Medien - Adveniat
Transcription
Medien - Adveniat
Foto: Martin Steffen Bausteine Für Schule und Jugendarbeit Adveniat-Aktion 2009 Armut – Ausgrenzung am Beispiel Haitis und Deutschlands Unterrichtsreihe für die Klassen 10 - 12 Die vorliegende Unterrichtsreihe „Armut – Ausgrenzung am Beispiel Haitis und Deutschlands“ gliedert sich in vier Unterrichtseinheiten: 1.eine Annäherung an den „Armutsbegriff“ in seiner gesellschaftlichen Dimension und Bedeutung sowie der persönlichen Assoziationen jedes Einzelnen; 2.die Darstellung der faktischen Armutssituation in Haiti und Deutschland sowie der Betrachtung exemplarischer Lebensschicksale (Zahlen, Daten, Fakten, Fallstudien) 3.die spezifische Auseinandersetzung mit der Gegenwart und den Zukunftsaussichten von Armut betroffener Kinder und Jugendlicher in beiden Ländern unter besonderer Berücksichtigung der Relation zwischen Armut und Bildungschancen sowie Bei der Konzeption wurde bewusst auf eine vorgegebene Einteilung in einzelne Unterrichtsschritte verzichtet. Vielmehr bietet die Reihe mit ihren vier Unterrichtseinheiten flexible Module, die durch unterschiedliche Präsentations2- und Arbeitsformen3 zeitlich und inhaltlich individuell gestaltet und eingesetzt werden können. So ist es z. B. möglich, die im Anhang angebotenen Medien zusammenfassend im Lehrervortrag oder nach einer intensiven Gruppen- oder Partnerarbeitsphase als Schülerreferat zu präsentieren. Auf diese Weise kann der Unterrichtende das Material der ihm zur Verfügung stehenden Unterrichtszeit didaktisch und methodisch anpassen und bezogen auf die jeweiligen Unterrichtsziele eigene inhaltliche Schwerpunkte setzen. Zu den jeweiligen Medien werden übergreifende Fragestellungen angeboten, die auf die verschiedenen Arbeitsformen übertragen werden können. 4.die praktische Umsetzung der gewonnenen Erkenntnisse in allgemeine Handlungsoptionen sowie konkrete Projekte.1 1 Interessante Anregungen bietet auch „Armut – hier und weltweit“ (Themenblätter im Unterricht/Nr. 77), herausgegeben von der Bundeszentrale für politische Bildung, April 2009. 2 3 LV = Lehrervortrag; SV = Schülervortrag. KU = Klassenunterricht; PA = Partnerarbeit; GA= Gruppenarbeit; EA= Einzelarbeit. 1. UNTERRICHTSEINHEIT „Armut“ – mehr als ein Wort Persönliche und gesellschaftliche Assoziationen sowie allgemeine Begriffsdefinition Annäherung an den Begriff „Armut“, seine Verwendung und Bewertung im Alltag Allgemeine Definition des Begriffs „Armut“ und dessen Differenzierungen > S ammlung (KU/PA/GA) und Auswertung von im Zusammenhang mit den Begriffen „arm“ und „Armut“ in der Alltagssprache (auch ruhig „Umgangssprache“, „Graffitis“ etc.) benutzten Ausdrücken und Darstellungen an der Tafel bzw. auf einer Folie oder einem Plakat (KU/PA/GA) > Stellungnahme (EA/PA/GA) oder stilles Schreibgespräch (PA/GA) zu unterschiedlichen Zitaten zum Begriff „Armut“ (M 1) und deren Auswertung (KU) > Satzergänzung „Armut bedeutet für mich ...“ (KU/EA) und deren Auswertung (KU) > Umfrage speziell bei älteren Menschen der Kriegsgeneration über Assoziationen zum Begriff „Armut“ (EA/PA), deren Präsentation (KU/EA/PA) und Auswertung (EA/PA) > P räsentation und Behandlung einer Definition des Begriffs „Armut“ (M 2) (LV/SV/KU) > Darstellung der unterschiedlichen Differenzierungen des „Armutsbegriffs“ (M 3) (LV/SV) und deren Erläuterung durch Alltagsbeispiele (KU) Fragestellungen: > Welche Bedeutung hat der Begriff „Armut“ in unserer Sprache? > In welchen Zusammenhängen verwenden wir ihn? > Wie wird der Begriff „Armut“ bewertet? > Welche Assoziationen ruft der Begriff „Armut“ bei uns hervor? > Auf welche (Lebens-)Bereiche bezieht sich der Begriff „Armut“/ „arm“? > Wo erleben wir Armut? > Welche unterschiedlichen Maßstäbe für „Armut“ gibt es bei uns bzw. zwischen den Generationen? ADVENIAT-AKTION 2009 Fragestellungen: > Was bedeutet Armut? > Welche Formen der Armut gibt es? > Wie äußern sich diese Formen der Armut im gesellschaftlichen Alltag? > Wen betreffen diese Formen der Armut? > Wo erleben wir Armut/arme Menschen in unserem eigenen Umfeld? > Wie reagieren wir auf diese Armut? > Warum reagieren wir in dieser Form? > Mit welchen Assoziationen/Vorurteilen ist Armut verbunden? Kreativer Umgang mit dem Thema „Armut“ > R ollenspiel, Collage, Interview bei Freunden, auf dem Schulhof oder auf der Straße (Beispiele M 4) (PA/GA/EA) Basistext FÜR SCHULE UND JUGENDARBEIT | 2 2. UNTERRICHTSEINHEIT „Armut“ – mehr als Zahlen und Daten Armutswirklichkeit in Haiti und Deutschland Vermittlung allgemeiner Kenntnisse über Haiti und Deutschland Erarbeitung konkreter Fakten und Beispiele zur Armutssituation in Haiti und Deutschland > K urzreferat zur Situation Haitis (M 5 und M 6) (LV/SV) > Internetrecherche bzw. Kurzreferat über Situation in Deutschland (LV/PA/GA/SV)4 > Vergleich zwischen der Situation Haitis und Deutschlands (KU) > T extanalyse M 7 - M 9 (LV/KU) > Auswertung der Statistiken (M 10) sowie der Übersicht „Lebenslage und extreme Armut“ (M 11) und ergänzende Textlektüre M 12 (LV/KU)5 > Besuch einer örtlichen „Tafel“6, „Suppenküche“ oder „Kleiderkammer“7 und Gespräch mit Mitarbeitern und evtl. Besuchern (GA/KU) > Gespräch mit Mitarbeitern von Beratungsstellen, z. B. Schuldner beratung, ARGE > Vergleich eigener monatlicher Einnahmen und Ausgaben sowie evtl. der Einnahmen und Ausgaben der eigenen Familie mit der finanziellen Situation eines Hartz-IV-Empfängers (M 13) (LV/KU)8 > Vorstellung und Auswertung exemplarischer Armutssituationen9 (LV/KU) > Vergleich des eigenen Tagesablaufs mit dem fiktiven eines Obdachlosen (M 14) > Erstellen eines „Teufelskreises der Armut“ (mögliches Tafelbild M 15) Fragestellungen: > Wie unterscheiden sich Haiti und Deutschland bezüglich ihrer politischen und wirtschaftlichen Situation? > Welche Ähnlichkeiten zwischen beiden Ländern sind festzustellen? Fragestellungen: > Was bedeutet Armut/Armsein in Haiti und Deutschland? > Welche Gruppen sind in beiden Ländern besonders von Armut betroffen? > Wie hat sich die Situation der Armen in beiden Ländern im Laufe der letzten zehn Jahre verändert? > Welche Unterschiede bzw. Ähnlichkeiten zwischen beiden Ländern gibt es bezüglich der Armutssituation? > Welche Veränderungen bewirkt Armut im Leben der Betroffenen in Haiti und Deutschland? > Welche Folgen hat Armut für die Zukunft des Einzelnen? Weitere Informationen hierzu z. B. unter www.deutschland.de; www.magazine-deutschland.de. Umfassende Daten liefert der 3. