeit noch auf Imrali befanden, wurden in
andere Gefängnisse verlegt. Abdullah Öcalan war bis
2009 der einzige Inhaftierte auf dieser Insel und befindet sich seit April 2015 in Totalisolation.
Seit Rêber Apos Verschleppung und Inhaftierung
spiegelte sich in seiner Behandlung stets die Haltung des türkischen Staates zur kurdischen Frage im
Allgemeinen wieder. Jeder Eskalation des Konflikts
ging eine Verschärfung von Abdullah Öcalans Haftbedingungen vorraus. Seine Behandlung ist daher ein
präziser Gradmesser für die Haltung des türkischen
Der Druck Syriens auf die PKK stieg zunehmend an. Staates gegenüber den Kurd_innen. Im Folgenden
Am 9. Oktober 1998 ist Abdullah Öcalan gezwun- soll auf die Rolle der Beteiligten am internationalen
gen, aufgrund eines internationales Bündnis – in das Komplott eingegangen werden.
u.a. auch Europa involviert war, Syrien und den Li- Israel sah die Türkei als einen willkommen Alliierbanon zu verlassen. Dieser Tag markiert den Beginn ten. Ein großes Land mit einer großen Armee, weldes internationalen Komplotts gegen Rêber Apo so- ches an das von der israelischen Regierung verhasste
wie die kurdische Freiheitsbewegung und deren Be- Syrien grenzt. Zu Israels Freude gab es territoriale
strebungen nach Frieden. Streitigkeiten zwischen der Türkei und Syrien über
Am 12. November 1998erreichte Abdullah Öcalan ursprünglich syrisches Gebiet, das während der franItalien und beantragte Asyl. Es wurde versucht, eine zösischen Mandatszeit an die Türkei übergeben wurfriedliche und demokratische Lösung für den Kon- de. Diese Gebiete beinhalten u.a. Antiochia (heute
flikt mit Beteiligung Europas zu finden. Zehntau- Antakya) und den strategisch wichtigen Hafen von
sende Kurd_innen aus Europa machten sich auf den Mersin. Nachdem die Türkei und Israel einen Vertrag
Weg nach Rom, um ihre Solidarität mitRêber Apo zu zur militärischen Zusammenarbeit unterzeichneten,
bekunden. Im selben Monat begannen die Türkei schickte die Türkei im Sommer 1998 ihre Truppen
und die USA enormen Druck auf die italienische Re- an die syrische Grenze und drohte mit einer Invasigierung auszuüben. Damit sollte verhindert werden, on, sollten sie Abdullah Öcalan nicht ausliefern oder
dass Asyl gewährt wird. Nach etlichen Gesprächen vertreiben. Berater der Mossad halfen türkischen
und Verhandlungen zwischen Abdullah Öcalan und Geheimdiensten, seine Spur zu verfolgen. Sie inforder italienischen Regierung verlässt dieser am 16. mierten auch die italienische Regierung über seine
Januar 1999 Italien und trifft kurze Zeit später in bevorstehende Ankunft in Rom. Italien fürchtete die
Moskau ein. Trotz anerkanntem Asyl war es ihm drohenden Repressionen seitens der Türkei, aber genicht möglich in Russland zu bleiben, da die USA nauso die Rache des kurdischen Volkes, sollten sie
bereits Druck auf die russische Regierung ausübte. Abdullah Öcalan ausliefern. Sie entschieden sich
So reiste Rêber Apo letztendlich nach Griechenland also dazu, ihm kein Asyl zu gewähren und zu deporum Gespräche mit dem Ministerpräsidenten Simitis, tieren, statt ihn auszuliefern um beide Seiten zu bedem Außen- und Innenminister Pangalos u. Populu- schwichtigen. Was sich während des Aufenthalts des
polas und dem Chef des Geheimdienstes Savrakakis Vorsitzenden in Nairobi zutrug, hielt der griechische
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»» Internationaler Komplott gegen Öcalan
Botschafter Jorgos Kostoulas in einem Tagebuch fest,
das jetzt als dienstlicher Bericht über die Vorgänge
dem Außenministerium vorliegt. Die Athener Zeitung TaNea veröffentlichte die als „streng geheim“
klassifizierte Chronik. Wie das Blatt an den Text
kam, ist unklar. Seine Authentizität wird jedoch vom
griechischen Außenministerium nicht bestritten. Ein
wenig vorteilhaftes Licht wirft der Bericht vor allem
auf den zurückgetretenen Außenminister Theodoros
Pangalos und dessen Bürochef Vassilis Papajoannou.
Aber auch Ministerpräsident Kostas Simitis standen
neue innenpolitische Stürme bevor.
RONAHÎ #43
hätten wir Abdullah Öcalan nie festnehmen können“,
berichtete der frühere türkische Ministerpräsident
Bülent Ecevit. Am 4. Februar 1999 besuchte der Repräsentant der CIA den damaligen Geheimdienstchef
Atasagun und schlug vor, gemeinsam mitdem MIT
zu arbeiten. Bedingung dafür sollte sein, dass Abdullah Öcalan lebend in die Türkei gebracht und ihm
ein fairer Prozess gemacht wird. Ausgangspunkt der
Operation war die Stadt Antalya: Dort spielte ein sieben köpfiges Team türkischer Nahkampfspezialisten
unter CIA-Anleitung Szenarien für die Entführung
Rêber Apos aus Nairobi durch. Am 10. Februar flog
Die Aufzeichnungen des Botschafters belegen: Au- der von einem türkischen Industriellen gecharterte
ßenministerium und Geheimdienst behandelten den Business-Jet in Richtung Kenia ab, fünf Tage später
Fall Abdullah Öcalan mit unbegreiflicher politischer wurde Abdullah Öcalan verschleppt.
Fahrlässigkeit und diplomatischem Dilettantismus. Der Kovorsitzende des KCK-Exekutivrats Cemil
Politisch brisant vor allem: Die damalige von der Bayık antwortete auf die Frage, was all diese Länder
Athener Regierung gegebene Darstellung, Rêber zusammengebracht habe, am 16. Jahrestag des interApo habe entgegen dem Rat der Griechen die Re- nationalen Komplotts wie folgt:„Ich möchte betonen,
sidenz verlassen, sich den kenianischen Behörden dass weder der Vorsitzende noch unsere Gesellschaft
anvertraut und sei deshalb in die Hände türkischer Feindseligkeit gegenüber den Gesellschaften von
Agenten gefallen, trifft offenbar nicht zu. Botschaf- Europa, Russland, Griechenland und Amerika hegen.
ter Kostoulas berichtet, sowohl das Ministerbüro als Das Problem sind die Staaten selbst, die für ökonomiauch der griechische Geheimdienst hätten ihn tage- schen und politischen Nutzen keinerlei menschliche,
lang massiv bedrängt, Abdullah Öcalan loszuwer- moralische oder internationale Werte kennen. Der
den, egal wie und sei es „mit Gewalt“. Der Bürochef Vorsitzende repräsentiert eine Lebensphilosophie, die
des Außenministers habe sogar telefonisch Weisung Demokratie und Freiheit als Zukunft der Menschheit.
gegeben, den Vorsitzenden notfalls zu betäuben, in Deshalb ist es gerechtfertigt zu sagen, dass alle am
einem Bettlaken aus der Residenz zu schaffen und Komplott beteiligten Kräfte wahre Feinde von Devor irgendeinem Hotel auf die Straße zu setzen. Am mokratie und Freiheit sind. Diese Besonderheit ist es,
15. Februar stellen die Kenianer dem griechischen die sie zusammengebracht hat. Der Vorsitzende wurBotschafter ein Ultimatum: Abdullah Öcalans An- de ohne jegliche Wahrung von Recht, Gesetz oder
wesenheit sei bekannt, er müsse bis zum Nachmit- menschlichen und moralischen Werten auf die Insel
tag desgleichen Tags das Land verlassen. Man sei Imralı gesperrt; seinen eigenen Worten nach wurde
bereit, ihm ein Flugzeug für die Reise in ein Land er gekreuzigt. Eigentlich wurde in der Person von
seiner Wahl zur Verfügung zu stellen. Bleibe Abdul- Rêber Apo die gesamte Menschlichkeit, allen voran
lah Öcalan, wisse man nicht, was in der nächsten die kurdische Gesellschaft und unsere Bewegung geNacht passieren könne, drohen die Kenianer. Bot- kreuzigt. Das ist eine große Skrupellosigkeit.“
schafter Kostoulas eröffnet Abdullah Öcalan, dass er
ausgeflogen werden soll. Nach langem hin und her Diese Tatsachen lassen sich nur verstehen, wenn
die Umstände des Kurdistan-Konflikts Berückwilligt er schließlich ein, sich von den Kenianern sichtigung finden:
nach Amsterdam ausfliegen zu lassen. Dort hofft
er Asyl zu finden. Was Botschafter Kostoulas nicht Der Mittlere Osten erlebt gerade einen 3. Weltkrieg,
weiß: Während die Beamten des kenianischen Au- der sich von den klassischen Definitionsgedanken eißenministeriums Abdullah Öcalan den Flug „in ein nes Weltkrieges unterscheidet. Land seiner Wahl“ versprechen, steht das Reiseziel Des Öfteren ist der Mittlere Osten Spielbrett der westlängst fest. Bei der Suche nach Abdullah Öcalan hat lichen Staaten und ihrer Profitgedanken. Die Regime
die CIA eine wichtige Rolle gespielt. „Ohne die USA welche die kapitalistischen Systeme im Mittleren
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RONAHÎ #43
»» Internationaler Komplott gegen Öcalan
Osten installiert haben, reproduzieren die Probleme
oder produzieren neue Probleme anstatt sie zu lösen.
Die Probleme der Region reichen bis in die Antike
zurück und sind nicht so leicht zu erfassen. Auch die
Probleme im Islam zu suchen ist eine sehr oberflächlige und falsche herangehensweise. Dem kapitalistischen System ist es zwar gelungen sich bis in alle
Kontinente und alle Kulturen auszubreiten, doch den
Mittleren Osten konnte es, trotz mehrere Versuchen
seit dem 19. Jahrhundert, nicht vereinnahmen. Um
die Probleme des Mittleren Ostens zu lösen braucht
es keine künstlichen Nationalstaaten, sondern eine
tiefgehende Analyse. Diese Analysen machte Rêber
Apo schon vor seiner Verschleppung und stellte somit eine Gefahr für die kapitalistische Moderen dar.
Zu Zeiten des Komplotts gab es bedeutende Umbrüche im Mittleren Osten. Rêber Apo und die Freiheitsbewegung beeinflussten die vier Teile Kurdistans
maßgeblich. Das Ziel, ihm den Einfluss zu nehmen
und von der kurdischen Bevölkerung zu entfremden, ist fehlgeschlagen. Die kurdische Gesellschaft
hat sich um Abdullah Öcalan zusammengeschlossen und mit der Freiheitsbewegung vereint. Der internationale Komplott stellt somit eine Intervention
in den mittleren Osten dar und ist der erste Schritt
des 3. Weltkrieges. Nach der Verschleppung folgten
militärische Interventionen im Irak und Afghanistan
und die Intervention des gemäßigten Islams durch
Fethullah Gülen und der AKP, bis hin zum „arabischen Frühling“ und der desolaten Situation heute in
Syrien mit dem fanatisch- dogmatischen Faschismus
den der IS darstellt. Dieses Komplott richtet sich also
nicht gegen eine Person, oder alleine der kurdischen
Gesellschaft, sondern gegen die demokratische Vision des Mittleren Ostens. Am Beispiel Rojava können
wir sehr deutlich erkennen, dass der Demokratische
Konföderalismus und die Demokratische Nation die
einzige Lösung für den Mittleren Osten ist. In Rojava
haben die Kurd_innen, nicht nur heroisch gegen den
IS gekämpft, sondern auch gezeigt, dass ein basisdemokratisches Modell funktionsfähig ist. Denn keine Nation kann die verschiedenen Kulturen, Ethnien
und Minderheiten, die in dieser Region leben, vereinen und befreien.
das auf Deutsch übersetzte Buch „Jenseits von Staat,
Macht und Gewalt“. Der Demokratische Konföderalismus beschreibt eine nicht-staatliche Selbstverwaltung der Zivilgesellschaft und beruht auf
Kommunen, Räten und Kommissionen in denen die
verschiedenen Bereiche der Gesellschaft, vor allem
die Jugendlichen und Frauen, sich autonom organisieren. Angelehnt an Abdullah Öcalans Ideen wurde
die Union der Gemeinschaften Kurdistans gegründet
die seit 2004 vor allem in Nordkurdistan (Südosttürkei) eine Basis-Organisierung vorantreibt. Rêber
Apo wurde durch mehrere Kongresse, in denen die
von der Basis gewählten Vertreter_innen der KCK
abstimmten, zum Vorsitzenden der Union der Gemeinschaften Kurdistans(KCK) gewählt.
Auch die Entwicklungen in Rojava und die aktuellen Entwicklungen in Bakûr (Osten und Südosten der
Türkei) stehen damit im Zusammenhang. Abdullah
Öcalan hatte vor seiner Gefangennahme in Syrien
gelebt und dort in der Basis eine jahrelange Aufklärungsarbeit betrieben. Die demokratischen Strukturen in Rojava und die Verteidigung um Selbstverwaltung in Städten wie Cizîr, Sûr, Silopî, Silvan etc.
seitens der Volksverteidigungseinheiten YPS und
YPS Jin orientieren sich ebenfalls am Gesellschaftsmodell der kurdischen Freiheitsbewegung.
Die kurdische Freiheitsbewegung, allen voran die
PKK, hat immer wieder betont, dass Abdullah
Öcalan für sie eine zentrale Rolle einnimmt. Auf theoretischer und praktischer Ebene hat er wichtige politische Fortschritte initiiert und ihnen oft genug den
nötigen Nachdruck verliehen: die Geschlechterfrage
in den Vordergrund des Engagements zu stellen, einseitige Waffenruhen auszurufen und Friedens-Delegationen zu entsenden, die eigenen Positionen und
Fehler selbstkritisch zu hinterfragen, auf die andere
Konfliktpartei zuzugehen etc. Diese Rolle wird von
der kurdischen Seite stets betont und wurde vom türkischen Staat faktisch anerkannt. Abdullah Öcalan
legte 2009 die „Roadmap zu Verhandlungen“ vor,
auf deren Grundlage eine Reihe von Gesprächen
zwischen Vertreter_innen der PKK und dem MIT in
Oslo sowie Abdullah Öcalan und dem MIT auf İmralı
stattfand. Somit wurde er auch von der AKP-RegieNach seiner Gefangennahme schrieb Abdullah rung – wie von den Vorgängerregierungen auch – als
Öcalan mehrere Verteidigungsschriften in denen Gesprächspartner akzeptiert und in den Austausch
er Ideen für eine Demokratische-Ökologische Ge- zwischen den Konfliktparteien einbezogen. Dieser
schlechterbefreite Gesellschaft formulierte - darunter „Oslo-İmralı-Prozess“ wurde geheim geführt und
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»» Internationaler Komplott gegen Öcalan
RONAHÎ #43
im Sommer 2011, nach den Parlamentswahlen in der
Türkei vom Staat abgebrochen. Es folgte eine Totalisolation gegen Abdullah Öcalan, die ab Juli 2011
anderthalb Jahre andauern sollte. Wie die Erfahrung
bereits mehrmals gezeigt hat, nimmt Gewalt den
Platz von Dialog ein, wenn dieser abgebrochen wird,
aber eigentlich notwendig wäre, um Konflikte zu lösen. Während des Jahres 2012 eskalierte die Gewalt
zwischen dem türkischen Militär und der Guerilla
der PKK wie seit den 90er Jahren nicht mehr – regierungsnahe Kreise sprachen von einer „tamilischen
Lösung“ der kurdischen Frage, womit sie die militärische Zerschlagung der Bewegung unter Inkaufnahme tausender ziviler Opfer und schwerster Menschenrechtsverletzungen meinten.
eigenen Bedingungen vom türkischen Staatsgebiet
an; dieser Rückzug ist Anfang September 2013 zwar
gestoppt worden, da die türkische Regierung seit
dem Frühjahr 2013 ihre militärische Infrastruktur in
Nordkurdistan massiv ausbaut, doch der Waffenstillstand wurde sowohl von der Guerilla als auch weitestgehend vom Militär eingehalten. Es kam in der
Friedens- Verhandlungsphase nur zu vereinzelten
Gefechten.
Die wohl wichtigste dieser Erklärungen war das zu
Newroz 2013 veröffentlichte „Manifest“, auch Newroz-Erklärung genannt. Diese richtete sich vor allem an die türkische Gesellschaft, denn in ihr rief
Öcalan alle Teile der Gesellschaften in der Türkei
dazu auf, aufeinander zuzugehen und ein gemeinsames und friedliches Leben nach demokratischen und
menschlichen Werten aufzubauen. Öcalan erklärte,
dass nunmehr die Zeit des bewaffneten Kampfs vorüber sei und dieser durch einen politischen Kampf
mit demokratischen Mitteln ersetzt werden würde.
Solange diese Repression fortbesteht, kann der Staat
nicht das Prädikat eines Rechtsstaats für sich in Anspruch nehmen, geschweige denn einen Prozess hin
zu Verhandlungen führen.
Als klar wurde, dass der Friedensprozess konkrete Ergebnisse erzeugte, veränderte Recep Tayyip
Erdoğan, im direkten Gegensatz zur Erklärung Abdullah Öcalans für eine friedliche Lösung der kurdischen Frage, seine Einstellung und bemühte sich
aktiv für die Beendigung der laufenden FriedensverDieser Versuch scheiterte. Die Guerilla ging stattdes- handlungen durch die Isolation des kurdischen Resen in eine Offensive über und zwang das Militär in präsentanten im Gefängnis. Seit dem 05. April 2015
manchen Regionen Nordkurdistans (Südosttürkei) keinerlei Kontakt zu seiner Familie und zu seinem
zurück in seine Kasernen. In Kurdistan, der Türkei Verhandlungsteam hat. Die türkische Regierung
und Europa protestierten Kurd_innen in massenhaf- entschied sich, eingehend mit der Isolation von Abten Aktionen des zivilen Ungehorsams. Im Herbst dullah Öcalan, eine Krieg gegen die kurdische Zivil2012 traten die politischen Gefangenen in den tür- bevölkerung zu führen, die über 300 Menschen das
kischen Gefängnissen – seit 2009 durch Massenver- Leben kostete. Die Ausgangssperren und die aggresfahren gegen zivile Strukturen bis zu 10.000 Perso- sive Kriegsführung und Stimmung halten bis heute
nen – in einen unbefristeten Hungerstreik. Eine ihrer an. zentralen Forderungen war, die Aufhebung der Tota- Abdullah Öcalan alle Rechte zustehen, die für Gefanlisolation gegen Rêber Apo sowie seine Freiheit, um gene – auch in türkischer Haft – selbstverständlich
Grundlagen für einen ernsthaften Friedensprozess zu sind. Dazu zähl vor allem das Recht auf juristische
schaffen. Der Druck auf die Regierung war so stark, Verteidigung. Seit Juli 2011 wurde Öcalans Anwäldass sie Ende 2012 erneut Gespräche mit Abdullah tInnen jeglicher Besuch bei ihrem Mandanten unterÖcalan suchte. Sie ließ ihn durch eine schriftliche Er- sagt, was einem eklatanten Verstoß jeglicher rechtsklärung öffentlich zu Wort kommen, woraufhin der staatlicher Standards gleichkommt. Hingegen laufen
Hungerstreik beendet wurde.
Gerichtsverfahren gegen Öcalans VerteidigerInnen.
Die Aufzählung solcher Selbstverständlichkeiten
kann mit dem Zugang zu Kommunikationsmitteln
fortgesetzt werden. Öcalan ist es als einzigem Gefangenen der Türkei nicht gestattet zu telefonieren. Zum
einen sollten auch andere Teile der Zivilgesellschaft
wie Journalist_innen, Aktivist_innen, Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens oder Freund_innen und
Als Antwort auf die Newroz-Erklärung rief die Uni- Familie Besuchsrecht auf İmralı erhalten, zum anon der Gesellschaften Kurdistans (KCK) einen dau- deren sollte der Austausch über Briefe, Telefon etc.
erhaften Waffenstillstand aus und kündigte einen Öcalan derart zur Verfügung stehen, dass er mit den
schrittweisen Rückzug der Guerilla-Einheiten nach verschiedenen Akteur_innen des Konflikts frei kom-9-
RONAHÎ #43
»» Internationaler Komplott gegen Öcalan
munizieren kann. In Gesprächen mit Politiker_innen der HDP betont Öcalan immer wieder, dass ihn
Delegationen öfters, als einmal im Monat, besuchen
müssten, um die Gespräche zu intensivieren und auszuweiten – gegebenenfalls täglich.
Sie sollten unter anderem mit einer Einstellung der
politischen, polizeilichen und juristischen Operationen gegen die kurdische Bewegung einhergehen und
zu belastbaren Ergebnissen führen wie der Einführung des Kurdischen als offiziell anerkannte Sprache
des öffentlichen Lebens und ähnlichen kulturellen
Rechten, dem Herabsetzen der undemokratischen
10%-Wahlhürde für das Parlament der Türkei und
der Anerkennung kommunaler Selbstverwaltung
oder der Freilassung der tausenden politischen Gefangenen, zu denen gegen Ende eines Lösungsprozesses auch Abdullah Öcalan gehören muss. Dass
vor allem seine Freilassung eine Hauptforderung von
Millionen von Menschen ist, zeigte der jährlich stattfindende Sternenmarsch nach Straßburg. Tausende
Menschen aus ganz Europa demonstrierten in Straßburger Innenstadt mit den der Forderung „Freiheit für
Öcalan und allen politischen Gefangenen in der Türkei!“. Seit über zwei Jahren findet auch in Straßburg
vor der europäischen Kommission eine Dauermahnwache statt.
dullah Öcalan und die PKK definiert und formuliert
haben.“ So drückte es Mahmut Sakar, Rechtsanwalt
Abdullah Öcalans auf der 8.EUTCC-Kurdistan-Konferenz aus. Das Beenden der Totalisolation bzw. die sofortige
Freilassung sind außerordentlich wichtig, weil sich
nach dem Zustand Rêber Apos erkundigt werden
muss. Seit April 2015 gibt es keinerlei unabhängige
Erklärung von der Insel Imrali. Seinem gesetzlichen
Vertreter, seiner Familie sowie seinen Anwält_innen
wird der Besuch verwehrt. Zudem hat die Geschichte gezeigt, dass dieser Konflikt nicht militärisch gelöst werden kann. Es muss ihm möglich sein, sich an
seine Berater zu wenden und zur Öffentlichkeit und
Presse zu sprechen. Frieden und Verhandlungsprozesse sind ohne ihn nicht möglich.
Alle demokratischen und friedensliebenden Kräfte
der Welt müssen sich vereinigen um den Verlauf dieses Krieges mit ungewissem Ausgang zuverändern.
Azadî ji bo Rêber Apo!
JXK - Studierende Frauen aus Kurdistan
Die Rolle Öcalans für das kurdische Volk ist von äußerster Bedeutung und Wichtigkeit, zumal er im Bezug auf die kurdische Frage direkter und indirekter
Verhandlungspartner ist. Er selbst hat den größten
Beitrag für eine friedliche Lösung der kurdischen
Frage samt den geistigen und philosophischen Dimensionen geleistet.
Die Beziehung zwischen Rêber Apo und dem Volk
geht über eine politische hinaus. „Das Problem der
kurdischen Frage hat eine 200-jährige Geschichte und
gesellschaftliche Ursachen. Es hat nicht mit Abdullah
Öcalan und der PKK begonnen. Aber bis zu Abdullah
Öcalan und der PKK waren auf dem Wege der Assimilation und Ausbeutung bedeutende Strecken zurückgelegt worden, die Verbindungen der kurdischen
Gesellschaft zur Geschichte der Aufstände waren
losgerissen worden, den Kurden waren die Identität
und ihre Geschichte genommen worden. Abdullah
Öcalan selbst war es, der von Neuem eine innovative
und moderne kurdische Identität prägte. Die Frage,
die wir heute die kurdische Frage nennen, ist also die
Frage nach Identität und Demokratisierung, die Ab- 10 -
»» Kurd_innen in Ostkurdistan
RONAHÎ #43
Villayet-e Faqih - die Realität der Kurd_innen in Ostkurdistan
» » PJAK-Jugend
Über die Wahl des “gemäßigten” Hassan Rouhani im Jahr 2013 zeigten sich internationale Medien
und Menschen mit vermeintlicher Kenntnis über iranische Politik begeistert. Was sie 40 Jahre nach der
Gründung der islamischen Republik noch immer
nicht anerkennen ist, dass die Entscheidung der iranischen Bevölkerung nicht zählt. Genauso wenig zählt
die Schein-Unterscheidung zwischen einem „Hardliner“ und einem „Gemäßigten“. Die Realität im Iran
seit 1979 ist das von Ayatollah Khomeini formulierte
und entwickelte Staatssystem des Villayet-e Faqih.
Obwohl ein Parlament, eine Regierung und ein Präsident existieren, bestimmen der Wächerrat und die
Ajatollah über alle wichtigen Angelegenheiten im
Iran. Beide sind in der Verfassung der islamischen
Republik institutionalisiert. Die Ajatollah und der
Wächterrat entscheiden direkt oder indirekt darüber, wer zu Wahlen antritt und welche Gesetze das
Parlament verabschieden kann. Vor allem kann der
Ajatollah in allen außenpolitischen Angelegenheiten
bestimmen und herrschen. Echte Opposition, die die
Grundsätze des Staates hinterfragt, wird unterdrückt,
entführt oder ermordet. Dies verwandelt jegliche
Hoffnung auf einen politischen Wandel in Richtung
eines „demokratischen“ Systems, was die Regierung
zu sein glaubt, zu einer enttäuschenden Illusion.
Atomabkommen aushandelte, stellte er keine Forderungen bezüglich der menschenrechtlichen Situation
im Iran. Die Angst der Opposition ist, dass das Atomabkommen die Existenz dieser Regierung noch eher
legitimieren wird, indem die Märkte dem Westen
geöffnet und dadurch die dortige Wirtschaft stärker
wird.
Die eigentlichen, oben genannten Herrscher über
den Iran dachten, dass es wohl an der Zeit wäre,
eine Vereinbarung mit dem Westen zu treffen, als die
Sanktionen die iranische Wirtschaft und damit die
Bevölkerung bedrohten. Westliche Unternehmen, die
seit Jahren von der Öffnung des iranischen Marktes
träumten, hatten schon seit einiger Zeit Einfluss genommen, damit das geschieht. Als der Westen das
dabei jedoch nur eine Diktatur durch eine andere.
Während der Revolution von 1979 gab es seitens ethnischer Gruppen im Iran Aufstände - allen voran von
den Kurd_innen. Die Kurd_innen wurden auf brutale
Weise zerschlagen, als der Staat Tausende Soldaten
gegen sie einsetzte, die schreckliche Gräueltaten begangen. In dieser Phase fanden „ethnischen Säuberungen“ in der Region Naghadeh statt. Im September
Der Osten Kurdistans (Rojhilat), der den zweitgrößten Teil Kurdistans darstellt, untersteht seit der Gründung der Islamischen Republik einer theokratischen
Regierung, die die Kurd_innen einer zweifachen
Unterdrückung aussetzt: einer Unterdrückung der
Kultur und Sprache auf der einen Seite und einer religiösen Unterdrückung auf der anderen. Die Mehrheit der Kurd_innen in Rojhilat sind sunnitisch. Die
Unterdrückung funktioniert nicht über das Verbot der
kurdischen Kultur oder Sprache, sondern über das
Darstellen des „Persischen“ (Kleidung, Sprache, Tradition, Musik) als das „Zivilisierte“ im Gegensatz zur
„unzivilisierten“, „rückständigen“ kurdischen Kultur
und Sprache. Kurdisch wird dargestellt als ein verfälschter Ausläufer des Persischen in den „wilden“,
ländlichen Regionen im Iran. Über das Schulsystem
wird versucht, eine Generation von Kurd_innen zu
kreieren, die sich für ihre Herkunft schämt. Bisher
waren sie damit nicht sehr erfolgreich, obwohl beDie iranische Bevölkerung wählte Rouhani nicht, stimmte Aspekte dieser Politik viele kurdische Juweil er „gemäßigt“ oder erwünscht war, sondern weil gendliche und ihre Selbstwahrnehmung in der einen
er unter den Bösen das kleinere Übel war. Die Anzahl oder anderen Weise beeinflussten.
von Morden an kurdischen und belutschischen Stu- Im Jahr 1979 erreichten die Menschen im Iran eine
dent_innen und Oppositionellen ist während seiner Revolution, von der sie soziale Gerechtigkeit und
Amtszeit angestiegen, was das wahre Wesen dieses Demokratie forderten. Die Theokraten versprachen,
Menschen offenlegt.
diesen Forderungen entgegen zu kommen, ersetzten
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RONAHÎ #43
»» Kurd_innen in Ostkurdistan
1979 wurden 46 Männer, Frauen und Kinder im Dorf
Garna in Naghadeh massakriert. Die Morde und Vertreibungen in dieser Region wurden von den Azeri
Nachbarn begangen und von den Revolutionsgarden
unterstützt. Auch in der Region Urmiye gab es einen
Zustrom an Azeris, die nun in der Stadt Urmiye die
Mehrheit ausmachen. Die Neuankömmlinge stellen
eine wirtschaftlich sehr starke Gruppe dar, welche
die Kurd_innen als untergeordnete Bürger_innen
betrachtet. Die Politik des iranischen Staates setzte das Fundament für eine Beziehung dieser beiden
ethnischen Gruppen, die auf Misstrauen, Feindseligkeit und Verachtung beruht. Die PJAK (Partei für ein
freies Leben in Kurdistan) setzt auf den Demokratischen Konföderalismus als eine Möglichkeit, diese
Widersprüche zu beseitigen. Die harte Realität eines
zukünftigen iranischen Bürgerkriegs ist jedoch, dass
sich die politische Führung der Azeri, die militärisch
von Azerbaidschan und der Türkei gestützt wird, gegen solche multikulturellen und toleranten Regionen
stellen würde.
Der Iran ist eine tickende Zeitbombe. Es gibt unzählige Gründe dafür, warum die Regierung früher oder
später durch aufsteigende Massen zerfallen wird, die
alle ihre eigenen Absichten und Ziele verfolgen. Sei
es die Armut, der Mangel an Gerechtigkeit, der religiöse Druck auf das alltägliche Leben im Iran, die
ethnische Unterdrückung von Minderheiten - und
nicht zu vergessen die ethnischen Spannungen, die
die Staatspolitik in dem Glauben verursacht hat, sie
könne davon profitieren. Während der Revolution
von 1979 gab es relativ wenige ethnische Zusammenstöße, doch zukünftige Veränderungen im Iran
werden noch viel mehr von ethnischen Kämpfen gezeichnet sein.
traditionell und geschichtlich gesehen kurdischen
Regionen für sich beanspruchen. Im Januar 2014
schlug Osman Ahmadi, ein kurdischer Abgeordneter
im Parlament, vor, durch die Teilung „West-Azerbaidschans“ eine kurdische Provinz zu gründen. Die
Azeris im Parlament wurden wütend und erklärten,
West-Azerbaidschan werde niemals geteilt. Dies
ähnelt sehr dem, was türkische Nationalist_innen
über die Türkei sagen. Kein Mitglied des Parlament
spricht jemals offen über separatistische Gedanken
im Iran, obwohl sie wissen, dass es zukünftig ethnische Konflikte geben wird. Sie wissen auch, dass
es eine Zeit geben wird, in der sie ihre eigene ethnische Gruppe organisieren müssen werden, um so viel
Land wie möglich für sich zu erobern. Die Teilung
von „Azerbaycan-e Gharbi“ wird solche Ansprüche
erschweren.
Die Rolle der PJAK, die Bewegung, die sich nach der
Kapitulation der KDP-Iran und der Komela erneut bewaffnete, ist folgende: Sie muss kontinuierlich Druck
auf den iranischen Staat ausüben, um Verhandlungen
zu erzwingen, Menschen darauf vorbereiten, was bevorsteht und den Menschen ein ehrliches Verständnis
für den Widerstand für ein freies Leben näher bringen. Die PJAK wird unter der neuen Generation von
Kurd_innen in Rojhilat stark unterstützt, da sie noch
einmal zeigt, dass die Kurd_innen aufstehen, sich
dem Feind stellen und stolz auf ihre Identität und
Herkunft sein können. Die Jugendlichen von Maku
im Norden bis nach Ilam im Süden studieren und
verstehen den Demokratischen Konföderalismus und
die Werte der Freiheit, Toleranz, Egalitarismus und
Ökologie, die daraus entspringen. Der morgige Tag
wird noch unbekannte Veränderungen im Iran bringen. Die kurdische Bevölkerung Rojhilats wird, wie
es in Rojava der Fall war, auf die Guerilla zählen,
um ihr Leben und ihr Land zu schützen, gegen eine
Macht, die vielleicht noch brutaler und zynischer
sein könnte als der „Islamische Staat“. Gleichwohl
muss jede_r Kurd_in bereit sein für den Tag, an dem
endlich der Widerstand von Rojhilat beginnt.
Während der Periode von Shah Reza, dem Vater des
letzten Shah, wurden die zwei historischen kurdischen Regionen Mukriyan und das nördliche, Kurmanci-sprachige Urmiye zu einer Region namens
„Azerbaycan-e Gharbi“ - „West-Azerbaidschan“ vereint. Zur selben Zeit wurde die Ardalan-Region in
Sanandaj zu „Kurdistan“ umbenannt. Das war eine
gezielte Strategie um die kurdische Identität in den PJAK-Jugend (Partiya Jiyana Azad a Kurdistanê Regionen unter Druck zu setzen und eine Mentalität Partei für ein Freies Leben in Kurdistan)
in die Azeris zu pflanzen, dass „Azerbaycan-e Gharbi“ azeri ist und dass die einzig kurdische Region
im Iran die „Kurdistan“-Region sein kann. Für die
heutige Zeit bedeutet das, dass die Azeris im Iran die
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»» Von den Jungtürken bis Erdoğan
RONAHÎ #43
Von den Jungtürken bis Erdogan: eine Reise in die dunkle
Geschichte der Türkei
» » YXK Marburg
W
enn wir uns die Geschichte der nationalen komplette Vereinheitlichung der Individuen sein,
Unabhängigkeitskämpfe anschauen, se- eine Türkisierung des osmanischen Territoriums, das
hen wir oft, dass Freiheit in der Gründung zu dieser Zeit und auch heute noch von Menschen
eines eigenen Nationalstaats gesucht wurde. Um sich verschiedener Kulturen bewohnt war und ist. Geleitet
gegen Kolonialismus, Leugnung und Vernichtung zu von der Ideologie des Pantürkismus wurden je nach
schützen, wurden Nationalstaaten als Ziel von Be- Quelle zwischen 500.000 und 1.500.000 Armenier_
freiungsbewegungen definiert und angestrebt. Trotz innen, Suryoye, Êzîd_innen und Griech_innen Opdieser vermeintlichen Schutzfunktion des National- fer eines Völkermords. Auch Kurd_innen waren an
staates ist heute einzugestehen, dass Nationalstaa- diesen Morden aktiv beteiligt. Ihnen wurden bei der
ten nicht in der Lage sind, die Unterdrückungen der Staatsgründung Rechte versprochen, jedoch wurden
Menschen zu beheben. Wie auch in der Selbstkritik die Kurd_innen später selbst zu Opfern des gleichen
der PKK formuliert, ersetzen neue Nationalstaaten Systems. Auf dieser faschistischen Mentalität beruht
lediglich alte Fesseln durch neue. Nationalismen der türkische Staat bis heute noch. Eine Aufdeckung
zwängen Menschen in eine Identität, die z.B. über der türkischen Republikgeschichte soll verdeutlidas Sprechen einer bestimmten Sprache, über einen chen, worauf dieser Nationalstaat historisch aufbaut
bestimmten Glauben oder
und wie dieser Staat noch
über die Idee der Überimmer seine eigene Gelegenheit einer „Rasse“
schichte verschleiert, um
„Keiner der bestehenden Nationalstaaten ist von
definiert ist und radiesich aufrecht zu erhalten.
allein entstanden. Ausnahmslos haben sie alle eine
ren alle aus, die nicht in
kriegerische Vergangenheit.“
Das Osmanische Reich
das Bild dieser „Nation“
wurde von verschieAbdullah Öcalan
passen. Menschen einer
densten Ethnien und
Nation finden sich unter
religiösen Glaubensgeeiner unklar definierten,
meinschaften bewohnt.
angeblichen Identität zusammen. Diejenigen, die Es war eine Art Mosaikgesellschaft, die unter dem
sich dieser Identität annehmen, sind Teil dieser Na- millet-System (arab.: Religionsgemeinschaft) orgation, während diejenigen, die sich nicht assimilieren nisiert war, eher ein nebeneinander statt miteinander.
lassen, bis heute vom System des Nationalstaats mar- Zu erwähnen ist jedoch, dass die islamische Glauginalisiert und ermordet werden.
bensgemeinschaft in allen Punkten gegenüber den
Am Beispiel des türkischen Staates können wir sehen, wie dieses Konstrukt von einem Nationalstaat
seit einem Jahrhundert überlebt hat, und zwar auf
Kosten von Millionen von Leben und auf Kosten der
Kulturen und Sprachen dieser Region. Die diesem
Staat zugrunde liegende Ideologie ist geschichtlich
nicht erst in der „Atatürk-Ära“ zu suchen. Schon
früh kam die jungtürkische Idee eines Vatans - „Vaterland“ - auf, und die damit verbundene Frage, wem
dieses Land gehört? Die Antwort darauf sollte eine
restlichen Gemeinden vorherrschte, sprich hier fand
eine religiöse Diskriminierung der nicht-muslimischen Gruppierungen statt. Trotzdem genossen die
Religionsgemeinschaften eine gewisse Autonomie.
Hierbei konnten sie sich selbst organisieren und somit selbst verwalten. Sie unterstanden dabei allesamt
der absoluten Herrschaft des Sultans. In der Tanzimat-Periode von 1839-1876 versuchte man das bröckelnde Imperium neu aufzustellen, um weltpolitisch
den aufsteigenden Großmächten die Stirn bieten zu
- 13 -
RONAHÎ #43
»» Von den Jungtürken bis Erdoğan
können. Hintergrund dieser Entwicklung waren unter
anderem die nationalistischen Tendenzen in Europa,
die zur politischen Destabilisierung des osmanischen
Reiches führten. Mit der Einführung der ersten osmanischen Verfassung von 1876 waren praktisch
alle Bürger_innen vor dem Gesetz gleichgestellt. Jedoch sollte alsbald Abdülhamit II. die alleinige Herrschaft an sich reißen und für mehr als 30 Jahre in
der Personalunion Sultan/Kalif herrschen. In jener
Zeit litten vor allem die Minderheiten des osmanischen Reiches, insbesondere in Form der Massaker
von 1894-1896 an den Armenier_innen, welche als
Vorboten für den Völkermord an den Völkern Anatoliens in Folgezeit gesehen werden. Als politische
Gegenkraft zum Sultan bildete sich eine Gruppe (Ittihat ve Terakki Cemyeti/Komitee für Einheit und
Fortschritt), die sich auch „Jungtürken“ nannte. Diese Gruppe verstand es auch, andere Minderheiten
des Reiches für ihr Engagement zu gewinnen, denn
Überschneidungspunkte gab es in der Forderung der
Wiedereinführung der Verfassung/Parlaments, wobei
eine Gleichberechtigung der Völker wieder erlangt
werden sollte. Wie fatal diese Kooperation enden
würde, lässt sich am Völkermord ablesen. Schon auf
dem Parteikongress in Saloniki 1907 beschlossen die
Jungtürken, anatolischen Boden zu „türkisieren“. Von
nun an entwickelte sich eine Ideologie des Panturanismus und Panislamismus (Vereinigung aller Turkvölker im Gebiet Turan bzw. Vereinigung aller islamischen Völker, wobei ersteres stark überwog). Zu
den Gründervätern dieser Ideologie zählt unter anderem Ziya Gökalp, selbst kurdischer Abstammung. In
Unruhezeiten konnte sich der rechtsextreme Flügel
der Partei unter Enver Pasa, Talat Pasa und Cemal
Pasa politisch durchsetzen, die von nun an die Regierungsgeschäfte im Alleingang führten. An der Seite
des deutschen Kaiserreiches trat man in den 1. Weltkrieg ein. Deutsche Generäle waren damit beauftragt,
das marode Militär der Osmanen zu erneuern. Die
Armenier_innen bezichtigte man fortan des Landesverrats, weil sie angeblich mit dem Feind (Russland)
kooperierten. Diese Lüge nutzte man aus, um nun
unter dem Deckmantel der „Sicherheitsmaßnahmen“
die Armenier_innen in den Osten, besser gesagt in
die syrische Wüste, zu deportieren. Ab 1915 fielen
mindestens 500.000 Armenier_innen diesen Gräueltaten zum Opfer. Der „perfekte“ Anlass, um den
genannten Beschluss der Türkisierung zu vollziehen.
In den Jahren bis zur Staatsgründung sollten weitere
hunderttausende Armenier_innen, Griechen_innen,
Assyrer_innen/Aramäer_innen, Êzîd_innen und auch
Kurd_innen dieser Politik zum Opfer fallen. Es wurden „ethnische Säuberungen“ durchgeführt sowie
nicht-muslimische und nicht-türkische Läden boykottiert und wirtschaftlich marginalisiert. Ziel war
es, die zukünftigen nationalen Grenzen sowohl im
Westen als auch im Osten zu „bereinigen“ (homogenisieren/assimilieren) und eine starke Zentralisierung
vorzunehmen. Somit wurde dem osmanischen Reich
der letzte Hauch von konföderalen Strukturen genommen (z. B. das millet-System mit einer gewissen
Selbstverwaltung der Religionsgruppen und selbstverwalteten Provinzen wie z. B. eyâlet-i Kurdistân).
Das explosive Gemisch aus den religiösen Normen
des millet-Systems und westlichen Konzepten wie
Nationalismus und Rassentheorie führten zum exklusiven türkischen Rassismus, der bis heute ohne
Veränderung vorherrscht.
Das explosive Gemisch aus den religiösen Normen
des millet-Systems und westlichen Konzepten wie
Nationalismus und Rassentheorie führten zum exklusiven türkischen Rassismus, der bis heute ohne Veränderung vorherrscht. Die Verantwortlichen des Genozids konnten unter anderem durch deutsche Hilfe
fliehen. Mit dem Friedensvertrag von Sèvres fand der
1. Weltkrieg sein Ende für das Osmanische Reich,
hierbei wurde den Armenier_innen ein eigener Staat
und den Kurd_innen Autonomie zuteil, die nach einer Abstimmung auch in einer Staatlichkeit hätte
enden können. Jedoch wurde dieser Vertrag von der
Nationalbewegung unter Mustafa Kemal abgelehnt.
Dieser verstand es auch, die östlichen Stammesvorsitzenden für sich zu gewinnen, die somit im „türkischen“ Befreiungskrieg an dessen Seite kämpften.
Nachdem die imperialistischen Mächte erfolgreich
- 14 -
»» Von den Jungtürken bis Erdoğan
geschlagen werden konnten und der Vertrag von Lausanne unterzeichnet war, fanden von nun an Minderheiten in den Plänen der türkischen Regierung keinen
Platz mehr. Nach der Staatsgründung 1923 standen
Unterdrückung, Assimilierung und Massaker auf
der Tagesordnung. In den Istanbuler-Prozessen von
1919/1920 wurden die Verantwortlichen des Genozides in Abwesenheit zum Tode verurteilt, nur ein
paar dieser Urteile wurden tatsächlich vollstreckt.
Mustafa Kemal selbst setzte sich dafür ein die Urteile
auszusetzen. Dies kommt einem Schlussstrich gleich,
sich nicht mit seiner eigenen Geschichte auseinanderzusetzen. Selbst Mitglied bei den Jungtürken, war
Mustafa Kemal von denselben Idealen und Konzepten beeinflusst wie z. B. der Architekt des Genozides Talat Pasa, der in Berlin auf offener Straße vom
armenischen Studenten Tehlirian erschossen wurde.
In Reaktion auf die leeren Versprechen Atatürks erhoben sich die Kurd_innen zu mehreren Aufständen
wie in Kocgirî, Six Said-Aufstand, Agri-Aufstände
und zuletzt dem Dêrsim-Aufstand. Eine lange Kette
von Aufständen, die sich allesamt gegen die Ausblendung der kurdischen Identität einsetzen und mit der
Friedhofsstille 1939 in Dêrsim ihr Ende fanden. Von
der Gründung der Republik bis ins Jahr 1946 herrschte die CHP als einzige Partei im faschistischen Einparteiensystem. Bezüglich der Verantwortlichkeit für
die damaligen Massaker sagte Selahattin Demirtas,
Co-Vorsitzender der HDP: „Bis 1946 herrschte das
Einparteiensystem vor, sprich es gab nur eine Partei,
die der CHP. Jetzt soll nicht jeder denken, die CHP
sei als Alleinverantwortliche für die damaligen Massaker verantwortlich, denn damals waren alle heutigen Parteien in der CHP vertreten und profitierten
von ein und derselben Mentalität“. Diese faschistische Mentalität, die von den Jungtürken losgetreten
wurde, beeinflusste und beeinflusst bis heute das
politische Geschehen in der Türkei und formt auch
dementsprechend die Gesellschaft. Die türkische
Geschichte ist voller dunkler Schandtaten, in denen
sich die „jungtürkische Mentalität“ bemerkbar machte bzw. macht. So ist z.B. die Vermögenssteuer aus
den Jahren 1942-1944 zu nennen, die auf eine „Türkisierung“ der Wirtschaft abzielte. Die Einführung
dieser Vermögenssteuer war übrigens die Folge eines
Freundschaftspaktes zwischen der Türkei und dem
Nazi-Regime im Jahr 1941. Hierbei wurden übertriebene Steuern auf Vermögen erhoben: Die Unterscheidung erfolgte nach der Religionszugehörigkeit:
RONAHÎ #43
Muslime hatten 4,94 %, Griechen 156 %, Juden 179
%, Armenier 232 % an Steuern zu entrichten. Zu nennen ist noch der Pogrom gegenüber Minderheiten im
Jahre 1955, die sich in den Großstädten Istanbul, Izmir (diese Stadt wird noch immer als „gâvur Izmir“
- „ungläubiges Izmir“ - bezeichnet; Grund: vor der
Republik lebten hier noch zehntausende Griech_innen) und Ankara zutrugen. Bei diesen gewalttätigen
Ausschreitungen kamen mehr als ein dutzend Menschen ums Leben.
Weiterhin kann von einer regelrechten Leugnung der
kurdischen Identität, Sprache und Kultur gesprochen
werden. Öcalan spricht davon, dass nach den Aufständen zwischen 1925-1938 eine Politik betrieben
wurde, die versuchte, „das Problem aus der Welt zu
schaffen, indem sie es für nicht existent erklärte“.
So wurden kurdische Schriften, Musik, Namen und
selbst Buchstaben der kurdischen Sprache verboten.
Nicht nur Widerstände, sondern selbst das „Bekennen“ zum Kurdischsein wurden kriminalisiert, als sei
alles eine einzige große Lüge.
Die Jahre zwischen 1960-1980 waren für die Türkei eine Phase ständiger (Re-)Organisierung von
politischen Strömungen und Regierungswechseln.
Die Jahre zwischen 1960-1980 waren für die Türkei
eine Phase ständiger (Re-)Organisierung von politischen Strömungen und Regierungswechseln. Ende
der 60er Jahre fingen viele verschiedene linke und
revolutionäre Gruppen an, sich zu organisieren. Die
zahlreichen Gruppierungen ignorierten leider oft den
türkischen Faschismus und ließen in ihren politischen Arbeiten die kurdische Frage außer Acht. Aus
diesem Grund wurde eine politische Organisierung
erforderlich, die Kurdistan als Kolonie definierte und
erkannte, dass die Zustände im Osten der Türkei Ergebnis einer faschistischen Politik gegen Kurd_innen
sind. Ein linker, revolutionärer Kampf auf türkischem
Staatsgebiet konnte nicht geführt werden, ohne die
Kurd_innen mit einzubeziehen. Erstmals wurde dann
die kurdische Frage von einigen wenigen Bewegungen benannt und thematisiert. So nahm die Arbeiterpartei der Türkei (TIP) die kurdische Frage in ihr
Parteiprogramm und brachte es 1965 im Parlament
zur Sprache. Deniz Gezmis, der Teil der türkischen
68er-Bewegung war, sprach kurz vor seiner Hinrichtung im Jahr 1972 die folgenden Worte: „Ich gehe für
die Freiheit und Geschwisterlichkeit der Kurd_innen
und Türk_innen würdevoll in den Tod“. In der Zeit ab
- 15 -
RONAHÎ #43
»» Von den Jungtürken bis Erdoğan
den 68ern fingen Kurd_innen an, ihre Identität und
Geschichte neu zu definieren und sich politisch zu
organisieren. Nach jahrelanger Organisierung, Diskussionen und Spaltungen ging 1978 aus den Apocis,
den von Abdullah Öcalan inspirierten Jugendlichen,
die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) hervor, die sich
damals als marxistisch-leninistisch verstand. Nach
dem dritten erfolgreichen Militärputsch in der Türkei
unter der Führung von Kenan Evren im Jahr 1980
verstärkten sich die Repressionen gegen die linken,
potenziell „gefährlichen“ Bewegungen, zu denen
auch die noch junge PKK gehörte. Es folgte eine große Festnahme- und Hinrichtungswelle. Im Kontext
der zunehmenden Repressionen nahm die PKK 1984
den bewaffneten Kampf gegen den türkischen Staat
auf.
tischen und revolutionären Bewegungen dort.
Solange die faschistische Grundhaltung des türkischen Staates weiterbesteht, können die Völker im
Mittleren Osten nicht befreit werden. Wer von Antakya nach Mêrdîn fährt, wird verstehen, wie unglaublich absurd die Idee eines Nationalstaates auf jedem Boden eigentlich ist. Dementsprechend können
auch weitere Nationalstaaten keine Lösung bedeuten.
Denn Freiheit bedeutet, dass Pluralität zugelassen,
akzeptiert und gelebt wird. Eine freie Gemeinschaft
kann sich nicht über eine einzige, für alle verbindliche „nationale Identität“ definieren. Sie sollte stattdessen gekennzeichnet sein durch Solidarität, Basisdemokratie und Gleichheit ohne Gleichmacherei.
Was kann Nationalismus einem dagegen geben, außer ein Stück Stoff, dass sich Nationalflagge nennt?
Die Unterdrückung betraf nicht allein die Bewegung.
Repressionen, willkürliche Morde und Zwangsassimilierung gehörten zum Alltag der Kurd_innen in
der Türkei. Kurd_innen wurde das Recht auf Verteidigung vor dem Gericht und auf Bildung in der Muttersprache genommen. Jeglicher Widerstand gegen
den Faschismus des Staates wurde sofort mit Gewalt
beantwortet. Die türkische Republik hat schon vom
Zeitpunkt ihrer Gründung an tiefe, schmerzhafte
Narben im Leben vieler Menschen hinterlassen. Ihre
Geschichte ist gezeichnet von Genoziden, die bis
heute verleugnet werden und deren Verantwortliche
niemals zur Rechenschaft gezogen wurden. Ein Genozid folgte dem nächsten. Die Schmerzen der Massaker in Kocgirî, Dêrsim, Maras und Sivas sind bis
heute nicht vergessen. Noch immer fließen die Tränen der Angehörigen der Opfer von Roboskî, Suruc,
Amed und Ankara. Bis heute erkennen wir, dass sich
an der Haltung dieses Staates nichts verändert hat.
