Topologie – Golf von Neapel Typologie – Stadt

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Topologie – Golf von Neapel Typologie – Stadt
Neapel
Topologie – Golf von Neapel
Typologie – Stadt und Villa
Tektonik – Bogen, Gewölbe, Kuppel
Seminarreise Frühlingssemester 2008
ETH Zürich
Departement Architektur
Architektur und Konstruktion
Prof. Andrea Deplazes
Inhaltsverzeichnis
1
Reiseprogramm
Napoli – Stadtentwicklung
2
6
Einführung
Die Zeit der Griechen und Römer
Unterirdisches Neapel
Capri – Villa Jovis
Capri – Casa Malaparte
Sorrent
Pompeji
Vesuv
Ercolaneum
Movimento Moderno
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33
45
54
72
100
103
118
120
126
Literaturverzeichnis
Teilnehmerliste
145
147
Unterkunft
Hotel Nettuno
Via Sedile Di Porto, 9
Napoli – 80134
Tel. 0039 081 5510193
www.albergonettuno.com
Programm
2
Samstag, 26. April 2008
21.00 h Treffpunkt HB Zürich
21.27 h Abfahrt von Zürich
Anreise und Übernachtung im Zug
Sonntag, 27. April 2008
09.12 h Ankunft Rom, umsteigen
10.45 h Abfahrt von Rom
12.12 h Ankunft in Neapel
Transfer von Stazione Centrale, Piazza Garibaldi, zum Hotel Nettuno
Hotelzimmer beziehen
Spaziergang bis Piazza Duca D‘Aosta, Stazione Toledo
Fahrt mit dem Funicolare auf den Vomero
Erster Blick auf die Stadt vom Castel S. Elmo
Montag, 28. April 2008
Zeit der Griechen und Römer
Phlegräische Felder: Parco archeologico di Cuma, Bacoli, Pozzuoli
– Cuma: Antro della Sybilla
– Baia: Piscina Mirabilis
– Pozzuoli: Serapeum, Amphitheater
Dienstag, 29. April 2008
Unterirdisches Neapel
– San Lorenzo Maggiore, gotische Kirche, darunter
griechisch-römischer Markt, Via Tribunali, 316
– Napoli sotterranea, Piazza San Gaetano, 68
– Chiesa e Catacombe di San Gennaro, Via di Capodimonte
– Chiesa e Catacombe San Gaudioso, Piazza Sanità
– Chiesa e Catacombe di San Severo alla Sanità
Piazzetta San Severo a Capodimonte, 81
Programm
3
Mittwoch, 30. April 2008
Capri und Sorrent
Fahrt mit dem Schiff
Capri – Villa Jovis, Casa Malaparte
Sorrent – die Stadt
Donnerstag, 1. Mai 2008
Pompeji
Fahrt mit der Circumvesuviana, Regianalbahn
Besichtigung: Parco archeologico di Pompeji
Freitag, 2. Mai 2008
Vesuv
Fahrt mit der Circumvesuviana, Regianalbahn
Wanderung auf dem Vesuv
Besichtigung: Parco archeologico di Ercolaneum
Samstag, 3. Mai 2008
Neapel, Rückreise
Besichtigung: Villa Oro
Nachmittag zur freien Verfügung
19.00 h Hotel Nettuno, Auschecken
20.00 h Stazione Centrale, Piazza Garibaldi
Treffpunkt vor dem Gleis unseres Zuges
20.36 h Abfahrt von Neapel
Rückreise und Übernachtung im Zug
Sonntag, 4. Mai 2008
Rückreise
07.15 h Ankunft in Mailand, umsteigen
08.25 h Abfahrt von Mailand
12.51 h Ankunft in Zürich
4
Napoli – ein Schauspiel
Der Architekt, Maler und Kunstschriftsteller Karl
Friedrich Schinkel (1781–1841) brach – nach seiner Ausbildung und ersten Tätigkeit in Berlin – am
1. Mai 1803 nach Italien auf und kam über Prag,
Wien und Triest im August nach Venedig und Anfang Oktober nach Rom. Ende April 1804 ging er
nach Süditalien, war am 3. Mai in Neapel, bereiste
im Mai und Juni Sizilien, war Anfang Juli wieder
in Neapel und brach im September von Rom zur
Rückreise auf. Im Oktober war er in Genua, Ende
November in Paris und Ende Februar 1805 wieder in Berlin. Durch die Vermittlung Wilhelm von
Humboldts, den er in Rom kennen gelernt hatte,
wurde Schinkel 1810 Oberbauassessor und 1815
Geheimer Oberbaurat. Seit 1816 schuf er die berühmten Bauwerke in Berlin im Auftrag der preussischen Regierung. 1824 reiste er nochmals nach
Italien, war am 2. August in Mailand und erreichte
über Genua, Pisa und Florenz am 27. August Rom.
Von dort ging Schinkel nach Neapel, kehrte im
September zurück und verliess Rom am 24. Oktober. Mitte November war er in Venedig und am 22.
November in München.
An Valentin Rose, Neapel, den 3. Mai 1804 Wertester Cousin. Das Ziel der Reise liegt nahe
vor mir, der Gedanke an die Verlassung so vieler Schönheiten bangt nirgends mehr als in dem
Lande, das man mit Recht für Europens schönstes
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hält. Seit mehreren Wochen geniesse ich die Milde
von Capuas Fluren, die selbst den starken Hannibal
bezähmte, dass er des Ruhms vergass, des langen
Krieges Glück wollusttrunken scheuchte. Wäre es
möglich, Sie auf eine Stunde den Anblick aus meiner Wohnung geniessen zu lassen. Die Loge vor
dem Zimmer ragt weit hinaus ins Meer, dass, wenn
es stürmt, ich hier ein kaltes Bad geniesse; ist
warmer Sonnenschein, so gibt ein vorgestrecktes
Dach, von kleinen Säulchen unterstützt, mir süsse
Kühlung, und ich blicke ins weite Meer, an dessen
Küste links Vesuv den Feuerschlund erhebt, indessen harmlos ihn am Fusse die Orte Portici, Resina,
weissen Pünktchen gleich, umziehn. Die lange,
hochgetürmte Küste von Salerno und Sorrent
zieht hinter ihm sich in den Horizont des Meers,
aus dessen Mitte kühn die Felseninsel Capri steigt.
Rechts lehnt am Vorgebirg die Stadt und streckt
einen Damm und ein Kastell ins Meer. Gehe ich in das Gewühl der Stadt, so bietet sich
ein neues Schauspiel dar, das man in jedem anderen Ort vergeblich sucht. Paris und London
müssen weit in dem Tumult der Gassen den Rang
Neapel räumen. Denken Sie sich in dem Raum, der
nicht grösser ist als der, auf dem Berlin gebaut,
die Anzahl von fast einer Million Seelen, wovon
der grösste Teil sein ganzes Leben auf der Strasse treibt, dort handelt, wohnt und schläft, der jede
Handlung durch die höchste Lebhaftigkeit, durch
beständigen Frohsinn bezeichnet, dem das öffentliche Leben einen Nationalcharakter gibt, der sich
in jeder Miene, in jedem Gestus in einem Grade
zeigt, dass der, der eingeweiht, von fern den Sinn
der Unterredung schon durch Miene und Gestus
errät. Schneller Fassungsgeist leuchtet aus jeder
Unternehmung, Gefühl fürs Schöne zeigt sich auf
allen Gassen, nicht selten hört man in einem Kreis
von Lazzari den aufmerksamen Ohren Gesänge
Tassos oder Dantes klingen, oft sammelt abends
eine gut gespielte Zither ein weites Auditorium von
allen Klassen, das oft durch «bravo» den Künstler ermuntert, ihm die Freude zu verlängern. An
öffentlicher Pracht vielleicht nicht weniger erhält
Neapel vor allen den ersten Platz. Man sieht an
Feiertagen auf den Promenaden des Corso mehr
als zweitausend Karossen von zwei bis zu 8 Pferden, reich bis zur Verschwendung und mit Bedienten überladen.
(Bernd Haufe: Deutsche Briefe aus Italien. Von
Winckelmann bis Gregorovius. 3. Aufl. Leipzig: Koehler & Amelang 1987. S. 140ff.)
Napoli – Stadtentwicklung
6
Napoli – Stadtentwicklung
7
Napoli – Stadtentwicklung
Plan um 1790
8
Napoli – Stadtentwicklung
Plan von heute
9
Napoli – Stadtentwicklung
Stadttore in griechischer Zeit, Schema der griechischen Stadtbefestigung (5. Jh. v. Chr.)
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Napoli – Stadtentwicklung
11
Antikes Neapel, Römische Stadtanlage (5.Jh. n.Chr.)
Napoli – Stadtentwicklung
12
Neapel unter den Herzögen (763-1139)
Überlagerung der Stadtbefestigung des 11. Jh. mit dem Stadtgrundriss
des 19. Jahrhunderts
Napoli – Stadtentwicklung
13
Neapel unter den Herzögen (763-1139)
Schema der Stadtbefestigung im 11. Jh.
Napoli – Stadtentwicklung
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Stadtmauer der Aragonesen, Ostseite (1442–1500)
Bestehende Reste der spätmittelalterlichen Verteidigungsmauer im Osten der Stadt
Napoli – Stadtentwicklung
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Neapel unter den Vizekönigen, Schema der Stadtmauer (1504–1707)
16
17
Einführung
Die von Festungen eingeschlossene Stadt
Auf der hier abgebildeten Vedute erkennen wir neben der basisbildenden Topographie bereits alle,
sowohl das antike als auch das neuzeitliche Neapel, bestimmenden städtebaulichen Elemente: im
Osten ein grosser dicht bebauter Komplex, der von
fünf Hauptstrassen parallel in Ost-West-Richtung
durchzogen wird; am Südwestende dieser antiken
Neapolis ein kleiner Naturhafen und im Anschluss
daran, weiter nach Westen, schon ganz ausserhalb des griechischen Siedlungskernes, eine tief
ins Meer vorstossende künstliche Mole; weiter
nach Westen, ebenfalls am Meer gelegen, eine
städtebauliche Einheit aus Castel Nuovo (Maschio
Angioino), Leuchtturm, Arsenal und königlicher
Residenz (Reggia). Von der Reggia nach Westen
weitergehend folgt die auffälligste Formation des
Küstenverlaufes mit der weit ins Meer kragenden
Klippe (gr. Megaris), auf der sich Castel dell‘Ovo
auftürmt, dem landeinwärts anschliessenden steilen Hügel von Pizzofalcone und weiter landeinwärts
dem ganz Neapel dominierenden Vomero-Berg
mit der Kartause S. Martino und dem Castel S.
Elmo.
Schliesslich, ganz im Westen, bereits ausserhalb
des neuzeitlichen Mauerringes, an einer sanft geschwungenen Bucht eine lockere Bebauung mit
vielen Grünanlagen, offensichtlich ein Villen- und
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Residenzviertel, die heutige Riviera di Chiaia mit
Villa Communale. Die Vedute von 1621 zeigt aber
über die unbestreitbaren Fakten der Topographie
und der städtischen Bebauung hinaus Strukturen,
die anderen Städten wie Genua und Venedig fast
gänzlich fehlen. Der kundige Kartenleser erkennt
unschwer eine Reihe von Kastellen und Befestigungsanlagen. Deren Lage ist bezeichnend. Es
fällt auf, dass im gesamten Altstadtbereich, also
dem Siedlungsraum direkt auf der antiken Neapolis, solche Wehranlagen fehlen. Die Stadt selbst
besitzt zu ihrem eigenen Schutz lediglich ihren
mehrfach erweiterten Mauerring. Ganz im Osten,
am Ende des ursprünglichen decumanus maximus, wo in der Antike die Porta Capuana die Mauer unterbrach, steht seit dem 12. Jahrhundert das
Castel Capuano.
Auf der anderen Seite der Altstadt, in respektierlicher Distanz, die drei das Stadtbild bestimmenden
Burganlagen Castel Nuovo, Castel dell‘Ovo und
Castel S. Elmo. Natürlich sollten diese Kastelle
sowohl die jeweils Herrschenden als auch die Bevölkerung schützen. Aber aus der topographischen
Anordnung dieser Wehranlagen lässt sich leicht
der Verdacht ableiten, dass die Erbauer dieser
Kastelle sich nicht nur gegen Angriffe von aussen,
vom Meer her, zu schützen hatten, sondern durchaus auch gegen die eigenen Untertanen, das Volk
von Neapel. Und dazu war nur allzu oft Anlass ge-
geben. Das Stadtbild zeigt somit etwas auch vom
Verhältnis ihrer Einwohner zueinander, schreibt
etwas von der Dichotomie der neapolitanischen
Geschichte seit dem hohen Mittelalter, genauer
seit 1139. Es ist dies die allseits zitierte Fremdherrschaft in abwechselnd langer Folge: Normannen,
Staufer, Anjous, Aragonesen, spanische Habsburger, österreichische Habsburger und Bourbonen.
Neapel ist, wer möchte dies der Stadt abstreiten,
einzigartig, nicht nur im Guten, in jeder Hinsicht.
Mehr als jede andere Stadt ist Neapel eine Stadt
der Gegensätze. Neapelkenner behaupten, man
könne die Stadt nur hassen oder lieben. Dies mag
zutreffen für den, der gezwungen ist, dort zu wohnen. Für den eher flüchtigen Reisenden stellt sich
das Problem weniger existentiell. Dem, der Neapel
hasst, ist die Stadt die chaotischste, lärmendste,
schmutzigste und stinkendste der Welt, bewohnt
von Teufeln, Müssiggängern, Faulenzern, Dieben
und Verbrechern; dem, der Neapel liebt, ist sie die
schönste, reichste, lebendigste, demokratischste,
bewohnt von quirligen, erfinderischen, studierten
und liebenswürdigen Menschen.
De Crescenzo: «Wenn in der UNO nur Neapolitaner
sässen, da würde es bestimmt nirgends mehr einen Krieg geben, und die Waffenfabriken müssten
sich damit begnügen Knallfrösche und Stinkbomben für Silvester herzustellen.» Wehe dem, der sich
da spontan und einseitig entscheiden wollte! […]
Einführung
Neapel ist eine apokalyptische Stadt, die mehr als
jede andere von Krieg, Pestilenz, Tod und Hunger
heimgesucht wird. Paradies und Hölle werden in
Neapel gleichzeitig manifest. Nur um einige jüngere Daten ins Gedächtnis zu rufen: Krieg und Pest
im Januar 1528 und nur zehn Jahre später der
Ausbruch des Monte Nuovo. Dem Erdbeben und
Vesuvausbruch des Jahres 1631 folgte 1654 die
schrecklichste Pest, die jemals ein Gemeinwesen
heimgesucht hat. Von ca. 450 000 Einwohnern
erlagen der Seuche über zwei Drittel der Bevölkerung, das sind geschätzte 350 000 Menschen.
[…] Krieg und Pest gingen auch Hand in Hand gegen Ende des letzten Weltkriegs. Kaum hatten sich
die Neapolitaner aus völlig eigener Kraft der Nazibesatzung entledigt (le quattro giornate), als am 1.
Oktober, gleichzeitig mit dem Einzug der Alliierten,
die Pest ausbrach. Knapp ein halbes Jahr später
meldete sich zu allem Unglück auch noch der
Vesuv. Die letzte Choleraepidemie (1974) liegt gerade anderthalb Jahrzehnte zurück, und sie wurde
gefolgt von dem schrecklichen Erdbeben am 23.
November 1980, dessen Spuren noch heute das
Stadtbild zeichnen.
Das Bild von Neapel und den Neapolitanern wird im
allgemeinen geprägt von Vorurteilen und Gemeinplätzen, die schier unaustilgbar sind. So erscheint
es als höchst widersprüchlich, dass ausgerechnet
die chaotischen und unregierbaren Neapolitaner
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Plan von Lafrery, 1621
Einführung
von einem tiefen Gefühl für Ordnung und Gerechtigkeit gelenkt werden. Von Anfang an lebte die
Stadt im Bewusstsein der Gemeinschaft, und die
Kraft der «iura civitatis» blieb ungebrochen auch
in Perioden der sog. Fremdherrschaft. Die Rechtsschule Neapels hatte schon lange vor der Einrichtung der ersten Staatsuniversität Europas durch
Friedrich II. von Hohenstaufen (1224) einen guten
Namen. Die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz
und die Bewahrung der antiken republikanischen
Einrichtungen waren ein ungebrochenes Grundanliegen der Stadt seit Anbeginn ihres Bestehens.