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung 2008, herunterzuladen unter www.bmas.de/coremedia/generator/26742/property=pdf/ dritter__armuts__und__reichtumsbericht.pdf ; auf die lokale Situation bezogene Informationen finden sich auch unter www.armutsatlas.de. 6 Informationen über „Tafeln vor Ort“ unter www.tafel.de. 7 Informationen über „Kleiderkammern vor Ort“ z. B. unter www.caritas-essen.de; www.drk.de/hilfen_in_notlagen/kleiderkammer.htm. 8 Interessante Informationen bietet auch das Projekt „7 Wochen leben mit Hartz IV“ der Diakonie unter www.leben-mit-hartz-iv.de 9 Konkrete Beispiele sind u.a. zu finden in Th. Wagner, Draußen – Leben mit Hartz IV. Eine Herausforderung für die Kirche und ihre Caritas, Freiburg 2008. 4 5 ADVENIAT-AKTION 2009 Basistext FÜR SCHULE UND JUGENDARBEIT | 3 3. UNTERRICHTSEINHEIT „Armut“ – mehr als gegenwärtig Lebenssituation und Zukunftschancen von Armut betroffener Kinder und Jugendlicher Behandlung der allgemeinen Situation von Armut betroffener Kinder und Jugendlicher in Haiti und Deutschland > P räsentation der Definition des Begriffs „Kinderarmut“ (M 16) (LV/SV/KU) > Textanalyse zur Kinderarmut in Haiti M 17 – M 18 (GA/KU) > Analyse des „Kinderreports“ (M 19) (LV/SV/KU) > Stilles Schreibgespräch zum Thema „Was würde sich in meinem Leben durch Armut ändern?“ (PA) > Karteikartenabfrage „Wodurch kann ich selbst arm werden/in Armut geraten?“ (EA) mit anschließender Auswertung im Plenum (KU) Fragestellungen: > Wie wirkt sich Armut auf die aktuelle Situation von Kindern und Jugendlichen in Haiti und Deutschland aus? > Welche Folgen hat Armut für deren Zukunft und ihre späteren eigenen Familien? > Worin unterscheidet bzw. ähnelt sich die Situation armer Kinder und Jugendlicher in Haiti und Deutschland? > Wie würde sich Armut auf unser eigenes Leben jetzt und in Zukunft auswirken? > Auf welche Dinge müssten wir konkret im Alltag verzichten? > Welche Gefühle löst diese Vorstellung in uns aus? > Wovor hätten wir Angst? ADVENIAT-AKTION 2009 Erörterung des Zusammenhangs zwischen Armut und Bildungschancen > S chülerreferate zu a)„Die Bedeutung der Bildung für das Individuum und die Gesellschaft“ (M 20) (EA) b)„Das Recht auf Bildung“ (M 21) (EA) mit anschließender Diskussion im Plenum (KU) > Textanalyse zur Bildungssituation benachteiligter Kinder in Haiti (M 22) und Deutschland (M 23) (GA/KU) > Kreative Bildgestaltung zum Thema „Plötzlich arm – und was wird aus mir/meinen Träumen/Plänen?“ (EA) mit anschließender Präsentation im Plenum (KU) Fragestellungen: > Welche Bedeutung hat Bildung für den Einzelnen und die Gesellschaft? > Warum gibt es ein Recht auf Bildung? > Wie beeinflussen mangelnde Bildungschancen Gegenwart und Zukunft armer Kinder und Jugendlicher in Haiti und Deutschland? > Welchen Einfluss haben diese Entwicklungen mittel- und langfristig auf die jeweiligen Gesellschaften? > In welcher Weise würde plötzliche Armut unsere eigenen Zukunftspläne und -träume verändern? Basistext FÜR SCHULE UND JUGENDARBEIT | 4 4. UNTERRICHTSEINHEIT „Armut“ – mehr als ein Problem der anderen Handlungsoptionen und Projektvorschläge Erarbeitung und Formulierung von Handlungsoptionen > T extanalyse „Die Option für die Armen“ (M 24) (LV/KU) > Rollenspiel als Podiumsdiskussion (KU): Thema: „Kinderarmut – ein globales Problem – Situation und Handlungsmöglichkeiten“ Mögliche Teilnehmer: 1. Kirchenvertreter (Basisinformationen: M 25) 2. Adveniat-Mitarbeiterin 3. Haiti-Korrespondentin 4. Organisator einer lokalen Kindertafel/Kleiderkammer 5. Lokalpolitiker/Bundestagsabgeordneter 6. Alleinerziehende Hartz-IV-Empfängerin mit 3 Kindern Fragestellungen: > Welche Möglichkeiten der globalen und lokalen Bekämpfung der Armut haben wir? > Ist die Vorstellung von der „vorrangigen Option für die Armen“ aus der lateinamerikanischen Theologie auf Deutschland / Europa übertragbar? > Welche Grenzen gibt es dabei? > Welche Gesichtspunkte müssen wir beachten? Entwicklung und Umsetzung eigener Initiativen > Mitarbeit bei Tafel, in Kleiderkammern, Hausaufgabenbetreuung > Unterstützung spezieller Adveniat-Projekte zur Ausbildung von Kindern > E ntwicklung von Werbeslogans zum Thema „Armut / Kinderarmut / Bildungsungerechtigkeit“ (PA/GA) > Gestaltung von Plakaten, Zeitungsanzeigen, Radiofeatures und Fernsehspots zum Thema „Armut / Kinderarmut“ (PA/GA/KU) > „Was ist dein Kreuz?“ – Gestaltung eines eigenen Kreuzes in Anlehnung an das haitianische Kreuz (M 26) > Verkauf von lateinamerikanischen Speisen, wie zum Beispiel dem Sirup-Kuchen (M 27) Impressum Herausgeber: Bischöfliche Aktion Adveniat Gildehofstraße 2 45127 Essen Tel.. 0201 1756-0 Fax: 0201 1756- 111 E-Mail: info@adveniat.de www.adveniat.de ADVENIAT-AKTION 2009 Redaktion: Stefanei Hoppe (verantwortlich) Dr. Christiane Schmidt Gestaltung: buntebrause agentur (Köln) im August 2009 Mitarbeit: Hans-Ulrich Dillmann, Regina Högner, Michael Huhn, Elisabeth Jeglitzka, Hannah Lepping, Alexandra Steffens Basistext FÜR SCHULE UND JUGENDARBEIT | 5 Medien M1 – Zitate und Sprichwörter „Arme Leute um etwas zu bitten ist leichter als Reiche.“ Anton Tschechow, russischer Schriftsteller (1860-1904) „Armut ist die größte Plage, Reichtum ist das höchste Gut.“ Johann Wolfgang von Goethe, deutscher Dichter (1749-1832) „Dem Armen ist nicht mehr gegeben als gute Hoffnung, übles Leben.“ Freidank, mittelhochdeutscher Dichter (um 1200 - um 1240) „Armut schändet nicht, aber sie drückt.“ Arabisches Sprichwort „Der Reiche tut Unrecht und prahlt noch damit, der Arme leidet Unrecht und muss um Gnade bitten.“ Jesus Sirach 13,3 „Armut ist wie ein Löwe - kämpfst du nicht, wirst du gefressen.“ Sprichwort der Haya „Reichtum protzt, Armut duckt sich.“ Deutsches Sprichwort „Nur wer in Armut, im Unglück, in der Schande lebt, ist vor Neid sicher.“ August Lämmle, deutscher Schriftsteller (1876-1962) Haitianische Sprichwörter: „Ein leerer Sack kann nicht stehen.“ „Der Stein im Wasser kennt den Schmerz jenes Steines nicht, der in brütender Sonne liegt.“ „Die Not bringt den Esel zum Laufen, schneller als ein Pferd.“ „Nach dem Tanz ist die Trommel schwer.“ „In eine Kirche geht man, um Gott anzubeten; in einen Vodoutempel geht man, um selber ein Gott zu werden!“ „Hinter den Bergen sind noch mehr Berge.