Der Faschismus des türkischen Staates nimmt seit
Erdogan wieder eine scheußlichere Gestalt denn je
an. Die aktuellen Massaker vor allem im Südosten
der Türkei sind allerdings keine plötzlichen Entwicklungen, die nur aus der diktatorischen Regierung Erdogans resultieren, sondern müssen als ein weiteres
Beispiel einer langen Kette von Genoziden betrachtet
werden, von denen sich der türkische Staat ernährt.
Die Ausgangssperren, die in Nordkurdistan verhängt
werden, die Zivilist_innen, die willkürlich ermordet
werden, die Repressionen gegen all jene, die die Zustände offen ansprechen; das sind alles Antworten
auf die immer stärker werdenden, wirklich demokra-
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»» Şengal - verkauft und verraten
RONAHÎ #43
Şengal - verkauft und verraten
Geopfert für die Interessen der eigenen Machterhaltung –
PDK/KDP im Fokus des Verrats
» » Yilmaz Pêşkevin Kaba
N
ach den Angriffen des Islamischen Staates
(IS)in Şengal in der Nacht vom 2. auf den
3. August 2014 und den damit verbundenen Massakern und Vertreibungen hunderttausender
Êzîd_innen und anderer Minderheiten wie Christ_innen oder Schiit_innen mit dem Ziel eines Völkermordes war deutlich: So wie es bisher war, kann und darf
es nicht weitergehen! Eine Änderung der politischen
und gesellschaftlichen Situation ist für den Schutz
und die Verteidigung von Şengal unabdingbar. Die
labilen bzw. nicht vorhandenen Strukturen zur Selbstverwaltung, zum Schutz und zur Verteidigung waren
die ausschlaggebendsten Gründe für das Ausmaß des
versuchten Völkermordes, sowie der Vernichtung des
Ezidentums in Şengal.
Nichtsdestotrotz und vor dem Hintergrund der Erfahrungen der Vergangenheit hat sich die Bevölkerung
in Şengal für die Errichtung einer Autonomie/Selbstverwaltung entschieden. Denn bis heute konnte niemand für den Schutz und die Verteidigung der Glaubensgemeinschaft der Êzîd_innen einstehen. Die
Gründung des Rates der Ezid_innen von Şengal ist
ein wichtiger Schritt in diese Richtung. Die Arbeiten
und Tätigkeiten dafür laufen auf Hochtouren, sofern
diese nicht systematisch durch die Barzani-Regierung mit ihrer Partei PDK/KDP aufgehalten werden.
In vielen Ländern wird der Zuspruch immer größer.
Viele Bewegungen, Institutionen, Organisationen,
Parteien etc. befürworten das Vorhaben und haben
praktische Hilfe zugesagt. Die Barzani-Regierung
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RONAHÎ #43
»» Şengal - verkauft und verraten
möchte den anderen Glaubens- und Religionsgemeinschaften sowie ethnischen Gruppen keine weiteren Rechte zugestehen, weil sie ihre Einflusssphäre
gefährdet sieht und mit anderen Partnerstaaten wie
der Türkei wirtschaftliche Verträge wie u.a. Öl-Abkommen hat.
schützen und es würde nicht mal dazu kommen, dass
ein Kind zu Schaden nehme. Unter der Angst, dass
sie ihren Einfluss in der Region verlieren, machten
sie der PKK den Vorwurf, sie versuche Şengal für
sich zu vereinnahmen. Nicht nur, dass sie es offiziell unterbanden, sie versuchten auch noch mit allen
Mitteln zu verhindern, dass Guerillakräfte sich nach
Şengal begeben. Trotzdem machten sich zwölf Freiheitskämpfer_innen über die Berge Şengals auf den
Weg. Am Ende waren es neun Freiheitskämpfer_innen der PKK und der YPG/YPJ, die nur durch ihren
furchtlosen Einsatz zehntausenden Ezid_innen sowie anderen Betroffenen die Flucht vor den Horden
des IS ermöglichten. Nach Beginn des IS-Angriffs
auf die ezidische Gemeinschaft und der Flucht der
eigentlich zu ihrem Schutz in Şengal stationierten
Pêşmerga-Truppen war die Zivilbevölkerung Mord,
Barbarei und Gräueltaten des IS ausgesetzt. Das AusDer Angriff auf Şengal war lange geplant und
maß der Katastrophe der Unmenschlichkeit wird imabzusehen
mer offensichtlicher. Davon zeugen tausende Frauen,
Vor dem Angriff haben schon viele Anzeichen die Be- welche noch immer gefangenen gehalten werden, der
fürchtungen bestärkt. Es war kein Angriff, der unvor- systematische Organverkauf und viele weitere Gräuhergesehen kam. Schon seit Anfang Juni 2014 gab es eltaten.
die ersten Absprachen und Zusammenschlüsse des IS
mit regionalen Gruppen, sowohl militärische als auch Die Zahlen der in Şengal stationierten Pêşmerpolitische. Das erste gemeinsame Ziel war die „feind- ga-Kräfte der Regionalregierung Kurdistans (KRG)
liche“ Übernahme von Mosul. Mit der Übernahme und deren Ausrüstung hätten mit geringem Einsatz
von Mosul war es nur ein Frage der Zeit bis Şengal den Angriff des IS verhindern können. Hier muss
als nächstes angegriffen würde. Die kurdische Frei- auch vor nationalen und internationalen Gerichten
heitsbewegung hat diese Entwicklung aufmerksam eine unterlassene Hilfeleistung geprüft und dementbeobachtet und die mediale und auch diplomatische sprechend geahndet werden.
Öffentlichkeit vorgewarnt, um dem Vorhaben Einhalt Alle Bestrebungen und Errungenschaften nach Friezu gebieten. Sowohl die Zentralregierung des Iraks den, Freiheit, Demokratie und Menschlichkeit u.a. in
als auch die Regionalregierung Süd-Kurdistans wur- Form von Selbstverwaltung und Selbstschutz durch
den entsprechend kontaktiert, um ein gemeinsames die Bevölkerung in Şengal versucht man mit Mitteln
vorgehen dagegen zu planen und Şengal zu schützen. wie Kriminalisierung, Repressalien, Verhaftungen
Die Erfahrungen aus Rojava, wie der IS vorgeht und und vor allem großen Lügen zu verhindern. Diese
was sie für Mittel der Unmenschlichkeit anwenden, Bestrebungen sind der Regierung um Barzani und
waren mehr als nur Grund genug, sie aufzuhalten und der PDK/KDP ein Dorn im Auge.
somit zu verhindern, dass sie Şengal erreichen.
Der Präsident der KRG, Masud Barzani, der laut
Mit der Begründung, dass zuvor Mosul eingenom- der Verfassung nicht mehr rechtmäßiger Präsident
men wurde und dadurch die entsprechenden Kräften ist, und seine Partei PDK/KDP, welche/r durch seianderweitig eingesetzt seien und dass sich die Regio- ne „Untätigkeit“ in Verruf geraten ist, gilt der größte
nalregierung Süd-Kurdistans um den Schutz kümme- Unmut und der Vorwurf des Verrats. Erst durch seine
re, zog sich die Zentralregierung des Iraks aus Şengal „Untätigkeit“ wurde das Massaker des Islamischen
zurück. Auch das Angebot der PKK an die Regional- Staates IS an der Bevölkerung in Şengal möglich geregierung Süd-Kurdistans, eine Gruppe von Gueril- macht. Die Kriminalisierungs- und Repressionspolila zu entsenden, wurde mit der Aussage abgelehnt, tik gegenüber der êzîdisch-kurdischen Bevölkerung,
es gäbe über zehntausend Pêşmerga, die Şengal be- aktiven Politikern_innen und anderen Minderheiten
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»» Şengal - verkauft und verraten
wird weiterhin durchgeführt. Um dies zu verhindern
und diesem entgegenzuwirken, ist eine Solidarität
mit den Vorhaben und Zielen der Bevölkerung in
Şengal von großer Bedeutung.
Zu erwähnen ist zudem, dass auch Helfer_innen u.a.
aus Deutschland von dieser unmenschlichen Politik
betroffen waren und sind. Mit Beginn der humanitären Hilfe sind viele Freiwillige auch aus den Reihen der êzîdischen Föderationsmitgliedsvereine aus
Deutschland in die Flüchtlingslager in Duhok und
Zaxo mit Hilfstransporten und Sachspenden zur Hilfe geeilt.
Die Bevölkerung Şengals zum Verhalten der PDK/
KDP
RONAHÎ #43
junge Frauen sowie Kinder dem Feind überließen.
Als Führung der êzîdîschen Menschen und des Hauses der Êzîd_innen akzeptieren wir dieses Verhalten
nicht und erklären deutlich, dass wir den Verrat der
KDP nie vergessen werden, noch in Vergessenheit
geraten lassen werden. Wir werden uns nie wieder
zu jemandes Spielball machen lassen. […] Sie haben
uns zurückgelassen und sind geflohen. Wir werden
dies nie akzeptieren oder das Geschehene vergessen.
Sie sollten sich von Şengal fern halten, dort wo unsere Grabstätten sind und die nur der Gemeinschaft der
Êzîd_innen gehört. Wir werden unseren Kampf fortsetzen und unser Land nach der Befreiung niemals
verlassen. […] Şengal ist weder das Eigentum von
Barzani, noch der PDK/KDP.“.
Immer wieder ist den Aussagen der Bevölkerung von
Şengal klar und deutlich zu entnehmen, dass vor allem die PDK/KDP für das Massaker in und um Şengal mitverantwortlich ist. In vielen Erklärungen haben sich die Betroffenen dazu geäußert und erklärt:
Den Verrat der PDK/KDP werden wir nicht vergessen!
Die Mitglieder des Hauses der Êzîd_innen erklärten auch, dass sie die Hilfe der PKK im Kampf um
Şengal und den Tod der vielen Märtyrer_innen nie
vergessen werden. Sie wissen es zu schätzen, dass es
die Kämpfer_innen der PKK, der YPG und der YPJ
mit allen Möglichkeiten und trotz aller Hindernisse
geschafft haben, ein noch schlimmeres Massaker zu
„Den Verrat der PDK/KDP werden wir nicht verges- verhindern. Auch die Unterstützung des Aufbaus der
sen und das Schicksal keiner politischen Partei mehr Selbstverwaltung und der Selbstverteidigung wird
überlassen – wir werden uns niemandem unterwerfen mit großer Befürwortung begrüßt.
und unseren Weg der gerechten Geschwisterlichkeit Aktionen und militärische Aktionen zur Befreiweiter verfolgen.“
ung Şengals
Mehr als 17000 Mütter, junge Frauen sowie Kinder An der Verzögerung der Befreiung von Şengal ist
wurden dem IS durch die Flucht der Pêşmerga re- maßgeblich die PDK/KDP verantwortlich. Immer
gelrecht überlassen. In vielen Presseerklärungen hat wieder gab es von Seiten der kurdischen Freiheitssich vor allem das Haus der Êzîd_innen im Gebiet bewegung die Absicht und Bestrebung einer gemeindes Şengalgebirges/ Mala Êzîdiya Şengal, dem viele samen militärischen Operation, um die Region zu
Stämme aus der Region angehören, zum Verhalten befreien. Nicht nur, dass die PDK/KDP dem nicht
der PDK/KDP geäußert:
zugestimmt hat, sie hat es durch ihr Schweigen unnö„Jede_r, die/der nicht hinter dem Glauben der Êzîd_ tig in die Länge gezogen.
innen steht, soll es unterlassen ihm zu schaden. Wir Die YBŞ (Widerstandseinheiten Şengals - Yekîneyên
verfolgen die gerechte Sache unserer êzîdîschen Mit- Berxwedana Şengal) sind maßgeblich in Zusammenmenschen. Wir wurden verraten und wissen sehr gut, arbeit mit den Freiheitskämpfer_innen der HPG/
wer uns feindselig gegenüber steht. Sie versuchen YJA-Star (Volksverteidigungskräften der PKK) und
nun ihren Einfluss auf die êzîdîschen Menschen wie- der Volksverteidigungseinheiten YPG sowie der
der zu stärken. Wir ermahnen, haltet euch von uns Frauenverteidigungseinheiten YPJ aus Rojava/ Nordfern. Die KDP hat uns zurückgelassen und ist geflo- syrien dafür verantwortlich, dass weitere Übergriffe
hen, ohne die Menschen zu warnen, zu organisieren verhindert und viele Regionen in und um Şengal beoder Hilfe für sie zur Verfügung zu stellen. [...] Es ist freit wurden. Gemeinsam vermochten sie bei der Besinnlos, dass die KDP nun versucht die Vergangenheit freiung des Şengal-Gebiets erste Erfolge zu erzielen.
vergessen zu machen und weiterhin behauptet ‚Wir Höhepunkt waren die Befreiung des Stadtzentrums
werden Şengal befreien‘, nachdem sie 17000 Mütter, von Şengal am 19.12.2014 und die gesamte Befrei-
- 19 -
RONAHÎ #43
»» Şengal - verkauft und verraten
ung Şengals am 13.11.2015.
Die PDK/KDP und allen voran Mesud Barzani haben nach diesen Befreiungsaktionen immer wieder
versucht, die Errungenschaften für sich zu vereinnahmen und in ihren Medien den Kampf als ihren
dargestellt. Sie versuchen immer wieder ihr Ansehen
zu verbessern und sich für die internationale Öffentlichkeit als Helden gegen den IS darzustellen, wie in
Rojava so auch in Şengal.
Unsere Föderation in Solidarität sowie in Verantwortung und Verpflichtung
Viele kurdische und internationale Organisationen,
Institutionen, Vereine in Kurdistan, aber auch die kurdische Bevölkerung in ganz Europa verurteilen diese
Vorgehensweise. Aus unser aller Sicht ist diese Vorgehensweise ein politischer Akt, welcher im Zusammenhang mit der steigenden Repression gegen êzîdisch-kurdische Aktivist_innen steht. Als Föderation
der Êzîdischen Vereine in Deutschland und Vertreter
tausender Êzîd_innen bundesweit/weltweit möchten wir weitere Genozide an den Bevölkerungs- und
Glaubensgemeinschaften durch das Erheben unserer
Stimme für Frieden und Freiheit verhindern. Durch
unser verantwortliches Handeln können und müssen
wir weitere Katastrophen und ein noch größeres Verbrechen an der Menschheit gemeinsam verhindern.
Mit allen Möglichkeiten werden wir die Selbstverwaltung und die Selbstverteidigung der Bevölkerung
in Şengal fördern, fordern und unterstützen.
Selbstverständnis der Föderation der Êzîdischen Vereine – Federasyona Komelên Êzîdiya (FKÊ): Die
Föderation der Êzîdischen Vereine e. V. vertritt die
Interessen der in ihr organisierten ÊzîdInnen/êzîdischen Kurd_innen unabhängig von deren Herkunft
und politischer Orientierung. Zu den Arbeitsschwer-
punkten der Föderation der Êzîdischen Vereine e. V.
gehört die gelungene Integration der Mitglieder in
die Mehrheitsgesellschaft, der Erhalt und die Pflege
des kulturellen Erbes des ÊzîdInnentums sowie soziale und humanitäre Hilfestellung für Flüchtlinge und
Notbedürftige in Europa und den Herkunftsländern
der Êzîd_innen. Zur Erreichung ihrer Ziele arbeitet die Föderation der Êzîdischen Vereine e. V. auch
eng mit Immigrant_innenverbänden und Menschenrechtsorganisationen in Deutschland zusammen.
Durch ein breites Netzwerk ist die Föderation mit
anderen êzîdischen und kurdischen sowie weiteren
Organisationen aus dem Nahen Osten in Europa eng
verknüpft.
Yilmaz Pêşkevin Kaba reist sehr häufig, als Mitglied
von Menschenrechts- und Wahlbeobachterdelegationen nach Kurdistan (in die kurdischen Regionen
Syriens, des Iraks und der Türkei). Er setzt sich in
verschiedenen Organisationen in Celle und Hannover, aber auch auf Bundesebene u.a. für eine »bessere« Partizipation der Migrant_innen am gesellschaftlichen und politischen Leben ein. Dort ist er
vor allem für die Bereiche Flüchtlingspolitik, Jugend, diplomatische Beziehungen und Öffentlichkeit
mitverantwortlich. Er ist auch Vorstandsmitglied
der Föderation der Êzîdischen Vereine (FKÊ e.V.),
sowie des Demokratischen Gesellschaftszentrums
der Kurd_innen in Deutschland (NAV-DEM e. V.).
Hintergrundartikel zu Şengal: www.kurdistan-report.de - Şengal ist befreit – Şengal ist frei (Die
Befreiungsaktion ist ein wichtiger Schritt für die
Menschlichkeit)
- 20 -
»» Kritik an KDP
RONAHÎ #43
Kritik des Modells Südkurdistan - Herrschaft zweier Clans statt
Demokratie
» » YXK Berlin
er südliche Teil Kurdistans (Başûr, „Nordirak“) wird insbesondere von Vertretern_innen der westlichen Medien und Politik häufig als Musterbeispiel für Stabilität und Demokratie
dargestellt. In den chaotischen Jahren nach der amerikanischen Irakinvasion im Jahr 2003 galten die kurdischen Pêşmerge als Stabilitätsfaktor in Başûr. Für
D
ihre Zusammenarbeit mit der amerikanischen Besatzungsmacht wurde den Kurd_innen im Nordirak
ein Autonomiestatus zugestanden, der ihnen weitgehende wirtschaftliche, politische und militärische
Unabhängigkeit von der irakischen Zentralregierung
gewährte. In den anschließenden Regierungsjahren
des Präsidenten Mesûd Barzanî (seit 2005) kam es
Barzani und Erdoğan pflegen eine sehr enge (wirtschaftliche und militärische) Beziehung. Barzani forderte die PKK mehmals auf,
die Kandil-Gebirge zu verlassen und willigte den Bombardements der Türkei gegen die Guerilla ein.
- 21 -
RONAHÎ #43
»» Kritik an KDP
Wirtschaftlich befindet sich Başûr in einer schwerwiegenden Krise, die vor allem auf einer einseitigen
und stark vom Ausland abhängigen Wirtschaftspolitik basiert. Darüber können auch die vielen Neubauten, Einkaufszentren und Luxusautos nicht hinwegtäuschen, die man auf den Straßen Hewlêrs erblickt.2
Seit Monaten werden Lehrer_innen, Beamt_innen
und Peşmerge nicht mehr bezahlt. Zudem sind praktisch alle Wirtschaftsbereiche außer der Ölproduktion
zusammengebrochen. Nahrungsmittel, Industriegüter
und sogar Wasser muss vorwiegend aus der Türkei
importiert werden, obwohl die landwirtschaftlichen
Voraussetzungen günstig sind.3 Das südkurdische Öl
wird fast ausschließlich über die Türkei exportiert,
was auch im Export zu einer massiven Abhängigkeit
von einem Land führt, das zeitgleich gegen Kurd_innen im westlichen und nördlichen Teil Kurdistans
vorgeht. Eine basisdemokratische Organisierung der
Gesellschaft würde hingegen bedeuten, die reichhaltigen Ressourcen Südkurdistans für die Versorgung
der Bevölkerung zu erschließen. Wie in Rojava zu
Kommunale Selbstverwaltung und Konföderatio- beobachten ist, würden Menschen auf Ebene von
nen statt autokratischem Nationalismus
Kommunen, Stadteil- bzw. Dorfgemeinschaftsräten
Die Demokratisierung auf Grundlage kommunaler und Gebietsräten über die Produktion ihrer eigenen
Selbstverwaltungsstrukturen stellt die Hauptvoraus- Lebensgrundlagen entscheiden und dies in Form von
setzung für die Befriedung des Nahen und Mittleren Kooperativen institutionalisieren4. Dies würde eine
Ostens dar. Seit der Durchsetzung des nationalstaat- Diversifizierung der südkurdischen Wirtschaft und
lichen Paradigmas im Rahmen des Vertrags von Lau- eine bessere Orientierung an den tatsächlichen Besanne (1923) durch die imperialen Mächte England dürfnissen der Menschen ermöglichen: zwei Grundund Frankreich haben sich die Konflikte in der Re- lagen für eine nachhaltige und vor allem unabhängigion deutlich verschärft, was zu endlosen militäri- gere Entwicklung der südkurdischen Wirtschaft.
schen, wirtschaftlichen und politischen AuseinanderDie Politik der beiden größten südkurdischen Parsetzungen führte. Das letzte traurige Beispiel dafür
teien KDP und PUK, die seit 2005 gemeinsam die
ist Syrien, aber auch der Irak ist seit der Invasion der
Regierungen stellten, ist hauptverantwortlich für die
Amerikaner_innen praktisch zusammengebrochen.
aktuelle Lage. Insbesondere das vom Präsidenten
Im Gegensatz zur zentralistischen und monopolistiMesûd Barzanî betriebene korrupte System stellt ein
schen Kontrolle durch den Nationalstaat, verfolgt die
großes Problem dar, da Privilegien auf Grund von
kurdische Freiheitsbewegung die Vision kommunal
Clanzugehörigkeit und politischer Hörigkeit vergeorganisierter, selbstverwalteter und föderativer Zuben werden. Alle wichtigen politischen Posten, wie
sammenschlüsse in der Region1. Eine basisdemokradas des Geheimdienstchefs oder des irakischen Fitische Selbstverwaltung, wie wir sie auch in Rojava
nanzministers, sind mit Verwandten Barzanîs besetzt
(Westkurdistan/Nordsyrien) und Bakur (Nordkurdiund der Beamtenapparat künstlich aufgebläht. Zustan/Osttürkei) sehen, setzt nicht auf das nationalgleich wird die Meinungs- und Pressefreiheit massiv
staatliche Paradigma, sondern auf die Freisetzung aller gesellschaftlichen Kräfte auf den verschiedensten 2 vgl. „Wo genau liegt Kurdistan?“, http://monde-diplomaEbenen.
tique.de/artikel/!490561 (12.01.16)
zu einem starken wirtschaftlichen Aufschwung, der
vor allem durch die relativ stabile Sicherheitslage ermöglicht wurde. In Folge der Gebietsgewinne
des IS im Jahre 2014 wurden jedoch die Schwächen
des Modells Başûrs deutlich. Seither befindet sich
die autonome Region Kurdistan in einer ernsthaften wirtschaftlichen, politischen und militärischen
Krise. Schlimmeres konnte nur durch die Hilfe der
Volksverteidigungskräfte (HPG), den bewaffneten
Kräften der kurdischen Freiheitsbewegung, an Orten
wie Şengal, Mexmûr oder Hewlêr (Erbîl) verhindert
werden. Aus Sicht der kurdischen Freiheitsbewegung
und ihrem Paradigma des ‚Demokratischen Konföderalismus‘ müssen einige zentrale Schwachstellen
des südkurdischen Gesellschaftsmodells benannt
werden. Ohne entscheidende Veränderungen entlang
der Paradigmen Basisdemokratie, Frauenbefreiung
und Ökologie wird es nur schwer möglich sein, diese
kulturell vielfältige Region langfristig zu stabilisieren.
1 vgl. Abdullah Öcalan. „Demokratischer Konföderalismus“.
Neuss: Mesopotamien-Verlag, 2012.
3 vgl. „Barzanis Machtkampf in Irakisch-Kurdistan“, http://
www.heise.de/tp/artikel/46/46300/1.html (12.01.16)
4 vgl. Flach/ Ayboğa/ Knapp. „Revolution in Rojava“.
Hamburg: VSA Verlag, 2015.
- 22 -
»» Kritik an KDP
RONAHÎ #43
eingeschränkt5 und durch gleichgeschaltete Medien
gezielt Desinformationen verbreitet, wie sich z.B. an
der jüngsten KDP-Berichterstattung über die Befreiung Şengals zeigte.6 Demonstrationen werden mittlerweile häufig gewalttätig niedergeschlagen. Der seit
2005 regierende Präsident Barzanî hätte laut Verfassung schon im Jahr 2013 abtreten müssen. Obwohl
die zweijährige, verfassungswidrige Verlängerung
seiner Amtszeit im August 2015 endete, weigert sich
Barzanî weiterhin seine Macht abzugeben. Es kann
also nicht einmal von einer funktionierenden repräsentativen Demokratie in Başûr gesprochen werden.
Das Konzept des ‚Demokratischen Konföderalismus‘ baut auf einer politischen Selbstbestimmung
auf, deren Basis die Kommune darstellt. Diese Einheit von ca. 40-150 Haushalten in der Stadt bzw. allen Haushalten eines Dorfes auf dem Land verwaltet
sich mithilfe verschiedener Kommissionen und einer
Doppelspitze aus Mann und Frau selbst. Lebensbereiche wie Bildung, Sicherheit oder Wirtschaft werden
von allen Mitgliedern der Kommune diskutiert und
Entscheidungen nach dem Konsensprinzip gefällt.
In einer Region wie Başûr, in der u.a. verschiedene
religiöse, ethnische, politische Identitäten beheimatet sind, stellt die basisdemokratische und selbstbestimmte Auseinandersetzung miteinander die einzig
nachhaltige und friedliche Perspektive dar. Wozu ein
autoritäres und monopolistisches Herrschaftssystem
im Stile Barzanîs führt, ist an den aktuellen gesellschaftlichen Spannungen zu erkennen. Insbesondere
in Şengal stellt sich die KDP offen gegen den Aufbau
êzîdischer Selbstverwaltungs- und Selbstverteidigungsstrukturen, die derzeit mithilfe der kurdischen
Freiheitsbewegung aufgebaut werden.7
liche Sprache.8 Darüber können auch medial stark
beachtete Künstlerinnen wie Helly Luv oder ein paar
hundert weibliche Pêşmerge (insgesamt gibt es ca.
190.000 Pêşmergekräfte) nicht hinwegtäuschen. In
einem Verfassungsentwurf des südkurdischen Regionalparlaments aus dem Jahr 2009 wird die Scharia als
maßgebliche Quelle für die Gesetzgebung festgelegt,
was von vielen Frauenrechtsaktivistinnen in Başûr
kritisiert wird. Mithilfe türkischen Kapitals wurde
einer Vielzahl islamistischer Privatschulen und Universitäten sowie Moscheen und Hilfsorganisationen
die Arbeit ermöglicht, was zu einer zunehmenden
Radikalisierung der Gesellschaft führt. Auf den Straßen Südkurdistans ist dies deutlich zu spüren, z.B.
durch immer mehr Frauen, die den schwarzen Hijab
tragen. Politisch flankiert wird diese Gesellschaftsveränderung durch islamistische Parteien, die ideologisch und wirtschaftlich eng mit der türkischen AKP
verbunden sind. Auf Grund dieser Entwicklungen
spricht die Co-Vorsitzende des kurdischen Nationalkongress‘ (KNK), Nilüfer Koç, mittlerweile davon,
dass der steigende Einfluss der Radikalislamisten in
Kurdistan für die Selbstbestimmung der Kurd_innen
gefährlicher sei als die türkische Besatzungsarmee.
9 Obwohl auf politischer Ebene auch Gesetze erlassen wurden, welche die Frauenrechte stärken, sind
Zwangsheirat, Kinderheirat, weibliche Genitalverstümmelung und fehlende Bildung für Mädchen und
Frauen noch immer große gesellschaftliche Probleme. Nicht ohne Grund versteht die kurdische Freiheitsbewegung den Kampf gegen patriarchale Unterdrückungsverhältnisse als die wichtigste Aufgabe auf
dem Weg zu einer freiheitlichen und demokratischen
Gesellschaft.10 Durch die autonome Organisierung
der Frauen auf allen gesellschaftlichen Ebenen der
Befreiung und autonome Organisierung der Frau Selbstverwaltung wird der 5000-jährigen Geschichte
statt patriarchaler Unterdrückung
des Patriarchats eine wirkungsvolle Struktur entgeAuch im Bezug auf die Lage der Frau müssen die süd- gengestellt. In selbstverwalteten Frauenhäusern bilkurdischen Verhältnisse kritisiert werden. Geschätzte den sich Frauen selbst weiter und können sich ihrer
12.000 Ehrenmorde zwischen 1991 und 2007, Selbst- Unterdrückung in der Gesellschaft bewusstwerden.
verbrennungen und allein 14 Selbstmordversuche von Patriarchale Gewalt wird offensiv und auf Grundlage
Frauen im Jahr 2014 in Silêmanî sprechen eine deut- autonomer Frauenentscheidungen angegangen. Das
Prinzip des Co-Vorsitzes (Mann und Frau) und eine
5 vgl. „Peitschenhiebe für die Meinungsfreiheit“, http://www.
heise.de/tp/artikel/22/22353/1.html (12.01.16)
6 vgl. „PUK Shengal Executive: KDP Press shouldn‘t be
trusted“, http://anfenglish.com/kurdistan/puk-shengalexecutive-kdp-press-shouldn-t-be-trusted (12.01.16)
7 vgl. „Sengal ein Jahr nach dem Beginn des Genozids“,
Kurdistan Report 181, September/ Oktober 2015.
8 „Kurdische Kämpferinnen“, http://monde-diplomatique.de/
artikel/!5208302 (13.01.16)
9 Brauns/ Kiechle. „PKK“. Stuttgart: Schmetterling Verlag,
2010.
10 Vgl. Öcalan. „Die Revolution der Frau“. Neuss:
Mesopotamien-Verlag, 2014.
- 23 -
RONAHÎ #43
»» Kritik an KDP
40%ige Mindestquote von Frauen in allen Strukturen der Selbstverwaltung sollen die gesellschaftliche Teilhabe der Frau auch strukturell stärken.11
Dies alles geschieht auf Grundlage einer 40-jährigen
Auseinandersetzung der kurdischen Freiheitsbewegung mit Formen patriarchaler Gewalt. Das Ergebnis
dieses Prozesses ist dementsprechend deutlich vielschichtiger als die autonome militärische Organisierung der Frauen in Form der YPJ in Rojava oder der
YJA-STAR in Bakur, worauf sich westliche Medien
gerne beziehen.
Ökologisch orientierte Dorfgemeinschaften statt
Urbanisierung und Bauboom
Natur besteht. Diese sollen sich entsprechend der
Paradigmen Basisdemokratie, Frauenbefreiung und
Ökologie organisieren. In Bakur tritt dafür insbesondere die Mesopotamische Ökologiebewegung ein.12
Zugleich wird die Idee einer ökologischen Industrie
diskutiert, inspiriert durch Überlegungen Murray
Bookchins oder europäischer Ökologiebewegungen.
Ziel ist die Rückbesinnung auf ein nachhaltiges Verhältnis zwischen Mensch und Natur ohne den Nutzen
moderner Technologien zu vernachlässigen.
Die aktuellen Konflikte in Başûr sind Ausdruck dafür, dass die politischen und wirtschaftlichen Verantwortungsträger_innen keine Antwort auf die
zentralen Fragen unserer Zeit haben: Wie kann gesellschaftliche Vielfalt demokratisch organisiert
werden? Welche Hierarchien verhindern das friedliche Zusammenleben der Menschen? Wie kann der
Mensch seine Lebensgrundlagen nachhaltig sichern?
Die KDP und die anderen politischen Kräfte Başûrs
täten gut daran, sich bei ihrer Suche nach Antworten
an den Visionen der kurdischen Freiheitsbewegung
zu orientieren, anstatt auf kurzsichtige Machtpolitik
zu setzen.
Mesopotamien ist eine der fruchtbarsten und wasserreichsten Regionen der Welt. In allen Teilen Kurdistans konnten sich die Menschen jahrtausendlang selbst
versorgen und mit den Produkten aus Ackerbau und
Viehzucht Handel miteinander betreiben. Insbesondere die Dorfgemeinschaft schaffte es bis in die Zeit
der Kapitalistischen Moderne hinein erfolgreich, ihre
Mitglieder mit lokalen und natürlichen Produkten zu
versorgen. Durch die rasante Urbanisierung in Folge der Industrialisierung gerieten ländliche Gebiete
in eine starke Abhängigkeit von städtischen Zentren. 12 vgl. Ayboğa, „“Wandel des ökologischen Bewusstseins
Den Höhepunkt der Angriffe auf das dörflich-kom- stärken!“, Kurdistan Report 181, September/ Oktober 2015.
munale Leben in Kurdistan stellt die Zerstörung von
4000 Dörfern in Nordkurdistan durch die türkische
Armee dar. Damit wurde nicht nur die Unterstützung
der bewaffneten Kräfte der kurdischen Freiheitsbewegung angegriffen, sondern auch die Selbstversorgung kommunaler Gemeinschaften. Der Bauboom in
südkurdischen Städten wie Hewlêr zeugt von einer
ähnlichen Entwicklung. Praktisch alle Arbeitsplätze
finden sich in der Ölindustrie oder in der staatlichen
Verwaltung, wodurch viele Menschen zum Umzug
in die Stadt gezwungen sind. Gegen den Zusammenbruch der Landwirtschaft Başûrs insbesondere
nach den Giftgasangriffen unter Saddam Hussein
wurden keine wirkungsvollen Maßnahmen ergriffen.
Dass selbst Wasser aus der Türkei importiert werden
muss zeigt, wie wenig nachhaltig und kurzfristig die
Sicherung der Lebensgrundlagen geplant wird. Im
Gegensatz dazu wird sowohl in Rojava als auch in
Bakur der Erhalt und (Wieder-)Aufbau von Dorfgemeinschaften unterstützt, da ein Bewusstsein für die
negativen Folgen der Verstädterung für Mensch und
11 vgl. Flach/ Ayboğa/ Knapp. „Revolution in Rojava“.
Hamburg: VSA Verlag, 2015.
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»» Kurd_innen in Deutschland
RONAHÎ #43
Kurd_innen in Deutschland – zwischen zwei Dimensionen der
Unterdrückung
» » YXK Marburg
R
assismus ist nicht immer für das normale Auge
sichtbar und taucht des Öfteren im Alltag auf,
ohne dass wir es wirklich registrieren. Denn
Rassismus ist ein tief verankertes und verschleiertes
Phänomen, das unsichtbar in den Köpfen der Menschen wandert. Als PoC/Migrant_in in Deutschland
war fast jede_r mindestens einmal Opfer eines alltagsrassistischen Angriffs. Wie stark der Rassismus
im Alltag, in Taten und Worten unterschwellig zum
Vorschein kommt und wie unterbewusst dies geschieht, ist den meisten Menschen gar nicht bewusst.
Aber wie können wir Rassismus am besten erkennen
und definieren und müssen wir das überhaupt?
Rassismus sollte keiner klaren Definition unterliegen, denn es gibt nicht den „einen“ Rassismus, von
dem Menschen betroffen sind. Die Rede ist von
Rassismen, die sich in Tat und Wort oft unterscheiden. Rassismus sollte deshalb nicht von kollektiven
Übereinstimmungen definiert werden, sondern vom
Empfinden des Individuums. Deshalb kann nur das
Individuum selbst darüber Auskunft geben, wann
und wo Rassismus beginnt. Natürlich sind wir als
Kurd_innen, die in Deutschland leben, auch betroffen von alltagsrassistischen Angriffen. Denn Rassismus beginnt nicht erst bei der Tatsache, dass wir in
der Schule oder auf dem Arbeitsplatz nach unseren
Essgewohnheiten gefragt werden. Er beginnt viel
früher und macht sich zum ersten Mal mit dem Wort
Integration bemerkbar. Wenn ich mich als Mensch
mit Migrationshintergrund in Deutschland nicht zu
Hause fühle, liegt es nicht daran, dass ich mich nicht
der deutschen Kultur öffnen möchte, sondern dass
ich mich der Welle von Integration seit meiner Geburt beugen muss. Und trotz des kläglichen Versuchs
seit der Kindheit, dem Integrationsmodell gerecht zu
werden, werden wir auf allen Ebenen benachteiligt.
Der Staat versucht durch seinen Staatsapparat passende Bürger_innen zu erschaffen, die durch die Integrationsfabrik laufen müssen, bevor sie in diesem
Land leben können. Doch wie sollen Menschen ihre
Identität und ihre Wahrheit unterdrücken, um eine
neue unästhetische Lüge anzunehmen, die von der
Kapitalistischen Moderne durch die Synthese von
Staat und Kapital geboren worden ist?
Wenn wir die deutsche Sprache nicht beherrschen,
werden wir nicht ernst genommen. Wenn wir sie
beherrschen sind die „Deutschen“ überrascht. Und
wenn Leute versuchen, etwas „Gutes“ zu tun und
nicht ausländerfeindlich zu wirken, ist es meist ein
weiteres Beispiel für Alltagsrassismus. Rassismus
stellt deshalb ein offensichtliches ein gesellschaftliches Problem dar und schränkt die gleichberechtigte Teilhabe am sozialen Leben ein. Es muss deshalb
offen über Rassismus gesprochen werden. Denn nur
viel zu oft wird dieses Thema auf den rechten Rand
der Gesellschaft geschoben. Aber die Rassismen
tragen keine Springerstiefel und Glatzen, sondern
kommen direkt aus der Mitte der Gesellschaft. Pegida und andere rechtsgesinnte Organisationen zeigen
dies klar und deutlich, indem sie mehr und mehr an
Zuwachs gewinnen. In Deutschland akklimatisiert
sich Rassismus aufgrund vorhandenen, tief verankerten rassistischen Gedankengutes. Natürlich bietet
nicht nur Deutschland einen perfekten Nährboden
für Rassismus, auch in anderen Ländern ist Rassismus ein fortlaufendes Problem. Deshalb ist die Frage
nach Rassismus nicht durch geschichtliche Abrisse
zu beantworten.
Rassismus entsteht durch Nationalstaaten und wird
stetig durch diese reproduziert. Aus diesem Grund
kennt Rassismus auch keine nationalen Grenzen und
bietet eine intersektionale Angriffsfläche auf die in
Deutschland lebenden Kurd_innen. Da Kurdistan
keine Nationalgrenzen hat, wird die kurdische Bevölkerung in den Grenzen der umliegenden Staaten
unterdrückt und massakriert. Sie werden auf ihrem
eigenen Boden in ihrer eigenen Heimat verfolgt und
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RONAHÎ #43
»» Kurd_innen in Deutschland
unterdrückt. Gleichzeitig werden die in der BRD
lebenden Kurd_innen aufgrund ihrer Migration benachteiligt und diskriminiert. Kurd_innen sind demnach in beiden Ländern nicht wirklich willkommen,
zum anderen in beiden Ländern unterdrückt. Als
Frau, als Alevitin, als Kurdin. Wir in Deutschland
lebenden Kurd_innen werden aber nicht nur von
den deutschen Mitbürger_innen diskriminiert, sondern auch von den hier lebenden Türk_innen. Denn
sowohl in der BRD als auch in der Türkei gehören
Kurd_innen nicht der Mehrheitsgesellschaft, sondern
einer Unterdrückten Identität an. Vor ein paar Jahren
noch mussten sich Kurd_innen in Deutschland als
Türk_innen vorstellen, weil deutsche Bürger_innen
noch nie etwas von Kurd_innen gehört hatten. Die
Frage und das Interesse an ethnischen Gruppen auf
der Welt ist eben nicht so spannend, wie die Frage
nach Ländergrenzen. Hierbei ist zu erkennen, dass
selbst die Mentalität der Menschen traurigerweise
nationalen Grenzen unterliegt. Amtlich werden in
Deutschland lebenden Kurd_innen nur als Kurd_innen erfasst, wenn sie angeben, im eigenen Land politisch verfolgt zu werden. Ansonsten werden sie mit
der jeweiligen Staatsangehörigkeit registriert. Doch
der Rassismus gegenüber den kurdischen Migrant_
innen ist noch viel größer. Die meisten Kurd_innen
sind aus der Heimat geflüchtet in der Hoffnung, dass
in Deutschland ein angenehmeres Leben auf sie wartet, dass sie hier ihre Sprache sprechen dürfen und
auch keiner politischen Verfolgung mehr unterliegen.
Aber die Realität sieht leider anders aus. Selbst in
Deutschland wollte kein Mensch die kurdische Realität verstehen oder sehen. Die einzige Kraft, die sich
der Realitäten Kurdistans annimmt und für die Rechte der Kurd_innen Widerstand leistet, ist die PKK.
Sie ist in Deutschland seit 1993 auf der Terrorliste
und seit 2004 stuft auch die Europäische Union die
PKK als terroristische Vereinigung ein. Somit haben
die Kurd_innen in Deutschland weder die Chance auf
einen legitimen, legalen politischen Kampf gegen die
faschistischen Staaten, die Kurdistan wie eine Kolonie besetzen, noch das Recht ihre Identität sowie
Kultur aufrecht zu erhalten. Was ist ein Gesellschaft,
ein Volk ohne ihre Kultur? Die Kultur spiegelt die
Identität jeglicher Gesellschaften und Völker wieder.
Ohne diese Kultur und ohne ihre Sprache, stirbt ein
Volk und die damit zusammenhängende schöne Vielfalt auf der Welt. Was viele nicht wissen oder wahrhaben wollen ist, dass die PKK den Kurd_innen ihre
Identität und Kultur zurück gegeben hat.
Dennoch besteht die BRD auf ihrem PKK-Verbot
und beraubt die Kurd_innen ihrer Kultur und ihres
Kampfes um ein selbstbestimmtes und befreites Leben. Der erste Satz in der deutschen Verfassung lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu
achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Doch die Würde der in Deutschland
lebenden Kurd_innen wird mit Füßen getreten aus
Rücksicht auf den NATO-Partner Türkei. Obwohl
die Weltöffentlichkeit seit Jahren positiv über Rojava
und die PYD-Strukturen berichtet, versucht die BRD
nicht das illegitime Verbot der PKK zu überdenken.
Deutschland und die Türkei verbinden außerordentlich vielfältige und intensive Beziehungen, die Jahrhunderte zurückreichen. Die gute Beziehung zwischen Türkei und Deutschland geht bis in die Zeit des
Osmanischen Reichs zurück. Die vorerst nur wirtschaftliche Beziehung, änderte sich im ersten Weltkrieg. Beide Staaten wurden zu „Waffenbrüdern“ und
pflegten vier Jahre lang auch ein militärisches Bündnis. Heute pflegen die Länder politische, kulturelle,
wissenschaftliche, menschliche und wirtschaftliche
Beziehungen. Deutschland ist der wichtigste Handelspartner der Türkei. Nicht zu verleugnen ist, dass
der Rüstungstransfer aus Deutschland direkt zu Menschenrechtsverletzungen beiträgt. Denn schon immer
waren die Zivilbevölkerung in Kurdistan oder andere
Minderheiten das Opfer der grausamen Kriegspolitik und das erfordert eine starke Militärmacht. Die
BRD, die sich eigentlich aufgrund der eigenen Geschichte von Kriegen fern halten sollte, unterstützt
mit vollem Bewusstsein die Kriegspolitik der Türkei
gegen die Minderheiten. Statt die PKK von der Terrorliste zu entfernen und Druck auf den NATO-Partner auszuüben, kriminalisiert Deutschland weiterhin
die Kurd_innen und ihre politischen Arbeiten. Von
Menschlichkeit und moralischen Werten kann man
hierbei nicht mehr sprechen. Die Handlungen oder
besser gesagt die Handlungsunfähigkeit der BRD ist
auf zweckorientierte Eigeninteressen zurückzuführen.
Die BRD versucht durch Verbotspolitik und Gewalt
die Identität und das politische Engagement einer
ganze Migrant_innengruppe zu verbieten und die
Augen vor der Realität in ihrer Heimat zu schließen.
Egal ob bei Demonstrationen, bei Veranstaltungen
oder bei Kulturfestivals, die Präsenz der Polizei ist
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»» Kurd_innen in Deutschland
erstaunlich. Wovor hat die Bundesregierung denn
Angst? Wenn man einem legitimen Kampf um Menschenrechte nicht den Rücken zuwenden würde, gäbe
es auch keine Befürchtungen und Ausschreitungen.
Nicht nur gegen Artikel 1 des Grundgesetzes wird
hierbei verstoßen auch gegen Artikel 8 (Versammlungsrecht). Immer wieder versucht man die Kurd_
innen auf diese Ausschreitungen zu reduzieren, sie in
der deutschen Gesellschaft in ein schlechtes Licht zu
rücken, um demnach weitere politische und juristische Verbote in die Wege zu leiten und sie zu rechtfertigen. Auch alle Kulturvereine von Kurd_innen
in Deutschland stehen unter Beobachtung und es
ist kein Einzelfall, wenn mal eben die Polizei hereinschneit. Selbst Bilder oder Flaggen der PKK sind
verboten. Die rassistische Haltung der BRD gegenüber den kurdischen Migrant_innen spiegelt sich in
ihren Unterdrückungsmechanismen wieder. Obwohl
die Kurd_innen in Deutschland eine der größten
Migrantengruppe darstellen, werden sie nicht einmal
als eigene Migrantengruppe anerkannt. Die kurdische Identität wird einerseits nicht anerkannt, aber
es wird rechtlich und auch politisch gegen sie vorgegangen. Diese diskriminierende, paradoxe Art ist
uns bereits von der Türkei bekannt. Das Verbot der
PKK ist rassistisch und menschenverachtend. Die in
Deutschland lebenden Kurd_innen haben nur zwei
Möglichkeiten. Entweder die Augen schließen vor
den Geschehnissen in Kurdistan und ihre Identität
aufgeben. Oder sie verteidigen ihre Identität und ihre
Heimat und nehmen die Kriminalisierung in Kauf.
RONAHÎ #43
ösen Fundamentalismus und Nationalismus vereint.
Gleichzeitig fließen hier zwei gefährliche Positionen
zusammen. Der politische Islam und der Nationalismus. Die Grauen Wölfe haben weitreichende Strukturen in Deutschland, sie sind sogar in der CDU aktiv
und versuchen in Deutschland die Politik zu ihren
Gunsten zu betreiben. Neben diesen zahlreichen Demonstrationen in den vorherigen Monaten, steigt der
Hass gegen die Kurd_innen ins Unermessliche. In
Hannover wurde ein Jugendlicher mit einem Messer
schwer verletzt und überlebte nur knapp. In Bern fuhr
ein Nationalist absichtlich in eine Gruppe kurdischer
Jugendlicher. Und das mitten in Europa. Auch medial
wird gegen Kurd_innen und gegen die PKK gehetzt.
Immer mehr Hasskommentare oder Hassnachrichten, sowie die Aufforderung für ein Massaker an den
Kurd_innen sind der Höhepunkt der Geschehnisse.
Dennoch werden keine politischen Konsequenzen
gezogen. Die Grauen Wölfe bleiben weiterhin in
Deutschland legal. Die BRD verschließt nicht nur
die Augen vor der Kriegspolitik der AKP-Regierung,
sondern trägt Mitschuld an allen Geschehnissen in
Kurdistan. Wer keinen Druck auf eine Regierung ausübt, die Zivilist_innen massakriert und den IS unterstützt, hat keine demokratischen Wertvorstellungen
und legt mehr Wert auf wirtschaftliche Bündnisse als
auf Menschenleben. Das ist nicht nur rassistisch sondern skrupellos und menschenfeindlich.
Die Grauen Wölfe jedoch werden in Deutschland toleriert und nicht politisch verfolgt. Sie können ihre
politischen Arbeiten frei und in aller Öffentlichkeit
betreiben. Auch heute genießen die Grauen Wölfe
große Sympathie in der hier lebenden türkischen Bevölkerung. Das durch die ultranationalistische MHP
und ihre Anhänger in der Türkei selbst Bücher wie
„Mein Kampf“ in die Top-10 rutschen, davon will
Deutschland nichts wissen. Nach den Wahlen in der
Türkei wurden in einer Nacht 126 HDP Büros angegriffen, dutzende Restaurants von Kurd_innen. Viele
Gebäuden von Kurd_innen wurden in Brand gesetzt.
Der Faschismus in der Türkei macht keinen Halt vor
Kindern oder Älteren. Aber nicht nur in der Türkei
finden diese grausamen Aktionen statt. Sie haben
auch wieder den Weg nach Deutschland gefunden.
Es ist ein faschistischer Mob entstanden, der religi-
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RONAHÎ #43
»» Selbstverwaltung und Selbstverteidigung
Über die Bedeutung von Selbstverwaltung und
Selbstverteidigung
» » JXK MARBURG
„Gesellschaften ohne jeglichen Selbstverteidigungsmechanismus verlieren ihre Identität, ihre
Fähigkeit zur demokratischen Entscheidungsfindung und ihren politischen Charakter.“
Abdullah Öcalan
W
ie auch eine Rose sich durch ihre Dornen
schützt, um ihre Schönheit frei entfalten
zu können, sieht es die kurdische Bewegung als selbstverständlich an, dass jede Gesellschaft
sich selbst verteidigen muss, um frei von äußeren
Zwängen ein selbstverwaltetes Leben aufbauen zu
können. Denn die wahre Schönheit einer roten Rose
verbirgt sich in ihrer Gesamtheit, in ihren Dornen sowie in ihren Blüten.
Um diese „Theorie der Rose“ zu verstehen, müssen
wir uns vor Augen führen, in welchem Verhältnis
Staat und Gesellschaft zueinander stehen.
Die kurdische Bewegung versteht den Staat und die
Gesellschaft als zwei gegensätzliche Phänomene.
Auf der einen Seite befindet sich der Staat, der sich
von der Versklavung und Isolierung der Menschen
ernährt und somit die Gesellschaft erdrückt. Auf der
anderen Seite steht die Gesellschaft, die den Staat
schon fast als naturgegeben wahrnimmt und dadurch
in ein Gefühl der Ohnmacht und Hilflosigkeit verfällt. Eine freie Gesellschaft dagegen bedeutet, dass
Menschen ein Bewusstsein für politische Partizipation entwickeln und durch genossenschaftliche,
solidarische Beziehungen die Macht des kapitalistischen und egozentrischen Welt- und Menschenbildes
durchbrechen. Leider versucht der Staat, den Menschen eine gegenteilige Mentalität aufzudrücken,
die sich durch Egoismus, Konkurrenz- und Machtkämpfe ausdrückt. Auch die Geisteswissenschaften
verteidigen teilweise Thesen, die diesen vom System
auferlegten Zustand des Egoismus als für den Menschen „natürlich“ bezeichnen. Doch Menschen können ohne ihr soziales Umfeld nicht überleben, da die
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»» Selbstverwaltung und Selbstverteidigung
Stärke des Menschen in der Kommunalität durch die
Gesellschaft besteht. Die Gesellschaft ist der Rückhalt des Individuums und jedes Individuum ist ein
Zahnrad seiner Kommune.
Der Staat dagegen führt zum Zerfall der Gesellschaft,
isoliert die Menschen voneinander und entfremdet
sie von ihrer Natur der Gemeinschaftlichkeit. Indem
der Staat immer mehr Macht ausübt, wird die Gesellschaft und damit ihre Fähigkeit zur Selbstbestimmung immer schwächer. RONAHÎ #43
möchten, obwohl die Politik unser aller Leben bestimmt. Die Gesellschaften sind sich dem System,
in dem sie leben, kaum bewusst und sehen den Staat
als unantastbare, unveränderliche Macht an. Wie der
Staat unseren freien Willen seit der Kindheit erstickt
und uns die Staatsmentalität in die Köpfe pflanzt, ist
am Besten durch die Funktionsweise des Bildungssystems in der BRD sichtbar. Wir werden in diesem
Bildungssystem auf mehreren Ebenen entmündigt.