«Neapel erzeugt aus sich selbst Gesetze wie
Zuchtaustern Perlen», bestätigt der gut instruierte
Franzose Daudy. Italiens Bürokratie ist eine Erfindung der Neapolitaner. Noch heute beherbergt Neapel die grösste Anzahl von Rechtsanwälten und
Notaren in seinen Mauern. Die Geschichte Neapels
ist genau besehen der unerschütterliche, Jahrtausende alte Kampf um und für die Bürgerrechte,
mochte der Gegner S. P. Q. R. (Rom), Hl. Stuhl,
Haus Hauteville oder Bourbon heissen. Benedetto
Croce (1866–1952), der grosse neapolitanische
Historiker und Philosoph, hat gerade diese Tugend
als die herausragende und bestimmende seines
Volkes hervorgehoben.
Ein zweites Klischee, die Neapolitaner betreffend,
ist die immer wieder unterstellte Gräzität. Neapel sei die griechischste aller Griechenstädte der
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Magna Graecia. Worin diese allerdings bestehen
soll, wird nirgendwo präzisiert. Man fragt sich
schon, warum ausgerechnet das moderne Parthenope griechischer als beispielsweise Syrakus oder
Tarent sein soll. Das Etikett wird sogar noch problematischer aus ethnisch-völkischer Sicht, ja
geradezu absurd. Den Neapolitanern ausgesprochene Gräzität zu unterstellen, heisst doch, ihnen
ihr Ureigenstes, nämlich ihre völlig einzigartige
Identität als Neapolitaner, rauben. Schliesslich geistert noch ein drittes Firmenschild
durch die Literatur, nämlich das der politischen
Uneigenständigkeit, das der jahrhundertelangen
Unterdrückung durch Fremdherrschaften. Doch
wie bei der unterstellten Gräzität muss auch in
dieser Frage die Spreu vom Weizen getrennt, differenziert und ausgesondert werden. Mag oberes
Etikett im gewissen Umfange für die Zeit von 1139
bis 1860 zutreffen, so wird dennoch bei genauerer
Betrachtung die Einschätzung der Unterdrückung
recht fragil.
(Rolf Legler: Der Golf von Neapel. Köln: DuMont
1990. S. 68 – 71.)
Einführung
21
Die sich im Kern stets erneuernde Stadt
Kein anderes Stadtbild Italiens präsentiert in
solcher Vitalität und Gleichzeitigkeit Tradition und
Neuerungsdrang wie das Panorama von Neapel.
Sein vulkanischer Boden scheint nichts auf Dauer
beherbergen zu wollen – die Stadt am Golf ist seit
jeher in ständiger Umwälzung. Dabei ist aber das
Raster, auf dem sich die urbanen Entwicklungen
labyrinthisch verzweigen, kurzfristig behaupten
und dann fast gänzlich wieder verschwinden, so alt
wie die älteste Gründung der Stadt am legendären
Grab der Sirene Parthenope.
Bis heute ist der Nukleus von Neapels Altstadt
griechisch, hat sich der «Neapolis-Plan» aus dem
Ende des 5. Jahrhunderts in seinen grundlegenden
Zügen erhalten. Auf einem leicht erhöhten, seitlich
gut befestigten Plateau, dessen Oberfläche leicht
geneigt ist, dass das reinigende Regenwasser
abfliessen kann, orientiert sich das Strassennetz
so, dass es geringfügig von der Nordrichtung
abweicht, um die Stadt auf diese Weise wirkungsvoll
vor den heftigsten Winden zu schützen.
Der Grundriss folgt mit seinem System von drei
ost-westlich verlaufenden Strassen und zwanzig in
nord-südlicher Richtung angelegten Gassen jenen
Gesetzen der Stadtbaukunst, die Hippodamos
von Milet der organisch-funktionalen Ordnung
von Verkehrswegen und Grundstücken beim
Quartieri Spagnoli, erbaut von 1550-er bis in die 1630-er Jahre
Einführung
Wiederaufbau von Milet (von 479 v. Chr. an)
zugrundelegte. Diese urbanistischen Neuerungen
des klassischen Griechenland fanden auf italischem
Boden in Nea-pel ihre prominenteste Umsetzung.
Die decumani wurden dabei nicht breiter als
sechs Meter angelegt und auf drei beschränkt,
um die schlechte Luft (mal aria) aus der Stadt
fernzuhalten. Rechtwinklig werden sie geschnitten
von circa zwanzig cardines, die ihrerseits vier
Meter nicht überschreiten.
An diesem Grundriss lässt sich freilich eine
der ältesten Eigentümlichkeiten Neapels kaum
ablesen. Das historische Zentrum war nämlich in
fünf grosse seggi oder sedili gegliedert, die nicht
mit den äusseren Begrenzungslinien einzelner
Quartiere übereinstimmten. Diese seggi stellten
Standesvertretungen nach dem demokratischen
Vorbild der griechischen Bruderschaften dar und
waren bis zu ihrer Auflösung 1799 als kommunale
Selbstverwaltungsorgane der Bürgerschaft in
Funktion. Keine der zahllosen Fremdherrschaften
über die Golfstadt hat je diese für Italien ganz
singuläre Form der Stadtverwaltung brechen
können; sie erklärt auch, weshalb es über die
Jahrhunderte keinem der Könige von Neapel
gelungen ist, den historischen Kern der Stadt zu
«besetzen». Er besitzt keinen grossen Platz, der das
geschäftige Treiben seiner Bürger gebündelt hätte,
und das religiöse Zentrum der Stadt lag, zusammen
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mit den gesamtstädtischen Verwaltungsorganen,
städtebaulich kaum her ausgehoben, an der Stelle
der einstigen Agora, dann des römischen Forums,
wo sich heute die mittelalterliche Basilika von San
Lorenzo erhebt.
Zu den frühesten Konservatoren dieses antiken
Strassennetzes zählt Friedrich II. Er liess den
wiederholt geschleiften Mauerring erneuern,
innerhalb dessen dann die auf die Staufer folgenden
Anjou (von 1266 an) den Stadtraum mit bedeutenden
Sakralbauten überzogen, die bis heute die
Silhouette Neapels mitbestimmen: namentlich San
Domenico, San Lorenzo und das gotische
«Pantheon» der süditalienischen Franzosen, Santa
Chiara. Ihren Herrschersitz freilich nahmen die
Besatzer ausserhalb der Mauern.
Von 1279 an entstand am Hafen der «Maschio
Angioino» (später: Castel Nuovo), seither –
geschleift, neu errichtet und baulich fortwährend
verändert – der Stützpunkt sämtlicher Herrscher
über Neapel. In seiner unmittelbaren Nachbarschaft
entfaltete sich unter den Anjou kurzfristig ein
prachtvolles höfisches Leben, strikt abgegrenzt
von der Altstadt und seiner selbstbewussten
Bürgerschaft. Hoch über der Stadt errichtete
Robert der Weise um 1329 das Castel S.
Elmo, wie die auf dem südlichen Ausläufer des
Pizzofalcone erbaute normannische Felsenburg
Castel dell’Ovo ein weiteres eindrucksvolles
Zeugnis der Unverletzlichkeit von Neapels antikem
Stadtgefüge, das die Trutzburgen seiner fremden
Herrscher geradezu scheu umstehen.
Erst unter den spanischen Vizekönigen veränderte
sich das Stadtbild grundlegend. Die von 1504 an
herrschenden Spanier siedelten ihre mitgebrachten
Landsleute auf den bis dahin unberührten Hängen
westlich der Stadt unterhalb des Vomero-Gipfels
in jenen quartieri spagnoli an, die Neapel,
wenn auch nicht sprengten, so doch fortan in
alle Himmelsrichtungen expandieren liessen.
Der folgenreichste Stadtplaner unter ihnen,
Vizekönig Don Pedro Alvarez de Toledo, verlieh
der neuen Stadtstruktur durch den Mitte des 16.
Jahrhunderts angelegten, nach ihm benannten
Strassenzug der Via Toledo (heute allgemein: Via
Roma) eine neue Ausrichtung, die vom Hafen und
damit vom Schloss aus den Norden erschloss und
dabei die Altstadt nur streifte. Zugleich schuf er
die Voraussetzungen dafür, dass sich die zweite
Bucht Neapels, die Chiaia und andere umliegende
Gegenden, zu rasch prosperierenden Stadtteilen
und Vororten entwickelten.
Das antike Strassengeflecht wurde dabei über
die alte Begrenzung hinaus fortgeführt: der
decumanus inferior (heute: Via San Biagio
dei Librai) wurde in die neuen Stadtviertel
hinein verlängert, so dass der treffend auch
«Spaccanapoli» (von spaccare, spalten) genannte
Einführung
Strassenzug in einer Länge von nahezu zwei
Kilometern das Neapel der Griechen mit dem der
spanischen Habsburger verband und so erstmals
und folgenreich die historisch gewachsenen Grenzen
überwand. Das Machtzentrum am Hafen, Castel
Nuovo, vergrösserten die Vizekönige in unmittelbarer
Nachbarschaft um den weitläufigen Palazzo Reale;
im Norden entstand mit dem Palazzo degli Studi,
dem heutigen Archäologischen Nationalmuseum, ein
weiteres imposantes Baudenkmal der spanischen
Herrschaft.
Die von 1734 an in Neapel bestimmenden Bourbonen
bereicherten die Stadt erstmals um öffentliche
Bauten; dem königlichen Palast wurde das Real
Teatro San Carlo angegliedert, und, vorn historischen
Zentrum noch weiter entfernt, entstand auf den Höhen
von Miradois das Jagdschloss von Capodimonte,
in dem bald schon die spektakulären Funde der
vesuvianischen Grabungen gesammelt wurden, die,
später in den ehemaligen Palazzo degli Studi verbracht,
den Grundstock des heutigen Nationalmuseums
bilden. Die Via Toledo unterbrachen die aufgeklärten
Monarchen mit zwei monumentalen Platzanlagen: in
Höhe des antiken Zentrums mit dem Foro Carolino
(heute: Piazza Dante) und an ihrem Ausgangspunkt,
vor dem Schloss, mit dem Foro Ferdinandeo (heute:
Piazza del Plebiscito). Entlang der Uferstrasse des
Chiaia-Viertels entwickelte sich die prachtvolle Villa
Reale (heute: Villa Comunale), mit jenem 1787 von
23
Goethe bewunderten Spaziergang, der seither zum
legendären Posilipp führt.
Nach der 1860 erfolgten Vereinigung Neapels,
mit dem italienischen Königreich bestimmten
zunehmend Verkehr und Industrie die
Stadtentwicklung; breite Corsi umgehen seither
das in seiner Substanz intakt gebliebene Zentrum,
in dein sich freilich die Strukturen Lind der
Bauschmuck der Häuser dem wechselnden, meist
fremdbestimmten Kunstgeschmack anpassten.
Doch erst die erheblichen Zerstörungen des
Zweiten Weltkriegs und jüngste Erdbebenschädcn,
die durch die örtlichen Denkmalbehörden nicht
immer behoben werden konnten, haben zu
ungehemmter Bau- und Bodenspekulation, zum
Verlust traditionsreicher und vertrauter Panoramen
Lind schliesslich zur Ver-elendung der historischen
Bausubstanz Neapels geführt. Sein buchstäblich
über Jahrtausende gewachsener, immer wieder
verjüngter Kern scheint, manche lobenswerte
Restaurierung ausgenommen, dem gänzlichen
Verfall und also dem Wegfall aus der Geschichte
anheimgegeben
Neapolitanischer Bautradition freilich entspricht
es, dass sich am Fusse des Vesuv immer neue
städtische Dimensionen erschliessen lassen.
Derzeit entsteht, unmittelbar an den Hauptbahnhof
angrenzend eines der aufwendigsten Neubauprojekte, das in solchem Ausmass und in solcher
Nähe zum historischen Kern der Stadt, wohl in
keiner anderen italienischen Metropole vorstellbar
wäre. Unter Beteiligung namhafter Architekten,
so des Japaners Kenzo Tange, wird dort ein
neues centro direzionale gebaut, das städtische
und regionale Ämter aufnehmen wird. Abermals
verlagert sich die administrative Baukultur Neapels,
nun von Westen nach Osten, vom Castel Nuovo in
Richtung Vesuv.
Der Kern von «Nea polis», der «neuen Stadt», wird
auch hieraus innovative Impulse beziehen. Für
einige Zeit wird der High-Tech-Glanz der kühnen
neuen Fassaden auch die schattigen decumani
und cardines bescheinen, und wieder werden
wir, um es mit dem besten Kenner und grössten
Liebhaber von Neapels vitaler Baugeschichte,
Christof Thoenes, zu sagen, «den Neapolitaner
durch die Jahrhunderte damit beschäftigt (sehen),
sein Stadtbild umzudekorieren: eine ungeheure
Freilichtbühne, auf der das Alte obsolet, das Neue
provisorisch wirkt und nur der alles überstrahlenden
Natur des Golfes Dauer zukommt.» (Andreas Beyer: Die Stadt, der Golf und der Berg.
In: Merian 46. Jg. 1993 Heft 9, S. 118f.)
Einführung
24
Piazza del Plebiscito
Baugeschichte
Neapels monumentalster und zentraler Platz vor
dem Palazzo Reale bietet gleichzeitig ein Stück
typischer Lokalgeschichte. Die Idee Alfons‘ von
Aragon, seinen Einzug in die neue Residenzstadt
gebührend feierlich mit einem pompösen Triumphzug zu gestalten, war in Neapel auf fruchtbaren
Boden gefallen. Das ursprüngliche Triumphtor,
durch das Alfons im Februar 1443 in Neapel einzog, war gewiss ein Monument aus ephemerem
Material, zur einmaligen Verwendung gedacht.
Erst später ist die Idee der Verewigung dieses
Monuments in kostbarem Marmor entstanden. Im
17. und 18. Jahrhundert hat die Errichtung solcher
Wegwerf-architektur, die ausschliesslich zur festlichen Dekoration eines einmaligen Festes oder
Staatsaktes diente, eine grosse Tradition in der
Sirenenstadt entwickelt. Bedeutende Künstler, wie
z. B. Fanzago oder Sanfelice, waren mit dem Entwurf solcher Architekturdekorationen beschäftigt.
Gegen Ende des Ancien Regimes war diese Tradition barocker Theatralik noch durchaus lebendig,
z. B. 1799 bei der ersten Rückkehr Ferdinands IV.
aus Sizilien, dann 1806 und 1808 jeweils beim Einzug von Joseph Bonaparte bzw. Joachim Murat.
Letzterer hatte daran so grossen Gefallen, dass er
beschloss, das Gelände vor dem Palazzo Reale in
Piazza del Plebiscito – Blick auf S. Francesco di Paolo
ein festliches Kleid zu hüllen, und zwar diesmal in
einem dauerhaften Material. Ein eigens dafür ausgeschriebener Wettbewerb wurde von den Architekten Laperuta und de Sumone gewonnen. Das
neue Foro Murat sollte die Gestalt eines grossen
halbkreis-förmigen Platzes erhalten, der von einer
durchgehenden Kolonnade, einer grossen Gedächtniskirche und zwei seitlichen Palazzi gerahmt
würde. Die Vorbilder für Kolonnade (Petersplatz)
und Gedächtniskirche (Pantheon) standen natürlich in Rom. Mit Dekret vom 28. Februar 1809
verfügte Murat die Enteignung der anrainenden
Bewohner inklusive des Klosters S. Francesco di
Paola, und 1810 begann die Demolierung der im
Wege stehenden Bauten. Nach der Vertreibung
von Murat blieben die begonnenen Bauarbeiten
(Teile der Kolonnade) zunächst liegen, doch der als
Ferdinand 1., König beider Sizilien, zurückgekehrte
Ferdinand IV. fand an der Idee seines Vorgängers
Gefallen und liess das Projekt als Foro Ferdinandeo weiterführen. Mit geringfügig geänderten Plänen des Architekten P. Bianchi wurde die Kirche
S. Francesco di Paola schliesslich 1846 fertiggestellt, bis heute Neapels wichtigster Beitrag zur
klassizistischen Architektur.