“ ADVENIAT-AKTION 2009 Basistext FÜR SCHULE UND JUGENDARBEIT | 6 Medien M2 – Armut 10 Armut Mehr als eine Milliarde Menschen auf der Erde leben am Rande des Existenzminimums, rund 30.000 Menschen sterben täglich an Ursachen von Armut und Hunger. Doch wie wird Armut eigentlich genau definiert? Armut steht primär für den Mangel an lebenswichtigen Gütern; arm ist also der, der sich Essen, Obdach und Kleidung nicht leisten kann. Armut entsteht, wenn die Chancen, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, ungleich verteilt sind. In den Entwicklungsländern ist das am häufigsten der Fall, jedoch breitet sie sich in Wohlstandsgesellschaften ebenfalls zunehmend aus. Dort wird die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer. Im Wesentlichen unterscheidet man zwischen vier Arten von Armut, wobei die beiden ersten am bekanntesten sind. In absoluter Armut leben die Menschen, die ein Einkommens- und Ausgabenniveau haben, bei dem sie sich die erforderliche Ernährung und lebenswichtigen Bedarfsartikel des täglichen Lebens nicht mehr leisten können, da sie täglich weniger als 1 US-Dollar zur Verfügung haben. Weltweit zählen dazu 1,2 Milliarden Menschen. Die relative Armut ist ein Merkmal von Wohlstandsgesellschaften und betrifft dort die „Unterschicht“. Hierzu zählen die Menschen, deren Einkommen deutlich unter dem Durchschnitt aller Einkommen eines Staates liegt. Die gefühlte Armut ist eine subjektive Form von Armut. Denn es gibt viele Menschen, die sich aufgrund ihrer allgemeinen gesellschaftlichen Ausgrenzung oder Diskriminierung als „arm“ betrachten und in ständiger Angst vor Armut und einer immer schwierigeren wirtschaftlichen Lage leben. Bei den nun folgenden Ausführungen zur Armut wird eine vierte Form vernachlässigt: die freiwillige Armut. Es gibt nämlich einige Menschen, die aufgrund ihrer Religion geloben, in Armut zu leben. Ordensleute der römisch-katholischen Kirche zum Beispiel legen ein Armutsgelübde ab, mit dem sie versprechen, auf persönliches Einkommen und eigenes Vermögen zu verzichten. Doch der Weg zu einer Welt ohne Armut scheint noch sehr lang. Viele Kinder wachsen in Armut auf und haben ein Leben lang Schwierigkeiten, aus dem Teufelskreis auszubrechen. 150 Millionen Kinder unter fünf Jahren haben nicht genug zu essen, 30 Millionen Kinder werden als Kindersklaven oder Prostituierte ausgebeutet, rund 400 Millionen Kinder müssen ohne sauberes Wasser leben. Da mehr als 120 Millionen Kinder nicht zur Schule gehen, haben sie auf dem Arbeitsmarkt kaum Chancen. Wer keinen Beruf und kein Einkommen hat, kann sich keine Wohnung leisten, und wer obdachlos ist, bekommt keinen Job. Es ist sehr schwer, sich aus diesem Teufelskreis zu befreien. In Deutschland sind 2,5 Millionen Kinder und 3 Millionen Rentner von Armut bedroht. Folgen großer Armut sind nicht „nur“ Unterernährung, sondern auch ein wenig ausgeprägtes Selbstwertgefühl, erhöhte Kriminalität, Umweltzerstörung und emotionale Armut. Arme Menschen verfügen nicht über genügend Geld, um ein Bewusstsein für globale Probleme zu entwickeln. Angegeben wird die Armut oft in einer Armutsquote. Das ist der prozentuale Anteil der Personen an der gesamten Bevölkerung einer Volkswirtschaft, die mit einem Einkommen unterhalb der Armutsgrenze auskommen müssen. 2008 war in der Bundesrepublik jeder achte von Armut bedroht, also 13 %. Nach der EU-Definition mussten sie monatlich mit weniger als 781 Euro auskommen. Zur Unterstützung gibt es hier vom Staat seit 2005 Hartz-IV, wovon rund 40 % der alleinerziehenden Mütter mit 2,5 Millionen Kindern leben. Es gibt viele verschiedene Theorien für die Entstehung der Armut in der Welt. Die globale Bevölkerungs-Explosion steht dabei an vorderster Stelle. Eine gerechte Verteilung der Güter wird in den wenigsten Kulturen verwirklicht. Andere führen eine hohe Arbeitslosigkeit aufgrund großer Bildungsdefizite an, wieder andere sehen Armut nur als eine Entwicklungsstufe einer jeden Gesellschaft, die jedoch überwunden wird in einer klassenlosen Gesellschaft ohne Ausbeutung der Armen. ADVENIAT-AKTION 2009 Basistext FÜR SCHULE UND JUGENDARBEIT | 7 Medien M2 – Armut 10 Jedoch ist die Armut in Lateinamerika noch immer größer und elender als in Deutschland, denn hier unterstützt das Sozialamt sie täglich mit 10 Euro, und soziale städtische, häufig aber auch kirchliche oder ehrenamtliche Dienste stellen „nicht Sesshaften“ in größeren Städten eine vorübergehende Unterkunft zur Verfügung und bieten warme Mahlzeiten an. Auch wenn der reichste Mensch der Welt aus Mexiko stammt, leben immer noch fast 4,5 Millionen Menschen dort in absoluter Armut und haben weniger als 1 US-Dollar pro Tag für ihren Lebensunterhalt zur Verfügung. Die meisten von ihnen wohnen in den Slums der Großstädte oder fernab der Zivilisation. Lateinamerika ist das Gebiet mit der zweithöchsten ungleichen Verteilung des Volkseinkommens. So besitzen die reichsten 10 % der Brasilianer 47 % des Vermögens, während die ärmsten 10% der Brasilianer jedoch nur 0,7 % ihr Eigen nennen können. Nur südlich der Sahara ist die Kluft zwischen Armut und Reichtum noch größer. Trotzdem kann Lateinamerika Erfolge verbuchen: im Jahr 2006 schafften 14 Millionen Menschen den Sprung über die Armutsschwelle. Außerdem konnten einige Länder die Armut senken. Argentinien ist dabei der Vorreiter: In den vergangenen 4 Jahren ist die Zahl der Bedürftigen dort um 24,4 Prozentpunkte gesunken, in Mexiko immerhin um mehr als 5 und in Brasilien um 4,2 Prozentpunkte. Das hohe Wachstum der Volkswirtschaften und ein Konjunkturaufschwung durch höhere Preise für Rohstoffe konnten dabei helfen. Denn es sind neue Arbeitsplätze entstanden und die Staaten haben mehr Geld für Investitionen in Sozialprogramme zur Verfügung gehabt. 10 Insgesamt kann man eine positive Tendenz feststellen. Die Weltbevölkerung hat sich seit 1960 verdoppelt – im Gegensatz zur Zahl der Armen. Diese ist zwar ebenfalls gestiegen, aber nicht entsprechend dem Bevölkerungswachstum. Heute leben die Menschen in den Entwicklungsländern rund 20 Jahre länger, es können 75 % der Menschen lesen und schreiben (1970 nur 40 %) und heute leidet „nur noch“ jeder Sechste an Hunger, der damals jeden Dritten betraf. In einem Punkt sind sich Experten jedoch einig: Die Unterstützung kann den armen Ländern nur bei der oberflächlichen Bekämpfung der Armut helfen, denn die entscheidenden Schritte müssen die Menschen immer selbst tun. So sollte das Motto „Hilfe zur Selbsthilfe“ lauten. Hannah Lepping uellen: http://de.wikipedia.org/; http://www.planet-wissen.de/; http://www.aktion-gegen-armut.de/; http://www.armut.de/; Q http://www.kinderprojekt-arche.de/; https://www.berlinonline.de/ (Letzter Zugriff: 03.06.2009) ADVENIAT-AKTION 2009 Basistext FÜR SCHULE UND JUGENDARBEIT | 8 Medien M3 – Definition von Armut 11 Was ist eigentlich Armut? Welche Arten von Armut gibt es? Man kann im Wesentlichen sechs Ausprägungen von Armut unterscheiden: Absolute Armut Absolute oder extreme Armut bezeichnet nach Auskunft der Weltbank eine Armut, die durch ein Einkommens- und Ausgabenniveau von maximal einem Dollar gekennzeichnet ist. Oft können sich Betroffene eine erforderliche Ernährung und lebenswichtige Bedarfsartikel nicht mehr leisten. Auf der Welt gibt es 1,2 Milliarden Menschen, die in diese Kategorie fallen. Indikatoren der absoluten Armut nach der International Development Association (IDA) sind die folgenden: – – – – – Pro-Kopf-Einkommen (PKE) < 150 US-Dollar/Jahr