Die geteilte Leinwand

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Die geteilte Leinwand
Seminar für Filmwissenschaften der Universität Zürich
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Haupteminar: Selbstreflexivität im Film, SS 04
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Thomas Christen / Margrit Tröhler
Seminararbeit
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Die geteilte Leinwand
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Selbstreflexive Aspekte von Split Screen Konstruktionen.
Eingereicht durch:
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Urs Hofer
Friedentalstrasse 9
6004 Luzern
076 442 18 25
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13-01-2005
Selbstreflexive Eigenschaften von Split Screens
Seminararbeit SS 2004, Urs Hofer
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1
Vorwort ............................................................................................................. 2
2
Theorie .............................................................................................................. 3
2.1 Die geteilte Leinwand, historische Aspekte .................................................... 3
2.2 Selbstreflexion im Film, Übersicht ................................................................. 5
2.2.1
Der Film im Film, Typologisierungen................................................. 6
2.2.1.1
Reflexive Überformen .................................................................... 6
2.2.1.2
Schwache vs. Starke Formen .......................................................... 7
2.3 Split Screens als visueller Gimmick ............................................................... 8
2.3.1
Parallelmontagen und Übergangseffekte ............................................. 9
2.3.2
Retro und Pop................................................................................... 12
2.4 Split Screen als Teil eines selbstreflexiven Konzepts.................................... 13
2.5 Innovative und orthodoxe Split Screens........................................................ 15
3
Der Fall Timecode............................................................................................ 17
3.1 Produktionsgeschichte, Synopsis und Rezeption........................................... 18
3.2 Formale Gestaltung ...................................................................................... 20
3.3 Implizite selbstreflexive Merkmale des Split Screens ................................... 25
3.3.1
Spiel mit räumlicher Distanz............................................................. 26
3.3.2
„Do it yourself“ – Schnitt ................................................................. 28
3.3.3
Zeitgestaltung und Synchronität........................................................ 30
3.3.4
Ton vs. Bild, Musik als „Supertext“.................................................. 31
3.4 Recherchevergleich: Die Fernsehserie „24“.................................................. 33
3.4.1
Konzeption, Analogien und Unterschiede ......................................... 33
3.4.2
Der Split Screen in 24....................................................................... 35
4
Schlusswort...................................................................................................... 37
5
Anhang ............................................................................................................ 39
A. Shooting Score von Mike Figgis................................................................... 39
B.
Screenshots aus 24 ....................................................................................... 42
C.
Zitierte Filme ............................................................................................... 44
D. Literatur ....................................................................................................... 45
1
Selbstreflexive Eigenschaften von Split Screens
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Seminararbeit SS 2004, Urs Hofer
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Teilt sich die Kadrage in zwei Flächen, spricht man gemeinhin von einem „SplitScreen“, sind es mehrere fällt auch der Begriff „Multi-Screen“. Die hier vorliegende
Arbeit untersucht dieses Phänomen im Kontext filmischer Selbstreflexion.
Die Unterteilung der Projektionsfläche wirft Fragen auf: Die Illusion der filmischen
Realität erfährt einen jähen Bruch, möglicherweise teilt sich die Narration in mehrere
Erzählstränge auf, verschiedene Schauplätze können parallel dargestellt werden,
Handlungen aus verschiedenen Winkeln betrachtet oder räumliche Distanzen
aufgehoben werden.
Ähnlich wie Christian Metz (1997) eine Typologisierung von Film im Film
Strukturen vorgenommen hat könnte man auch bei „Split-“ bzw. „Multi-Screen“
Konstruktionen verfahren, besitzen beide Phänomene offensichtliche
Gemeinsamkeiten. Sowohl die Einbettung eines Films in einem Film als auch die
Unterteilung der Bildfläche in Subkadragen lassen neue „Texte“ entstehen, welche auf
unterschiedliche Weise miteinander interagieren.
Die folgende Seminararbeit strebt den Vergleich von „Split-Screen“ und Film-imFilm Konstruktionen an und verweist auf deren selbstreflexives Potential. Dazu
werden im ersten Teil der Arbeit die nötigen, grundlegenden Begriffe definiert und
die Verwendung von Split-Screens in unterschiedlichen Genres untersucht. Im
zweiten Teil werden Analogien zwischen „Split-Screens“ und gängigen
selbstreflexiven Mustern gesucht, aber auch Unterschiede beschrieben, welche den
„Split-Screens“ eigen sind. Im dritten und letzten Teil werden zwei Fallbeispiele
besprochen, welche auf ihre Art von der „Split-Screen“ Technik Gebrauch machen:
Time Code (Mike Figgis, USA, 2000), ein Film, der eine Geschichte konsequent auf
einer viergeteilten Leinwand erzählt und diese Bildteilung bis am Ende beibehält,
dabei aber unterschiedlichste Interaktionen über den Bildrahmen hinaus zulässt. Als
Recherchevergleich wird, wenn auch weniger detailliert, die Fernsehserie 24 (Jon
Cassar, Stephen Hopkins, Ian Toynton, Frederick King Keller, James Whitmore Jr. et
al., USA, 2001 - 2004) betrachtet, welche in 24 einstündigen Episoden einen Tag im
Leben eines Ermittlers in „Realtime“ zeigt und dabei oft auch auf die Mittel des Split
Screens zurückgreift. Abschliessend werden die Resultate zusammengefasst.
2
Selbstreflexive Eigenschaften von Split Screens
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2.1
Seminararbeit SS 2004, Urs Hofer
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Die geteilte Leinwand, historische Aspekte
Vergleicht man Kino und Malerei fällt auf, das bei beiden der Rahmen um das Bild
eine sehr wichtige Rolle spielt. Während in der Malerei mit der Entwicklung hin zur
Abstraktion auch der Rahmen in Frage gestellt und mit neuen Bildformaten
experimentiert wurde, ist der Film in dieser Hinsicht weit weniger emanzipiert. Dies
hat technologische Ursachen: Das Kino ist ein klassisches einkanaliges Medium,
Projektoren und Filmmaterial definieren ein Seitenverhältnis – aber auch
rezeptionsbedingte: Soll die filmische Illusion bewahrt und die Wirklichkeit
ausgespart werden, muss sie und von der „Aussenwelt“ separiert werden. Der feste
Rahmen um das Bild hilft, diesen Raum abzugrenzen.
Die Unterteilung des Filmbildes ist ein ungewohntes und illusionszerstörendes
Element, es ist deshalb verständlich, dass sich im Verlauf der Filmgeschichte der
„Split-Screen“ nicht als gängige Erzählform durchsetzen konnte. Er trat aber immer
wieder auf, oft in Form von Experimenten, das visuelle Erlebnis zu „vervielfachen“,
hatte sogar Höhenflüge, stolperte aber, konsequent eingesetzt, zumeist über
technische und wirtschaftliche Hürden.
Ende der sechziger Jahre wurden in Hollywood Versuche unternommen, die
Leinwand zu teilen, um so den einkanaligen Charakter des Kinos zu erweitern. Viele
Innovationen im Bildbereich sind auf diese Zeit zurückzuführen, galt es die Vorteile
des „Big Pictures“ gegenüber der drohenden Konkurrenz des TV auszuspielen.
Richard Fleischers „The Boston Strangler“ (USA, 1968) und Norman Jewisons
Originalfassung von „The Thomas Crown Affair“ (USA 1968) sind Beispiele dieser
Zeit, welche nur von kurzer Dauer war und ein abruptes Ende fand. Der Split Screen,
noch hochmodern in Filmen wie „The Andromeda Strain“ (Robert Wise, USA, 1971)
oder „Wicked, Wicked“ (Richard L. Bare, 1973), ein Film, der durchgehend in zwei
Flächen geteilt war1, geriet sehr schnell in Vergessenheit. Wurde er weiterhin
eingesetzt, dann nicht um das Filmbild von seinem zentralperspektivischen Zwang zu
1
Dieses erfolglose Verfahren wurde Duovision genannt.
3
Selbstreflexive Eigenschaften von Split Screens
Seminararbeit SS 2004, Urs Hofer
befreien, sondern um zusätzliche „Action“ parallel darstellen zu können2; oder er
blieb beschränkt auf den Vorspann, welcher, seit der Pionierarbeit von Saul Bass ein
eigenes grafisches Universum mit ästhetisch autonomen Regeln darstellt.
Versuche mit Mehrfachprojektionen gab es aber bereits viel früher. Abel Gance schuf
mit seinem Film Napoléon (SWE/I/F/CZE/DE 1927) ein monumentales Epos, welches
auf drei Projektionen gleichzeitig lief. Im Unterschied zum „Split-Screen“ liegt zwar
keine Teilung, sondern eine Multiplikation der Bildfläche vor, der Effekt des
gleichzeitigen Erzählens mehrerer Narrationen bleibt aber derselbe3.
Es war mitunter auch der technologische Fortschritt, welcher dem „Split-Screen“ zu
einem gewissen Comeback verhalf. Die Produktion des Effektes auf der optischen
Bank war zeitintensiv und teuer, aber dank Video oder dem nonlinearen,
digitalisierten Filmschnitt verkleinerte sich der Aufwand dramatisch. Peter
Greenaway liess zum Beispiel für seinen Film Pillow Book (F/GB/NL, 1996) von der
Firma AVID eine spezielle Software entwickeln.
Computer, Multimedia, Fernsehen und Popkultur, MTV und CNN beeinflussen
zudem die Rezeptionsmuster des Zuschauers und überfluten ihn zeitweilig mit einer
Welle von Informationen, aus denen eine Wahl getroffen werden muss: Auf
Nachrichtenkanälen werden die eigentlichen Sendungen mit doppelten Lauftexten,
Schlagzeilen und Börsenkursen unterlegt, und FUSE, ein amerikanischer
Musiksender, strahlt eine Show auf viergeteiltem Bildschirm aus, welche
Musikvideos mit Extremsportarten koppelt4. Kurzum, dem „modernen“ Zuschauer
fehlt es nicht an Kompetenz, mit dem Phänomen „Split-Screen“ umgehen zu können.
What starts as necessity becomes a skill, even a pleasure: There’s an unnamed
satisfaction in stretching this newfound ability, to feed it with something more
substantive than frenzied Web animations and stock tickers. We crave stories. The
single-channel film is the visual art form of the gaze; multichannel is the art form of
the glimpse.
(Talen, www.salon.com)
2
Die Filme von Brian de Palma, z.B. Sisters (USA, 1973), Carrie (USA, 1976), Dressed to Kill
(USA, 1980) oder Snake Eyes (USA, 1998) können dabei als Ausnahmen bezeichnet
werden, versucht Palma doch immer wieder, mit Split Screens auch Inhalte zu transportieren.
3
Im Gegensatz dazu diente die Mehrfachprojektion in „How the West was won“ (John Ford,
Henry Hathaway, George Marshall, Richard Thorpe, USA, 1962) bloss zur Erweiterung des
Seitenverhältnisses zu unglaublichen 2.65:1, einer Technik genannt „Cinerama“.
4
4Play auf dem Sender Fuse, vgl. www.fuse.tv/launcher.php?page=4play
4
Selbstreflexive Eigenschaften von Split Screens
Seminararbeit SS 2004, Urs Hofer
Im Gegensatz zum Kinofilm konnte in der Kunst – ohne infrastrukturelle
Rahmenbedingungen – der installierte Film die Grenzen des Bildes schon sehr früh
ausloten und erweitern. Andy Warhol hatte seinen Film Chelsea Girls (USA, 1966) als
Doppelprojektion konzipiert. Der Einsatz von Video etablierte mehrkanalige
Installationen vollends, mit welchen eine breite Front von Künstlern, z.B. Nam Jun
Paik, Bill Viola, Gary Hill, Eija-Liisa Ahtila oder Sam Taylor-Wood, um nur ein paar
zu nennen, experimentierten.
2.2
Selbstreflexion im Film, Übersicht
Der Split-Screen, und wohl auch deshalb ist er im Mainstream Kino eher selten
anzutreffen, hat einen starken, selbstreflexiven Charakter. Denn er zeigt auf, was im
konventionellen Film nicht gezeigt werden darf, nämlich die physischen Grenzen des
filmischen „Universums“ und bricht die Narration durch Verdoppelung oder, je nach
Layout, Vervielfachung. Durch die simultane Präsentation von Schuss und
Gegenschuss verschiebt er auch rezeptorische Grenzen und präsentiert den filmischen
Raum nicht als Einheit, sondern spiegelt die subjektive Auffassung des Raums durch
die Protagonisten im Film wider (vgl. 2.4 und das Filmbeispiel The Rules of
Attraction).
Filmische Selbstreflexion entsteht dann, wenn der Film, in welcher Form auch immer,
sich selbst thematisiert und dadurch eine zusätzliche Bedeutungsebene gewinnt. Diese
kann mehr oder weniger trivial sein – in der Filmwissenschaft wird deshalb auch
zwischen orthodoxer und innovativer Selbstreflexivität unterschieden. Selbstreflexion
kann auf gewisse Momente beschränkt sein, oder als übergeordnetes Konzept des
Films fungieren.
Den selbstreflexiven Strukturen im Allgemeinen und den innovativen im Speziellen
sind eine Brechung der filmischen Narration, Einheitlichkeit und Kontinuität gemein,
sie wirken antiillusionär und sie setzen eine mehr oder weniger aktive Grundhaltung
des Zuschauers voraus.
5
Selbstreflexive Eigenschaften von Split Screens
Seminararbeit SS 2004, Urs Hofer
So lässt sich ableiten, dass selbstreflexive Strukturen dem hollywoodschen Konzept
einer „Pseudorealität“5 diametral gegenüber stehen, denn sie brechen mit der Regel,
die Konstruktion eines Filmes nicht zeigen zu dürfen. Insofern ist, je nach Sichtweise,
die filmische Selbstreflexion besonders „realistisch“ – oder eben gerade nicht. Im
Spiel mit dem Gegensatzpaar „Fiktion“ und „Realität“ nehmen „selbstreflexive“
Filme daher selten klare Positionen ein, da sie genau diese Auseinandersetzung zum
Thema des Films erheben.