(Rolf Legler: Der Golf von Neapel. Köln: DuMont
1990. S. 194f.)
Einführung
25
Palazzo Reale
Im Antrittsjahr des neuen Vizekönigs de Castro,
Graf von Lemos, hatte König Philipp III. von Spanien einen Staatsbesuch seiner italienischen Besitzungen angekündigt. Dies gab dem Grafen von
Lemos den willkommenen Vorwand für den Bau
einer grosszügigen und moderneren Residenz,
wie sie der in Renaissancetradition im letzten Regierungsjahr von Don Pedro de Toledo (1553) von
Ferdinand Manilo errichtete Palazzo Vecchio darstellte. Den Auftrag für den Neubau erhielt der seit
1595 als oberster Baumeister des Vizekönigreiches
bestätigte Domenico Fontana. Dieser durchdachte
das Problem einer grosszügigen und repräsentativen Königsresidenz völlig neu und schuf mit dem
Nuovo Palazzo Reale die erste fürstliche Residenz
des Absolutismus. Baubeginn war bereits im Jahre
1600.
Hinter einer breitausschwingenden dreigeschossigen Fassade mit 21 Fensterachsen verbergen
sich verschiedene Raumkomplexe, die sich um
drei ungleich grosse rechteckig Höfe gruppieren.
Das Sockelgeschoss war vollständig von einem
Arkadenportikus, gerahmt von einer strengen dorischen Pilasterordnung, durchbrochen. Lediglich
die beiden Achsen an den Ecken waren geschlossen. Als gewichtigster Teil ergab sich im Inneren
der nördlich gelegene 5x5-achsige Ehrenhof, voll-
Domenico Fontana: Palazzo Reale Fassade um 1595
ständig umgeben von einem zweigeschossigen
Portikus. Die königliche Hauskapelle lag in der
Achse des Eingangs.
Natürlich zog sich die vollständige Fertigstellung
des gesamten Bauvorhabens bis zum Ende der
Bourbonenherrschaft hin. Doch konnte der Vizekönig bereits 1602 wesentliche Teile des Piano Reale
beziehen. Zwischen 1611 und 1613 waren Giovan
Battista Caracciolo («il Battistello»), Giovanni Balducci und Belisario Corenzio mit der Ausmalung
einiger Säle beschäftigt (Säle IV, VII und IX noch
erhalten). Gegen Ende der zwanziger Jahre waren
die Flügel um den Ehrenhof voll benutzbar und die
Fassade praktisch abgeschlossen.
Zwischen 1637 und 1644 errichtete F. A. Picchiatti den Ostflügel und die Hofkapelle, für deren
malerische Ausstattung Charles Mellin, Giovanni
Lanfranco und Jusepe Ribera Fresken bzw. Bilder
beisteuerten. Unter Vizekönig de Guevara, Graf von
Onate wurde nach Zeichnungen von B. A. Gisolfi
Einführung
das enge Treppenhaus des Fontana in ein wahrhaft
fürstliches Treppenhaus umgestaltet; laut Montesquieu »die schönste Treppe Europas«. Cosimo
Fanzago schuf für den Hauptaltar der Schlosskapelle seine berühmte Statue der «Immacolata»
(heute im Museo Nazionale di Capodimonte). An
der Südecke, zum Largo di Palazzo (heute Piazza del Plebiscito) gerichtet, kam die gigantische
Zeusbüste aus Cumae zur Aufstellung, weswegen
die damalige Via Guzman im Volksmund den Namen «Calata del Gigante» annahm. Drei Brunnen,
darunter die Fontana Medina, schmückten die
Umgebung des Palastes, der zum neuen herrscherlichen Zentrum der Stadt wurde. Der Platz
davor geriet zur Bühne für Staatszeremonien, Militärparaden, Turnierspiele und wichtige politische
Ereignisse. Eine neue Phase, verbunden mit neuen
Funktionen (Galleria der Farnesesammlung, Bibliothek, Sitz der Akademie der Wissenschaften
usw.) erlebte die Reggia unter den Bourbonen. Die
bekanntesten Maler des Settecento wie Solimena,
De Mura, Rossi und D. A. Vaccaro wurden mit der
Verschönerung und Modernisierung beauftragt. Im
ersten Regierungsjahr von Karl von Bourbon musste Sanfelice einen neuen Trakt in Richtung Castel
Nuovo für den Majordomus des Palastes errichten.
Die neu gegründete Porzellanfabrik musste bis zu
ihrem Umzug nach Capodimonte im Palazzo Reale untergebracht werden. Die königliche Hofdru-
26
ckerei mit der revolutionären Druckerpresse von
Raimondo di Sangro fand ihren Platz, und Luigi
Vanvitelli, der neue Hofarchitekt, musste aus statischen Gründen die Hälfte der Portikusöffnungen
der Fassade schliessen. 1769 verwandelte Fuga
die grosse Palastaula in ein Hoftheater.
Im Franzosenjahrzehnt, unter König Murat, wurde die Gestaltung des grossen Platzes vor dem
Schloss in Angriff genommen. Der bekannte klassizistische Bildhauer Canova erhielt den Auftrag für
ein Reiterstandbild Napoleons.
Wegen eines Brandes von 1837 erfuhr der Palast
eine letzte bedeutende Umwandlung: Umbau der
Kapelle, neuer Festsaal, südlicher Flügel mit hängenden Gärten und Belvedere im zweiten Obergeschoss. Nebenbei wurde bei dieser Gelegenheit
der bis dahin noch stehende Palazzo Vecchio
abgerissen und statt dessen der Flügel, der heute
den Palast mit dem Teatro San Carlo verbindet,
errichtet. Der wichtigste Beitrag des für diese Arbeiten zuständigen Architekten Genovese bestand
in der Neugestaltung des grossen Treppenhauses.
Nach der Vertreibung der Bourbonen verlor der Palast seine Funktion als königliche Residenz. (Rolf Legler: Der Golf von Neapel. Köln: DuMont
1990. S. 190–194.)
Einführung
Galleria Umberto I.
Die Galleria Umberto I. wurde von 1887 bis 1891
von den Architekten Rocco, Curri und Di Mauro erbaut; die Glasverkuppelung konstruierte Boubée.
In Typus und Anlage folgte diese Galleria der 1865
bis 1867 entstandenen Mailänder Galleria Vittorio
Emanuele II: zwei sich rechtwinklig schneidende mit
Glastonnen überwölbte Gänge mit zentraler Glaskuppel über der Kreuzung. Die Ecken der Vierung
sind in Breite der Gänge abgeschrägt, so dass ein
gleichseitiges Oktogon als zentraler Platz entsteht.
Die zeitgenössische Kritik hat an der späten neapolitanischen Lösung viel herumgemäkelt, doch
eines wird aus heutiger Sicht klarer erkennbar:
Gegen die Jahrhundertmitte wird die ursprüngliche
Idee einer überdachten Ladenstrasse zugunsten
repräsentativer Architekturen verdrängt. Schon
die Namensgebung verrät Trend und neuen Stilwillen: Galerie de la Reine in Brüssel (1847), Kaisergalerie in Berlin, Victoria Arcade in Manchester
und Galleria Vittorio Emanuele II. in Mailand. Die
gläserne Eindachung galt ursprünglich nicht als
Teil der Architektur. Noch bei der Kuppel in Mailand ist der Versuch zu erkennen, durch möglichst
grosse Glasflächen die Konstruktion selbst nicht
dominant werden zu lassen. Gerade die enger
gesetzten und zahlreicheren Querringe der Kuppel
von Neapel hatte die Bauästhetik der Zeitgenos-
27
sen verletzt. Doch dass diese Lösung nicht aus
technischer Unreife resultierte, geht aus zwei wesentlichen Abweichungen vom Mailänder Vorbild
hervor. Die Abmessungen der Galerien, 195 x 105
m in Mailand und 147 x 122 m in Neapel, zeigen im
letzteren Falle eine stärkere Angleichung der Ganglängen. Bei etwa gleicher Gangbreite der Galerie
erhält das Neapler Oktogon eine zentralere Rolle.
Schliesslich ruht die Kuppel (57 m Scheitelhöhe!)
über den Gebäudetrakten auf durchglasten Schildbögen, was ihr einerseits eine grössere Schwerelosigkeit verleiht und andererseits die Kuppel als
solche, und zwar als bewusst gewähltes Architekturmotiv, stärker akzentuiert. Hier ist wirklich, was
in früheren Galeriebauten nicht angestrebt war,
ein von einem Glasdach überwölbter Zentralraum
bewusst gestaltet worden, ganz in der Tradition
der neapolitanischen Tendenz im Kirchenbau. In
der Galleria Umberto ist tatsächlich mit den Baumaterialien des 19. Jahrhunderts (Glas und Eisen)
eine «Kathedrale des Kommerzes» (Marx) errichtet
worden, zum ersten und zum letzten Male. Gleichzeitig ist die Galleria Umberto die letzte monumentale Verwirklichung der überdeckten Ladenstrasse.
Das Zeitalter der Flaneurs ist vorbei. Schon parallel
zum Bau dieser Galerie setzt sich andernorts der
natürliche Nachfahr dieser Ladenstrassen als Bauform durch, das grosse Warenhaus.
Galleria Umberto I. – Innenansicht um 1890
Einführung
Teatro San Carlo
Das Teatro San Carlo, an der Rückseite des Königspalastes von Neapel gelegen, weckt – nicht nur für
Napoletaner – Assoziationen der verschiedensten
Art. Wer einige Tage durch Neapel spaziert ist und
diese Stadt liebgewonnen hat, der wird vielleicht
entdeckt haben, dass die Gassen, die Obststände
oder die Kapellen so etwas wie eine Bühne darstellen, auf der viele Theaterstücke gleichzeitig aufgeführt werden. Dabei spielt die Aktfolge keine Rolle,
da ohnehin nach wenigen Handlungssequenzen
eine dramatische Wendung, «una piccola catastropha», erreicht ist. Angesichts der musikalischen
Ambitionen dieser Stadt müsste man sogar von
«Napoli Operà» sprechen.
Nun lässt sich in der Tat keine prächtigere und
lebendigere Kulisse für die Inszenierung des Stehgreifspiels «Napoletanisches Leben» denken als
das urbane Ambiente dieser Stadt. Für die Instrumentierung ist gesorgt, und an schönen Stimmen
fehlt es bekanntlich nicht.
Diese «Freiluft-Oper», in die alle Menschen einbezogen sind und wissentlich oder unwissentlich
mitspielen, kann historisch tatsächlich lokalisiert
werden. Es war die Volkskunst auf der Piazza, auf
dem Largo di Castello, um die Mitte des 17. Jahrhunderts. Hier wurde auf dem Komödiantengerüst
Theater gespielt. Unmittelbar daneben priesen
28
die Quacksalber, eben noch Handlungsträger in
einem Schwank, ihre Kunst als «reale Lebenshilfe» an. Und der Verkäufer, den die Zuschauer als
Schurken kennengelernt haben, versucht die aufgebrachte Menge durch Billigverkäufe zu trösten.
Ist das Theater als komplexes und theoretisch fundiertes Artefakt zu den Zuschauern gekommen?
In Neapel sicherlich nicht. Es war die Gasse, das
innerstädtische Ambiente, das Themen und Motive vorgab: Bühne, Darsteller und Publikum organisierten sich selbst.
Natürlich gab es parallel zu diesen spontanen
Theaterfesten auch die höfischen Aufführungen
im eigens für solche Zwecke errichteten Theateroder Opernhaus. Monteverdis «Incoronazione di
Poppea» erlebte zwar seine Uraufführung 1642
in Venedig. Neun Jahre später aber wurde diese
Oper in Neapel im Rahmen von glänzenden Feierlichkeiten präsentiert, hinter denen ganz Italien
zurückstand. Opernglanz und Alltags-Schwank.
Das napoletanische Komödiantentum scheint eine
eigene musikalische und dramaturgische Linie
hervorgebracht zu haben. Kein Wunder, dass angesichts solcher einzigartigen Konstellationen die
Geburtsstunde der Opera buffa, des ins Musikalische umgesetzten Stegreifspiels, in Neapel geschlagen hat. Die Figuren, inspiriert von der älteren
Commedia dell’ arte, tragen noch die traditionellen
oder verwandte Namen wie Dottore oder Capitano.
Einführung
Harlekins Verkleidungen sind geblieben. Er spottet
jetzt nicht mehr nur gegen die Mächtigen, sondern
auch gegen die kleine Welt der Stadt. Cianello ist
jetzt der Spassmacher. Seine Gefrässigkeit und
Faulheit sind die typischen Eigenschaften des «Tedesco» Hans Wurst. Die Haushälterin bringt den
Hagestolz unter den Pantoffel, und der Dottore
sprengt Intrigen.
Giovanni Battista Pergolesi wurde am 4. Januar
1710 in Jesi geboren. Er starb 26 Jahre später in
Pozzuoli. Der angehende Musiker war Schüler des
berühmten »Conservatorio dei Poveri» in Neapel.
Der Ruhm Pergolesis kam zwar mit der Messe, die
er im Auftrag der Stadt Neapel geschrieben hatte,
zum wirklich populären «Star» aber wurde er durch
seine Verdienste um die Opera buffa. Eine der am
meisten gespielten Opern war «La serva padrona»,
(«Die Magd als Herrin»), die am 28. August 1733
in der Stadt uraufgeführt wurde. Librettist war der
damals in Neapel besonders begehrte Gennaro
Antonio Federico. Natürlich spielt die Handlung
in Neapel. Wie der Titel schon ankündigt, gelingt
es der pfiffigen Haushälterin, ihren Herrn mit einer
List, die sie zusammen mit dem Diener ausgeheckt
hat, zu heiraten. Aber das ist eben nur das Thema.
Das schillernde Lokalkolorit und die vielen kleinen
Nebenhandlungen, die das Alltagsleben von Neapel beleuchten, machen den Charme der Oper
aus. Kein Wunder, dass dieses Stück sogar für die
29
Entstehung der französischen Opéra comique stilbildend gewesen ist.
Neapel hat Operngeschichte geschrieben. Neben
Pergolesi, den Begrùnder der Opera buffa, tritt
Alessandro Scarlatti (1659–1725), der Begründer
der «Da-Capo-Arien». Er hat die Satztechnik ent-
sprechend abgeändert, um dem virtuosen Moment
der Solisten Rechnung zu tragen.
Pergolesi starb ein Jahr vor dem Bau des Teatro
San Carlo. Im Jahre 1737 legte König Karl III.
den Grundstein zum Opernhaus. Innerhalb von nur
acht Monaten war der Bau abgeschlossen. Am
Einführung
4. November, dem Namenstag des Königs, fand die
Eröffnungsfeier statt. Es wurde die Oper «Achille in
Sciro» von Metastasio aufgeführt. Viele Werke von
Rossini, Donizetti («Lucia di Lammermoor») und
Bellini haben im Teatro San Carlo ihre Uraufführung erlebt. Übrigens war es der berühmte Impresario Domenico Barjaba, der – für Neapel so bezeichnend – vom Zirkusdirektor zum Operndirektor
wechselte und viele Talente entdeckt und gefördert hat. So soll er z. B. Rossini verpflichtet haben,
zwei Opern pro Jahr für das Teatro San Carlo zu
komponieren. Auch Giuseppe Verdi weilte in dieser
Stadt, mit der er sich allerdings nicht anfreunden
konnte. Einmal waren es die Sänger, von denen er
keine hohe Meinung hatte, dann der Stil der Inszenierungen und schliesslich ein Publikum, das
ihn, den grossen Musiker, heute verdammte und
morgen hochleben liess. Während seine Oper «Simone Boccanegra» gefeiert wurde, pfiff man seine
«Alzira» aus. Ausserdem musste Verdi immer wieder gegen die «hochnotpeinliche Zensur» kämpfen,
die, wie er sagte, Galgen aus den Opern vertreiben wollte, um sie im Lande aufzustellen. Einen
Kampf gegen die Zensur aber konnte der grosse
italienische Operndramatiker siegreich beenden.