Kalorienaufnahme je nach Land < 2.160–2.670/Tag Durchschnittliche Lebenserwartung < 55 Jahre Kindersterblichkeit > 33/1.000 Geburtenrate > 25/1.000 Freiwillig gewählte Armut Manche Menschen fassen Armut als eine Tugend auf und legen wie Franz von Assisi ein Armutsgelübde ab, so auch die Ordensleute in der römischkatholischen Kirche. Ihr Vorbild ist Jesus von Nazareth. Das neue Leben in Armut ermöglicht ihnen andere Sichtweisen und einen tieferen Zugang zu anderen – meist armen – Menschen. Transitorische Armut Transitorische (vorübergehende) Armut gleicht sich im Verlauf der Zeit wieder aus. So wird sie von Menschen durchlebt, die zum Beispiel kurz vor der Ernte, in einer jungen Ehe oder auch nach Katastrophen leben. Strukturelle Armut Die strukturelle Armut dagegen ist nicht zeitweise, sondern dauerhaft, so wird sie mit großer Wahrscheinlichkeit in die nächsten Generationen weitergegeben. Es sind hauptsächlich die Menschen in Elendsvierteln, die in struktureller Armut leben. Denn wenn eine Person einer gesellschaftlichen Randgruppe angehört, ist es dort schwierig, wieder auszubrechen. Oft wird hier vom „Teufelskreis der Armut“ gesprochen. Hannah Lepping Relative Armut Von relativer Armut spricht man in Wohlstandsgesellschaften, in denen es absolute Armut praktisch kaum gibt, wohl aber eine „Unterschicht“ (neuerdings auch Prekariat genannt). Als relativ arm gilt hier derjenige, dessen Einkommen weniger als die Hälfte des Durchschnittseinkommens eines Staates beträgt. Gefühlte Armut Gefühlte oder auch sogenannte sozio-kulturelle Armut lässt sich weniger an konkreten Einkommensgrenzen festmachen. Es ist mehr das Bewusstsein, das diese Art der Armut konstituiert. Sie betrifft diejenigen, die sich aufgrund ihrer allgemeinen gesellschaftlichen Ausgrenzung oder Diskriminierung als „arm“ betrachten oder die Angst vor einer sich verschlechternden wirtschaftlichen Lage haben und in ständiger Angst vor Armut leben. 11 Quellen: www.armut.de und www.wikipedia.de (Letzter Zugriff: 03.06.2009) ADVENIAT-AKTION 2009 Basistext FÜR SCHULE UND JUGENDARBEIT | 9 Medien M4 – Umfrage Was verbinde ich mit „Armut“? > „Kein Dach über dem Kopf, Einsamkeit, Hunger, Kälte und Krankheiten“ (Lioba, 28) > „Für mich gibt es einmal die finanzielle Armut, d.h. man hat weniger Geld, als man braucht, um seine Grundbedürfnisse zu stillen (Nahrung, Kleidung, Bücher, Bildung usw.). Dann gibt es aber auch eine soziale Armut, d.h. man hat keine oder wenige Kontakte zu anderen Menschen. Keine Freunde oder keine Familie, die einem hilft, wenn man in Not ist.“ (Silke, 42) > „Wenn ich meine alltäglichen Bedürfnisse (körperlich und seelisch) nicht erfüllen kann.“ (Rebekka, 20) > „Kein finanzieller Spielraum, eingeschränkter Zugang zu Mitteln des täglichen Bedarfs, Chancenlosigkeit.“ (Nikola, 29) > „Äußere Armut zwingt dazu, nur noch um die Erfüllung der Grundbedürfnisse Nahrung und Unterkunft zu kreisen. Besonders schlimm, wenn sie Familien mit Kindern trifft: für die Eltern, die ihre Kinder nicht versorgen können und für die Kinder, die damit großwerden – oder an Hunger sterben. Es gibt auch innere Armut, Ärmlichkeit – das Gegenteil von Großzügigkeit und Fülle.“ (Lisa, 49) > „Sehr wenig Essen - Hunger, zerlumpte Kleidung, kein sauberes Wasser, kein Strom, Müllberge.“ (Antonia, 19) > „Kein Geld, wenig Vertrauen, keine soziale und gesellschaftliche Sicherheit.“ (Gregor, 16) > „Hunger, Obdachlosigkeit, mangelnde medizinische Versorgung.“ (Maria, 28) > „Nicht genug zum Essen haben, Kinder mit Hungerbäuchen, heruntergekommene Wohnsiedlungen.“ (Mirjam, 18) > „Sorge, z. B. beim Einkaufen (reicht das Geld im Portemonnaie?), bei Verabredungen (s. o.), wenn man eingeladen wird (kann ich etwas schenken oder besser absagen, Ausreden verwenden? Kann ich mich angemessen kleiden?), so wird Armut auch zur Peinlichkeit, Unfreiheit, Unehrlichkeit, sozialen Isolation. Das sind Erfahrungen aus meiner Kindheit (60er Jahre), in der ich übrigens nie hungern musste, wie es in der Dritten Welt der Fall ist.“ (Inge, 48) > „Wenn Eltern nicht in der Lage sind, ihre Kinder zu ernähren und zu kleiden. Wenn alte Leute allein gelassen und abgeschoben werden und sich niemand um sie kümmert.“ (Werner, 75) > „Soziale und finanzielle Armut (keine Freunde, keine Familie zu haben, am Existenzminimum oder auch darunter leben müssen), einsam sein, Menschen, die sozial isoliert leben, Armut gibt es in Deutschland ebenso wie in Entwicklungsländern - gerade bei Kindern, die nicht genug zum Leben haben (Essen, Kleidung, keine Ausbildung, keinen Job)“ (Verena, 31) > „Hauptsächlich so Sachen, wie man auf Bildern aus Afrika o.ä. im Fernsehen sieht: Keine Behausung, Hunger, kein Wasser, Elend. Mir ist zwar schon klar, dass es Armut oder die anderen Dinge auch z. B. in Deutschland gibt, aber irgendwie verbinde ich halt eher solche Sachen in Afrika damit.“ (Michael, 22) > „ Zu wenig Geld haben, um sich Lebensmittel und Kleider zu kaufen und in keinem richtigen Haus zu wohnen. Dass es keine Möglichkeit gibt, eine Schule zu besuchen und der Schutz vor keinen‚ schlimmen’ Krankheiten nicht gewährleistet ist.“ (Hannah, 17) > „Kein sauberes Trinkwasser, keine sanitären Anlagen, Hunger.“ (Mirjam, 21) > „Nicht genügend Ressourcen (sei es Bildung, Geld, Nahrung etc.).“ (Maren, 26) > „Leiden, Hunger.“ (Julia, 14) > „ Der Mangel an etwas Lebensnotwendigem, das kann materielle Armut sein, wie z. B. der Mangel an Lebensmitteln, Hygiene, ausreichend Geld etc. Es gibt aber auch körperliche/psychische Armut: Mangel an Liebe, Freundschaft, Geborgenheit, Gesundheit.“ (Johanna, 19) > „Mangel / Trauer.“ (Jutta, 42) > „ Sich ums tägliche materielle Überleben sorgen müssen, wie Tausende in den Ländern der sogenannten Dritten Welt, aber auch zunehmend mehr Menschen bei uns; andererseits: soziale und emotionale Armut: Menschen, die keine Freundschaften schließen können, voller Ängste stecken und dem Leben nicht trauen.“ (Katharina, 60) ADVENIAT-AKTION 2009 Basistext FÜR SCHULE UND JUGENDARBEIT | 10 Medien M4 – Umfrage Was macht für mich ein reiches, erfülltes Leben aus? > „ Familie und Freunde, denen ich vertrauen kann, geliebt zu werden und zu lieben, eine Wohnung/ Haus, das auch Zuhause ist, warm Duschen, wenn ich mag, satt zu sein.“ (Lioba, 28) > „ Geborgenheit im Kreise meiner Familie. Gute Freunde, die da sind, wenn man sie braucht. Aufgaben oder/und einen Beruf, die einen erfüllen oder bereichern. Gesundheit und Vorfreude auf die Zukunft.“ > „ Wenn ich am Abend, nach getaner Arbeit, auf den Tag zurückblicke und mit meinem Tagewerk zufrieden bin. Wenn ich dann noch in einer intakten Familie lebe und ein ausreichendes Einkommen habe, bin ich mehr als zufrieden. Wenn ich als alter Mensch auf die immer noch intakte Familie blicke, die sich durch Ehepartner und Enkelkinder vergrößert hat, aber sich immer noch als Gemeinschaft sieht, dann ist das auch ein großes Glück.