2.2.1
Der Film im Film, Typologisierungen
Das Feld filmischer Selbstreflexionen ist weitläufig, sie können, inhaltlich wie formal,
unterschiedlich geartet sein, was eine genaue Klassifizierung erschwert.
Der Split Screen hingegen kann stets zu den selbstreflexiven Gestaltungsmitteln
gezählt werden, denn er ist ästhetisch und visuell definiert und somit in den
Grundzügen immer gleich. Die Teilung der Leinwand ist sein Wesen, und diese
bringt, unabhängig von den Inhalten der Teilflächen, selbstreflexive Aspekte mit sich.
Je nach konzeptioneller Ausrichtung kann aber der Split Screen unterschiedlich
ausgeprägte „Spuren“ in der Aussage hinterlassen. Deshalb verweise ich in der Folge
auf die Typologisierungen von Metz (1997) und Blüher (1993). Diese erscheinen mir
geeignet um Schlüsse zum Split Screen zu ziehen, denn sie legen besonderes
Augenmerk besagte Enunziation, auf „die Spuren, welche die Tätigkeit des Aussagens
im Ausgesagten hinterlässt“ (Blüher 1993, S. 104)
2.2.1.1
Reflexive Überformen
Dominique Blüher unterscheidet zwischen drei „reflexiven Überformen“ (Blüher
1993, S. 102), welche sich auf die Unterschiede der französischen Begriffe „film“ und
„cinéma“ (nicht zu übersetzen mit „Film“ und „Kino“) beziehen. Mit „cinéma“ wird
das „Kinematographisch-nicht-Filmische“ bezeichnet, also alles, was im Umfeld des
Filmes (Produktion, Rezeption, Projektion etc.) steht sowie das „KinematographischFilmische“, genauer Kodes, welche im Film vorkommen und spezifisch filmisch sind,
z. B. der filmische Schnitt. Dagegen bezeichnet „film“ ein „durch die ‚Filmsprache’
5
Oder wie es Henri Lefebvre in seiner „Kritik des Alltagslebens“ ausgedrückt hat: „zum
Wesen der Unterhaltung gehört der möglichst radikale Bruch mit der äußeren Wirklichkeit“.
Mainstream Kino ist Unterhaltung.
6
Selbstreflexive Eigenschaften von Split Screens
Seminararbeit SS 2004, Urs Hofer
geformtes Objekt, im Sinne eines endlichen, in sich geschlossenen Textes, d.h. als den
Film, der während der Projektion von den Zuschauern wahrgenommen wird.“
(Blüher 1993, S. 102). Die drei Grundformen filmischer Selbstreflexion beziehen sich
gemäss Blüher auf diese Begriffsfelder: Filme über das „Kinematographisch-nichtFilmische“, z.B. Filme, deren Handlung sich auf Filmsets abspielt wie La nuit
américaine (François Truffaut, F 1968). Oder auf Filme, bei denen die
selbstreflexiven Momente parabelhaft die im Film vorkommenden Elemente
illustrieren – sie bezeichnet diese als „Metafilme“: z. B. die Schlussszene von
Antonionis L’avventura (I/F 1960), in der die Tragik der Beziehung zwischen Sandro
und Claudia und die Ungewissheit der Zukunft auch visuell durch den der einen
Person verunmöglichten Ausblick zum Ausdruck gebracht wird.
Die dritte Kategorie bezeichnet Blüher als „kinematographisch-filmische“ oder
„metakinematographische“ Form. Im Gegensatz zu den bereits genannten
„Metafilmen“ reflektieren sie das Filmspezifische, so geschehen in vielen Filmen von
Jean-Luc Godard, in welchen filmische Kodes und Konventionen in Frage gestellt
werden.
2.2.1.2
Schwache vs. Starke Formen
Metz unterscheidet grundsätzlich zwischen starken und schwachen Formen von Film
im Film Strukturen. Schwach im Sinne einer sehr begrenzten und lokalisierten
Verschachtelung der Texte. Er nennt das Beispiel des fliehenden Gangsters, welcher
sich im Kinosaal vor den Verfolgern versteckt und dabei einer ähnlichen Szene
beiwohnen kann, die er selbst erlebt. Diese sehr illustrative Art von Film im Film
Konstruktion ist weit verbreitet und in ihrer Art „orthodox“; es entsteht nur sehr
beschränkt ein neuer Text durch die Zusammenführung der beiden verschachtelten,
und wenn, trägt dieser kaum zum Konzept des Filmes bei.
Am anderen Ende steht die komplexe Hybridisierung zweier Texte zu einem ganzen;
die Verschmelzung kann soweit führen, dass die beiden Ursprungstexte nicht mehr
erkennbar sind. Es entsteht in dieser Form eine tatsächliche „Mise en Abyme“, eine
Rückbeziehung auf sich selbst:
Mit seiner perfekten Verdoppelung und der Rückbeziehung auf sich selbst, zieht sich
der ‚erste’ Film wie ein Geflecht durch einen anderen hindurch, der nicht wirklich
anders ist, und der nicht wirklich ‚im’ anderen ist. Unglücklicherweise ist ‚Film
durch einen anderen Film’ ein unmöglicher Ausdruck. Dennoch erweist sich die
7
Selbstreflexive Eigenschaften von Split Screens
Seminararbeit SS 2004, Urs Hofer
Beziehung der beiden textuellen Schichten als eine Durchdringung, als
Verschachtelung, Geflecht oder Verwicklung und im Grenzfall als Symbiose.
(Metz 1997, S. 82)
Film im Film in dieser komplexen Form wirkt als Transsubstantiation: Die Formen
bleiben zwar dieselben, durch die Verwebung verändert sich die „Substantia“, in
diesem Fall die Aussage. Blüher (1993, S. 104ff) hat die unterschiedlichen komplexen
Typen, welche Metz vorschlägt, in folgenden Interaktionsformen zusammengefasst
(Auszug):
�
Der erste Film entsteht (materiell) durch den zweiten, z.B. im Experimentalfilm.
�
Die beiden Filme bleiben getrennt,
�
oder sind so verschmolzen, dass man nicht wirklich von zwei Filmen sprechen
kann: die Verschmelzung wird zum Wesen des Films.
�
Zwischen dem ersten und dem zweiten Film können „Handlungsanweisungen“
ausgetauscht werden.
�
Der zweite Film existiert eigentlich nicht, er wird im ersten bloss in imaginärer
Form referenziert.
2.3
Split Screens als visueller Gimmick
Die Komplexität der Verknüpfung zweier Texte zu einem dritten kann auch bei SplitScreen Konstruktionen „gemessen“ werden. Es geht dabei nicht nur um die zeitliche
Ausdehnung, die ein Split Screen einnimmt, sondern auch um den Grad der
konzeptionellen Einbettung des Split Screens im gesamten Film. Es wird sich zeigen,
dass die Unterscheidung zwischen „starken“ und „schwachen“ Formen sich auch auf
den Split Screen anwenden lässt, und dass der schlussendliche Film sich irgendwo
zwischen den „Substanzen“ der Teilflächen befindet, gewissermassen als virtuelles
Produkt im Kopf des Zuschauers.
In den meisten Fällen ist der Einsatz des Split Screens zeitlich limitiert und als Trick
klar markiert (vgl. 2.3.1 und 2.3.2). Interessanter wird die Teilung der Bildfläche
jedoch, wenn sie über den blossen Effekt hinausgeht und zum Konzept des Filmes
beisteuert – gewissermassen zur „innovativen“ selbstreflexiven Struktur wird (vgl. 2.4
und 2.5). Eine klare Grenze zu ziehen ist aber schlecht möglich, dazu sind die beiden
Kategorien zu unscharf definiert und überschneiden sich in gewissen Fragen auch
stark.
8
Selbstreflexive Eigenschaften von Split Screens
2.3.1
Seminararbeit SS 2004, Urs Hofer
Parallelmontagen und Übergangseffekte
Es wäre wohl übertrieben, die Split Screens Hollywoods, vor allem die der Sechziger
und Siebziger, als innovativ zu bezeichnen, was ihr selbstreflexives Niveau betrifft.
Denkt man zurück, fallen einem vor
allem die Versuche ein, den
filmischen Raum mittels SplitScreen zu erweitern, um, wie in
Pillow Talk (Michael Gordon, USA
1969), zum Beispiel
Telefongespräche über weite
Distanzen nicht als Parallelmontage
inszenieren zu müssen. Dass für
Bild 2-1 „Pillow Talk“, USA 1969
diesen Zweck die Leinwand sogar in
Hollywood geteilt werden darf,
klingt verständlich, denn die Problematik des Telefongesprächs liegt in der
Entfernung zwischen den beiden Gesprächspartnern. Klassische „Over The Shoulder
Shots“ zur Inszenierung eines Dialogs sind schlicht nicht möglich, denn der
Gesprächspartner kann ohne Teilung der Leinwand nicht im gleichen Bild sein. Split
Screens ermöglichen in diesem Fall gemeinsame „Screen-Time“ der Protagonisten
trotz der räumlichen Distanz. Zudem ist der selbstreflexive „Witz“ traditionell
verankert in der Komödie Hollywoods, bei denen sich der Film seiner „gemachten“
Natur bewusst werden darf, beispielsweise in Hellzapoppin’ (H.C. Potter, USA 1941).
So sind sich in Pillow Talk die Protagonisten oft auch bewusst, dass sie sich in einer
eigenen Teilfläche auf der Leinwand befinden.
Der Einsatz des Split Screens in Pillow Talk hat also eine stark illustrative Funktion6
und ist eher logisch motiviert. Gewisse Nebeneffekte sind aber trotzdem interessant,
seien sie beabsichtigt oder nicht: Die geteilte Leinwand zeigt von Beginn weg die
Distanz zwischen den beiden Schlafzimmern der Protagonisten und markiert
6
Die Illustrative Kraft des Split Screens in Pillow Talk ist vor allem in Szenen mit dreifacher
Beteiligung an Telefongesprächen zu sehen: die Bildsymmetrie wird durch die mitlauschende
Drittperson „gestört“, indem die obligate links-rechts Teilung durch eine zentrierte
Dreiecksfläche aufgebrochen wird.
9
Selbstreflexive Eigenschaften von Split Screens
Seminararbeit SS 2004, Urs Hofer
besonders stark, was dem Wunsch des Zuschauers entspricht, nämlich ein
Zusammenführen dieser bildlichen Trennung auch im inhaltlichen Sinn, ein
harmonisches Ende also. Die anfängliche Markierung der räumlichen und
persönlichen Distanz zwischen den Protagonisten in Pillow Talk ist derart stark, dass
alles andere als ein Happy End unvorstellbar wäre (der Umgang mit starken
Elementen im Hollywood Film ist meistens kausallogisch und „ökonomisch“
begründet, deren ebenso starke Wirkung darf deshalb nicht verschwendet werden).
Bild 2-2 Triumph Spitfire Werbung (GB, ca. 1970). Aus zwei wird eins: „Get One“
Ein Beispiel, welches die Auflösung räumlicher Distanzen sehr illustrativ zeigt, ist in
einer englischen Triumph Autowerbung7 zu finden (vgl. Bild 2-2). Der Werbeslogan
„Get One“ bezieht sich nicht nur doppeldeutig auf Automobil und Dame, sondern
auch auf die Verschmelzung des Split Screens zum Vollbild – der optische, künstliche
Effekt des geteilten Bildes wird durch eine „natürliche“ Komposition ersetzt (vgl. 3.
Bild von 2-2), die örtliche Annäherung macht ihn überflüssig.
Zwei Parameter können für den Split Screen in seiner „klassischen“ Form also
festgehalten werden: Auf der zeitlichen Ebene laufen die parallelen Handlungen
synchron8, räumlich sind sie jedoch voneinander getrennt.
Weitere Beispiele für eine freiere Anwendung von Split Screen Sequenzen finden sich
z. B. in The Boston Strangler (Peter Fleischer, USA, 1968). In diesem Fall wird die
Unterteilung der Bildfläche nicht zur Darstellung zweier parallel gekoppelten
Handlungen eingesetzt, sondern zur Steigerung der Spannung und Illustration der
Tragweite der polizeilichen Ermittlungen. In der Form von Montagesequenzen teilt
sich das Bild in Rechtecke unterschiedlichster Grössen, um beispielsweise die
aufwendige Suche der Polizei nach dem Mörder, oder die aufgewühlte öffentliche
7
8
http://triumphspitfire.nl/video/split-screen-large.mpg
Synchronität wird häufig auch auf der Tonebene zusätzlich markiert: Im Fall der Triumph
Werbung steigen beide Fahrer zeitgleich in ihr Auto, und schlagen ebenso zeitgleich die Türe
zu.
10
Selbstreflexive Eigenschaften von Split Screens
Seminararbeit SS 2004, Urs Hofer
Meinung zu zeigen. Der narrative Gehalt in den einzelnen Teilflächen ist gering, die
Wirkung ist eher mit einer „Überdosis“ an Parallelhandlungen zu vergleichen – sobald
die Erzählung weiterfährt, wir auf die Teilung der Bildfläche verzichtet.
Ähnlich wurde auch in The Thomas Crown Affair (Norman Jewison, USA, 1968)
verfahren: In diesem Fall ist der Split Screen aber vor allem ästhetisch motiviert, die
Teilflächen sind oft vielfach dupliziert und die Aufteilung variabel und beweglich.