Nachdem die im Auftrag der Stadt Neapel komponierte Oper «Un Ballo in Maschera» von der Zensur
verstümmelt wurde, ging Verdi vor Gericht, um die
Aufführung, an die er vertraglich gebunden war,
30
zu verhindern. Seine Worte waren beeindruckend:
«Ich frage schliesslich, ob in dem Drama der Zensur noch, wie in meinem, vorhanden ist: Der Titel?
Nein. Der Dichter? Nein. Die Charaktere? Nein. Die
Situation? Nein. Die Auslosung? Nein. Der Ball?
Nein.» Verdi bekam Recht. Neapel indes war nun
seiner Kunst nicht mehr würdig. Die Oper wurde,
weniger scharf zensiert, später im Teatro Apollo in
Rom uraufgeführt.
Neben glänzenden kulturellen Ereignissen wurde
im Teatro San Carlo aber auch ein dunkles Kapitel
der italienischen Geschichte aufgeschlagen: 1922
feierte man hier den faschistischen Parteikongress
und brach anschliessend zum «Marsch auf Rom»
auf.
(Ehrenfried Kluckert: Neapel – Kampanien.
München: Artemis & Winkler 1993. S. 125.)
31
Die Zeit der Griechen und Römer
32
Die Zeit der Griechen und Römer
Phlegräische Felder, Übersicht
1
2
3
4
5
6
7
8
9
Cuma: Antro della Sybilla
Arco Felice
Lago d’Averno
Apollotempel
Baia: Parco Archeologico
Capo di Miseno
Bacoli: Piscina Mirabilis
Pozzuoli: Serapeum, Amphitheater
Solfatara: Schwefelgrube
33
Die Zeit der Griechen und Römer
34
Die Phlegräischen Felder
Bereits in der komplexen Welt der griechischen
Mythologie hatten die Gestade des Golfs von
Neapel einen festen Platz. Auf ihren frühen Entdeckungsfahrten kreuzten die sagenhaften Helden
auch durch die tyrrhenischen Gewässer und beobachteten die unbekannten Gefilde wahrscheinlich mit gespannter Aufmerksamkeit. Die bizarre
Kraterlandschaft mit der merkwürdigen Rauchentwicklung muss ihnen dabei besonders aufgefallen
sein; aktive vulkanische Oberflächenformationen
waren ihnen vermutlich fremd. Die aus der heissen Erde aufsteigenden Dämpfe schienen nichts
Gutes zu verheissen. Hatten sie gar die Unterwelt
erreicht, das Totenreich des Hades, wo in ihrer
mythologischen Phantasie die Schatten der Toten herrschten? Jedenfalls kam den griechischen
Heroen diese vulkanisch geprägte Golfküste gespenstisch und unmenschlich vor. Sie gaben ihr
den Namen «brennende Erde», Campi flegrei, und
machten sie zum Aufenthaltsort der Titanen, der
finsteren Söhne und Töchter der Erdmutter Gäa.
Den Eingang zur Unterwelt erkannten sie gar in
dem dunklen Kratersee Lago d‘Averno, den kein
Vogel lebend überqueren konnte, weil er vom
sagenhaften Fluss der Unterwelt (Styx) gespeist
wurde und giftige Dämpfe aufsteigen liess. Nach
seinen Irrfahrten durch das Mittelmeer betrat der
Pietro Fabris: I Campi Flegrei con lago di Agnano visti dai Camaldoli (1776)
In: Nicola Spinosa: Vedute napoletane dal Quattrocento all’Ottocento. Napoli: Electa 1996. S. 102
Troja-Kämpfer Äneas hier erstmals italischen Boden, um von der Prophetin Sibylle sein Schicksal
zu erfahren. Und aus den Homerischen Schriften
erfahren wir, dass auch die Sirenen, diese unwiderstehlichen Fabelwesen, die nach der geglückten
Durchfahrt des Odysseus den Tod fanden, an den
sagenumwobenen Gestaden des Golfs beheimatet
waren. (Michael Machatschek: Golf von Neapel. Erlangen:
Michael Müller Verlag 1999. S. 14.)
Die Zeit der Griechen und Römer
Der Beginn der griechischen Westkolonisation
Nach etwa einer Generation von Siedlern hatten
sich die Pithekoussaner so in ihre neue italische
Heimat eingelebt, dass sie daran gehen konnten,
Filialen zu gründen. Auf dem Festland, praktisch
noch im Blickfeld der Neuischitaner, lag eine ähnliche topographische Situation vor wie am Monte
Vico, ein ins Meer hinausragender Felsvorsprung,
gross genug, um darauf zu siedeln. Doch dieser
Burgberg war im Gegensatz zum Monte Vico bereits bewohnt von Angehörigen der sog. «FossaKultur», in deren Gräbern Keramik der etruskischIazischen «Villanova?Kultur», illyrische Produkte
und auch Importware aus Attika und Euböa gefunden wurden.
Hier konnte man also nicht einfach dazwischen
siedeln, hier musste mit Gewalt das Gebiet angeeignet werden. Es entstand die neue Form der Kolonie, mit einem militanten Führer aus der Adelsschicht der hippobotai von Chalkis. Die Kolonisten
nannten ihre neue Stadt Kyme.
Mit Kyrne beginnt das Kapitel der griechischen
Westkolonisation. Der Grund für diese Auswanderung dürfte der Lelantinische Krieg gewesen
sein, der auf Euböa zwischen Chalkis und Eritrea
ausgebrochen war. Pithekoussai konnte die täglich
sich mehrenden Flüchtlinge aus der Heimat nicht
ernähren. Von Kyme bis Capua erstreckte sich
35
aber eine der fruchtbarsten Ebenen des italischen
Stiefels. Die militärische Landnahme und die Organisation dieser strategischen Siedlungsform
bedurften anderer gesellschaftlicher Strukturen
als die Handelsniederlassung Pithekoussai. Synchron zur griechischen Kolonie entstand in Etrurien
die befestigte Stadt als Gegenstück zur Polis. Ein
neues Kapitel der Kulturgeschichte Italiens hatte
mit der Gründung von Kyrne eingesetzt.
Ähnlich wie an anderen Stellen der Phlegräischen
Felder fällt es dem heutigen Besucher schwer, sich
die ursprüngliche Topographie vor Augen zu führen. Der Burgberg, die Akropolis von Kyme, hatte
aber, wie Luftaufnahmen deutlich machen, dieselben Vorzüge wie der Monte Vico. Die salzigen
Wasser der ursprünglich viel ausgedehnteren Lagunenseen, Lago di Fusaro im Süden und Lago di
Licola im Norden, umspülten tatsächlich den Fuss
der Akropolis. Ersterer hiess bei den Römern noch
Acherusia Palus (Sumpf des Unterweltflusses
Acheron).
Die Euböer wurden von Seefahrern und Händlern
zu Ackerbauern. Die fruchtbare kampanische Ebene hatte auch in diesem Falle den Eindringling
gewandelt zum sesshaften Besteller des Landes.
Die Kymäer hatten offensichtlich auch sofort damit begonnen, um den Burgberg herum durch ein
System von Gräben und Kanälen (fossa graeca)
die Sümpfe zu regulieren und zu entwässern. Die
kulturellen Konsequenzen dieses ersten Sesshaftwerdens griechischer Kolonisten auf dem Festland
können gar nicht überschätzt werden. Noch in den
homerischen Gesängen wird, wenn von italischen
Gestaden die Rede ist, das Bild unterentwickelter
Urweltlichkeit gezeichnet: Gigantomachie, Hexen
(Circe), Zauberwesen (Sirenen), Menschenfresser (Poliphem), finstere Urmenschen (Kymmerer)
usw. Die einheimische Bevölkerung erschien ihnen
ungebildet und rückständig, ihre Sprache unverständlich, kurz: Barbaren. Der Same, der in Pithekoussai gelegt wurde, ging in Kyme zur vollsten
Blüte auf. Von Kyme aus wurden am Stretto zur
Kontrolle der Schifffahrtsverbindungen mit der
Heimat die Kolonien von Messina (Zankle) und
Reggio (Reghion) gegründet. Pithekoussai verfiel.
Unter den Neuankömmlingen befanden sich Angehörige eines Stammes der Graioi oder Graikoi. Weil
die Kymäer die ersten Griechen waren, mit denen
die benachbarten Latiner engen Kontakt hatten,
nannten sie alle anderen Hellenen nach ihnen
Graeci, also Griechen. Der kulturelle Einfluss, Götterwelt, Tempelbau, Bestattungformen, Sprache,
Kunst usw., nahm von Kyme aus seinen raschen
Siegeszug, so dass später noch, als die Römer
alle Griechenstädte längst ihrem Reich einverleibt
hatten, eben diese sagen konnten: Graecia captaferum victorem coepit (das eroberte Griechenland
besiegt den wilden Sieger).
Die Zeit der Griechen und Römer
Pozzuoli: Serapis Tempel
36
Die Zeit der Griechen und Römer
37
Pozzuoli: Amphitheater
Die Zeit der Griechen und Römer
Aus der frühesten Siedlungszeit von Kyme können
wir nur wenig Konkretes rekonstruieren. Wiederum
sind es Grabfunde, genauer die Nekropole von Licola (3 km nördlich der Akropolis), die uns von der
Gegenwart von Menschen und ihren sozialen Verhältnissen Kunde geben. Eine Reihe von Gräbern,
besonders das Grab 104, dieser Frühzeit von Kyrne
belegt ganz deutlich die Existenz einer aristokratischen Oberschicht, es handelt sich dabei um den
in Pithekoussai bislang vermissten Prototyp des
Heroen- oder Fürstengrabes. An der Lagune von
Licola lag auch der älteste Tempel der Göttermutter Hera in Kyme. Der älteste Tempel auf dem Burgberg war Apollo, dem Kultur- und Kolonisationsgott
schlechthin, geweiht. Von hier aus ging alle Verehrung dieses Gottes bei Etruskern und Latinern aus.
Zur eigentlichen Hauptstadt der Campania, Capua,
bestanden engste Beziehungen. Doch da diese Inlandstadt bald unter etruskischen Einfluss geriet,
waren Spannungen vorgezeichnet.
Urteilt man nach den Grabbeigaben, so hat Kyme
seine grösste Blütezeit im 6. Jahrhundert v. Chr.
erlebt. Zur Griechenstadt gehörten weite Teile der
fruchtbaren Ebene zwischen der Mündung des
Liternus und Aversa. Auch das Anbaugebiet der
berühmten Weine vom Berg Gaurus gehörte den
Kymäern.
Solch fruchtbarer Besitz gebiert Neider. Eine Allianz
aus Tyrrhenern, Umbriern und Daumern versuchte
38
524 v. Chr., den strategisch günstigen Ankerplatz
mit seinem fruchtbaren Umland mit Waffengewalt
an sich zu bringen. Die schon erwähnten Gräben
zur Regulierung der Sumpfwasser erwiesen sich
dabei für den zahlenmässig überlegenen Gegner
als verhängnisvolles Hindernis. Hinzu kam, dass
die Kymäer gerade damals in den Reihen ihrer
Aristokratie einen genialen Feldherrn besassen:
Aristodemos. Dieser drängte anschliessend die
Etrusker bis nach Latium zurück. Vielleicht durch
seinen militärischen Erfolg verführt, schwang sich
dieser Retter des Vaterlandes alsbald zum Tyrannen von Kyme auf. Auf seine Initiative hin entstand
wahrscheinlich die Neubebauung der Akropolis mit
den beiden spätarchaischen Tempeln zu Ehren der
Hauptgötter der Kymäer, Zeus und Apollo. Deren
Basen sind die ältesten archäologisch gesicherten
Baureste von Kyme. Obwohl Aristodemos ständig
im Krieg mit den Etruskern stand, verbanden ihn
enge politische Beziehungen mit Tarquinius Superbus, dem letzten etruskischen König von Rom,
der nach seiner Vertreibung (508 v. Chr.) im Jahr
darauf in Kyme als Exilant starb. Dabei machte Tarquinius seinen politischen Freund Aristodemos zum
Erben seiner königlichen Ansprüche auf Rom. Doch
Kyme wurde nicht zum Erben Roms, vielmehr wurde letzteres in vielerlei Hinsicht zum Erben Kymes.
Durch die Entmachtung der Etrusker in Kampanien
und im südlichen Latium ermöglichte Kyme sowohl
den Aufstieg Roms als auch das Vordringen der
Samniten in die kampanische Ebene. Nach der
Absetzung des Aristodemos erwies sich die zurückgebliebene, nun wieder demokratische Polis
nicht mehr als widerstandsfähig genug, um den
Gang der Entwicklung noch massgeblich zu beeinflussen. Als die Etrusker letztmals versuchten, mit
ihrer Flotte verlorenes Terrain im Süden zurückzugewinnen, waren die Kymäer aus eigener Kraft
zur Verteidigung ihrer Interessen nicht mehr fähig.
Sie baten das mächtige Syrakus um Beistand. Der
Seesieg Kymes 474 v. Chr. über die Etrusker war
eigentlich ein Sieg Hierons I., der für ca. vier Jahre
allein über den Golf von Neapel verfügte.
Der Abzug der Syrakusaner brachte die Athener
auf den Plan. Doch inzwischen hatten sich im
Hinterland die verschiedenen Stämme der Samniten zu einer Art Nation zusammengeschlossen
und zunächst Capua (424) und von dort aus drei
Jahre später Kyme erobert. Das nun samnitische
Kyme bedeutete aber nicht sofort den Untergang
der griechischen Kultur. Zwar wurde die neue
Sprache das Oskische, aber nun setzte die eigentliche Hellenisierung der Samniten ein, wie z.
B. der Grabtholos der oskischen Familie der Heii
aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. beweist. Bereits
im folgenden Jahrhundert im Rahmen der Samnitenkriege war Kyme als «civitas sine suffragio»
(334) römisch geworden und hiess von nun ab
Die Zeit der Griechen und Römer
39
1 Antro della Sibilla – 2 Cripta Romana – 3 Apollon-Tempel – 4 Jupiter-Tempel
Die Zeit der Griechen und Römer
«Cumae». Politisch und wirtschaftlich war Cumae
so unbedeutend geworden, dass es mit Capua zusammengelegt wurde zur praefectura Capuam Cumana. 180 v. Chr. schliesslich baten die Cumaner
aus Angst vor der entstehenden Konkurrenz von
Pozzuoli den Senat von Rom, das Lateinische als
offizielle Sprache einführen zu dürfen. Die folgende
Geschichte Cumaes bis zur endgültigen Zerstörung
Anfang 13. Jahrhunderts ist zu belanglos, als dass
sie wiedergegeben zu werden verdiente.
(Rolf Legler: Der Golf von Neapel. Köln: DuMont
1990. S. 38–41.)
Antro della Sibilla
Als bei den Ausgrabungen zwischen 1925 und
1930 eine hohe künstliche Grotte unter dem Burgberg freigelegt wurde (sog. Grotta romana), war
das für die Ausgräber selbstverständlich die Grotte
der Sibylle. 1932 jedoch wurde ein anderer 131,5
in langer, ca. 5 m hoher und 2,4 m breiter Gang mit
archaisch anmutendem trapezoidalem Querschnitt
entdeckt. Für Amedeo Maiuri war dies nun unzweifelhaft die Grotte der Sibylle. Wer bzw. was aber
war diese Sibylle?
Sibylle ist Name einer sagenhaften Frau, die in Mar-
40
pessos bei Troja lebte; sie weihte sich dem Dienste
des Apollon, der ihr die Gabe der Weissagung verlieh. Sie soll ihre Orakel in Rätselform ausgedrückt
und sie auf Blättern niedergeschrieben haben.