“ (Werner, 75) (Silke, 42) > „ Wenn ich eine Aufgabe gefunden habe, die mich ausfüllt und wenn ich Rückhalt bekomme durch meine Freunde und Familie. Auch den richtigen Partner gefunden zu haben und eine Familie zu gründen gehören für mich zu einem erfüllten Leben.“ (Rebekka, 20) > „ Liebe, soziales Miteinander, Beziehungen (fast?) jeder Art, Familie, Glaube, Gesundheit. Aber auch eine finanzielle Sicherheit gehört heute unbedingt dazu.“ (Nikola, 29) > „ Zu leben in Liebe und glücklichen Beziehungen. Das sind die kostbarsten Schätze. Das Wichtigste ist nicht zu kaufen.“ (Lisa, 49) > „ Viel Abwechslung, viele Möglichkeiten, enge soziale Kontakte (Familie und Freunde), Freude, Glaube.“ (Antonia, 19) > „ Gesundheit, (in Würde) alt werden, Kinder und Enkelkinder haben, soziale und materielle/ finanzielle Sicherheit (Familie und Freunde - ein sicherer Arbeitsplatz, ein ausreichendes Einkommen), meine Interessen und Fähigkeiten (aus)leben können und dass man sich einige Wünsche, Träume und Ziele verwirklichen kann.“ (Verena, 31) > „ Leben, wie ich es möchte und mir vorstelle. Glücklich sein mit Familie und Freunden. Etwas zu „schaffen“, sei es bei der Arbeit, oder sozial/ ehrenamtlich oder so. Nichts bereuen. Ein „guter“ Mann/Vater/Mensch sein, wobei gut wieder schwer zu definieren ist.“ (Michael, 22) > „ Gesundheit, eine tolle Familie zu haben, tolle Freunde und eine gesicherte Zukunft.“ (Hannah, 17) > „ Guter Kontakt zu anderen Menschen; eine sinnvolle Aufgabe haben: Kontakt zu Kindern.“ (Jutta, 42) > „Hervorragende Infrastruktur, großes Vertrauen, Wohlstand.“ (Gregor, 16) Hannah Lepping > „Gesicherter Lebensunterhalt.“ (Maria, 28) > „ Freunde, Gesundheit, Gottes Nähe, materiell genug haben, um gut leben zu können.“ (Mirjam, 21) > „ Erfüllung meiner Basisbedürfnisse (Essen, Platz zum Schlafen etc.), Menschen um mich haben, die mich verstehen.“ (Maren, 26) > „Weite, Vielfalt, Dankbarkeit.“ (Marieluise, 54) „Sicherheit, Zufriedenheit.“ (Julia, 14) > „ Immer genug zum Essen im Haus haben, große Häuser mit grüner Wiese, Freunde, Familie, ohne finanzielle Schwierigkeiten in den Urlaub fahren zu können.“ (Mirjam, 18) > „Emotionale Sicherheit, Menschen, auf die ich mich verlassen kann.“ (Inge, 48) ADVENIAT-AKTION 2009 Basistext FÜR SCHULE UND JUGENDARBEIT | 11 Medien M5 – Haiti (République d‘Haïti) 12 Steckbrief : > > > > > > auptstadt: Port-au-Prince H Staatsform : Republik Amtssprache : Französisch, Créole (Haiti) Einwohner : 8.924.553 Währung: 1 Gourde= 100 Centimes Es ist das drittärmste Land der Welt und das ärmste Land der westlichen Welt. Geographie: > H öchster Berg: Pic (oder Morne) de la Selle (2.680 m über NN) liegt fast an der Grenze zur Dominikanischen Republik > Haiti liegt im Bereich der Wirbelstürme > Mittelamerika Religion: > > > > 8 0 % der Einwohner sind katholisch getauft 15 % der Einwohner sind Protestanten 5 % der Einwohner sind Anhänger anderer Religionen kleinerer Einwohneranteil sind Adventisten, Methodisten, Anglikaner, Zeugen Jehovas, Mormonen, und/oder gehören der ursprünglich aus Afrika stammenden Vodou-Kultur an Jetzige Situation in Haiti > H aiti leidet noch unter den Folgen der Hurrikans von 2008 > Es hat schwere Überschwemmungen, Erdrutsche und große Schäden an Gebäuden, Brücken und Straßen gegeben. > Betroffen ist das gesamte Land, insbesondere aber die Region Gonaïves. Eine Normalisierung der Situation ist kurzfristig nicht zu erwarten > Durch Misswirtschaft und Not sind viele Wälder vernichtet worden > Die Abholzung hat zu Bodenerosion geführt. Fruchtbares Erdreich wurde durch den Regen weggeschwemmt. Zurück blieb die kahle Erde. Wurzeln finden keinen Halt mehr. Die Landschaft verödet > Haiti leidet unter Wassermangel Bevölkerung: > > > > 3 3% der Haitianer leben in der Stadt die Lebenserwartung liegt bei circa 50 Jahren 2006 waren 57,1% Analphabeten die Menschen wehren sich seit längerer Zeit gegen die steigenden Nahrungsmittel-Preise > es gibt kein Wirtschaftswachstum > 76,7 % der Bevölkerung leben in Armut Soziale Lage: > D as öffentliche Leben in der Stadt ist von Gewalt und Angst geprägt > Raubüberfälle und Entführung zur Geldbeschaffung kommen immer mehr in Mode > bei Verzögerungen der Lösegeldzahlung werden die Menschen teilweise grausam ermordet 12 Quellen: u.a. www.auswaertiges-amt.de/diplo/de/Laenderinformationen/01-Laender/Haiti.html, Munzinger-Archiv ADVENIAT-AKTION 2009 Basistext FÜR SCHULE UND JUGENDARBEIT | 12 Medien M5 – Haiti (République d‘Haïti) Geschichte: > 1 492: Entdeckung der Insel Hispaniola durch Christoph Kolumbus. Ausrottung der Urbevölkerung (Arawaken o. Taíno) innerhalb einiger Jahrzehnte. > A b ca. 1675: Wiederbevölkerung mit afrikanischen Sklaven für Zuckerrohrplantagen. > 1 697: Aufteilung der Insel. Frankreich bekommt das westliche Drittel und nennt es Saint-Domingue. Es wird im 18. Jahrhundert die reichste Kolonie Frankreichs. > 2 2.08.1791: Sklavenaufstand unter Führung von Toussaint L’Ouverture und Jean-Jacques Dessalines. > 1 987: Militärputsch. Die Verfassung wird außer Kraft gesetzt. Das Militär bildet eine Regierung. > 1 990: Auf internationalen Druck finden Wahlen statt. Der Hoffnungsträger des bitter verarmten Volkes und frühere Salesianer-Priester, Jean- Bertrand Aristide, gewinnt die Wahl. > 1 991: Erneuter Militärputsch durch General Raoul Cédras. Aristide bildet in Florida eine Exilregierung. > 1 994: Militärintervention durch die USA. Aristide kehrt unter Jubel der Bevölkerung zurück. > 1995: Haiti wird unter den Schutz eines UNO-Mandates gestellt. > 0 1.01.1804: Unabhängigkeitserklärung unter dem Namen Haiti. Haiti ist die erste unabhängige Republik von Schwarzen und Mulatten. Die ehemaligen Großplantagen werden unter der Bevölkerung aufgeteilt. > 1 806: Tod von Dessalines, Teilung des Landes in mulattischen Süden und schwarzen Norden. > 1 820: Wiedervereinigung unter Präsident Boyer. Haiti besetzt den spanischen Teil der Insel, die spätere Dominikanische Republik. > 1 822: Haiti schafft im besetzten spanischen Teil der Insel die Sklaverei ab. > 1 825: Frankreich erzwingt durch Drohung mit militärischer Intervention als Gegenleistung für eine Anerkennung Haitis und als Entschädigung für enteignete Plantagenbesitzer die Zahlung von 90 Millionen Francs d’Or. Haiti ist das mit Abstand ärmste Land der ganzen karibischen / mittelamerikanischen Region. > 1 996: Demokratische Wahlen. Die Partei Aristides gewinnt. Da Aristide offiziell seit 5 Jahren im Amt ist, übernimmt sein Weggefährte René Préval das Präsidentenamt, da die haitianische Verfassung