Bild 2-4 The Thomas Crown Affair:
Bild 2-3 The Boston Strangler: Montage
Subdivision eines Einzelbildes.
von parallelen Handlungen.
Montagesequenzen dieser Art bestechen durch ihr hohes Tempo und ihre
choreographische Präzision, passend zur eleganten, präzisen und beschwingten Art,
wie Thomas Crown seine Überfälle plant.
Ein anderes Einsatzfeld von Split Screens ist die Darstellung einer Handlung aus
mehreren Blick- bzw. Kamerawinkeln. In The Boston Strangler wird die Flucht des
Würgers mit dem Auto aus mehreren Perspektiven gefilmt, oder Close-Ups von
schreienden Frauengesichtern beim Erblicken der erwürgten Opfer werden parallel
neben Halbtotalen gesetzt; der Schock sollte durch die Verdoppelung zusätzlich
markiert werden. Die Wirkung ist aber, vor allem aus heutiger Sicht, eher
kontraproduktiv, denn mit der Teilung der Leinwand verlieren die Szenen an
emotionaler Dringlichkeit. Auch die gemeinsame Darstellung des lauernden Mörders
und des ahnungslosen Opfers ist problematisch; die Handlung wird zwar mühelos
nachvollziehbar, durch das Übermass an Informationen bleiben aber für den
Zuschauer Überraschungsmomente aus. Diese beiden Filmbeispiele stehen für eine
zweite Gruppe von Split Screens, welche als eigenständige Sequenzen ihrer eigenen
Ästhetik folgen und sich, ähnlich einer Montagesequenz, von der umfliessenden
Narration abheben. In diesem Fall muss der Split Screen nicht einer strikten
11
Selbstreflexive Eigenschaften von Split Screens
Seminararbeit SS 2004, Urs Hofer
chronologischen Gleichschaltung dienen, sondern besteht oft aus assoziativ
arrangierten Teilflächen.
In Andromeda Strain von Robert Wise (USA, 1971) werden Split Screens zur
gleichzeitigen Darstellung von Infographiken und Close Ups oder zur Markierung der
komplizierten und gefährlichen Experimente verwendet. John Frankenheimer hat sich
in seinem Formel 1 – Epos Grand Prix (USA 1966) von den TV Übertragungen der
„World Series“ und den visuellen Experimenten von Charles Eames inspirieren lassen
und die Rennaction parallel geteilt. In Robert Aldrichs Twilight’s Last Gleaming
(USA, 1977) ist die Eröffnungssequenz als Split Screen komponiert, ein weiterer Fall
der Kategorie Montagesequenz. Das Original von Ocean’s Eleven (Levis Milestone,
USA, 1960) verwendet, im Gegensatz zum Remake von Steven Soderbergh (USA,
2001) Split Screens zur Darstellung der perfekten Organisation des Raubes.
2.3.2
Retro und Pop
Filme, welche Split Screens einsetzen, vor allem in den sechziger und siebziger Jahre,
sind gewiss zahlreich, die genannten Beispiele ein kleiner Auszug. Für einige Genres,
beispielsweise dem Kriminalfilm oder der Fernsehserie, zählt der Split Screen zum
Standardrepertoire an visuellen
Effekten, er ist typisches Element
für deren Vorspänne, Trailer oder
Montagesequenzen.
Es ist folglich ein logischer
Schluss, dass in der Mix und
Remixkultur der neunziger Jahre
auch der Split Screen ein gewisses
Revival feiert, sowohl im Kino wie
am TV, dort besonders im
Bild 2-5 Split Screen im Mainstream Musikvideo: Destiny’s Child Emotions (Martin
Lawrence, USA, 2001)
Musikvideo (vgl. Bild 2-5). Auch
in den Arbeiten von Quentin
Tarantino, beispielsweise in Jackie
Brown (USA 1997), oder dem in Cannes ausgezeichneten Cidade de Deus (Kátia
Lund, Fernando Meirelles, Brasilien / Frankreich / USA 2002) finden sich
12
Selbstreflexive Eigenschaften von Split Screens
Seminararbeit SS 2004, Urs Hofer
Anwendungen des Split Screens mit starkem Zitatcharakter9. Auch in den Komödien
mit Austin Powers, z.B. in Goldmember (Jay Roach, USA 2002), oder in Snatch (Guy
Ritchie, GB / USA 2000), Hulk (Ang Lee, USA 2003) oder der Liebeskomödie Love
Actually (Richard Curtis, GB / USA 2003) – die Liste von Beispielen könnte bestimmt
noch viel länger sein, wird der Split Screen als Special Effect mit Retro – Charakter
zumeist für Montagesequenzen eingesetzt. Dass er sich dazu anbietet liegt an der
Multiplikation des Bildes und der damit verbundenen Loslösung von der Filmzeit,
denn mit dem Bild werden auch Zeitachsen vervielfacht, der Fokus löst sich von einer
spezifischen Erzählzeit zu einer übergeordneten Gesamtschau.
2.4
Split Screen als Teil eines selbstreflexiven Konzepts
Entscheidend für das Reflexivitätsniveau des Split Screens ist, ob durch seinen
Einsatz ein übergeordneter, selbstreflexiver Text entsteht oder nicht. Sein blosses
Vorkommen macht den Film noch nicht „selbstreflexiv“, es sind höchstens Momente
und Aspekte, welche am Split Screen generell selbstreflexiv sind. In allen bisherigen
Beispielen könnte der Split Screen auch durch andere „Montageformen“ ersetzt
werden, ohne dass sich der Gehalt des Films stark verändern würde. Natürlich
zeichnet er mitunter verantwortlich für den speziellen ästhetischen Stil von The
Thomas Crown Affair, den Film aber deshalb als selbstreflexives Werk zu bezeichnen
wäre doch übertrieben; der Gebrauch des Split Screens geht nie über die Darstellung
parallelen, räumlich distanzierten Handlungen oder die Visualisierung einer Handlung
aus mehreren Perspektiven hinaus. Die in den bisherigen Beispielen genannten Split
Screens könnte man durchaus als „klassische“ Verwendungen bezeichnen.
Konzeptionell unabdingbare Split Screens finden sich seltener. Wenn, dann vor allem
im Art Cinema, in den verschiedenen Erneuerungsbewegungen, im Film abseits des
Mainstreams oder in kleineren Hollywoodproduktionen.
Das Musikvideo Sugarwater10 (Michel Gondry, USA, 1996) der Band Cibo Matto ist
konsequent zweigeteilt, in den jeweiligen Flächen durchlaufen die beiden
Sängerinnen die gleiche Handlung einmal vorwärts und einmal rückwärts. Im linken
9
Das Filmzitat an sich ist natürlich ein selbstreflexives Mittel, der Split Screen im Rahmen des
Zitats erfährt aber keine wesentlichen Neuerungen und wird deshalb hier nicht weiter
besprochen.
10
Als Download verfügbar unter: http://www.director-file.com/gondry/cibomatto.mov
13
Selbstreflexive Eigenschaften von Split Screens
Seminararbeit SS 2004, Urs Hofer
Screen wacht die eine Sängerin auf, duscht und fahrt mit dem Auto los, im rechten die
andere, gleiche Handlung, sie wird aber vom Auto der linken Sängerin in der Mitte
des Musikclips überfahren und stirbt. Im Moment des Unfalls wechseln die
Handlungen die Seiten und ihre Laufrichtung: Die Tote steht wieder auf, diesmal auf
der linken Seite, geht, nun in korrekter Laufrichtung nach Hause, duscht und legt sich
zu Bett. Auf der rechten Seite widerspiegelt sich die Handlung der linken Seite aus
der ersten Hälfte des Videos; seitenverkehrt und in rückwärtiger Laufrichtung bewegt
sich die zweite Sängerin zurück ins Haus, duscht und geht auch zu Bett. Eine einzige
Handlung, das Aufwachen der einen Protagonistin, das Losfahren, der Unfall, die
Auferstehung des Opfers, dessen Rückkehr nach Hause und die letztendliche
Bild 2-6 Cibo Matto in Sugarwater: Zirkulärsymmetrische Komposition
Nachtruhe wird durch die zeitliche und bildliche Spiegelung zu einer scheinbaren
Parallelhandlung umgestaltet. Der Split Screen dient zur scheinbar synchronen
Kopplung zweier plansequenzartigen Handlungen unterschiedlicher Laufrichtung. Die
Spiegelung, zeitlich, räumlich und inhaltlich, lässt das Video zu einer in allen
Dimensionen symmetrischen Konstruktion werden. Dem Zuschauer wird die
Verdoppelung durch den Split Screen verschleiert, er versteht die gespiegelte
Laufrichtung als kontinuierlicher Ablauf, und wird so mit einem Ende konfrontiert,
welches bereits am Anfang existiert hat.
Cibo Mattos Video kann auf den Split Screen unmöglich verzichten, denn die
parallele Darstellung der Handlungen und die Überforderung des Auges sind
14
Selbstreflexive Eigenschaften von Split Screens
Seminararbeit SS 2004, Urs Hofer
notwendig für die Funktion des Konzepts. Zusätzlich visualisiert der Split Screen aber
auch inhaltliche Themen und Gegensatzpaare wie Leben und Tod, Fantasie und
Realität oder Gegenwart und Vergangenheit.
Die scheinsynchrone Kopplung der Teilflächen wie in Cibo Mattos Sugarwater wird
gänzlich aufgelöst in Pillow Book (F/UK/NL, 1996), Peter Greenaways Studie der
Kalligraphie. Die Frage nach der Lesbarkeit von Schrift wird mittels experimentellen
Formen, und dazu zählt der Split Screen, analog auf das Bild übertragen (vgl. Struif
2004, S. 143). Er legt Fotographien als Ausschnitte über das (bewegte) Filmbild:
„Greenaway reflektiert damit die Notwendigkeit, dass Schrift und Bild für ihre
Lesbarkeit bestimmte Voraussetzungen benötigen, wie z.B. die Fixierung auf einen
unbeweglichen Träger. Diese (ideale) Bedingung zum lesen eines Textes bzw. eines
Bildes, nämlich die Stilllegung des Mediums, übersetzt Greenaway unmittelbar in das
Formenspiel des Filmes.“ Während die Fotographie stillsteht, bewegt sich das
Filmbild weiter, der Split Screen ermöglicht den selbstreflexiven Diskurs über
Medium, Zeit und Realität. Ein anderes Beispiel für einen konzeptionell
unabdingbaren Split Screen findet sich im satirischen High School Beziehungsdrama
Rules of Attraction von Roger Avary (USA, 2002). Mit zwei langen Plansequenzen
wird der Weg der beiden Protagonisten zur Schule beschrieben. Die Szene endet mit
einem Dialog im Flur des Schulhauses, bei dem die beiden, getrennt durch die
Bildteilung, scheinbar nicht miteinander sprechen sondern sich jeweils an den
Zuschauer wenden und direkt in die Kamera blicken. Die Teilung wird durch einen
sehr schönen, aufwendigen Special Effect aufgelöst, indem beide Kameras einen
Schwenk um 90 Grad und eine Fahrt nach Aussen machen, so dass sich die beiden
frontalen Close Ups zu einem ganzen Bild verschmelzen. Der Regisseur verweist in
einem Interview auf der DVD darauf, die längere Split Screen Sequenz zur
Darstellung der unüberwindbaren Distanz zwischen den beiden Protagonisten
eingesetzt zu haben. Der reflexive Moment entwickelt sich hierbei aus der Tatsache,
dass der Zuschauer gleichzeitig mit Schuss und Gegenschuss konfrontiert wird und
aus zwei subjektiven Perspektiven selbst eine objektive Sicht ableiten muss.
2.5
Innovative und orthodoxe Split Screens
Die bisher angeführten Beispiele zeigen auf, dass es schwierig ist, bei der
Verwendung des Split Screens eine scharfe Grenzziehung zwischen „orthodoxer“ und
15
Selbstreflexive Eigenschaften von Split Screens
Seminararbeit SS 2004, Urs Hofer
„innovativer“ Verwendung zu machen, trotzdem kann man gewisse Kategorien
feststellen. So dürfen Split Screens im „alternativen“ Kino abseits des Mainstreams
oder im Kunstkino im Rahmen einer freieren und experimentelleren Filmsprache
vermehrt zu selbstreflexiven Konzepten beitragen. Im Hollywood Kino ist der Split
Screen in reglementierte Schranken verwiesen: Als „starker“ Effekt stellt er ein
zeitlich begrenztes Phänomen dar. Oder ist oft „oberflächlich“ im eigentlichen
Wortsinn, wenn er mehr durch grafische Finesse als durch Verbundenheit mit dem
Inhalt des Films besticht. Seine Berechtigung muss begründet sein, möglicherweise
tritt er im Rahmen einer Spannungsklimax auf, die er, trotz Brechung der filmischen
Illusion, durch die Darstellung paralleler „Action“ noch zusätzlich aufwertet. Er dient
zur Markierung des Genres oder, aus heutiger Sicht betrachtet, als Zitierung
ebendieses. Während seiner kommerziellen Blüte in den Sechzigern stand er als
„moderner“ Effekt auch für zeitgenössische Unterhaltung11, um das Kino gegenüber
der drohenden Konkurrenz des Fernsehens nicht als veraltet erscheinen zu lassen.
Motivation
Zeitlicher Rahmen
Einsatzgebiet
Weitere Bemerkungen
„Orthodox“
Motivation ist v.a. grafischer und
ästhetischer Natur.