Aufgrund des Ruhmes, den sie erwarb, wurde ihr
Name bald zur Gattungsbezeichnung, und viele
Orte rühmten sich einer Sibylle. Am berühmtesten
waren die Sibyllen von Erythrai, Libyen und Cumae
in Kampanien. Ihre Wahrsagungen fanden sich auf
Schriftrollen aufgezeichnet im Tempel deponiert. Der Sibylle von Cumae, Deïphobe, versprach einmal Apollon alles, was sie wollte, wenn sie seine
Geliebte würde. Sie willigte ein und verlangte so
viele Lebensjahre, wie ein Kehrichthaufen Staubkörner enthielt; die Zahl belief sich auf tausend.
Leider hatte sie nicht zugleich auch um ewige
Jugend gebeten; und da sie ApolIon trotzdem
verschmäht hatte, hörte sie nicht auf, zu altern.
Schliesslich war sie so alt, dass sie, völlig eingeschrumpft, in einer von der Höhlendecke herabhängenden Flasche hockte, und wenn ihre Kinder
sie nach ihren Wünschen fragten, sagte sie nur:
«Ich will sterben.»
Ob aber jemals in vorhellenischer oder noch in
archaischer Zeit überhaupt ein Kult der Sibylle in
Cumae existierte, gilt als nicht gesichert. Für das
7. Jahrhundert v. Chr. ist inschriftlich nur ein HeraOrakel bezeugt: Hera als Göttin der Fruchtbarkeit
und des Todes.
Die Zeit der Griechen und Römer
Antro della Sibilla
41
Die Zeit der Griechen und Römer
Castello di Baia
42
Piscina Mirabilis: Grundriss
Die Zeit der Griechen und Römer
Piscina Mirabilis
Diese größte Zisterne des Römischen Reiches ist
das interessanteste Denkmal der Phlegräischen
Felder. Der Behälter sollte die Flotte mit Süßwasser
versorgen. Er ist über 70 m lang und ca. 30 m breit.
Das Wasser hat man aus den immerhin 68 km
entfernten Monti Irpini bei Avellino herangeführt.
Die Wasserleitung versorgte nicht nur Misenum,
sondern das gesamte Gebiet von Neapel. Zwei
Treppen führen in das Innere und überraschen den
Besucher mit einer phantastischen Architektur:
Zwölf Reihen von je vier kreuzförmigen Pfeilern, die
durch Bögen untereinander verbunden sind, tragen
das Tonnengewölbe. Das Innere ist mit Signinum
verkleidet, einer Mischung aus Kalk, Pozzulanerde
und Backsteinsplittern. An der Westwand hat sich
der Zufluß befunden. Man vermutet, daß auf dem
Dach Schöpfräder montiert waren, um Wasser
zu entnehmen. Das mittlere Querschiff war das
Klärbecken. Sein Niveau ist etwas tiefer und leicht
geneigt. An seinem unteren Ende befand sich eine
Abflußöffnung. Das Becken dürfte 12 000 m³
Wasser gefaßt haben.
(Ehrenfried Kluckert: Neapel – Kampanien
München: Artemis & Winkler 1993. S. 144–146.)
43
44
7
4
3
6
2
1
5
Unterirdisches Neapel
Paolo di Caterina: Napoli Sotterranea – Un iti-nerario del sottosuolo
partenopeo
riferimento «Le cavità sotterranee e Napoli»
Unterirdisches Neapel
45
46
16
8
Paolo di Caterina: Napoli Sotterranea – Un iti-nerario del sottosuolo
partenopeo
riferimento «Le cavità sotterranee e Napoli»
10
9
12
11
15
14
13
Unterirdisches Neapel
Unterirdisches Neapel
47
Unterirdisches Neapel
48
Unterirdisches Neapel
San Lorenzo Maggiore
gotische Kirche
darunter griechisch-römischer Markt
Via Tribunali, 316
081 454 948
Napoli sotterranea
Tuffsteinhöhlen
Piazza San Gaetano, 68
081 296 944
Chiesa e Catacombe di San Gennaro
Via di Capodimonte
081 741 10 71
Chiesa e Catacombe San Gaudioso
Piazza Sanità
Hinter dem Hauptaltar der Kirche Santa Maria alla
Sanità (17. Jahrhundert) befindet sich der Zugang
081 544 13 05
Chiesa e Catacombe di San Severo alla Sanità
Piazzetta San Severo a Capodimonte, 81
081 544 13 05
49
Der napolitanische Tuff
Die Wege der unterirdischen Stadt sind faszinierend. Es handelt sich um ein zweites Neapel
unterirdisch parallel zur Stadt an der Oberfläche.
Zwischen den griechisch-römischen Resten und
Katakomben, Höhlen und Zisternen, Brunnen und
natürliche wie auch künstliche enge Durchgänge,
führen ungezählte geheime Wege über viele Kilometer von einem Ende der Stadt zum anderen.
Über tausende von Jahren wurde der grosse Block
aus Tuffstein, auf dem die Stadt ruht, bearbeitet.
Die ersten Werke fingen vor ca. 5000 Jahren an,
fast prähistorisch.
Vor ca. 2000 Jahren fingen erst die Griechen und
dann auch die Römer an, in grosssem Stil den
Tuffstein zu bearbeiten. Auf der einen Seite gruben sie aus grösseren Tiefen , um Acquedukte,
Friedhöfe und unterirdische Gänge zu bauen, auf
der anderen Seite benutzten sie das Baumaterial
für Umgebungsmauern, Tempel und Häuser für die
Bewohner. Später gruben die Christen im Fels, um
Schutz vor religiösen Verfolgern zu finden. In der
Renaissance blühte die Stadt geradezu auf. In der
gleichen Grösse des Gebäudes überirdisch entstand eine Höhle unterirdisch, da das erworbene
Material für den Bau des Gebäudes verwendet
wurde. Der gelbe Tuffstein ist ein ausgezeichnetes
Baumaterial und wird «tufo napoletano» genannt.
Die unterirdische Stadt
Vom Meer bis zu den Hügeln kann der Tourist seine
Ausflüge in der Unterwelt machen. Beeindruckend
sind die Unterkünfte aus der Zeit des 2. Weltkrieges, die in dem meanderartigen Labyrinth des
antiken Acquedukts entstanden. Die antiken Wasserwege, die durch enge Schläuche, Treppen und
unzählige Rampen führen, wurden zu Sicherheitswegen. Die Zisternen wurden mit elektrischem
Licht versorgt. Sie wurden mit Notbetten und mit
Not-toiletten ausgestattet. So fanden Tausende in
den ehemaligen antiken Wasserbecken Schutz vor
den Bomben.
Einer der Zugänge zur Unterwelt befindet sich in via
Tribunali neben der Kirche San Paolo Maggiore in
piazza San Gaetano. Die Führung dauert etwa zwei
Stunden. 150 Stufen führen in die Welt 30–40 Meter unter dem Strassenniveau der via Anticaglia bis
San Gregorio Armeno. Über ca. 10 000 m2 breitet
sich ein Netz von engen Gängen und Zisternen des
antiken römischen Acquedukts. Das Wasser wurde
von der Quelle des Serino hineingeleitet, um der
Stadt Wasser zu jeder Zeit zu sichern. Jedes Gebäude hatte seinen Brunnen, der wiederum eine
Verbindung durch enge Gassen, gegraben in dem
Tuffstein, bis zu den grossen Wasser-Sammelbecken hatte. Faszinierend ist dieser Ausflug in die
Antike bis hin zu den Dramen des 2. Weltkrieges.
Unterirdisches Neapel
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Ein weiterer Zugang führt in via S. Anna di Palazzo
unter die Quartieri Spagnoli. Eine Wendeltreppe
führt ca. 40 Meter unter die Erde. In einem Areal
von engen Gängen und Durchgängen über etwa
3000 qm fanden mehr oder weniger 4000 Menschen Zuflucht während des 2. Weltkrieges. Auch
hier wurde der Gebrauch der antiken Zisternen
für die Bedürfnisse der Zeit verändert. Man findet
Keramik-Isolatoren der elektrischen Anlage, Ecken
für die «Toiletten», in den Tuffstein gehauene Bänke und Sitze und unzählige Grafitti, die über die
Geschehnisse dieser schwierigen Zeit berichten.
Katakomben
«Napoli sotterranea» bedeutet nicht nur antike
Acquedukte und griechsch-römische Ausgrabungen, sondern auch unterirdische Gräber und
Katakomben aus frühchristlicher Zeit. Versteckte
Orte einer vergangenen Zeit, Ausdruck eines einzigartigen architektonischen, künstlerischen und
geistlichen Vermögens. Hauptsächlich im östlichen
Teil der Stadt befinden sich sehr viele Katakomben, die zwischen dem 2. und dem 9. Jahrhundert n. Chr. entstanden. Eine Zeit, in der sich die
Christen vor den römischen Milizen verstecken
mussten. Nur in gut geschützten Orten konnten
sie ihre Toten begraben, ihren christlichen Gebräuchen nachgehen und vor Verfolgern sicher sein. So
sind in dem weichen Tuffstein wahre Labyrinthe
San Lorenzo Maggiore
Unterirdisches Neapel
aus veschiedensten Formen entstanden: geometrische Muster, ge-löcherte Räume und Formen
erdenklicher Art. Die Wände wurden mit Affresken
verschiedener Stile geschmückt.
Ausgrabungsstätte San Lorenzo
Unter der Kathedrale San Lorenzo Maggiore
der Franziskaner befindet sich weitläufig und in
Schichten die Zeugen der griechisch-römischen
Zeit. Hier geht man in Neapolis spazieren. In der
antiken agorà, dem Hauptplatz der antiken griechischen Stadt. Später das Foro der Römer. Die
Archeologen zeigen uns eine Welt der Vergangenheit. Der Eingang ist im Kreuzgang der Abtei aus
dem 18. Jahrhundert. Eine Treppe führt hinunter
durch die Zeiten der Geschichte. Zunächst finden
sich Reste der mittelalterlichen Fürstenstadt. Hier
im Sitz von San Lorenzo vereinigten sich im 7.
Jahrhundert n. Chr. die Volksvertreter, gewählt zur
Verwaltung der Justizangelegenheiten. Am Ende
der Treppe angekommen werden wir um 2.500
Jahre zurückversetzt. Etwa 600 v. Chr. wurden
die Hauptstrassen gebaut, die heutigen Strassen
liegen genau darüber. Die Spuren der Karren sind
deutlich sichtbar, ein Geschäft nach dem anderen,
wie der Bäcker mit seinem Ofen in Kuppelform (wie
heute noch in Gebrauch), die Wäscherei mit den
Kanälen für den Ablauf des Wassers, das Aerarium
mit dem Stadtschatz und den Spuren der Eisenbar-
51
ren und dem verstärkten Türrahmen, die Zisterne,
der Criptoportico, der überdachte grosse Markt mit
den langen Reihen von Verkaufstischen aus Stein
und den Nischen für die Lagerung der Ware. Es
handelt sich hier um das Zentrum der polis greca
und genau darüber die piazza Gaetano, hier waren
die wichtigsten Gebäude der Stadt Neapolis wie
das grosse unbedachte Theater und das kleinere
bedachte Theater, der Tempel der Dioscuri, heute
in Kathedrale San Paolo Maggiore umgewandelt.
Das Macellum oder der Lebensmittelmarkt befinden sich entlang unter dem rechteckigen Kreuzgang der Abtei, und in der Mitte des Hofs ein mit
Mosaik gepflasterter Boden, dann der Tholos, ein
kleiner runder Tempel mit vielfarbigem Marmor
geschmückt.
Catacombe di San Gennaro
San Gennaro ist der sehr beliebte Stadtpatron.
Überall in der Stadt findet man sein Bild . Der Kult
um ihn ist auch heute noch sehr aktuell. Nicht nur
der Dom auch die Katakomben, die sich auf dem
Wege nach Capodimonte bei der Kirche Madre del
Buon Consiglio befinden, sind ihm geweiht. Dort
kann das älteste Portrait (5. Jahrhundert n. Chr.)
von ihm betrachtet werden. Die Katakomben sind
reich geschmückt mit Affresken. Schlichter sind
die aus frühchristlicher Zeit Ende des 2. Jahrhunderts. Ursprünglich war an diesem Ort ein hoch-
herrschaftliches Grab, das dann der christlichen
Gemeinde geschenkt wurde, die dann eine Begrabungsstätte einrichtete. Der erste Stadtpatron
Sant’Agrippina wurde hier bestattet.
Catacombe di San Gaudioso
Auch diese Katakomben sind mit sehr schönen
Affresken geschmückt, die zu den wichtigsten vormittelalterlicher Zeit gerechnet werden. Hinter dem
Hauptaltar der Kirche Santa Maria alla Sanità (17.
Jahrhundert) befindet sich der Zugang. Einzig und
auch berührend ist hier der Ritus. Die Toten wurden auf aus Stein gehauene Sitze gerichtet, die in
der Mitte ein Loch haben. Darunter befand sich ein
Gefäss, dass die sich auflösenden Teile des Körpers auffangen sollte. Erst wenn das Skelett übrig
blieb, konnte die Beerdigung statt finden.
Cimitero delle Fontanelle
Makaber und beeindruckend ist die grösste und
bekannteste Begräbnisstätte der Stadt. Ein sehr
eigenartiger Ort voller einzelner Schädel und Knochen, aufgehäuft zu Bergen, die ganze Höhlen
auffüllen. Diese Höhlen wurden erstmals im Jahre
1656 als Begräbnisstätte benutzt. Täglich starben 1500 Menschen an der Pest. Die Friedhöfe
waren voll. An Plätzen und Strassen wurden Gräben ausgehoben. Am Ende der Epidemie wurden
die namenlosen Toten eingemauert. So ging das
Unterirdisches Neapel
jahrhundertelang weiter bis laut napoleonischer
Gesetze eine Auflösung verlangt wurde. Die Gebeine wurden in die Höhlen gebracht. Nach dem
Volksritus musste der Ubergang vom Fegefeuer ins
Paradies beschleunigt werden. So wurden die Totenschädel poliert und den Gebeinen Blumen und
Lämpchen gebracht, mit Gebeten und Gesängen
begleitet. Der Kult wurde von sehr vielen ausgeführt. Jeden Montag fuhr man zum Friedhof, um
sich der Schädel zu widmen, als handelte es sich
um die Seelen der eigenen Lieben. Bis in die fünfziger Jahre fuhr extra eine Strassenbahnlinie dort
hin.
Purgatorio ad Arco
Der gleiche Glaube und der gleiche Ritus wie im
Cimitero delle Fontanelle in der Kirche S. Maria
delle Anime del Purgatorio ad Arco gegenüber
dem charakteristischen mittelalterlichen Portico
des palazzo d’Avalos in via Tribunali. Man erkennt
sofort die vier Säulen mit den Gebeinen und dem
Totenschädel darüber. Sie sind aus Bronze und auf
Hochglanz poliert, weil die Gläubigen die Schädel
berühren, um sich ihnen zu widmen. Im Volksmund wird daher auch die Kirche die «Kirche der
Totenschädel» genannt. Innen befindet sich eine
kleine Treppe, die zur unteren Kirche aus dem 17.
Jahrhundert führt. Hier versammelten sich sowohl
das einfache und abergläubische Volk als auch die
52
Adeligen zum Gebet für die unbekannten Seelen.
Man zelebrierte mitunter bis zu 60 Messen am Tag
und erhoffte sich dann kleine Gefallen und erfüllte
Wünsche. Obwohl die Kirche solch einen Kult nicht
erwünschte, so wurde er doch immer noch bis
1980 gepflegt. Die Kirche blieb von da an bis 1992
geschlossen.
Griechisch-römische Reste
In Neapel findet man an unterschiedlichen Orten
noch die griechischen Mauern, die im 6. Jahr-hundert vor Christus gebaut wurden. Besonders gut
sieht man sie in piazza Bellini zwischen Porta Alba
und S. Pietro a Maiella. Grosse Tuffstein-Blöcke,
sauber geformt und sorgfältig miteinander verkettet, zeigen sie bildlich einen Teil der Doppelmauer
und dem Stadtbild von «Neapolis».