eine längere Amtszeit ausschließt > 1 997: Das UNO-Schutzmandat läuft aus. Die UNO-Truppen werden abgezogen. > 2 000: Parlamentswahlen. Aristide gewinnt mit 90 % und tritt 2001 erneut das Präsidentenamt an. > 2 004: Gewalttätige Unruhen, unter Beteiligung des Militärs und oppositioneller Gruppen sowie ausländischer Interessengruppen, zwingen Aristide, das Land zu verlassen und nach Südafrika zu gehen. > 2 009: Die Verelendung des Landes nimmt weiter zu, viele Haitianer verlassen das Land in die benachbarte Dominikanische Republik oder in die USA und Kanada. > B is 1915-1934: Besetzung durch die USA. Verschiedene Versuche, das Agrar- und Bildungssystem sowie die Infrastruktur zu reformieren, scheitern an einer zu geringen Rücksichtnahme auf die haitianische Kultur und deren Traditionen und Bräuche. > 1 957: Der ehemalige Landarzt François Duvalier reißt die Macht an sich. Als „Papa Doc“ errichtet er eine Diktatur, die sich mit Hilfe einer Truppe aus Schlägern und Mördern, den sogenannten „Tontons Macouts“, grausam an der Macht zu halten weiß. ADVENIAT-AKTION 2009 Basistext FÜR SCHULE UND JUGENDARBEIT | 13 Medien M6 – République d’Haïti – Republik Haiti Grunddaten13 > L age: Westliches Drittel der Karibik-Insel Hispaniola, Grenze im Osten mit der Dominikanischen Republik > Größe: 27.750 km² (80 % der Fläche NRWs) Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass nur wenige statistische Daten zur Demographie Haitis vorliegen. Zudem sind sie oft veraltet und variieren z.T. erheblich. Die Informationen basieren meist auf Beobachtungen, Annahmen und Schätzungen. > H auptstadt: Port-au-Prince (1.277.000 Einwohner; Großraum ca. 2,5 Mio. Einwohner) > B evölkerung: Ca. 8,9 Mio. (+ ca. 2,5 Mio. im Ausland); etwa 95 % Schwarze, 5 % Mulatten und Weiße Ca. 66 % der Bevölkerung leben auf dem Land (zum Vergleich: 77 % der lateinamerikanischen Bevölkerung leben in der Stadt.) > R eligionen: 80 % römisch-katholisch (getauft), 15 % protestantisch, 5 % sonstige Religionsgemeinschaften, sehr stark verbreiteter Vodou-Kult (ca. 75 %) > B IP: 4,1 Mrd. US-Dollar (vgl. Deutschland 2004: 2.703 Mrd. US-Dollar) BIP pro Kopf:739 US-Dollar (vgl. Deutschland 2004: 32.708 US-Dollar) > S prachen: Kreolisch (gesprochen von ca. 98 %) und Französisch (verstanden von ca. 10 %, gesprochen von 2 %) als gleichberechtigte Staatssprachen 13 Quellen: Auswärtiges Amt – Haiti, Stand Mai 2008 Bundeszentrale für politische Bildung: Globalisierung – Ökonomische Teilhabe, http://www.bpb.de/wissen/6IL140,0,0,%D6konomische_Teilhabe.html, abgerufen am 27.08.2008 Central Intelligence Agency: The World Factbook, Haiti. https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/ha.html, abgerufen am 02.09.2008 Munzinger-Archiv: Internationales Handbuch-Länder aktuell – Haiti Politik, 28/06 Bild: Geographic Guide: America Maps – Haiti Map, http://haiti.america-atlas.com/pictures/haiti-map.jpg, abgerufen am 02.09.2008 ADVENIAT-AKTION 2009 Basistext FÜR SCHULE UND JUGENDARBEIT | 14 Medien M6 – République d’Haïti – Republik Haiti Politik14 Medien15 Die Staatsform Haitis ist eine präsidiale Republik nach französischem Muster. Der Präsident wird für fünf Jahre zum Staatsoberhaupt gewählt. Seit Mai 2006 hat René Garcia Préval von der Partei Lespwa (Hoffnung) dieses Amt inne. Die Volksvertretung findet durch die Assemblée Nationale mit den Kammern Chambre des Députés (für vier Jahre gewählt) und Sénat (für sechs Jahre gewählt) statt. Zurzeit ist die Konstellation kompliziert. Prévals Regierungspartei musste sich auf eine Koalition einlassen, da er und seine Partei in der Assemblée Nationale nur über eine relative Mehrheit der Sitze verfügen. Erst Anfang August 2008 wurde eine weitere, dreimonatige Phase der Handlungsunfähigkeit überwunden. Nach zwei gescheiterten Versuchen wurde Prévals Kandidatin Michèle Pierre Louis zur neuen Premierministerin ernannt. Die Regierung ist seitdem wieder funktionsfähig. Die hohe Analphabetenrate und das niedrige Einkommen führten zu einer geringen Verbreitung gedruckter Medien. Es gibt lediglich zwei Tageszeitungen (Le Nouvelliste, unabhängig und konservativ, 6.000 Exemplare; Le Matin, unabhängig und liberal, 5.000 Exemplare) auf Französisch. Die führende kreolische Publikation Journal Liberté erscheint wöchentlich. Der Hörfunk ist außerordentlich wichtig. Neben dem staatlichen Sender Radio Nationale d’Haïti gibt es zahlreiche kommerzielle, regionale und auch katholische Radiostationen. Man findet kaum einen Haushalt ohne Radiogerät. Die Gewerkschaften sind sehr klein und fast bedeutungslos. Korruption ist extrem weit verbreitet. 2006 erklärte Transparency International Haiti zum korruptesten Staat der Welt. Das Justizsystem weist erhebliche Mängel auf. Viele vergangene und aktuelle kriminelle Akte blieben oder bleiben unbestraft. Trotz gegensätzlicher Interessen innerhalb der Koalitionen wird von Préval und seiner Regierung erwartet, dass die Menschenrechtsverletzungen und die polizeiliche Willkür, die unter der Präsidentschaft des im Februar 2004 gestürzten Präsidenten Jean-Bertrand Aristide herrschten, aufgearbeitet werden. Weitere Punkte auf Prévals Agenda sind die Bekämpfung der außerstaatlichen Gewalt, d.h. Banden in den Elendsvierteln von Port-au-Prince und paramilitärische Gruppen, und die Entwaffnung der Gesellschaft. Programme zur Förderung der Armen stoßen auf wenig Gegenliebe bei den Reichen, die einen Teil der Regierungskoalition bilden. Hinzu kommt, dass die Gebergruppe USA, Kanada, Frankreich, Japan, Norwegen sowie der IWF, die Weltbank und die EU ihre Hilfen an Bedingungen knüpfen, die eher der Handelsförderung als der Befriedigung der von der Bevölkerung geäußerten Bedürfnisse entsprechen. Prévals Handlungsspielraum ist sehr eng. Er steht unter dem Druck, gegensätzliche Erwartungen zu erfüllen und schwierige Kompromisse einzugehen. Die Verbreitung des Fernsehens ist nur auf Port-au-Prince und wenige andere Städte beschränkt. Einrichtungen von Rundfunk und TV wurden in der Vergangenheit bedroht und z.T. angegriffen und ihre Mitarbeiter ermordet. In der Rangliste zur Pressefreiheit der Organisation Reporter ohne Grenzen (Reporters sans frontieres - 1985 im südfranzösischen Montpellier von einer Hand voll Journalisten gegründet) belegte Haiti 2008 Platz 73 von 173. Der Beruf der Journalisten ist auch nach Ende der Herrschaft des 2004 gestürzten Präsidenten Jean-Bertrand Aristide, der rigoros gegen missliebige Journalisten vorging, gefährlich. Journalisten werden heute nicht unbedingt von der Regierung, sondern von Gegnern des Präsidenten Préval bedroht. Préval versucht, gegen die Gesetzlosigkeit unter der Bevölkerung und die Straflosigkeit ehemaliger politischer Verbrecher vorzugehen. Die