Momenthaft, klar markiert,
Übergangs- oder Special - Effekt,
Montagesequenz
Klassisches Kino, Krimis, Actionfilme, Komödien
Bruch der Narration ist gering, da
als Effekt markiert
Ersetzbar
Markiert die Oberfläche, Grafik und
Rhythmus
„Innovativ“
Der Einsatz ist eine
konzeptionelle Notwendigkeit
Zeitlich nicht begrenzt:
Momenthaft, aber auch
permanent oder wiederkehrend
Eher im alternativen Kino,
Kunstkino, abseits des
Mainstreams
Bruch ist Absicht, Andersartigkeit ist das Wesen
Notwendig
Implizite Aussagen über das
Medium, z.B. Schnitt und Zeitgestaltung, reflektiert Inhalte.
Tabelle 2-1 Vergleich zwischen „orthodoxen“ und „innovativen“ Split Screens
Wird ein Split Screen aber konzeptionell eingesetzt und geht über seine
normalerweise nur punktuelle Verwendung hinaus (vgl. Tabelle 2-1), dann kann er
durchaus tragendes Element einer selbstreflexiven Struktur werden. Anhand des
11
Möglicherweise ist das eine Erklärung für die kurze Blütezeit Ende der 60er, hinzu kommen
aber auch noch Versuche von Gross- und Mehrfachprojektionen im Rahmen von
Ausstellungen und Kunst, z.B. Glimpses of America, eine siebenfache Projektion von Charles
und Ray Eames (USA, 1959)
16
Selbstreflexive Eigenschaften von Split Screens
Seminararbeit SS 2004, Urs Hofer
Fallbeispieles Timecode soll nun exemplarisch über diese selbstreflexiven Aspekte
diskutiert werden.
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Der Film Timecode (Mike Figgis, USA 2000) verdient, was den konsequenten Einsatz
des Split Screens betrifft, einer genaueren Betrachtung. Er wurde im Rahmen seiner
Vermarktung sogar explizit auf diesen Effekt reduziert, als „revolution in
filmmaking“ bezeichnet oder als „story that could only be told in four dimensions“
(DVD Klappentext). So revolutionär wie angepriesen ist er natürlich nun auch wieder
nicht, auf Verständlichkeit wird grossen Wert gelegt, deshalb wohl auch die fast
schon mahnenden Werbeslogans, dass man sich auf etwas neues, spezielles und
experimentelles gefasst machen solle. Dies ist typisch für Hollywood, denn es gilt, die
Zuschauer nicht vor den Kopf zu stossen und die „Ware“ korrekt zu deklarieren.
Figgis Interesse am formalen Experiment im Kontext der hollywoodschen
Filmindustrie kann auch als Auslotung von Grenzen betrachtet werden, ist seine
Position gegenüber der Filmindustrie doch sehr kritisch. Schon zuvor hat er mit
Filmen wie Leaving Las Vegas (USA/F/GB 1995) oder The Loss Of Sexual Innocence
(USA/UK 1999) die in diesen Fällen moralischen Grenzen Hollywoods bearbeitet. In
dieser Hinsicht scheint es einleuchtend dass Figgis, im Gegensatz zu künstlerischen
Ansätzen wie bei Greenaway, genau den umgekehrten Weg beschreitet: Die
Motivation für den Film wird begründet durch das Interesse am Effekt und durch den
Willen, diesen einzusetzen und zu „testen“ um in diesem Fall ein formales
Experiment zu wagen. Inhalte werden in einem weiteren Prozess passend dafür
entwickelt12. Den Reiz, eine Geschichte mit Split Screens zu erzählen, entstand
gemäss Figgis bereits währen den Dreharbeiten zum Film Miss Julie ein Jahr zuvor:
I shot [Miss Julie] in 16 days on Super 16. Part of my technique in shooting the film
so quickly was to shoot with two cameras. (...) I shot with one of the cameras, and my
cinematographer shot with the other one; in order to watch what he’d done and to
allow him to watch what I’d done, I’d run the two takes together on the video
playback. I became fascinated by this split-screen technique (...) (Bankston 2000,
S.52)
12
“I thought the split screen was really cool, so I started thinking about the idea of shooting
three screens and then four. You see, parallel action and synchronicity have always been
obsessions of mine.“ (Mike Figgis, DVD Booklet)
17
Selbstreflexive Eigenschaften von Split Screens
Seminararbeit SS 2004, Urs Hofer
Des Weiteren ermöglichte der Einsatz der Split Screen Technik auch einen freieren
Umgang mit langen Einstellungen.
3.1
Produktionsgeschichte, Synopsis und Rezeption
Timecode war ursprünglich als Stück für ein Theater in London konzipiert, bis ein
Studiochef von Sony auf das Projekt aufmerksam wurde. Aus dem Theaterstück
wurde ein Film, welcher zwar mit einem für Hollywood verhältnismässig kleinen
Budget produziert wurde, aber dafür auf die Hilfe bekannter Stars wie Jeanne
Tripplehorn, Salma Hayek oder Stellan Skårsgard zählen konnte.
Timecode vereint vier Geschichten, welche sich an verschiedenen Punkten kreuzen,
nach und nach zusammen-, aber auch wieder auseinander laufen. Sie sind, was den
experimentellen Charakter des Films unterstreicht, im Filmmillieu Hollywoods
angelegt13.
Alex (Stellan Skårsgard), der ausgebrannte Gründer einer erfolgreichen
Produktionsfirma, welche alles dreht, was Geld verspricht, täuscht sich mit Sex und
Alkohol ein spannendes Leben vor. Er steckt dabei in einer Krise mit seiner Frau, die
Beziehung liegt in Trümmern, sie ist beim Psychiater der ihr zum Bruch rät.
Zwischendurch vergnügt sich Alex mit einer bisexuellen und karriereversessenen
Latina (Salma Hayek). Deren reiche, ältere Geliebte (Jeanne Tripplehorn) ermordet
ihn aber aus Eifersucht, das Schicksal holt den Todessüchtigen letztendlich ein.
Zeitgleich präsentiert eine Jungregisseurin ihr neues Filmkonzept, welches sich
diametral von gängigen Hollywood Massstäben absetzt. In einem anderen Büro wird
für einen Film, der sich an der Grenze zum Softporno befindet, eine junge
Schauspielerin gecastet.
Ganz im Sinne eines „postmodernen“ und bestimmt auch alternativen amerikanischen
Filmes sind alle Teilgeschichten vielfältig selbstreflexiv. Zum Beispiel spielt Figgis
auf unterschiedliche Weise mit Klischees: mit überzeichneten Rollen werden Figuren
des Filmbusiness parodiert; dabei karikieren sich, möglicherweise ungewollt, die
Schauspieler durch ihre improvisierten Performances bis zu einem gewissen Grad
auch sich selbst.
13
Die Situierung der Geschichte im Filmmillieu Hollywoods ist auch Teil eines selbstreflexiven
Konzepts.
18
Selbstreflexive Eigenschaften von Split Screens
Seminararbeit SS 2004, Urs Hofer
Selbstreflexiv gibt sich der Film auch von seiner inhaltlichen Seite. Durch die
Lokalisierung der Geschichte in der Filmindustrie wirkt er dokumentierend, zugleich
distanziert er sich vom Einheitsbrei Hollywoods und definiert sich am Ende gleich
selbst: Die Präsentation eines Werkes einer Jungregisseurin in den Produktionsbüros
wird zur absoluten Selbstbespiegelung. „Imagine, four Cameras! (...) My film would
be one without a single cut!“ nimmt natürlich Bezug auf die formale Gestaltung, und
mit der Definition ihres Films als “Gesamtkunstwerk, welches Gropius, Eisenstein,
Leibniz, Tadeusz Kantor und Erwin Piscator vor Neid hätte erblassen lassen“
(Schwerfel 2003, S. 43) markiert Figgis seine kritisch – ironische Haltung gegenüber
den Mainstream und nimmt wiederum auch Bezug auf sein ursprüngliches
Bühnenkonzept.
Mike Figgis ist Jazzmusiker, Timecode lebt wie der Jazz vom Timing und der
Improvisation. Dem Film liegt kein genaues Storyboard zu Grunde, sondern vielmehr
eine Partitur, welche den Darstellern als Leitfaden dient, um die Synchronität der
einzelnen „Quadranten“ zu gewährleisten (vgl. Anhang A). Konzeptionell bedingte
Produktionsprobleme waren dabei unumgänglich: Bei Plansequenzen von 95 Minuten
können sich bereits kleine Fehler fatal auswirken. Deshalb wurde jeder Quadrant des
Films 15 mal gedreht, und schlussendlich die beste Kombination gewählt. Die
strengen zeitlichen Richtlinien waren mit improvisiertem Schauspiel nur schwer zu
erfüllen, die Darsteller wurden deshalb mit synchronisierten Uhren ausgerüstet um
keine Cues zu verpassen, und den Kameraleuten wurden Kommandos von Assistenten
eingeflüstert. Jeweils am Nachmittag wurden die Resultate des morgendlichen Drehs
über einen Videomischer zu einem Split Screen kompiliert und analysiert. Somit
konnten Stellen verbessert werden, an denen gleichzeitig zu viele Informationen
vermittelt wurden.
I’d say, ‚Okay, around minute 12, everybody is talking at the same time about
important stuff, so if Salma Hayek and Jeanne Tripplehorn are in the Limousine at
that point, you guys wait four minutes before you start your dialogue and don’t come
in until minute 16.’
(Figgis in Bankston 2000, S. 61)
Es bleibt anzumerken, dass Timecode von der Kritik relativ wohlwollend
aufgenommen und als wagemutiges und interessantes Experiment bezeichnet wurde,
obwohl viele Kritiker sich an fehlendem emotionalem Tiefgang rieben. Die
Produktion kam in Europa nie in den Verleih, sondern ist nur als DVD käuflich. In
19
Selbstreflexive Eigenschaften von Split Screens
Seminararbeit SS 2004, Urs Hofer
Amerika war der Film in den Kinos nicht sehr erfolgreich, kostete aber auch nur drei
Millionen Dollar, was etwa einem Zehntel eines durchschnittlichen Hollywoodfilms
entspricht. Die geringen Produktionskosten sind einerseits technisch erklärbar,
gedreht wurde auf DVCAM, andererseits begnügten sich die Stars mit relativ kleinen
Gagen, um an dieser Off-Produktion inmitten des „On“-Millieus mitzuspielen. Figgis
geniesst in Hollywood den Ruf des intelligenten Exoten, welcher zwar Kritik an der
Industrie übt, trotzdem aber nicht verhehlt, Teil von ihr zu sein.
3.2
Formale Gestaltung
Der Bildschirm ist bei Timecode von Anfang bis Ende viergeteilt, die Teilflächen sind
unbeweglich und werden in grafischer Hinsicht nicht verändert. Bereits der Vorspann
macht auf die Teilung aufmerksam, indem er sich typographisch abwechslungsweise
ein einem der Quadranten präsentiert (vgl. Tabelle 3-1, Id 1). Durch die simultane
Verknüpfung der einzelnen Geschichten miteinander können Personen den
Quadranten wechseln, aber nur dann, wenn dies „physikalisch“ möglich ist und sich
buchstäblich ihre Wege kreuzen; denn die einzelnen Plansequenzen erzählen nicht
ausschliesslich die Geschichte aus der Sichtweise einer Person, sondern sind a priori
räumlich definiert. Die Kamera kann also den Fokus von der einen auf die andere
Person richten ohne gegen ein Prinzip zu verstossen.
Nachdem der Vorspann auf die Teilung aufmerksam gemacht hat, beginnt der Film im
oberen rechten Quadranten, reduziert auf einen Kanal. Er bleibt auch verständlich,
wenn im oberen linken Quadranten die Geschichte mit Rose und Lauren einsetzt (vgl.
Tabelle 3-1, Id 3), denn Timecode dosiert die Menge an paralleler Handlung
geschickt, indem der narrative Grad jeweils zurückgenommen wird, wenn in anderen
Quadranten wichtige Ereignisse passieren (deshalb war Timing bei der Improvisation
auch von zentralem Stellenwert). Setzen aber zum ersten Mal alle vier Sequenzen
gleichzeitig ein, etwa ab der sechsten Minute, wirkt der Film für den Zuschauer
überfordernd: wie bei Filmanfängen üblich ist er in Erwartung einer hohen
„signifikanten Dichte“ (Barthes 1960, S. 85) und deshalb besonders konzentriert,
gleichzeitig auch überrollt von der vierfachen Informationsvermittlung. Er selektiert
deshalb automatisch die Teilfläche, welche im Zentrum der Handlung steht und auf
der Tonspur repräsentiert wird, und wird sich dabei ertappen, wie er andere
20
Selbstreflexive Eigenschaften von Split Screens
Seminararbeit SS 2004, Urs Hofer
ID
Zeit
Typ
Beschreibung
1
0:00:00
RAUM
Vorspann, Vorbereitung auf Vierteilung: Das Bild trennt sich nach der
Präsentation des Logos der Produktionsfirma gleich in vier Quadranten
auf, das Logo verteilt sich auf die Quadranten. Die Titelanimation besteht
aus Anzeigeelementen des Studios (V-U Meter) und 'digitaler'
Typographie, eine Anlehnung an die Darstellung der Timecodes von
Videokameras. Auch werden im Vorspann die Teilflächen teilweise
überschritten und verschmolzen, eine Vorwegnahme, welche im Film
auch passieren wird.
2
0:00:00
TON
Jazzmusik, selbstreflexives Element: Figgis versteht sich auch als
Jazzmusiker, hat den Soundtrack selbst komponiert. Timecode macht
Anleihen bei der Jazzmusik: Improvisation und abwechslungsweises
Solieren, freie Entfaltung und genaues Timing sind unabdingbar.
3
0:05:30
TON
Wechsel des Tonfokus: Sobald im oberen, linken Quadranten eine
relevante Handlung passiert, hier das Entleeren der Reifen, wird der Ton
auf der Tonspur berücksichtigt. Das wird noch oft geschehen, hier zum
ersten Mal, und deshalb bezeichnend für das Konzept.