Der Dombezirk
Wo sich heute Neapels Dom erhebt, befand sich
in griechisch-römischer Zeit ein östlich der Agora
gelegener Tempelbezirk, der seit frühchristlicher Zeit
zunehmend von Gebäuden des neuen Kultes okkupiert
wurde. Der Dombezirk stellt Neapels bedeutendstes
kunst- und kulturgeschichtliches Denkmal dar. Der
Bezirk umfaßt: –den Dom selbst, als eines der bedeutendsten Bauwerke der Sakralkunst in früh-angiovinischer Zeit
– S. Restituta, Neapels älteste Kirche – Baptisterium S. Giovanni in Fonte mit den schön-
sten Mosaiken aus frühchristlicher Zeit
–die Reste der sog. Stefania, zweite Bischofskirche unter Stephan I., um 500 erbaut
–Cappella Minutolo mit den ältesten Grabmälern
und Fresken unter florentinischem Einfluß
–Succorpo (Krypta), ein Hauptwerk der Renais-
sance Süditaliens
–die Cappella del Tesoro di S. Gennaro, Hauptwerk des neapolitanischen Frühbarock und der Malerei in Neapel
– den Bischofspalast aus verschiedenen Epochen
–die Guglia S. Gennaro, die älteste barocke Guglia Neapels, von Fanzago entworfen
San Gennaro – Duomo di Napoli
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Capri – Villa Jovis
Kaiserliche Residenz ausserhalb Roms
Die Ruinen der Kaiservilla auf Capri erlauben uns
eine plastische Vorstellung von der Pracht und den
Ausmassen des einstmaligen Palastes, der elf Jahre lang das Zentrum des römischen Weltreiches war
(26–37 n. Chr.). Das Gebäude wird Villa Jovis genannt, weil Historiker angenommen hatten, der Kaiser habe seine zwölf Villen auf Capri nach römischen
Gottheiten benannt; diese Vermutung ist umstritten.
Obwohl die Villa, die man besser einen Palast nennt,
im Laufe der Jahrhunderte immer wieder geplündert
und ausgeraubt, ja auch von einem Erdbeben verwüstet wurde, ist sie die am besten erhaltene römische
Ruine Capris. Wir bekommen auch eine Ahnung von
den früheren Ausmassen, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass die umbaute Fläche der ausgegrabenen Gebäude ungefähr 7000 m2 beträgt.
Der Grundriss ist einfach: Hat man den Eingang passiert, liegen rechts die fünf Baderäume. Zentrum des
Baues sind vier grosse Zisternen, die das Regenwasser von den Dächern sammelten und mit komplizierten
Leitungen mit den verschiedenen Räumen verbunden
waren, mit den Bädern, mit dem Heizungsraum, wo
das Wasser aufgewärmt wurde, oder mit der Küche.
Vor den Zisternen, zur Meerseite hin, liegen die
Staatsräume des Kaisers, dahinter die kaiserlichen
Wohngemächer, zum Land zu lag die Küche, die
durch Vorratskammern und Magazine von den Zisternen abgeteilt war. Auf der anderen Seite gerät die
Vorstellungskraft des Besuchers in Schwierigkeiten,
weil sich der gesamte Bau mit seinen verschiedenen
Stockwerken und Terrassen über eine Höhendifferenz
von ungefähr vierzig Metern erstreckt. Der Eingang
liegt auf 297 Metern, die oberen Teile liegen auf gleicher Höhe wie die kleine Kirche Madonna del Soccorso, nämlich auf 334 Metern. Im Norden schliesslich
liegt die über 90 Meter lange Loggia, von der aus man
eine einmalige Aussicht auf den Golf von Neapel hat.
In ihrem Ostteil beherbergt sie ein paar kleine Räume,
man vermutet hier eine weitere Küche und vielleicht
einen abgeschirmten Aufenthaltsraum für den Kaiser.
Die Innenarchitektur des Palastes muss man sich
ausserordentlich raffiniert vorzustellen. Da der Kaiser
ein ungewöhnlich menschenscheuer Herrscher war,
wurden eigene Treppenaufgänge für die Dienerschaft
angelegt, damit sich Tiberius unbemerkt und unbeobachtet in seinem Palast bewegen konnte. Besonders gut erhalten sind die Korridore und Magazine
im Keller des Palastes, sie sind aus Ziegeln gemauert.
Selbstverständlich war die Villa einmal ausserordentlich prächtig ausgestaltet. Viel ist davon freilich
nicht mehr zu sehen: einige Mosaikfussböden, ein
paar Säulen. Einer der Mosaikfussböden liegt heute
in Capris Kirche S. Stefano hinter dem Hochalter; ein
Landschaftsrelief und zwei marmorne Brunneneinfassungen können Sie im Museum von Neapel besichtigen. Ganz sicherlich hat der Palast des Tiberius
nicht so ausgesehen, wie ihn die romantische Rekonstruktion von Weichardt zeigt, er war kein Repräsentationsbau, sondern vielmehr eine auf Verteidigung
ausgerichtete Anlage, vor allem zweckmässig.
Archäologen vermuten, dass sich die kaiserlichen
Wohnräume der Villa fast auf der Höhe der Terrasse
der kleinen Kirche Madonna del Soccorso befanden.
Sie waren vom übrigen Palast abgeschieden und
wurden besonders streng bewacht. Zunächst betrat man einen Eingangsraum, der etwas höher liegt,
danach folgten zwei Zimmer, von denen nur eines
direkt mit dem Eingangsraum verbunden war. Selbst
die spärlichen Mosaikreste, die heute noch vorhanden sind, verraten, dass es sich hier um Räume für
eine hochgestellte Persönlichkeit handelte. Vor dem
Eingangsraum lag eine Aussichtsterrasse, die nur für
den Kaiser bestimmt war. Von seinen Räumen aus
konnte der Kaiser sowohl die Loggia als auch die Repräsentations- und Administrationsräume erreichen.
Vor dem Eingang zum Palast weist ein Schild auf den
Salto di Tiberio, den Hinrichtungsfelsen. Hier sollen im
Angesicht des Kaisers zum Tode Verurteilte hinabgestürzt worden sein. Legende oder Wahrheit – das
wird sich nie mit letzter Klarheit feststellen lassen.
(F. Ranft: Capri – Ischia. München: dtv 1990,
S. 81–83.)
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Capri – Villa Jovis
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Capri – Villa Jovis – Bauprogramm
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Capri – Villa Jovis – Bauprogramm
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Capri – Villa Jovis – Bauprogramm
Pläne, Fotos, Artikel «Das Bauprogramm» aus:
Clemens Krause
«Villa Jovis: Die Residenz des Tiberius auf Capri»
Verlag Philipp von Zabern, Mainz am Rhein, 2003
Capri – Villa Jovis – Bauprogramm
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Capri – Casa Malaparte
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Chiesa dell’Annunziata, Lipari, Kupferstich 1894
Malaparte vor der Chiesa dell’Annunziata
Capri – Casa Malaparte
Rohbau, Juni 1940
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Sorrent
Die Stadt
Die den Bergen kurz vorgelagerte Ebene, der Piano
di Sorrento, besteht aus einer dicken Tuffschicht,
die zum Meer hin wie ein gigantischer Aussichtsbalkon über dem Golf abrupt abbricht. Von sagenhaften Teleboern soll Sorrent einst gegründet worden sein. Dann sollen es wieder dorische Siedler
von der Insel Lipara gewesen sein, die ihrerseits
Sorrent gegründet hätten. Immerhin hatte Sorrent
bis in die Spätantike eine vorwiegend griechisch
sprechende Einwohnerschaft.
Der Name Sorrent soll sich von dem der Sirenen
her ableiten. Dies könnte sogar zutreffen. Für Strabon hiess die Spitze der Halbinsel noch Promuntorium Sirenum und der Bergrücken hinter Sorrent
wurde Mons Sirenianus genannt. Die Stadt selbst
hiess bei den Römern allerdings schon Surrentum
und war nur als Oppidum geführt. In Gegensatz zu
Stabiae und ganz nach dem Beispiel von Pompeji
wurde dieses Oppidum nicht zerstört, sondern von
Sulla und Augustus mit römischen Veteranen besiedelt und erhielt den Rang eines Municipiums.
Seit Augusteischer Zeit war Surrentum beliebter
Villenort. Die Villen lagen genau dort, wo seit dem
18. und 19. Jahrhundert die grossen Hotels entstanden sind, an der Nordseite der antiken Stadt,
direkt über dem Abbruch der Tuffplatte. Durch
Gänge, Stollen und Treppen waren diese Nobel-
100
wohnsitze mit dem darunter liegenden Strand
verbunden. Auch Augustus besass in Sorrent eine
kaiserliche Villa. Dort musste in den Jahren 5 bis 7
n. Chr. dessen Enkel Agrippa Postumus seine Zeit
als Verbannter verbringen. Der Sitz der Augustusvilla wird heute unter der Piazza Vittoria und dem
Hotel Sirena vermutet. Auch Agrippa, Nero und Antoninus Plus besassen am Ort eine Villa. Danach
kam Surrentum aus der Mode.
In den nachfolgenden wirren Jahrhunderten gelang
es der schwer zugänglichen und deshalb leicht zu
verteidigenden Hafenstadt, sich weitgehend unabhängig zu halten. Im 10. Jahrhundert gründete
man nach dem Vorbild von Gaeta und Amalfi eine
eigene Seerepublik, deren Ende erst Roger II. von
Sizilien (1137) einläutete. Dazwischen bleibt nennenswert nur die Geburt von Torquato Tasso.
Im 18. Jahrhundert waren es – wie an so vielen
anderen Stellen des Mittelmeers – die sonnenhungrigen Engländer, die nach den Römern die klimatisch und landschaftlich privilegierte Lage von
Sorrent für sich entdeckten.
Andere Nordlichter folgten auf dem Fuss,
allen voran waren es die Dichter, die
den neuen Ruhm Sorrents sangen: Lord
Byron, Stendhal, Gorki, Ibsen, Platen, Wagner oder
Nietzsche sind glanzvolle Namen dieser schier unendlichen Kette. Goethe hatte den Sirenen noch
widerstanden.
Neuzeitlich sind auch die neuen Kulturpflanzen,
anstelle von Olivenbaum und Weinstock nun die
Agrumen, deren Anblick für Goethe so sprechend
für Italien steht und die auch bis heute wesentlich
mit zum Ruhm von Sorrent beigetragen haben: die
Äpfel der Hesperiden der Alten, die Pomeranzen
Goethes und die Zitronen und Orangen der Jetztzeit. […]
Obwohl Sorrent auf griechisch-römischen Fundamenten steht und bei Bauarbeiten ständig neue
Funde gemacht werden könnten […], legt man
auf diese Schätze keinen Wert; ein Pompeji vor der
Haustüre genügt, um dem Kult der Antike zu frönen. Sorrent setzt auf sein Ambiente und ist bisher
damit recht gut gefahren, zum Wehklagen einiger
dort vertretener Antikenliebhaber. Was soll’s? Das
neue Otium ist wichtiger. Die Schätze der Natur,
der ewige Reichtum Sorrents wird um so mehr gepflegt. Im Gegensatz zum nördlichen und östlichen
Teil des Golfes hat sich die Sorrentiner Halbinsel
wenigstens weitgehend ihren alten Charme bewahrt. (Rolf Legler: Der Golf von Neapel. Köln: DuMont
1990. S. 334–336.)
Sorrent
1 Piazza Tasso – 2 Sedile Dominova – 3 SS. Filippo e Giacomo – 4 S. Antonio – 5 S. Maria delle Grazie – 6 S. Franceco – 7 Pal. Correale – 8 Griechisches Stadttor – 9 Römischer Bogen
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Pompeji
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Pompeji
Pompeji (lateinisch Pompeii, italienisch Pompeï)
war eine antike Stadt in Campanien, am Golf von
Neapel gelegen, die wie Herculaneum und Stabiae
beim Ausbruch des Vesuvs am 24. August 79 n.
Chr. untergegangen ist.
In seiner etwa siebenhundertjährigen Geschichte
wurde Pompeji von Oskern, Samniten, Griechen,
Etruskern und Römern bewohnt und geprägt. Bei
einem gewaltigen Ausbruch des Vesuvs wurde die
Stadt im Jahre 79 verschüttet, dabei nahezu perfekt konserviert und im Laufe der Zeit vergessen.
Nach ihrer Wiederentdeckung im 18. Jahrhundert
begann die zweite Geschichte der Stadt, in deren
Verlauf Pompeji zu einem Meilenstein der Archäologie und zu einem Schlüssel der Erforschung der
antiken Welt wurde. Pompeji, die wohl am besten
erhaltene antike Stadtruine, wurde zu einem bekannten Begriff, der in der Neuzeit stark rezipiert
wurde und auch in viele Lebensbereiche beeinflussend ausstrahlte.
Pompeji liegt in der italienischen Landschaft Kampanien, am Fusse des Vesuvs, an der Mündung
des Flusses Sarno in den Golf von Neapel. Die
Stadt wurde auf einem durch frühere Ausbrüche
entstandenen Lavaplateau angelegt, das im Süden
und Teilen des Westens steil, zum Norden und Osten hin jedoch nur leicht abfiel. Rekonstruktionen
haben ergeben, dass die Stadt in der Antike viel
näher am Meer lag (zur Zeit 700 Meter entfernt)
104
als heute. Die Mündung des schiffbaren Sarno
war offenbar durch Lagunen geschützt und diente
schon früh griechischen und phönizischen Seeleuten als sicherer Hafen und Umschlagplatz für ihre
Waren. Zudem war der Boden im Umland nicht
zuletzt wegen der früheren Ausbrüche des Vesuvs
sehr fruchtbar.
Der Untergang
Bereits mehrere Tage vor dem Ausbruch hatte
es Vorzeichen für eine Aktivität des Vesuvs gegeben, weshalb ein Teil der Einwohner die Stadt
vorsichtshalber schon verlassen hatte. Die Eruption schleuderte Unmengen von Asche, Lava und
Gasen in die Atmosphäre. Diese Wolke wurde vom
Wind über das Land in Richtung Pompeji getragen.
Kurz nach Beginn des Ausbruchs begann es Bimsstein zu regnen. Dieser Bimsstein brachte zahllose
Dächer zum Einsturz, blockierte die Türen und
schloss die Bewohner der Stadt ein. Doch unter
dem Bimssteinstaub befanden sich auch grössere
Brocken, die mit hoher Geschwindigkeit auf die
Erde prallten.
Während einer kurzen Ruhepause verstürzte der
Schlot. Die nächste Eruption räumte ihn wieder
und die Gewalt des Ausbruchs nahm rasch zu.
Der Schlot verstürzte erneut und wurde ein weiteres Mal geräumt. Das gasreiche Magma der
Tiefe stieg im Schlot empor, wurde durch heftige
Explosionen zerstäubt und in einer sich immer
mehr steigernden Folge von starken Ascheneruptionen gefördert. Der damit erreichte Höhepunkt
des Ausbruchs war vermutlich von heftigen vulkanischen Beben begleitet. Gleichzeitig verwandelte
ein wolkenbruchartiger Eruptionsregen auf dem
Westhang des Vulkans grosse Aschemengen in
Schlammströme.
Durch den Auswurf enormer Massen pyroklastischen Materials waren der Schlot und der
obere Teil der Magmakammer entleert worden,
so dass das Dach der Magmakammer längs der
Bruchlinien zusammensackte. Aus einer dieser
Bruchlinien drang Magma bis zur Oberfläche und
ergoss sich über das Sumpfgelände am Nordfuss
des Monte Somma. Durch den Zusammensturz
der Gipfelregion entstand ein Riesenkrater von 6
km Durchmesser, in dem sich in der Folgezeit der
Kegel des heutigen Vesuvs bildete.