große Gefährdung geht von den Gangs in den Slums aus. Unter diesen Gegebenheiten schreiten die geplanten Reformprozesse nur sehr schleppend voran. uellen: BBC News: Haiti tops world corruption table, http://news.bbc.co.uk/2/hi/business/6120522.stm, abgerufen am 26.08.2008 Q Belgischer Rundfunk Nachrichten: Haitis Senat stimmt neuer Premierministerin zu, http://www.brf.be/nachrichten/shownachricht?id=2630020, abgerufen am 05.09.2008 King, Alexander: Haiti – Schwieriger Neustart im Armenhaus. Haitis Präsident sitzt zwischen vielen Stühlen, Lateinamerika Nachrichten, 2006, (384), S. 47-49 NZZ Online: Neuer Anlauf in Haiti - Parlamentswahlen zwei Jahre nach dem Sturz von Aristide, http://www.nzz.ch/2006/04/22/al/newzzEMBMLO6R-12.html, abgerufen am 27.08.2008; Walelign, Tsigereda: Die Rückkehr des Kolonialismus. Wie die „Internationale Gemeinschaft“ ein Land zerstört. ila, 2007, 303-März, S. 49-55 Zoll, Elisabeth; Seiterich, Thomas: Elend, Zauber und ein Funken Hoffnung, Publik-Forum, 2008, (8), S. 49-55 15 Quellen: Auswärtiges Amt – Haiti, Stand Mai 2008 Reporter ohne Grenzen: Rangliste der Pressefreiheit 2006, http://www.reporter-ohne-grenzen.de/index.php?id=175, abgerufen am 26.08.2008 14 ADVENIAT-AKTION 2009 Basistext FÜR SCHULE UND JUGENDARBEIT | 15 Medien M6 – République d’Haïti – Republik Haiti Sicherheit und Kriminalität16 Gesellschaft17 Die Armee wurde 1995 vom damaligen Staatschef Aristide aufgelöst und durch einen neuen zivilen Polizeiapparat ersetzt. Nachdem Aristide 2004 ins Exil floh, entschied der UN-Sicherheitsrat, UN-Truppen zur Stabilisierung Haitis einzusetzen: die MINUSTAH (Mission des Nations Unies pour la stabilisation en Haïti). Die MINUSTAH-Soldaten kommen größtenteils aus lateinamerikanischen Staaten und stehen unter brasilianischem Kommando. Seit August 2008 sind insgesamt 9.040 Uniformierte im Einsatz, davon 7.105 Militärs und 1.935 Polizeibedienstete. Zudem ist ein ziviler Unterstützungsstab vor Ort. Er bemisst sich derzeit auf 474 internationale und 1.166 ortsansässige zivile Mitarbeiter. Die Truppen wurden eingesetzt, weil es keine demokratisch legitimierte Regierung und somit keinen funktionsfähigen Staat mit Gewaltmonopol gab. Die politische Stabilität Haitis ist in starkem Maße von der Präsenz der Truppen abhängig. Das gängige Familienkonzept in Haiti scheint sich mit der wachsenden Urbanisierung und Landflucht zunehmend weg von der „plaçage“-Familie zu entwickeln. Die „plaçage“ ist eine gesellschaftlich anerkannte, meist dauerhafte Form des Zusammenlebens ohne Heirat. Doch häufig lebt der Mann nur kurzzeitig mit einer Frau zusammen und verlässt sie dann für eine andere. Die Frauen ziehen in diesen Fällen ihre aus verschiedenen Beziehungen stammenden Kinder allein auf. Die Fruchtbarkeitsrate liegt bei ungefähr 4,7 Geburten pro Frau während ihres gesamten Lebens (total fertility rate). Die Kindersterblichkeit beträgt 6,2 %, sodass Haiti ein Bevölkerungswachstum von ca. 2,5 % aufweist. Die Altersstruktur des Landes gleicht einer Pyramide, die Mehrheit der Bevölkerung ist jung. Die Gesellschaft in Haiti ist sozial stark polarisiert. Mehr als 50 % der Besitztümer des Landes liegen in den Händen von ca. fünf Prozent der Bevölkerung. Es gibt eine dünne Mittelschicht, die sich aus Intellektuellen, Verwaltungsangestellten und den Angehörigen regulärer Berufsgruppen zusammensetzt. Die Mittelschicht ist wirtschaftlich nicht signifikant, dafür aber politisch sehr aktiv. Ein großes Problem der Sicherheitspolitik Haitis ist die massive außerstaatliche Gewalt. Banden und paramilitärische Gruppen verfügen über ein enormes Waffenpotential (ca. 250.000 unregistrierte Waffen) und verunsichern ganze Stadtteile und Regionen. Es wird berichtet, dass sich der Staat aus diesen Gebieten völlig zurückgezogen hat. Aufgabe der UNTruppen ist u.a. die Entwaffnung der Gesellschaft. In den Elendsvierteln wie der Cité Soleil in Port-au-Prince führen die Blauhelmsoldaten einen regelrechten Krieg gegen Banden, die sich wiederum untereinander Kriege um die Vorherrschaft in den Vierteln liefern. Erfolgreich waren die Soldaten bei ihrer Mission in den Elendsvierteln bisher nicht. Viele Bewohner erwarteten härtere Eingriffe. Da zusätzlich zur bereits hohen Verbreitung von Waffen durch die Verfassung garantiert wird, dass jedermann eine registrierte Waffe tragen darf, ist die Politik in dieser Hinsicht widersprüchlich und hindert sich selbst in ihrer Effektivität. Arbeitslosigkeit unter der arbeitsfähigen Bevölkerung ist extrem weit verbreitet. Schätzungsweise zwei Drittel der Bevölkerung finden in der Schattenwirtschaft Beschäftigung. Das macht die Erfassung von genauen Daten über die Arbeitslosigkeit sehr schwierig. Eine aktive Arbeitspolitik kann nur entstehen, wenn Informationen über das Arbeitsverhalten und die Probleme auf dem Arbeitsmarkt bekannt sind. Die Verbreitung von AIDS ist bedrohlich für die haitianische Gesellschaft und ihr Vorankommen. 2003 wurde die Zahl der erwachsenen HIV-Infizierten auf einen Anteil von 5,6 % an der Gesamtbevölkerung geschätzt. Insgesamt ist die Infektionsrate der Gesamtbevölkerung jedoch von 5,9% 1996 auf 3,1% 2004 stark gesunken. Trotzdem hat Haiti die bei weitem höchste Infiziertenrate der Karibik. uellen: Dillmann, Hans-Ulrich: Mit Panzern gegen Kriminelle. In Haiti sorgen bewaffnete Banden weiterhin für Angst und Schrecken unter der Bevölkerung. Q Lateinamerika Nachrichten, 2007, (397/398), S. 64-66 UN: Haiti - MINUSTAH - Facts and Figures - Strength, http://www.un.org/Depts/dpko/missions/minustah/facts.html, abgerufen am 29.08.2008 United Nations Security Council: Resolution 1542 (2004), http://daccessdds.un.org/doc/UNDOC/GEN/N04/332/98/PDF/N0433298.pdf?OpenElement, abgerufen am 29.08.2008 17 Quellen: Central Intelligence Agency: The World Factbook, Field Listing - Unemployment rate. https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/fields/2129.html, abgerufen am 02.09.2008 Central Intelligence Agency: The World Factbook, Haiti. https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/ha.html, abgerufen am 02.09.2008 Hurbon, Laënnec: Demokratisierung, kulturelle und nationale Identität in Haiti, in: Schreijäck, Thomas (Hg.), Menschwerden im Kulturwandel, Luzern: Edition Exodus 1999, S. 86-104 Menschwerden im Kulturwandel. Kontexte kultureller Identität als Wegmarken interkultureller Kompetenz. Initiationen und ihre Inkulturationsprozesse, hrsg. v. Th. Schreijäck, in Kooperation mit S. Heil, Luzern: Edition Exodus 1999, S. 515–526. 