4
0:05:45
RAUM
Zusätzliche Unterteilung eines Quadranten. Formale Selbstreflexion:
Während der Etablierung des Quadranten unten links wird der Monitor
einer Überwachungskamera gezeigt, welcher selbst wieder vierfach
geteilt ist.
5
0:06:08
RAUM
Räumliche Nähe: Der Masseur wird gleichzeitig in zwei Quadranten
gezeigt. Während die oberen beiden Quadranten räumlich getrennt sind,
kommt es bei den unteren schon sehr schnell zu Überschneidungen, da
beide Kameras unmittelbar in den Produktionsstudios von Red Mullet
positioniert sind. Auf der Tonspur wird die doppelte Präsenz
weiterverfolgt: Im Gegensatz zu den oberen Quadranten spricht der
Masseur nun in ����� .
6
0:10:00
TON
Im unteren, rechten Quadranten spielt sich viel ab (Meeting und Mr.
Massage), in den andern Quadranten nicht: Der Betrachter wird
höchstwahrscheinlich die anderen Teilbilder ignorieren, bis die Tonspur
ihn wieder darauf hinweist.
7
0:12:02
RAUM
Erdbeben: Raumübergreifender Event, Verdichtung auf der Tonspur und
zugleich illustratives Element, welches die Synchronität der Quadranten
sicherstellt. Die Erdbeben in Timecode haben zusätzlich auch den
Charakter einer Markierung: Nach den Beben ändert sich meistens der
Charakter einer Teilgeschichte. So beginnen in diesem Fall Lauren und
Rose (oben links) in der Limousine zu streiten.
8
0:14:48
RAUM
Timecode spielt mit unterschiedlichen Beziehungsformen, und stellt diese
auch mit der Teilung in Bildflächen dar: Beziehungskrise im selben
Quadranten oben links, psychotherapeutisches Gespräch oben rechts
zwischen der Therapeutin und der Ehefrau von Alex, derselbe
ankommend in seiner Produktionsfirma (u. l.), der Disput der
Angestellten über die Tatsache, dass Alex immer zu spät kommt (u. r.),
der Blick von ihnen Raus auf die Strasse, deshalb der 'doppelte' Alex in
den beiden unteren Quadranten.
Screenshot
Tabelle 3-1: Bemerkungen zum Split Screen in Timecode (1 / 4)
21
Selbstreflexive Eigenschaften von Split Screens
Seminararbeit SS 2004, Urs Hofer
9
0:15:34
RAUM
"Hey Rose, it's Alex". Telefongespräch zwischen Alex und Rose - und
nicht wie zuerst vermutet zwischen Alex und Lauren: Mittels technischer
Hilfsmittel wird die Distanz zwischen den Quadranten überwunden, der
Split Screen in diesem Fall ist also eine klassische Anwendung, und
erhebt den Zuschauer in eine allwissende Position. Dieser erkennt die
Wahrheit (Telefongespräch zwischen Rose und Alex) und Lüge (Rose gibt
vor, mit einer Mary zu telefonieren)
10
0:16:00
TON
Musik setzt ein: Die Musik hat den Charakter einer klassischen
Filmmusik, wirkt epische und emotional unterstreichend. Mit ihrem
Einsatz sind alle Beziehungen zwischen den Protagonisten definiert, sie
wirkt deshalb auch lösend von den Geschichten in den einzelnen
Quadranten und lässt den Zuschauer einen Überblick gewinnen.
11
0:22:30
TON
BILD
Musik, diesmal weniger sphärisch sondern eher temposteigernd, setzt
ein. Zugleich wird in drei der vier Quadranten auf ein Close Up
hingezoomt. In Kombination mit der Musik entwickelt sich so eine
'virtuelle' Montagesequenz, welche sich inhaltlich vom Film distanziert
und abhebt, aber durch umschwenken im Quadranten unten rechts auch
wieder abgebrochen wird.
Zu Bemerken auch das Bild im Bild, der gefilmte Videomonitor unten
links.
12
0:26:59
RAUM
TON
Wechsel des Raums, der Kamera: Der Regisseur des Films, für den das
Casting ausgeschrieben ist, taucht im unteren rechten Quadranten auf,
nachdem die Anhörung beendet war.
Ab 00:28:08 setzt Musik ein, wieder mit temposteigerndem Charakter,
dramaturgisch so positioniert, um ein drohendes Spannungstief zu
überbrücken, denn bis zum Erscheinen von Rose bei der
Produktionsfirma gibt es nur wenig zu erzählen. Zudem dient die Musik
in dieser Phase auch dazu, die Situation zu etablieren.
13
0:30:00
RAUM
Räumliche Grenzüberschreitung: Die Limousine stoppt vor den Büros von
Red Mullet, ist im Bild zweier Kameras. Rose verlässt die Limousine und
auch ihren ursprünglichen Quadranten oben links. Sie wird fortan im Feld
unten links agieren, überwacht von Lauren mittels technologischer
Hilfsmittel (Abhörgerät, Wanze). Im Gegensatz zu einem Telefonat ist
die Visualisierung des Abhörens zusätzlich voyeuristisch, ist der
Zuschauer im Gegensatz zu Rose in einer allwissenden Situation.
14
0:32:38
RAUM
Alex trifft seine Frau im Produktionsbüro. Die Quadranten oben rechts
und unten rechts verschmelzen für einen Moment beim
Begrüssungskuss.
15
0:38:20
RAUM
TON
Der minutenlange dramatische Aufbau der scheiternden Beziehung
zwischen Alex und seiner Frau, begleitet durch melancholische Musik,
endet in einem weiteren Erdbeben, welches parallel alle Quadranten
erschüttert. Das Beben ist erneut als Bruch im Verlauf der Geschichte
eingesetzt: Der Status Quo im Film, untermalt durch Musik, erfährt ein
jähes Ende, danach scheitert die Beziehung komplett.
16
0:40:00
RAUM
TON
Doppelte Telefongespräche: Nach dem Erdbeben versucht Lauren Rose
davon zu überzeugen, das Gebäude zu verlassen (links unten und links
oben), zudem ruft der Mitbegründer von Red Mullet, Bunny, Alex an,
während er vor dem Gebäude steht. Er kommt auch im Quadranten links
oben ins Bild, nachdem die Kamera von Lauren wegschwenkt und sich
wieder in der Limousine positioniert. Nach dem Telefonat zwischen Rose
und Lauren übernimmt Lauren wieder die Rolle der Überwacherin. Das
Gespräch zwischen Bunny und Alex wird von Musik überdeckt.
Tabelle 3-1: Bemerkungen zum Split Screen in Timecode (2 / 4)
22
Selbstreflexive Eigenschaften von Split Screens
Seminararbeit SS 2004, Urs Hofer
17
0:43:50
RAUM
TON
Rose (u. l) ruft Alex (u. r) an, um ihm mitzuteilen, dass Leute im
Vorführraum sind, an ihrem Treffpunkt. Alex hätte das Treffen mit Rose
wohl vergessen, geht nun aber doch zu ihr; der Weg, überbrückt durch
das Telefongespräch, wird also tatsächlich zurückgelegt, die beiden
unteren Quadranten verschmelzen, bildlich wie inhaltlich, im Liebesakt
zu einer doppelperspektivi-schen Einstellung im selben Raum, oder
ergänzen sich panoramenhaft. Lauren lauscht weiterhin, während oben
rechts sich Cherine am Telefon mit der "Aussenwelt" unterhält.
18
0:44:40
RAUM
TON
Mit dem Sex setzt ein selbstreflexives Spiel über die Realität im Film ein:
Die "wahre" Liebesszene hinter der Leinwand (u. r.) wird überdeckt und
getrennt durch die projezierte Liebesszene im Vorführraum - das
Produktionsteam (u. r.) sitzt vor der Leinwand und kuckt sich die Fiktion
an, Rose und Alex sind hinter der Leinwand und haben "echten" Sex.
Eine räumliche Überschnei-dung findet auch in den oberen beiden
Quadranten statt, als Cherine bei Lauren nach Feuer fragt: In diesem
Fall ist die Auto-scheibe die physische Trennwand zwischen den beiden
Räumen.
19
0:44:50
RAUM
TON
Die selbe Situation, zur Illustration: Oben links - Cherine aus der
Limousine raus gefilmt, oben rechts - Lauren von aussen in der Limo,
unten links - Produktionsteam vor der Leinwand, unten rechts - Rose
und Alex hinter der Leinwand. Übrigens: auf der Leinwand wird ein
Casting mit gespieltem Sex dargestellt, während dahinter wirklich
"gecastet" wird.
20
0:50:00
TON
In Timecode wird mit der Tonspur sehr frei verfahren, im Gegensatz zum
Bild, wo eine strikte Logik vorherrscht. Der Ton funktioniert als
Bindeglied zwischen experimentellem visuellem Erlebnis und klassischer
Narration. In dieser Szene hören wir das Gespräch zwischen Rose und
Alex auf dem rechten Stereokanal und gleichzeitig "im" Kophörer von
Lauren auf dem linken Kanal, quasi extradiegetisch.
Im oberen, rechten Quadranten kreuzen sich die Wege von Cherine und
Emma (Frau von Alex) in einer Buchhandlung.
21
0:57:30
RAUM
TON
BILD
Symmetrie der Ereignisse: Nach dem Liebesakt verlässt Alex das
Bürogebäude, raucht eine Zigarette, trifft per Zufall Lauren, sie kennen
sich nicht, beide rauchen. Emma und Rose sind beide auf der Toilette.
Die Geschichte hat ihren emotionalen Tiefpunkt erreicht, alle
Beziehungen sind hoffnungslos zerstört, zusätzlich wird die
Hoffnungslosigkeit unterstützt durch Musik.
Mit Absicht und genauer Choreographie ergänzen sich die einzelnen
Quadranten zu einem symmetrischen "Spiegelbild".
22
1:02:28
RAUM
Räumliche Überschneidungen gibt es an vielen Orten, in diesem Fall ist
für kurze Zeit, wahrscheinlich unabsichtlich, die Kamera des oberen,
rechten Quadranten im unteren, rechten sichtbar.
23
1:12:21
RAUM
Erbeben: Wiederum eingesetzt als Marker, welcher der Geschichte eine
neue Wende gibt. Lauren wird sich danach aufmachen, Alex
umzubringen, Ana beginnt mit dem Pitch.
24
1:14:00
RAUM
Die beiden unteren Quadranten werden nun für längere Zeit dem selben
Raum zugeordnet sein. Das Sitzungszimmer, in dem Ana ihren Film
vorstellt wird zum Zentrum der Handlung.
Übrigens ist ihr Filmprojekt eine Anspielung an Timecode, ihr Film soll
ein revolutionäres Projekt mit vier Kameras ohne Schnitt sein, sie hat,
wie Figgis auch, kein Drehbuch, dafür Musik ("Lenin in the House, diggidiggi, Trotzki in the House, diggi-diggi, Peace!"). Der Tonfokus ist nun
längere Zeit auf dieses Meeting gerichtet (bis etwa 1:22)
Tabelle 3-1: Bemerkungen zum Split Screen in Timecode (3 / 4)
23
Selbstreflexive Eigenschaften von Split Screens
Seminararbeit SS 2004, Urs Hofer
25
1:25:00
RAUM
TON
Der O-Ton setzt zur Klimax der Geschichte ganz aus, nur noch spärische
Musik (mit Saxophon wie zu Beginn) ist zu hören. Lauren macht sich auf
den Weg, Alex zu erschiessen. Auch die Kameras verdichten sich im
Raum, drei von vier filmen unmittelbar im und neben dem
Sitzungszimmer. Die beiden unteren übernehmen den Schuss Gegenschuss Part des "Finales".
Emma wurde zusammen mit Cherine im Haus vom Besitzer überrascht
und ist nun auf der Strasse auf dem Weg zu Alex...
26
1:29:40
RAUM
BILD
Wiederum überschneiden sich die Bilder, der Raum zwischen den
Quadranten wird sichtbar, als Randy zu Alex ins Sitzungszimmer geht.
Es herrscht eine Symmetrie übers Kreuz, Lauren und Emma von vorne in
einer Nahaufnahme, hastig gehend, unten links und oben rechts.
27
1:29:50
BILD
Ana filmt den sterbenden Alex auf ihrer Digitalkamera, wir sehen ein Bild
im Bild im unteren, rechten Quadranten, Alex, verdoppelt im
Videomonitor der Kamera. Mit der Bild in Bild Konstruktion schliesst sich
in gewissem Sinne auch der Kreis zur eröffnenden
Überwachungskamera.
28
1:30:20
RAUM
Das letzte Erbeben leitet den Schlusspunkt der Geschichte ein.
29
1:31:45
RAUM
In den Quadranten rechts: Telefongespräch zwischen Emma und Alex,
welche sich wieder versöhnen wollen, nur ist es zu spät und Alex stirbt
(darauf wird "sein" Quadrant ausgeblendet und mit dem Abspann
ersetzt).
In den Quadranten links: Telefongespräch zwischen Rose und Lauren,
jedoch ausserhalb des Tonfokuses, da keine Lippenbewegungen sichtbar
wird höchstwahrscheinlich auch kaum was gesagt.
30
1:33:00
BILD
Der Abspann hinterlässt diagonal die beiden "Verlassenen" oder
"Verlierer" der Geschichte. Der Film bleibt konsequent in seiner
vierfachen Form bis zum Ende.