Als sich der Vesuv nach seinem achtzehnstündigen Ausbruch wieder beruhigt hatte, waren die
meisten Menschen in Pompeji bereits erstickt
oder von herabfallendem Gestein erschlagen worden. Dennoch hatten einige die Katastrophe bis
zu diesem Zeitpunkt überstanden. Die wenigen,
die noch lebten, fielen aber nur kurze Zeit später
Glutlawinen zum Opfer. Eines dieser Opfer war der
berühmte römische Schriftsteller Plinius der Ältere, der, getrieben von naturwissenschaftlichem
Pompeji
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2
3
4
1
Besiedlungsphasen Pompejis
1 Siedlungsnucleus
2 Erste Erweiterungsphase
3 Zweite Erweiterungsphase
4 Letzte Erweiterungsphase
Pompeji
Interesse und dem Wunsch zu helfen, mit seiner
Flotte (er war der Präfekt der römischen Flotte in
Misenum) zum Ort der Katastrophe gefahren war.
Vor Stabiae kam er in den Schwefeldämpfen um.
Zeuge der Katastrophe war sein Neffe Plinius der
Jüngere, der den Ablauf in erhaltenen Briefen detailgetreu schildert. Über 1500 Jahre lang lag die
Stadt unter einer bis zu 25 Meter hohen Decke aus
vulkanischer Asche und Bimsstein begraben.
Neben Pompeji wurden auch weitere Ortschaften
wie Herculaneum, Stabiae und Oplontis vollständig
zerstört.
Strassen, Verkehrsführung, Stadttore,
Stadtmauer
Noch heute kann man auf dem Plan Pompejis die
Keimzelle (Siedlungsnukleus) der Stadt erkennen,
die auf einem Lavaplateau in exponierter Stellung
errichtet wurde. Den Umriss dieser ursprünglichen
Siedlung im Südwesten der Stadt erkennt man
anhand der Strassenführung, die anders als beim
Rest der Stadt nicht geradlinig und in Form eines
Rasters angelegt wurde. Spätere grosse Strassen,
vor allem die Via dell’Abbondanza, wurden in das
Altstadtgebiet fortgeführt, doch selbst bei diesen
Arbeiten konnte man die Achsen nicht ganz geradlinig erweitern.
Die systematische Anlage der Strassen ausserhalb
der Altstadt lässt eine geplante Erschliessung des
106
neuen Siedlungsgebietes vermuten. In der Forschung ist umstritten, wann diese Anlage erfolgte.
Neuere Untersuchungen geben Hinweise darauf,
dass dies schon recht früh geschehen sein muss
und dass im Zuge der Anlage des Strassensystems
auch schon die Stadttore und die Stadtmauer geplant wurden.
Bei genauer Betrachtung fällt auf, dass die Stadt
Pompeji von fünf grossen Strassen durchzogen
war.
Trotz der geplanten Anlage des grössten Teiles der
Stadt weichen weite Teile der Strassenführungen –
vor allem im Nordwesten und Südosten – von der
Ausrichtung der Nord-Süd-Achse der Stadt (Via
Stabiana) ab.
Die Strassenführung legt nahe, dass Bereiche
nördlich der Altstadt schon im Laufe des 6. Jahrhunderts v. Chr. angelegt und partiell bebaut wurden. Die Erweiterung des Stadtgebietes über die
Via Stabiana hinaus nach Osten erfolgte wohl nicht
vor dem Ende des 4. Jahrhunderts. Auch hier gibt
es zwei unterschiedliche Strassenführungen. Somit kann man auch hier davon ausgehen, dass die
Siedlung nach Osten in zwei Schritten erfolgte.
Anzumerken ist, dass die Strassen in erster Linie
von Lasttieren und Lastträgern benutzt wurden.
Für die normalen Fussgänger gab es auf den
Hauptstrassen meist Fusswege. Trotz der tiefen
Radspuren muss man annehmen, dass es keinen
so regen Verkehr mit Fuhrwerken gab, wie man
es sich vor allem früher vorgestellt hat. Die tiefen
Radspuren haben sich über etwa 150 Jahre in den
im Laufe des 1. Jahrhunderts v. Chr. gepflasterten
Strassengrund gefressen.
Fusswege gab es in Pompeji meist nur in den
grossen Hauptstrassen. In den Nebenstrassen
reichte die Bebauung im Regelfall bis an die Strasse, so dass sich der komplette Verkehr auf dieser
abspielte. Bürgersteige waren auch keine öffentlichen Anlagen, sondern waren von den Anwohnern errichtet worden.
Pompeji
Hauptstrassen in Pompeji
1. Via Marinia
2. Via dell’Abondanza
3. Via di Porta Nocera
4. Via di Nola; 5. Via di Stabia
6. Via di Mercurio
7. Via del Foro
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Pompeji
108
Pompeji
109
Pompeji
Forum mit anliegenden Gebäuden
110
Pompeji
111
Therme
Pompeji
112
Casa del Sacello Iliaco
Casa dei Quadretti Teatrali
Pompeji
113
Casa del Menandro
Pompeji
114
Casa delle Nozze d‘Argento
House VI 15.5
Pompeji
115
Casa di Loreio Tiburtino
Pompeji
116
House VIII 2.14-16
Casa del Fauno
Pompeji
117
Villa dei Misteri
Vesuv
Der Vesuv ist der einzige aktive Vulkan auf dem
europäischen Festland. Er liegt am Golf von Neapel
in der italienischen Region Kampanien, neun Kilometer von der Stadt Neapel entfernt.
Der Berg ist heute 1281 m hoch. Er besteht aus
den Resten eines früher wesentlich höheren, älteren Schichtvulkans, des Somma, dessen Spitze
zu einer Caldera eingestürzt ist, und dem im Inneren des Einsturzbeckens neugebildeten Kegel des
«eigentlichen» Vesuv.
Die Aktivität des Vesuv löst wiederkehrende plinianische Eruptionen aus. Das typische Kennzeichen
dieser explosiven Vulkanausbrüche ist das Aufsteigen einer kilometerhohen Eruptionssäule und der
schnelle Ausstoss grosser Mengen vulkanischen
Materials. Die grossen Vesuv-Ausbrüche sind zudem von pyroklastischen Strömen begleitet, die zu
den gefährlichsten Formen des Vulkanismus zählen. Diesen Grossereignissen folgen aktive Phasen
118
mit Eruptionen vom Stromboli-Typ und effusiven
Austritten von Lava. Der anschliessende Ruhezustand kann mehrere hundert Jahre andauern und
endet mit einem erneuten grossen Ausbruch.
Die Bezeichnung «plinianische Eruption» bezieht
sich auf Plinius den Jüngeren. Der spätere römische Senator beobachtete und beschrieb den
letzten Grossausbruch des Vesuv im Jahr 79 n. Chr,
bei dem die antiken Städte Pompeji, Herculaneum
und Stabiae verschüttet wurden. Die Vulkanologie
verwendet heute den Begriff als allgemeines Klassifikationsmerkmal. Im 20. Jahrhundert brachen
mehrere Vulkane in plinianischen Eruptionen aus,
darunter der Mount St. Helens 1980 und der Pinatubo 1991.
Der Vesuv war nach 79 n. Chr. jahrhundertelang
aktiv. Seit dem letzten Ausbruch 1944 befindet er
sich in einer Ruhephase.
Vesuv
119
Herkulaneum – Ercolano
Topographie und Geschichte
Herculaneum war eine kleine befestigte Stadt, auf
einer Anhöhe gelegen, die aus vulkanischer Asche
bestand und sich zwischen 11 und 26 Meter Höhe
über dem damaligen Meeresspiegel erstreckte.
Das Hochplateau wurde von zwei Tälern mit Wasserläufen begrenzt. Die Stadt dominierte also das
Gestade am Golf von Neapel, in zentraler Position
und in allerschönster Panoramalage. So wird Herculaneum auch in der ersten Hälfte des 1. Jahrhundert v. Chr. in einem Fragment des Historikers
Sisenna beschrieben. Er spricht auch von einem
«zu jedem Zeitpunkt» sicheren Hafen. Dieser ist
noch nicht aufgefunden worden, auch wenn im
grossen und ganzen die antike Küstenlinie bestimmt und ausgegraben worden ist. Die topographische Lage ist vergleichbar mit der des antiken
und des mittelalterlichen Sorrent. Über der Stadt
erhebt sich der vulkanische Kegel des Vesuv. Er ist
nur wenig höher als 1000 Meter, und es scheint,
dass seine Gestalt sich kaum von jener vor dem
Ausbruch im Jahre 79 n. Chr. unterscheidet; der
Krater des Berges ist etwa 7 Kilometer entfernt.
Das Stadtbild wurde bestimmt von fünf cardines,
d. h. Hauptstrassen in nord-südlicher Richtung,
die senkrecht zur Küstenlinie verliefen und von
drei decumani, d. h. von Ost nach West führenden
Strassen, gekreuzt wurden. Der oberste decumanus – der noch nicht ausgegraben worden ist –
120
müsste der wichtigen Verbindungsstrasse von Neapel nach Pompeji entsprechen. Die Stadt hat sich
nicht weit darüber hinaus ausgedehnt, wie frühere
Untersuchungen ergeben haben. […]
Dionysios von Halikarnassos […] berichtet, dass
die Stadt von Hercules gegründet worden sei,
als er mit den Rindern, die Helios dem Giganten
Geryon geschenkt hatte, aus Spanien zurückkam
und den Golf von Neapel entlang reiste. Strabon,
der Geograph aus der Zeit des Augustus, schreibt,
dass die Geschichte der Stadt Analogien zu jener
von Pompeji aufweise, dessen Hochebene bereits
im 4. Jahrhundert v. Chr. von Mauern umgeben
worden war. Er geht auch davon aus, dass es bereits in archaischer Zeit eine Besiedlung gegeben
habe. In den letzten Jahren wurden an mehreren
Stellen des ausgegrabenen Gebiets Tiefenbohrungen urchgeführt; keine der zahlreichen Proben
hat allerdings keramisches Material zutage gebracht, dessen Datierung vor dem 4. Jahrhundert
v. Chr. anzusetzen ist. Aus dieser Zeit stammt
auch die regelmässige Anlage der Stadt mit der
ursprünglichen Parzellierung, die sich auch in der
Struktur der einzelnen Ausgrabungsstellen wiederfindet. Auf dieselbe Zeit geht auch der einzige
bisher identifizierte Abschnitt der Festungsanlagen
zurück. […]
Zum Zeitpunkt des Vesuv-Ausbruchs hatte Herculaneum innerhalb des Mauerringes eine Grösse von
etwa 20 Hektar, circa 4000 Menschen wohnten
dort. Wie das nahe gelegene Pompeji geriet auch
Herculaneum gegen Ende des 4. Jahrhunderts
v.Chr. in den römischen Einflussbereich. Es wurde
im Jahre 89 v. Chr., im Verlauf des Krieges der
italischen Bundesgenossen gegen Rom (91–88 v.
Chr.), von den Aufständischen unter einem ihrer
Anführer Papius Mutilus besetzt, kurze Zeit später allerdings ohne grossen Widerstand von einem
Legaten des Sulla zurückerobert. Im Unterschied
zu den umliegenden Städten konnte Herculaneum
damals den Status eines municipium aufrecht erhalten. […] [D]ie Bevölkerung hatte sich schnell
latinisiert. Das municipium wurde nach römischem
Vorbild von zwei Magistraten geführt, die ein Jahr
lang im Amt waren, den duumviri. Bezeugt sind
auch Ädilen, ein Quästor und ein munizipaler Priesterstand der flamines.
Die zentrale Lage am Golf von Neapel und das
bezaubernde Panorama liessen Herculaneum als
äusserst attraktiven Wohnsitz erscheinen, vor
allem seit Beginn des 2. Jahrhunderts v. Chr. und
mehr noch seit der Mitte des 1. Jahrhunderts v.
Chr., nachdem Pompejus die Piraten endgültig
besiegt hatte. Damals kam in der römischen Aristokratie die Mode auf, sich grandiose Villen am
Meer zu bauen – entlang der Küsten von Latium
und Kampanien, einige der bedeutendsten jedoch
an der Küste von Herculaneum. Der Golf von Nea-
121
Herkulaneum – Ercolano
pel, so berichtet Strabon, habe zur Zeit von Kaiser
Augustus «wie eine einzige Stadt» ausgesehen.
Der Aufenthalt in Herculaneum wurde besonders
Tuberkulosekranken empfohlen. Zur ausserordentlich günstigen klimatischen Lage kam ausserdem
die Nähe Neapels, wo griechische Kultur, Sitten
und Gebräuche weiterlebten und sich das Zentrum
der philosophischen Schulen befand. Ausserdem
lag Puteoli (heute Pozzuoli) nicht weit entfernt,
ein grosser Hafen und Haupthandelsplatz für den
Mittelmeerraum. Nicht zu vergessen das nahe
Pompeji, die zweite wichtige Handelsstadt an der
Mündung des Sarno. […]
Die Neubautätigkeit in Herculaneum erreichte in
der augusteischen Zeit ein eindrucksvolles Ausmass. Zu jener Zeit siedelte sich der aus Nocera
gebürtige Senator Marcus Nomus Balbus in Herculaneum an; an ihn erinnert eine eindrucksvolle
Zahl von Inschriften, die ihm und seiner Familie
gewidmet sind. Er liess die monumentale Basilika
mit angeschlossener Kurie erbauen und die Stadtmauern und deren Tore restaurieren. Er beteiligte
sich am Bau der palaestra, einem riesigen Komplex, der die Erinnerung an die grandlosen Gymnasien von Neapel und Cumae wachrufen musste,
und möglicherweise schenkte er der Stadt auch
die Suburbanen Thermen. Die Bedeutung, die er in
der Stadt hatte, wird auch durch die Namen zahlreicher Freigelassener bezeugt. Zur gleichen Zeit
122
wurde von dem fünf Jahre amtierenden duumvir L.
Annius Mammianus Rufus das Theater erbaut und
vom duumvir M. Spurius Rufus ein macellum, ein
Markt für Lebensmittel […]. Der duumvir M. Remmius Rufus liess eine öffentliche Waage, eine halbrunde Sitzbank und eine öffentliche Uhr errichten,
ausserdem entstanden die Forum-Thermen, daran
angrenzend der öffentliche Kornspeicher, und zwar
an der Kreuzung des unteren decumanus mit dem
Cardo IV. Ferner wurde in dieser Zeit der Sitz der
Augustalen (der für den Kaiserkult zuständigen
Priester) errichtet, gegenüber davon die Portikus
an der Südseite des Forums und ein Netz öffentlicher Brunnen, die an das unter Kaiser Augustus
gebaute Aquädukt von Serino angebunden waren.
Im Jahre 49 n. Chr. wurde […] der Platz des
Forums auf monumentale Weise und unter reicher
Verwendung von Marmor neugestaltet und zwar
auf Kosten des reichen Augustalen L. Mammius
Maximus. Er liess einen Zyklus von Bronzestatuen
der kaiserlichen Familie aufstellen, der bis zum
Ausbruch des Vesuv ständig auf den letzten Stand
gebracht und renoviert wurde. Im Gegensatz zu
Pompeji, wo die Marmor- und Bronzestatuen des
Forums und des Theaters sofort nach dem Ausbruch geborgen wurden, fanden die bourbonischen
Archäologen die beiden Plätze in Herculaneum
vollständig unberührt. Eindrucksvoll ist das Niveau
der Dekoration, wenn man bedenkt, dass Hercula-
neum nur ein Drittel der Fläche und der Einwohner
der prosperierenden Nachbarstadt umfasste.