Zum Einen sind die Inhalte nur darauf ausgerichtet,
dass wir so nützlich wie möglich für das System werden. Das wertvolle Wissen über das Leben wird komplett ausgelassen. Stattdessen lenkt uns die staatliche
Bildung in eine ganz bestimmte Richtung. Wir müssten eher von Menschenfabriken als von Bildungseinrichtungen sprechen. Diese Menschenfabriken
des Systems formen unsere Gedanken bis jede Zelle
unseres Körpers dem System verfällt und wir somit
Kader des Systems werden. Gerade Studierende sind
der Manipulation am stärksten ausgesetzt, denn Akademiker_innen wird ein schönes Leben versprochen,
mit Geld, Freiheit und Karriere. Zweitens macht das
System einen enormen psychischen Druck auf die
Menschen, der Druck, „etwas aus sich machen“ zu
müssen, viel Geld zu verdienen und dafür alles in
Kauf zu nehmen, aber bloß nicht das System zu hinterfragen und alles hinzunehmen. Und nicht zuletzt
werden uns Menschen- und Weltbilder vermittelt, die
den Staat legitimieren sollen, wie etwa die Auffassung, Menschen seien ja „von Natur aus“ egoistisch
und auf Gewalt ausgerichtet. Wenn solche Thesen
immer wieder bestärkt werden, wächst auch die Akzeptanz der Gesellschaft gegenüber dem kapitalistischen Staat. Auf allen Ebenen unseres Lebens entscheidet heute
der Staat und macht damit die Menschen, die unter
seiner Herrschaft leben müssen, zu entpolitisierten,
zweckrationalen und egoistischen Individuen. Dieser Widerspruch von Gesellschaft und Staat macht
deutlich, dass die Selbstverwaltung ein notwendige
Bedingung für Freiheit ist. Die Menschen in der kapitalistischen Moderne pflegen einen fetischistischen
Glauben an den Staat. Sie glauben, dass der Staat die
einzige Möglichkeit für ein geregeltes Miteinander
ist. Dieser Irrglauben, der auf eine 5000 Jahre alte
Tradition zurückzuführen ist, kann nur überwunden
werden, wenn Menschen sich als politisch bewusste Subjekte begreifen. Das heißt, dass sie auf ihre
eigene Stärke vertrauen und sie nutzen müssen, um
partizipieren zu können. Durch diese Entwicklung
wird Politik für jeden Menschen zum Teil des Lebens
und zu einem dauerhaften Prozess, an dem alle permanent beteiligt sind. Denn Staaten, allen voran die
modernen Nationalstaaten, grenzen jegliche Vielfalt
aus und homogenisieren die Gesellschaft. Dadurch
werden die Menschen ihrer Identität beraubt und von
ihrer Realität entfremdet. Eine staatenlose, selbstverwaltete Gesellschaft bindet somit alle ethnischen und
religiösen Gruppen und Minderheiten, sowie Men- Auch die kapitalistische Wirtschaft spielt allein
den Staaten und Unternehmen in die Hände. schen jeder geschlechtlichen Positionierung ein. Die heutige Realität in den kapitalistischen National- Stellen wir uns mal die Frage, wieviel unserer Arstaaten ist eine andere. Die Idee, dass es „im Westen“ beitskraft in die gesellschaftlichen Interessen fließt
Demokratie und Freiheit gäbe, ist ein einziger großer und wieviel unserer Arbeitskraft der Staat durch
Irrtum. Inwiefern kann ein Staat denn demokratisch kapitalistische Interessen ausbeutet. Wenn wir die
sein, wenn Menschen nur alle vier Jahre mal an Wah- Arbeitskraft näher betrachten, hat sie, wie bereits
len teilnehmen und dann in allen anderen Bereichen erwähnt, wie jede andere Ware einen Wert. Die zur
der Politik im Dunkeln gelassen werden? Der Be- Produktion benötigte Arbeitszeit bestimmt die Höhe
griff der Demokratie, der Freiheit, wie viele weitere des Wertes einer Ware. Beziehen wir das auf die
Begriffe werden hierbei vom System ihrer Wahrheit Arbeitskraft, ist es die zur Reproduktion nötige Arberaubt und durch neue falsche Definitionen ersetzt. beitszeit. Der Wert der Arbeit wird also durch die für
Die Menschen sind so stark entfremdet, dass sie mit ihre Wiederherstellung benötigten Grundbedürfnisse
politischen Prozessen nicht in Berührung kommen eines Menschen bestimmt. Doch die Kapitalist_in- 29 -
RONAHÎ #43
»» Selbstverwaltung und Selbstverteidigung
nen lassen die Arbeiter_innen nicht nur für den Wert
der Arbeit schuften, welche ihre Grundbedürfnisse
reproduziert, sondern viel länger. Denn die Kapitalist_innen wollen in dem Produktionsprozess nicht
nur eine Ware produzieren die Gebrauchswert besitzt
und einen Wert hat, sondern auch einen Mehrwert.
Die Herstellung von Produkten basiert nicht auf ihren Gebrauchswertewillen oder auf den Bedürfnissen
der Nutzer, sondern ganz allein, um bei der Produktion einen Mehrwert zu erzielen, um Profit zu schlagen. Diesen Mehrwert können die Produzent_innen
nur durch die Arbeitskraft als Ware erzielen. Gleichzeitig arbeiten die Arbeiter_innen unter der Kontrolle
der Kapitalist_innen. Den Kapitalist_innen gehören
nicht nur die produzierten Waren, sondern auch die
Arbeitskraft der Mitarbeiter_innen. Die Kapitalist_
innen kaufen die notwendigen Rohstoffe zum regulären Preis und ebenfalls wird den Arbeiter_innen ein
Lohn für ihre Reproduktion ausgezahlt. Aufgrund
dessen, dass die Arbeiter_innen länger arbeiten als
sie letzendlich ausgezahlt bekommen, schaffen sie
einen Mehrwert, der in die Tasche der Arbeitgeber_
innen fließt. Wie der Kapitalismus die Arbeitskraft
der Menschen ausbeutet, hat Marx sehr gut erkannt
und beschrieben. Jedoch kann das Problem der Ausbeutung und der Unterdrückung nicht durch die Diktatur des Proletariats gelöst werden. Denn durch die
Erhebung einer Klasse werden Klassifizierungen und
Unterdrückung nicht behoben, sondern reproduziert.
Das ist auch der Grund, warum der Realsozialismus
mehrfach gescheitert ist. Unter basisdemokratischer
Organiserung mit Berücksichtigung der Ökologie
wird auch die Ökonomie für die Gesellschaft und
nicht gegen sie arbeiten. Ökonomische Prinzipien
unter moralischen Werten und ohne staatliche Eingriffe, werden kapitalistische Eigeninteressen nach
und nach unterbinden. Denn das Problem der Klassen ist nicht seit dem Kapitalismus entstanden, sondern ist eine fortwährende Mentalität der Menschen,
die zerstört werden muss.
eigenes Bewusstsein und werden gezielt manipuliert
und beeinflusst. Dieses System, der Staat, versucht
aus allen Gegebenheiten Profit zu schlagen und uns
zu Missanthrop_innen zu formen, die ihre Selbstverwirklichung durch den Verlust ihrer Menschlichkeit
erlangen.
Für ein freies Leben müssen wir uns so gut es geht
gegen das herrschende System organisieren und eine
starke Gegenbewegung schaffen, die die Gesellschaft
in den Mittelpunkt stellt. Unsere Selbstverwaltung
und die dazu gehörende Selbstverteidigung wird den
Staat Schritt für Schritt schwächen und letztendlich
überflüssig machen. Die verbreitete Annahme, dass
wir nicht ohne Staat können, ist ein Missverständnis,
das uns das System versucht einzutrichtern und das
es zu überwinden gilt. Wir brauchen keinen Staat, der
Entscheidungen für unser Leben trifft. Wir müssen
endlich die Fähigkeit der Selbstverwaltung in uns erkennen und aktivieren. Denn die Gesellschaft selbst
weiß am allerbesten, wie sie ihr Leben gestalten will.
Das hierarchische Staatssystem kann nicht über unsere Köpfe hinweg über das Wohl der Gesellschaft
entscheiden. Deshalb macht es auch wenig Sinn, die
Lösung in einer „linken Regierung“ zu suchen. Die
Regierung sind nicht rein zufällig alle autoritär, sondern es ist eine wesentliche Eigenschaft von Staaten
an sich, autoritär zu sein. Ein Staat mit einem sozialistischen und demokratischen Anspruch ist schlicht
und einfach paradox, unsinnig und unmöglich. George Orwells Roman „Animal Farm“ stellt sehr bildlich das Scheitern des Realsozialismus dar, in dem
er schreibt, wie die herrschenden Menschen durch
genauso autoritäre Schweine ersetzt werden, die
durch die Organisierung und Instrumentalisierung
aller Tiere an die Macht kommen, doch letzten Endes dieselbe Versklavung fortführen. Aus diesen Entwicklungen können wir viel lernen und die Bedeutung von Selbstverwaltung noch besser verstehen.
Die Machtzentralisierung darf nicht einfach nur verlagert werden, sondern muss in der Hand der Basis
Die Kapitalistische Wirtschaft, beutet nicht nur die liegen. Das ist der Fehler vieler vergangener sozimenschliche Arbeitskraft aus, sondern auch alle kul- alistischer Revolutionen: sie konnten den Etatismus
turellen Bereiche. Kultur, Kunst, Sport und Musik nicht überwinden und haben die Gesellschaft nicht in
werden von ihrer eigentlichen Ästhetik entwurzelt den Revolutionsprozess eingebunden. und zu neuen systemkonformen Wirtschaftobjek- Ein Beispiel dafür, dass Selbstverwaltung tatsächten geformt. Die Kultur ist ein Teil der Identität von lich funktionieren kann, ist der Aufbau der demoGesellschaften. Dadurch, dass selbst der Kultur ihre kratischen Autonomie in Rojava, den wir seit JahRealität entzogen wird, verlieren die Menschen ihr ren beobachten können. Dort kommen alle Teile der
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»» Selbstverwaltung und Selbstverteidigung
Gesellschaft zusammen und organisieren sich Straße
für Straße, Dorf für Dorf, um ihr Leben gemeinsam
aufzubauen, sich selbst und andere zu kritisieren und
auf basisdemokratischem Weg Lösungen für Probleme zu finden. Machtergreifungen sind gar nicht erst
möglich, da die Menschen permanent am Geschehen
beteiligt sind. Es ist ein immer fortwährender Prozess, der alle Menschen einbindet. Es ist eine Revolution, die immer weitergeht, und nicht an dem Punkt
stehen bleibt, an dem „die Richtigen“ an der Macht
sind. Rojava zeigt uns, was für eine Stärke eine Gesellschaft hervorbringen kann, wenn sie sich jenseits
von Staat, Macht und Gewalt organisiert. Die starken Repressionen gegen die dortigen Selbstorganisierungen sind kein Zufall. Die Staaten ertragen
es nicht, dass Menschen sich Alternativen schaffen
und der ganzen Welt zeigen, dass es wirklich funktionieren kann. Vor diesem Hintergrund ist auch die
derzeite Lage in Kurdistan zu bewerten. Vor einigen
Wochen erklärten die Menschen in Wan (türk. Van)
als Antwort auf die Repressionnen des Staates ihre
Selbstverwaltung. Zwei Tage darauf wurden 12 Jugendliche kaltblütig vom Staat ermordet. Denn auch
der Staat ist sich darüber im Klaren, dass der Aufbau der demokratischen Autonomie auf türkischem
Boden das Ende des Staatssystems bedeuten würde.
Diese Alternative würde die Pläne des Staates zur
Machtausübung zunichtemachen. RONAHÎ #43
Gesellschaft gemeint. Das heißt eine Kraft, die von
unten wächst und ihre Stärke auch dadurch erlangt.
Wir müssen uns selbst schützen und befreien, denn
der Staat wird niemals im Interesse der Gesellschaft
handeln. Im Gegenteil hält er sich durch unsere Versklavung aufrecht. So ist auch die Wirtschaft auf einem solidarischen
Handel und einer kommunalen Zusammenarbeit aufgebaut. Die Güter werden so weit es geht in Gemeinbesitz gebracht. Alles soll derGesellschaft gehören,
denn die Gesellschaft erntet, baut und erwirtschaftet.
Warum sollten die Früchte der Gesellschaft nochmals
in die Hände von kapitalistischen Großunternehmen
fallen? Damit die Gesellschaft ihnen ihre eigenen
Produkte abkaufen muss?
Die Basisdemokratie wird in Rojava auf alle Ebenen
des Lebens übertragen: Ökonomie, Ökologie, wie
auf die Bildung und Verteidigung der Gesellschaft.
Die Bildung schlägt radikale Wege ein, indem sie alternative Akademien aufbaut. Hier spielt vor allem
die Frauenbewegung eine große Rolle. Die heutige
Wissenschaft trägt jahrtausendalte patriarchale Muster mit sich und dient nur der Aufrechterhaltung des
kapitalistischen Systems. Die Frauenbewegung versucht die Wissenschaft aus einer anti-patriarchalen
Perspektive aufzuarbeiten und die Geschichte (der
Frauen) durch Jineoloji (d.h.“Frauenwissenschaft“)
neu zu schreiben.
Das alles muss durch die Selbstverteidigung der Gesellschaft geschützt werden. Diese Form von Verteidigung ist nicht mit dem Militär eines Staates zu
vergleichen. Die Staaten versuchen durch ihr Militär bloß, ihr eigenes System und ihre eigene Macht
zu schützen. Mit Selbstverteidigung ist in der kurdischen Bewegung dagegen die Verteidigung der
- 31 -
RONAHÎ #43
»» Kapitalistische Moderne
Kapitalistische Moderne
» » YXK Berlin
D
ie Menschheitsgeschichte seit dem Neolithikum (Jungsteinzeit) ist von einschneidenden
technologischen, mentalen und gesellschaftlichen Veränderungen geprägt, die bis in unsere heutige Zeit weiterwirken. Mit der Zerstörung der ‚natürlichen Gesellschaft‘, die von einer kommunalen,
matrizentrischen und solidarischen Lebensweise in
Klans geprägt war, entstanden hierarchische Gesellschaftsformen. Durch die Entstehung der sumerischen
Herrschaft in Untermesopotamien (ca. 3000 v. Chr.)
verloren die Prinzipien der ‚natürlichen Gesellschaft‘
an Einfluss und wurden von der ersten Form einer
hierarchisch-etatistischen Gesellschaft verdrängt,
ohne jedoch ganz ausgelöscht zu werden. Seitdem
sind die allermeisten Gesellschaften von einer hierarchisch-etatistischen Logik geprägt, die verschiedene Formen fand: die Sklavenhaltergesellschaften,
feudale Gesellschaften und die heutige ‚Kapitalistische Moderne‘. Trotzdem existieren Elemente der
‚natürlichen Gesellschaft‘ in Form von Werten wie
z.B. Solidarität, engen sozialen Beziehungen und
Großzügigkeit weiter1. Um die heutigen Formen
menschlichen Zusammenlebens unter Bedingungen
der ‚Kapitalistischen Moderne‘ verstehen zu können,
müssen wir durch eine anthropologisch-historische
Perspektive die Entstehung dieses Gesellschaftssystems nachvollziehen. Nur auf der Grundlage dieser
Analyse können wir wirksame und nachhaltige Alternativen zum zerstörerischen kapitalistischen Gesellschaftssystem entwickeln.
Unsere Bewegung leistet seit knapp 40 Jahren Widerstand gegen die ‚Kapitalistische Moderne‘ und
versucht in allen Teilen Kurdistans und darüber hinaus eine Alternative zu etablieren. Wir stehen damit in der Tradition jahrtausendealter Kämpfe gegen
die Zerstörung von kommunalem, solidarischem und
hegemoniefreiem Zusammenleben durch hierarchisch-etatistische Gesellschaftssysteme, deren aktuellste Form die ‚Kapitalistische Moderne‘ darstellt.
Doch wodurch zeichnet sich das kapitalistische Ge1
Öcalan 2015
sellschaftssystem aus? Seine Basis stellen vier Säulen dar, die wir in unser Analyse der aktuellen Verhältnisse berücksichtigen müssen: das Patriarchat,
der Nationalstaat, das kapitalistische Profitsystem
und der Industrialismus2.
Patriarchat: die Etablierung der ersten Hierarchie3
Die älteste Kolonie ist die Frau. Mit der Entmachtung der Frau am Ende des Neolithikums durch die
alten Weisen, die Priester und die jungen Krieger
wurde das Grundprinzip der hegemoniefreien und
solidarischen ‚natürlichen Gesellschaft‘ zu Fall gebracht und durch das hierarchisch-etatistische Prinzip ersetzt. In der Menschheitsgeschichte entstand
somit die erste Hierarchie: Der Mann unterwarf die
Frau und setzt sie seitdem massiver Ausbeutung aus.
In der ‚Kapitalistischen Moderne‘ erreichen nicht nur
die Ausbeutungsverhältnisse im Allgemeinen, sondern insbesondere die Unterdrückung der Frau ihren
Höhepunkt. Ohne eine Analyse der Frauenunterdrückung seit der Entstehung der hierarchisch-etatistischen Gesellschaften können wir dementsprechend
die ‚Kapitalistische Moderne‘ nicht verstehen. Alle
Ausbeutungsverhältnisse können nur vor dem Hintergrund dieser ersten Hierarchie verstanden werden.
In der ‚Kapitalistischen Moderne‘ hat sich die Unterdrückung der Frau qualitativ verändert. Sie wird stark
sexualisiert und auf reine Äußerlichkeiten reduziert.
Ihr Körper wird dabei wie eine Ware behandelt, die
z.B. in Form von Brautgeld gehandelt werden kann.
Zugleich wird jedes ihrer Körperteile mit einem eigenen Wert versehen und einem Schönheitsideal unterworfen. Moral, Intellekt oder Verstand treten bei
der Wahrnehmung der Frau durch die Gesellschaft
in den Hintergrund. Tätigkeiten, die traditionell mit
der Rolle der Frau assoziiert sind, werden als mehr
oder weniger wertlos behandelt. Die Geburt eines
Kindes und dessen Erziehung werden nicht entspre2
3
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Petersen, S. 30.
Dieser Abschnitt basiert vor allem auf: Öcalan 2015.
»» Kapitalistische Moderne
chend ihres essentiellen Werts für die Gesellschaft
anerkannt. Zugleich wird die Frau auf Tätigkeiten im
Haushalt beschränkt und ist in wichtigen wirtschaftlichen, sozialen, politischen und militärischen Gremien nur geringfügig repräsentiert. Die Familie in
ihrer derzeitigen Form stellt die Keimzelle der hierarchisch-etatistischen Gesellschaft dar und unterliegt
zugleich dem größten gesellschaftlichen Druck. In
ihr werden hierarchische Prinzipien wie die Unterdrückung der Frau oder der Jugend durch das herrschende männliche Familienoberhaupt reproduziert.
Der Nationalstaat: abstrakte Macht statt mächtige Könige4
Als Folge der Auseinandersetzungen zwischen der
katholischen Kirche und den königlichen Regimen
auf der einen Seite und den nationalen Bewegungen
(englische Revolution 1640, amerikanische 1776 und
französische 1789) auf der anderen, etablierten sich
seit dem 18. Jahrhundert Nationalstaaten. Diese aufständischen Volksbewegungen wurden erfolgreich
von einer kleinen gesellschaftlichen Gruppe, dem
Bürgertum, instrumentalisiert, um eigene ideologische, politische und ökonomische Ziele umzusetzen.
Das Hauptinteresse des Bürgertums war die Etablierung und Festigung der kapitalistischen Kapitalakkumulation, mit deren Hilfe sie die Macht der alten
Eliten in Frage stellen konnte. Den Nationalismus
benutzte das Bürgertum dabei erfolgreich, um Staat
und Volk für ihre eigenen Ziele zu gewinnen und
seitdem aufrecht zu erhalten. Dabei ging es weniger
um heilige Vaterländer, als um die Abgrenzung und
Sicherung geographischer Kapitalakkumulationsbereiche, die durch eine gemeinsame Sprache und
Tradition zusammengehalten werden konnten. Die
Zugehörigkeit zu einer Nation ersetzte die schwächer gewordenen Bindungen durch Stammeszugehörigkeit, Ethnie oder Religion. In zugespitzter Form
führte diese Entwicklung zur Ideologie des Nationalismus mit seiner Vorstellung von „Herrenrassen“
und den darauf basierenden nationalen Gewaltorgien
des 20. Jahrhunderts. Insbesondere die beiden Weltkriege zeigen, wie stark die nationalstaatliche Logik
nachhaltigem menschlichem Zusammenleben widerspricht und insofern Ausdruck einer generellen Krise
der ‚Kapitalistischen Moderne‘ ist.
Der Nationalstaat stellt eine Fortsetzung der etatis4
Dieser Abschnitt basiert vor allem auf: Öcalan 2015.
RONAHÎ #43
tisch-hierarchischen Systeme seit der Entstehung
sumerischer Stadtstaaten dar und bedeutet zugleich
deutliche qualitative Veränderungen. Die Macht einer Person, z.B. eines Königs, wird ersetzt durch die
Macht unpersönlicher, abstrakter Institutionen. Politische Parteien, Armeen oder Bildungseinrichtungen
stellen die Grundlage nationalstaatlicher Machtausübung dar und vermitteln den unterdrückten Menschen zugleich den Eindruck, Teilhabe an der Macht
zu haben. Parteifunktionäre, Offiziere, Lehrer oder
Familienväter üben ihrem begrenzten Rahmen Macht
aus, ohne jedoch die Macht nationaler Eliten in Frage
stellen zu können. Parteipolitik und Parlamentarismus erwecken den Anschein, verschiedene gesellschaftliche Gruppen wären Teil des Staates und könnten ihn in ihrem Sinne beeinflussen. Dies verschleiert
die massive Zentralisierung von Macht im Nationalstaat und die damit einhergehende Schwächung der
Gesellschaft5. Durch die starke Verschränkung von
Staat und Wirtschaft können Einzelne zudem durch
ökonomischen Druck wirksam kontrolliert werden.
Das kapitalistische Profitsystem: maximale Ausbeutung durch Individualisierung6
In der ‚natürlichen Gesellschaft‘ waren Gemeinschaftseigentum und Teilen von Besitz maßgebliche
Garanten für den gemeinschaftlichen Zusammenhalt
Durch das hierarchisch-etatistische Gesellschaftssystem wurden Privateigentum und Akkumulation von
Besitz durchgesetzt, um die Organisierung der Gemeinschaft um das solidarische und matrizentrisch
geprägte Zentrum herum zu durchbrechen. Diese
Entwicklung wurde in der ‚Kapitalistischen Moderne‘ durch das Bürgertum auf die Spitze getrieben,
indem Individualismus und analytische Intelligenz
in noch nicht gesehenem Ausmaß gegen den moralisch-ethischen Zusammenhalt der Gesellschaft eingesetzt wurden. Die Ausbeutung aller Gesellschaftsgruppen basiert auf der radikalen Zerstörung der
moralisch-ethischen Basis der Gesellschaft. Ohne
diese zerfällt die Gesellschaft in ihre Einzelteile, die
Individuen, und wird somit maximal angreifbar bzw.
ausbeutbar. In der ‚natürlichen Gesellschaft‘ wurden
die Akkumulation von Besitz und die individuelle
Verwaltung dessen als Gefahr für den Zusammenhalt
der Gemeinschaft erkannt, abgelehnt und stattdessen
eine Geschenk- und Tauschökonomie gelebt. An die
5
6
- 33 -
Öcalan 2003
Dieser Abschnitt basiert vor allem auf: Öcalan 2015.
RONAHÎ #43
»» Kapitalistische Moderne
Stelle gemeinschaftlichen Zusammenhalts tritt in der
‚Kapitalistischen Moderne‘ die individuelle Akkumulation von Besitz. Auf der kapitalistischen Akkumulation von Besitz basierte die Machtstellung des
Bürgertums, das deshalb wiederum das Prinzip der
privaten Akkumulation unterstützte. Das Bürgertum
als Antreiberin der ‚Kapitalistischen Moderne‘ setzte
sich durch die Prinzipien der Akkumulation und des
Profits gegen alte Machteliten durch. Die Grundtendenzen der Akkumulation und Monopolisierung sind
schon in der Entwicklung des ersten hierarchisch-etatistischen Systems der Sumerer zu erkennen, erreichen aber in der ‚Kapitalistischen Moderne‘ ihren
Höhepunkt. Konsequenz dieser Entwicklung ist die
maximale Ausbeutung von Mensch und Natur, die
mittlerweile in Form von Krieg, Naturzerstörung und
konfliktträchtiger sozialer Ausgrenzung selbst der
‚Kapitalistischen Moderne‘ die Grundlage zu entziehen droht.
und zum anderen durch die Fusion von Wissenschaft
und Technik. Als Ergebnis dieser Entwicklungen
sieht sich die Menschheit weniger mit Problemen der
Produktion, als des Konsums konfrontiert. Überproduktion wird zu einem bedeutenden Problem. Zudem
werden durch die industrielle Produktion neue Produktionsquellen gewonnen, die allerdings durch den
alleinigen Fokus auf Profit im Interesse einer kleinen
Elite nicht in den Dienst der Menschen gestellt werden.
Auf der Grundlage der Analyse und Kritik von Patriarchat, dem Nationalstaat, des kapitalistischen
Profitsystems und des Industrialismus können wir
uns über notwendige Alternativen klar werden. Die
kurdische Freiheitsbewegung unter Führung von Abdullah Öcalan hat mit dem ‚Demokratischen Konföderalismus‘ eine starke und konkrete Vorstellung von
einer basisdemokratischen, frauenbefreiten und ökologischen Gesellschaft entwickelt. Um zu sehen, dass
Industrialismus: die Fabrik als höchste Stufe der sich dieser Vorschlag in der Praxis bewährt und wo
es einer Weiterentwicklung bedarf, genügt ein Blick
Produktivität7
nach Rojava oder Nordkurdistan (Osttürkei).
Anhand der materiellen Produktionsbedingungen
und der darauf basierenden Besitzverhältnisse lassen Literatur
sich Gesellschaftsformen voneinander unterschei−− Öcalan, Abdullah. Gilgameschs Erben. Von Suden und in ihren jeweiligen Merkmalen beschreiben.
mer zur demokratischen Zivilisation. Band 1.
Während des Paläolithikums war der unbearbeitete
Bremen: Atlantik Verlag, 2003.
Stein die zentrale Technik und das Jagen und Sammeln die zentralen Methoden zur Sicherung der le- −− Öcalan, Abdullah. Verteidigungsschriften. Jenseits von Staat, Macht und Gewalt. Köln: Mezobensnotwendigen Grundlagen der Gemeinschaft. Im
potamien Verlag, 2015.
Neolithikum (Jungsteinzeit) traten der bearbeitete
Stein sowie Ackerbau und Viehzucht an deren Stelle. −− Öcalan, Abdullah. Die Revolution der Frau. Internationale Initiative „Freiheit für Abdullah Öcalan
Das Sklavenhaltersystem war von der Verarbeitung
– Frieden in Kurdistan“, 2014.
von Bronze und der rücksichtslosen Ausbeutung des
menschlichen (Sklaven-)Körpers für den Produk- −− Petersen, Ulf. „Die Rojava-Revolution zwischen
kurdischer Selbstbestimmng und sozialer Utotionsprozess geprägt. In der feudalen Gesellschaft
pie.“ Kampf um Kobane. Kampf um die Zukunft
spielt die Eisenverarbeitung eine zentrale Rolle, die
des nahen Ostens. Küpeli, Ismail (Hrsg). Münszudem ermöglicht, mithilfe des Eisenpflugs immer
ter: edition assemblage, 2015. 27-37.
größere Landstriche der Produktion zuzuführen.
In der ‚Kapitalistischen Moderne‘ treten Land und
Mensch hinter die maschinelle Produktion in der Fabrik zurück, was zu einer massiven Produktionssteigerung führt. Anstelle der handwerklichen Produktion in Werkstätten, die seit dem späten Neolithikum
besteht, tritt die Maschine in der Fabrik. Ermöglicht
wird diese industrielle Produktionsweise zum einen durch den technischen Fortschritt in Form von
Dampfmaschine, Lokomotive und später Elektrizität
7
Dieser Abschnitt basiert vor allem auf: Öcalan 2003.
- 34 -
»» Demokratischer Konförderalismus
RONAHÎ #43
Demokratischer Konföderalismus
» » YXK Bochum
D
er demokratische Konföderalismus ist ein
Gesellschaftsmodell, das auf der regionalen
Selbstverwaltung der Völker basiert. Im Gegensatz zum allgegenwärtigen Nationalstaat, welcher
auf der Zentralisierung von Macht und Bürokratie
aufbaut, basiert die demokratische Selbstverwaltung
auf dem Zusammentreffen aller Völker in Räten,
z.B. auf Ebene der Kommune oder weiter gefasster
Gebiete. Ziel ist es, die gesamte Gesellschaft in das
politische Leben zu integrieren und durch ständige
demokratische Aushandlungsprozesse Politik zum
alltäglichen Bestandteil des Lebens werden zu lassen.
Alle gesellschaftlichen Gruppen sollen die Möglichkeit haben, ihre verschiedenen Ansichten einzubringen, zur Diskussion zu stellen und zur Umsetzung zu
bringen. Dieses Demokratieverständnis eröffnet den
politischen Raum für alle Gesellschaftsgruppen und
berücksichtigt die Bildung verschiedener und vielfältiger politischer Identitäten. Folglich wird die Politik
zum Bestandteil des alltäglichen Lebens, da die gesamte Bevölkerung bei den Entscheidungsprozessen
ihre Bedürfnisse zum Ausdruck bringen kann. Dieses
Gesellschaftsmodell sollte sich nicht nur auf die lo-
kale Ebene beschränken, sondern auch auf die Ebene von Stadtteil- bzw. Dorfräten und Regionalräten.
Ähnliche Ansätze lassen sich in europäischen Ländern wie zum Beispiel Deutschland und Österreich
finden. Beispiel hierfür sind die vom deutschen Parlament unabhängig abgehaltenen Landtagswahlen der
16 Bundesländer. Jedoch werden die Wünsche und
Erwartungen der Bevölkerung durch dieses regionale Wahlsystem nicht ausreichend berücksichtigt. Die
Wahlen aller Bundesländer werden alle vier Jahre abgehalten. Das hieraus entstehende Problem resultiert
aus der mangelnden Einbindung der Wahlberechtigten während der Legislaturperiode. Dies hat sowohl
eine schädliche als auch behindernde Auswirkung auf
die politische Dynamik der Bevölkerung. Daher bietet der demokratische Konföderalismus Alternativen
an: Die Kommunen organisieren sich in Räten und
dazugehörigen Kommissionen. Sie wählen ihre Vertreter_innen selbst und legen inhaltlich ihre eigenen
Schwerpunkte. Im Gegensatz zum Modell in Europa
bietet dieses System in Rojava mehr Flexibilität und
geht noch mehr auf die Bedürfnisse und Erwartungen der sich selbst organisierenden Gesellschaft ein.
Durch die auf das Volk übertragene Verantwortung
steigt die Ernsthaftigkeit bei Entscheidungsfindungen.
Das Modell in Rojava unterscheidet sich ganz klar
vom Prinzip des Nationalstaats. Dadurch ergibt sich
die Chance, die staatliche Militarisierung durch die
Selbstverteidigung zurück zu drängen.
Nationalstaaten sind letztlich Produkte der Kriegsführung nach innen und nach außen. Daher ist die
Selbstverteidigung ein Werkzeug für die Völker,
um ihre Identitäten, ihre Fähigkeiten zur demokratischen Selbstentscheidungsfindung und ihren politischen Charakter zu wahren. Daran anlehnend ist die
Selbstverteidigung einer Gesellschaft nicht nur auf
militärischer Ebene zu sehen, sondern umfasst auch
die Schaffung eines politischen Bewusstseins und die
Wahrung der kulturellen Identität.
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RONAHÎ #43
»» Demokratische Autonomie - Falsche Annäherungen
Falsche Annäherungen an die Demokratische Autonomie
» » Die Abdullah-Öcalan-Akademie der Sozialwissenschaften
D
ie Lehre, die die Kurd*innen aus dem allen
Völkern im 19. und 20. Jahrhundert zugestandenen Selbstbestimmungsrecht gezogen
haben, und ihre Antwort darauf ist die „Demokratische Autonomie“. Fraglich ist jedoch, inwieweit
diese „Demokratische Autonomie“ ihrem Inhalt und
Sinn entsprechend richtig diskutiert wird. Für die
Einen ist unklar, woher sie kommt, und sie ist unpassend, für manche ist sie die Vorstufe eines unabhängigen, vereinten und demokratischen Kurdistan
(als Staat), obwohl man sich von diesem Gedanken
bereits verabschiedet hatte, für Andere geht es um einen Staat innerhalb eines Staates ... Wenn das alles
nicht der Wahrheit entspricht, drängt sich die Frage
auf, was es dann mit der viel diskutierten Wahrheit
der Demokratischen Autonomie auf sich hat. Wenn
man sich der Thematik mit verschiedenen Versionen
von importierten Theorien annähert, wird klar, dass
die Demokratische Autonomie, von der unser Vorsit-
zender spricht, nicht richtig verstanden wird. Anstatt
sie bei denjenigen, die sie in die Diskussion gebracht
haben, zu erfragen und zu verstehen, wird eine Bewertung anhand anderer Quellen vorgenommen.
Wir müssen sofort anmerken, dass die Demokratische
Autonomie an die Perspektive „Staat + Demokratie“
angelehnt ist. Die Autonomie spielt bei dieser Formel
die Rolle des Pluszeichens. Das heißt, dass die Autonomie eigentlich die Rolle einer juristischen Brücke zwischen Staat und demokratischer Gesellschaft
spielt. Deswegen sprechen wir von einer Formel mit
drei Komponenten: „Staat“, „Autonomie“ und „Demokratie“. Um diese Begriffe gibt es Diskussionen,
in denen ernsthafte Fehler gemacht werden, die wiederum zu einem falschen Verständnis führen.
Aktuell hat der Diskurs um Demokratische Autonomie dem türkischen Staat und der kurdischen
Gesellschaft einen neuen Charakter verliehen. Die
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»» Demokratische Autonomie - Falsche Annäherungen
Demokratische Autonomie erfordert ihrer Definition entsprechend, im Besonderen für das kurdische
Volk, im Allgemeinen für die gesamte Gesellschaft,
die Anerkennung durch den Staat. Allerdings erkennt
der türkische Staat die Kurd*innen als Volk und Gesellschaft, die ihre Belange selber bestimmen können, noch immer nicht an. Vielmehr wird dem kurdischen Volk ein vielseitiger Genozid aufgezwungen.
Deswegen ist zum jetzigen Zeitpunkt aufgrund des
zu Newroz 2005 verkündeten „Demokratischen Konföderalismus“ und der „Demokratischen Autonomie“
dem Staat, auch wenn er diese nicht anerkennt, eine
greifbare Verwaltung gegenübergestellt. Deshalb
kann von zwei Ausrichtungen der Demokratischen
Autonomie gesprochen werden. Zum einen wird
das Verhältnis zum Staat geregelt. Das ist gleichbedeutend mit dem Pluszeichen in der Formel „Staat
+ Demokratie“. Die zweite Ausrichtung beschränkt
sich nicht auf das Verhältnis zum Staat oder einzufordernde Rechte, sondern betrachtet darüber hinaus
den Aspekt der außerstaatlichen Organisierung, mit
der beabsichtigt wird, den Staat für das Leben der
Gesellschaft unnötig zu machen. Diese zweite Ausrichtung bringt die Demokratische Autonomie mit
dem Demokratischen Konföderalismus inhaltlich zusammen. Dies folgt nicht aus der Gleichheit beider
Begriffe. Es handelt sich vielmehr um ein praktisches
Erfordernis, das damit zusammenhängt, dass sich der
bestehende koloniale Staat einer Beziehung mit der
Demokratischen Autonomie nicht annähert.
Falsche Annäherungen an die Demokratische Autonomie:
1. Annäherungen, welche die Demokratische Autonomie auf eine Ethnie, eine Kultur oder ein Phänomen innerhalb des Volkes oder der Gesellschaft
stützen
Die Demokratische Autonomie bezieht sich nicht
auf eine bestimmte Erscheinung in der Gesellschaft,
sondern umfasst sie im Gesamten. In diesem Zusammenhang ist Gesellschaft so zu verstehen, dass damit alle außerstaatlichen Gruppen gemeint sind. Es
sind die Teile der Gesellschaft gemeint, die außerhalb
des Staatsapparats, der Herrscher*innen und Machthaber*innen stehen. Unser Vorsitzender hatte diese
Kreise zum besseren Verständnis „Untergesellschaft“
oder „Volk“ genannt, während die etatistischen Kreise als „Obergesellschaft“ bezeichnet wurden. Der
hier verwendete Begriff „Volk“ meint keine Gesell-
RONAHÎ #43
schaftsform, sondern behandelt die Außerstaatlichkeit. Die Demokratische Autonomie ist eben das System dieser Untergesellschaft.
Demokratische Autonomie ist an die vielfältige
Struktur der Gesellschaft angelehnt
Die Theorie, aus der die Demokratische Autonomie
herrührt, basiert nicht auf einer gespaltenen Gesellschaft, weil jede Art der Spaltung als ein Resultat des
hierarchisch-etatistischen Systems gewertet wird.
Während zum einen diese Spaltung als Schwächung
der Gesellschaft gilt, wird zum anderen die Verwaltung der unendlich vielen Stücke durch die Herrschaft
als Legitimation für den Staat betrachtet. Die Demokratische Autonomie basiert auf einem Verständnis,
das die Gesellschaft als organisch bzw. lebendig
sieht. Nach diesem Verständnis ist die Gesellschaft
gesamtheitlich und bietet all ihren Mitgliedern mit
ihrem eigenen Wesen und Potenzial die Möglichkeit,
darin ihren Platz einzunehmen. Die Gesamtheit der
Gesellschaft ersteht aus ihrem moralisch-politischen
Charakter. Deswegen wird das Moralisch-politische
als gesellschaftliche Natur oder die Natur der Gesellschaft, also als ihr Wesen definiert. Die Gesellschaft
lässt sich als die Einheit der Verschiedenheiten definieren, die für- und miteinander Dasein möglich
macht. In der Wahrnehmung der Gesellschaft gibt es
Farben, Töne, Vielfalt, die als funktionstüchtige Bestandteile eines Organismus ihre Gesamtheit bilden.
Diese Theorie akzeptiert weder in der Natur noch in
der Gesellschaft einen Monismus. Monismus wird
als Sterben begriffen oder etwas zu vernichten. Daher wird die Demokratische Autonomie als System
entsprechend dieser allgemeinen Wahrnehmung der
Gesellschaft gesehen. Dadurch, dass die Demokratische Autonomie innerhalb der Gesellschaft nicht
differenziert (z. B. in Kurd*innen oder Türk*innen,
Alevit*innen oder Sunnit*innen, Frauen oder Männer, Mehrheit oder Minderheit ...), stützt sie sich
nicht auf bestimmte Teile. Ohnehin wird jede Art der
Spaltung der Gesellschaft als Entfernung von ihrem
gesamtheitlichen Wesen angesehen und dient nur
dem sich stärkenden Staat, der die gespaltenen Teile
beherrscht.
Demokratische Autonomie hat einen universellen
Charakter
Weil die Demokratische Autonomie das System der
Gesellschaft darstellt, das in strukturellem Wider-
- 37 -
RONAHÎ #43
»» Demokratische Autonomie - Falsche Annäherungen
spruch zum Staat steht und am meisten die Gesellschaft stärkt, umfasst sie die gesamte Gesellschaft.
In der etatistischen Epoche, in der wir heute leben,
ist aufgrund der Umzingelung der Gesellschaft durch
Macht und Staat in jedem Lebensbereich die Demokratische Autonomie so angelegt, dass sie die Gesellschaft stärkt, und kann daher auch kein System
mit regionalen Grenzen sein. Die Demokratische Autonomie ist universell, weil sie ein System ist, das
überall die Gesellschaft gegenüber dem Staat stärken
will. Unabhängig davon, ob sich aus Sicht der Völker ein Problem mit Sprache, Kultur oder Identität
stellt, gibt es überall dort, wo die Dualität von Staat
und Gesellschaft besteht, einen Bedarf an Demokratischer Autonomie. Das kurdische Volk ist gegenwärtig nicht das einzige, das die Demokratischen Autonomie braucht.
2. Annäherungen, welche die Demokratische
Autonomie als „Zentralstaat + lokaler Staat“ betrachten
Wahrscheinlich entstehen unter diesem Aspekt am
häufigsten fehlerhafte Annäherungen an die kurdische Frage und die Demokratische Autonomie. Demnach würde Demokratische Autonomie „einen Staat
für jede Nation“ bedeuten, der einen ersten Schritt
für die Vorstellung von einem „unabhängigen, vereinten, demokratischen Kurdistan“ darstelle und dies
vorbereite. Aufgrund dessen wird die Demokratische
Autonomie als taktisches Manöver beurteilt und daraufhin vehement abgelehnt und behauptet, die PKK
tarne sich damit. Werden bewusste Angriffe der Feinde dieser Gesellschaft auch außer Acht gelassen, ist
es dennoch erschreckend, dass sich selbst diejenigen
in dieser Art äußern, die sich als „sozialistisch“ oder/
Deshalb beabsichtigt die Demokratische Autonomie und „Demokrat*innen“ bezeichnen. Das ist ein einfür alle Völker der Türkei, die Türk*innen einge- deutiges Indiz für die tiefe Ignoranz gegenüber der
schlossen, die gesamte Gesellschaft zu organisieren. PKK.
Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat ist sogar Die Demokratische Autonomie ist Produkt einer
in europäischen Ländern, in denen derartige Proble- Theorie, die eine Lösung außerhalb des Staates
me bereits überwiegend überwunden sind, notwen- sucht
dig, um die Nachfrage der Gesellschaft zu stärken, Abgesehen davon widerspricht die Anschuldigung,
umzusetzen. Deshalb gibt es überall dort, wo Staaten die PKK bereite sich mit der Demokratischen Auexistieren, um der Verteidigung und der Verwirk- tonomie darauf vor, einen „unabhängigen und verlichung der Gesellschaft Rechnung zu tragen, die einten“ Staat auszurufen, dem Geschichts- und LeDemokratische Autonomie bzw. sollte es sie geben. bensverständnis sowie der Demokratielehre der
Weil Demokratische Autonomie bedeutet, dass die Demokratischen Autonomie. Unsere Lesart von
Gesellschaft vom Staat einfordert, mit all ihren viel- Geschichte sowie die Systemkrise, in der die hierseitigen Komponenten anerkannt zu werden. Nach- archische Staatsform steckt, zeigen uns deutlich auf,
dem der Staat die Gesellschaft anerkannt hat, obliegt dass eine staatliche Organisierung oder die Lösung
es dieser Gesellschaft selbst, wie sie ihr System mit gesellschaftlicher Probleme auf staatlichem Wege
welcher Gesinnung organisiert und auf welche Weise nicht möglich ist. Im Gegenteil ist der als Resultat
sie leben möchte. Es mag sein, dass die Demokrati- von Macht und Hegemonie entstandene Staat Ursasche Autonomie durch das kurdische Volk bzw. mit che und Quelle aller gesellschaftlichen Probleme.
ihm auf die Tagesordnung gekommen ist, das bedeu- Ohne diese Quelle auszutrocknen und sich von dietet jedoch nicht, dass sie nur für die Kurd*innen gilt. sem Geist, diesen Institutionen und Systemen zu beGenauso wie sie auch für andere Völker geeignet ist, freien, ist die dauerhafte Lösung gesellschaftlicher
umfasst sie darüber hinaus alle Gegebenheiten der Probleme nicht möglich. Aus dieser Perspektive ist
pluralistischen Gesellschaft. Indem sie alle Gruppen der Staat die Wurzel allen Übels. Von daher ist es aus
und Kreise in der Gesellschaft gegen den Staat stärkt, Sicht derjenigen, die die Lösung gesellschaftlicher
bietet sie die Möglichkeit, dass jede*r mit ihrer oder Belange anvisieren, undenkbar, nach dem Geist und
seiner Farbe im Rahmen demokratisch-kommunaler Körper eines Konstrukts zu streben, das alle ProbleWerte am Leben partizipieren kann. Daher ist die me verursacht.
Demokratische Autonomie ein System der gesamten
Gesellschaft mit all ihren Komponenten, die es auch Die PKK hat dieses Thema mit ihrem Paradigmenwechsel von ihrer Agenda gestrichen. Ihrem Paradigals ihres begreifen sollten.
ma gemäß wird das hierarchisch-etatistische System
- 38 -
»» Demokratische Autonomie - Falsche Annäherungen
mit all seinen Versionen, die zentralistische Zivilisation selbst, nicht als gesellschaftlicher Fortschritt in
der Geschichte verstanden, sondern als Rückschritt.
Im Zentrum der Tatsache, dass die Völker und insgesamt die Gesellschaftlichkeit derart geschwächt wurden und sich in einer sich selbst nicht genügenden
Position befinden, werden die systematischen Spaltungsoperationen des Staates gegen die Gesellschaft
realisiert. Die am konstantesten ausführbare und strategische Arbeit des Staates ist der systematische Versuch der Spaltung der Gesellschaft.
Gespaltene Gesellschaften, die ihre Ganzheitlichkeit
verloren haben und keine organische Einheit mehr
bilden, sind schwache Gesellschaften. In einem solchen Fall ist die Einheit der Vielfalt der Gesellschaft
zerstört und ihre Kräfte fließen nicht zusammen. Auf
diese Weise wird eine Gesellschaft geschaffen, die
sich selbst nicht genügt und wie eine Herde gelenkt
wird.
Von daher sind am gegebenen Punkt Staatsaufbau
oder Partnerschaft mit dem Staat, Machtteilung oder
Staatswerdung aus Sicht der PKK und ihrer ideologischen Linie nicht nur gegen die eigenen Absichten
gerichtet, sondern furchtbare Tatsachen, gegen die
ein erbitterter Kampf geführt werden muss. Die PKK
wird nicht stärker, je staatlicher sie wird, sondern
umgekehrt wird sie erfolgreicher, wenn sie von innen
und außen ihren Kampf gegen den Staat verstärkt.
Darum verteidigt sie die Ansicht, dass der einzige
Weg zum wahrhaften Menschsein über die völlige
Loslösung vom hierarchisch-etatistischen System
führt. Sie setzt ihre gesamte Energie für den Kampf
ein, um sich im Allgemeinen vom staatsfixierten, im
Besonderen vom modernen kapitalistischen Leben
zu lösen.
Indem die PKK diese vollständige Loslösung als
„dritte Geburt“ definiert, lädt sie alle Menschen ein,
wahrhafte Menschen zu werden. Währenddessen
sind die Behauptungen, die PKK wolle einen Staat
gründen oder die Demokratische Autonomie bilde
eine Grundlage für den Staat, mit der Realität unvereinbar. Für die PKK sind es einzig Erfolgskriterien,
für die Revolution aktiv zu sein, entsprechend der
gesellschaftlichen Natur mit den sogenannten moralisch-politischen Werten in Einklang zu leben und
diesen Werten weitere hinzuzufügen. Der Weg dahin
führt dazu, von außerhalb des Staates gegen ihn und
all seine Versionen einen Kampf zu führen.
RONAHÎ #43
3. Ein damit zusammenhängender weiterer Irrtum und eine entsprechende Annäherung besagen,
dass die Demokratische Autonomie mit Grenzen
spiele und gegen die einheitliche Beschaffenheit
des Staates sei
Unterschiede zwischen einheitlichem und Nationalstaat
Grundlage für die Ansätze, welche die Demokratische Autonomie als ein Projekt darzustellen versuchen, das die unitäre Struktur (Einheit) des Staates
aufheben will, ist neben den falschen Kenntnissen
über sie auch die Tatsache, dass der Unterschied
zwischen unitärem/einheitlichem und Nationalstaat
nicht bekannt ist und diese beiden oft vertauscht werden. Im allgemeinen Bewusstsein hat sich das Urteil
verankert, bei beiden Formen handele es sich um dieselbe. Ihre Grundeigenschaften haben hier eine große
Rolle gespielt. Dabei muss gesagt werden, dass beide Modelle zur Beschreibung zweier verschiedener
Dimensionen von Staat benutzt werden. Wir können
ihre grundlegendsten Unterschiede so formulieren:
Während der Nationalstaat einen Wandel der Seele des Staates, seiner Philosophie, seiner Mentalität
und Ideologie zu Zeiten der kapitalistischen Moderne zum Ausdruck bringt, wird unter dem einheitlichen Staat die Organisierungsform oder -methode
des Staates verstanden. Ersteres beschreibt also das
Wesen des Staates, während Letzteres dessen Form
betrifft. Folglich muss der Nationalstaat nicht in seiner Form dem einheitlichen Staat ähneln, genauso
wie im einheitlichen Staat die Nationalstaatsmentalität überwunden und sich demokratischen Standards
angenähert werden kann (siehe Frankreich).
Der einheitliche Staat ist eine Staatsform, die ihre
Hegemonie konstitutionell nicht mit der Bezirks- und
Regionaladministration teilt, sondern die Leitung/
Verwaltung auf eine zentrale Autorität konzentriert.
In diesem Zentrum entstehen Verfassung und Gesetze, die in allen Teilen des Landes angewendet werden.
Diese Facette, die mit der einheitlichen Eigenschaft
eines Staates zu tun hat, musste von den meisten uns
heute bekannten einheitlichen Staaten überwunden
werden. Diese Eigenschaft konnte noch bis zur Mitte
des 20. Jahrhunderts weitergeführt werden. Obwohl
Großbritannien beispielsweise ein einheitlicher Staat
ist, haben Schottland, Wales und Nordirland ihre eigenen Rechte, Parlamente und Regierungen. Dasselbe gilt auch für Spanien und Frankreich. Also ist die
- 39 -
RONAHÎ #43
»» Demokratische Autonomie - Falsche Annäherungen
„Einheit“ des Staates kein Hindernis für seine Demokratisierung. Wenn von einer Demokratisierung des
Staates die Rede ist, geht es genau genommen darum, dass er dem Volk gegenüber sensibel wird. Diese
Staatsform kann dabei eine hilfreiche Rolle spielen.
Von daher kann die Demokratische Autonomie mit
den nötigen Regelungen trotz der „einheitlichen“
Form des Staates ohne Probleme angewendet werden (siehe die oben genannten Beispiele), was auf
der anderen Seite jedoch verlangt, dass alles nationalistische Gedankengut des Staates von dominanter/
hegemonialer „Nation“, das die außerhalb seiner hegemonialen Gesinnung stehenden Volksgruppen und
Minderheiten unter der „Nationalstaatslogik“ zu verschmelzen versucht, unbedingt überwunden werden
muss. Also befindet sich der Nationalstaat mit seinen
assimilierenden, einfarbigen, verharrenden, unterdrückenden, rassistischen und verleugnenden Eigenschaften permanent in Widerspruch und Konflikt.
Unser Vorsitzender Apo schildert das so:
„So wie oftmals vorgekommen, können die Kräfte
der Zivilisation und Demokratie genau so wie die
Kräfte der Kapitalistischen und Demokratischen Moderne auf der Grundlage von gegenseitiger Akzeptanz der Existenz und Identität sowie Anerkennung
der Selbstverwaltung in Frieden miteinander leben.
Unter diesen Rahmenbedingungen und Umständen
können alle demokratisch-konföderalen und politischen Formationen, die sich inner- oder außerhalb
der Grenzen des Nationalstaates befinden, mit dem
Nationalstaat friedlich zusammen leben.
Der Demokratische Konföderalismus kann, einerseits
sowohl die aus dem Nationalstaatssystem begründeten Nachteile überwinden, und bietet andererseits die
beste Methode, um für die Politisierung des Volkes
zu sorgen.“
Die Demokratische Autonomie ist nicht das Projekt der Trennung, sondern der Gesamtheit
Die Demokratische Autonomie ist kein Ergebnis eines vergeblichen Wunsches nach einem eigenen Staat
und der dafür nicht vorhandenen Grundlagen. Die
Demokratische Autonomie orientiert sich an keinerlei geographischen Grenzen und befasst sich auch gar
nicht damit. Mit dieser Eigenschaft steht sie keinem
Widerspruch zum einheitlichen Staat. Entgegen der
Behauptung, dieses Projekt führe zur Spaltung, sorgt
dieses Modell, das eine Formel dafür ist, wie gemein-
sames Leben mit dem Staat möglich ist, für die freie
Einheit der gesamten Gesellschaft. Es ist das System,
das trotz Vielfalt eine Einheit möglich macht. Es ist
der einzige Weg, die unterschiedlichen Farben, Töne
und die Vielfalt leben zu lassen und der gesellschaftlichen Natur somit gerecht zu werden. Sie ist das Gegengift für den monistischen Genozidcharakter des
Nationalstaats und bedeutet zugleich ein alternatives
System für die Menschen.