Tabelle 3-1: Bemerkungen zum Split Screen in Timecode (4 / 4)
24
Selbstreflexive Eigenschaften von Split Screens
Seminararbeit SS 2004, Urs Hofer
Quadranten komplett ignoriert hat (vgl. Tabelle 3-1, Id 6). Timecode ist aber
konzeptionell so angelegt, dass dies geschehen darf. Abgesehen vom formalen
Experiment funktioniert der Anfang des Films jedoch klassisch: Zuerst wird das
Personal und dessen Beziehungen zueinander dargestellt und charakterisiert, es
werden Angaben zu Ort und – spätestens in der zehnten Minute, wenn ein Erbeben
gleichzeitig alle Quadranten erschüttert14 – Zeit der Handlung gemacht. Zu Beginn des
dritten Quadranten unten links macht Timecode auch einen selbstreflexiven
Kommentar über seine Machart (vgl. Tabelle 3-1, Id 4): Der gefilmte Videomonitor
ist zugleich Bild im Bild als auch eine zusätzliche analoge Unterteilung des
Quadranten, basiert auf Video und gibt, dank Split Screen, eine Übersicht über vier
disparate Räume.
Im Laufe der Zeit setzt der Zuschauer die Geschichte, welche konventionell
geschnitten wohl nicht viel mehr als eine Vorabendserie am TV hergeben würde,
immer freier zusammen und lässt sein Auge über Sequenzen ausserhalb des Tonfokus
wandern. Sei es ein Vorteil oder liegt in dieser Tatsache das Scheitern des Projekts
begründet: Mit der Notwendigkeit des Reduzierens der Tonkanäle auf eine Stereospur
demonstriert Timecode die „Macht“ des Tons im Verhältnis zum Bild (vgl. dazu
3.3.4), oder die unterschiedliche Rezeption von Bild und Ton.
Die Bildgestaltung der einzelnen Plansequenzen von Timecode sind von der
Improvisation der Schauspieler abhängig. Ästhetische Analogien zwischen den
einzelnen Quadranten sind deshalb selten anzutreffen, die Situation 11 und 21 (vgl.
Tabelle 3-1) bleiben Einzelfälle.
3.3
Implizite selbstreflexive Merkmale des Split Screens
In der Tabelle 3-1 sind verschiedene Momente protokolliert, anhand deren die
Funktion und Wirkung des Split Screens in Timecode abgeleitet werden kann. Die
Tabelle ist kein inhaltlich orientiertes Protokoll, sondern richtet den Fokus auf
Ereignisse, welche von der Wirkung des Split Screens profitieren, oder durch ihn erst
funktionieren.
14
Zum Umgang mit Raum und Zeit vgl. 3.3.1 und 3.3.3.
25
Selbstreflexive Eigenschaften von Split Screens
3.3.1
Seminararbeit SS 2004, Urs Hofer
Spiel mit räumlicher Distanz
Wie schon zu Beginn bemerkt bietet der Split Screen, bedingt durch die Tatsache,
dass er zwei räumlich getrennte Vorgänge physisch auf der selben Projektionsfläche
nebeneinander setzen kann, Möglichkeiten zur Darstellung räumlich getrennter, aber
trotzdem miteinander verknüpften Ereignisse. Die Distanz ist auf der Leinwand
konstant klein, und in der (filmischen) Realität variabel gross. Sie kann aber auch,
mathematisch ausgedrückt, gegen null streben, dann verschmelzen die Teilflächen zu
einer mehrfachen Ansicht des selben Raums15.
Die vier Plansequenzen in Timecode sind geographisch unmittelbar verknüpft und
überschneiden sich vielerorts. Im Zentrum stehen die Produktionsbüros von Red
Mullet, zeitweise befinden sich drei der vier Kameras im selben Gebäude. Verfolgt
die Kamera „ihren“ Protagonisten, sind doppelte Darstellungen desselben
unvermeidlich, oft aber auch erwünscht16. Zu dieser bewusst gewählten, für das
Konzept förderlichen „geographischen“ Ausgangslage setzt Timecode verschiedene
technische und dramaturgische Hilfsmittel ein, den Raum überbrücken oder trennen
zu können. Die Betonung des Konzepts führt teilweise dazu, dass der Film ein wenig
zur Technikdemonstration neigt: Bebt Beispielsweise die Erde17, ist dies ein netter
Trick, um die räumliche Nähe der Teilsequenzen zu illustrieren; aber gleich vierfach
eingesetzt, immer mit ähnlichem Wendepunktcharakter, verliert er an Spannung und
lässt durchblicken, dass er nicht zuletzt als Hilfsmittel für die improvisierenden
Schauspieler konstruiert wurde.
Die Palette an dramaturgischen und technischen Elementen wird ergänzt durch
zahlreiche Telefonate zwischen den Protagonisten: Das Verwechslungsspiel in der
Limousine (vgl. Tabelle 3-1, Id 9) während dem Telefonat zwischen Alex und Rose
baut auf den Möglichkeiten des Split Screens, dem Zuschauer sowohl die Wahrheit
als auch die Lüge gleichzeitig zu zeigen. Oder bei Id 16 werden zwei Telefonate
gleichzeitig geführt, jeweils vom selben Ort vor dem Firmengebäude an zwei
15
Eine Übersicht über alle räumlichen Verdoppelungen in Tabelle 3-1: Id 5, 8, 13, 14, 17 –
19, 21, 24 – 26
16
Zum ersten Mal im Film geschieht dies bei Id 5, Tabelle 3-1, wenn Quentin, der Masseur,
die Produktionsfirma betritt.
17
vgl. Tabelle 3-1, Id 7, 15, 23, 28
26
Selbstreflexive Eigenschaften von Split Screens
Seminararbeit SS 2004, Urs Hofer
verschiedene Orte im Gebäude18. Bei Id 17 treffen sich Rose und Alex telefonierend:
sie überbrücken zuerst mittels Technik dieselbe Distanz, welche sie auch physisch
durchschreiten werden. Die Folgen dieses Wechsels vom telefonischen zum
persönlichen Gespräch sind für die Geschichte von Timecode von zentraler
Bedeutung. Das Lauren sie dabei abhört ist ein weiteres Element der
Hilfsmittelpalette und hievt den Zuschauer in eine allwissende Position; im Gegensatz
zu Lauren hört er nicht nur Alex und Rose, sondern kann sie auch ununterbrochen
sehen.
Der darauf folgende Sexualakt hinter der Leinwand des Vorführraums und somit
hinter der Projektion eines gefilmten Sexualaktes kann nicht nur als selbstreflexiver
Kommentar über Fiktion und filmische Realität gewertet werden, sondern bildet auch,
was die Thematik der Raumaufteilung betrifft, einer der stärksten Momente in
Timecode. In scheinbar harmonischer Form verschmelzen die unteren Quadranten für
kurze Zeit zu einem panoramenhaften Breitbild19. Während die eine Kamera bei Alex
und Rose bleibt, begibt sich die andere um die Leinwand zum Produktionsteam.
Analog zu diesem Spiel vor und hinter der Leinwand wird in den oberen Quadranten
verfahren, wenn Cherine nach Feuer fragt bei Lauren, getrennt durch die Scheibe der
Limousine20. Durch die gleichzeitige Präsentation des Innen- wie Aussenraums oder
der Situation hinter wie vor der Leinwand reflektiert der Split Screen auch
voyeuristische Aspekte. Der Zuschauer kann in seiner allwissenden Position jeden
Schritt der Protagonisten überwachen. Der Wunsch nach absoluter Kontrolle ist also
nicht nur Lauren eigen, sondern – so kann Figgis verstanden werden – auch dem
Zuschauer: Ausgehend von diesem Wissensvorsprung des Zuschauers entwickelt
Timecode seine Spannung und reflektiert mit seiner Konstruktion unser eigenes
voyeuristisches Interesse.
18
Das Gespräch zwischen dem Koproduzenten Bunny und Alex ist nicht gerade logisch
begründet, könnte er doch als Mitinhaber der Firma schnell persönlich bei Alex vorbei um mit
ihm eine Tasse Kaffee zu trinken, sondern dient vor allem dazu, ihn als Charakter zu
etablieren.
19
Formale Analogien zwischen den Teilbildern sind in Timecode relativ selten: Nebst dem
Liebesakt zum Beispiel in Id 11 und 21, Tabelle 3-1
20
vgl. Tabelle 3-1, Id 17 – 19.
27
Selbstreflexive Eigenschaften von Split Screens
Seminararbeit SS 2004, Urs Hofer
Figgis’s experimental technique allows his audience to have a great deal of fun at
Lauren’s expense because our voyeuristic capacities are so superior to hers. (...) By
turning the screen momentarily into a kind of mirror for the audience, Figgis
confronts us with our own perverse voyeuristic desires.
(Fabe 2004, S. 234f)
Das Resultat unseres Wissensvorsprungs wird dann manifest, wenn Lauren auf Alex
trifft vor den Produktionsstudios, ihn aber, im Gegensatz zu uns, noch nicht kennt
(vgl. Tabelle 3-1, Id 21).
3.3.2
„Do it yourself“ – Schnitt
My film has the urge to go beyond the paradigm of collage. Montage has created a
fake reality. Technology has arrived. Digital video has arrived and is demanding new
expressions. As Martin Gropius once said in the first bauhaus exhibitions: Art,
technology, a new unity. We are in 1999, so it's time to say again: Art, technology, a
new, new unity.
(Ana Pauls in Timecode)
Obwohl Figgis in seinem Skript zum Film den Monolog von Ana nicht allzu Ernst
nimmt und die Reaktion von Alex, sein Kichern und seine Aussage, das alles sei
„pretentious crap“ mit „Alex tells the truth“ bezeichnet21: Abgesehen vom
selbstironischen, parodistischen Charakter lässt Anas Projektvorstellung in weiten
Teilen Rückschlüsse auf Timecode zu. Vielleicht liegt Figgis – im Gegensatz zu Ana
– weniger daran, den Film zu revolutionieren, mit Sicherheit möchte er aber neue
Techniken ausloten: “Timecode bends the rules beautifully. It never quite breaks
them.“ (Brooks 2000, S. 37) In dieser Hinsicht wurde in der Nouvelle Vague von
Godard klarere Aussagen gegen geläufige ästhetische Vorstellungen gemacht, als dies
Figgis mit seinem klar abgegrenzten Experiment tut
Mit der Kombination mehrerer Plansequenzen zu einem Split Screen versucht Figgis,
die Nachteile der langen Einstellung auszugleichen. Die Multiplikation des Bildes
ermöglicht es trotz des Verzichtes auf den Schnitt, zwischen Schauplätzen hin und her
springen zu können, indem er dem Zuschauer die Selektion des Bildes überlässt. Der
Zuschauer bestimmt, wie die Geschichte erzählt wird, und nicht ein idealtypischer
Erzähler. In diesem Sinne könnte Timecode auch mit hypertextuellen Inhalten
verglichen werden. Aus einer Menge von Informationen selektiert der Leser mittels
Links einen Weg: Zwar ist der Umfang der Informationen vorgegeben, die Wahl der
Reihenfolge und Menge obliegt aber allein dem Leser.
21
vgl. Anhang A, Shooting Score von Mike Figgis, Minute 69.
28
Selbstreflexive Eigenschaften von Split Screens
Seminararbeit SS 2004, Urs Hofer
Die vier synchronisierten Kameras lassen also eine räumliche Montage zu, im
Gegensatz zu der herkömmlich linearen, welche die Informationen zu einem
chronologisch definierten Ablauf ordnet. Figgis legt zwar nahe, wann welcher
Quadrant von besonderem Interesse ist, dazu wird der Ton jeweils eingeblendet (vgl.
3.3.4) und die Komplexität der anderen Quadranten reduziert, aber die letztendliche
Kontrolle über die Ordnung der Bilder besitzt der Zuschauer. So manifestiert sich der
selbstreflexive Aspekt in der Infragestellung des konventionellen, linearen Schnitts,
denn Timecode entwickelt durch die Multiplikation des Bildes eine durchwegs
funktionale Alternative.
The use of crosscutting in the conventional film narrative affords us kind of
omniscience as well, but one that is more limited. In conventional crosscutting, the
action unfolds linearly, one image at a time. (...) Thus in Timecode, when Alex is
having a tryst with Rose and unbeknownst to him a studio executive is trying to
discover where he is, spectators can switch their attention at will back and forth
between the two quadrants of action. Because of the spatial, as opposed to the linear,
montage in Timecode, we get to ‚edit’ what we see ourselves. (Fabe 2004, S. 233f)
In Momenten, wenn sich die Kameras einzelner Quadranten im Film plötzlich im
selben Raum vereinen, entstehen Ansichten der selben Situation aus verschiedenen
Perspektiven22. Brad Chisholm schrieb in einem Aufsatz zu „On-Screen Screens“,
welche mit Split Screens verwandt sind, dass es die parallele Darstellung zweier
Bilder dem Regisseur ermöglichen, im selben Moment Schuss und Gegenschuss zu
präsentieren, ohne schneiden zu müssen. Oder er vergleicht es mit kubistischen Ideen:
„Like the work of the cubists who sometimes explained their paintings as showing
multiple views of the same thing“ (Chisholm 1989, S. 18) Die doppelte Darstellung
des selben Bildes in Timecode führt zu einer starken Betonung ohne zusätzliche
Informationen zu vermitteln. Anas Vorstellung ihres Filmprojekts rückt so ins
Zentrum der Erzählung ohne dass die Rede dabei an Gehalt gewänne, sie bleibt, im
Ansinnen Figgis’, Geschwätz (vgl. Fussnote 21).
22
Vgl. Tabelle 3-1, Id 14, 25.
29
Selbstreflexive Eigenschaften von Split Screens
3.3.3
Seminararbeit SS 2004, Urs Hofer
Zeitgestaltung und Synchronität
"As I was saying, a film with not one single cut, no editing. Real Time.“
(Ana Pauls in Timecode)
Nicht verantwortlich für den Schnitt kann sich Figgis die Freiheit erlauben, mit
extrem Längen in den Plansequenzen zu arbeiten. So sitzen Rose und Lauren
minutenlang schweigend im Fonds der Limousine, oder in einer ruhigen Phase
fokussiert die Kamera lange Zeit auf die Wanduhr in der Lobby der Produktionsfirma.