Das kleine Territorium rund um Herculaneum war
äusserst fruchtbar. Man konnte bis zu vier Mal
im Jahr ernten, und es wurde Gemüse von hoher Qualität gezogen. Berühmt war vor allem der
Anbau von Wein und Feigen. Bis auf eine Höhe
von 250 Meter dürften Gutshöfe gestanden haben, auch wenn man bisher aufgrund der bis zu
25 Meter dicken vulkanischen Schicht nur wenige
entdeckt hat. Dokumentiert sind auch Wälder und
Viehweiden. Frühere Untersuchungen von gut erhaltenen Hölzern, die bei den Ausgrabungen der
Stadt gefunden wurden, haben ergeben, dass sie
teils aus der direkten Umgebung, dem südlichen
Appenin, stammten, teils aus den Alpen importiert
wurden, möglicherweise von den Küsten Liguriens
und der Provence. Aber auch die Libanonzeder ist
nachzuweisen. […]
Unklar ist, wo das Gebiet von Herculaneum an
jenes von Neapel und Nola angrenzte (möglicherweise reichte es bis Pollena). Im Osten hingegen
dürfte es sich bis zur Peripherie von Torre Annunziata erstreckt haben, wo noch heute die Grenze
zwischen der Diözese von Nola und jener von Neapel verläuft, zu der das Territorium des zerstörten
Herculaneum gehörte. […]
Der Ausbruch im Jahre 79 n. Chr. ist der erste, von
dem es eine einzigartige literarische Quelle gibt:
Herkulaneum – Ercolano
zwei an den Historiker Tacitus gerichtete Briefe
eines Augenzeugen der Eruption. Verfasst hat
sie Plinius der jüngere, der Neffe des berühmten
Naturforschers Plinius des Älteren. Letzterer war
zu dieser Zeit Kommandant der römischen Militärflotte und fand bei dem Ausbruch am Strand von
Stabiae den Tod. Plinius der jüngere befand sich in
Misenum, circa 40 Kilometer vom Vulkan entfernt.
Die ersten Erdstösse muss es wohl schon in der
Nacht davor gegeben haben, denn in Herculaneum
wurden einige Menschen tot auf ihren Betten gefunden, eine Folge der eingestürzten Dächer. Gegen 13 Uhr stand über dein Vesuv bereits eine 15
Kilometer hohe Säule in Form einer Schirmpinie,
bestehend aus Gas und Auswurfmaterialien, und
es begann in einem grossen Bereich südöstlich des
Vulkans Lapilli zu regnen. Dieser Regen verschonte
Herculaneum im wesentlichen, führte aber in Pompeji zum Einsturz von Gebäuden. Den Menschen
aus Herculaneum stand deshalb einige Stunden
lang ein Fluchtweg in Richtung Neapel offen, der
aber vermutlich nur von wenigen genutzt wurde:
Schliesslich hatte man in jener Zeit nur geringe, im
Grunde überhaupt keine vulkanologischen Kenntnisse. In den folgenden Stunden wurde die Eruptionssäule immer höher und erreichte gegen Mitternacht eine Höhe von etwa 30 Kilometer. Zu diesem
Zeitpunkt wurden aus dem Krater durchschnittlich
200 000 Tonnen Magmabrocken pro Sekunde
123
ausgestossen. Gegen 1 Uhr morgens, also am 25.
September, brach die Säule abrupt zusammen und
sackte auf eine Höhe von etwa 20 Kilometer ab.
Dadurch wurde an der Basis der erste «pyroklastische surge» ausgelöst: Eine Wolke aus Gas und
feiner Asche raste mit einer Geschwindigkeit von
etwa 100 Stundenkilometern am südlichen Hang
des Vulkans hinab und verursachte in Sekundenschnelle den Tod der Menschen in Herculaneum.
Die Aktivität des Vulkans mit einer bis in die Stratosphäre reichenden Säule wurde in der Folge von
fünf weiteren «pyroklastischen surges» unterbrochen; jene mit der grössten Zerstörungskraft kamen gegen 7 Uhr morgens und verursachten den
Tod der Einwohner von Pompeji.
(Mario Pagano: Herculaneum. Eine Kleinstadt am
Golf von Neapel. In: Josef Mühlenbrock u. Dieter
Richter (Hrsg.): Verschüttet vom Vesuv. Die letzten
Stunden von Herculaneum. Ausstellungskatalog.
Mainz: Zabern 2005. S. 3–10.)
Die Wiederentdeckung
Das Wissen um die exakte topographische Lage
des antiken Herculaneum, das im Jahre 79 n. Chr.
von einer bis zu 25 Meter hohen Schicht vulkanischer Schlammmassen verschüttet worden war,
auf der sich dann seit dem Mittelalter die Siedlung
Resina ausbreitete (diese trägt erst seit 1969 den
Namen «Ercolano»), war im Verlauf der Zeit verloren gegangen. […]
Als eines Tages im Jahre 1710 ein gewisser Ambrogio Nucerino, bekannt unter dem Spitznamen
«Enzechetta», anfing, einen Brunnen auszuheben,
um seinen Gemüsegarten zu bewässern – eine
bei den Bauern dieser Gegend übliche Praxis –,
konnte er nicht ahnen, dass diese Pickelhiebe in
die Geschichte eingehen würden untrennbar verbunden mit den Anfängen der Vesuv-Archäologie.
Denn sein Brunnenschacht führte zur Bühne des
Theaters von Herculaneum, wo der Bauer viele
Fragmente aus hochwertigem Marmor fand. Diese
gehörten, wie sich erst viel später herausstellte,
zur Ausstattung des Bühnenhauses. Von dieser
Entdeckung unterrichtete man Emanuel-Maurice
von Lothringen, Prinz d’Elboeuf Der verbannte
französische Adlige und Befehlshaber der österreichischen Armee, die seit 1707 in Neapel stationiert war, baute zu diesem Zeitpunkt seine Villa
am Hafen von Granatello in Portici. Er erwarb das
Areal um den Brunnen und liess circa neun Monate lang auf eigene Kosten Ausgrabungen mittels
Stollen durchführen. Unter anderem wurden neun
Statuen entdeckt, die er als Gunsterweis verschiedenen Herrschern seiner Zeit zum Geschenk
machte. Seinem mächtigen Vetter, Prinz Eugen von
Savoyen in Wien, schickte er jene Statuen, die in
der wissenschaftlichen Literatur als die «Grosse»
Herkulaneum – Ercolano
und die zwei «Kleinen Herkulanerinnen» bekannt
sind. Diese befinden sich heute in den Staatlichen
Kunstsammlungen Dresden. Nach dem Tod von
Prinz Eugen gelangten die drei Skulpturen an den
Hof von August III., Kurfürst von Sachsen und König von Polen, dem Vater von Maria Amalia Christina, der Gattin des neapolitanischen Königs Karl
III. von Bourbon.
(Maria Paola Guidobaldi: Schatzgräber und Archäologen. Die Geschichte der Ausgrabungen von
Herculaneum. In: Josef Mühlenbrock u. Dieter
Richter [Hrsg.]: Verschüttet vom Vesuv. Die letzten
Stunden von Herculaneum. Ausstellungskatalog.
Mainz: Zabern 2005. S. 17.)
124
Das römische Wohnhaus Bereits ein kurzer Rundgang durch Herkulaneum
zeigt, dass das römische Wohnhaus nach einem
bestimmten, kaum variierten Grundschema aufgebaut ist. Je nach Grösse und Art der Ausstattung
ergeben sich allerdings sehr unterschiedliche Gesamteindrücke. Die ersten städtischen Wohnhäuser wurden von Griechen in Süditalien und von
Etruskern in Mittelitalien erbaut. Das Atriumhaus
setzte sich im 4. Jahrhundert v. Chr. für ganz Italien
durch. Hier wurden zum ersten Mal die praktischen
Bedürfnisse eines Wohnhauses mit den konstruktiven Bedingungen der Holzbauweise in Einklang
gebracht. Zentrum der Anlage ist das Atrium
(2). Ursprünglich Standort des Herdes, wandelte
es sich im Lauf der Zeit zur grossen, eleganten
Säulenhalle, die ihr Licht durch eine viereckige
Öffnung in der Decke erhielt. Das Regenwasser
sammelte sich in einem unter dieser liegenden
Becken (Impluvium). Das Atrium war innerhalb der
Wohnung eine Art öffentlicher Raum, nicht nur im
Sinne eines Empfangszimmers, sondern auch als
Treffpunkt der Familie sowie als kühler, schattiger
Ort in den heissen Sommermonaten. In der Regel
sind ihm zwei zur Strasse hin offene Tabernae
(Werkstatt oder Laden; 1) vorgelagert. Um das Atrium sind die Schlafräume (Cubicula; 5) und kleine
Seitenflügel (Alae; 3 ) angeordnet. Vom Atrium
gelangt man schliesslich in den Wohn- und Spei-
seraum (Tablinum; 4) und von dort in den Garten
(6). Weitere Zimmer und eine Küche ergänzen das
Wohnhaus. Das altpompejanische Haus entspricht
in seiner Anlage dem altrömischen Atriumhaus.
Seine Dachführung ermöglicht eine abgestufte
Raumhöhe und Lichtführung.
Das Peristylhaus ist eine erste Erweiterung und
Bereicherung des Atriumhauses: Wie beim Atriumhaus liegen auch hier die Nutzräume an der Strasse
vor dem Atrium. Um das Atrium herum gruppieren
sich Schlaf- und Essräume sowie die Empfangshalle. An den grossen Wohn- und Essraum in der
Achse des Atriums schliessen sich weitere Speisezimmer (Trichnium; 9) an. Von dort gelangt man
in das Peristyl (Säulenhalle im offenen Hof; 7). Im
Peristylhaus mit seiner besonderen Betonung des
Gartenteils als in die Architektur einbezogene Natur richtet sich das Leben der Bewohner gleichsam
nach innen, da Fenster nach aussen hin fast völlig
fehlen und alle Räume zum zentral liegenden Atrium oder dem Garten-Peristyl orientiert sind. Diese
Zurückgezogenheit wird im Alltag durch das mediterrane Leben im Freien, auf den Strassen oder
Plätzen relativiert.
(Zusammengestellt nach: Ehrenfried Kluckert: Neapel – Kampanien. München: Artemis & Winkler
1993. S. 161–163. Klaus Janssen: Lebensstil und
Wohnkultur – Häuser in Pompeji. In: Praxis Geschichte 14. Jg. (2002 Heft 3. S. 18–22.)
Herkulaneum – Ercolano
125
Movimento Moderno
Giuseppe Vaccaro und Gino Franzi: Palazzo delle Poste, 1928–1936
Piazza G. Matteotti
126
Movimento Moderno
127
Movimento Moderno
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Movimento Moderno
Giuseppe Vaccaro und Gino Franzi: Palazzo delle Poste, 1928–1936
Piazza G. Matteotti
129
Movimento Moderno
130
Movimento Moderno
131
Giuseppe Vaccaro (1. Ausbaustufe) und Gino Franzi (2. Ausbaustufe):
Palazzo delle Poste, 1928–1936, Piazza G. Matteotti
Movimento Moderno
132
Movimento Moderno
Giuseppe Vaccaro (1. Ausbaustufe) und Gino Franzi (2. Ausbaustufe):
Palazzo delle Poste, 1928–1936, Piazza G. Matteotti
133
Movimento Moderno
134
Movimento Moderno
Luigi Cosenza: Mercato Ittico, Fischmarkt, 1929
135
Movimento Moderno
Luigi Cosenza und Bernard Rudofsky: Villa Oro, 1934–1937
via Orazio 27
136
Movimento Moderno
137
Movimento Moderno
Luigi Cosenza und Bernard Rudofsky: Villa in Positano, Wettbewerb für eine Idealvilla am Mittelmeer, 1937
138
Movimento Moderno
Luigi Cosenza und Bernard Rudofsky: Villa Savarese, 1936–1942
via Scipione Capece 14
139
Movimento Moderno
140
Benedetto Gravagnulo
«Movimento Moderno in Neapel: Die Architektur
zwischen den Weltkriegen»
Bauwelt 781, 1991
Übersetzung: Götz-Armin Joas
Movimento Moderno
141
Movimento Moderno
142
Movimento Moderno
143
Mostra d’Oltremare, Masterplan, Marcelleo Canino, 1939–40
144
Literaturverzeichnis
Professur für Geschichte des Städtebaus
Prof. Dr. Vittorio Magnano Lampugnani
Seminarreise:
Neapel – Schichtungen einer Stadt
Zürich: 2005
Bernd Haufe: Deutsche Briefe aus Italien
Winckelmann bis Gregorovius. 3. Aufl.
Leipzig: Koehler & Amelang,1987
J. B. Ward-Perkins: Cities of Ancient Greece
and Italy
New York: Braziller, 1974
Andreas Beyer: Die Stadt, der Golf und der Berg
Merian 46. Jg. 1993 Heft 9
Rolf Legler: Der Golf von Neapel
Köln: DuMont, 1990
Eva Gründel und Heinz Tomek: Golf von Neapel
Köln: DuMont, 2000
Ehrenfried Kluckert: Neapel – Kampanien
München: Artemis & Winkler, 1993
Nicola Spinosa: Vedute napoletane dal Quattrocento all’Ottocento
Napoli: Electa, 1996
145
Paolo di Caterina: Napoli Sotterranea – Un itinerario del sottosuolo partenopeo
riferimento
«Le cavità sotterranee e Napoli»
Milano: DOMUS n° 681, 1987
Josef Mühlenbrock und Dieter Richter:
Verschüttet vom Vesuv
Die letzten Stunden von Herculaneum
Mainz am Rhein: Verlag Philipp von Zabern, 2005
F. Ranft: Capri – Ischia
München: dtv, 1990
Benedetto Gravagnulo:
Movimento Moderno in Neapel
Die Architektur zwischen den Weltkriegen
Bauwelt 781, 1991
Clemens Krause: Villa Jovis – Die Residenz des
Tiberius auf Capri
Mainz am Rhein: Verlag Philipp von Zabern, 2003
Marida Talamona: Casa Malaparte
New York: Princeton Architectural Press, 1992
V. Savi: Orphic, surrealistic: Casa Malaparte in
Capri and Adalberto Libera
Milano: Lotus 60, Living in architecture, 1988
J. Bostik: The surveyed house
Milano: Lotus 60, Living in architecture, 1988
Pelenope M. Allison: Pompeian Households
http://www.stoa.org
Maria Paola Guidobaldi: Schatzgräber und
Archäologen. Die Geschichte der Ausgrabungen
von Herculaneum
Mainz am Rhein: Verlag Philipp von Zabern, 2005
146
Teilnehmerliste
147
Lehrstuhl für Architektur und Konstruktion
Studierende
Felix Ackerknecht
Marcel Baumgartner
Dawit Benti
Dominik Herzog
Pascal Hunkeler
Andreas Kohne
Raphael Kräutler Robert Lüder
Ramon Arpagaus
ramona@student.ethz.ch
Michèle Bär
mibaer@student.ethz.ch
David Dalsass
ddalsass@student.ethz.ch
Bruno Felber
bfelber@student.ethz.ch
Isabel Gracia
igracia@student.ethz.ch
Frida Grahn
grahnf@student.ethz.ch
Katrin Gurtner
kgurtner@student.ethz.ch
Mira Habermann
mirah@student.ethz.ch
Patrick Jäger
pjaeger@student.ethz.ch
Mischa Jäggi
jaeggimi@student.ethz.ch
Alexander Kriegelsteiner kriegela@student.ethz.ch
Hannes Mahlknecht
mahannes@student.ethz.ch
Augusta Meyer
aumeyer@student.ethz.ch
Tinetta Rauch
rauchti@student.ethz.ch
Andrea Schregenberger andreasc@student.ethz.ch
Fabian Schärer
schafabi@student.ethz.ch
Jan Wladyslaw Strumillo
janstr@student.ethz.ch
Caspar Teichgräber
tcaspar@student.ethz.ch
Florence Willi
fwilli@student.ethz.ch
Huibiao Wu
huibiao@student.ethz.ch
ackerknecht@arch.ethz.ch
baumgartner@arch.ethz.ch
dawitbenti@yahoo.com
dominik.herzog@arch.ethz.ch
hunkeler@arch.ethz.ch
kohne@arch.ethz.ch
kraeutler@arch.ethz.ch
lueder@arch.ethz.ch
148
Impressum
Herausgeber
ETH Zürich
Departement Architektur
Architektur und Konstruktion
Prof. Andrea Deplazes
Wolfgang-Pauli-Strasse 15
CH-8093 Zürich
www.deplazes.arch.ethz.ch
Organisation und Redaktion
Robert Lüder
Text- und Bildnachweis
Alle Rechte bei den Autoren und Verlegern
Druck
Reprozentrale ETH-Hönggerberg
April 2008
149