Anders, als man meinen könnte, ist es nicht die Demokratische Autonomie, die trennt und spaltet, sondern der Nationalstaat. Denn die nationalstaatliche
Organisierung zwingt alles und jeden zur Gleichheit.
Es gibt jedoch im Kern der Natur und der Gesellschaft keine Einfarbigkeit und Gleichheit. Diese Eingrenzung (Monismus) ist ein konstruiertes Produkt
der hegemonialen Mentalität, die sich selbst ins Zentrum von allem setzt und sich allem aufzuzwingen
versucht, was jedoch aufgrund des Widerspruchs zur
Natur nicht aufrechterhalten werden kann. Obwohl
sogar die als „Wunderprodukt“ des Nationalstaates
geltenden europäischen Staaten dieses Modell abgelegt haben, halten später davon beeinflusste Länder
wie die Türkei noch immer daran fest. Will man sich
näher vor Augen führen, wie mörderisch der Nationalstaat ist, dann ist es mehr als ausreichend, sich die
jüngere Geschichte der türkischen Republik anzuschauen. Das als „Garten der Völker“ geltende Anatolien ist im Laufe dieser Geschichte zum Grab vieler
dort lebender Völker geworden. Seit sehr langer Zeit
in Anatolien lebende Völker wurden regelrecht ausgelöscht.
Rumän*innen, Armenier*innen und Aramäer*innen
können dafür als Beispiel genannt werden. In der
Zeit der nationalstaatlichen türkischen Republik sind
nichtmuslimische Völker einem physischen Völkermord unterzogen, vertrieben und verjagt worden.
Wenn auch muslimische Völker einem physischen
Massaker durch die türkischen Republik ausgesetzt
waren, wurden sie doch vielmehr kulturell massakriert, wobei andere muslimische Völker auf diese
Weise komplett „turkisiert“ wurden. Völker, die hinter ihrer Identität gestanden haben, sind sehr selten anzutreffen. Die ethnische, sprachliche, kulturelle und
kommunale Assimilation sorgte dafür, dass die unterschiedlichen Farben der Völker ausgelöscht wurden.
So ist das Phänomen der unnatürlichen Einfarbigkeit
entstanden. Man kann sagen, das kurdische Volk da-
- 40 -
»» Demokratische Autonomie - Falsche Annäherungen
gegen habe seine eigene Farbe und Vielseitigkeit zu
schützen versucht, große Opfer dafür gebracht und
der nationalstaatlichen Mentalität großen Schaden
zugefügt. Mit dieser Eigenschaft versucht es mit seinem Widerstand, dem „Garten der Völker“ wieder zu
seiner früheren Schönheit zu verhelfen. Daher ist es
absurd, das kurdische Volk als separatistisch zu beschuldigen, was von Nationalstaatsseite nur behauptet wird, um die eigenen Massaker und Spaltungsversuche zu verdecken. Während das kurdische Volk
für ein Zusammenleben der Völker in Einheit steht,
deren Lösungsprojekt die Demokratische Autonomie
darstellt, ist es die türkische Herrschaft, die mit ihrer
politischen Organisierung, dem Nationalstaat, Land
und Volk spalten und ermorden will.
Weder mit unserem Zeitalter noch mit der Natur oder
dem Niveau des kurdischen Volkes lassen sich die
Anomalie und der Fluch, den der Nationalstaat und
seine Mentalität gebracht haben, weiter aufrechterhalten. Es ist für die Völker an der Zeit, dieses überholte System zu überwinden. Das, was die türkische
Republik durchlebt, hängt mit dieser Realität eng zusammen.
Sie durchlebt eine Phase der Spannungen und der damit verbundenen Erschütterungen, die daraus resultiert, dass sie zum einen auf Veränderung und Transformation angewiesen ist und sich gleichzeitig an
ihre klassische Haltung krallt. Da, wo es Staaten gibt,
ist die Demokratische Autonomie auf der Grundlage von Demokratie und Kommunalität um den Wiederaufbau der Gesellschaft bemüht, weshalb sie sich
von den gesetzten Grenzen der Nationalstaaten nicht
einengen lässt. Der Grund für die grenzenlose Demokratische Autonomie ist die Gesellschaft, die keine
Grenzen kennt. Wie schon oben erwähnt, dies ist ein
universelles Projekt.
Der gesellschaftlichen Organisierung ist sowohl ein
dem monistischen Staat entgegenwirkender vielfältiger Charakter eigen als auch der Drang, sich
außerhalb des Staates zu bewegen. Daher ist es in
strategischer Hinsicht am besten, wenn die Demokratische Autonomie nicht einen einzigen unorganisierten Menschen zurücklässt, das Zusammenleben der
Menschen vom Staat fernhält und die Gesellschaft
zur Selbstständigkeit führt.
In der Demokratischen Autonomie erhalten alle
Verschiedenheiten die ihnen abgesprochenen
RONAHÎ #43
Rechte zurück
Ein wichtiger Aspekt dabei ist, dass die Demokratische Autonomie keine spezifisch geographische Besonderheit hat, dieser Umstand ist jedoch kein Hindernis für eine geographisch definierte Autonomie.
Also kann sie aufgrund der Vielfalt der Gesellschaft
die Wichtigkeit geographischer Besonderheiten nicht
außer Acht lassen. Andernfalls versagt sie Teilen der
Gesellschaft die Ausdrucksmöglichkeit. Beispielsweise kann eine Ethnie in einer Region, in der sie
stark vertreten ist, ihre eigene Autonomie aufbauen,
genauso wie Angehörige dieser ethnischen Gruppe,
die an einem anderen Ort leben, nichtsdestotrotz
auch einen Platz in diesem System einnehmen können. Wenn wir das Beispiel der Kurd*innen näher
betrachten, werden wir mit Leichtigkeit erkennen
können, dass die Autonomie auf die eben genannte
Art und Weise praktiziert werden muss. Bekanntlich
leben die Angehörigen des kurdischen Volkes in vielen unterschiedlichen Regionen, beispielsweise bis
zu fünf Millionen allein in Istanbul. Hier würde eine
Annäherung an die Autonomie nach lediglich geographischen Kriterien (regionale Autonomie) entsprechend der quantitativen und qualitativen Realität
der Kurd* innen keine Lösung bieten. Daher kann die
Demokratische Autonomie nicht nur als eine geographisch allein auf Kurdistan begrenzte Angelegenheit
verstanden werden.
Die an die Vielseitigkeit der Gesellschaft gebundene
Entwicklung der Demokratischen Autonomie wird
den Staat, sofern er sie anerkennt, für die Demokratie
sensibilisieren, und die daraus resultierenden Rechte
werden allen Volks- und anderen Gruppen zugutekommen.
Daher wird, wie vorhin schon erwähnt, nicht nur das
kurdische Volk von den verlangten Rechten profitieren. Wenn wir von der Türkei sprechen, dann gilt
dies für alle Volksgruppen in Anatolien und Kurdistan. Alle anderen, zum Beispiel Tscherkess*innen,
Las*innen, Georgier*innen, werden in einem demokratischen und freiheitlichen Rahmen ebenfalls ihre
autonomen Rechte nutzen und sich als eigenständige
ethnische Gruppen selbst autonom organisieren können. Sie werden die Möglichkeit haben, ihre eigene
Sprache, Kultur, Geschichte zu lernen und zu leben.
All diese ethnischen Gruppen werden ihren Platz im
demokratischen System als dessen Bereicherung einnehmen. Darüber hinaus werden auch die Ezid*in-
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RONAHÎ #43
»» Demokratische Autonomie - Falsche Annäherungen
nen, Alevit*innen, Christ*innen und viele andere
Glaubensrichtungen oder religiöse Minderheiten ihren Glauben wie gewünscht ausleben und sich selbst
mobilisieren können. Indem sich der Staat vom
Standpunkt des Nationalstaates (Nationalismus) distanziert, wird er sich gegenüber allen gesellschaftlichen Vereinigungen gleich gerecht verhalten müssen.
Nur dann wird die „demokratische Republik“ als
Staatsmodell entstehen können. Die Staaten, die der
Gesellschaft keinerlei Rechte zuerkannt und mit ihrer nationalstaatlichen Perspektive ihr Territorium in
einen einzigen Friedhof der Völker und Kulturen verwandelt haben, können noch so oft behaupten, demokratisch sensibilisiert zu sein. Unter diesen Umständen werden sie nie demokratische Ansichten teilen.
Wir können die türkische Republik nur als „demokratische“ betiteln, wenn sie sich mit allen Volksgruppen
in Anatolien verträgt und alle unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppierungen die gleichen Rechte
bekommen und freie Meinungsäußerung praktizieren
können.
Ausdruck in der Formel „Staat (+) Demokratie“.
Gleichzeitig bedeutet Demokratische Autonomie,
vom Staat seine Vielfalt einzufordern
Die Staaten haben den Völkern und der Gesellschaft
als Ganzem einen Großteil ihrer Rechte vorenthalten.
Daher müssen die heutigen Staaten für die Demokratie empfänglich bzw. sensibel gemacht werden.
Es ist ganz verständlich, dass dem Staat gegenüber
gewisse Forderungen gestellt werden. Aus der Perspektive der Gesellschaft steht es außer Frage, dass
von ihm etwas verlangt wird. Denn der Staat verkörpert ein System, das alle Bereiche der Gesellschaft
kontrolliert, Richtungen vorzugeben versucht und im
Alltag Einfluss nimmt. Das eigene System außerhalb
des Staates aufzubauen ist eine andere Sache. Aber
da man mit dem Staat zusammenlebt, sollte man die
Beziehung zu ihm betrachten und von demjenigen
Staat, der sich der Demokratie nicht annähern will,
seine Rechte verlangen. Forderungen an ihn machen
die Gesellschaft oder den Einzelnen nicht direkt abhängig von ihm.
4. Annäherungen, die Demokratische Autonomie Es ist genau umgekehrt. Diese Forderungen resulals Gesellschaftssystem zu begreifen, das nichts tieren aus einem freiheitlichen Standpunkt. Wenn
mit dem Staat zu tun hat
also gesellschaftliche Bereiche aufgrund der selbstWir leben in einem Zeitalter der Staaten und Staats- ständigen Organisierung erweitert werden und die
grenzen, von denen wir umgeben sind, obwohl wir organisierte Gesellschaft unabhängig vom Staat ihre
uns keine Grenzen zur Grundlage machen. Demnach eigenen Zuständigkeitsbereiche einrichtet, ergibt das
findet die Demokratische Autonomie im Kern ihren Sinn. Also wird die Forderung an den Staat mit der
Zerstörungen durch den türkischen Staat
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»» Demokratische Autonomie - Falsche Annäherungen
RONAHÎ #43
von ihm unabhängigen Organisierung der gesellschaftlichen Bereiche einen Sinn ergeben. Anderenfalls macht es keinen Sinn, gegen den Staat Widerstand zu leisten. Das Wichtige ist, die Beziehungen
zu Staaten mit noch bestehenden internen Grenzen
nicht mit der staatsunabhängigen gesellschaftlichen
Organisierung zu vertauschen und keines der beiden
Modelle zu bevorzugen, sondern beide gleichzeitig
laufen zu lassen.
gehört zur Definition der direkten Demokratie. Dass
Gemeinschaften und moralisch-politische Werte als
Bestandteil der gesellschaftlichen Natur zugrunde
gelegt werden, gehört zur Definition der kommunalen Demokratie. All diese Ausführungen unterscheiden das Verständnis der Demokratischen Autonomie
in ihrem Aufbau und Wesen grundsätzlich von real
praktizierten Modellen und vom Verständnis anderer
Autonomien.
Genau so, wie die Demokratische Autonomie nicht
nur zwischen Staat und Gesellschaft und im Rahmen
des Wissen-Macht-Komplexes wirkt, ist es ebenfalls
falsch zu behaupten, dass sie nur außerhalb des Staates und ohne jegliche Relation zu ihm zu bestehen
habe.
In einem Satz ausgedrückt hieße das im Ergebnis die
Kooperation anderer Autonomieverständnisse mit
dem Staat im Gegensatz zur außerstaatlichen gesellschaftlichen Organisierung der Demokratischen Autonomie.
Wir sind nun oft genug darauf eingegangen, dass
die Demokratische Autonomie eine außerstaatliche
Organisierungsmethode ist. Nun werden wir anhand
mehrerer Beispiele auf der Welt erläutern, wie sie mit
dem Staat und den jeweiligen Gesetzen koexistieren
wird. Dabei muss jedoch ein weiterer, nicht ganz unwichtiger Punkt angesprochen werden. Besonders
bei den Staaten, in denen Autonomie verwirklicht
wurde, wird von einer staatszentrierten Perspektive
ausgegangen, was zur Folge hat, dass die kommunale Organisierung der moralisch-politischen Gesellschaft nur sehr begrenzt möglich ist.
Deshalb ist eine derartige Autonomie von ihrem
Verständnis her weit davon entfernt, die Grundlage
oder Perspektive der Demokratischen Autonomie
und des Demokratischen Konföderalismus zu bilden.
Es sind eher die Modelle, die bei einer Machtteilung
zur Wirkung kommen. Der wesentliche Unterschied
zwischen der Demokratischen Autonomie und den
anderen autonomen Modellen ist der Umstand, dass
unser Autonomieverständnis auf demokratischer
Grundlage basiert. Dieser demokratische Charakter
bringt folglich auch mit sich, dass sie, ohne ein Teil
des Staates zu sein, auch ohne Aufteilung der Befugnisse bzw. der Herrschaft funktionieren kann.
Also bedeutet Demokratische Autonomie nicht, dass
sie einen Staat im Staate entstehen lässt. Es heißt,
dass sie die Autonomie des Volkes gegenüber dem
Staat gewinnt und auch schützt. Neben der außerstaatlichen Organisierung gehört eine demokratische
Lebensweise zur Definition von Radikaldemokratie.
Dass alle Menschen aktive Elemente der Politik sind,
- 43 -
RONAHÎ #43
»» JXK - Jinên Xwendekarên Kurdistan
Erklärung der JXK – Jinên Xwendekar ên Kurdistan
» » JXK (Studierende Frauen aus Kurdistan)
Am 24.01.2016 fand in Kassel unser Kongress der YXK-Jin statt, an dem 40 Freundinnen aus dem gesamten
Bundesgebiet und den Vertreterinnen der Jinên Ciwanên Azad und Cenî daran teilnahmen. Der Kongress
fand in einer Phase statt, in der Zivilist*innen einem aggressiven Krieg in Nordkurdistan ausgesetzt waren,
der bis heute noch anhält. Gerade Frauen leiden besonders unter der türkischen Kriegsführung. Sie werden
vertrieben, bekämpft und ihre Leichen geschändet. Denn es sind besonders Frauen, die einen erbitterten Widerstandskampf führen, deren Willen der türkische Staat zu brechen versucht. Wir, als Studierende Frauen,
sehen es als unsere Aufgabe eine Vorreiterolle im Kampf gegen Sexismus und Patriarchat einzunehmen.
A
uf unserem Kongress haben wir unsere Beschlüsse, Arbeiten und ihre Ergebnisse reflektiert und bewertet. Noch immer müssen
wir feststellen, dass die Arbeiten der gesamten YXK
als Priorität gelten und die Bedeutung der Jin-Arbeiten so ständig in den Hintergrund rücken. Dieser Analyse des aktuellen Zustandes möchten wir mit mehr
Autonomie und stärkerer Jin-Arbeit entgegenwirken.
Daher entschlossen wir uns für eine Umbenennung
der YXK-Jin in: Jinên xwendekar ên Kurdistan - JXK
| Studierende Frauen aus Kurdistan - JXK. „Jin“ darf
kein Zusatz sein, was an den eigentlichen Namen
angehängt wird, sondern muss ein fester Bestandteil
unseres Namens sein.
Selbstverständnis der YXK-JIN
Die alten Beschlüsse vom letzten Jahr wurden zunächst vorgelesen.
Beschlüsse der YXK-Jin (2015)
1. Die Frauen innerhalb der YXK organisieren sich
als YXK-Jin autonom und halten eigene Versammlungen ab.
2. In den Regionaltreffen/Verbandssitzungen
nimmt die YXK-Jin einen autonomen Platz ein,
trifft sich ein bis zwei Stunden vor den Verbandssitzungen und erstellt ihre eigene Planung.
3. Alle Frauen der YXK-Jin treffen sich einmal vor
dem YXK-Zwischenkongress sowie einmal vor
dem YXK-Kongress zu einer Konferenz, um eigene Beschlüsse gemeinsam zu diskutieren,Projekte zu planen und die Kandidatinnen der YXKJin für den Vorstand zu wählen.
4. Die YXK-Jin führt ihre eigenen Bildungsarbeit
mit dem Motto: „Selbsterkennung – Selbstbehauptung“ durch. Die Vorstandsmitglieder der
YXK-Jin kommen zeitnah zum Kongress zusammen, um sich für ihre zukünftige Arbeit zu
bilden. Alle Frauen der YXK-Jin bilden inihren
jeweiligen Ortsgruppen und Städten Lesekreise,
welche auf die Regionen erweitert werden. Jede
Frau, die im Namen der YXK-Jin an einer Bildungsveranstaltung, an einem Lesekreis etc.teilgenommen hat, wird die erlangte Bildung an andere Frauen anhand von Veröffentlichungen von
Artikeln in der Verbandszeitschrift „Ronahî“
und der Homepage weitergeben.
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»» JXK - Jinên Xwendekarên Kurdistan
RONAHÎ #43
5. Die YXK-Jin übernimmt zwei Artikel in der setzen. Es ist nicht unsere alleinige Aufgabe, das
Organisation der Verbandszeitschrift „Ronahî“ Patriarchat zu bekämpfen. Das Patriarchat in uns
und verfasst genderspezifische Beiträge.
selbst,sowohl in den Männern muss getötet werden. 6. Die YXK-Jin nimmt frauenspezifische Anlässe Es wurde auch nochmal die Wichtigkeit betont, dass
wahr und gestaltet diese aktiv. Dies sind voral- wir uns gegenseitig kennen und kennenlernen. Das
lem der 6. Februar (Tag gegen Genitalverstüm- sollte für die Jin-Arbeit unabdingbar sein. Außerdem
melung), der 8. März (Frauen-Kampftag), der 1.
Sonntag im Mai und der 25. November (Kampf- sollte eine gemeinsame Haltung gezeigt werden können. Auch wenn es unterschiedliche Meinungen gibt,
tag gegen Gewalt an Frauen).
sollten wir versuchen, diese zusammenzuführen und
7. Die YXK-Jin macht es sich zur Aufgabe, ak- als JXK mit einer gemeinsamen Meinung in Ortstiv die Aufklärung der Morde an den Freundingruppen-, Regional- und Verbandssitzungen aufzunen Sakine Cansiz, Fidan Doğan und Leyla Şaytreten. lemez zu fordern.
8. Die YXK-Jin greift alle Kampagnen der kurdischen Frauenbewegung auf und trägt diese auf
die universitäre Ebene und kooperiert in den
Universitäten bzw. Städten mit anderen Frauenorganisationen.
9. Die YXK-Jin nimmt autonom an internationaler Vernetzungsarbeit mit anderen jungen Frauen und Organisationen teil und organisiert Delegationen.
Des weiteren wurde daran erinnert, dass nicht nur
(Cis-)Frauen vom patriarchalen System betroffen
sind, sondern auch Menschen, die sich fernab von
Zweigeschlechtlichkeit positionieren. Es gibt den
Wunsch, LGBT*I-Communities miteinzubeziehen
und mit ihnen zusammenzuarbeiten.
Auf dieser Basis wurden obige Beschlüsse ergänzt
und überarbeitet.
10. Die YXK-Jin vertritt sich durch ihre eige- JXK Beschlüsse 2016
ne Transparente und Flyer. In der sozialen Öf- 1. Die Frauen innerhalb der YXK organisieren sich
fentlichkeit nimmt sie autonom ihren Platz ein
als JXK autonom und halten regelmäßig eige(Homepage/ Facebook/ Email).
ne Versammlungen ab. Dies gilt sowohl für die
Ortsgruppen, als auch auf Regional- und VerÜber die einzelnen Punkte wurde daraufhin diskubandsebene. Die JXK-Arbeiten haben den gleitiert. Es wurde zunächst festgestellt, dass die Arbeichen, wenn nicht einen höheren Rang als die
ten der gesamten YXK bisher immer als Priorität galYXK-Arbeiten und sollen dementsprechend
ten, was sich auch an der Teilnahme und der Struktur
ernst genommen werden.
der Kongresse zeigt. Die Bedeutung der Jin-Arbeiten
2. In den Regionaltreffen/Verbandssitzungen
rückt ständig nach hinten, da wir als Frauen auch in
nimmt die JXK einen autonomen Platz ein,
allen anderen Strukturen vertreten sein müssen. Destrifft sich und erstellt ihre eigene Planung. Dahalb sollte ab sofort eingeführt werden, dass jede
bei soll die JXK selbst entscheiden, wieviel Zeit
JXK-Gruppe in allen Orstgruppen eigenständige,
sie benötigt und sich den Raum nehmen, den sie
wenn möglich wöchentliche Sitzungen abhält. Der
braucht. Währenddessen sollen auch die männJXK sollte radikal eine größere Bedeutung gegeben
lichen Genossen eigene Sitzungen abhalten,
in welchen sie sich kritisch mit ihrer eigenen
werden, denn wir sind Vorreiterinnen dieser Arbeit.
Männlichkeit und ihrem Verhalten auseinanderAuch bei YXK Sitzungen sollten wir eine Sitzung
setzen und ihre eigene Rolle reflektieren.
davor oder danach einführen und darauf achten, uns
dabei genug Zeit zu nehmen, weil es des Öfteren vor- 3. Alle Frauen der JXK treffen sich einmal vor dem
YXK-Zwischenkongress sowie einmal vor dem
kommt, dass wir ständig zeitlich unter Druck gesetzt
YXK-Kongress zu einer Konferenz, um eigene
werden und dann auch noch kritisiert werden, wenn
Beschlüsse gemeinsam zu diskutieren, Projekte
wir mal länger unter uns sind. Diese Kritik sollten
zu planen und die Kandidatinnen der JXK für
wir abwenden können.
den Vorstand zu wählen. Während wir eigene Sitzungen abhalten, sollten die
männlichen Genossen sich mit ihrer eigenen Männlichkeit und dominantem Verhalten auseinander-
4. Die JXK führt ihre eigenen Bildungsarbeit mit
dem Motto: „Selbsterkennung –Selbstbehauptung - Selbstverteidigung“ durch. Die Vor-
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RONAHÎ #43
»» JXK - Jinên Xwendekarên Kurdistan
standsmitglieder der JXK kommen zeitnah zum
Kongress zusammen, um sich für ihre zukünftige Arbeit zu bilden. Alle Frauen der JXK bilden in ihren jeweiligen Ortsgruppen und Städten
Lesekreise, welche auf die Regionen erweitert
werden. Jede Frau, die im Namen der JXK an einer Bildungsveranstaltung, an einem Lesekreis
etc. teilgenommen hat, wird die erlangte Bildung an andere Frauen anhand von Veröffentlichungen von Artikeln in der Verbandszeitschrift
„Ronahî“ und der Homepage weitergeben.
13. Berichte der JXK-Ortsgruppen/Regionen sollen
monatlich an den JXK-Vorstand geschickt werden.
14. Die JXK selbst wählt die Frauen für den
YXK-Vorstand. Struktur der JXK und des Vorstandes:
Auch die JXK hat den Anspruch, die Arbeiten auf einer basisdemokratischen Grundlage zu führen. Damit
nicht alles vom Vorstand getragen wird, ist es wich5. Die JXK schreibt Artikel in der Organisation der tig, dass die Basis den Vorstand ablöst. Der Vorstand
Verbandszeitschrift „Ronahî“ und verfasst gen- hat nicht die Aufgabe, alle Verantwortungen zu überderspezifische Beiträge. Dabei soll nicht nur nehmen, und sollte es auch nicht. Auf dem Kongress
der JXK-Vorstand, sondern alle Frauen beteiligt wurde folgende Struktur festgelegt: sein, die in der JXK organisiert sind.
Aus jeder Ortsgruppe werden 1-3 Jin-Vertreterinnen
6. Die JXK nimmt frauenspezifische Anlässe wahr
und gestaltet diese aktiv. Dies sind vorallem der
6. Februar (Tag gegen Genitalverstümmelung),
der 8. März (Frauen-Kampftag), der 1. Sonntag
im Mai und der 25. November (Kampftag gegen
Gewalt an Frauen) und der 9. Januar (Morde an
Sakine, Leyla und Fidan)
7. JXK macht es sich zur Aufgabe, aktiv die Aufklärung der Morde an den Freundinnen Sakine
Cansiz, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez zu
fordern.
8. Die JXK greift alle Kampagnen der kurdischen
Frauenbewegung auf und trägt diese auf die universitäre Ebene und kooperiert in den Universitäten bzw. Städten mit anderen feministischen
Organisationen. Die Zusammenarbeit mit Ceni,
JCA, UTAMARA und der Stiftung der freien
Frauen aus Rojava (WJA) soll gestärkt werden.
gewählt, die dann in der jeweiligen Region im Jin-Regionalvorstand sind. Aus diesem regionalen Jin-Vorstand werden wieder 3-4 Vertreterinnen in den allg.
Jin-Vorstand gewählt. Jede Ortsgruppe wählt ihre
eigenen Vertreterinnen. Neben den Kommissionen
Öffentlichkeit/Presse, Bildung, Finanzen soll es eine
weitere Kommission für Selbstverteidigung geben,
da wir momentan merken, dass viel mehr Frauen von
ihren Familien von der politischen Arbeit abgehalten werden, dass patriarchale Verhaltensweisen immer wieder in der YXK zum Vorschein kommen und
dass Gewalt gegen Frauen immer wieder aktuell ist.
Es soll dafür innerhalb der Ortsgruppe auch intensive Selbstverteidigungsarbeit geleistet werden. Wir
sollten zu direkter Aktion greifen und intervenieren,
wenn genannte Fälle vorkommen. Die politische Arbeit ist nicht von unserem direkten Leben zu trennen.
Das, wofür wir in der JXK/YXK einstehen, sollten
wir auch auf uns anwenden können, sonst ist die politische Arbeit sinnentleert. 9. Die JXK nimmt autonom an internationaler Vernetzungsarbeit mit anderen jungen Frauen und
Organisationen teil und organisiert DelegatioDes weiteren sollen Frauen im JXK-Vorstand jeweils
nen.
10. Die JXK vertritt sich durch ihre eigene Trans- in den Vorstand von Cenî und in den Vorstand der
parente und Flyer. In der sozialen Öffentlichkeit Jinên Ciwanên Azad gewählt werden. nimmt sie autonom ihren Platz ein (Homepage/ Um die Struktur der JXK zu einfacher zu verdeutliFacebook/ Email/ Ronahî).
chen, soll eine grafische Darstellung erstellt werden
11. Die JXK bringt sich ab sofort intensiver in die für das Handbuch der YXK. Außerdem gibt es den
Veranstaltungen der YXK ein (z.B. bei der De- Wunsch, ein Archiv anzulegen, um Erfahrungen zu
lil-Ates-Veranstaltung mit einem eigenen Fuß- sammeln und zu vermitteln, damit Arbeit gespart
ballteam oder bei den den H.C.-Literaturprei- wird.
sen). Nebenbei soll die JXK ab sofort selbst eine
eigene Veranstaltung auf die Beine stellen Jinên Xwendekar ên Kurdistan - JXK
12. Die JXK veranstaltet ihre eigenen Akademien, Studierende Frauen aus Kurdistan - JXK
um die ideologische Bildung zu stärken. - 46 -
»» Erklärung der JXK zum 8. März
RONAHÎ #43
Bijî 8‘ê adarê! - Erklärung der JXK zum 8. März
» » JXK (Studierende Frauen aus Kurdistan)
er feministische Kampftag am 8. März steht
für den Kampf gegen Sexismus, Patriarchat
und eine systematische Ausbeutung von
Frauen*. Der erste Weltfrauentag fand am 19. März
1911 in Dänemark, Deutschland, Österreich-Ungarn
und der Schweiz statt. Mehr als eine Millionen Frauen demonstrierten auf den Straßen, um ihrer Forderung „Heraus mit dem Frauenwahlrecht“ Nachdruck
zu verleihen. Zu Ehren der Rolle der Frauen* in der
Februarrevolution wurde 1921 der 8. März als internationaler Gedenktag eingeführt. Hundert Jahre später sind viele Forderungen weiterhin weltweit aktuell.
D
nau wie die Rolle der Jugend, auf dem Weg zu einer
freien und selbstverwalteten Gesellschaft nicht zu
unterschätzen. Die 5.000 Jahre alte hierarchische Gesellschaft ernährt sich von der Versklavung der Frauen* auf allen Ebenen. Öcalan spricht davon, dass
Frauen* die wohl erste kolonisierte Gruppe darstellen. Deshalb ist es ein umso bedeutenderer revolutionärer Akt, dass Frauen* sich verbünden, um diese Hierarchien zu überwinden. Patriarchales Verhalten ist
nicht nur auf eine Gruppe von Menschen beschränkt,
auch andere Menschen wie Frauen* etc reproduzieren Verhaltensweisen und sie sind verankert in deren
Persönlichkeit.
Die Diskriminierung, Benachteiligung und die psychische wie auch körperliche Gewalt gegenüber
Frauen* setzt sich bis heute, wenn auch auf eine teilweise sehr subtile,aber dennoch raffinierte Weise fort.
Auf allen Ebenen, sowohl im privaten als auch im
öffentlichen Leben, setzen sich patriarchale Machtstrukturen weiterhin durch. Patriarchale Strukturen
finden sich auch dort wieder, wo Menschen eigentlich den Anspruch haben für Frauenbefreiung und
Basisdemokratie einzustehen. Es ist einzugestehen,
dass selbst die demokratischsten, linkesten Männer
sich oft ihres eigenen Verhaltens nicht bewusst sind
und viele Machtmechanismen ständig reproduzieren
und nicht überwinden können. Für eine wahrhafte
Veränderung der Gesellschaft und die Überwindung
des kapitalistischen und nationalistisch-etatistischen
Systems darf die Frauen*frage nicht als Nebenspruch
abgetan werden, was nicht zuletzt daran liegt, dass
diese Herrschaftssysteme eng miteinander verflochten sind. Die jahrzehntelange Organisierungsarbeit der kurdischen Frauenbewegung zeigt ihre Früchte seit Jahren in der Rojava-Revolution. Die dortigen Frauen
kämpfen nicht nur gegen den IS und das Assad-Regime. Sie haben - und das blenden die Mainstreammedien gerne aus - ein alternatives Gesellschaftsmodell
anzubieten, das sie in Rojava in die Praxis umsetzen:
eine selbstverwaltete, rätedemokratische und ökologische Gesellschaft, in der Frauen* auf allen Ebenen
des Lebens autonom organisiert sind und wo alle
Positionen mit einer quotierten Doppelspitze besetzt
sind. Frauen* führen eigene Akademien und Kooperativen, gründen Frauenhäuser, Traumazentren und
haben eigene bewaffnete Selbstverteidigungseinheiten. Doch allein durch die Repräsentanz von Frauen* werden 5.000 Jahre alte Mentalitäten nicht einfach überwunden. Es gilt deshalb, herrschenden
Denkmustern durch alternative Wissenschaften entgegenzuwirken. Die heutigen Wissenschaften sind
nicht „objektiv“, wie sie zu sein scheinen, sondern
beruhen selbst auf dem patriarchalen System und
stützen es sogar. Die Jineolojî ist eine Wissenschaft,
die von Frauen* entwickelt wird, um die ungeschriebene Geschichte der Frau* und der demokratischen
Zivilisation zu schreiben. Im kurdischen Befreiungskampf haben Frauen* von
Anfang an an vorderster Front mitgekämpft, sich
nach und nach Räume erkämpft und ihre eigene Organisierung auf die Beine gestellt. Nach dem Motto
„Keine freie Gesellschaft ohne freie Frauen*“ werden im Befreiungskampf viele Arbeiten und Kämpfe
von Frauen getragen und geführt. Ihre Rolle ist, ge- Was heißt das für uns in Europa? Wir Frauen* haben
- 47 -
RONAHÎ #43
»» Erklärung der JXK zum 8. März
die Möglichkeit, die Geschichte neu zu schreiben,
denn es liegt in unseren Händen, die Werkzeuge, die
uns die kurdische Frauenbewegung gibt, zu nutzen
und daraus etwas großartiges entwickeln zu lassen.
und in etwas neues umwandeln. Ein erster Schritt
wäre es, die männlich und weiblich konnotierten Eigenschaften zu reflektieren und sehen dass es mehr als
diese Kategorien gibt. Wir sollten uns an erster Stelle
Wir dürfen jedoch den Krieg in Kurdistan, der im als Genoss_innen, „Hevals“ sehen und dem tatsächMoment auf sovielen Ebenen stattfindet, nicht ver- lich eine Bedeutung zukommen lassen. Das heißt vor
allem, nebeneinander auf Augenhöhe zu kämpfen,
gessen.
anstatt gegeneinander. Das patriarchale und kapitaEs ist nicht nur ein gezielter Krieg gegen Frauen*, listische System unterdrückt uns alle, wenn auch auf
sondern ein Krieg gegen die Menschlichkeit. Wenn verschiedene Weise. Diese verschiedenen PerspektiFrauenkörper als eine Art Trophäe behandelt werden, ven und Kämpfe müssen wir bündeln können, anstatt
die Körper entblößt werden und die toten Körper der sie gegeneinander auszuspielen. Kämpferinnen zum Posieren und Fotografieren beDas, was wir immer im Hinterkopf behalten müssen,
nutzt werden. ist die enge Verbindung von Staat, Patriarchat und
Männer, die so etwas tun, versuchen damit den Nerv Kapitalismus. Die Mentalitäten, die uns diese Sysder „Ehre“ zu treffen. Wir sind nicht die „Ehre“ von teme in den Kopf gepflanzt haben, müssen wir nach
irgendwelchen anderen Menschen, wir gehören uns und nach überwinden können, um in ein freies Leben
selbst. Wir lassen uns davon nicht unterkriegen, an führen zu können. die Stelle unserer gefallenen Genossinnen treten
1000 weitere. Wir sind viele, und genau das ist unser In diesem Sinne schicken wir unsere solidarischen
Grüße an unsere Genossinnen, die momentan in KurVorteil.
distan gegen das herrschende System ein alternatives
Nicht nur in der Türkei und in Nordkurdistan wer- Leben aufbauen und stets Quelle unserer Kraft sind.
den Frauen als Instrument zum offenen Rassismus Auch begrüßen wir die Kämpfe aller Frauen* auf
benutzt, auch in Deutschland gibt es Tendenzen dazu: dieser Welt, die ihre Fäuste und ihre Stimme gegen
Nach der Silvesternacht in Köln. Das heißt auf keinen das Patriarchat erheben. Fall, dass wir die Täter für unschuldig halten. Jedoch
wurde im Nachhinein ein subtiler Krieg gegenüber
Frauen geführt: Frauen* wurden als Ehre und Stolz Keine freie Gesellschaft und kein freies Leben ohne
gesehen und dementsprechend in den Medien behan- die Befreiung der Frauen* – Jin, Jîyan, Azadî!
delt. Dieser angebliche „Feminismus“ wurde für rassistische Hetze instrumentalisiert.Deswegen liegt es
an uns, diesen Rassist_innen die Stirn zu bieten und
gemeinsam zu kämpfen. Wir sind viele und nicht al- JXK - Studierende Frauen aus Kurdistan
leine. Das müssen wir uns immer vor Augen halten.
Um das zu analysieren sind cis-Männer mit migranMärz 2016
tischer Herkunft aus der Rolle der Opfer in die Rolle der Täter übergegangen, sowie es das patriarchale
System seit Jahrtausenden weiter gibt. Der Staat un- Fußnoten
terdrückt den Mann, er gibt es der Frau weiter, die
Frau unterdrückt die Kinder. Opfer werden zu Tätern. Patriarchat: Gesellschaftsform, in der dem Mann
eine bevorzugte Stellung in Gesellschaft und FamiDer 8. März steht für den revolutionären Kampftag
lie zukommt
der Schwestern, was wir auch nach Deutschland und
Europa transportieren. Wir müssen es schaffen, unsere Mauern zu durchbrechen, die wir aufgebaut haben Cisgender: bezeichnet Menschen, deren Geschlechtund den Kampf gegen die kapitalistische und patri- sidentität mit dem bei der Geburt zugewiesenen
archale Gesellschaft gemeinsam führen. Die Eigen- Geschlecht übereinstimmt. (Cis=diesseits/ Genschaften die wir ohne wenn und aber angenommen der=Geschlecht)
haben, müssen wir reflektieren, auseinandernehmen
- 48 -
»» Liebe und Frau
RONAHÎ #43
Liebe und Frau
» » Abdullah Öcalan
D
ie Liebe, das Thema, das in unser gegenwärtigen Welt am meisten durchgekaut wird,
durchlebt ihren niederträchtigsten und sinnentleertesten Abschnitt aller Zeiten. In keiner Ära
der Geschichte war die Liebe dermaßen verkommen.
Von kurzlebigen Beziehungen bis hin zu Annäherungen öffentlicher Mordtaten werden fade, ja sogar bedrohliche Beziehungen als Liebe bezeichnet.
Es ist kaum ein besseres Verständnis von Beziehung
denkbar, das die Lebensauffassung des Kapitalismus
so gut widerspiegelt. Das gegenwärtige Verständnis
von Liebe ist der zweifellose Offenbarungseid für
das Ausmaß der Mentalität, die das herrschende System dem Menschen und der Gesellschaft selbst im
heiligsten Bereich der Liebe aufzwingt. Die Liebe
zu beleben, ist eine der schwierigsten revolutionären
Pflichten. Es bedarf großer Mühen, fortschrittlicher
Gesinnung und Nächstenliebe.
Eines der wichtigsten Kriterien der Liebe besteht darin, sich im Rahmen der zeitgenössischen Weisheit
zu bewegen. Als zweites, erfordert es eine ungemein starke Haltung gegenüber dem Wahnsinn des
Systems. Drittens: Die Individuen sollten sich die
moralische Verpflichtung zu eigen machen, sich gegenseitig nicht einmal in die Augen schauen zu können, solange sie die (kollektive) Rettung und Freiheit
nicht verwirklicht haben. Und viertens ist es unent-
behrlich, den sexuellen Trieb den vorigen drei Kriterien unterzuordnen. Es ist also absolut notwendig
zu wissen, dass jeder Schritt zur Leugnung der Liebe
führen wird, sofern der sexuelle Trieb nicht mit der
Weisheit, Freiheitsmoral und den Erfordernissen eines politisch-militärischen Widerstandes in Verbindung gesetzt wird.
Diejenigen, für die nicht einmal die Möglichkeit besteht, so frei wie ein Vogel ein Nest zu bauen, aber
dennoch von Liebe, Beziehung oder Ehe sprechen,
haben eigentlich vor der Sklaverei der sozialen Ordnung kapituliert und wissen den Wert des Freiheitskampfs nicht zu schätzen.
Es ist ein gravierender Fehler, das Vergnügen am
Geschlechtsverkehr, welches zur Fortpflanzung und
Weiterführung des Lebens dient, als Liebe zu bezeichnen. Im Gegenteil: Dieses Gefallen, welches
auf Geschlechtsverkehr basiert, ist die Leugnung der
Liebe. Unter dem Deckmantel der Liebe ermordet
die Kapitalistische Moderne die Gesellschaft, indem
sie Sexismus wie ein Krebsgeschwür verbreitet. Man
sollte verstehen, dass der Sexualinstinkt eine der ältesten Lernformen für das Leben darstellt. Es ist eine
Antwort auf die Notwendigkeit das Leben fortzuführen. Die Unmöglichkeit eines Individuums unendlich
zu leben, hat es zur Lösung gezwungen, das Potenzial
- 49 -
RONAHÎ #43
»» Liebe und Frau
zu entwickeln, sich in einem anderen Individuum zu
reproduzieren. Das, was sich Geschlechtstrieb nennt,
bedeutet, dass dieses Potenzial unter günstigen Bedingungen zur Fortpflanzung führt. Es ist sozusagen
als eine Lösung für die Gefahr des Aussterbens eines
Stammes sowie den Tod zu begreifen.
überwinden, indem die freie Frau diese erhoffte Kraft
der wahren Liebe um sich herum schafft!
Wahre Liebe ist die große Begeisterung, die man
für das Gefüge des Universums, in dem es sich ausdrückt, erfährt. Die Worte Mevlanas „Alles im Universum ist Liebe, der Rest ist belanglos.“ könnte eine
In der Person der Frau bringt sich dieses universelle wahre Interpretation der Liebe darstellen.
Phänomen zum Ausdruck. Das Leben vermehrt sich Wenn Liebe verblendet, kann das zu beschämenden
im Leibe der Frau. Die Rolle des Mannes ist hierbei Umständen und größerer Unwissenheit führen. Das
äußerst sekundär. Von daher ist es auch aus wissen- mag für die Herrschsucht gelten, aber auch für den
schaftlicher Sicht nachvollziehbar, dass die Frau die Sexualtrieb ist das so. Sobald die Liebe jedoch mit
Verantwortung der Nachkommenschaft trägt. Zumal Sinn beladen ist, gleicht sie einem Nirwana. Es bedie Frau es nicht nur dabei belässt, den Fötus zu tra- deutet Fenafillah, mit der Wahrheit verschmelzen
gen, groß zu ziehen und zu gebären. Sie trägt beina- und eins werden (mystisches Aufgehen in Gott). Es
he bis zu ihrem Tod die natürliche Verantwortung ist Enel-hak, („ich bin die Wahrheit“ oder „ich bin
für die Fürsorge des Kindes. Also müssen wir daraus Gott“, wobei letzteres das Ebenbild Gottes meint). Es
als erstes schlussfolgern, dass die Frau bei jeder se- bedeutet also nichts anderes, als dass sich eine gexuellen Beziehung uneingeschränkt mitentscheiden rechte und freie Gesellschaft für souverän erklärt und
muss. Denn jede sexuelle Beziehung trägt das Poten- vollkommene Demokratie erreicht.
zial in sich, schwerwiegende Konsequenzen für die
Frau hervorzurufen. Es sollte begriffen werden, dass Die Liebe ist verbunden mit der Überwindung sexueine Frau, die zehn Kinder gebärt, physisch aber auch eller Wollust oder besser gesagt mit der Entwicklung
seelisch in einen Zustand gerät, der schlimmer als der der gegenseitigen Freiheit entsprechend der menschlichen Moralvorstellungen. Die sexuelle Begierde
Tod ist.
steht in Zusammenhang mit dem Einbüßen der FreiDie Einstellung des Mannes gegenüber der Sexualität heit und Mittellosigkeit. Es wäre am besten, nicht
ist viel mehr verzehrt und verantwortungslos. Dabei nur zwischen Mann und Frau, sondern die Liebe
spielt die Unwissenheit und die Blendung der herr- zwischen allen Elementen des Universums nach der
schenden Macht eine primäre Rolle. Mit dem Ein- Dialektik ihrer Entstehung zu messen.
bruch von Hierarchien und dem dynastischen Staat
bedeuten viele Kinder für den Mann eine unverzicht- Selbst im Liebesverständnis von Leila und Majnun
bare zu sein. Eine Nachkommenschaft mit dutzen- hat zumindest eine blinde Liebe existiert. Gegenden Kindern ist nicht nur für das Weiterbestehen des wärtig ist nicht einmal die Spur einer blinden Liebe
Stammes wichtig, sie stellt zugleich die Garantie für zugegen. Die Folge ist Selbstverleugnung bzw. Nidas Bestehen der Machtherrschaft und des Staates hilismus und ein Drang nach Selbstzerstörung bzw.
dar. Sie steht sozusagen für den Erhalt des Staates, Suizidalität. Der Tiefpunkt im Bezug auf den Sinnwelcher als ein Besitzmonopol zu begreifen ist, von verlust der menschlichen Existenz ist erreicht. Die
der die Größe der Dynastie abhängig ist. Die Frau Liebe erfordert große Heldentaten, Sieg und Zuneiwird somit als Werkzeug zur biologischen, hegemo- gung. Wer keinen Erfolg hat, wird auch keine Liebe
nialen und etatistischen Existenzabsicherung benutzt, haben können. Die Liebe ist stets dem erfolgsbringenden Freiheitskampf gesonnen. Die Liebe nach der
indem sie zahlreiche Kinder auf die Welt setzt.
ich strebe, kann als eine solche Anstrengung definiert
Es heißt, ein Leben ohne die Frau sei nicht möglich. werden.
Doch mit der gegenwärtigen Frau ist das ebenso wenig möglich. Eine Beziehung zwischen Mann und Es wird uns der Wahrheit viel näher bringen, die ErFrau, die bis zum Hals in der Sklaverei steckt, ist scheinung der Frau, die seit ihrer Einverleibung in
wohl die ruinierendste Beziehung. Es ist also eine der das kapitalistische System aufgetreten ist, am Grad
ehrenvollsten und heiligsten Arbeiten der wahrhafti- ihrer Metaisierung (zur Ware werden) zu bewerten.
gen Held_innen, die sich mit Herz auf den Weg der Aus Zeiten der klassischen Sklaverei wissen wir sehr
Liebe begeben, das finale Chaos des Kapitalismus zu gut, dass die Frau am häufigsten auf dem Markt ge- 50 -
»» Liebe und Frau
kauft und verkauft wurde. Dieser Zustand wurde in
der feudalen Sklavenhaltergesellschaft in Form der
Konkubine ebenfalls fortgeführt. Hierbei handelt es
sich bei der verkauften Ware um die Frau als Ganzes.
Brautgeld und politisch- öffentliche Ertragsquellen
sind andere Versionen dieses Rituals, die bis in die
Familie vorgedrungen sind. Im kapitalistischen System hingegen kommt hinzu, dass ihr Körper nach der
Manier eines Metzgers in Einzelstücke zerlegt und
jedem Teil ein Preis gegeben wird. Von ihren Haaren bis zu ihrem Fersen, von ihrer Brust bis zu ihrer
Hüfte, von ihrem Bauch bis zu ihrem Geschlechtsorgan, von ihren Schultern bis zu ihren Knien, von
ihrer Taille bis zu ihrer Wade, von ihren Augen bis
zu ihren Lippen, von ihren Wangen bis hin zu ihrem
Hals scheint es keine Stelle zu geben, der kein Wert
(Betrag/Preis) zugeordnet wurde.
Bedauerlicherweise fragt man sich nicht, ob sie eine
Seele hat und ggf. wie dieser Geisteszustand aussieht.
Seit jeher gilt sie als geistig unterentwickelt. Die
Frau ist in privaten und öffentlichen Bordellen ein
freudebereitendes Dienstleistungsgut, eine Gebärmaschine. Die anstrengendste Arbeit, ein Kind auf die
Welt zu bringen, wird ihr nicht als solche anerkannt.
Für das mühsame Aufziehen von Kindern wird sie
nicht im Geringsten entlohnt. In allen wichtigen wirtschaftlichen, sozialen, politischen und militärischen
Institutionen wird ihr höchstens ein exemplarischer
Platz eingeräumt. Sie ist das unverzichtbare Objekt
für Werbung. Sie ist das einzige Wesen, dessen Geschlecht vorwiegend dem Markt als Ware dargeboten
wird. Sie ist der Gegenstand aller Flüche und Schläge.
RONAHÎ #43
reichend Nachwuchs zu sorgen. Die Hegemonie der
Dynastien hängt sehr stark von gerade diesem Nachwuchs ab. Die Frau ist in diesem Status ein unabdingbares Eigentum. Das geht so weit, dass sogar ihr
Gesicht jedem anderen als ihrem Besitzer verborgen
wird, weil sie die Ehre ihres Besitzers ist. Die Frau
ist ein Sexobjekt. Die Sexualität steht in der Natur in
Verbindung mit der Fortpflanzung und bezweckt das
Fortführen von Leben. Beim Mann hat sich insbesondere mit der Versklavung der Frau zu Zeiten der Zivilisation seine wesentliche Rolle über Sex, die Explosion hemmungsloser sexueller Begierde und ihre
Ausartung geprägt. Die Paarungszeit in der Fauna,
welche (oft) auf einen jährlichen Zyklus abgestimmt
ist, wird vom Mann auf einen 24-Stunden-Takt zu
steigern versucht. Die Frau ist gegenwärtig das Instrument, über die man ständig Sex, sexuelles Vergnügen und Herrschaft ausübt. Somit hat die Unterscheidung von privaten und öffentlichen Freudenhäusern
(Bordellen) seine Bedeutung verloren. Jedes Haus, ist
nun ein privates-öffentliches Freudenhaus, jede Frau
ist nun eine Hausfrau. Die Frau ist unentlohnte Arbeiterin ohne Gegenleistung. Die schwierigsten Arbeiten werden ihr gegeben. Im Gegenzug wird sie zu
allem Überfluss als mangelhaft etikettiert. Sie wurde
so sehr gedemütigt, dass sie tatsächlich daran glaubt
minderwertig zu sein, sodass sie die Notwendigkeit
verspürt, sich mit beiden Händen an die Krallen und
Herrschaft des Mannes zu klammern.
Die Frau ist das zierlichste Gut. Marx nennt das Geld
„die Königin aller Güter“. Aber auch diese Rolle
trifft mehr auf die Frau zu. In Wahrheit ist die Frau
„die Königin aller Güter und Waren“. Es gibt keinen
Zusammenhang, in dem die Frau nicht dargeboten
wird. Es gibt keinen Bereich, in dem die Frau nicht
ausgenutzt wird. Mit dem Unterschied jedoch, dass
alle Waren eine allgemein akzeptierte Gegenleistung
haben. Für die Frau hingegen bleibt nichts als eine
große Unverschämtheit übrig, die dreiste Lügen mit
dem Wort Liebe tarnen, bis hin zu dem Märchen,
“man könne sich der Mühe einer Mutter nicht erkenntlich genug zeigen“.
Sie ist diejenige, die andauernd mit vorgetäuschter
Liebe betrogen wird. Sie ist es, bei der sich ständig
in alles eingemischt wird. Sie ist die Identität, für die
man eine genderspezifische Redensart und Tonlage konzipiert hat. Sie ist der Mensch, mit der keine
menschliche Freundschaft geschlossen werden kann.
Sie ist der Mensch, bei dem selbst der einfühlsamste
Mann nicht vor Gewalt zurückschrecken kann. Die
Frau ist das Objekt, über das sich jeder Mann als Imperator definiert.
Das Interessante an der ganzen Sache ist, dass die
Die Frau wurde zunächst zur Haussklavin gemacht. patriarchalisch geprägte Gesellschaft tatsächlich in
Dieser Zeitraum ist geprägt von grausamen Zwän- dem Glauben lebt, mit einer so dermaßen mit negagen, Druck, Vergewaltigung, Beschimpfungen und tiven Attributen beschmutzten Persönlichkeit leben
Massakern. Die ihr aufgezwungene Rolle besteht zu können. Sie wird anscheinend für eine ausgesproum der materiellen Ordnung willen darin, für aus- chen gehorsame Sklavin gehalten. Eigentlich sollte
- 51 -
RONAHÎ #43
»» Liebe und Frau
es doch äußerst schwierig und erniedrigend für einen vielfältigere Frauenausbeutung repräsentiert.
ehrenvollen Mann sein, in einer Partnerschaft mit ei- Man hat ihre Identität untergraben. Die vielfältigen
nem als inakzeptabel geltendem Wesen zu leben.