Der Split Screen ermöglicht die Darstellung von Simultanität ohne Verlust an
Information, er funktioniert quasi als Ersatz einer Parallelmontage23, ohne kurzfristig
die parallele Handlung ausser Acht lassen zu müssen. Er kann die Vielfalt einer wenn
auch eingeschränkten und reduzierten Welt besser abbilden oder simulieren.
Im Spezialfall Timecode, wo die einzelnen Bildteile aus Plansequenzen bestehen, wird
die Wirkung des Split Screens zusätzlich um die Dimension der Synchronität
erweitert. Die Quadranten sind auf das Frame genau aufeinander abgestimmt, nur auf
diese Weise können die erwünschten, bereits beschriebenen Schuss - Gegenschuss
Effekte erzielt werden, wenn sich die Wege der Kameras in den Räumen kreuzen.
Man kann also behaupten, der selbstreflexive Charakter des Split Screens wirft Fragen
bezüglich des Schnitts auf, in zweiter Hinsicht bezieht er sich aber auch auf die
Funktion der Zeitgestaltung. Denn die parallele Gegenüberstellung zweier oder
mehrerer Handlungen zeigt sowohl den räumlichen als auch den zeitlichen, in diesem
Fall synchronen Bezug.
Timecode versucht sehr schnell klarzustellen, dass alle Quadranten zeitlich gekoppelt
sind: Bereits in der sechsten Minute tritt Quentin in beiden Quadranten unten
gleichzeitig auf, spätestens in der zwölften Minute, beim ersten Erdbeben, wird klar,
dass alle vier Quadranten synchron laufen. Während die Echtzeit ein Produkt der
Plansequenz ist, ermöglicht der Einsatz des Split Screens in dieser Form die
Gleichzeitigkeit.
23
Das es Zeit sei, vorwärts zu schreiten, und sich von der Montagetheorie, wie sie die
russischen Formalisten, Eisenstein, Vertov, mitbegründet haben, zu trennen, erwähnt auch
Ana bei ihrer Projektvorstellung
30
Selbstreflexive Eigenschaften von Split Screens
Seminararbeit SS 2004, Urs Hofer
Die Produktionsgeschichte zeigt, dass es eine der vordergründigen Absichten Figgis’
war, einen Film in einer Einstellung zu drehen. „When the audience enters into real
time, they experience a different, alternative psychological state while watching the
film“ (Bankston 2000, S. 63) Der Einsatz des Split Screens ist, wie er selbst sagt, eher
Produkt einer zufälligen Beobachtung, welche sich während den Dreharbeiten zu Miss
Julie (Figgis, UK/USA 2000) ereignete24, oder auch schlichte Notwendigkeit, um
mehrere Plansequenzen parallel darstellen zu können und um so schlussendlich dem
Theater wieder einen Schritt näher zu kommen:
I also want to make this film as an hommage to a person that has challenged me
during my whole life and that person is Erwin Piscator, a great director who put
theater and cinema together in the 1920's in Berlin. Because of the real time in this
film, I feel that I am doing, more or less, the same.
(Ana Pauls, Timecode)
3.3.4
Ton vs. Bild, Musik als „Supertext“
Wirklich an die Grenzen stösst Timecode auf der Tonspur. Im Gegensatz zum Bild ist
es für den Menschen nur sehr schwer möglich, in einer Vielzahl von Klängen einzelne
zu extrahieren. Im Film wird das Problem, wie bereits erwähnt, damit Umgangen,
dass im Tonmix der jeweilige Quadrant mit der dominanten Handlung auf der
Tonspur repräsentiert wird.
Die „Überbelegung“ der Tonspur ist eine direkte Folge des Split Screens, und die Art
und Weise, wie in Timecode versucht wird dem Problem beizukommen, illustriert
auch das Verhältnis zwischen Bild und Ton. Es seien deshalb an dieser Stelle ein paar
Bemerkungen erlaubt, weshalb der selbstreflexive Charakter des Split Screens sich
auch auf die Tonebene beziehen kann.
Die Problematik Ton hat Figgis auch erkannt, deshalb begleitete er die Premiere des
Films als DJ und mixte den Ton der einzelnen Quadranten live, um so eine der
Kernaussagen des filmischen Experiments, der individuelle und bei jeder Betrachtung
unterschiedliche Schnitt, zu unterstreichen. Und auf der DVD sind nebst dem
offiziellen Mix auch alternative Spuren wählbar. Trotzdem: In der Form der
einkanaligen Kinoprojektion ist das Problem, egal wie viele unterschiedliche Mixe
auch existieren, nicht lösbar; In dieser Hinsicht hat die Videokunst bei freier Wahl der
24
Vgl. 3, Der Fall Timecode
31
Selbstreflexive Eigenschaften von Split Screens
Seminararbeit SS 2004, Urs Hofer
Mittel unerreichbare Vorteile. Sie kann eine für ihre Zwecke optimale Raumsituation
zu schaffen, in der auch mehrere Tonspuren parallel rezipiert werden können.
Die Bildflächen in Timecode werden auf der Tonspur grundsätzlich ihrer Verortung
nach auf der linken bzw. rechten Spur repräsentiert. Überschneiden sich die
räumlichen Verhältnisse, wie z.B. in Id 5, Tabelle 3-1, werden beide Kanäle
verwendet. Extradiegetischer Ton wie Filmmusik ist auch auf beiden Kanälen
vertreten. Das vierfache Bild wird also auf der Tonspur auf zwei Kanäle reduziert,
gleichzeitig wird die geometrische Anordnung bis zu einem gewissen Grad simuliert.
Hält sich Timecode filmisch an strenge Richtlinien, wird auf der Tonspur sehr frei
Verfahren: jeder Schauspieler wurde mit einem Ansteckmikrofon ausgerüstet und
kann auf der Tonspur eingeblendet werden, auch wenn er sich ausserhalb des
Aufnahmebereichs der Kamera befindet25.
Bei der Visionierung des Films stellt sich heraus, dass man mit dem Auge
grösstenteils dem Ton folgt. Quadranten ohne Ton werden schnell ignoriert; setzt
Musik ein ohne spezifischen Bezug zu einer Teilfläche wandelt sich der Charakter des
Split Screens zu einer „virtuellen“ Montagesequenz26: Der Fokus richtet sich nicht
mehr notgedrungen auf einen spezifischen Quadranten, sondern löst sich und erfasst
die Leinwand im Überblick.
Von Timecode lassen sich unterschiedliche Verhältnisse von Bild und Ton ableiten,
welche zu unterschiedlichen Rezeptionsmustern führen. Als „Normalfall“ könnte man
ein Split Screen bezeichnen, dessen Teilflächen durch die Tonspur gekoppelt sind:
Sind die Räume disparat, werden zur „Koppelung“ oft technische Hilfsmittel,
Telefone, Funk eingesetzt. Sind die Teilflächen im selben Raum oder in physischer
„Hörweite“, kann die selbe Tonspur auf beide Flächen angewendet werden. Im Falle
von Timecode setzt in diesem Moment der Stereo – Effekt ein. Ein weiterer Fall ist
die Entkoppelung des Tons von den Teilflächen. Diese „Emanzipation“ ist oft bei
montagesequenzartigen Intermezzi festzustellen, im Falle Timecodes jeweils wenn die
Musik einsetzt oder alle vier Quadranten gleichzeitig hörbar sind.
25
vgl. Tabelle 3-1, Id 16
26
Musik wird in Timecode weitgehend analog zu gängigen Konventionen eingesetzt und dient
vor allem zur zusätzlichen emotionalen Unterstützung.
32
Selbstreflexive Eigenschaften von Split Screens
Seminararbeit SS 2004, Urs Hofer
Besitzt der Regisseur normalerweise mit dem Schnitt die Kontrolle über die
Informationsvergabe, bleibt Figgis nur die Steuerung der Tonspur. Diese setzt er
deshalb nicht nur zur blossen Gewichtung einzelner Quadranten ein, sondern durchaus
als selbstreflexive Kommentare zu Beziehungen zwischen den Protagonisten. In
Timecode enden Gespräche manchmal abrupt und werden von andern überdeckt und
abgelöst. So gewinnt das Ausblenden und Überdecken des Gesprächs zwischen Alex
und Bunny durchaus an zusätzlicher Bedeutung und reflektiert die Ausweglosigkeit
der Situation, in der sich Alex befindet27. Der „Split Sound“ in diesen Szenen gewinnt
einen ähnlich selbstreflexiven Charakter, vergleichbar mit der unkonventionellen
Weise, wie Godard „essentielle“ Gespräche durch „unwichtige“ Geräusche übertönen
liess.
3.4
Recherchevergleich: Die Fernsehserie „24“
Timecode ist in der Darstellung von Echtzeit sehr konsequent und folgt bis zum Ende
seinem Konzept, nicht nur durch den Einsatz von Split Screens, sondern auch wegen
der durchgängigen Verwendung von Plansequenzen.
Das TV-Grossereignis 24 wirbt auch mit der Darstellung von Echtzeit – ein Tag im
Leben eines Agenten wird in genau gleicher Zeit am TV ausgestrahlt, in 24 Folgen
von jeweils einer Stunde Länge28.
Das Konzept war und ist sehr erfolgreich, es wurden bisher bereits vier Staffeln
produziert, in Europa (Stand Januar 2005) bereits drei ausgestrahlt. Die Geschichte
handelt vom Protagonisten, dem Agenten Jack Bauer (Kiefer Sutherland), welcher
jeweils binnen 24 Stunden einen Kriminalfall zu lösen hat. Die Themen sind dabei
aktuell: Terrorismus, atomare und biologische Bedrohungen, Verschwörerische
Machenschaften in Regierungskreisen.
3.4.1
Konzeption, Analogien und Unterschiede
Konzeptionell ist 24 in der Tat innovativ und nutzt die Möglichkeiten des Formats
Serie bis an die Grenzen aus, indem ein 18-stündiger Langfilm in 24 Teile geschnitten
wird; innovativ deshalb, weil die Episoden einer Serie normalerweise eher
27
Vgl. Tabelle 3-1, Id 16
28
Auf der DVD dauert wegen den fehlenden Werbepausen eine Stunde nur 45 Minuten.
33
Selbstreflexive Eigenschaften von Split Screens
Seminararbeit SS 2004, Urs Hofer
geschlossene Einheiten bilden, welche zwar in einem übergeordneten Kontext
eingebettet, aber als Einzelfolge trotzdem verständlich sind. 24 „pokert“ in dieser
Hinsicht mit höherem Einsatz und geht davon aus, dass Zuschauer, einmal
zugeschaltet, alle Folgen bis zum Ende weiterverfolgen. Dieser „Suchtfaktor“ wird
durch ein geschickt arrangiertes Drehbuch zusätzlich verstärkt, die Spannung erreicht
jeweils am Ende einer Episode eine Klimax, welche es schwierig macht, nicht auch
die nächste Episode sehen zu wollen. Für Neueinsteiger beginnt jede Episode mit
einer kurzen Synopsis29 in der Form eines Voice Overs von Jack Bauer: „A terrorist
attack is planned on president candidate David Palmer. My wife and daughter are
kidnapped. I’m special agent Jack Bauer. This is 24. My longest day in my life“
Bereits in dieser Sequenz werden erste Split Screens eingesetzt; dem Zuschauer wird
also nicht nur das inhaltliche, sondern auch das formale Konzept erklärt (vgl. Bild 51). Die Teilflächen spiegeln dabei nicht korrekte zeitliche Verhältnisse oder
Synchronität wieder, sondern sind eher auf einer bildlichen und inhaltlichen Ebene
miteinander assoziiert.
Danach folgt die „Previously on 24“ – Montagesequenz, in welcher der bisherige
Tagesablauf kurz zusammengefasst wird. In dieser wird weitgehend auf Split Screens
verzichtet, nur für das typografische Layout wurde auf das gängige Bild-im-Bild
Raster von 24 zurückgegriffen (vgl. Bild 5-2)
Ganz im Sinne dieses stückweisen Erklärens des Konzepts wird auch der Beginn der
„Echtzeit“ angekündigt mit einem Voice Over Jack Bauers: “...the following takes
place between 8pm and 9pm“30 Im Unterschied zu Timecode folgt aber 24 fortan nicht
einem Konzept, welches zwangsläufig die parallel ablaufenden Handlungen
synchronisiert; in konventioneller Weise wird zwischen Schauplätzen hin und her
geschnitten, oft gerät der Faktor „Echtzeit“ dabei in Vergessenheit. Die Montage
nimmt dem Zuschauer die Möglichkeit, allen Handlungen folgen zu können, die
Darstellung der „Echtzeit“ kann schliesslich nur noch angenommen werden. Finden
29
Auf diese Synopsis im Sinne einer Kurzzusammenfassung der Story wurde bereits in der
zweiten Staffel verzichtet, wohl deshalb weil das Konzept von 24 schon ausreichend bekannt
war.
30
Auch in Timecode wird auf der Tonspur der Titelsequenz der Beginn des „Echtzeitmodus“
mit „3 – 2 – 1 action!“ angekündigt.
34
Selbstreflexive Eigenschaften von Split Screens
Seminararbeit SS 2004, Urs Hofer
Schauplatzwechsel statt wird deshalb meistens die Uhrzeit eingeblendet um die
Gleichzeitigkeit der Ereignisse zu suggerieren31.