Beispiele ihrer Ausbeutung können als die Mutter
So sehr Platon auch dafür kritisiert wird, die Frau aller Mühen und Arbeiten, unentgeltliche Arbeiterin,
vom Staat und der Gesellschaft ausgeschlossen zu Mindestwerkstätige und Arbeitslose, unersättliche
haben, sind solche erniedrigenden Ausprägungen in Lust und Unterdrückungsdrang des Mannes, Gebärseinen Ansätzen wirksam. Dieser Sachverhalt ist bei maschine des Systems, Erzieherin, Werbemittel, Sex
recht vielen Philosophen vorhanden und sollte rich- -und Porno-Objekt u.Ä. beschrieben werden. Der
tig analysiert werden. Beispielsweise schadet es laut Kapitalismus hat den Grad der Ausbeutung der Frau
Nietzsche der Persönlichkeit mit solchen Eigenschaf- wie in keiner anderen Ordnung ausgeweitet. So sehr
ten in einer Gemeinschaft zu leben. Wieso ist dann wir es auch nicht möchten, ist es äußerst schmerzhaft
die Besessenheit nach Frauen in der Gesellschaft so immer wieder auf den Status der Frau zu sprechen zu
groß bzw. stark ausgeprägt? Weil diese Gesellschaf- kommen. Aber die Wahrheit ist für die Unterdrückten
ten unterworfen wurden, weil der Mann ebenfalls nicht anders auszulegen. Der herrschende Mann, der
unterworfen wurde. Das rührt von der sich ständig nichts von der Frau wissen möchte, greift, um diesen
wandelnden Eigenschaft der Sklaverei her. Natürlich Zustand zu vertuschen, zu einer seiner wichtigsten
wird man als Mensch, der so sehr an Sklaverei ge- Waffen, und zwar zur unechten Liebesliteratur. Für
wöhnt wurde, vorzugsweise einen Partner als nütz- den hegemonialen Mann ist Liebe gleichbedeutend
lichen Sklaven für sich beanspruchen. Mit anderen mit der Verschleierung dieser Lügen, einer verdeckte
Worten, eine ruinierte Gesellschaft bedeutet eine Respektlosigkeit, der Blindheit des Bewusstseins soruinierte Frau, bedeutet einen gestürzten Mann. Zu- wie der blinden Triebkraft, die an Raum und Bestänsammenfassend: Ohne eine kompetente Aufklärung digkeit gewinnt. Die Tatsache, dass die Frau all dies
der Weiblichkeit, ohne die Synthese bzw. Verbindung schluckt, hat mit der Tiefe ihrer Verzweiflung unter
von Frauen während der freien matrizentrischen Ord- immensem Druck zu tun. Sie ist dermaßen der manung in der natürlichen Gesellschaft und der freiheit- teriellen und moralischen Lebensbedingungen entlich-bewussten Weiblichkeit in der klassengeprägten rissen worden, dass sie sich in einer Erbärmlichkeit
Zivilisation kann keine gemeinsame und ausgewo- befindet, alle erniedrigenden Worte und Angriffe des
gene Freundschaft für das Leben geschaffen werden. Mannes als natürlich zu betrachten.
Das Pendant dazu bildet ebenso die Neudefinition Ich selbst staune immerfort darüber, wie es die Frau
des Mannes bzw. der Männlichkeit, ohne die eine Zu- über sich bringt, in diesem ihr aufgesetzten Status zu
sammengehörigkeit nicht möglich ist. Es bedarf einer leben. Jedoch muss ich offen einräumen, zu welchem
ganzheitlichen Analyse der Frau in der Summe als Empfinden ich gelangt bin: Kurz bevor ein Tier geObjekt- Subjekt, ohne sich vom heiligen Mutterkult, schlachtet werden soll, wird es sich der Situation bedem Verständnis von Ehre und dem Status als unab- wusst und fängt an, am ganzen Leibe zu zittern. Die
dingbare und unentbehrliche Partnerin zu verlieren. Haltung der Frau gegenüber dem Mann erinnert mich
Solche Untersuchungen müssen selbstverständlich stets an diese Situation. Der Mann gibt sich solange
von narrenhaften Liebesspielen ferngehalten werden. nicht zufrieden, bis die Frau vor ihm zittert. Das ist
Man muss überdies Schandtaten wie allen voran Ver- die Hauptbedingung der Herrschaft des Mannes. Der
gewaltigungen, Morde, Schläge und Beschimpfun- Schlachter schlachtet das Tier ein einziges Mal, der
gen als einen wichtigen Teil dieser Untersuchungen Mann die Frau jedoch sein ganzes Leben lang.
aufdecken, die mit der Liebeslüge verschleiert wurden. Die Worte Herodots „Alle Ost-West-Konflikte Das ist die Wahrheit, die unbedingt aufgedeckt werereignen sich wegen Frauen.“ offenbaren eben eine den muss. Diesen Sachverhalt mit Liebesliedern zu
bestimmte Wahrheit. Und zwar, dass die Frau als aus- verhüllen ist eine verabscheuenswürdige Handlung.
gebeutete Kolonie an Wert gewinnt und somit zum In der Zivilisation werden alle wertlosen Objekte
Thema wichtiger Kriege wird. Dies gilt für die gan- und Bedeutungen mit der Liebe in Zusammenhang
ze Zivilisationsgeschichte, wobei die Kapitalistische gebracht. Es bedeutet einen Kraftakt für den Mann,
Moderne eine tausendfach schwerwiegendere und dem es nicht gelingt bzw. nicht gelingen möchte, sich
der Frau in ihrer einfachen Natur zu nähern. Ich wür- 52 -
»» Liebe und Frau
de einen Mann mit solch einer Bemühung als wahren
Helden betrachten.
Das Problem rührt nicht von einer einfachen Schwäche oder einem biologischen Unterschied der Geschlechter her. Das Problem geht daraus hervor, dass
die hierarchisch-etatistische Gesellschaft die Frau
als erstes Objekt der Klassen und Schichten auf die
unterste Stufe herabgesetzt hat. Die Frau als (Mutter-)Göttin drückt sich mit dem Bewusstsein über
ihre Universalität, sowie ihrem wahrhaftigen Platz
im Kraftverhältnis von Demokratie als die Frau aus,
die Freiheit und Gleichberechtigung in ihren gesellschaftlichen Beziehungen am besten lebt. In Anbetracht dieser Frau liegt es auf der Hand, dass der
Mann es nicht wagen kann, sie zu hausfrauisieren,
seine Macht über sie auszuüben, ihr Liebe, Respekt
und schon gar nicht eine sexuelle Beziehung aufzuzwingen, sondern lediglich seine Liebe und seinen
Respekt gegenüber ihr äußern kann.
Es ist als unser grundlegendes moralisches Verständnis anzusehen, dass man die Liebe und den Respekt
der ebenbürtigen Frau erst dann erwarten kann, wenn
man sich in einer demokratischen Balance gleichberechtigt und frei heißen kann.
RONAHÎ #43
Statt „meine Frau“ zu sagen, erfordern die Worte „die
Frau, die befreit werden muss“ höhere Priorität. In
diesem Fall ist es möglich, die Rahmenbedingungen
einer Entstehung der Liebe, festzustellen. Die erste
Bedingung für die volle Ausübung des Wahlrechts
der Frau ist, dass sie mit dem Mann im Kräfteverhältnis bezüglich Freiheit und Gleichberechtigung
gleichgestellt wird. Dafür ist die vollständige Demokratisierung der Gesellschaft eine weitere Grundvoraussetzung. Die zweite Bedingung beinhaltet, dass
der Mann bei sich und der hegemonialen Gesellschaft
die tausende Jahre anhaltenden und zum Nachteil der
Frau reichenden Maßstäbe für Herrschaft überwindet
und eine ebenbürtige Machtstellung mit der Frau akzeptiert. Es ist offensichtlich, dass der Kampf im Namen der demokratischen Freiheit und Gleichberechtigung für eben diese Bedingungen das Individuum
dem Phänomen der Liebe näher bringen wird. Und
dies geht nur, indem wir das Liebesverständnis ablehnen, welches uns bisher vom System vorgegeben
wurde.
Wenn man sich an diesen moralischen Grundsatz
hält, ist möglicherweise das Phänomen überhaupt
erst möglich, das man Liebe nennt. Das ist ein Prozess, der erst durch die Heldentaten eines Kampfes
für Demokratie, Freiheit und Gleichheit möglich ist.
Eine andere Herangehensweise an die Liebe wäre
ein Verrat an ihr. Wenn Verrat an der Liebe begangen
wurde, kann keine Kreativität oder Erfolg einkehren.
In den Reihen der PKK ist eine wahrhaftige Liebe
möglich, die sich in Form eines erfolgreichen Heldentums beweist.
Wenn wir vom Verständnis der Liebe unser Zeit sprechen wollen, dann wird es jenes sein müssen, das die
Liebe von Leila und Majnun weit hinter sich lassen
kann, das über jegliche mystische Fachkunst hinausgeht, der Sorgfalt eines Wissenschaftlers bedarf,
womit der Weg aus dem Chaos zur Freiheit der Gesellschaft geebnet wird, und das Persönlichkeiten für
sich gewinnt, die ihre Tapferkeit und Hingabe mit ihrem Erfolg beweisen können.
Eine selbstbewusste Männlichkeit darf diese Art von
Frauenbefreiung nicht als Hindernis, sondern muss
sie als eine äußert selbstlose Unterstützung verstehen.
- 53 -
RONAHÎ #43
»» Sara, Rojbin, Ronahî
Sara, Rojbîn, Ronahî...
» » YXK Marburg
Wir schreiben das Jahr 2016. Es sind nun drei Jahre vergangen, seit unsere drei Genossinnen mitten in Paris
kaltblütig ermordet wurden. Was sich am 09. Januar 2013 in den Räumlichkeiten des kurdischen Informationsbüros in der Nähe des Pariser Nordbahnhofs ereignete, hat eine sehr tiefe Wunde hinterlassen, die auch
heute, nach drei Jahren, nicht verheilt ist. Denn an diesem kalten Januarabend wurden drei Genossinnen, drei
revolutionäre Freundinnen ermordet, die sich auf dem Weg des politischen Kampfes um Freiheit, Frieden
und Geschlechterbefreiung vereinigt hatten. Drei Freundinnen mit Träumen, Wünschen und einer großen
Lebensfreude wurde das Leben genommen.
Was genau ereignete sich am 09.01.2013 im kurdi- ahî, die sich gegen den Mörder stellte, mit Kopf- und
schen Informationsbüro?
Bauchschüssen hingerichtet. Die letzte Kugel wurde
Das Kurdistan-Informationsbüro (CIK) befindet sich Heval Rojbîn in den Mund geschossen. Dunkelheit...
in der Rue la Fayette 147. Eine relativ ruhig liegen- Was genau in der Zwischenzeit im Inneren des Büde Gegend mit vielen Geschäften und Wohnungen. ros geschah, ist ungewiss. Der Täter verschwand, die
Im Büro befanden sich die PKK-Mitbegründerin und Tür fiel zu. Stundenlang blieben die Anrufe an die
Aktivistin Sakine Cansız (Sara), die Pariser Vertre- Freund_innen unbeantwortet. Die Tür wurde nicht
terin des Nationalkongresses Kurdistan (KNK) Fi- geöffnet. Als die Sorge größer wurde und es schon
dan Doğan (Rojbîn) und ein Mitglied der kurdischen Mitternacht geworden war, fand man die drei LeichJugendbewegung Leyla Şaylemez (Ronahî). Als es name der Freundinnen auf dem Boden des Büros.
am besagten Tag an der Tür klingelte, zögerten die Der erste Schock saß bei allen Freund_innen sehr
Freundinnen nicht und öffneten der bekannten Per- tief. Unverständnis, Unklarheit, Wut und Trauer verson die Tür. Schüsse fielen! Heval Sara und Heval breitete sich. Klar war von Anfang an Eines: Dies
Rojbîn wurden durch Kopfschüsse und Heval Ron- war ein politischer Mord und der türkische Staat, so-
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»» Sara, Rojbin, Ronahî
wie die dunklen Kräfte waren involviert.
Ömer Güney – erster Verdächtiger, erste Festnahme
Ömer Güney wurde kurze Zeit nach den Morden
vom französischen Staatsanwalt Francois Molins als
Hauptverdächtiger festgenommen. Aufzeichnungen
einer Überwachungskamera zufolge soll Güney sich
zur Tatzeit in den Räumen des Büros aufgehalten haben. Auf seiner Jacke wurden später DNA-Spuren eines Opfers entdeckt und in seiner Tasche Schmauchspuren. Ömer Güney war seit zwei Jahren ein aktives
Mitglied im kurdischen Verein in Paris. Vor Ort gab
er den Freund_innen eine falsche Identität von sich
bekannt und zeigte großes Interesse an den Arbeiten.
Aufgrund seiner guten Französischkenntnisse half er
vielen Kurd_innen dort als Dolmetscher. Er pflegte
mit vielen Jugendlichen eine gute Beziehung und gewann schnell das Vertrauen der Vereinsmitglieder.
Nach der Festnahme von Ömer Güney gab der ehemalige MIT-Agent Murat Sahin, der in der Schweiz
lebt, in einem Interview bekannt, dass Güney zur
selben, auf linke Organisationen spezialisierte Einheit gehöre, wie er selbst. Eine Frau, die seine in
Ankara stationierte Einheit führte, hatte ihm ein Bild
von Güney gezeigt und erklärt, dass er ein „Hevalci“ sei und er sich das Bild gut merken solle. Später,
unmittelbar nach den Morden, konnte er die Person
auf dem in der türkischen Presse weit verbreiteten
Bild von Ömer Güney mit der auf der ihm damals
vorgelegten Aufnahmen identifizieren. Doch bei diesem Hinweis blieb das Ganze nicht. Im Januar 2014
gab es in der Türkei einen großen Machtkampf zwischen der AKP-Regierung, sowie der Gülen-Bewegung. Während beide Seiten mit harten Mitteln ihren Machtkampf führten, wurde im Internet zunächst
eine Tonaufnahme veröffentlicht. In dem über zehn
Minuten dauernden Gespräch von Ömer Güney mit
zwei türkischen Agenten ist zu hören, wie sie Mordpläne und Fluchtwege planen. Darüber hinaus wurden noch viele andere Namen von kurdischen Politiker_innen genannt, an denen auch Morde geplant
sind. Wenige Tage danach tauchte ein weiteres Dokument auf. Ömer Güney wird in diesem Dokument
mit dem Mordattentat beauftragt. Das Dokument ist
mit Unterschriften von Mitgliedern des türkischen
Geheimdienstes versehen.
Hintergrund – Wie sind diese Morde zu bewerten?
RONAHÎ #43
Fest steht, dass Sakine Cansiz bewusst als Ziel ausgewählt wurde. Es handelt sich bei den Morden um
äußerst gut organisierte, geplante und professionell
ausgeführte Taten. Die Morde in dieser Form können nicht von einer einfachen Person verübt worden
sein. Fest steht, dass dieser Mord von professionellen
Kräften ausgeführt wurde. Kräfte, die eine friedliche
Lösung der Kurdenfrage verhindern wollen, Kräfte
wie die türkische „Gladio“, die sich auf internationale Kräfte stützen und vom tiefen Staat unterstützt
werden. Die Morde in Paris waren kein Zufall, sondern wurden äußerst bewusst geplant, sehr professionell strukturiert und sind als politische Morde zu
bewerten.
Zweifellos wurden die Morde aus mehr als nur einem Grund verwirklicht. Solch politisch motivierten
Morde werden nicht aus einfachen Gründen begangen. Schon gar nicht so professionell durchgeführte Morde. Deshalb muss man sich im Hinblick auf
die Hintergründe weit aus dem Fenster lehnen. Kurz
vor dem Massaker wurde der 68-tägige Hungerstreik
von über Tausenden politischen Gefangenen mit dem
Aufruf von Abdullah Öcalan beendet. Die AKP-Regierung war in eine ausweglose Lage geraten und
sah sich gezwungen, Gespräche mit Abdullah Öcalan
aufzunehmen. Die Gespräche zwischen Ankara und
Imrali gelangen nun auch an die Öffentlichkeit. Sowohl von Abdullah Öcalan, als auch aus Kandil und
der kurdischen Bevölkerung war ein großes Interesse
und Unterstützung zu sehen, um das Blutvergießen
zu beenden. An erster Stelle sollten diese Morde die
anlaufenden Gespräche zukünftig verhindern und
den Friedensprozess sabotieren, der ins Rollen gekommen war. Kurz nach den Morden gab Hüseyin
Celik, der stellvertretende Parteivorsitzende der
AKP, bekannt, dass es sich ihrer Vermutung nach bei
den Morden, um eine „interne Abrechnung“ handle.
Zwischen Abdullah Öcalan und Sakine Cansiz soll
es schon seit Jahren Streitigkeiten gegeben haben.
Weiterhin führten sie an, dass es sich bei den Morden
um Provokationen handle, um eine friedliche Lösung
der kurdischen Frage zu verhindern. Offensichtlich
macht sich bei diesen Aussagen bemerkbar, dass
die türkische Regierung auf ihrer psychologischen
Kriegsführung beharrt. Es ist offensichtlich, dass
die türkische Seite versucht, diesen heimtückischen
Mord zu verschleiern, zu manipulieren und zu verdrehen.
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RONAHÎ #43
»» Sara, Rojbin, Ronahî
Die Rolle Frankreichs...
Auch Frankreichs Einfluss und Rolle darf bei diesen
Morden nicht außer Acht gelassen werden. Nach Erdogans Vorwürfen, die EU würde den „Terroristen“
Raum bieten, gab der für die Anti-Terror-Angelegenheiten zuständige französische Richter Thierry
Fragnoli bekannt, dass insgesamt vier Richter, acht
Staatsanwälte und 28 Kommissare ausschließlich im
Hinblick auf die Kurd_innen in Frankreich arbeiten
würden. Viele politisch aktive Kurd_innen, unter anderem auch Sakine Cansiz, standen 24 Stunden lang
unter Beobachtung und waren starken Repressionen
ausgesetzt. Der Staat führte so seine staatlichen Repressionen und seine enge Zusammenarbeit mit der
Türkei durch. Die Festnahme von Adem Uzun darf
in diesem Zusammenhang ebenfalls nicht vergessen
werden. Adem Uzun war im Namen des KNK nach
Paris gereist, um dort an einer Konferenz über die
Entwicklungen in Westkurdistan am 13. Oktober in
den Räumlichkeiten des französischen Parlaments
teilzunehmen. Am 06. Oktober wurde er während einer Razzia in Paris festgenommen.
che Informationen benachrichtigt, über die Frankreich verfügt. Frankreich schweigt. Auch wurde die
Geheimhaltungspflicht über weitere Informationen
nicht aufgehoben, die eventuell das Verfahren beschleunigen könnten. In welchem Zustand und wo
sich Ömer Güney befindet, ist ebenfalls fragwürdig.
Die juristische Untersuchung mit all den öffentlichen
Hinweisen auf die Hintermänner oder Unterstützer
wurde abgeschlossen. Zugleich führt Frankreich seine Beziehungen mit der Türkei fort. Weder Erdogan
noch andere staatliche Vertreter_innen wurden bis
dato von Frankreich konfrontiert, geschweige denn
von ihnen Aufklärung oder Kooperation gefordert.
Kein Interessenbereich? Ist euer Schweigen das Eingeständnis eurer Mitschuld?
Aber auch dieses Schweigen und die Ignoranz hat
Frankreich mit schweren Folgen miterleben müssen.
Ende 2014 wurde die Satirezeitung Charlie Hebdo
und kurze Zeit danach 130 Menschen Opfer fundamentalistischer Anschläge. Frankreich ist in einen
Krieg involviert, von dem sie nicht wegkommen
werden, wenn sie ihre politisch und ökonomischen
Der Eingang zum Gebäude, in dem sich auch das Interessen über Gerechtigkeit und Wahrheit stellen.
Kurdistan Informationszentrum befindet, wird durch Solange die Morde an den drei Freundinnen nicht
viele Kameras in der Umgebung erfasst. Direkt ge- aufgeklärt werden, wird Frankreich in dieser Dungenüber des Büros befindet sich der Supermarkt Car- kelheit bleiben.
refour, welche über eine 360°-Kamera verfügt. Die Und auch wir werden nicht schweigen und bei jeder
Ermittlungsbehörden haben bis heute noch keine Gelegenheit für die Aufklärung der Morde kämpeinzige Erklärung dazu abgegeben. Viele weitere und fen. Wir wollen Gerechtigkeit für Sara, Rojbîn und
ähnliche Indizien gestalten das Ganze in eine sehr Ronahî. Der türkische Staat und die EU müssen mit
unseriöse und fragliche Richtung.
ihrer Unterdrückungs- und Vernichtungspolitik geBei dem Attentat auf Charlie Hebdo wurden mit Hil- genüber Kurd_innen aufhören und die Forderungen
fe der modernsten Überwachungstechniken, über die der kurdischen Bevölkerung nach Frieden und Freider französische Staat verfügt, die Täter in wenigen heit unterstützen. Dieser Anschlag war nicht nur geStunden komplett ausfindig gemacht. Es ist deshalb gen die Freiheitsbewegung gerichtet, sondern gegen
sehr fragwürdig, was die Aufklärung der Morde vom den fortschrittlichen Kampf der kurdischen Frau. Die
09.01.2013 so schwer macht. Wie unter solch stren- Vorreiterrolle der Freundinnen in diesem Kampf geger Beobachtung ein derartiger Mord geschehen gen patriarchale, feudale und sexistische Strukturen
konnte, bleibt fragwürdig. Oder gibt es etwas zu ver- war der kapitalistischen Moderne ein Dorn im Auge.
Dieser Mord war ein gezielter Angriff gegen unseren
heimlichen, Frankreich?
Kampf. Aber sie hat ihn nicht geschwächt, sondern
Auch drei Jahre nach den Morden wird weder von uns noch einmal bewusst gemacht, wie richtig wir in
der französischen Regierung, noch von der türki- diesem Kampf sind und dass wir ihn niemals aufgeschen Regierung das Interesse oder der Wille ge- ben werden!
zeigt, die Morde aufzudecken. Weder wurden Angehörige der Opfer, noch die kurdische Öffentlichkeit, JIN – JIYAN – AZADÎ !
die auch nach drei Jahren die Morde noch immer Sara – Rojbîn – Ronahî, Berxwedan heya dawî.
nicht verkraftet hat, kontaktiert oder über zusätzli- Sara – Rojbîn – Ronahî, Widerstand bis zum Schluss!
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»» Rolle der Frau in Rojava
RONAHÎ #43
Die Rolle der Frau in Rojava
» » Pelin (YXK Bochum)
„Wir sind nicht bloß Frauen, die gegen den IS kämpfen. Wir kämpfen, um die Mentalität der Gesellschaft zu
verändern und der Welt zu zeigen, wozu Frauen fähig sind. Wir wollen nicht, dass die Welt uns wegen unserer
Waffen kennt. Wir wollen, dass sie unsere Ideen kennen.“
Sozdar, Kommandeurin bei der YPJ
D
er 12. November 2013. An diesem Tag wurde in Rojava im Westen Kurdistans (Nordsyrien) die Autonomie ausgerufen. Für die
Menschen und insbesondere die Frauen in diesem
Gebiet hat das fundamentale Veränderungen mit sich
gebracht. Schaut man nur 5 Jahre zurück in die Vergangenheit, galt die Frau noch als Besitz des Mannes.
Sie war seine „Ehre“ und zugleich auch immer eine
Garantie für sein ganz persönliches Wohlbefinden
und seine Bequemlichkeit. Sie war sein schönes Aushängeschild. Sein Spielzeug. Ein Objekt. Vielleicht
schon im Kindesalter verheiratet und nun als Zweitoder Drittfrau, ist sie an den Herd gebunden und verantwortlich für zahlreiche Kinder. Ausgebeutet und
missbraucht wird sie gezielt vom gesellschaftlichen
Leben und von Bildung ferngehalten.
Vom Baath-Regime wurden den Kurd_innen elementare Rechte, wie das Wahlrecht, die Muttersprache
und sogar die Staatsbürgerschaft genommen. Auch
alle anderen ethnischen und religiösen Minderheiten
werden im Gegensatz zur arabischen Bevölkerung
stark ökonomisch und sozial benachteiligt. Noch
- 57 -
RONAHÎ #43
»» Rolle der Frau in Rojava
heute haben terroristische Organisationen wie Daesh
(ISIS/IS), die im Zuge des syrischen Bürgerkriegs
aufgeblüht sind, tausende Frauen und Mädchen, insbesondere Ezidinnen und Christinnen verschleppt,
gefoltert, sie zu ihren Sexsklavinnen gemacht und
den Menschenhandel wieder eingeführt.
lah Öcalan, der 1978 die Arbeiterpartei Kurdistans
(PKK) mitbegründete. Dieses „Detail“ bleibt von
den Mainstream-Medien jedoch völlig unbeachtet.
Somit werden die Motive dieser Frauen neutralisiert
und man nimmt ihnen ihre politische Identität. Sie
sind aber keine Maskottchen oder Aushängeschilder
Aber was wäre die kurdische Kultur ohne den Wi- im Kampf gegen Daesh (ISIS/IS). Sie beteiligen sich
derstand? Schon in den 1990er Jahren hat sich auf als Subjekte im zweifachen Kampf für eine befreite
Initiative der Yekîtîya-Star in Rojava eine starke Frau und eine befreite Gesellschaft.
Frauenbewegung entwickelt. Die Frau wurde über „Wir sind nicht bloß Frauen, die gegen den IS
ihre Rechte und ihre Geschichte aufgeklärt und wei- kämpfen. Wir kämpfen, um die Mentalität der Getergebildet. So wurde das Fundament für die heute sellschaft zu verändern und der Welt zu zeigen,
stattfindende Revolution erbaut. Seit 2011 gibt es in wozu Frauen fähig sind. Wir wollen nicht, dass die
Rojava zwei Frauenakademien, 26 Bildungszentren, Welt uns wegen unserer Waffen kennt. Wir wollen,
einige Frauenhäuser und Frauenräte. Alle Institutio- dass sie unsere Ideen kennen.“ – Sozdar, Kommannen haben die Funktion des Schutzes, der Beratung deurin bei der YPJ
und Bildung der Frau. So wird außerdem gegen patri- Aber wie könnte man auch sonst die Frauen aus Roarchale Strukturen innerhalb der eigenen Gesellschaft java öffentlich feiern, während die PKK als terrorisgekämpft. Nicht nur in der Praxis sind Frauen an al- tische Vereinigung eingestuft ist?
len Prozessen beteiligt. Die Gleichstellung der Frau
ist auch gesetzlich fest verankert. Zwei Beispiele
hierfür sind zum einen die 40%-Quote für die Beteiligung von Frauen und zum anderen das Hev-SerokSystem (Prinzip der Doppelspitze). Gesetzliche Änderungen werden der Bevölkerung, unter anderem
durch die von Frauen für Frauen geschriebene Zeitschrift „Dengê Jîyan“ mitgeteilt. So wurde in einer
Ausgabe beispielsweise das nun geltende Verbot für
Kinder-/Zwangsheirat und Berdêl (Mädchentausch)
veröffentlicht. Weiterhin hat sich im Jahr 2013 autonom von der YPG (Volksverteidigungseinheiten),
die YPJ (Frauenverteidigungseinheiten) gegründet.
Mit geschätzten 15.000 Kämpferinnen beteiligen
sich Frauen allen Alters militärisch am Kampf gegen
Daesh (ISIS/IS) und dem Assad-Regime und verteidigen Menschen mit ihrem Leben.
Die Mainstream-Medien sind häufig begeistert von
den Kämpferinnen der YPJ und loben ihren mutigen
Kampf gegen so barbarische Feinde wie den sogenannten „Islamischen Staat“.
Frauen aus dem Mittleren Osten werden erstmalig,
zumindest in dem Maße, auch von Modezeitschriften wie „Marie Claire“ als glorreiche Kämpferinnen
porträtiert. Allerdings ist zu erwähnen und daran zu
erinnern, dass alle eben beschriebenen Fortschritte
auf eine ganz bestimmte Ideologie zurück zu führen sind. Die Fortschritte basieren auf dem Demokratischen Konföderalismus, formuliert von Abdul- 58 -
»» Jîneolojî
RONAHÎ #43
Haben wir Rêber Apo wirklich verstanden?
Jîneolojî
» » Dastan (YXK Stuttgart)
D
ie Wissenschaft der Frau – Jîneolojî. Ein
durchaus interessanter Begriff, zumal der
Wissenschaftsbegriff zuweilen das Erste ist,
was der_die normale Student_in in seinem/ihrem
ersten Semester definiert bekommt. In den Sozialwissenschaften ist eine der wichtigsten Prämissen,
dass es nicht die eine soziale Realität gibt. Die Sozialwissenschaften versuchen sich an das, was soziale
Realität ist, durch qualitative oder quantitative Arbeit
heranzutasten. Dennoch ist trotz dieser bescheidenen
Begrifflichkeit der Wissenschaft auch die Sozialwissenschaft geprägt von Denkern, die durchaus totalitär
und fast schon deterministisch im Umgang mit ihren
eigenen Theorien waren. Beschäftigt man sich mit
dem Positivismusstreit oder mit dem Anspruch der
realistischen Theorie der internationalen Beziehungen, die wirklich alles, was auf der Bühne der Weltpolitik geschieht, mit einer negativen Anthropologie
zu erklären sucht, so wird einem schnell bewusst,
dass es höchste Zeit ist, in Forschung und Wissenschaft das zu etablieren, was Jîneolojî ist.
Zunächst ist es wichtig, Jîneolojî von der allgemeinen Frauenfrage zu trennen. Hier geht es nicht um
die Analyse der Frauenbewegung, der Guerilla, der
Mütter oder sonstiger rollengebundener Subjekte.
Vielmehr geht es um die Wissenschaft, die ganz im
Sinne des Erkenntnisgewinns voranstellt, dass noch
gar nicht klar ist, was eine Frau nun wirklich ist. Da
Frauen, frei nach Serok Apo, die älteste kolonialisierte Gruppe der Welt sind, ist auch ihre Rolle in der Welt
der Wissenschaft eine, die von dieser Fremdbestimmung beherrscht wird. Tatsächlich bestehen gerade
die Reihen der linken Klassiker aus einer intellektuellen patriarchalen Elite. Sozialwissenschaft besteht
eben aus der Analyse der gesamten Gesellschaft,
wozu Frauen ebenfalls gehören. Dass dies nicht der
Fall ist, wenn es nach den Gründervätern des klassischen Kommunismus geht, wird klar, wenn man sich
mit Serok Apos direkter Kritik des Realsozialismus
des 20. Jahrhunderts und der Selbstkritik der PKK
auseinandersetzt. Die Analyseeinheiten Bourgeoisie
und Proletariat verbergen eine Bandbreite an anderen
sozialen Konfliktgruppen, die gehört werden müssen
um eine wahrhaft egalitäre Gesellschaft zu erschaffen. Ob das nun die Missachtung der Jugend oder die
Kolonisierung der Frau ist: Sowohl in Theorie als
auch in Praxis wird es Zeit, die bisherige Rhetorik und
bisherige theoretische Rahmen zu überdenken. Genau das macht Jîneolojî möglich. So ist es ein Beitrag
über die Frauenbewegung, wenn man einen Artikel
- 59 -
RONAHÎ #43
»» Jîneolojî
über Frauen in der Guerilla schreibt. Jîneolojî wäre
es jedoch einmal zu erheben, wie viele junge Frauen
es denn sind, die tatsächlich erst zwischen den kurdischen Bergen und dem tagtäglichen Kampf gegen
die Besatzerstaaten überhaupt Lesen und Schreiben
lernen und was der Grund dafür ist. Es ist Jîneolojî zu
erheben, für was Frauen sich in unserer Gesellschaft
denn eigentlich selbst halten, wie sie ihre Kolonialisierung eigentlich selbst erleben und einschätzen.
Es ist Jîneolojî ein wissenschaftliches Vakuum herzustellen, innerhalb dessen endlich die genaue Frage
nach dem Sein der Frau beantwortet werden kann.
Besonders zu betonen ist die ästhetische und moralische Komponente, die diese Wissenschaftsform
nach Serok Apo hat. So ist nicht nur - wie bereits
aufgeführt - die politische Theorie eine Denkschule, welche von Männern dominiert wurde und weiter
wird, nein, auch die Moral ist eine patriarchale Moral geworden, wie Serok sagt. Tatsächlich mag diese Verbindung von Moral und Wissenschaft dem ein
oder anderen modernen Zeitgenossen der Forschung
unwissenschaftlich und irrational vorkommen. Hält
man sich jedoch an die griechische Antike und sogar
weiter noch an den zoroastrischen Ursprung dessen,
was wir heute Philosophie nennen, so wird klar, dass
es doch der Erkenntnisgewinn ist, der Menschen zu
moralischen Wesen macht.
tionalen Intelligenz der Frau und der analytischen Intelligenz des Mannes darlegt, so muss uns bewusst
werden, dass nur die Frau selbst diesen Weg begehen kann. Blickt man in die Realität der kurdischen
Frau im zivilen Leben, ob nun in Kurdistan oder im
Exil, so wird oft schmerzhaft bewusst, dass auch in
der freien Gesellschaft das Leben dieser Frauen von
Männern diktiert wird. Allein im politischen Aktivismus zeigt sich eine Weigerung des autonomen Handelns, des sich Loslösens von männlichen Akteuren,
die im Zweifelsfall den Ton ansagen. Leider zeigt
sich auch in der Ciwanên Azad (kurdische Jugend)
die Dominanz des Männerbildes nach außen, obwohl
mindestens genauso viele junge Frauen wie junge
Männer an Demonstrationen, Sitzungen und sonstigem teilnehmen. Im Bewusstsein als YXK, als Teil
der gesamten kurdischen Jugend und nicht als eine
Art intellektueller Elite, die vom Elfenbeinturm aus
weise Worte zum Plebs wirft, ist es die allererste Aufgabe diesen Geist der Jîneolojî zu verinnerlichen und
weiterzugeben. Bloßer Militarismus, bloßer Aktivismus darf kein Selbstzweck sein. Gerade eine Theorie, wie die des Demokratischen Konföderalismus,
hat Serok Apo Jahre der intensiven Studien gekostet.
Wie soll diese Theorie dann verinnerlicht werden,
wenn unsere Jugend keinen Umgang damit hat? Genauso, wie sich kein YXK-Mitglied zu schade sein
Schon immer war es der Erkenntnisgewinn, der Men- sollte, Militanz und Stärke im Widerstand der Praxis
schen vor die Frage des Moralischen, des Guten ge- zu zeigen, so sollten keine Jugendlichen, die in einer
stellt hat. Um zum Vakuum zurück zu kommen, ist Realität fern der institutionalisierten Bildung leben,
es doch die deontologische Ethik Kants, die gedeu- wie die Universität sie eine ist, keinen Bezug zur thetet hat, dass es die intrinsische Motivation und der oretischen Arbeit im Rahmen der PKK haben. Es gab
intrinsische gute Wille ist, der Menschen zu mora- genügend laute Revolutionen, die schnell verpufft
lisch handelnden Wesen macht. Natürlich ist Wis- sind. Lasst uns endlich im Sinne des Erkenntnisgesenschaftstheorie ein verzwicktes Feld, und diese winns eine stille Revolution des Wissens anspornen,
Interpretation der Jîneolojî mag nicht jeden vollends die kein Ende haben wird.
befriedigen, dennoch halte ich gerade diese Prämisse Jîn, Jîyan, Jîneolojî û Azadî !
einer fast schon in sich geschlossenen Wissenschaft
der Frau, eine sich selbst entdeckende Lehre, eine Quellen: jineoloji.com, jineoloji.org
Denktradition der Ästhetik und Ethik für die, die
dann tatsächlich aus der bloßen abstrakten theoretischen Diskussion den Geist macht, den die kurdische
Frau verinnerlichen muss, um ihre eigene Revolution
zu schaffen. Die Werkzeuge sind uns durch Theorie
und Praxis der PKK gegeben. Die Umsetzung ist jedoch ein harter Prozess, der tatsächlich nicht diktiert
wird. Erinnern wir uns nämlich daran, wie Serok Apo
die grundlegende Unterscheidung zwischen der emo-
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»» Männlichkeit
RONAHÎ #43
Männlichkeit
» » Ein Genosse in der YXK Berlin
Liebe Genossen,
ja ich schreibe bewusst Genossen. Vor Kurzem erschien im Kurdistan Report Nr. 182 ein Artikel mit
der Überschrift „Vor allem der Mann muss sich ändern“. Immer wieder wird das Thema der Männer
auf Verbandsebene angesprochen, aber auch in den
Ortsgruppen immer wieder thematisiert. Es geht um
dominantes Redeverhalten, Freundinnen, die deswegen nichts sagen und an vielen Stellen eine zu geringe Auseinandersetzung mit unserer Rolle als Männer
in der Gesellschaft. Rêber Apo sagt dazu:„Die Begriffe von Macht und Herrschaft anhand des Mannes
zu analysieren, gestaltet sich äußerst schwierig. Es
ist weniger die Frau, die sich einer Veränderung verweigert, sondern vielmehr der Mann“ (vgl. Abdullah
Öcalan – Die Revolution ist weiblich). Wir wissen,
und das ist auch die Stärke der Analyse unserer Bewegung, dass sie im Gegensatz zu klassischen marxistischen Denkern die Frauenfrage nicht als Nebenwiderspruch abtut. Viele Marxist_innen verstehen
unter dem Hauptwiderspruch die Überwindung des
Kapitalismus und erst danach, sozusagen als Nebenwiderspruch, die Befreiung der Frau. Im Gegenteil
dazu sagen wir: „Keine Befreiung der Gesellschaft
ohne die Befreiung der Frau“. Oder wie es in vielen
Städten Rojavas auf großen Bannern über den Straßen heißt: „Jin, Jiyan, Azadî“ (Frau, Leben, Freiheit).
Doch was bedeutet es, sich mit seiner Rolle als Mann
in der Gesellschaft auseinanderzusetzen? Was bedeutet es, wenn Rêber Apo sagt, dass er den Mann in sich
getötet hat?
Doch was heißt das für mich ganz persönlich? Es bedeutet, dass ich einen langen Kampf für mich und gegen mich (meine Männlichkeit) aufgenommen habe,
von dem ich weiß, dass er nicht enden und dass er
weiterhin von viel Kritik geprägt sein wird. Doch
durch die Kritik lerne ich und ich wachse. Wenn ich
fünf Jahre zurückblicke, sehe ich mich als jemanden,
der vor allem durch Wissen dominierte, der nie darüber nachdachte, was das Wort Reproduktionsarbeit
bedeutete und für den es selbstverständlich war, nicht
über seine Ängste zu sprechen.
Ich möchte euch daher mitnehmen auf eine kleine
Reise. Am Anfang stehe ich, der zwar gegen Sexismus, Rassismus und die ganzen anderen ‚–Ismen‘ ist,
doch der sich theoretisch kaum bis gar nicht damit
auseinandergesetzt hat. Ich war dagegen, weil das
einfach dazugehörte, wenn man sich in linken Kreisen bewegte. Ich erinnere mich an einen Moment in
unserer Gruppe: Eine Freundin versuchte immer wieder vor allem meine dominante Rolle anzusprechen,
doch wurde sie insbesondere von den Genossen als
„ultra krasse Feministin“ abgetan (natürlich war das
negativ gemeint). Die nächste Erinnerung ist Sookee
(eine queer-feministische Rapperin), deren Texte ich
beim Arbeiten höre. Ich denke viel darüber nach was
sie sagt. Sie spricht von Rollenbildern, gesteht eigene
Fehler ein, rappt zum Thema Sprache und Konstruktion und hilft mir dadurch sehr. Ich beginne einiges
klarer zu sehen. Später dann kommt das Thema Sexualität dazu. Übergriffe. Was bedeutet es jemanden zu
küssen ohne zu fragen? Ich beginne mehr darauf zu
achten. Immer wieder sehe ich, wie Typen „im VorDie Befreiung der Frau ist auch die Befreiung des beigehen“, ganz „beiläufig“ mit ihrer Hand über den
Mannes
Po einer Frau streifen, sehe wie die Typen den Frauen
Es beginnt mit der Erkenntnis, dass die Befreiung der hinterherpfeifen. Immer häufiger sehe ich das, immer
Frau auch die Befreiung des Mannes bedeutet. Denn mehr denke ich darüber nach. Was bedeutet es sich
obwohl wir als Männer in fast allen Bereichen des als Frau im öffentlichen Raum zu bewegen? ZuLebens privilegiert sind, leiden wir doch zugleich un- nehmend fange ich an, mit Freundinnen darüber zu
ter unserer eigenen Männlichkeit. Unsere Männlich- reden. Die Gespräche eröffnen viele neue Perspekkeit muss Dreh- und Angelpunkt unseres Kampfes tiven, beschreiben Situationen, Momente, die mich
sein, wenn wir wirklich eine befreite Gesellschaft erschaudern lassen. Was die Freundinnen schon alles
anstreben.
erleben mussten! Jede, wirklich jede kann unzählige
- 61 -
RONAHÎ #43
»» Männlichkeit
solcher Geschichten erzählen. Ich beginne mehr dazu
zu lesen, Bücher, Texte und im Netz, auf Blogs und
Videos zu schauen. Immer wieder finde ich mich in
Situationen wieder, wo ich mich selbst reflektiere, um
nicht so dominant, Raum einnehmend oder aufdrängend zu sein. Ich erkenne mehr und mehr das Problem der Männlichkeit. Erkenne, wie hilfreich Feminismus für mich ist. Feminismus ist hilfreich für uns
Männer! Die Auseinandersetzung damit bedeutet einen immensen Gewinn. Es bedeutet viele Konzepte,
vieles von dem was uns unterdrückt, zu überdenken.
Es bedeutet die Loslösung von diesem einen Bild des
starken Mannes. Bedeutet die Identität neu zu denken
und neu zu performen. Es führt zu der Auseinandersetzung von uns Männern mit dem Patriarchat und
was es mit uns macht. Ist es z.B. ein Zeichen von
Schwäche als Mann zu weinen? Vielleicht sehen wir
es als Stärke, vielleicht bedeutet weinen Schwäche,
aber müssen wir dann nicht schwach sein um stark zu
sein? Hab ich jemals darauf geachtet, wie meine Körperhaltung, die Körperhaltung von Männern in der
Öffentlichkeit ist, wie viel Platz sie einnimmt und im
Gegensatz dazu die von Frauen? Die Auseinandersetzung damit bedeutet das Aufwerfen von Fragen. Und
das ist der Punkt an dem ich mich gerade befinde.
Immer noch am Beginn einer langen Reise.
natigen Bildung in einer Männereinheit muss jeder
Mann einmal auf die Plattform. Er muss einen Bericht über seine Rolle als Mann und seine Auseinandersetzung mit seiner Männlichkeit schreiben, den er
dann vor allen Männern vorliest. Dann dürfen ihm
die Freunde Fragen stellen und ihn kritisieren, was er
sich anhören muss, ohne sich zu verteidigen. Dabei
wird zwar der Freund kritisiert, doch oftmals merken
viele andere an sich ähnliche Züge, ähnliche Verhaltensweisen. Dadurch wird durch das Individuum die
Gesellschaft kritisiert.
Ich selbst merke zunehmend, wie ich das Konzept
von Kritik und Selbstkritik verinnerliche und dadurch einen neuen Schritt zur Entwicklung einer
reflektierteren Persönlichkeit erreicht habe. Vor Kurzem hat mich im Plenum eine gute Freundin, mit
der ich schon seit einigen Jahren eng befreundet bin,
dafür kritisiert, dass ich mich in die Arbeit der JXK
eingemischt habe. Und das vor unserer gesamten
Ortsgruppe. Trotzdem weiß ich, weil wir beide das
Konzept sehr ernst nehmen, dass sie mich kritisiert
und dadurch auch die anderen Freunde und die Gesellschaft, um mir zu helfen mich zu entwickeln. Ich
nehme ihre Kritik an, weil ich weiß, dass sie nicht
darauf abzielt mich schlecht zu machen, sondern mir
zu helfen. Unserer Freundschaft hat das nicht geschadet und auch für die anderen Freund_innen bin ich
Was heißt das für dich heval, Freund?
kein schlechterer Mensch, nur weil diese Kritik laut
Das heißt, von unseren Freundinnen zu lernen, ohne ausgesprochen wurde.
in Ohnmacht zu verfallen. Es bedeutet nicht, dass
man, weil man ein Mann ist (das heißt sich als Mann Es hat viel Zeit und Gespräche gekostet, um diesen
verortet und von der Gesellschaft so gelesen/gedeutet Punkt zu erreichen. Unseren Kampf als etwas Kolwird), schlecht ist. Es bedeutet nicht, dass die Frau lektives in jeder Hinsicht zu verstehen. Etwas, dass
besser ist. Es bedeutet, dass ich als Mann mit vie- der eine Teil, nicht ohne den anderen erreichen kann.
len Privilegien geboren werde, ohne dafür etwas tun Ein Kampf, der nicht ehrlich und nicht wahrhaft ist,
zu müssen. Das heißt für dich, dass du einen Kampf wenn er nur von einem Teil geführt wird. Denn durch
führen musst, mit deinen Freunden, gegen dich und die Kritik der Anderen lernen wir. Nicht umsonst ist
eines unserer zentralen Werkzeuge die Methode von
doch für dich.
Kritik und Selbstkritik.
Das Konzept der Plattform als Konzept der BeNeue Räume schaffen, den Verband stärken, die
freiung?
Befreiung erkämpfen
Aber durch dich kämpfst du auch gegen die Gesellschaft und für ihre Befreiung. Das Konzept der Platt- Ich habe versucht ein bisschen von mir zu erzählen,
form hat die Bewegung entwickelt um dem zentralen Freunde. Ich hoffe es regt euch an und hilft euch.
Kampf, dem der Befreiung der Frau, ein Werkzeug an Doch die Auseinandersetzung mit unserer Männlichdie Hand zu geben. Die Idee dahinter ist, durch Kritik keit sollte nicht auf der individuellen Ebene bleiben,
an einem Individuum die Gesellschaft und die in ihr weil das nicht funktionieren kann. Wir wollen kollekwirkenden Mechanismen offenzulegen. Kurz gesagt tiv leben, also müssen wir kollektiv lernen.
funktioniert es wie folgt: Im Laufe einer mehrmo- Wenn wir uns die Freundinnen anschauen, sollten
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»» Männlichkeit
wir uns ihre Doppelbelastung im Verband vor Augen
führen und verstehen, was das bedeutet. Die Freundinnen sind nicht nur ein sehr aktiver Teil der YXK,
sondern auch der JXK. Sie müssen sich oft häufiger,
teils doppelt so häufig treffen wie wir als Männer und
demnach auch sehr viel mehr Aufgaben übernehmen
und Zeit investieren. Noch immer ist es so, dass wenn
sich z.B. auf der Verbandssitzung die JXK trifft, die
Männer oftmals sehr widerstrebend zusammenkommen und auch nur teilweise über sich reden, weil
Organisatorisches ihnen gerade wichtiger erscheint.
Das muss sich ändern! Warum also schaffen wir keine neuen Räume und arbeiten dafür, uns als Männer
zu treffen, um mithilfe der Methoden unserer Bewegung, feministischer Literatur, der Jineologî und mithilfe der Worte der Freundinnen an uns zu arbeiten?
Wenn wir neue, sichere Räume schaffen, werden wir
unseren Verband immens stärken und mit sehr viel
mehr Klarheit und Offenheit arbeiten können.
Ich möchte an alle Freunde appellieren, die Werkzeuge zu nutzen, die uns von der Bewegung an die
Hand gegeben wurden. Wir können so viel gegen das
System kämpfen wie wir wollen, gegen Faschismus
und gegen Kapitalismus. Wenn wir uns nicht mit uns
selbst, mit unserer Männlichkeit auseinandersetzen,
werden wir es nie schaffen in einer befreiten Gesellschaft zu leben.
Oder wie es Rêber Apo formulierte: „Aus der Erfahrung unseres Kampfes weiß ich, dass der Befreiungskampf der Frau, sobald er den Bereich des Politischen betritt, mit äußerst heftigen Widerständen
konfrontiert ist. Doch ohne im politischen Raum zu
siegen, kann es keine bleibenden Errungenschaften
geben. Ein Sieg im politischen Bereich heißt dabei
nicht, dass die Frau die Macht übernimmt. Ganz im
Gegenteil bedeutet der Kampf gegen etatistische und
hierarchische Strukturen, solche Strukturen zu schaffen, die sich nicht an einem Staat orientieren und zu
einer demokratischen und ökologischen Gesellschaft
mit Freiheit für die Geschlechter führen. So wird
nicht nur die Frau, sondern die gesamte Menschheit
gewinnen.“
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RONAHÎ #43
RONAHÎ #43
»» Şehîd Zîlan
Das Symbol der kurdischen Frau: Şehîd Zîlan
» » Şilan (YXK Marburg)
„Ich möchte der Ausdruck des Freiheitskampfes
meines Volkes sein. Gegen die Politik des Imperialismus, die Frau zu versklaven, möchte ich die
Bombe an meinem Leib entzünden und zeitgleich
meine ganze Wut zeigen und das Symbol des Widerstandes der kurdischen Frau sein. Mein Lebenswille ist stark. Mein Wunsch ist ein erfülltes Leben
durch eine große Aktion. Der Grund für diese
Aktion ist meine Liebe zu den Menschen und zum
Leben.“
Şehîd Zîlan
Aber wer ist Zîlan und was kann eine Frau mit 25
dazu bewegen, solch eine Aktion durchzuführen?
Zeynep Kınacı, mit Kämpfer_innennamen Zîlan,
kam im Jahre 1972 im Zentrum von Malatya (kurd.
Meletî) zur Welt. Die aus einer mittelmäßig, patriarchal und kemalistisch geprägten Familie stammende
Zîlan absolvierte die Grundschule, sowie das Gymnasium in Malatya. Ihr Studium zur Reisebegleiterin und psychologischen Beraterin absolvierte sie
ebenfalls dort. Anschließend arbeitete sie einige Jahre als Krankenschwester im Bereich der Radiologie.
Zeynep Kınacı genoß eine liberale Erziehung und
fand den Kontakt und ihre Sympathie zur kurdischen
îlan – dieser Name wird in der kurdischen Ge- Freiheitsbewegung während ihrer Zeit am Gymnasischichte immer wieder mit Widerstand, Auf- um. Zîlan fing an Interesse an der Ideologie der PKK
ständen und Aufopferung assoziiert. Dieser zu entwickeln, während sich diese Anfang der 90er
Name steht in unser Vergangenheit für zwei beson- Jahre noch in der Aufbauphase befand. Sowohl die
dere Geschehnisse: 1930 wurden während der Ara- wirtschaftlichen Hindernisse, als auch politisch, gerat-Aufstände im Zîlan-Tal (Wan) hunderttausende sellschaftliche Haltungen hinderten sie Langezeit an
Kurd_innen Opfer türkischer Staatsgewalt. Am 30. ihrer Identitätsfindung.
Juni 1996 verwirklichte Şehîd Zîlan (Zeynep Kınacı)
während einer Militärparade in Dersîm eine Aufop- 1994 begann sie sich in Adana aktiv an den Arbeiten
ferungsaktion. Dabei kamen viele türkische Soldaten der Bewegung zu beteiligen. Ein Jahr lang führte sie
dort die Parteiarbeit. Zu den Arbeiten gab sie damals
ums Leben.
folgende Bewertung ab: „Eine ernsthafte Bildungsphase habe ich nicht durchmachen können. Da es
auf der Führungsebene zu einigen Festnahmen kam
und ich dadurch keine große Unterstützung erlangen
Z
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»» Şehîd Zîlan
RONAHÎ #43
konnte. Auch aufgrund einer bürgerlichen und unwirksamen Haltung des Einzelnen und trotz meines
großen Interesses, einen Persönlichkeitswandel zu
vollziehen, gelingt mir die Weiterentwicklung und
meine Erfolgserzielung nicht.“
1996 zeigte sie im Angesicht der Kriegshaltung gegenüber der Freiheitsbewegung eine sehr militante
Haltung. Eines ihrer letzten Worte an ihre Genoss_
innen war: „Ich möchte das Symbol der kurdischen
Frau werden.“
1995 schloss sich Zîlan in Dersîm der ARGK-Guerilla an. Beweggründe ihres Anschlusses waren vor
allem die existentielle Vernichtung der Kurd_innen,
dem sie damals im mittleren, sowie nahen Osten ausgesetzt waren. Das Bewusstsein und die Identität des
Mit diesem Versprechen verwirklichte sie am 30.
Juni 1996 in Dersîm während einer Militärparade
eine Aufopferungsaktion und sprengte sich in die
Luft. Bei diesem Anschlag kamen fünf Soldaten ums
Leben. Zudem wurden 35 Soldaten schwer verletzt.
Mit dieser Aktion hinterließ Genossin Zîlan innerhalb der Guerilla und der Bevölkerung eine sehr tiefe
Wirkung. Diese Aktion wurde innerhalb der Bewegung zu einer Wende.
Eine Frau Mitte 30, mit Träumen und Wünschen,
mit einer starken Persönlichkeit und einer großen
Lebensfreude beendet so ihr Leben. Warum?
Für viele Menschen ist es schwer, für solch einen
Anschlag Verständnis aufzubringen. Es klingt absurd
und unmenschlich. Aber...
In den 90ger Jahre wurde weder die Existenz einer
kurdischen Identität noch Kurdistan als ein geografischer Ort anerkannt. Die kurdische Sprache, kurdische Namen, kurdische Musik und Kultur waren
verboten. Kurd_innen wurden als „Bergtürken“ diffamiert und einer starken Assimilations- und Vernichtungspolitik ausgesetzt. Dörfer wurden komplett
verbrannt und vernichtet, Menschen zur Flucht getrieben und tausende festgenommen und ermordet.
Viele verschwanden während der Untersuchungshaft
und man hörte nie wieder etwas von ihnen.
Auf der anderen Seite erlebte die Freiheitsbewegung
in den 90er Jahren den Höhepunkt ihrer Gefechte,
sowie Verluste innerhalb der eigenen Reihen. Viele
Freund_innen verloren die Motivation, anderen fiekurdischen Volkes, konnten ihrer Ansicht nach nur
len, aber auch viele Menschen schlossen sich der Bemit Widerstand aufrechterhalten bleiben. Für diesen
wegung an.
Kampf waren geschichtliches Bewusstsein, kühne
Entschlusskraft und eine große Verantwortung an Zeitgleich gab es 1996 ein Bombenattentat auf Aberster Stelle notwendig. Innerhalb der Guerilla entwi- dullah Öcalan in der Parteischule in Damaskus, welckelte sie ihre Persönlichkeit entscheidend weiter. In che um Haaresbreite gescheitert ist.
Punkten wie Entschlossenheit, Moral und Bewusst- Und inmitten dieser Realität verwirklichte Genossin
sein entwickelte sie eine starke Haltung.
Zîlan eine Aufopferungsaktion. Ihre Verbundenheit
Sie interessierte sich vor allem für die Kurd_innen
und ihre Geschichte, die Anfänge der Menschheitsgeschichte, die PKK sowie die Haltung und Verbundenheit zu Abdullah Öcalan.
zu Abdullah Öcalan verdeutlichte sie in ihren Briefen
an das kurdische Volk, an die Frauenbewegung und
an den Vorsitzenden selbst. Dieser Anschlag auf Abdullah Öcalan war für sie in keinster Weise zu akzep-
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RONAHÎ #43
»» Şehîd Zîlan
tieren. Als Antwort dagegen richtete sie die Bomben
an ihrem Leib an den Feind.
Die Aktion von Sehid Zîlan war keine einfache
Selbstmordaktion. Abdullah Öcalan bewertet ihre
Aktion als eine vollkommen der Zeit angemessenen,
plan- und aufopferungsvolle, mutige und mit kühlem
Kopf durchdachte Aktion. Eine Angriffsaktion mit
einer sehr weitreichenden Dimension. Sie war direkt
an den Feind gerichtet. Gegen die Politik des Imperialismus, die Frau zu unterdrücken und zu versklaven.
In Anbetracht der Sabotage, Attentate und erfolgreichen Operationen, erklärte sie, welche taktische Aktionsverständnis die Bewegung verfolgen muss. Eine
Antwort, mit der sie ihre Verbundenheit zu dem Vorsitzenden nochmal Ausdruck verleihen wollte. Serokatî ergänzt folgenden wichtigen Punkt: „Die von
der Genossin Zîlan durchgeführte Aktion ist zugleich
auch ein Schlag gegen das genannte Selbstmordverständnis. Wenn ihr sterbt, dann sterbt richtig! Wenn
ihr angreift, dann greift richtig an!“ Dieser Anschlag
auf den Feind war nicht aus Verzweiflung, sondern
aus Stärke und Widerstand, aus Verbundenheit zur
Freiheitsbewegung. Sie sah ihre Aktion als Pflicht
für den Kampf. Hierbei wird das musterhafte und tiefe Begreifen der ideologisch- politischen Linie der
PKK deutlich.
Es ist eine vollkommen mit geschichtlichen Aspekten der Menschheit verbundene, eine organisierte,
eine mutige, aufopfernde und mit einem freien Willen durchgeführte Tat.
Es ist eine Aktion der freien Frau, die mit dem Leben
sehr verbunden war. Heval Zîlan zeigt den Frauen als
Wegweiserin den Weg in eine freie Welt. Indem sie
sich gegen den Feind gestellt hat und mit erhobenem
Kopf die Unterdrückung nicht akzeptiert hat, sich dagegengestellt und diese in ihrer Praxis widergespiegelt hat. Ihre Haltung zeigt, wie sehr sie die Ideologie
der Freiheitsbewegung verinnerlicht hatte. Ihre Praxis zeigt: eine große Aktion. Ein organisiertes Leben.
Die ideologisch - politische Reife. Die Art, das Verhalten, das Erreichen eines hohen Tempos.
„Wenn du lebst, lebe richtig! Wenn du stirbst, stirb
richtig. Wenn du angreifst, dann greif richtig an. So
einfach ist es.“ - Şehîd Zîlan.
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»» Audre Lorde
RONAHÎ #43
„black lesbian feminist mother poet warrior“
» » Helin (JXK Marburg)
A
udre Lorde kam 1934 in New York City auf
die Welt und wuchs im Viertel Harlem auf.
Nach der Schule schloss sie ihr Studium der
Bibliothekswissenschaft ab. Schon früh begann Audre Lorde ihre Gefühle, Lebensrealitäten und Kämpfe
durch Dichtung zu übermitteln. Ihre ersten Gedichte
schrieb sie im Alter von 13 Jahren. Später positionierte sie sich als lesbisch und brachte ihre darauf
bezogenen Gedanken und Gefühle auf Papier. Nicht
nur in den USA, sondern auch in Deutschland war sie
in Frauenbewegungen aktiv und wirkte dort bei der
afro-deutschen Bewegung mit.
„I am not free while any woman is unfree, even
when her shackles are very different from my
own.“
In ihrem Kampf setzte sie sich viel mit sich selbst,
aber auch mit den Geschichten anderer Frauen auseinander. Sie legte viel Wert darauf zuzuhören, zu
verstehen und mitzukämpfen. Die mehrheitlich weißen Frauenbewegungen kritisierte sie sehr scharf. Sie
machte stets deutlich, dass Frauensolidarität wichtig
sei, betonte jedoch die Notwendigkeit, verschiedene
Positionierungen mitzudenken, die im gemeinsamen
Kampf als Frauen oft nicht mitgedacht wurden und
betrachtete feministische Thematiken im Kontext
von Rassismus, Homophobie, Klassismus und Antisemitismus. Auch wenn alle Frauen Unterdrückungen als Frauen erleben, sind diese Unterdrückungen
nicht dieselben. Die Vielfalt der Frauen sah Audre
Lorde dennoch als eine Bereicherung des gemeinsamen Kampfes an, weil wir voneinander lernen können, Privilegien aufdecken und einen Umgang damit
finden müssen. In ihren Worten kennt die Unterdrückung von Frauen „keine ethnischen Grenzen, aber
das bedeutet nicht, dass sie innerhalb dieser Differenzen identisch ist. Denn jenseits von Schwesterlichkeit ist immer noch Rassismus“.
Sie zeigte auch patriarchale Einflüsse auf Männer
auf: “Men who are afraid to feel must keep women
around to do their feeling for them while dismissing
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„My silences had not protected me. Your silence
will not protect you.“- Audre Geraldine Lorde.
In ihren Worten „schwarz, lesbisch, Feministin,
Mutter, Dichterin und Kämpferin“.
RONAHÎ #43
»» Audre Lorde
us for the same supposedly „inferior“ capacity to feel
deeply. But in this way also, men deny themselves
their own essential humanity, becoming trapped in
dependency and fear.”
Wer ihren Kampf und ihre Arbeit verstehen will,
muss diese vielschichtige Positionierung begreifen.
Audre Lorde setzte sich mit allen Teilen ihrer Identität auseinander und sagte, dass sie jeden Teil als
Quelle ihrer Kraft ansieht. Sie schrieb und dichtete
über ihr Schwarzsein, ihr Frausein, Muttersein, Lesbischsein und über weibliche Sexualität. Auch mit
ihrer Krebserkrankung, an dessen Folgen sie 1992
starb, beschäftigte sie sich intensiv in ihrem „Krebstagebuch“ und setzte sie mit ihren verschiedenen Anteilen in Verbindung.
Dichtung betrachtete sie als ihre Bestimmung, durch
die sie nicht nur von Erfolgen und positiven Gefühlen,
sondern auch von der harten Realität, von ihrem „intensiven, ungemilderten Schmerz“ erzählen konnte;
über Wut, Trauer und Empörung. Ihre Dichtung beinhaltet jedoch vor allem die Botschaft: Befreie dich
selbst. Niemand wird kommen und dich aus deinen
Ketten lösen. Erhebe deine Stimme. Trau dich, Mut
zu zeigen. Dein Schweigen wird dich nicht schützen.
Erkenne deine Stärke und nutze sie.
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»» Grußbotschaft an Jugendbewegung in Europa
RONAHÎ #43
Über die Delegation zum 2. Kongress der Demokratischen und Freien Jugendbewegung in Europa
An alle Jugendlichen, deren Herzen im Takt der Freiheit
schlagen
» » Abdullah Öcalan (Imrali Insel, April 2015)
I
m Kampf der demokratischen Gesellschaft bedarf es für die Kategorie Jugend einer besonderen
Behandlung. Die Jugend ist in ihrem Sozialisierungsprozess mit vielen Fallen konfrontiert. Während sie auf der einen Seite traditionell patriarchale
Gesellschaftsmuster aufweist und auf der anderen
Seite sich mit den ideologischen Vorgaben der gegebenen Ordnung herumschlägt, verfügt sie über eine
dynamische Beschaffenheit, die für Innovationen offen ist. Gegenüber den Geschehnissen ist sie unheimlich unreif. Unter den Einflüssen der älteren Generation ist sie weit davon entfernt zu begreifen, welche
Rolle ihr zugemessen wird. Die unzähligen listigen
Verführungen der kapitalistischen Gesellschaft rauben der Jugend geradezu den Atem. All diese Gegebenheiten machen eine spezifische und von allen Fallen befreiende, der Natur der Jugend entsprechende
gesellschaftliche Bildung zwingend notwendig.
Eine Gesellschaft, die ihre Jugendlichen verliert,
oder umgekehrt eine Jugend, die ihre Gesellschaft
verliert, ist nicht nur besiegt, sondern hat darüber hinaus ihr Existenzrecht verloren und dieses verraten.
Alles andere ist Zerfall, Auflösung und Untergang.
Dagegen ist es die Hauptaufgabe der Gesellschaft als
Hauptwerkzeug zur Erhaltung ihrer eigenen Existenz Bildungseinrichtungen zu etablieren. Inhaltlich
gilt es wissenschaftliche, philosophische, künstlerische und sprachliche Interpretationen von Wissens-Macht-Komplexen zu trennen und somit eine
Bewusstseins-Revolution zu realisieren. Andernfalls
ist es nicht möglich, das moralisch politische Gewebe
der gesellschaftlichen Existenz zu funktionalisieren.
und unvorstellbaren Praxen ausgesetzt. Der Aufstieg
der hierarchischen Gesellschaft war nach der Frau
ausschlaggebend für die Situation der Jugend. Nicht
ohne Grund fühlt sich die Ordnung als stärkste Ordnung, welche die Jugend unter ihre Kontrolle bringt.
Die später auftretenden Staatsformen werden alle der
Jugend ähnliche Ausführungen aufzwingen. Eine Jugend, die eine solche Gehirnwäsche bekommt, kann
für alle Zwecke ausgenutzt werden und an vorderster
Stelle für schwere Arbeiten instrumentalisiert werden. Im Wesentlichen kann man sagen, dass durch
das aus der Schwäche und Kraft der Alten resultierende Verhältnis von Abhängigkeit und Zähmung der
Jugend dazu führt, dass sie vom herrschenden System
vereinnahmt wird, um sie mit voller Kraft zum Vorreiter des Systems zu machen. Wir müssen nochmals
betonen: Die Jugend ist kein physisches, sondern ein
gesellschaftliches Phänomen. Die Jugend hat allen
systematischen Angriffen zum Trotz nichts von ihrer
Neugier und Wärme verloren und verfolgt entschlossen das Ideal einer freien Gesellschaft. Der Slogan
„Entweder freies Leben oder keins“ sollte wie eine
Fahne der Jugend hochgehalten werden.
Die Bildung der Jugend ist eine Aufgabe, die große
Mühen und viel Geduld erfordert. Daneben verfügt
die Jugend mit ihrer Dynamik über die Möglichkeit
legendäre Offensiven zu starten. Sofern sie Ziel und
Methode gut verinnerlicht hat, gibt es keine Hindernisse, die sie nicht beseitigen kann. Sobald die Jugend ein zielorientiertes und systematisches Leben
als Hauptdisziplin begreift und sich dafür mit Geduld
und Entschlossenheit engagiert, kann sie bei historiEs ist schwierig eine Jugend aufzuhalten, die nach ih- schen Prozessen den wichtigsten Beitrag leisten.
rer Freiheit strebt. Die Jugend ist jene Gruppe, welche In der demokratischen Jugendbewegung wird eine
den Systemen am meisten Kopfschmerzen bereitet. Offensive unter Anführung von Kadern mit den oben
Weil dies durch die Geschichte hindurch bekannt ist, genannten Eigenschaften beim Kampf für eine demowird die Jugend unter dem Namen Bildung geopfert kratische Gesellschaft der Garant für den Erfolg sein.
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RONAHÎ #43
»» Grußbotschaft an Jugendbewegung in Europa
Eine gesellschaftliche Bewegung hat ohne die Dynamik der Jugend begrenzte Erfolgsaussichten. Für
die heutige Jugend können große Träume nur Bedeutung erlangen, wenn sie Auswege aus der bestehenden Systemkrise der Gesellschaft bieten. Eine Jugend
ohne Träume kann sich vor Degeneration und dem
vollständigen Verlust des Lebens nur retten, indem
sie zu ihren wahren Träumen zurück findet. Die endgültige Krise und den dadurch resultierenden Chaoszustand des kapitalistischen Systems zu begreifen,
ist Voraussetzung um einen Ausweg zu finden. Somit
wird ihr die Verinnerlichung von Werten einer demokratischen, frauenbefreiten und ökologischen Gesellschaft die Möglichkeit für einen historischen Erfolg
geben. Auf diese Weise wird die Jugend sich zum einen selbst neu strukturieren und zum anderen beim
Aufbau der ersehnten Gesellschaft ihre wahre Rolle
einnehmen. Alles wird sich anhand der korrekten und
tiefgründigen Beteiligung der Jugend an dieser historisch-gesellschaftlichen Offensivphase entscheiden.
die durch tausendjährige Feldzüge und Eroberungen
beabsichtigt aber nicht realisiert werden konnten.
Leere Träume, sowie die Abhängigkeit von einem
unwürdigen Leben sind Grund dafür, dass die heilige
Heimat von Göttinnen und Göttern freiwillig verlassen wird. Einem Volk kann keine größere Katastrophe und kein schlimmeres Elend widerfahren. Aus
diesem Anlass wiederhole ich, was ich zuvor bereits
gesagt habe: „Lasst uns unser Wasser, unsere Erde,
unsere Energie kommunalisieren und ein freies Leben, eine freie Gesellschaft aufbauen!“
Ohnehin ist der Kapitalismus eine Krankheit und
führt zum Ende der menschlichen Art. Dies geschieht dadurch, dass ihre Lebensweise einem Krebsgeschwür im Körper gleicht. Das Aussterben der
Menschheit bedarf keiner Meteoriten oder anderer
Naturkatastrophen. Die unglaubliche Ausbeutung der
Natur genügt, denn sie vernichtet die gesamte Ökologie und Umwelt. Ähnlich wie die Pest zu seiner Zeit
vernichtende Folgen hatte, werden innerhalb von
30 Jahren verheerende Ereignisse stattfinden, wenn
der Kapitalismus nicht gestoppt wird. Genmanipulierte Lebensmittel, übermäßiger Konsum, sowie
Fettleibigkeit u.ä. Probleme verbreiten sich wie ein
Krebsgeschwür. Arbeitslosigkeit, welche vor allem
die Jugend betrifft, führt zu Massenauswanderung in
fremde Metropolen, insbesondere in Richtung Europa. So werden die Menschen in eine Lage gedrängt,
fühlt sich die Jugend dieser Vergangenheit näher.
Die Demokratisierung der Gesellschaft hat die höchste Priorität. Wie bei allen revolutionären Massenbewegungen zu sehen ist, wird dies von Frauen und Jugendlichen angeführt. Diese beiden Kräfte stellen die
wichtigsten demokratischen Subjekte dar. Die Führungsrolle zu übernehmen ist keine leichte Aufgabe,
z.B erfordert es für die Teilnahme jedes einzelnen
Menschen zu sorgen. Es bedeutet, nicht zuzulassen,
dass das kapitalistische System den Menschen verEine Alternative zu sein ist nur möglich, indem man wahrlosen lässt. Die Führungsrolle bedeutet immer
im Gegensatz zu den vier Standbeinen der Kapita- wieder an diese Pflichten zu erinnern und es zu wielistischen Moderne (Nationalstaat, Industrialismus, derholen.
Patriarchat und Kapitalismus) sein eigenes System Die Jugend, welche die moderne Welt schnell beentwickelt. Demokratische Gesellschaftlichkeit, greift, verspürt eine große Wut gegenüber der hoffÖko-Industrie und Demokratischer Konföderalismus nungslosen Situation im mittleren Osten, in die sie
können unter dem Namen der Demokratischen Mo- geraten ist. Gegenüber der Stammesordnung und
derne als Alternative vorgeschlagen werden. Mit dem dem Nationalismus der mittelöstlichen Gesellschaft
Erbe der Demokratischen Zivilisation und der Eini- spürt sie Erschöpfung und Ausweglosigkeit. Aufgung von Systemgegnern um das neue System herum grund gemeinsamer Spuren von Geschichte und Kulwerden die Erfolgschancen gesteigert.
tur, welche eine demokratische Wahrheit beinhalten,
Um die vielen Kriege und Kämpfe zu überwinden,
die fortlaufen und auf geschichtlich-gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten basieren, bietet der Demokratische Konföderalismus eine Lösung. Gegen das
eigentliche Hindernis, welches die Kapitalistische
Moderne und der Nationalstaat als Hauptverantwortliche darstellen, ebnet die Lösung des Demokratischen Konföderalismus den Weg für Frieden, Gerechtigkeit und Freiheit. Eine demokratische Lösung
für irgendeinen Brennpunkt in der Region kann eine
Kettenreaktion in verschiedenen Krisengebieten mit
Wirkungen für die gesamte Region auslösen. Dafür
existieren zahllose Beispiele in der Geschichte. Dadurch, dass der demokratische Konföderalismus allen Gemeinschaften, Institutionen und Verschiedenheiten ermöglicht, sich am besten wieder zu finden,
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»» Grußbotschaft an Jugendbewegung in Europa
RONAHÎ #43
wird er lebensfähiger.
cherheitsbereich im Kampf um Freiheit und GleichDass dieses System nicht bekannt oder offiziell ist, heit auf aktivste Weise ihren Platz einzunehmen und
liegt an der ideologischen Hegemonie des herrschen- den Erfolg zu erzielen.
den Systems. Auch wenn es keine offizielle Definiti- Ihr wertvollen Jugendlichen aus Europa, euer Leben
on davon gibt, waren die Gesellschaften in der Ge- mitten im Zentrum des Kapitalismus und der Burschichte mehrheitlich konföderalistisch organisiert.
geoisie ist schwer. Ihr müsst euch effektiv schützen
Für die Frauen und Jugendlichen, die den größten und eure Gefühle, in die Heimat zurück zu kehren,
Bedarf an Frieden und Freiheit haben, sind vielseiti- lebendig halten. Dass dürft ihr niemals vergessen
ge Frauen und Jugendzusammenschlüsse als zivilge- und müsst eure Verbundenheit zur Heimat fortsetzen.
sellschaftliche Institutionen von großer Bedeutung. Dort könnt ihr ein gewöhnliches und einfaches LeOrganisationen, welche die geschichtlichen und ak- ben aufbauen, doch dass kann auch euer Ende sein,
tuellen politischen Ziele der Jugendlichen und Frau- das ist nicht meine Art und Weise.
en ansprechen, können zum einen die Hindernisse
der konservativen Gesellschaft und des despotischen
Staates überwinden und zum anderen für die gesamte Gesellschaft Institutionen bilden, an denen man
sich orientieren kann. Qualitativ und Quantitativ sind
diesen Zielen entsprechende und entschlossen organisierte Jugend- und Frauenzusammenschlüsse die
Garantie für den Erfolg der Zivilgesellschaft.
Wenn ihr wirklich an die Sache glaubt und die Last
eines Volkes tragen wollt, müsst ihr eine Prioritätenreihenfolge haben. Für mich ist das so. Für mein
Volk habe ich alles andere aufgegeben, etwas anderes
zählt für mich nicht. Bis ich sterbe werde ich für den
gerechten Kampf des kurdischen Volkes Widerstand
leisten. Wer an meiner Seite stehen will, muss dies
wissen und dementsprechend mit mir diesen Weg geEine Dachorganisation als „Demokratische Konföde- hen. Ansonsten müssen sie ihren eigenen Weg gehen.
ration“, die alle zivilgesellschaftlichen Institutionen Doch wenn ihr an diese Sache glaubt und etwas maumfasst, kann in Solidarität mit ähnlichen Organi- chen wollt, müsst ihr mir folgen und ein Leben mit
sationen innerhalb des eigenen Landes und anderer Prinzipien führen.
Länder in Form einer demokratischen Föderation das Ich habe die Demokratische Moderne entwickelt und
eigene System vollenden.
vorgeschlagen, um diese Probleme zu sehen und zu
Da die Jugend in der Organisierung der Demokrati- beheben. Diese Vorschläge sollen dazu führen unsere
schen Gesellschaft im Mittleren Osten die treibende Menschen vor der schmutzigen Lebensweise des KaKraft ist, kann sie ihre Rolle in konföderalen Organi- pitalismus zu retten. Die kapitalistische Lebensweise
sationsformen wahrnehmen. Es ist mir wichtig, dass absorbiert die Frau, die Jugend und das Leben insFolgendes bekannt ist: Es ist klar, dass die Entwick- gesamt. Grade in diesem Zusammenhang muss die
lung des freien Bewusstseins und der organisatori- Jugend in Europa noch viel vorsichtiger sein.
schen Fähigkeiten eines Jugendlichen und vor allem
einer jungen Frau mit Sicherheit die schwierigste
aber auch entscheidendste Aufgabe ist. Wir werden
unseren Mühen und unserem Fleiß gerecht werden.
Ich betone immer wieder: Ich bin immer noch jung.
Mein Aufruf an die Frau gilt auch für die Jugend.
Ich liebe die Jugend und alles was ich tue ist für die
Jugend. Wir haben jung angefangen und wir werden
es jung zu Ende bringen. Meine Geduld, Arbeitsweise und meinTempo können als Vorbild genommen
werden. Wird dies realisiert, ist der restliche Weg erleuchtet.
In einer Zeit wo auf der ganzen Welt Gesellschaftsgenozide stattfinden und vor allem der mittlere Osten
in Flammen steht, messe ich eurem Jugendkongress,
den ihr in Europa verwirklicht, historische Bedeutung zu und begrüße ihn. Insbesondere die jungen
Frauen und die gesamte Jugend grüße ich vom ganzen Herzen.
Wir haben jung angefangen und bringen es jung
zu Ende!
Ich rufe alle Jugendlichen, deren Herzen im Takte der
Freiheit schlagen, in der kommenden Phase dazu auf,
im wirtschaftlichen, sozialen, politischen und im Si- 71 -
RONAHÎ #43
»» Aufruf an die Jugend
Internationalist_innen in Rojava rufen die Jugend auf, sich
dem Widerstand in Bakûr anzuschließen
» » ANF/ISKU (14.01.2015)
Internationalistische Kämpfer_innen aus den Reihen der YPG (Yekîneyên Parastina Gel – Volksverteidigungseinheiten) und YPJ (Yekîneyên Parastina Jin – Frauenverteidigungseinheiten) haben eine Erklärung
veröffentlicht, in der sie den Widerstand in Bakûr (Nordkurdistan) grüßen. Die Revolutionär_innen rufen
die Jugend auf, sich dem Widerstand der YPS (Yekîneyên Parastina Sivîl – Zivilverteidigungseinheiten) und
YPS-Jin (Yekîneyên Parastina Sivîl-Jin – Zivile Frauenverteidigungseinheiten), sowie den Guerillakräften
HPG (Hêzên Parastina Gel – Volksverteidigungskräfte) und YJA-Star (Yekîtîya Jinên Azad-Star – Verband
der freien Frauen-Star) anzuschließen.
D
ie Pressekonferenz der internationalen
Kämpfer_innen wurde an der Grenze zwischen den Städten Qamişlo in Rojava und
Nisêbîn (türk. Nusaybin) in Bakûr abgehalten. Die
Erklärung auf Kurdisch, Spanisch, Deutsch und Englisch ruft alle Jugendlichen weltweit auf die Revolution in Kurdistan zu unterstützen.
men sind, um sich dem Kampf für die Befreiung
anzuschließen. Wir leben in einer Zeit des anhaltenden Krise. Während im Herzen des Leviathans der
Feind die Menschen weiterhin auf gründlichste und
schlechteste Weise abstumpfen lässt, sie betäubt und
versklavt, gehen die Schranken im Krieg verloren.
Heute lebt die Unterdrückung von 500 Jahren KapiDie Presseerklärung der deutschen, französischen talismus in unzähligen Formen.
und spanischen Revolutionär_innen lautet wie folgt: Die Herrschenden kennen keine Grenzen, wenn es
„Wir sind Revolutionär_innen aus aller Welt, die darum geht ihren Reichtum zu sichern und ihre Interaus ihrem eigenen Willen nach Kurdistan gekom- essen zu verfolgen. Wenn wir auch nur auf die Nachrichten eines einzigen Tages blicken, fällt es leicht
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»» Aufruf an die Jugend
in Verzweiflung zu versinken. Und das ist genau der
Punkt. Wir sollen glauben, dass es keine Alternative
gibt, dass das System, in dem wir leben, die einzige
Wahl ist.
Als die Sowjetunion zusammengebrochen ist, wurde gesagt, dass wir „am Ende der Geschichte“ angekommen sind. Aber nun, 25 Jahre später, sehen wir
erneut, dass der Kapitalismus weder im Stande war,
noch jemals sein wird, unsere Probleme zu lösen. Im
Gegenteil hat er mit jeder so genannten Lösung die
Probleme nur multipliziert.
Das System gedeiht auf Unterdrückung. Die Unterdrücker brauchen uns. Sie können ohne uns nicht
existieren, aber wir können ohne sie. Sklaverei,
Krieg und Leid, Einsamkeit und Verzweiflung sind
weder Schicksal noch Zufall, sie sind unvermeindliche Eigenschaften einer kapitalistischen Gesellschaft. Es ist deshalb unsere dringenste Pflicht, sich
dagegen zu organisieren. So sehr, sie auch versuchen
unser Gewissen zu überwältigen und ihre Wahrheit
in unsere Herzen zu pflanzen – wir lassen uns nicht
RONAHÎ #43
länger täuschen. Die Alternative existiert direkt vor
unseren Augen.
Der Widerstand der PKK (Partiya Karkerên Kurdistanê – Arbeiterpartei Kurdistans) gegen die Besatzer,
namentlich vor allem gegen den türkischen Staat, besteht seit mehr als 40 Jahren. Die PKK kämpft für
die Freiheit und Autonomie, nicht nur der Kurd_innen, sondern für alle Völker des Mittleren Ostens.
Vor 4 Jahren entzündete der Funke im westlichen
Kurdistan, genannt Rojava, das dann von der syrischen Besatzung befreit wurde. Die Menschen aus
Rojava haben sich selbstorganisiert und gemeinsame
eine umfassende soziale Revolution geführt. Überall
wurden Räte und Kommunen für die lokalen Verwaltungen und Kooperativen gegründet, als Basis für
eine neue Wirtschaft. Der historische Widerstand zur
Verteidigung der Revolution, der Kampf der Guerilla, die Befreiung der Frau, radikale Demokratie
und Ökologie als Fundament einer alternativen Gesellschaft – dies sind unsere Hoffnungen für das 21.
Jahrhundert. Wir ziehen Mut und Hoffnung aus der
“Die Revolution ist nicht nur Krieg und Waffen tragen, die Revolution bedeutet, das Leben richtig zu verstehen.
Um dieses Leben zu verteidigen, und die Werte der Menschlichkeit, sind wir bereit, in diesem schwersten Krieg
Erfolg zu haben.”
Günter Hellstern
Günther Hellstern (Rüstem Cudi) ist am 23. Februar in Al Shadadi (Rojava) im Kampf gegen den IS/Daisch gefallen.
Foto: Fimstill aus einer Reportage von „Vice News“
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RONAHÎ #43
»» Aufruf an die Jugend
Revolution in Kurdistan.
stellen sich die Menschen sämtlichen EinschüchteDie aktuelle Lage ist sehr kritisch. Der Krieg in Nord- rungsversuchen entgegen, davon zeugen der unerkurdistan, dem durch die Türkei besetzten Teil, wütet schütterliche Mut und der Willen, die täglich auf den
seit einem halben Jahr. Die Angriffe, auf die von der Straßen Nordkurdistans zu sehen sind. Erst vor kurGuerilla kontrollierten Gebiete, durch die türkischen zem wurden die Zivilverteidigungseinheiten YPS/
Besatzungstruppen am 24. Juli wurden von den Men- YPS-Jin nach dem Vorbild der YPG/YPJ in Rojava
schen durch die Deklaration der Demokratischen Au- gegründet, um den Widerstand zu unterstützen und
tonomie in vielen Gebieten Nordkurdistans beant- zu verteidigen.
wortet. Sie bilden Kommunen und Gemeinderäte, so Wir gratulieren zur Gründung der YPS/YPS-Jin und
wie in Rojava. Geführt durch die Jugend der YDG-H senden unsere herzlichsten Grüße und unseren Res(Yurtsever Devrimci Gençlik Hareketi – Patriotisch pekt an die YDG-H/YDG-K. Viele unserer Genoss_
Revolutionäre Jugendbewegung) und der YDG-K innen sind in diesem Kampf gefallen. Ihr Andenken
(Yurtsever Devrimci Gençlik Kadın – Patriotisch gibt uns Kraft und ihre Opfer werden nicht vergeRevolutionäre Frauenbewegung), organisieren die bens sein. Wir werden die Flamme der Revolution
Menschen ihre Selbstverteidigung und errichten Bar- mit unserem ganzen Herzen und Geist weitertragen.
rikaden in ihren Vierteln. Der türkische Staat sieht Unser Platz ist hier, Seite an Seite mit unseren Gedies als eine Bedrohung für seine Autorität, die seit noss_innen, kämpfend für ein freies Kurdistan und
den letzten Jahren sowieso nur noch symbolisch in einen freien Mittleren Osten.
den kurdischen Gebieten existierte und greift daher Wir rufen alle Revolutionär_innen weltweit auf –
mit äußerster Brutalität an.
schließt euch dem Widerstand an. Dies ist nicht die
Seit Monaten widersetzen sich die Menschen nun, allen voran die revolutionäre Jugend, der zweitgrößten
Armee der NATO. Die schweren Kämpfe gehen in
den Städten Cizîr (türk. Cizre), Silopî (türk. Silopi),
Kerboran (türk. Dargeçit), Şirnex (türk. Şırnak), sowie in den Vierteln Sûr (türk. Sur) und Farqîn (türk.
Silvan) der Stadt Amed (türk. Diyarbakır) weiter.
Zeit um daheim zu sitzen und zu überlegen was sein
könnte. Wir bauen die Zukunft auf und verteidigen
sie jetzt. Wir rufen nach Widerstand und Solidarität.
Aufstand gegen die imperialistischen Mächte. Greift
die Einrichtungen des türkischen Staates überall auf
der Welt an. Kommt nach Kurdistan und tretet den
Kräften der YPG/YPJ, YPS/YPS-Jin und der GuerilWährend der Wintermonate schränkt der Schnee den la bei!“
Bewegungsraum der Guerilla stark ein. Das ist der
Grund, warum der Feind alles versucht, um den Willen der Menschen vor Beginn des Frühlings zu brechen. In den 90er Jahren hat der Staat tausende von
Dörfern niedergebrannt, um die Bevölkerung von der
Guerilla zu trennen und die Menschen zur Flucht zu
zwingen. Heute versuchen sie es erneut, sie greifen
die Menschen mit Panzern, Helikoptern und schwerer Artillerie an.
Täglich gibt es Berichte über Kinder, Jugendliche
und ganze Familie, die durch Staatskräfte hingerichtet wurden. Der Staat hat tausende seiner besten Einheiten und schweren Waffen in die kurdischen Regionen entsandt, um den revolutionären
Aufstand niederzuschlagen. Die Besatzungstruppen
haben Ausgangssperren in allen kurdischen Städten
ausgerufen, Wasser und Strom gekappt und streuen
weiter anti-kurdische Propaganda, während sie alle
türkischen Medienquellen zensieren. Trotz alledem
- 74 -
»» Europa und Freiheit
RONAHÎ #43
Europa und Freiheit
» » Rûken Sterk
H
evala1 Avaşin hatte ein großes Gefühl für die
Freiheit und Kurdistan.
Ich möchte mit euch Hevala Avaşin kennenlernen, eine Freundin, die die falsche Freiheit Europas nicht akzeptierte und eine Wunsch nach wahrer
Freiheit besaß. Deswegen wahr die Freundin immer
in der Mitte des Kampfes, bis sie sich dann dem
Krieg in Rojava anschloss.
Hevala Avaşin, Ivana Hoffmann, war eine Freundin
aus Deutschland und ließ am 7. März 2015 in Til
Temir2 ihr leben. Sie wurde im September 1995 in
Emmerich, Deutschland, als Tochter einer deutschen
Mutter und eines togolesischen Vaters geboren. Im
Alter von 14 Jahren begann sie mit der politischen
Arbeit. Im Zentrum des Kapitalismus aufgewachsen,
erhob sie sich schon früh gegen Ungerechtigkeit, Unterdrückung und Ungleichheit und begab sich auf die
Suche nach Freiheit, doch in Europa fand sie diese
nicht. Heval Avaşin organisierte sich in Deutschland
1
2
Heval [kurdisch]: Freund_in
Til Temir: Stadt in Rojava, Westkurdistan, Nordsyrien
in der kommunistischen Organisation MLKP. Um
Freiheit zur Politik zu machen, kämpfte sie gegen
Sexismus und Rassismus. Doch damit begnügte sie
sich nicht und der Kampf reichte ihr nicht. Im Frühling 2014 kam sie nach Rojava und nahm ihren Platz
im internationalen Tabor3 der MLKP ein. Hevala
Avaşin wollte Freiheit und kam dafür nach Rojava.
Sie glaubte die Revolution in Rojava könne eine Beispiel für den gesamten mittleren Osten werden und
müsse deswegen verteidigt und beigestanden werden.
Sie verstand die Verteidigung der Revolution Rojavas als die Verteidigung der Zukunft aller Völker und
wollte deswegen ihren Platz in dieser Revolution einnehmen und ihre Rolle darin spielen. Hevala Avaşin
schrieb in einem ihrer Briefe:“Ich kann nicht einfach
mit ansehen wie unsere Schwestern, Brüder, Mütter
und Väter für Freiheit und gegen Kapitalismus kämpfen. Ich möchte mich, wie sie auch, diesem Kampf
anschließen und wenn ich nach Deutschland zurückkehre werde ich auf meine Freund_innen und mein
Umfeld in Deutschland mit Kraft, Wille und Kampfgeist einwirken. Hevala Avaşin wollte nach Deutschland zurückkehren um den Kampf in Deutschland zu
stärken und ihrem Umfeld wieder eine Perspektive
geben, weil es in Deutschland Perspektive, Hoffnung,
Wille und Kamfgeist nicht gibt und durch Liberalismus und Kapitalismus die Menschlichkeit getötet
wurde. Dinge jenseits von Materialismus, wie Ethik,
Menschlichkeit, Sozialismus, Freiheit, Gleichheit,
gibt es nicht. Die Menschen arbeiten, wie Sklaven,
nur für Geld. Durch den Einfluss von Liberalismus
können sich die Menschen nicht miteinander organisieren, jede_r bleibt für sich allein und Glaube und
Hoffnung sind gebrochen. Wegen dieser Tatsachen
wollte Hevala Avaşin nach der Revolution in Rojava in ihre Heimat zurückkehren und ihre Bevölkerung organisieren. Sie wollte mit einem neuem Geist,
einem starken Willen und einer starken Perspektive
des Demokratischen Konföderalismus dort ein neues
System aufbauen.
3
- 75 -
Tabor [kurdisch]: Einheit, militärisch
RONAHÎ #43
»» Europa und Freiheit
Ihre Freund_innen sagen:“Hevala Avaşin liebte das
Leben. Jedoch nicht jenes, dass die Menschen in Europa leben. Die Mehrheit der Menschen in Deutschland schweigt. In der Bevölkerung gibt es Traurigkeit
und Hoffnungslosigkeit. Der Einfluss des Systems,
der Schulbildung und der Arbeit zeichnet sich in ihrem Gesicht ab. Aber Heval Avaşin und die Freund_
innen in Rojava können die Auswirkung von Freiheit
in den Gesichtern der Menschen sehen, Freude und
Liebe für das Leben machen sich sichtbar. Hevala
Avaşin baute schnell soziale und freie Beziehungen
zu ihren Freund_innen auf, sie sang immer Lieder
und schrieb sie auch selbst. Sie war ihren Freund_innen sehr hilfsbereit gegenüber. Manchmal wurde sie
sehr wütend, besonders über vorhandene Ungerechtigkeit und Unterdrückung. Sie war immer vorne im
Kampf, besonders im Kampf gegen Rassismus und
Faschismus. Am Anfang, als sie neu nach Rojava
kam, hatte sie es sehr schwierig. Besonders was die
Sprache anging. Sie sprach weder kurdisch noch türkisch. Sie konnte sich nicht ausdrücken, deswegen
war es besonders schwierig. Doch sie lernte schnell
kurdisch und somit war diese Schwierigkeit überwunden. Heval Avaşin wollte ihren Platz an der Front
einnehmen. Von dem Level der Frauenorganisierung
und Wissen über die Frau war sie sehr beeindruckt.
Demokratischer Konföderalismus, Frauenideologie
und Frauenorganisierung zog ihr Interesse an und sie
sagte:“Für mich sind diese Begriffe sehr neu“.
nichts. Wegen Europa ist Kurdistan in den Zustand
von Krieg und Sklaverei verfallen. In der Geschichte hat Europa bis zum heutigen Tag immer unserem
Feind die Hand gegeben. Wie können wir Hilfe für
etwas Gutes erwarten, dass von ihnen kommt? Wir
könnten stattdessen auch fragen, warum so wenig
Menschen aus Europa kommen? Denn Liberalismus
schafft Menschen ohne Gewissen und Leidenschaft,
die nichts außerhalb ihrer Eigenenbedürfnisse sehen
können. Viele Menschen gingen von hier nach Europa, wünschten sich ein schönes, ruhiges Leben.
Aber in Europa sehen sie, dass das Leben nicht im
geringsten so gemütlich ist, sondern das alles Lügen
waren. Doch unsere gefallenen Freund_innen zeigen
uns, dass es nichs angenehmeres und schöneres als
den Kampf für das Heimatland gibt. Wenn wir Freiheit wollen, müssen wir kämpfen. Entweder kämpfen
wir für den Aufbau eines neuen Systems, einer neuen Perspektive, eines neuen Lebens und einer neuen Mentalität und verteidigen diese oder wir werden
auch zu Sklaven. Dies ist nicht nur ein militärischer
Krieg sondern auch ein psychologischer Spezialkrieg. Europa ist spezialisiert auf diese Methoden,
sie haben viel Erfahrung mit dreckigem Krieg gegen
die Bevölkerung. Wir glauben nicht an ihre Lügen,
wir sehen das wahre System und werden mit all unseren Kräften ein demokratisches und föderales System aufbauen und verbreiten. Das ist der Wunsch der
Gefallenen an uns.
Heval Avaşin truf eine B.K.C. und spielte im Krieg
ein aktive Rolle. Sie war bei den Freundinnen der
YPJ sehr bekannt, wollte das Leben der YPJ lernen Die Gefallenen sind unsterblich.
und sich im bewaffneten Frauenkampf und der Frauenphilosphie stärken. Sie fragte sehr viel und ihre
Neugier für den bewaffneten und politische Kampf
war sehr groß. Sie kämpfte mit ihrer BKC, die sie erschienen in „Silava“ Kovara Tevgera Jinên Civon ihrer gefallenen Freundin, übernahm, bis sie wan Rojava Hejmar: 7 Ĉile-Sibatê 2016
selbst als şehid4 fiel.
Hevala Avaşin war mit ihrer Neugier, Liebe und
Kampfgeist ein Beispiel für die gesamte Menschheit.
Oft fragen Menschen hier warum Freund_innen/Genoss_innen aus Europa hierher kommen? In Europa
gibt es doch Freiheit, alles gibt es, sie haben ein ruhiges schönes Leben, warum kommen sie hierher?
Die Freund_innen kommen hierher, weil es in Europa keine wahre Freiheit gibt. Europa wird als schön
dargestellt, doch dies ist eine Lüge, in Europa gibt es
4
şehid [kurdisch]: Martyrer_in, Gefallene_r
- 76 -
»» YPS Botan
RONAHÎ #43
Das Kommando der YDG-H Cizîra Botan hat die YPS
ausgerufen
» » YPS-Botan
»Dieser Kampf ist nicht nur ein Kampf für die
Kurd_innen, es ist ein Kampf um Freiheit für
alle in der Türkei lebenden Bevölkerungsgruppen. Deswegen sollten wir diesen Kampf als
unser aller Kampf begreifen. Seit dem 14.12.2015
herrscht ein Bürgerkrieg in Nordkurdistan.
Angesichts der Brutalität des türkischen Militärs
gegenüber der kurdischen Zivilbevölkerung ist Selbstverteidigung ihr legitimes Recht.«
YPS-Botan
kämpften noch entschlossener für ein freies und demokratisches Kurdistan.
A
n die kurdische Bevölkerung und an die
Weltöffentlichkeit,
das kurdische Volk kämpft entschlossen und
unerbittlich gegen die seit Jahrhunderten herrschende
Besatzungs- und Assimilationspolitik in den Gebieten Kurdistans. Während des Widerstandskampfes
war das kurdische Volk gezwungen seine Heimat zu
verlassen, es verlor alles an Hab und Gut und gab
ihr Leben her. Doch das kurdische Volk hat sich
nicht, wie von der besatzerischen Politik erhofft,
einschüchtern und unterdrücken lassen. Ganz im Gegenteil, sie wurden bestärkt in ihren Werten und sie
An der Spitze des kurdischen Volkes stehend hat
Botan für ein würdevolles Leben in ganz Nordkurdistan einen bedeutenden Widerstandsgeist gezeigt.
Und heute weitet sich dieser Widerstandswille aus,
auf alle Berge, Täler und Städte Kurdistans. 2015 hat
die seit Jahren für die Selbstbestimmungsrechte der
Kurden_innen kämpfende Widerstandsbewegung in
Teilen Kurdistans die Selbstverwaltung ausgerufen,
für den Aufbau eines kommunalen und demokratischen Lebens. Der Aufbau demokratischer Autonomie verbreitet Hoffnung und Freude in der Bevölkerung Kurdistans. Entgegen der Unterdrückungs- und
Besatzungspolitik des türkischen Staates, leistet das
kurdische Volk Widerstand, in dem es für die Selbstbestimmung ihrer Sprache und Kultur kämpft, in
dem es die Wasserversorgung und Energieversorgung sowie das Land weitestgehend kommunalisiert.
Der türkische Staat mit seiner Regierung und seinem
Militär geht mit aller Härte gegen die Selbstverteidigungs- und Selbstverwaltungsbestrebungen der
Kurd_innen vor, er belagert Städte Nordkurdistans
und verübt ein Massaker an der Zivilbevölkerung.
Die dazu schweigende Gesellschaft in der Türkei als
auch die schweigende Weltöffentlichkeit, begibt sich
durch ihr Schweigen in eine Mitschuld. Deswegen ru-
- 77 -
RONAHÎ #43
»» YPS Botan
fen wir die Menschen in der Türkei und in aller Welt
auf sich solidarisch mit dem kurdischen Widerstand
zu zeigen. Dieser Kampf ist nicht nur ein Kampf für
die Kurd_innen, es ist ein Kampf um Freiheit für
alle in der Türkei lebenden Bevölkerungsgruppen.
Deswegen sollten wir diesen Kampf als unser aller
Kampf begreifen. Seit dem 14.12.2015 herrscht ein
Bürgerkrieg in Nordkurdistan. Angesichts der Brutalität des türkischen Militärs gegenüber der kurdischen Zivilbevölkerung ist Selbstverteidigung ihr
legitimes Recht. Bis zu diesem Zeitpunkt hat die Jugend in Nordkurdistan sich als YDG-H organisiert,
doch besteht die Notwendigkeit, dass die Jugend
ihren Widerstand ausweitet. In der momentanen Situation ist es so, dass die ganze Zivilbevölkerung
einen Kampf in Nordkurdistan führt. Angesichts des
Massakers ist es unsere Pflicht durch Selbstverteidigung und eine verstärkte Organisierung für unsere
Existenz und Selbstverwaltung und gegen jegliche
Form von physischem, politischem und kulturellem
Genozid anzukämpfen. Um für unser Recht auf Leben zu kämpfen und gegen diese Vernichtungspolitik verkünden wir die Ausweitung unseres Kampfes
als YEKÎNEYÊN PARASTİNA SİVÎL A BOTANÊ
(YPS -BOTAN) (dt.: Zivile Verteidigungseinheiten
Botans). Die YPS-BOTAN als die Triebkraft des
kurdischen Widerstands in den autonomen demokratischen Gebieten Botans wird den Widerstands-
kampf für die Erhaltung unserer Existenz, unserer
Kultur und unseren Landes noch entschlossener bis
zum Ende gehen. Dieses Versprechen geben wir allen
Völkern Kurdistans und Botans. YPS-Botan kämpft
für die Freiheit des Vorsitzenden Öcalans und für die
Völker Kurdistans. Wir sehen den von Öcalan angestoßenen Paradigmen der demokratischen Ökologie
und der freiheitlichen Frau als eine der wichtigsten
Aufgaben an, welche wir als die Grundlagen für den
sich entwickelnden Demokratischen Konföderalismus ansehen. Wir rufen die Bevölkerung auf die sich
errichtenden demokratischen Autonomiegebiete wie
Cizîr, Sîlopya, Hezex, Şirnex, Nisebîn, Kerboran und
die Städte und ihre Stadtteile in Botan nicht zu verlassen und ihren Widerstand für ein freies und demokratisches Kurdistan zu verstärken. Die seit Jahren an
vorderster Front kämpfende Jugend und die Frauen
von Botan rufen wir auf mit YPS-BOTAN um unsere
Existenz und Menschenwürde zu kämpfen.
Revolutionäre Grüße,
YPS-BOTAN Kommando
Gründung der YPS in Nisebîn am 26.12.2015
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»» Aufruf der DTK-Jugend
RONAHÎ #43
Aufruf an die Jugendorganisationen in Europa!
» » DTK Jugend
Wir grüßen alle Jugendorganisationen im Geiste des Widerstandes für Selbstverwaltung!
Es ist bekannt, das während die faschistische Politik der Türkischen Regierung auf höchster Stufe andauert, die kurdische Bevölkerung darauf mit Selbstverwaltung antwortet. Die Menschen dort haben in vielen
Gegenden Kurdistans (hier: Nord Kurdistan / Ost-Türkei A.d.Ü.) die Selbstverwaltung ausgerufen und die
Gesellschaft hat damit ganz deutlich dargestellt, dass sie sich selbst organisieren kann.
D
ie rassistisch mörderische Politik der Regierung ist gegen den Willen der Bevölkerung.
Deswegen verhängt der Staat in vielen Gebieten Ausgangssperren, in denen die Selbstverwaltung ausgerufen wurde, wie z.B. in Sûr, Cizre, Silopi
und Nusaybin. In diesen Gegenden wurden Menschen gezwungen die Städte zu verlassen, viele Zivilist*innen wurden getötet und die Städte zerstört.
Auch wenn manche Ausgangssperren wieder aufgehoben wurden, bestehen sie in vielen Gegenden seit
Monaten. Innerhalb von sechs Monaten wurden hunderte Menschen, vornehmlich Frauen und Kinder,
von der Regierung abgeschlachtet. Besonders die
Frauen, die vielerorts die Aufstände anführen, wurden zum Ziel der Regierung. Einige von ihnen wurden hingerichtet, nackt ausgezogen und vom Staat
zur Schau gestellt.
lichkeit internationales Recht verletzt und Europa hat
geschwiegen, weil es keine Sanktionen eingeleitet
hat. Daher laden wir alle sozialistischen, demokratischen
und revolutionären Jugendorganisationen ein, den
Widerstand in Kurdistan in ihren Ländern zu unterstützen, einerseits wegen des Schweigens Europas
und anderseits wegen des Faschismus in der Türkei.
Wir wünschen euch Erfolg bei euren Kämpfen,
Revolutionäre Grüße
DTK Gençlik (DTK Jugend)
Menschen ins Krankenhaus zu bringen wurde vom
Staat verhindert, die Entscheidung des Gerichtshof
für Menschenrechte wurde nicht beachtet und das
Rechtssystem wurde deaktiviert. Auch die Meinungsfreiheit wurde komplett abgeschafft, alle Demonstrationen und Kundgebungen wurden verboten. Viele
Verhaftungen wurden durchgeführt.
Trotz all dessen beharren die Menschen auf Selbstverwaltung gegen alle Tendenzen des Staates.
Von heute an hat dieser Kampf in Kurdistan eine
neue Stufe erreicht. Während die Menschen Widerstand leisten und dabei ihre Kraft aus der Ideologie
der Freiheit schöpfen, setzt der Staat auf alle Arten
von Unterdrückung, Terrorismus und Vernichtung. In
manchen Gegenden handelt es sich gar um eine genozidähnliche Auslöschungspolitik. Auch Europa ist an
diesen Verbrechen beteiligt, in dem es schweigt. Die
Türkei hat mit ihren Verbrechen gegen die Mensch-
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RONAHÎ #43
»» 1. Dem-Genç Kongress
An die Presse und Öffentlichkeit
Abschlussresolution des 1. Dem-Genç Kongres
» » Dem-Genç
AKP-Regierung und des Staates auf die ultimativ
dagegen ankämpfende Jugend und Bevölkerung die
Entschlossenheit entwickelt ein freies Leben aufzubauen.