24 verzichtet formal in keiner Weise auf die Mechanismen des konventionellen
Actionfilms, sondern wird von ihnen geprägt: starke Formen wie der Split Screen
unterliegen deshalb klaren Regeln und treten deshalb nur an spezifischen Stellen auf
(vgl. 3.4.2). Der Zuschauer wird nicht mit einem ausgefallenen formalen Experiment
konfrontiert, sondern mit zumeist mit gewohnten Montageformen. Zudem kann
festgestellt werden, dass im Gegensatz zu Timecode auch die Teilung des Bildes den
Zuschauer weniger fordert, denn entweder sind die Teilbilder direkt miteinander
verknüpft, nur von geringem narrativen Gehalt oder werden sequentiell eingeblendet,
damit der Fokus für kurze Momente auf jeweils eine Fläche gelenkt wird. 24 will
nicht Sehgewohnheiten anfechten oder erneuern, sondern nur modern wirken.
3.4.2
Der Split Screen in 24
In 24 sind Split Screens als Montagesequenzen immer vor und nach
Werbeunterbrüchen32 positioniert. Eine eingeblendete Uhrzeit illustriert, dass die
Werbepause auch eine Lücke in die kontinuierliche „Übertragung“ der Ereignisse aus
dem 24 – Paralleluniversum reisst, dass die filmische Zeit genauso verstreicht wie die
reale. Die Split Screens dienen also dazu, dem Zuschauer vor und nach den
Werbepausen eine Gesamtschau auf alle parallelen Handlungen zu gewährleisten,
begleitet vom Ticken der Digitaluhr wird Teilbild um Teilbild zu einer „Collage“
zusammengefügt (vgl. Bild 5-3). Das Problem der Vervielfachung der Tonspur,
welches Figgis in Timecode mit Mischen löste, wird dabei in diesen Sequenzen
grundlegend umgangen indem kaum gesprochen wird; die Teilflächen haben, wie
bereits beschrieben, den Charakter von „Establishing Shots“ und die Aufgabe, die
jeweilige „Lage“ zu skizzieren, sie funktionieren zumeist auch ohne Ton.
In 24 bleiben die Protagonisten in ständigem Kontakt miteinander, sie führen
zahlreiche Telefongespräche und Funksprüche, jede Person ist mit einem
31
Bei einer genauen Betrachtung fällt auf, dass in 24 zahlreiche kleinere Zeitsprünge
vorkommen: Schnitte ermöglichen Personen, sich unglaublich schnell zu bewegen, oder sie
bleiben während Werbepausen inmitten der grössten Hektik für Minuten am selben Ort
stehen.
32
Ab der zweiten Episode auch häufig nur nach den Pausen.
35
Selbstreflexive Eigenschaften von Split Screens
Seminararbeit SS 2004, Urs Hofer
Mobiltelefon ausgerüstet, von der Zentrale der Antiterroreinheit aus werden die
Aktionen der Agenten „ferngesteuert“ (vgl. Bilder 5-4 und 5-5). Zu der grossen Zahl
von Telefonaten kommt, dass sich die Gesprächspartner an den beiden Enden des
Telefons oft in absolut unterschiedlichen Situationen befinden: geschützt in der
zentralen Kommandostation oder exponiert in einer Schiesserei, gefangen an einem
geheimen Ort oder genau auf der Suche nach diesem Ort. Telefonate und Gegensätze
sind für den Einsatz von Split Screens besonders reizvoll: die direkte Plazierung der
Gesprächspartner nebeneinander ist eine willkommene Alternative zur
Parallelmontage, gerade wenn sich sie die Situationen stark voneinander abheben
kann das zu ästhetisch besonders reizvollen Kombinationen führen. Die Vielzahl von
Telefonaten war mitunter der Hauptgrund, weshalb Split Screens in Konzept von 24
überhaupt erst berücksichtigt wurden: „There were so many phone calls in the script
that these people would never share any screen time together (...) I love the idea of
showing what people were saying on the phone but also what they didn’t want other
people to see.“ (Regisseur Bob Hoskins in Talen, www.salon.com).
Dank der konventionellen Erzählweise macht es sich 24 einfach, dem Echtzeitkonzept
folgen zu können. Trennt sich eine Handlung kurzzeitig in zwei Erzählstränge auf,
können diese durchaus parallel mittels Split Screens dargestellt werden (vgl. Bild 5-7
und 5-8), in den einzelnen Teilflächen werden aber nicht auf Schnitte verzichtet: Die
Bilder (zweite Staffel, Episode 9pm – 10pm) stammen aus einer Szene, in der Marie
Warner unter Schmerzen als Terroristin von CTU – Agenten abgeführt wird, während
gleichzeitig ihre Schwester Kate von Jack Bauer unterrichtet wird, dass diese
Schmerzen nötig seien, um ein Geständnis zu erzwingen. Während Jack mit Kate im
linken Teilbild diskutiert, wird Marie im rechten an einen Stuhl gefesselt. Obwohl frei
geschnitten und deshalb nicht nachprüfbar, ob beide Handlungen wirklich gleich
lange dauern, vermittelt der Split Screen das Gefühl von Echtzeit und hält das Tempo
hoch, da er die Diskussion, inszeniert im konventionellen Schuss – Gegenschuss Stil,
kombiniert mit sehr dynamischen Steadycam – Travellings.
Split Screens werden in 24 auch eingesetzt, wenn sich das Tempo stark verschärft,
oder eine neue Aktion beginnt: wenn ein Polizeikommando ausrückt oder Spezialisten
am Entschärfen einer Bombe sind, vermittelt der Split Screen die Zusammenarbeit des
Teams und deren professionelles Arbeiten; das Niveau der Aktivität wird dabei vom
Split Screen wegen seinem visuellen Dopplungscharakter gesteigert, in anderen Fällen
36
Selbstreflexive Eigenschaften von Split Screens
Seminararbeit SS 2004, Urs Hofer
kann die Verdoppelung aber auch genau das Gegenteil bewirken. So hat der Split
Screen in der Szene, als sich Jack Bauer mit dem Fallschirm aus dem Flugzeug rettet
und George Mason den Flieger mit der Atombombe zur Detonation bringt, einen sehr
beruhigenden Charakter, wirkt als Zäsur und gewissermassen als retardierendes
Element (vgl. Bild 5-7 und 5-8). Nicht zuletzt sind Split Screens auch einfach nur
schön; ihr Auftreten weniger inhaltlich sondern vor allem formal motiviert.
So kann zusammenfassend behauptet werden, dass bei 24 ein selbstreflexives Konzept
fehlt, dazu wird der Split Screen zu stark auf seine Eigenschaft als visueller Effekt
reduziert. Auch der Faktor „Realtime“ wird durch die Split Screen Konstruktionen
nicht getragen, sondern bloss zeitweilig illustriert.
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Rückblickend kann man feststellen, dass Split Screens im Normalfall genau
vordefinierte Zwecke erfüllen: Sie stehen für zeitliche Synchronität und Parallelität
der Handlungen. Auch Timecode stellt diese grundsätzlichen Vorgaben nicht in Frage,
lotet aber mit dessen Hilfe die Grenzen der klassischen Narration aus: Timecode ist
dringend auf den Split Screen angewiesen, und aus verschiedenen Gründen auch
dringend auf die Videotechnik, mit konventionellen Filmkameras können unmöglich
90 minütige Plansequenzen aufgenommen werden. Und was die mindere Bildqualität
des Videos betrifft so könnte der Split Screen auch als qualitätssteigerndes Mittel
bezeichnet werden: Durch die Vervierfachung der aufgenommenen Daten kommt die
Bildqualität Timecodes, zumindest im Bereich der Auflösung, dem 35mm – Film
schon sehr nahe.
Schlussendlich ist die Abwesenheit des Schnitts die zentrale Frage des Split Screens
in Timecode. Auf diese wird nicht nur implizit durch das Konzept hingewiesen,
sondern auch explizit durch Dialoge33. Die Frage, ob Timecode durch die Verwendung
von Plansequenzen nun „realistischer“ ist im Sinne Bazins, oder genauso manipulativ
wie ein stark geschnittener Film, bleibt offen. Sie kann höchstens relativiert werden:
Timecode gibt dem Zuschauer mehrere Möglichkeiten zur Auswahl, könnte insofern
33
Marilyn Fabe (2004) vermutet auch, dass der eröffnende Dialog zwischen Emma und der
Therapeutin ein „In-Joke“ zum Thema Schnitt sei (vgl. S. 240): Emma erzählt dabei
prophetisch von einem Traum, bei dem Alex mit einem „Cut“ ums Leben käme.
37
Selbstreflexive Eigenschaften von Split Screens
Seminararbeit SS 2004, Urs Hofer
als „filmische“ Simulation von Wirklichkeit betrachtet werden, der
Informationshorizont ist aber auch beschränkt, in diesem Fall auf die vier
Plansequenzen, und diese wiederum vermitteln nur die Informationen, welche durch
die Kameraleute selektiert wurden; die grosse Bewegungsfreiheit der Handkamera
und der Einsatz vieler schnellen Schwenks können darüber hinaus durchaus als
analoges Mittel zum Schnitt bezeichnet werden. Oder wie es Marilyn Fabe
bezeichnet:
„A narrative told in real time in one long take can be every bit as manipulative of our
attention as a narrative told with heavy editing. André Bazin’s dream of cinema’s
potential to present a world with the seamless unity and ambiguity of reality through
the use of long takes is revealed in Timecode to be an illusion.“ (vgl. S. 240)
Dieser selbstreflexive Kern fehlt bei 24 schlussendlich gänzlich; die Serie will nicht
die filmische Narration neu erfinden, sondern mittels Einsatz von Split Screens einen
besonders aktuellen, realistischen und „echtzeitigen“ Eindruck erwecken. Nicht der
Split Screen prägt das Konzept, sondern die grundlegende Idee: Die Stärke von 24
liegt im optimalen Ausnutzen des Serienformats, kombiniert mit cineastischer
Qualität. Der Split Screen ist in seine Schranken verwiesen und tritt als Effekt nur
dann auf, wenn sein „öffnender Blick“ erwünscht ist – beim Wechseln der
Schauplätze, nach und (eher selten) vor Spannungshöhepunkten oder bei
Telefongesprächen. Könnte er verwirrend wirken, weil er Sehgewohnheiten
überfordert, wird auf dessen Einsatz verzichtet.
So schliesst sich der Kreis wiederum zu den klassischen Hollywood Split Screens:
während die Wurzeln von Timecode wohl eher in der Videokunst zu suchen sind,
finden sich Analogien von 24 eher in Filmen wie The Boston Strangler. 24 bleibt
schlussendlich spannende, gute und moderne Unterhaltung, gerade deshalb sind
formale Experimente aber ausgeschlossen.
38
Selbstreflexive Eigenschaften von Split Screens
�
A.
Seminararbeit SS 2004, Urs Hofer
������
Shooting Score von Mike Figgis
39
Selbstreflexive Eigenschaften von Split Screens
Seminararbeit SS 2004, Urs Hofer
40
Selbstreflexive Eigenschaften von Split Screens
Seminararbeit SS 2004, Urs Hofer
41
Selbstreflexive Eigenschaften von Split Screens
B.
Seminararbeit SS 2004, Urs Hofer
Screenshots aus 24
Bild 5-1: Episode 1, Introsequenz
Bild 5-2: Episode 1: Titellayout
Bild 5-3: Nach Werbepause
Bild 5-4: Episode 2, Telefonat
42
Selbstreflexive Eigenschaften von Split Screens
Seminararbeit SS 2004, Urs Hofer
Bild 5-5: Episode 2, Funkspruch
Bild 5-6: Episode 2, Klimax
Bild 5-7: Teilung der Narration, 1
Bild 5-8: Teilung der Narration, 2
43
Selbstreflexive Eigenschaften von Split Screens
C.
Seminararbeit SS 2004, Urs Hofer
Zitierte Filme
24
NAPOLÉON
div. Regisseure, USA 2001 -
AUSTIN POWERS IN GOLDMEMBER
Jay Roach, USA 2002
BOSTON STRANGLER
Norman Fleischer, USA 1968
CARRIE
Brian de Palma, USA 1976
CHELSEA GIRLS
Andy Warhol, USA 1966
CIDADE DE DEUS
Fernando Meirelles, BR/F/USA 2002
DRESSED TO KILL
Brian de Palma, USA 1980
EMOTION (Destiny’s Child)
Martin Lawrence, USA 2001
GRAND PRIX
John Frankenheimer, USA 1966
HELLZAPOPPIN
H.C. Potter, USA 1941
HOW THE WEST WAS WON
Ford, Hathaway et al., USA 1962
HULK
Ang Lee, USA 2003
JACKIE BROWN
Quentin Tarantino, USA 1997
LEAVING LAS VEGAS
Mike Figgis, F/USA/UK 1995
LOVE ACTUALLY
Richard Curtis, GB/USA 2003
Abel Gance, SW/I/F/CZE/DE 1927
OCEAN’S ELEVEN
Lewis Milestone, USA 1960
PILLOW BOOK
Peter Greenaway, F/UK/NL 1996
PILLOW TALK
Michael Gordon, USA 1959
SISTERS
Brian de Palma, USA 1973
SNAKE EYES
Brian de Palma, USA 1998
SNATCH
Guy Ritchie, GB/USA 2000
SUGARWATER (Cibo Matto)
Michel Gondry, USA 1996
THE ANDROMEDA STRAIN
Robert Wise, USA 1971
THE LOSS OF SEXUAL INNOCENCE
Mike Figgis, USA/UK 1999
THE RULES OF ATTRACTION
Roger Avary, USA/DE 2002
THOMAS CROWN AFFAIR
Norman Jewison, USA 1968
TIMECODE
Mike Figgis, USA 2000
TWILIGHT’S LAST GLEAMING
Robert Aldrich, USA/DE 1977
WICKED, WICKED
Richard L. Bare, USA 1973
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