Wir würdigen am Beispiel der in diesem Prozess gefallenen MärtyrerInnen wie die Märtyer
Faruk, Märtyrin Sidar, Märtyrer Seyitxan, Märtyrin Bermal, Märtyrer Bilal, Märtyrin Dilan Kortak,
Märtyrer Haşim, Märtyrer Hacı Birlik, Märtyerin
Ekin Wan, Märtyrer Çekwar und das 35-Tage alte,
in den Armen der Mutter in Cizre getötete Baby Muhammed, alle unsere gefallenen MärtyrerInnen und
GenossInnen und wiederholen unser Versprechen ihr
Andenken aufrecht zu erhalten.
I
n einer Phase, in der die Geographie des Mittleren Ostens seitens internationaler und regionaler
Mächte in einen Chaos gezogen wird, und in der
die Rojava Revolution für alle unterdrückten Völker zur Hoffnung geworden ist, hat unser Volk aus
Nordkurdistan in dieser Phase einen ruhmreichen
Widerstand der Selbstverwaltung in der Anführung
der Jugend gezeigt, indem sie sich selbst durch eine
historische Verantwortung heraus organisiert, und
den 1. Kongres der Jugendförderation der Demokratischen Vereine (Dem-Genç) mit der Würdigung der
im Widerstand für Selbstverwaltung gefallenen Märtyrer umgesetzt hat. Der 1. ordentliche Kongres ist
mit dem Motto “lasst uns als Dem-Genç organisieren
und das freie Leben aufbauen” erfolgreich praktiziert
worden.
Unser Kongres gratuliert unserem gesamten Volk
und feiert die Befreiung Şengals und grüßt alle in der
Befreiungsoffensive aktiven FreiheitskämpferInnen.
Weder die faschistischen Schergen des IS noch die
dahinter steckenden dunklen Mächte werden mit den
in Til Temir (Syrien) an unserer Bevölkerung verwirklichten Massaker jemals ihr Ziel erreichen.Wir
gedenken all unseren gefallenen PatriotInnen unseres
Volks, und wiederholen mit großer Entschiedenheit
unseren Wiederstand dermaßen zu erhöhen, bis die
Genocidmentalität der Kolonialisten endgültig beseitigt ist.
Auch der Märtyrer für Frieden und Demokratie Tahir Elçi wurde neben der Şeyh Mutahhar Moschee
(Sur, Amed) ermordet. Mit ihrem Wiederstandsgeist
hat die patriotische Bevölkerung Ameds den Mördern Tarih Elcis die Antwort auf seine Abschlachtung
gegeben. Wir als Dem-Genç wollen nochmal Tarih
Elci mit Respekt würdigen und versprechen seinen
Den heldenhaften Widerstand um Selbstverwaltung Kampf für Frieden und Demokratie fortzuführen.
und den Geschichte schreibenden Kampf unserer
Damit die kurdische Freiheitsbewegung und die
Bevölkerung unter der Leitung der Jugend in Nukurdische Jugend die Kurdenfrage mit demokrasaybin, Sur, Cizir, Silvan, Silopi und Gever grüßend
tisch-friedlichen Wegen zum Erfolg führen kann hat
hat unser Kongres gegen den totalen Angriff der
der Volksrepresentant und Kurdenführer Abdullah
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»» 1. Dem-Genç Kongress
RONAHÎ #43
Öcalan mit großer Sorgfalt und Sensibilität gehandelt trägt, wird große Erungenschaften für die Jugend und
und entsprechende Schritte eingeleitet.
unserem Volk bringen. In kurzer Zeit können wir mit
Dem gegenüber hat die AKP-Regierung und der Staat, großen Schmerzen und Hindernissen leben. Allerdie keine Lösungsansätze hatten, auf eine Nicht-Lö- dings wird dieses neue Modell vom demokratischen
sung bestanden, die Isolation unseres Vorsitzenden und freien Leben das Ergebnis sein. Bei unserem
vertieft, in Amed, Suruc, und zuletzt in Ankara beim Kongres ist der Wille zum Ausdruck gekommen dem
Massaker an der patriotischen, demokratischen, sozi- Widerstand der Selbstverwaltung als Jugend mit unalistischen Bevölkerung sein wahres Gesicht gezeigt serer Vorreiter-Mission gerecht zu werden und als Juund bewiesen, dass sie keine Unterschiede zum IS gendliche, sowie junge Frauen mit Entschlossenheit
das freie Leben aufzubauen. Mit der Erkenntnis, dass
aufweisen.
die Jugend sich nur mit Widerstand befreien kann,
Die kurdische Jugend und das patriotische Volk, das geben wir bekannt, dass die Jugend mit großer Hinnicht von kolonialen und herrschsüchtigen Mentali- gabe und Überzeugtheit ihrer historischen Aufgabe
täten regiert werden will, hat das eigentliche Gesicht und Verantwortung nachkommen und die Demokrader AKP erkannt und sich in dem sie die Selbstver- tische Nation aufbauen wird.
waltung und den Widerstand ausgerufen hat, ihre eigene Lösung verwirklicht. Die Selbstverwaltungen In diesem Sinne rufen wir alle patriotischen, demoals reine Angelegenheit von Schutzgräben und mit kratischen, sozialistischen Jungendliche und unser
Waffen zu begreifen und die an die Zivilbevölke- gesamtes Volk dazu auf sich für ein ehrenhaftes Lerung und Jugend gerichteten Massaker nicht sehen ben um unseren Vorsitzenden herum zu vereinen, den
zu wollen, bedeutet das Freiheitsstreben eines Volkes Widerstandskampf für Selbstverwaltung zu erhöhen
nicht sehen zu wollen. Die Selbstverwaltung ist der und noch aktiver zu kämpfen.
Ausdruck des Wunsches der jahrzehnte Widerstand
leistenden kurdischen Bevölkerung und Jugend sich Revolutionäre Grüße
Dem-Genç
frei und selbst zu regieren.
Die Selbstverwaltung, die eine historische Bedeutung
- 81 -
RONAHÎ #43
»» Diplomatie im Demokratischen Konföderalismus
Die diplomatische Dimension des demokratischen
Konföderalismus
» » Abdullah-Öcalan-Akademie der Sozialwissenschaften
s gibt viele verschiedene Definitionen für die
Diplomatie. Diese haben alle einen wahren
Anteil und erläutern die verschiedenen Seiten der Diplomatie: Macht, strategische Denkweise,
politischer Wille und historische Akkumulation im
Zusammenhang mit der Diplomatie. „Diplomatie
ist Krieg ohne Waffen“ oder „Krieg ist Diplomatie
mit Waffen“ und ähnliche Definitionen sind die beliebtesten. Für diplomatische Arbeiten beauftragte
Institutionen und Personen, die an bestimme Mächte
gebunden sind, versuchen die Interessen der Mächte
zu schützen, andere Parteien von ihrem Willen zu
überzeugen und mit wenig Leistung großen Gewinn
zu erzielen. Zu diesem Ziel geführte Gespräche und
Aktivitäten umfasst in dem Sinne die Diplomatie.
Öffentlichkeitsarbeit, Propaganda, Werbung, Lobbyarbeit sind in diesem Zusammenhang zu sehen.
Die Diplomatie wird oft als innerstaatliche Beziehung erfasst. Jedoch verwandeln die Globalisierung
und Fortschritte in der Massenkommunikation die
Welt seit 50 Jahren in ein kleines Dorf. Infolgedessen kommt es zu ernsten Veränderungen hinsichtlich
des Umfangs und der Akteure der Diplomatie, wobei
der Inhalt derselbe bleibt. Beispielsweise entwickeln
internationale Unternehmen, demokratische Massenorganisationen, Gewerkschaften, NGOs (Nicht-Regierungsorganisationen) und nationale Befreiungsbewegungen von nahezu allen Institutionen die legalen
sowie illegalen diplomatischen Beziehungen und
Arbeiten. Aus diesem Grund ist die Diplomatie nicht
mehr nur eine staatlich-systematische Arbeit. Trotzdem ist die Diplomatie überwiegend eine innerstaatliche und von Staaten kontrollierte Arbeit.
E
Dass die innerstaatliche Diplomatie zur Lösung von
Problemen beiträgt, wird zu einer ernsthaften Illusion. Besonders Staaten und Kapitalgruppen haben
Probleme, die sie im eigenen Interesse nicht lösen
wollen. Völker und Nationen könnten unabhängig
von Umfang und Tiefe der Probleme einen Lösungs-
weg finden, würde man sie auf sich allein gestellt
lassen. In solche Situationen setzen Mächte des
globalen Kapitals die offizielle Diplomatie ein, um
problemlösend zu wirken und täuschen somit die Öffentlichkeit. Darüber hinaus besitzen sie eine zweite
Aufgabe. Sie besteht darin, Möglichkeiten zur Problemlösung zu beseitigen. Heutzutage sind unzählige
Beispiele dafür vorhanden. Nicht nur den mittleren
Osten sondern die Welt betreffend sind das Kurdistan- und Palästina-Problem die ersten historischen
Probleme, die einem einfallen. In beiden Fällen wird
die Lösung mithilfe demokratisch-politischer Methoden, gegenseitigen Respekts und der Anerkennung
der nationalen sowie gesellschaftlichen Identität
durch globale Kapitalmonopole und nationale Staatsmächte verhindert. Hierfür wird für die jeweiligen Situationen mal die Achse der Diplomatie, mal der Weg
der Assimilation und der Massaker verwendet. Dass
die Diplomatie solch eine verfluchte Rolle spielt, ist
die andere Seite bzw. die Mission, die der Diplomatie
von den Staatsmonopolen gegeben wurde. Genau aus
diesen Gründen gehört es zu den größten Albträumen der Staaten, wenn die unterdrückten und unter
kolonialen Bedingungen lebenden Völker beginnen,
in diesem Bereich Arbeit zu leisten. Sie werden jeden Weg nutzen, um die in diesem Bereich geführte
Arbeit durch Völkergruppen, gesellschaftspolitische
Bewegungen, demokratische Massenorganisationen
und ähnliche Gruppierungen zu verhindern. Besonders die über Staatsgrenzen hinausgehende diplomatische Arbeit zwischen Gesellschaften und die Zusammenarbeit von nichtstaatlichen Organisationen
und ihre Beziehungen untereinander grenzen die Bereiche ein, in denen der Staat Wirkung zeigen kann.
Diese Organisationen erschweren es dem Staat gegen
die Interessen der Völker Aktionen durchzuführen.
Und so eine Situation gefällt den Staaten nicht. Aus
diesem Grund probieren sie jegliche Wege aus, um
nichtstaatliche Beziehungen und Aktionen zu verhin-
- 82 -
»» Diplomatie im Demokratischen Konföderalismus
dern. Von Erpressung, Bedrohung und Verhaftung
bis hin zur Ermordung von Aktivist_innen werden
alle Wege als zulässig angesehen. Dass heutzutage
tausende Organisationen mit NGO-Status akzeptiert
werden und in Ruhe Tätigkeiten ausführen können,
die zum größten Teil Untereinheiten der Geheimdienste sind, ist ebenfalls ein Mittel der Staaten. Sollten nun die echten demokratischen Bewegungen und
Organisationen infolgedessen diesen Bereich verlassen? Ohne Zweifel würde solch ein Verständnis im
Interesse der Kapital- und Machtmonopole liegen.
Auch wenn gegen das globale Kapital, globale und
demokratische Bewegungen unter sich keine Verflechtung Zustande bekommen haben, heißt es nicht,
dass sie das diplomatische Feld vollständig den Kapital- und Machtmonopolen überlassen haben. Es ist
jedoch eine Tatsache, dass ernste Schwächen in der
Umstrukturierung vorhanden sind.
Nicht-staatliche Diplomatie
Der demokratische Konföderalismus bedeutet nicht
die Trennung vom Staat. Im Gegenteil macht er den
Staat sensibel hinsichtlich der Demokratisierungsprobleme der Gesellschaft. Er schwächt zugunsten
der Dezentralisierung den monotonen und monopolistischen Zentralismus. Er erlaubt es der Gesellschaft, sich selbst zu verwalten. Von jeder Identität,
jedem Geschlecht, jeder Religion, jeder Konfession,
sowie jedem Beruf und ähnlichen gesellschaftlichen
Gruppen können die Menschen an Entscheidungsprozessen teilnehmen und sich direkt oder indirekt
durch Vertretungen selbst verwalten. Kurz gesagt,
ist es die wahre und vom jeweiligen Gebiet ausgeübte Demokratie. Deswegen sind der Charakter, der
Zweck und das Ziel der Diplomatie innerhalb des demokratischen Konföderalismus anders als die klassisch bekannte Diplomatie. An erster Stelle wird es
keine klassische Diplomatie oder zwischenstaatliche
Diplomatie sein. Sie wird zwischen den Völkern für
solidarische Lebens- und Arbeitsverhältnisse sorgen
und hinsichtlich gemeinsamer Organisationen ihren
Dienst leisten. Müsste man dieser Diplomatie einen Namen geben, wäre der passende Begriff dazu
„Völkerdiplomatie“ oder „Diplomatie der Völker“.
Die strategische Denkweise, den politischen Willen
und die Macht im Verhältnis zu dieser Diplomatie zu betrachten, würde den Völkern einen Vorteil
verschaffen. Ohne im Hintergrund die strategische
Denkweise, den politischen Willen und die Macht zu
RONAHÎ #43
besitzen, ist es nicht möglich erfolgreich zu sein. Die
demokratische Moderne ist in den letzten vierhundert
Jahren ein Verhängnis für die Welt geworden und
befreit sich vom Nationalstaat, der in keiner Weise
zur Natur der mittelöstlichen Gesellschaft passt, in
dem er die Wege zur Demokratie öffnet. In diesem
Zusammenhang besitzt der demokratische Konföderalismus nicht die strategische Orientierung, ein
Staat zu werden. Das Ziel ist die Selbstverwaltung
der Gesellschaft ohne einen Staat, wobei das Volk
mit freiem Willen an gemeinsamen Organisationen
teilnimmt und sich somit selbst verwaltet. Ohne diese strategische Gesinnung kann die Diplomatie keine Diplomatie des demokratischen Konföderalismus
sein. Gewiss wird diese Diplomatie auch eine Beziehung zum Staat haben. In diesen Beziehungen ist das
Hauptziel die Demokratisierung der Staaten. Je mehr
der Wille und das Recht des demokratischen Konföderalismus akzeptiert werden, umso mehr wird auch
der Wille und das Recht eines Staates akzeptiert, wobei sie in ihren Unterschieden und gleichen Grundlagen zusammen leben können. Andernfalls wird die
Legitimität des demokratischen Konföderalismus
schwierig sein. Dies gilt auch in Beziehungen mit
Staatsvereinigungen wie den USA und der EU. Das
heißt, wenn diese internationalen Institutionen die
Legitimität des demokratischen Konföderalismus,
seinen Willen und sein Rechtswesen anerkennen, so
wird der demokratische Konföderalismus auch ihre
Legitimität, ihren Willen und ihre Rechte anerkennen. Die strategische Denkweise des demokratischen
Konföderalismus wird auf diese Art und Weise geführt werden.
Die Diplomatie benötigt eine kontinuierliche
Macht
Sicherlich ist für eine gesunde Diplomatie das alleinige Vorhandensein der strategischen Denkweise
nicht ausreichend. Ein politischer Wille ist ebenfalls
notwendig. Mit politischem Willen ist nicht die Regierung oder die Exekutive gemeint. Heutzutage
gibt es viele Regierungen und Staaten, die keinen
unabhängigen politischen Willen besitzen. Mit dem
politischen Willen ist hier die mit dem freien Willen geschaffene autonome Verwaltung durch Vereinigungen des demokratischen Konföderalismus gemeint. Die Verwaltung wird sich ihrer Verantwortung
gegenüber der Gesellschaft bewusst sein. In allen
Arbeiten wird sie den Vereinigungen des demokra-
- 83 -
RONAHÎ #43
»» Diplomatie im Demokratischen Konföderalismus
tischen Konföderalismus gegenüber Rechenschaft
ablegen müssen. Sie wird außerdem, wenn sie während der Vertretung der Gesellschaft Schwächen aufweist, entlassen und zur Rechenschaft gezogen werden. Der demokratische Konföderalismus wird einen
politischen Willen haben, der von den Kräften der
Vereinigungen Nutzen tragen wird. Die Verwaltung
bzw. Regierung wird sich gegenüber keiner Macht,
außer den Komponenten des demokratischen Konföderalismus, in keinster Weise schuldig fühlen und
wird die Interessen der Einheiten des demokratischen
Konföderalismus als Maßstab verwenden. Der generelle Charakter der Diplomatie besteht darin, dass sie
ständig Macht benötigt. Dies ist nicht nur finanzielle oder militärische Macht. Wenn man in dem vorhandenen internationalen System von Macht spricht,
fällt einem in der Regel militärische, politische und
finanzielle Macht ein. Sicherlich ist dies eine Folge
der heute von der kapitalistischen Moderne erschaffenen Realität. In dem demokratischen Konföderalismus werden diese „Mächte“ auch verpflichtend
vorhanden sein. Jedoch werden die grundlegenden
Machtquellen und Parameter anders als die grundlegenden Machtquellen und Parameter sein, die von
der kapitalistischen Moderne erschaffen wurden. Die
grundlegende Machtquelle der Diplomatie im demokratischen Konföderalismus wird die eigene Macht
der autonomen Vereinigungen sein, also die organisierte Macht. Der Indikator für ihre Macht wird nicht
das Militär und das Geld auf den Banken sein. Die
historisch gesellschaftliche Akkumulation, die organisierte Volksmacht und die stabile politische Stellung wird die Machtquelle der Diplomatie sein. Sie
wird in der Politik flexibel, bei Kompromissen offen,
aber gebunden an Grundsätze und hierbei kompromisslos sein. Die Macht wird, wie Repräsentant Apo
es sagte, „auch wenn sie die ganze Welt besiegen
könnte, nicht angreifen und wird jedoch Widerstand
auch dann leisten, wenn die ganze Welt auf sie zukommt“.
tische Nationalkongress. Die Kurden suchen Wege
und Methoden die nationale Einheit herzustellen,
ohne in Konfrontation mit Einheitsstaaten zu geraten. Sie wissen, dass das Verändern der Grenzen so
nutzlos wie der Nationalstaat ist, und dass dies zum
Ursprung aller Probleme, also zu neuen Staaten führen würde. Diese Suche gehört zur Tagesordnung der
Kurden. Es ist möglich, dies mit Nationalkongressen
zu verwirklichen. Das heißt, beginnend bei den Friedhöfen, Dörfern und Straßen, das Volk in Kommunen,
Nachbarschaftsräten, Bezirk- und Provinzräten, und
weiterhin in Regionalräten zu organisieren und zur
Selbstverwaltung zu erziehen. Und zwar ohne mit
den vorhandenen nationalstaatlichen Grenzen zu
spielen. Darüber hinaus ist das Ziel, in gleicher Form
und in allen Teilen, diese Organisierungen mit konföderalen Bindungen, untereinander zu verbinden
und somit das freie Kurdistan zu verwirklichen. Mit
der Gründung eines Nationalkongresses, der dieses
Ziel verfolgt, werden auch einige andere Institutionen entstehen. Eine Nationalversammlung und ein
Nationalrat werden die Folge sein. Sicherlich wird
es bei solch einer nationalen Institutionalisierung
auch auf internationaler Ebene einen Ausschuss der
nationalen Diplomatie geben. Derzeit besitzen die
kurdischen Organisationen aus den vier Teilen, insbesondere im Süden als autonome kurdische Region, internationale Beziehungen. Fast alle kurdischen
Organisationen haben mit der ganzen Welt diplomatische Beziehungen. Leider sind die Beziehungen
miteinander äußerst begrenzt. Dies ist ein Ergebnis
der imperialistischen „Teile- und Herrsche-Politik“
und muss unbedingt überwunden werden. Auch aus
diesem Grund ist ein kurdischer Nationalkongress
notwendig. Dieser Kongress wird zunächst die Beziehungen zwischen Kurd_innen und den Völkern
Kurdistans organisieren und ein bestimmtes Niveau
erzielen. Die Probleme, welche zwischen den Kurd_
innen und den Völkern Kurdistans entstehen werden,
wird sie im Wege des demokratischen Dialoges auf
eine gewaltfreie Art und Weise lösen. Sie wird die1. Nationale Diplomatie
se Entscheidungen auf prinzipieller Ebene treffen
Während der Teilung des mittleren Ostens durch die und diese Entscheidung überprüfende Institutionen
imperialistischen Kräfte wurden Kurdistan, das kur- gründen. Weiterhin wird sie für nationale Themen
dische Volk und andere Völker Kurdistans zwischen eine diplomatische Vertretungsinstitution gründen,
vier kolonialistischen Staaten aufgeteilt. Repräsen- ohne die authentisch geführte diplomatische Arbeit
tant Apo bezeichnet dies als die „Kurden-Falle“. In aller anderen Institutionen zu verleugnen. Diese nasolch einer Zersplitterung, ist eines der Hauptziele tionale Diplomatieinstitution wird von der Nationalder Kurden die nationale Einheit und der demokra- versammlung ihre Rechte und Pflichten erhalten und
- 84 -
»» Diplomatie im Demokratischen Konföderalismus
RONAHÎ #43
gegenüber dieser Versammlung verantwortlich sein a) Die Demokratisierung der autonomen Region
Kurdistan im Süden, die Einrichtung von einer
bzw. Rechenschaftspflicht haben. In allen internaPolitik, welche die nationalen Errungenschaften
tionalen Plattformen wird diese befugte Institution
schützt und entwickelt, der Zusammenhalt zwidie Interessen der Völker Kurdistans vertreten. Ihre
schen Kurden und den Völkern Kurdistans, die
Grundsätze, Strategien und Taktiken werden beZusammenarbeit und zunehmende Entwicklung
stimmt, und sie wird eine öffentliche Diplomatie als
einer Einigkeit müssen als Ziel genommen werBasis haben.
den. Dies wird wiederum die diplomatischen Beziehungen und die Entwicklung des Kampfes um
2. Die Diplomatie des demokratisch-konföderalen
Demokratie zum Ziel haben. Der sich in diesem
Kurdistans mit den Gebilden aus den vier Teilen
Teil entwickelnde demokratische Charakter wird
Um in Nordkurdistan den demokratischen Konfödie Unterdrückung von Bewegungen nicht zulasderalismus auszurufen, werden weiterhin Vorbereisen. Im Gegenteil wird sie eine Beziehungsebetungen getroffen. Wir befinden uns in einem Prozess,
ne haben müssen, die den Weg für sie frei macht.
Unser Volk in diesem Teil und die Völker Kurwelcher mit dem Slogan „demokratische Türkei distans sollten mit dem Parlament, den beruflikonföderales Kurdistan“ beschrieben wird. Im jetzichen Organisationen und den Vereinigungen auf
gen Stadium wird entweder der türkische Staat seine
der Grundlage der Freiheit in Beziehung treten.
Verfassung ändern, wobei der nationale kurdische
Im Konkreten sollen jegliche Vereinigungen und
Wille, die Gleichheit auf der Grundlage der Untergesellschaftlichen Organisationen des demokraschiede, und die Rechte und Freiheiten anerkannt
tisch-konföderalen Kurdistans als bereichernd
werden. Oder die Völker Kurdistans werden, ohne etangesehen werden. In den Beziehungen sollen sie
was von dem Staat zu erwarten, ihre eigenen Lösunnach den Prinzipen des demokratischen Konfögen praktizieren und das konföderale Kurdistan mit
deralismus handeln.
den gesamten Institutionen ausrufen. Andere Wege
b) Ostkurdistan ist geographisch, sowie demograsind nicht übrig geblieben. Ob dieser Prozess mit Gephisch gesehen der zweitgrößte Teil Kurdistans.
walt oder demokratischem Dialog bestritten wird, ist
Der demokratische Konföderalismus hat das Povollständig von der Haltung des türkischen Staates
tenzial dazu, bei der Demokratisierung Irans und
abhängig. Das demokratisch-konföderale Kurdistan
des mittleren Ostens eine wichtige Rolle zu überwird direkte diplomatische Beziehungen zu den Genehmen. Unser Volk aus diesem Teil stand den
bilden aus allen Teilen Kurdistans haben, vor allem
Bewegungen in den anderen Teilen nie gleichgültig gegenüber und unterstützte die Bewegungen
mit der autonomen Region Kurdistan im südlichen
im Rahmen seiner Möglichkeiten immer. Zuletzt
Teil Kurdistans. Wenn sich eine eigene Macht entzeigte das Volk Ostkurdistans seine Präferenz für
wickelt hat, wird man von dem demokratisch-konföRepräsentant Apo und die PKK mit Widerständeralen Kurdistan eine Vorreiterrolle in der Entwickden nach dem internationalen Komplott gegen
lung der Diplomatie auf nationaler Ebene mit allen
Repräsentant Apo und erlangte eine angemessene
Teilen Kurdistans erwarten können. Der Grund hierorganisatorische Führung mit der PJAK (Partei
für liegt darin, dass das südliche Gebilde sich nicht
für freies Leben Kurdistan). Der demokratische
auf Basis der inneren Kraft und Dynamik, sondern
Konföderalismus und die PJAK, die Kurden und
auf Basis des äußeren Macht und Zusammenarbeit
die Völker Kurdistans und die gesellschaftsverentwickelt. Der Glaube, dass sie die nationale Diplotretenden politischen Parteien, demokratischen
matie fördern und die nationalen Gewinne schützen
Massenorganisationen, sowie kulturelle, humanistische, berufliche und ähnliche Organisatiowerden, würde nicht der Wahrheit entsprechen. Die
nen sollten die Gleichheit trotz der Unterschiede
Revolutionssituation für Kurdistan wird derzeit in
bewahren, den Zusammenhalts- und Einigungsheftigster und offenster Form in Rojava und Nordgeist entwickeln, eine nationale demokratische
kurdistan gelebt. Aus diesem Grund wird die Revogemeinsame Politik erschaffen und diese praktilution in Rojava und Bakur die Vorreiterrolle bei dem
zieren. Weiterhin würde der demokratische KonKampf um den demokratischen Konföderalismus
föderalismus es dem iranischen Staat und seiner
übernehmen können. Die Ziele der Diplomatie zwiRegierung ermöglichen, hinsichtlich des demoschen den Gebilden aus den Teilen Kurdistans könkratisch-friedlichen Wegs im Sinne einer Demonen folgendermaßen aufgezählt werden:
kratisierung zu agieren.
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RONAHÎ #43
»» Diplomatie im Demokratischen Konföderalismus
c) Westkurdistan ist geographisch, sowie demographisch gesehen der kleinste Teil Kurdistans.
Das der Kontrolle des syrischen Staates übergebene Volk hat in diesem Teil, nach dem Norden, am frühsten den nationalen, demokratischen
Kampf kennengelernt und am stärksten an diesem
Kampf teilgenommen. Sie unterstützten die Entwicklungen in den anderen Teilen nur begrenzt
und nahmen so das erste Mal an den wesentlichen
Elementen der Revolution teil. Früher haben besonders die politischen Führungen im Süden
Westkurdistan als Rückzugsgebiet, logistisches
Unterstützungsdepot und zunehmend als Hinterhof bewertet. Unser Volk in diesem Teil sah sich
infolgedessen natürlicherweise nicht als Subjekt
und Besitzer des Kampfes, sondern als ein passiver Unterstützer des Kampfes, falls es hier Aufgaben bekam. Dass sich die PKK seit 1979 von der
Türkei aus auch in Richtung des mittleren Ostens
ausbreitete und dass besonders das Interesse, die
Bildung und die intensiven Bemühungen seitens
Repräsentant Apo und der PKK vorhanden waren, führten dazu, dass dieser Teil heute ein wesentliches Element und Hauptfaktor der Revolution geworden ist. Zum einen die Baath-Partei und
folglich starker Druck des Staates und zum anderen die Erweiterungen der Sowjetunion bzw. die
chauvinistisch-kommunistischen und sozialistischen Parteien haben dazu beigetragen, dass die
Kurden den Kräften der Ordnung rechts und links
mit Abstand gegenüber standen. Auch wenn einige Personen und Familien sich in solchen Gruppen
befanden, stand die überwältigende Mehrheit solchen Parteien zweifelnd gegenüber und versuchte
immer von den Bewegungen fern zu bleiben. Jedoch sahen sie in der PKK-Bewegung die Hoffnung zur Befreiung und schlossen sich mit ganzer
Kraft dem Kampf an. Das demokratisch-konföderale Kurdistan muss sich hinsichtlich der Organisierung des Volkes von Rojava (Westkurdistan),
des national-demokratischen Rechts und der Thematik der Erlangung der Freiheit anstrengen. Die
hier organisierte Tev-Dem (Volksrat Westkurdistan) und unser Volk müssen mit den Kommunen
und Räten, politischen Parteien, demokratischen
Massenorganisationen und den gesellschaftlichen
Gebilden ihre Beziehungen entwickeln. Mit dem
demokratisch-konföderalen Verständnis werden
die Gleichheit auf Grundlage der Unterschiede, die nationale Einheit, die Demokratie und die
Freiheit als Ziele festgelegt.
3. Die Auslandsdiplomatie des demokratisch-kon-
föderalen Kurdistans
Es ist undenkbar, dass das demokratisch-konföderale Kurdistan sich von der Außenwelt abgrenzt und
lediglich begrenzt mit den Einheitsstaaten in Beziehung gerät, in denen es sich befindet. Sicherlich werden die Beziehungen mit der Außenwelt primär die
Beziehungen mit den Einheitsstaaten schaffen. Hierfür gibt es verständliche politische, wirtschaftliche,
kulturelle, rechtliche sowie psychologische Gründe.
Die türkischen, arabischen und persischen Völker,
sowie die im selben Gebiet lebenden Minderheiten
sind ein gemeinsames Erbe der Geschichte. Hauptsächlich durch die Herrschenden hervorgerufene und
zeitlich die Völker unter ihre Macht reißende Konflikte, Wiedersprüche und Kränkungen zwischen den
Völkern führten zur Unsicherheit. Der demokratische
Konföderalismus wird diese Probleme überwinden.
Aber verwirklichen wird dies die gerechte und auf
Freiheit basierende Diplomatie zwischen den Völkern. Zwischen den Staaten sind ähnliche Konstellationen denkbar. Die hunderte Jahre alte gemeinsame
Geschichte, die gemeinsamen Verluste und die Gewinne sind eine vorhandene Grundlage hierfür. Ziele
wie die Abgrenzung zu den Staaten, die das demokratisch-konföderale Kurdistan isolieren, sind nicht
Thema. Bei Akzeptanz des demokratisch-konföderalen Kurdistans, des politischen Willens, der Rechte
und Freiheiten werden sie das Recht darauf haben
Gründungspartner zu sein. Wenn diese nicht akzeptiert werden und die Kurden den Konföderalismus
ankündigen und im Nachhinein Vereinbarungen hinsichtlich des gemeinsamen Lebens getroffen werden,
wird dies ein Grund dafür sein, dass sie Vorrang als
Partner in der Diplomatie haben werden. Wenn diese
beiden Möglichkeiten nicht in Kraft treten, werden
die Kurden sich zwangsläufig trennen müssen. In
solch einer Situation wird die Feindschaft nicht bis in
die Unendlichkeit andauern. Selbst in so einer Situation wird das demokratisch-konföderale Kurdistan
für die Beziehungen mit den Nachbar-Einheitsstaaten natürlicherweise eine stabile Perspektive haben.
Weder wird es sich dem Staat gegenüberstellen, noch
sich dem Staat zuwenden. Es wird Beziehungen aufbauen, wenn der Staat gegenüber der Demokratie
sensibel wird und kämpfen, wenn der Staat in demokratischen Angelegenheiten unzugänglich wird.
Ziel ist die übermäßige Zentralisierung des Staates
für Demokratie sensibel zu machen. Und dies ist
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»» Diplomatie im Demokratischen Konföderalismus
keine Arbeit, die ohne Beziehung, Dialog und Verhandlung ablaufen kann. Das Ziel ist nicht, sich vom
Staat zu trennen. Im Gegenteil ist das Ziel, Partner
mit dem Staat zu werden und bei internationalen Beziehungen, Außensicherheit, nationalen Kosten und
Außenhandel bzw. bei allen Themen, die das Land
betreffen, gemeinsam über den Staat zu wirken. Bei
Themen, die die lokalen Regierungen betreffen, wird
der demokratische Konföderalismus jedoch den befugten Verwaltungen das Entscheidungsrecht übergeben. Demnach:
a) Die demokratisch-konföderale Selbstverwaltung,
die Demokratische Autonomie, wird natürlicherweise in enger Beziehung und Zusammenarbeit
zu dem nationalen Parlament stehen.
RONAHÎ #43
die gesellschaftlichen Gruppen frei ausdrücken, organisieren und in jedem Bereich des Lebens selbst vertreten können. Dies wird für die freiwillige Einigung
wie Hefe und Teig sein. Für das gemeinschaftliche
Leben müssen neben konstitutionellen und gesetzlichen Regelungen auch Lösungswege für die Probleme, die in der Praxis auftreten können, gefunden und
praktiziert werden, um eine fortschrittlichere Einigung zu erzielen. Das Mittel hierfür ist die Diplomatie
zwischen den Völkern. Das gleiche Verständnis gilt
auch für die Beziehungen mit den Völkern aus den
arabischen und persischen Ländern. In der Tat kann
es sein, dass die Gründung einer internationalen, demokratischen und mittelöstlichen Konföderation zu
den Aufgaben des demokratisch-konföderalen Kurdistans gehören kann, wobei das demokratisch-konföderale Kurdistan eine Vorreiterrolle spielen könnte.
Das demokratisch-konföderale Kurdistan wird auch
auf globaler Ebene mit den demokratischen Mächten diplomatische Beziehungen haben. Des weiteren
wird es zu den diplomatischen Aufgaben gehören,
mit den globalen demokratischen Mächten gegen
den globalen Kapitalismus Beziehungen aufzubauen,
die vorhandenen zu stärken und hierbei eine zentrale
Rolle zu übernehmen.
b) Die Leitung der demokratisch-konföderalen (außerstaatlichen) Selbstverwaltung wird eine enge
Beziehung und Koordination zu der nationalen
(staatlichen) Regierung haben. Hiermit ist eine
gleichberechtigte Beziehung gemeint, wobei die
Interessen des einen nicht für die des anderen geopfert werden. Außerdem werden zwischen den
konföderalen Institutionen selbst auch ähnliche
Beziehungen geschaffen. Viele Themen, die mehrere konföderale Verwaltungen oder Demokratische Autonomien angehen, müssen nicht direkt
auch die nationale Regierung interessieren, d.h. 4. Die Diplomatie zwischen den Komponenten des
die nationale Regierung muss nicht in jedem Fall demokratisch-konföderalen Kurdistans und den
eingreifen.
Komponenten aus den anderen Teilen
Die Diplomatie zwischen Völkern
Das Projekt des demokratischen Konföderalismus ist
kein Projekt, das nur in Bezug auf Kurd_innen und
Kurdistan entwickelt wurde. Es ist kein Projekt, welches nur für eine ethnische Gruppe, eine Region oder
eine religiöse Schicht entwickelt wurde. Heute gibt es
in der Türkei sieben Verwaltungsregionen. Es könnten in großer Anzahl demokratisch-konföderale Regionen, demokratisch-konföderale Selbstverwaltungen
usw. geschaffen werden. Alle Teile der Gesellschaft
in der Türkei können bei Bedarf demokratisch-konföderale Verwaltungen gründen, an die sie glauben
und bei denen sie sich selbst organisieren können.
Die Alevit_innen, Las_innen, Tscherkess_innen, Assyrer_innen, Griech_innen, Jüd_innen, Araber_innen
und weitere Teile der Gesellschaft können demokratisch-konföderale Selbstverwaltungen gründen. Für
die Entwicklung der Demokratie und gemeinsamer
Interessen ist der gesündeste Weg der, auf dem sich
Der demokratische Konföderalismus ist nicht nur das
Gebilde einer Ethnizität, Region, Religion oder Konfession und auch nicht das Gebilde der Völker, denn
auch dies wäre unzureichend. Er ist ein Gemeinschaftsgebilde, in dem sich alle Gesellschaftsgruppen mit ihrer eigenen Identität, Kultur, Glauben und
den eigenen wirtschaftlichen Interessen frei ausdrücken, organisieren und sich selbst vertreten können.
Dies führt dazu, dass sie gemeinsam demokratisch
leben können. Aus diesem Grund ist der Konföderalismus keine Umstrukturierung, die wie der Nationalstaat monoton ist. Im Gegenteil werden hier alle
Unterschiede als Bereicherungen angesehen. Und
es gehört zu den unverzichtbaren Prinzipien des gemeinsamen Lebens, eine Einigung zu erzielen, die
auf Gleichheit basiert. Das Ziel ist nicht, alle Komponenten in einem Schmelztiegel zu verschmelzen,
sondern gemeinsam als gemeinsame Gründer des
Rechts und der Pflichten zu leben. Dies ist die Bedingung für die Entwicklung der diplomatischen
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RONAHÎ #43
»» Diplomatie im Demokratischen Konföderalismus
Beziehungen zwischen den Komponenten. Das erste
unterdrückte Geschlecht und die unterdrückte Klasse der Frauen und die Freiheitsbewegung der Frauen
gehören zu den wesentlichen Bauteilen des demokratischen Konföderalismus. Die Frauenbewegung
des demokratisch-konföderalen Kurdistans wird mit
den Frauenbewegungen und Vereinigungen aus den
anderen Teilen Kurdistans und den Nachbarländern
ihre diplomatische Beziehung auf höchster Ebene
beibehalten. Dies wird zunehmend zu Solidarität und
Einheit führen. In gleicher Weise werden auch andere Bewegungen und Vereinigungen organisatorische
Beziehungen haben und diplomatische Arbeiten miteinander führen. Die Aufgabe des demokratisch-konföderalen Kurdistans wird sein, die Arbeit zwischen
den Bewegungen unter seinen Schutz zu nehmen.
Auch auf globaler Ebene müssen die Bewegungen
Beziehungen zu anderen demokratischen Bewegungen haben, um diplomatische Solidarität zu gewährleisten. Man könnte fragen, ob all diese Beziehungen sich nicht gegenseitig widersprechen würden.
Nein, sie würden sich nicht widersprechen. Dass die
Arbeiterbewegung beispielsweise zunehmend kontinentale und globale Beziehungen entwickelt, würde
weder den konföderalen Regelungen, noch den Gesetzen der Einheitsstaaten widersprechen. Ohnehin
wird es in dem vom Volk bestimmten gesellschaftlichen Vertrag keinen Platz für solche restriktiven und
verbietenden Haltungen geben. Es heißt: Je mehr
Freiheiten, desto mehr Demokratie und je mehr verbietende Gesetze, desto weniger Demokratie gibt
es. Mit anderen Worten kann man sagen: Je weniger
Staat, desto mehr Gesellschaft und je mehr Gesellschaft, desto mehr Demokratie. Schließlich werden
die Kurd_innen mit diesen komplexen diplomatischen Beziehungsnetzen selber bestimmen, wie sie
untereinander und mit anderen Völkern das kulturelle und rechtliche Leben gestalten werden. Sie werden
selbst entscheiden, was für eine Position sie in der
Welt einnehmen wollen, wie sie mit der Welt, welche
ihre Kultur und ihren Glauben, sowie ihre Identität
bis heute nicht akzeptiert hat, umgehen wollen und
was sie der Welt geben bzw. von ihr erwarten werden.
Die Kurd_innen haben zunächst mit großer Aufopferung an der Gründung der Republik teilgenommen
und wurden anschließend im Käfig des Nationalstaates eingekerkert und erfuhren weiterhin Massaker,
Exil, Armut und Identitätslosigkeit. Nun werden sie
selbst entscheiden können, wie sie damit umgehen
und diese Zustände ordnen werden. Auch wie sie
die Rechnung begleichen, dass sie im eigenen Land
noch nicht einmal Immigranten sein konnten, werden
sie selbst entscheiden. Es wird die Rede davon sein,
sich vom Käfig des Nationalstaates zu befreien und
anschließend mit gegenseitigem Respekt, rechtlicher
Gleichheit und Gleichheit innerhalb von Unterschieden, eine freie Demokratie auf Basis des gemeinsamen Lebens zu gründen. Der Nationalstaat harmoniert nicht mit unserem historisch-gesellschaftlichen
Gewebe. Die Gesellschaften aus Anatolien, Mesopotamien und anderen mittelöstlichen Gebieten und die
gesellschaftlichen, kulturellen und historischen Traditionen sind im Grunde dem demokratischen Konföderalismus gegenüber offen. Die Geschichte liefert
hierfür zahlreiche Beispiele. In der Hegemonie des
englischen Imperialismus wurde der Nationalstaat
als das Dominante in die Region eingeführt und ist
somit der Hauptgrund für die derzeitige Zersplitterung des Landes und die Unlösbarkeit der Probleme.
Das heißt, der Kleinstaatennationalismus ist nicht nur
der Grund für die Probleme der Türkei, sondern auch
der Grund für die strukturellen Probleme im mittleren Osten. Die zionistischen Ideologen schufen einen
Begriff, welcher dem türkischen Nationalismus eigen
ist: Sie sprachen von „Weiß-Türken“ und beschrieben
die Ideologie als den anatolischen Zionismus. Heute
sind die Weiß-Türken der Grund, warum unsere Gesellschaft im Meer aus Blut ertränkt wird. Der demokratische Konföderalismus ist das Grundmodell für
die Lösung der genannten Probleme, für die Gleichheit innerhalb der Unterschiede, für die Demokratie
und das Leben in Freiheit. Ähnlich wie in Kurdistan
können beispielsweise in Hatay und Adana die Araber_innen ihre eigenen demokratischen Selbstverwaltungen entwickeln. Sie können sich frei organisieren und ausdrücken, und von der Bildung in ihrer
Muttersprache bis hin zu kulturellen Entwicklungen
auf höchster Ebene können sie ein freies Leben gestalten. Dies gilt in gleicher Weise für die Las_innen
am Schwarzen Meer, die Griech_innen am Ägäischen
Meer, die Armenier_innen, die Tscherkess_innen und
so weiter. Die Vorreiterrolle beim Übergang vom Nationalstaat in eine demokratische Türkei werden die
Kurd_innen haben, wobei sich alle Schichten der
Gesellschaft frei organisieren können. Jedoch entwickeln die Kurden, obgleich sie große Preise gezahlt
haben, ihr Lösungsmodell nicht nur für die Region
Kurdistan und das kurdische Volk, sondern für die
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»» Diplomatie im Demokratischen Konföderalismus
ganze Türkei. Sogar für den Iran, Irak, Syrien und
alle anderen mittelöstlichen Völker. Die Organisierung dieses Modells, also alle demokratisch-konföderalen Institutionen (städtisch, lokal oder regional)
werden untereinander ihre Beziehungen auf konföderalen Grundlagen aufbauen. Somit wird man nicht
unter der Diktatur der Wenigen, wie in Kapital- und
Machtmonopolen, leben müssen. Die Stabilisierung
des komplexen gesellschaftlichen Beziehungsnetzes,
welches alle Bereiche des Lebens umfasst, wird ohne
den Kapital- und Machtmonopolen eine offene Tür
zur Ausnutzung zu lassen, zu den Hauptbemühungen
der Völkerdiplomatie gehören. Die Diplomatie, die
seit tausenden von Jahren das Spielfeld der Herrscher
gewesen ist, wird nicht mehr ein Mittel für die Vertiefung und Entwicklung der Unlösbarkeit der Probleme sein. Mit dem demokratischen Konföderalismus
werden alle gesellschaftlichen Schichten ihre eigene
Diplomatie entwickeln und diese als Mittel der Problemlösung gestalten. Sie werden ihre eigenen Lösungen selbstständig gestalten, ohne Hilfe von anderen
zu erwarten, ohne um Erlaubnis zu fragen und ohne
zu betteln. Das demokratisch-konföderale Kurdistan
ist geehrt, egal wie hoch der Preis dafür sein wird,
solch eine Vorreiterrolle in diesem geschichtlichen
Prozess und dieser Aktion zu spielen!
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RONAHÎ #43
RONAHÎ #43
»» Êzîden und das Êzîdentum
Die Êzîden und das Êzîdentum
» » YXK-Bielefeld & Yilmaz Pêşkevin Kaba
Wer sind die Êzîd_innen?
Die Definition der Bezeichnung/des Wortes
Die Glaubensgemeinschaft der Êzîd_innen gehört zu
den ältesten noch bestehenden der Welt. Der Großteil
der Angehörigen dieser Gemeinschaft lebt – bedauerlicherweise gegenwärtig in der Vergangenheitsform
»lebte« – im Şengal-Gebiet (Südkurdistan/Nordirak).
Über Jahrhunderte hinweg erlebten die Êzîd_innen Verfolgung, Unterdrückung, Zwangskonvertierung/-islamisierung, Verleumdung, unzählige Massaker und Genozide. Seit den Staatsgründungen der
Türkei, des Irans, des Iraks und Syriens im Zuge der
territorialen Verschiebungen nach dem 1. Weltkrieg,
wurde es bis heute versäumt, der Stimme der Êzîd_
innen Gehör zu verleihen. So wurde ihr Status als
Glaubensgemeinschaft bisher nicht anerkannt, weder
durch die Besatzer Kurdistans noch durch die Vereinten Nationen. Ein Versäumnis, das seither bittere
Konsequenzen nach sich zieht.
Ezda ist kurdisch und einer der vielen Namen Gottes (Xweda/Xwedê: „der, der sich selber erschaffen
hat“). Es heißt übersetzt: „der, der mich erschaffen
hat“ (Ez - da / Min – da). Das Wort Êzîdî heißt somit
„die Anhänger Gottes“. Das Wesentliche hier führt
darauf zurück, dass Gott alles und jenes und auch
sich selbst erschaffen hat.
Ethnische Zugehörigkeit, Sprache und besondere
Hauptmerkmale des Glaubens
Die Êzîd_innen sind von der Volkszugehörigkeit
Kurd_innen und entsprechen zur heutigen Zeit ca.
2,5% des gesamten kurdischen Volkes. Alle Êzîd_innen sprechen hauptsächlich den meist gesprochenen
kurdischen Dialekt Kurmancî. Einer der Hauptmerkmale ist, dass das Êzîdentum einen ethnokonfessionellen Charakter hat, sprich eine nur unter den Kurd_
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»» Êzîden und das Êzîdentum
innen vorhandene Glaubensgemeinschaft ist. Daher
kommt auch die Bezeichnung Ursprungsglaube/-religion der Kurden, da diese in vielen Bereichen die
Grundlage des Kurdentums ist.
Im Glauben des Êzîdentums hat die Natur (Xweza:
„das, dass sich selber erschafft“) einen besonderen
bis zu heiligen Stellenwert. Heilige Elemente sind
u. a. Sonne/Feuer, Wasser, Luft/Wind und die Erde.
Auch die Wiedergeburt gilt als ein Teil der Natur. Die
Natur ist die Schöpferin/Gottheit, welche die Mutter aller Geschöpfe und Lebewesen ist. Aus diesem
Grund verlangt die Natur auch den gegenseitigen Respekt aller Geschöpfe und Lebewesen.
RONAHÎ #43
setzte sich die Bezeichnung „Yezid_innen“ und „Jesid_innen“ durch. Aufgrund dieser Schreibweise,
offenbarten sich weitere Möglichkeiten diesen Namen anders zu identifizieren. Muslimische Kritiker
konnotierten den Namen äußerst negativ, da hier die
„Yezîd_innen“ mit dem Kalifen der Umayyaden, Yazid ibn Mu’awiya in Verbindung gebracht wurden.
Die schiitischen Muslime sahen in Yazid den Verantwortlichen für den Tod Husseins, dem Enkelsohn
des Propheten. Inzwischen bedient sich die Mehrheit
der Etymologie - die „Êzid_innen“, die sich an der
kurdischen Selbstbezeichnung ez da („Gott schuf“)
orientiert. Neben dem Vorwurf mit Yazid ibn Mu’awiya zu
sympathisieren, wurde Tawisî Melek mit dem Teufel
gleichgesetzt. Vor allem wird auf Seiten des Islams
Tawisî Melek, der als erster von sieben Engeln von
Gott erschaffen wurde, mit Satan, auch Schaitan beDas Ursprungsland bzw. Siedlungsgebiet der Êzid_ zeichnet, identifiziert und diffamiert. Diese Vorstelinnen ist Kurdistan. Bedingt durch die labile gesell- lung legitimierte Pogrome gegen das êzîdische Volk.
schaftliche und politische Lage aufgrund der Beset- Tatsächlich sprechen die Êzid_innen das Wort Teuzung Kurdistans, waren und sind die Êzid_innen dazu fel nicht aus und lehnen es auch ab, Gott eine Pergezwungen ihre Heimat zu verlassen. Zu erwähnen sonifizierung des „Bösen“ gegenüberzustellen, da
ist auch, dass sie einer doppelten Verfolgung ausge- dies Zweifel an der Allmacht Gottes bedeuten würsetzt waren und sind: als Glaubensgemeinschaft und de. Damit geht auch die Vorstellung einher, dass der
auch als Angehörige des kurdischen Volkes.
Mensch in erster Linie selbst für seine Taten verantDie Zahl der Êzîd_innen wird weltweit auf ca. 1 bis wortlich ist. 1,5 Millionen geschätzt. Vor den Übergriffen auf
Seit wann existiert der Glaube?
Şengal (03.08.2014) waren folgende Zahlen aktuell:
Süd-Kurdistan ca. 3 %, Şengal/Laliş und Region ca. 6 Zu den Ursprüngen der Êzid_innen gibt es bis heute
%, Europa ca. 21 %, Kaukasus ca. 10 %, Nord-Ame- keine allgemein anerkannten Aussagen. Der Glaube
rika ca. 2%, West-Kurdistan ca. 1%, Nord-Kurdistan entwickelte sich aus dem Mithras-Kult, der bis ins
14. Jahrhundert v. Chr. zurückreicht und Ähnlichkeica. 0,01 %.
ten mit dem altindischen Gott Mitra aufweist. HistoAufgrund der schon erwähnten feindlichen Lebensrisch gesichert, lässt er sich auf den Reformator Şêx
bedingungen in Nord-Kurdistan auf der einen Seite
Adî (*ca. 1075 – †1160) zurückführen. Sein Grabdurch die Türkei und in Süd-Kurdistan auf der andemal in Laliş, in Süd-Kurdistan (im nördlichen Irak),
ren Seite durch den Irak, flohen seit den 80er Jahren
gilt als zentrales Heiligtum. Das Êzîdentum hat seiviele Êzid_innen nach Deutschland. Überwiegend
ne Wurzeln in dem indogermanischen Glauben der
siedelten sie sich in Nordrhein-Westfalen und in NieKurden und ist eine Mischung aus dem Naturglaube,
dersachsen an, wodurch eine êzîdische Gemeinschaft
der Verehrung der Sonne, und dem Glauben an eine
in Deutschland entstand.
Gottheit. Es wird mehr als Lebenseinstellung und
Wie kommt es zu den unterschiedlichen Bezeich- -philosophie praktiziert.
nungen der Êzid_innen?
Wer ist Tawîsi Melek?
Die Herkunft der Bezeichnung „Êzid_innen“ ist
bis heute unbekannt. Vorwiegend wurden in wis- Die êzîdische Glaubenslehre besagt, dass Gott aus
senschaftlichen Publikationen „Êzid_innen“ (engl. sich selbst heraus eine weiße Perle schuf, durch de„Yazidis“) verwendet. Im deutschsprachigen Raum ren Explosion das gesamte Universum entstand. Aus
Die Hauptpilgerstätte und das wichtigste Glaubenszentrum der Êzid_innen ist Laliş, welches in
Süd-Kurdistan liegt. Laliş ist auch unter der Bezeichnung Sonnen- und Feuertempel bekannt.
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RONAHÎ #43
»» Êzîden und das Êzîdentum
seinem Licht entstanden sieben Engel, welche bei der
Entstehung der Erde mitwirkten. Zudem symbolisieren die Engel die Naturgesetze. Der wichtigste unter
ihnen ist der siebte Erzengel Tawisî Melek, der als
Stellvertreter Gottes (Xweda) auf der Erde gilt und
oft auf Abbildungen als historisches Sonnensymbol
und als Pfau (Königssymbol) zu erkennen ist. Tawisî
Melek ist weder ein ausgestoßener, noch ein gefallener Engel und gilt als Ikone des êzîdischen Glaubens.
Das erste und wichtigste Gebot Gottes war, dass sich
die Engel niemandem außer ihm selbst unterwerfen
dürfen. Als Gott Adam erschuf, prüfte er die Engel
und befahl ihnen, sich vor ihm zu verneigen. Alle
verneigten sich, bis auf Tawisî Melek. Dieser hatte
das erste Gebot Gottes nicht vergessen und huldigte damit seiner Allmächtigkeit. So wurde er zum
Oberhaupt aller Engel erkoren. Gott erkannte seine
Loyalität und vertraute ihm in menschlichen Angelegenheiten. Tawisî Melek wird als Gottesvertrauter, Vorbeter und Leitfigur der Engel betrachtet. Der
ihm zugeordnete heilige Wochentag ist der Mittwoch
(kurdisch: Çarşem; Tag der Vollendung der Erde).
Zudem wird ihm der Planet Merkur zugeordnet, der
auch für Mittwoch steht. Daher gilt der Mittwoch unter den Êzîd_innen als Ruhetag.
Was kann zur Glaubensvorstellung gesagt werden?
Die Glaubensgrundzüge:
Der Glaube wurde bis in die jüngste Zeit mündlich
überliefert und ist eine monotheistische Religion
(Ein-Gott-Glaube). Wichtig sind folgende Wesen im
Êzîdentum: Xwedê, Ezda, Padşa, die sieben Erzengel
(Siebenschaft) mit ihrem Oberhaupt Tawisî Melek sowie weitere heilige Persönlichkeiten. Es gibt heilige
Schriften bezüglich der Êzid_innen, u. a. das „Buch
der Offenbarung“, das Kitêba Cilwê. Die Bücher und
Schriften wurden 1911 und 1913 veröffentlicht, wobei in ihnen wohl nicht alle Glaubensvorstellungen
der Êzid_innen vollständig authentisch wiedergegeben sind. In der êzîdischen Glaubensvorstellung gibt es keinen
dualistischen Konflikt zwischen Gut und Böse. Die
Existenz eines negativen Wesens, das ohne die Fürsprache Gottes handelt, besteht nicht. Der Mensch
hat die Fähigkeit durch seinen eigenen Verstand zu
denken, ebenso zu sehen und zu hören, um vernunftgelenkt Entscheidungen zu treffen. Daher ist der
Mensch zunächst selbst für sein Wirken verantwortlich. Aus diesem Grund existiert lediglich das Böse
im Menschen selbst. Ansonsten könne Gott nicht allmächtig sein. Folglich ist die Aussprache des bösartiBedeutung Tawisî Meleks
gen Wesens ein Zeichen für Zweifel an der Allmäch„Tawisî Melek şahda îmana min e“ – Tawisî Melek tigkeit Gottes.
ist der Zeuge meines Glaubens [an einen Xweda].
Äußere Merkmale des Glaubens
Tawisî Melek gilt als Grundlage des êzîdischen Monotheismus und als Symbol des mutigen Einsatzes Keine Existenz einer autonomen bösen Gestalt; ethdes Verstandes sowie als Grundlage des Gottes- und nokonfessioneller Charakter; keine Missionierung –
als Êzîdî wird man geboren: “Ein Êzîdî kann ein guter
Menschenverständnisses des êzîdischen Glaubens.
Mensch sein, aber um ein guter Mensch zu sein, muss
Prinzip und Verkörperung von Tawisî Meleks - Mut
man nicht Êzîdî sein.“; keine Offenbarungsreligion und Einsatz des eigenen Verstandes: das Tun, was
Êzîden haben keinen Propheten; keine Buchreligion
man selbst für richtig hält; die Konsequenzen aus sei- kein heiliges Buch, hauptsächlich durch mündliche
nem Tun selbst tragen; für seine Taten selbst RechenTradierung (Qewls); kein Alleingültigkeitsanspruch:
schaft ablegen; eigene Meinungsbildung; manchmal
„Jede Religion ist ein Teil der Wahrheit”.
gegen den Strom schwimmen; Befehlen nicht blind
Folge leisten; selbstbewusst auftreten; stets kritisch Beispiel für den Alltag
bleiben; Dinge hinterfragen; Mitmenschen ein VorHeke tû kesekî bi bînî - Xêrekê vêre bigehînî - Nebêjê
bild sein; niemanden verurteilen.
tû ji kî dînî.: „Wenn Du jemandem begegnest - Lass
ihr eine gute Tat zukommen - Frag nicht danach, welcher Religion sie angehört.“
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»» Êzîden und das Êzîdentum
RONAHÎ #43
Innere Merkmale des Glaubens
Drei Hauptgruppen:
Das Kernmerkmal ist Tawisî Melek. Gut und Böse
sind eins - Keine Trennung von Gut und Böse zu
zwei autonomen Figuren. Es bestehen nur wenige religiöse Gebote und Verbote. Qewls sind keine Regelwerke, sondern philosophische Texte. Liebe gilt als
Fundament der Erde und der menschlichen Existenz.
Es wird keine Unterteilung zwischen gläubigen oder
ungläubigen Menschen aufgrund der Religionszugehörigkeit vorgenommen. Toleranz der Vielfalt als Respekt gegenüber der Schöpfung Gottes gilt als sehr
wichtig.
−− Die Mirîds, machen den Großteil der Gesellschaft
aus.
−− Die Pîrs (Würdenträger) sind für gesellschaftliche Angelegenheiten sowie für religiöse Riten
zuständig.
−− Die Şêxs (Würdenträger) sind für politische Angelegenheiten sowie für religiöse Riten verantwortlich.
Des Weiteren gibt es den religiösen Rat, die Civata
Ruhanî. Die Aufgabe des Rates beinhaltet u. a. die
Beratung und die Beschlussfassung über religiöse,
Wie sieht das Gesellschafts- und Kastensystem bei gesellschaftliche und/oder politische Fragen und Anden Êzid_innen aus?
gelegenheiten.
Der Reformator Şêx Adî gründete im 11. Jahrhundert Das Kastensystem ist keinesfalls gleichzusetzen mit
das Kastensystem im Êzîdentum.
einer weltlichen Hierarchie. Sie dient lediglich als
Nach der êzîdischen Mythologie wurde Şêx Adî vom Schutzfunktion des Glaubens, aufgrund von Verfolobersten Engel Tawisî Melek auserkoren und erhielt gungen und Pogromen. Rechtlich und wirtschaftlich
gesehen, gibt es keinen Unterschied in den verschievon ihm seine geistige und spirituelle Macht.
denen Kasten. Die Êzid_innen werden in ihren GlauGrundlegend besteht die Gliederung ihrer Gesell- ben hineingeboren. In der jeweiligen Kaste ist ausschaft aus drei Kasten: die Şêxs (Schech/Sheikh), Pîrs schließlich eine Heirat erlaubt (Endogamie).
(„der Ältere“) und die Mirîds („das Volk“). Die Şêxs
und Pîrs gehören zu der geistlichen Kaste, welche die Ist es möglich zum Êzîdentum zu konvertieren?
Aufgabe besitzt, den Mirîds die religiöse Lehre zu Die Möglichkeit zu konvertieren gibt es nicht. Als
vermitteln. Die Aufrechterhaltung von Ritualen, wie Êzîd_in wird man geboren, d.h. beide Elternteile
bspw. die Zeremonien bei Festen, Beerdigungen und müssen êzîdisch sein. Dies dient lediglich der ErhalTaufen sowie die Lösung von Konflikten zwischen tung und heißt nicht, dass sie sich über andere Glauden Mirîds und die Vermittlung des Glaubens, ste- bensgemeinschaften stellen. Es heißt „ein Êzîde muss
hen im Zentrum ihrer Aufgabenbereiche. Sie stehen ein guter Mensch sein, aber um ein guter Mensch zu
in gegenseitiger Verpflichtung und Verantwortung in- sein, muss man kein Êzîde sein.“ Die Êzid_innen
nerhalb der Gesellschaft. sind nicht der Auffassung, Andersgläubige von der
Die êzîdischen Siedlungsgebiete waren und sind
räumlich voneinander getrennt. Daher legte Şêx Adî
aus organisatorischen Gründen fest, dass sich sowohl
die Angehörigen der Pîrs als auch der Şêxs auf die
êzîdischen Mirîds aufteilen. So bekam jeder Mirîd
seinen eigenen Şêx und Pîr. eigenen Religion überzeugen zu müssen bzw. missionieren zu wollen. Sie behaupten auch nicht, der
wahre Glaube zu sein, da sie davon ausgehen, dass
jeder ein Teil der Wahrheit ist.
Die Şêxs unterscheiden sich von den Pîrs in der Hinsicht, dass sie in der gesamten êzîdischen Gemeinschaft noch eine administrative Aufgabe besitzen.
Diese besteht darin politisch-soziale Probleme zu
lösen, um die Gemeinschaft sowohl nach außen als
nach innen zu vertreten. Bei Problemen können sich
die Gläubigen jedoch auch an Pîrs und Şêxs wenden,
die für andere Mirîds zuständig sind.
„Wesentlicher Bestandteil des êzîdischen Glaubens
ist der Glaube an eine Wiedergeburt nach dem Tode
(Metempsychose). Die Reihe der Wiedergeburten
verläuft nach êzîdischem Glauben kreisförmig. Die
Menschen sind nach der Theologie der Êzid_innen
frei geboren und haben in ihrem Leben einen freien
Willen. Ein Mensch ist gut, wenn er gut denkt, gut
redet und Gutes tut. Gute Taten führen zur Ganzheit
und Ewigkeit. Ein guter Mensch hat eine reine Seele,
Welche Bedeutung hat der Tod im Êzîdentum?
- 93 -
RONAHÎ #43
»» Êzîden und das Êzîdentum
die dann in den Himmel aufgenommen werden kann.
Hat der Mensch sich aber schlecht und böse verhalten, so muss er sich so lange im Kreis von Wiedergeburten auf der Welt bemühen, bis er das Licht, den
richtigen Weg und die Wahrheit gefunden hat.“
Welche Stellung nimmt die Frau im Êzîdentum
ein?
Im êzîdischen Glauben sind Mann und Frau gleichberechtigt. Es gelten für den Mann sowie für die Frau
die gleichen Gebote und Verbote. Vor der Verfolgung
der Êzid_innen im 6. und 7. Jh. v. Chr. hatten die
Frauen im êzîdischen Glauben ein höheres Ansehen
als die des Mannes. Die Frau war und ist im Êzîdentum etwas wertvolles, etwas Heiliges, da sie die Erde
mit der Menschheit bereicherte. Nach dem allmächtigen Gott und Tawisî Melek wird die Frau geehrt
(durch die Erwähnung in den êzîdischen Gebeten),
denn sie trug dazu bei, dass Nachfolger existierten
(das Geschöpf das Leben erschafft). Die Frau hat in
jeglichen Situationen ein Mitspracherecht. Zudem
wird die Meinung der Frau besonders hoch angesehen. Sie erhält viel Respekt und Akzeptanz im êzîdischen Glauben. Doch nach der Verfolgung und der
Zwangsislamisierung der Êzid_innen, hat sich der
Standpunkt der Frau ein wenig geändert. Die Einflüsse und das Umfeld des Islams haben es nicht möglich
gemacht, dass die Position der Frau im Êzîdentum
wie vorgeschrieben erhalten bleibt. Der Rollentausch
diente der Anpassung an die anderen Religionen. Im
Vergleich zur 1. Generation der Frauen, sind die 2.
sowie die 3. Generation der in Deutschland Lebenden
eigenständiger und wählerischer in vielen Aspekten
im alltäglichen Leben, was auch von der êzîdischen
Gesellschaft positiv aufgenommen wird. Die Stellung der Frau zeichnet sich weiterhin so aus, dass sie
frei ihre Meinung äußern kann und genauso wie der
Mann das Recht hat, bei politischen Veranstaltungen
und Diskussionen der Êzid_innen mitzuwirken. Sie
wird zudem bei wichtigen êzîdischen Angelegenheiten und Entscheidungen bevorzugt mit einbezogen. praktiziert. Diese Regel besagt, dass Êzid_innen innerhalb ihrer Kaste ehelichen sollen. Dies sieht eine
Ehe mit Andersgläubigen nicht vor. Denn als Êzîd_in
wird man nur geboren. Die Möglichkeit zum Êzîdentum zu konvertieren ist aus den Tatsachen der
Vergangenheit (Sicherheitsschutzfunktion vor dem
Islam nach der Zwangsislamisierung) zurzeit nicht
möglich. Die Frau hat in der Ehe die gleichen Rechte
wie der Mann, d.h. die Aufgabenverteilung im Haushalt sowie die Erziehung der Kinder wird beiden zugeteilt. Im êzîdischen Glauben sollen die Eheleute
sich mit gegenseitigem Respekt und Akzeptanz behandeln. Auch der Frau steht es zu arbeiten zu gehen
und den Haushalt mit zu finanzieren. In allen wichtigen Entscheidungen wird die Frau mit einbezogen
und kann ihren Standpunkt dazu vertreten. Die Frau
ist keineswegs dem Mann untergeordnet.
Welche Rolle hat das Kopftuch in der êzîdischen
Religion?
Die êzîdischen Frauen tragen kein Kopftuch. Grundsätzlich schreibt der êzîdische Glaube nicht vor, ein
Kopftuch zu tragen. Oftmals tragen heutzutage die
älteren Frauen bei den Êzid_innen ein Kopftuch,
was ein Überbleibsel des islamischen Einflusses in
der Heimat war und noch bestehen blieb. Aus diesem Grund ist es den älteren Frauen aus Gewohnheit
selbst überlassen, ob sie ein Kopftuch tragen oder
nicht. Nur bei Trauerfeiern, sprich auf Beerdigungen,
trägt die êzîdische Frau aus Respekt und als Zeichen
der Trauer für die/den Verstorbene_n sowie für die
Hinterbliebenen ein Kopftuch. Ausschließlich wird
zu besonderen religiösen Zeremonien eine Kopfbedeckung getragen, da gewisse Rituale dies vorgeben.
Die Frau trägt das Kopftuch leicht auf dem Kopf, sodass die Haare noch zu sehen sind.
Wie sieht das êzîdische Frauenbild heute aus?
Mit dem Einfluss der Freiheitsbewegung Kurdistans
kam es zu Verschiebungen hinsichtlich des Frauenbildes. Heute kämpfen auch êzîdisch-kurdische Frauen
für Freiheit, Frieden und Menschlichkeit. Einer der
Heirat
ersten Schritte zur Befreiung der êzîdisch-kurdischen
Früher waren Eheschließungen dem starken Einfluss Frau war die Gründung der »Widerstandseinheit der
der Familien ausgesetzt, jedoch sind diese Formen Frauen von Êzîdxan« (YJÊ), welche u. a. maßgeblich
der Ehe zu seltenen Ausnahmen geworden. Im êzî- an der Befreiung von Şengal beteiligt waren. Auch
dischen Glauben gibt es keine Vorschriften aus der die Aktivitäten im Volksrat von Şengal sind ein wichsich herleiten ließe, dass die Eltern über die Ehepart- tiger Schritt zur Veränderung der gesellschaftlichen
ner entscheiden. Im Êzîdentum wird die Endogamie und politischen Lage und Situation der êzîdisch-kur-
- 94 -
»» Êzîden und das Êzîdentum
RONAHÎ #43
dischen Frau. Unter anderem gilt diese neue Heranund Vorgehensweise als Antwort auf das Massaker
und den versuchten Völkermord, dem die Êzid_innen ausgesetzt waren. Auch die Tatsache, dass noch
immer tausende Frauen in IS-Gefangenschaft sind,
führte zum Umdenken und zum Handeln, was sich
als ein wichtiger Einfluss der neuen Organisierung
herausstellte.
sich aus den kurdischen Wörtern „çar“ für vier und
„şem“ für Woche zusammen. Gemeint ist damit der
vierte Wochentag, also der Mittwoch, da der erste Tag
der Woche im kurdischen Kalender der Sonntag ist.
„Sor“, ebenfalls aus dem kurdischen, trägt die Bedeutung „rot“. Das Neujahrsfest wird am ersten Mittwoch im April (Nach dem gregorianischem Kalender, der erste Mittwoch nach dem 13. April) gefeiert.
Vor allem sind Frauen und Mädchen von den brutalen Angriffen und der Unmenschlichkeit des IS
betroffen
Der êzîdischen Mythologie zufolge erreichten die
Sonnenstrahlen an jenem Mittwoch zum ersten Mal
die Erde, sodass sich der Himmel rot färbte. Daher
stammt der Name „roter Mittwoch“. Mit den Sonnenstrahlen kam auch Tawisî Melek erstmals auf die
Erde. Daher zählt der Mittwoch als „Ruhetag“ der
Êzîd_innen. Ein weiterer Brauch an Çarşema Sor
ist das Färben von Eiern, so wie es heute auch die
Christen an Ostern tun. Diese sollen die Urperle darstellen, durch deren Explosion das gesamte Universum entstanden ist. Die gefärbten Eier sollen an die
Vollendung der Erde und dem damit einhergehenden
Beginn des Lebens erinnern.
Die Terrorgruppe IS entführt und vergewaltigt Frauen und verkauft sie zur sexuellen Ausbeutung. Mit
ihrer Interpretation des Islam begründet sie ihre patriarchale Gewaltherrschaft. Imame vollziehen auf
einige Stunden befristete »Eheschließungen«, um
Frauenhandel und -versklavung zu legitimieren.
Menschenrechtsorganisationen schätzen, dass über
2.000 Frauen auf den von den IS-Milizen errichteten
Sexsklavinnenmärkten in Mossul verkauft und vergewaltigt wurden und das über 4.000 weiteren noch
bevorsteht. Es sind vor allem êzîdisch-kurdische und
christliche Frauen und Kinder von diesen Gräueltaten betroffen. Einige konnten befreit werden bzw. aus
der Gefangenschaft des IS entkommen. Diese Menschen sind höchst traumatisiert. Die humanitäre Situation vor Ort ist katastrophal und das Ausmaß des
Genozids wird immer klarer und deutlicher – ohne
Zweifel ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit
und ein Armutszeugnis für die Menschheit.
Welches sind die wichtigsten Regeln im Êzîdentum?
−− Rastî (Wahrheit/Gerechtigkeit): Jede_r Êzîd_in
ist dazu verpflichtet, stets die Wahrheit zu sagen,
sich vor der Lüge hüten und zu seinem Wort und
zu seinen Entscheidungen stehen.
−− Nasin (Kenntnis): Jede_r Êzîd_in muss sich und
seine Umgebung kennen, dementsprechend einen
stabilen und guten Glauben besitzen.
−− Şermî (Schamgefühl): Jede_r Êzid_in sollte sich
vom Bösen fern halten. Es heißt, ein Mensch, der
Schamgefühl besitzt, nimmt sich nichts Böses vor
und verursacht keine beschämenden Tätigkeiten.
Weitere Feste sind Cejna Şêşims/ Rojê (Fest zu Ehren der Sonne), Cejna Xwudan (Fest zu Ehren der
Ahnen und Heiligen) und Cejna Êzî (Fest zu Ehren
der Gottheit, des Êzîdentums, des Tawisî Meleks).
Am ersten Dienstag im Dezember beginnt die Fastenzeit. Es gibt insgesamt neun Fastentage, welche
auf drei Wochen verteilt sind. Von Dienstag bis Donnerstag wird gefastet, an den darauffolgenden Freitagen finden die jeweiligen Feste statt.
Die Sonne wird von den Êzid_innen besonders geehrt und als das Symbol Gottes am Himmel betrachtet. Sie nennen sie „Şêşims/Rojê“. Im Êzîdentum
ist der Erzengel „Şemsedîn“ dafür verantwortlich,
die Strahlen der Sonne zur Erde zu begleiten. In der
êzîdîschen Mythologie nimmt die Sonne eine zentrale Rolle ein. Auch in den Gebeten, Schriften etc. wird
die Besonderheit und Wichtigkeit der Sonne hervorgehoben. Sogar einzelne Gebete sind ganz der Sonne gewidmet, wie z.B. der Qewlê Şêşims. Während
ihrer Gebete wenden die Êzid_innen ihr Gesicht der
Sonne zu. Aus diesem Grund wurden sie in früherer
Zeit „Êzdaî-Şemsanî“ (Sonnenanbeter) bezeichnet.
Welches sind die wichtigsten Feste und Feiertage Das „Cejna Êzî“-Fest bildet den Höhepunkt der Feider Êzid_innen?
erlichkeiten nach den vorangegangenen Fastentagen.
Çarşema Sor ist das religiöse Neujahrsfest und setzt An dem ersten Dienstag im Dezember eines Jahres
fasten die Êzid_innen drei Tage, d.h. bis einschließ- 95 -
RONAHÎ #43
»» Êzîden und das Êzîdentum
lich Donnerstag, wobei täglich nur von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang gefastet wird (ca. 12
Stunden). Der erste eines Monats beginnt am 14. des
christlichen Kalenders. Am 4. Tag, immer ein Freitag, wird das „Cejna Êzî“ (Fest des Êzîdentums) gefeiert. Die Bedeutung der Feier für die Êzid_innen ist
mit Weihnachten bei den Christ_innen gleichzusetzen. Der Ursprung der Feier ist sehr alt und bezieht
sich auf die Verehrung der Sonne (Şêşims). Auch im
Êzîdentum/Kurdentum nimmt die Sonne einen hohen
Stellenwert ein und wird als das sichtbares Symbol
der Gottheit verstanden. Im Ur-Êzîdentum wurde die
Sonne gar als Gottheit angebetet (deswegen die Bezeichung der Êzîden „Rojperest - Sonnenanbeter“).
Daher fällt der wichtigste Feiertag der Êzid_innen
in die Sonnenwende. Da die Tage zur Sonnenwende
immer kürzer werden und die Sonne immer weniger
zu sehen ist, fasten die Êzid_innen. Mit dem Feiertag
wurde also ursprünglich das Ende der kurzen Tage
gefeiert. Es ist das Fest zu Ehren der Gottheit und des
Êzîdentums.
Cejna Xidir Nebî / Cejna Xidir Îlyas
Xidir Ilyas ist der Schutzpatron der Kranken, Reisenden und Armen. Xidir Nebî ist die Persönlichkeit
der Liebe und der Wünsche. Beide Brüder wurden
vom „Wasser der Ewigkeit“ getränkt und erlangten
so die Unsterblichkeit. Dem ersten Donnerstag und
Freitag im Februar widmen die Êzid_innen den beiden Brüdern. Zuvor wird von Montag bis Mittwoch
gefastet. Traditionell wird in der Nacht vor dem Fest
ein salziges Brot (Poxin/Pêxun) gebacken und ein süßer Weizenbrei vorbereitet. Über Nacht, so glauben
die Êzid_innen, wird das Poxin von Xidir Ilyas und
Xidir Nebî gesegnet. „Zusammenfassend kann man
sagen, dass der êzîdische Glaube ein Glaubenssystem mit universellen Prinzipien zu Ethik und Moral,
richtig und falsch, Gerechtigkeit, Wahrheit, Loyalität, Barmherzigkeit und Liebe ist.“
Yasar Kemal zu den Gebeten der Êzîden
Sonne und erzählt ihr das, was in diesem Augenblick
sein Herz spricht. Vielleicht sind dieses die schönsten Gebete, die die Menschheit je hervorgebracht
hat. Vielleicht entspringen die schönsten Lieder, die
schönsten Dichtungen diesen Gebeten. Vielleicht
wurzeln alle Legenden und Sagen Mesopotamiens in
diesen Gebeten […]“.
Gesellschaftliche und politische Vertretung in
Deutschland u. a.:
FKÊ (u. a. Mitglieder sind: der Rat der Ezdischen
Frauen MJÊ, der Bündnis der Êzîdischen Jugend
HCÊ, die Plattform der êzîdisch-kurdischen SängerInnen PHKÊ)
Selbstverständnis der Föderation der Êzîdischen
Vereine – Federasyona Komelên Êzîdiya – FKÊ
Die Föderation der Êzîdischen Vereine e. V. vertritt
die Interessen der in ihr organisierten êzîdischen
Kurd_innen unabhängig von deren Herkunft und politischer Orientierung. Zu den Arbeitsschwerpunkten der Föderation der Êzîdischen Vereine e. V. gehört die gelungene Integration der Mitglieder in die
Mehrheitsgesellschaft, der Erhalt und die Pflege des
kulturellen Erbes des Êzîdentums sowie die soziale
und humanitäre Hilfestellung für Flüchtlinge und
Notbedürftige in Europa und den Herkunftsländern
der Êzîd_innen.
Zur Erreichung ihrer Ziele arbeitet die Föderation der
Êzîdischen Vereine e. V. auch eng mit Immigrant_innenverbänden und Menschenrechtsorganisationen in
Deutschland zusammen. Durch ein breites Netzwerk
ist die Föderation mit anderen êzîdischen und kurdischen sowie weiteren Organisationen aus dem Nahen
Osten in Europa eng verknüpft.
Deren Forderungen als gesellschaftliche und politische Vertreter_innen sind u. a.:
−− Die internationale Anerkennung der Êzid_innen
als eigenständige und unabhängige Glaubensgemeinschaft.
Yaşar Kemal ist ein kurdischer Autor und Schriftstel- −− Die Selbstverwaltung der Êzid_innen soll durch
ler. Er ist ein vielfach ausgezeichneter und einflussdie EU, USA und UN anerkannt und ihre demoreicher Autor und schrieb einst über die Êzid_innen
kratischen Bestrebungen unterstützt werden.
in seinem Werk „Firat suyu kan akiyor baksana“ fol- −− Die Unterstützung Şengals sowie aller Regionen
gendes:
„[...] dreimal am Tag wenden sie sich
der Êzid_innen auf allen Ebenen, zur Prävention
der Sonne zu und beten. Ihre Gebete sind nicht einweiterer Massaker.
studiert wie unsere. Jeder der will, mag er Kind, jung
−− Die Klassifizierung und Einstufung der Massaker
oder alt, Emir oder Scheich sein, stellt sich vor die
und Gräueltaten vom 03.08.2014 (und der folgen- 96 -
»» Êzîden und das Êzîdentum
den Zeit) als Genozid durch die verantwortlichen
Institutionen der UN sowie die Anerkennung des
3. August als internationaler Tag des Völkermords an den Êzid_innen.
−− Die êzîdischen »Widerstandseinheiten Şengals«
(YBŞ) und die »Widerstandseinheit der Frauen
von Êzîdxan« (YJÊ), welche den Schutz und die
Verteidigung der Êzid_innen in Şengal gewährleisten, sollen als solche anerkannt und ihre Ausrüstung und Ausbildung zur weiteren Bekämpfung des IS gefördert werden.
−− Ein konsequentes und gemeinsames Handeln gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS).
−− Internationale Fonds und politische Unterstützung für den Wiederaufbau des Şengal-Gebiets
sowie die Einrichtung eines Hilfskorridors, um
den dort erforderlichen Wiederaufbau zu ermöglichen.
Quellen u. a.:
−− FKÊ – Föderation der êzîdischen Vereine
−− http://www.yêzîdische-religion.de/41292/home.
html
−− http://www.ezw-berlin.de/html/3_171.php
−− http://www.ciwanen-ezidi.de/pdf/êzîdische_Feiertage.pdf
−− Kizilhan, Jan, Die Yeziden: eine anthropologische und sozialpsychologische Studie über die
kurdische Gemeinschaft, 1997.
Dieser Text entstand in Zusammenarbeit zwischen
YXK-Bielefeld und Yilmaz Pêşkevin Kaba (Vorstandsmitglied der Föderation der Êzîdischen
Vereine e.V.)
- 97 -
RONAHÎ #43
RONAHÎ #43
»» A reqûîm for the gazelles
A REQÛÎM FOR THE DEAD GAZELLES
» » Erivan Mus
‘Seba şêhîdanê Sirûcî’
dengbeje destê xo berde binê goşê xo û dest pê kerde:
lajê mi,
ez nêwazena ti bibî karkerê şewe!
gameke vengê xo birna û newe ra dest pê kerde:
eke to zîne seba rayîrê ey bajarê bênomî
bidî estora xo rî
baxçeyê hejîranê ma de hêjîrî benê perperikî sîyayî
û rîyê dinya ra vilabenê IT’S TERRIBLE!
ê perperikî kamcîn pelî ser ro nişî, O wişk beno...
ALL OF THE BUTTERFLYS ARE FROM HEAVEN,
PEAHENS TOO.
lajê mi, bi nê çimanê xo mi erdî dî ezmanî dî koyî dî
mi awaza xo vete, mi veng da qulingan dormeyeyê mi eşt
mi kincî ver bi vayî piştî gilî daranê zîyaran ra
mi hevîya xo awe de raşt nêkerd
mi to arde dinya, mi to şit
mi to rit
mi to pişt
mi to kincanê sîyayan ra pawit
mi verê to da tîje
mi to vengan ra wedarit.
mi nêwaşt çareyê to erd ro qinîyo
ti nika kewtî eskeranê şewe mîyan
ti vanê ez şina xezalan kişena
xebera mi kenê meşo!
IF YOU GO, YOU CAN NEVER COME BACK HOME!
NEVER!
ez xelîyek binî to dest ra şo weyveyek
ez gilîyanê to bimûne ez erdîşa to
bitaşî
nêbi ez pîzeyê to mird bikî to ver bi bajarî
bişawî
dilopeka murekebî bidilopnî fekê to
ti biwanî ti bimûsî ti binusî
la ti biwanî îlla kî ti biwanî, lajê mi.
LET THE SUNSHINE IN!
(all together, with one voice)
xezalî ke ti vanê ez şêrî bikişî
înan to roje hîrê cemî lawnayo ti nêzanê
eqrevî kewtî gona to perdeyo sîya anto
ti çiman ser ro
- 98 -
»» A reqûîm for the gazelles
ti vanê wina nîyo ez heqîqet mûsaya
heqîqet ge ge perde anceno
heqîqet ser ro
rastîya gancidayîşî û yewî kiştişî mayeke başêr kam zano
la reyna zî mi efû bike ezebê dewa eqrevanê şewe
ez nêwazena ti ê xezalanê rindikan bikişî!
Hesrî kewtî çimanê dengbeje, vengê ci bi zîz. Va ez hînî nêeşkena vaje.
THE END
“dengbejeka lal û kore na serebute ra behs kerde:
“ameyêne vatiş ke bê ey keso ke na serebûte bizanayêne çin bi”
ney ra serran serran cuwaver;
welatekê koyan ê xezalanê qer û belekan de
(ke înan bi heybetê xo asmên de qoş kerdêne, hewayî viskurneyêne)
merdiman seba nê koyanê nizdîyanê homayan û roja aştîya heme merdiman
roje hîrê rêyî verê xo dayêne tîje û dûa kerdêne.
ne ney welatî ra ne zî welateko bînî ra kesî
nêftarayêne înan ra yewe bikişî.
rojek xortekî çimsûrîye kerd û xo da mîyanê koyanê berzan ro
rîvayet beno ke ey pîya xo ra hîris û çar xezalî kişt.”
NOTHİNG CAN END AT ONCE TIME
(ALL NEED A SECOND TIME!)
Erivan Mus
- 99 -
RONAHÎ #43
RONAHÎ #43
»» Temmuzun çocukları
TEMMUZUN ÇOCUKLARI
» » Hüseyin Aslan
Temmuza çıkıyorlardı birazdan
anın penceresinden
öyle şenlenmiştiki
- yüzleri kuşların göç ettiği mevsimdi sanki
suyla konuşan gemiler gibi
geçiyorlardı
o eski denizin sırtından
komşuydular Tanrıyla
yanlış uykulardan uyanan
ölü çocuklar
otuz iki not bıraktılar aramıza
hiç bu kadar sessiz kalmamıştı
toprak
oyuncaklara bakarak
haydi
bir gören olur sustuğunuzu
uzatın ayaklarınızın sesini
Ankaraya
- 100 -
»» Dersa Penca(n)
RONAHÎ #43
Dersa Pênca
» » Loqman Turgut
Mamik: Ferşê devê kanîkê rê nade heywanîkê. Çi ye?1
DIALOG
I.
Xecê: Sertac tu çend pirtûkan dixwînî?
Sertac:
Ez sê pirtûkan dixwînim.
X:
Tu sê pirtûkan dixwînî?
S:Erê! Hersê pirtûk jî baş in. Bavê min jî gelek pirtûkan dixwîne. Tu pirtûkan naxwînî?
X:
Nexêr, ez pirtûkan naxwînim.
S:
Ez fêm nakim. Tu çima pirtûkan naxwînî?
X:
Ez naxwînim ji ber ku çavên min baş nabînin.
S:
Tu wî çiyayî nabînî?
X:
Belê Sertac, ez wî çiyayî dibînim!
S:
Tu tiliyên destên min nabînî?
X:Belê
Sertac
S:
Tu çend tiliyan dibînî?
ez
tiliyên
destên
X:
Ez deh tiliyan dibînim.
S:
Ez dibêjim, çavên te baş dibînin!
X:
Ez wan tiştan baş dibînim, lê tiştên piçûk baş nabînim.
S:
Niha êdî ez fêm dikim tu çima naxwînî!
II:
Sertac:
Gul, tu wê xwendekara nû dibînî?
Gul:
Belê, ez wê dibînim. Çima tu dipirsî?
S:
Ji ber ku ez nizanim navê wê çi ye.
G:
Ez jî nizanim navê wê çi ye.
S:
Tu ji mamoste Siyo napirsî, gelo navê wê çi ye?
G:
Çima tu bi xwe napirsî?
S:
Ji ber ku ez fedî dikim.
G:
(gul dikene.)
S:
Gul, çima tu dikenî?
1
Antwort: Qeşa
- 101 -
te
jî
dibînim!
RONAHÎ #43
»» Dersa Penca(n)
G:
Niha ez fêm dikim! Tu ji wê xwendekara nû hez dikî, ne wisa?
S:
Nexêr!! Ez hêj jê hez nakim.
G:
Tu hêj jê hez nakî?
S:
Tu çi dibêjî?
Gul:
Rojbaş mamoste!
Siyo:
Rojbaş Gul! Çawa yî?
G:
Bijî (Sax bî) baş im. Tu jî baş î?
S:
Zor spas. Gul, ma tu wî deriyî nag[i]rî?
G:Ser çava (ser serê min, ser çavê min), mamoste. (ew derî dig[i]re.) Mamoste Siyo, dibêjin
xwendekareke nû heye. Tu navê wê nizanî?
S:Ez bawer dikim ku navê wê Şînê ye. Tu wî kurikê (kurê) çavreş jî dibînî?
G:Belê mamoste, ez wî dibînim, ew kî ye?
S:Ew jî xwendekarekî nû ye. Ez dibejim2, ku Şînê xwîşka wî ye.
G:
Mamoste Siyo, tu navê wî nizanî?
S:
Nexêr, ez navê wî hêj nizanim.
Gul:
Skender! Mamoste Siyo bawer dike, ku navê wê Şînê ye.
Sertac:
Şînê navekî xweş e, ne wisa?!
G:
Erê. Lê tiştekî din jî heye!
S:
Ew tişt çi ye?
G:
Birayekî wê jî heye. Em nizanin navê wî çi ye, lê ew çavreş e.
S:
(Ew dikene.)
G:
Tu çima dikenî?
S:
Ji ber ku tu ji wî xwendekarê çavreş hez dikî!
G:
Nexêr, ez hêj navê wî jî nizanim!
S:
Lê tu çawa dibêjî, ku ez ji xwîşka wî hez dikim û tu baş dizanî ku ez navê wê jî nizanim?!
G:
Xebera te ye!
VOKABULAR
av, fdas Wasser
bawerkirin, bawer k glauben
cixare, f
die Zigarette
çiya, çiyê, vî çiyayî, m
der Berg
derî, dêrî, vî deriyî, mdie Tür
dev, m
der Mund, adj. vor
2
Hier heißt dies nicht „ich sage“ sonder vielmehr „ich meine, ich vermute“; im Kurdischen würden die Ausdrucke
wie: „bi ya min“ (meiner Meinung nach), „ez zen dikim“ oder „bi zena min“ (ich vermute) können manchmal durch andere
Konstruktionen, solange es durch Kontext erlaubt wird, ersetzt werden.
- 102 -
»» Dersa Penca(n)
din
andere
fedîkirin, fedî k
sich schämen
ferş, m
flache Gestein
heywanîk, f
Verniedlichung, von heywan (der Tier)
jê ( =ji wê/ ji wî)
von ihr/ihm
kanîk, f
kleine Quelle
kevir, kêvir, vî kevirî, m
der Stein
li ... xistin, li ... x schlagen
nan, nên, vî nanî, m
das Brot
niha
jetzt
pel, m/f
das Blatt (lebendige f; zum Schreiben und Drucken m)
qeşa, f
das Eis
rê nade
er/sie/es hindert
ser çava(n)
liebend gerne
ser seran û ser çavan
verstärkte Bedeutung von ser çavan
spas (sipas)
danke
´
tiştek, (m)
irgend etwas
van, pl.obl.
diese (hier)
vê, f.obl., vî, m.obl.
diese; dieses; dieser
wan, pl.obl.
jene (dort)
wê, f.obl., wî, m.obl.
jene; jenes; jener
xebera te ye!
Du hast Recht. Du bist im Recht.
xweş
schön, angenehm, gut
DIE ZAHLEN
bîst
20
bîst û yek
21
bîst û du
22
bîst û sê
23
sî
30
çil (çel)
40
pêncî
50
şêst
60
heftê
70
heştê
80
not
90
- 103 -
RONAHÎ #43
RONAHÎ #43
»» Dersa Penca(n)
sed
10
GRAMMATIK
a
Die Substantive und alle Nomen, die wie Substantive gebraucht werden sowie die demonstrativen
Adjektive werden dekliniert. Die Deklination hat zwei Fälle: Direkter Fall und Kasus Oblikus. Bei dieser
Lektion werden wir die grundlegendste Funktion des Kasus Oblikus lernen: der Fall der Ergänzung des
direkten Objekts eines Verbs. Das Geschlecht und die Zahl des Substantivs zeigen sich im Kasus Oblikus.
I.
Wir fangen mit dem Feminin an. Ezafe zeigt sich beim Feminin mit der Endung –a; wie bei pirtuka te,
xwîşka min, usw. Die Unterscheidung für den Kasus Oblikus ist, wenn der Substantiv mit einem Konsonanten
endet, -ê und wenn er mit einem Vokal endet, -yê. Folglich lautet der Nomen pirtûk im Kasus Oblikus
pirtûkê und der Nomen tilî, tiliyê. Verwechseln Sie nicht die Ezafe für den Maskulin im Singular mit dem
Kasus Oblikus-Feminin im Singular!
Die Demonstrativ- Adjektive ev und ew werden im Kasus Oblikus- Feminin im Singular zu vê und wê. Zum
Bsp. ev pirtûk hat die Form vê pirtûkê und ew tilî hat die Form wê tiliyê im Kasus Oblikus.
Hier einige Beispiele:
Em wê pisîkê dig[i]rin.
Wir fangen diese Katze.
Em dersê dixwînin.
Wir lesen (studieren) die Lektion.
Tu devê wê pirtûkê dig[i]rî.
Du schließt das Buch.
Ez xwendekarê dibînim.
Ich sehe die Studentin.
Die Unbestimmtheitsendung (–ek) im Feminin hat im Kasus Oblikus die Ergänzung –ê. Daraus folgt -ek-ê:
pirtûk-ek-ê, tili-y-ek-ê.
Hier einige Beispiele:
Em
pisîkekê dig[i]rin.
Em dersekê dixwînin.
Tu devê pitûkekê
dig[i]rî.
Ez xwendekarekê
dibînim.
Sollte ein Ezafe im Kasus Oblikus auftreten, so bleibt die Ezafe- Endung und das Merkmal für den Kasus
Oblikus wird weggelassen. Anders gesagt, man sagt „ ew kitêbê dixwîne“ er liest das Buch, wenn man aber,
anstatt kitêbê (mein Buch als Komplement des direkten Objekts im Satz) kitêba min (mein Buch) nimmt, so
sagt man das Kasus Oblikus- Merkmal weglassend, „ew kitêba min dixwîne“ (er liest mein Buch).
Beispiele die Ezafe- Verbindungen als Komplement des direkten Objekts haben:
Em pisîka te dig[i]rin.
Em dersa dirêj Tu devê pitûka nû dig[i]rî.
Ez xwendekareke nû dibînim.
dixwînin.
Zuletzt nehmen wir den Satz „ew vê pirtûkê dixwîne“ (er liest dieses Buch).
Wie würde dieser Satz lauten, wenn das Substantiv pirtûkê durch ein weiteres Wort bestimmt ist, wie z. B.
nû (neu)?
Ev wird zu vê aber kitêba nû bleibt, da Ezafe dominant ist: „ew vê pitûka nû dixwîne“
(er liest dieses neues Buch).
- 104 -
»» Dersa Penca(n)
RONAHÎ #43
Achte auf die folgende Beispiele!
Em vê pisîkê dig[i]rin.
aber: Em vê pisîka reş dig[i]rin.
Ew wê dersê dixwînin.
aber: Ew wê dersa te dixwînin.
devê vê pirtûkê dig[i]rî.
Tu aber : Tu Ez aber : Ez devê vê pirtûka nûdig[i]rî.
wê xwendekarê dibînim.
wê xwendekara nû dibînim.
II. Beim direkten Fall gibt es keinen Unterschied zwischen Singular und Plural.
D.h. pirtûk bezeichnet sowohl „das Buch“ als auch „die Bücher“. Wobei im Kasus Oblikus alle Substantive
im Plural die –an (bzw. –a in der gesprochenen Sprache) haben.
Folglich lautet die Pluralform von pirtûk pirtûkan und von heval hevalan.
Hier einige Beispiele:
Ez keçan dibînim.
Ich sehe die Mädchen.
Tu hêkan dixwî.
Du ißt Eier.
Em çar kitêban dixwînin.
Wir lesen vier Bücher.
Der Plural von ev und ew sind van (diese hier) und wan (jene dort).
Den vorangegangenen Beispielen fügen wir die Demonstrativ- Adjektive dazu:
Ez van keçan dibînim.
Tu wan hêkan dixwî.
Em van çar kitêban dixwînin.
Einige Beispiele die demonstrieren, dass die Ezafe- Endung erhalten bleibt, aber der Kasus Oblikus
weggelassen wird:
Ez keçên qelew dibînim.
Tu hêkên spî dixwî.
Em çar kitêbên we dixwînin.
Wenn das Substantiv durch ein weiteres Wort näher bestimmt ist und mit den Demonstrativ- Adjektiven
auftaucht, bleibt die Ezafe- Endung erhalten und die demonstrativen Adjektive erscheinen im Kasus Oblikus.
Beispiele:
Ez van keçan dibînim.
aber:Ez van keçên qelew dibînim.
Tu wan hêkan dixwî.
aber:Tu wan hêkên spî dixwî.
Em van çar kitêban dixwînin.
aber:Em van çar kitêbên we dixwînin.
- 105 -
RONAHÎ #43
»» Dersa Penca(n)
III. Wir haben als letztes den Maskulin im Singular zu behandeln, da sie ein wenig komplizierter ist. Ein
maskuline Substantiv das von einem Demonstrativ- Adjektiv begleitet wird kriegt im Kurmancî die -î (-yî )
als Endung. Die Demonstrativ- Adjektive ev und ew werden zu vî und wî im Kasus Oblikus für maskuline
Substantive. D.h. diese Hand (ev dest) und jener Bruder (ew bira) würden im Kasus Oblikus vî destî und wî
brayî heißen.
Achten Sie auf folgende Beispiele:
Ew vî tiştî dixwaze.
Er/Sie will diese Sache.
Em wî kûçikî dig[i]rin.
Wir fangen jenen Hund.
Tu çima vî nanî dixwî?
Warum ißt du dieses Brot?
Ez wî çiyayî dibînim.
Ich sehe jenen Berg.
Die Unbestimmtheitsendung –ek (-yek) bekommt einen –î im Kasus Oblikus. Also sind
bira-y-ek-î, dest-ek-î Formen im Kasus Oblikus.
Beispiele mit dem unbestimmten direkten Objekt:
Ew tiştekî dixwaze.
Em kûçikekî dig[i]rin.
Tu nanekî dixwî.
Ez çiyayekî dibînim.
Seien Sie nicht überrascht, wenn das Substantiv mit einem Wort näher bestimmt, im Kasus Oblikus steht, die
Ezafe erhalten bleibt und die Oblikus- Endung verschwindet:
Ew tiştê spî dixwaze.
Em kûçikê te dig[i]rin.
Tu nanê xwe dixwî.
Ez çiyayê bilind (hoch/ ≠ nizm= niedrig) dibînim.
Wie bereits erwähnt, wenn das Substantiv durch einen Demonstrative- Adjektiv und ein weiteres Wort
bestimmt ist, so erscheint das Demonstrativ- Adjektiv im Kasus Oblikus (vî, wî), wobei das Substantiv die
Ezafe- Endung bekommt.
Hier einige Beispiele:
Ew vî tiştî dixwaze.
aber:Ew vî tiştê spî dixwaze.
Em wî kûçikî dig[i]rin.
aber:Em wî kûçikê te dig[i]rin.
Tu çima vî nanî dixwî.
aber: Tu çima vî nanê xwe dixwî?
Ez vî çiyayî dibînim.
aber:Ez vî çiyayê bilind dibînim.
Bis hier unterscheiden sich die Formen des Maskulin Singular im Kasus Oblikus von den Formen des Feminin
Singular nicht. Wenn das Substantiv (Maskulin Singular) ohne Demonstrativum allein im Kasus Oblikus ist,
so ist die Form komplizierter.
- 106 -
»» Dersa Penca(n)
RONAHÎ #43
Anstelle der Endung –î (-yî) ändert sich das Vokal e oder a der letzen Silbe.
D.h. nanî wird zu nên, çavî wird zu çêv. Dieses nennt man Ablaut. Die Substantive, die keinen e und a in
ihren letzten Silbe beinhalten, bleiben so wie sie sind in nördlichen Dialekten, dagegen in Behdinan und
Hekarî bekommen sie die Endung –î (-yî).
Daraus folgt das man die drei folgenden Formen für das maskuline Substantiv auswendig lernen muss:
direkter Fall, einfaches Kasus Oblikus und Kasus Oblikus mit einen Demonstrativum.
Die Liste der Substantive die wir bis jetzt hatten:
aş
êş
vî aşî
bav
bêv
vî bavî
bira
birê
vî birayî
çavçêvvî çavî
destdêstvî destî
devdêvvî destî
gagêvî gayî
hevalhevêlvî hevalî
kiras
kirês
vî kirasî
nannênvî nanî
ÜBUNGEN
1.
Übersetzen Sie!
Ez te nabînim. Tu tiştekî naxwazî? Ew nag[i]rî. Em pisîkan nag[i]rin. Hûn derî nag[i]rin. Ew dersê naxwînin. Ew dersa pêşîn naxwîne, lê ew dersa diduyan dixwîne.
Tu destê min nabînî. Hûn kitêban dibînin. Em hêkan dixwin.
dixwaze. Tu pirtûkê dig[i]rî. Mamoste derî dig[i]re. Ew tiştan dibînin. Dara çiyê dibîne.
Ew
tiştekî
2.
Verneinen Sie affirmative Sätze in der Übung 1 und wandeln Sie die negierten Sätze in affirmative
Sätze, dann übersetzen Sie sie ins Deutsche!
3.
Fügen Sie die Demonstrativen (ev oder ew) an den Sätzen der Übung 1 zu!
Zum Bsp.: Ez xwendekarê dibînim. > Ez wê xwendekarê dibînim.
4.
Fügen sie die Modifikationen (min,te oder Adjektive) an den Sätzen der Übung 1 hinzu!
Zum Bsp.: Ez xwendekarê dibînim. > Ez xwendekara baş dibînim.
5.
Fügen Sie die Zahlen 1-100 in 10 Sätze der Übungen Ihrer Wahl hinzu und übersetzen Sie sie ins Deutsche!
- 107 -
RONAHÎ #43
»» Buchvorstellungen
Buchvorstellungen
nicht mit Worten beschrieben werden, aber die Worte
von hevala Sara sprühen vor Lebendigkeit und unbeschreiblicher Kraft des Widerstands. Sie beschreibt,
wie selbst in den kontrolliertesten, berüchtigtsten
Gefängnissen Zeitungen produziert, Widerstand organisiert und mit der Partei draußen kommuniziert
wurde. Wie die Gefangenen PKK’ler_innen das Newroz-Fest von Mazlum Dogan, den 15. August und
die ersten Volksaufstände (serhildan) eingesperrt
miterlebten. Sie stellt dar, wie die Gerichtsprozesse
abliefen und wie im Allgemeinen mit linken Gefangenen in der Türkei und Kurdistan umgegangen wurde. Sakine Cansiz zeigt uns in ihrem zweiten Buch
erneut, was es bedeutet, eine Revolutionärin zu sein,
was es bedeutet, an etwas zu glauben und dafür zu
kämpfen.
YXK Berlin
Sakine Cansiz: „Mein ganzes Leben war ein
Kampf“. 2. Band: Gefängnisjahre
Sara | Sakine Cansız
Im zweiten Teil ihrer Autobiografie schreibt Sakine
Cansiz über ihre Gefängnisjahre. Von 1979 bis 1990
war sie in verschiedenen Gefängnissen in Kurdistan
und der Türkei inhaftiert. Sie beschreibt in eindrücklicher Sprache, mit welcher Stärke sie dem türkischen
Staat trotzte. Trotz intensiver Folter und dem Verrat
anderer PKK’ler_innen, zeigte hevala Sara eine immense Kraft, mit der sie den anderen Gefangenen ein
beispielloses Vorbild war. Durch ihre Überzeugung
und den Glauben an die Partei verschaffte sie sich
selbst unter den berüchtigsten Gefängniswärtern wie
z.B. Esat Oktay Yildiran Respekt. Sie sorgte somit
dafür, dass keine der Frauen Verrat beging. Die Folter in den Gefängnissen des türkischen Staates kann
ISBN 394 532 6117 | Preis 12€
Verfügbar bei:
Mezopotamien Verlags- und Vertriebs GmbH
Gladbacher Str. 407B, 41460 Neuss
Tel.: +49 (0) 2131 4069093
Email: mezop@hotmail.de
Weitere Bestelladressen:
Cenî – Kurdisches Frauenbüro für Frieden e.V.
Postfach 10 18 05
40009 Düsseldorf
Tel: +49 (0) 211 5989251
Email: ceni_frauen@gmx.de
ISKU | Informationsstelle Kurdistan e.V.
Spaldingstr. 130–136
20097 Hamburg
Tel: + 49 (0) 40 42102845
Email: isku@nadir.org
- 108 -
Am 17. Jahrestag seiner Verschleppung fordern wir:
Freiheit für Abdullah Öcalan
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Deshalb:
 Stopp der Massker in Kurdistan! Sofortige Aufhebung aller Belagerungen und Ausgangssperren!
 Respekt für die kurdischen Forderungen nach Autonomie!
 Nur freie Menschen können verhandeln: Freiheit für Öcalan und alle politischen Gefangenen in der Türkei!
 Isolationsfolter beenden, Imrali schließen!
Frieden in Kurdistan
Internationale Initiative »Freiheit für Abdullah Öcalan – Frieden in Kurdistan«
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