16 ADVENIAT-AKTION 2009 Basistext FÜR SCHULE UND JUGENDARBEIT | 16 Medien M6 – République d’Haïti – Republik Haiti Ein großes Problem der haitianischen Gesellschaft ist die weitgehende Abwesenheit kollektiver Werte. Viele Haitianer haben die Hoffnung aufgegeben, dass die Politik die Lage des Landes bessern könne. So gaben in einer Meinungsumfrage 90 % an, „dass sich am Horizont kein gemeinsames Entwicklungsprojekt abzeichnet.“18 Vodou und die kreolische Sprache sind zwar Stifter einer kulturellen Identität, beide werden aber als unprestigeträchtige Merkmale der Unterschicht angesehen. Der Globalisierungsprozess löst, wie oft in Entwicklungsländern, bei vielen Gefühle der Bedrohung durch eine „Weltkultur“ und Hilflosigkeit aus. In der Behauptung der haitianischen kulturellen Identität kann es geschehen, dass universelle Werte wie Menschenrechte und Demokratie als ein Produkt der kolonialistischen westlichen Kultur betrachtet werden und nicht als Lösungsansatz auch für das eigene Elend. Migration19 Armut und Perspektivlosigkeit führen zahlreiche Haitianer ins Ausland. Etwa 700.000 Haitianer leben heute als Landlose in der Dominikanischen Republik. Meist arbeiten sie als Zuckerrohrschneider, Bananenpflücker, Hilfs- und Bauarbeiter. Viele von ihnen sind schon seit Jahren, gar Jahrzehnten dort. Die Staatsangehörigkeit des Nachbarstaates und politische Rechte bleiben ihnen und ihren Kindern jedoch verweigert. Die illegalen Migranten leben oft unter ständiger Angst vor Deportation und arbeiten unter menschenunwürdigen Bedingungen, die zum Teil an Sklavereizustände erinnern. In den USA leben ca. 420.000 Haitianer, von denen viele die besonderen Hürden im Einbürgerungsprozess erfahren. Einige ihrer Schicksalsgefährten wurden in der Vergangenheit zurückgewiesen bzw. durften das Land nie betreten. Auch die Bahamas, Kuba, Jamaika und die Dominikanische Republik werden als Zufluchtsorte wahrgenommen. Kirche20 und Religion Der Anteil der Katholiken an der haitianischen Bevölkerung wird auf ca. 80 % geschätzt. Zwei Erzbistümer (Cap-Haïtien und Port-au-Prince) und acht Bistümer (Anse-à-Veau et Miragoâne, Fort-Liberté, Hinche, Jacmel, Jérémie, Les Cayes, Les Gonaïves und Port-de-Paix) standen 2007 insgesamt 338 Pfarreien vor. Diese Pfarreien wurden von 791 Priestern geistlich betreut, davon waren 306 Ordens- und 485 weltliche Priester. Das bedeutet: im Durchschnitt war ein Priester verantwortlich für die Seelsorge an 8.900 Katholiken. Eine durchschnittliche Pfarrei hatte 2007 25.900 Gemeindemitglieder. 421 Seminaristen bereiteten sich 2007 auf die Priesterweihe vor. In ganz Haiti gab es 5 Ständige Diakone. Neben den Priestern und Diakonen arbeiteten zudem 2.183 Ordensleute (1.851 Ordensfrauen und 332 Ordensbrüder) in Haiti. 4.890 Katecheten und Laienmissionare unterstützten sie in ihrer Arbeit. Unter den Katholiken ist Vodou allgemein verbreitet und wird auch von einzelnen katholischen Amtsträgern respektiert. Während der DuvalierDiktatur (s.u.) zählten die Vodou-Priester zu den Hauptstützen des Regimes. Der Einfluss von Vodou kann zu kriminellen Taten führen, z. B. zu Hexenverbrennungen. Angeklagte haben oft kein Schuldbewusstsein, da sie angeben, nicht aus eigenem Willen gehandelt zu haben. Das führt dazu, dass Gesetzesgeltung und Strafverfolgung für die große Mehrheit der Bevölkerung in Extremfällen für ihr Handeln nicht ausschlaggebend sind. Mindestens 15 % der haitianischen Bevölkerung sind Protestanten. Pfingstkirchen finden verstärkten Zulauf. Diese Sekten bekämpfen den Vodou-Kult21. Einige der gut ausgebildeten Haitianer fanden und finden Arbeitsplätze in Frankreich und im französischsprachigen Kanada. Dort bildeten sich haitianische Gemeinschaften heraus. urbon 1999: Demokratisierung, kulturelle und nationale Identität in Haiti, S. 92 H Quellen: Newland, Kathleen; Grieco, Elizabeth: Spotlight on Haitians in the United States. http://www.migrationinformation.org/Usfocus/display.cfm?ID=214#1, abgerufen am 29.08.2008 Olmedo, Ildefonso: Sklaven im Paradies. Haitianische Zuckerrohrschneider, ila, 2003 (266-Juni), S. 23-25 20 Annuarium Statistum Ecclesiae, 2007 (veröffentlicht im Jahre 2009) 21 Constant, Hubert: Sorgen und Hoffnungen in der Kirche, Vortrag von Hubert Constant, Erzbischof von Cap-Haïtien. Weltkirche, 2004, (10), S. 253-256 18 19 ADVENIAT-AKTION 2009 Basistext FÜR SCHULE UND JUGENDARBEIT | 17 Medien M6 – République d’Haïti – Republik Haiti Geschichte22 1492 gelangte Christoph Columbus als erster Europäer zu den von ihren Einwohnern, den Arawak-Indianern „Ayiti“, d.h. „hohe Berge“, genannte Insel. Die spanischen Siedler rotteten die Ureinwohner innerhalb von 25 Jahren aus. Im frühen 17. Jahrhundert begannen Franzosen, sich auf der Insel anzusiedeln. 1697 überließen die Spanier den französischen Kolonialherren das westliche Drittel der Insel. Seitdem ist Hispaniola, wie die Insel von den Spaniern genannt wurde, in die heute noch spanischsprachige Dominikanische Republik und das kreolischsprachige Haiti geteilt. Durch ihren rücksichtslosen Handel mit afrikanischen Sklaven wurde die französische Kolonie bald eine der wohlhabendsten der Karibik. Der Hauptverdienst war die Zuckerproduktion. 1791 erhoben sich die 500.000 Sklaven unter der Führung von Toussaint L’Ouverture gegen ihre französischen Herren. 1804 konnten sie schließlich die erste unabhängige Schwarze Republik ausrufen. Die Gewalt endete nicht mit den blutigen Schlachten um die Unabhängigkeit: 41 gewaltsame Machtwechsel musste das Land bisher verzeichnen. Der gefürchtetste Gewaltherrscher Haitis in jüngerer Zeit war François Duvalier („Papa Doc“), dem sein Sohn Jean-Claude („Baby Doc“) folgte. 1986 wurde er gestürzt. Es folgten mehrere Militärjuntas, bis 1990 bei den ersten demokratischen Wahlen der ehemalige Priester Jean-Bertrand Aristide mit 90 % der Stimmen und geradezu messianischen Erwartungen zum Präsidenten gewählt wurde. Auch Aristide wurde nach acht Monaten vom Militär gestürzt und ging in die USA ins Exil. 1994 hievte die USRegierung Aristide wieder ins Amt. Bald zeigte sich, dass er nicht daran dachte, die Hoffnungen seines Volkes zu erfüllen, sondern dass es ihm um den Machterhalt mit allen Mitteln ging (Wahlfälschung, Ermordung von Gegnern). Bei den Präsidentschaftswahlen vor vier Jahren waren das nur zwei der vielen Vorwürfe, mit denen die Opposition den Präsidenten konfrontierte. Der Widerstand wuchs. Am 29. Februar 2004 musste Aristide fliehen und ging nach Südafrika ins Exil. Nach zwei Jahren einer schwachen Übergangsregierung wurde René Garcia Préval 2006 zum Präsidenten gewählt. Elisabeth Jeglitzka und Michael Huhn 22 Quelle: Dw-world.de Deutsche Welle: Haiti: Geschichte der Gewalt. http://www.dw-world.de/dw/article/0,1454,1122405,00.html, abgerufen am 29.08.2008 Online-FocusChronologie: Haiti unter Präsident Aristide.http://www.focus.de/politik/ausland/chronologie_aid_80118.html, abgerufen am 27.08.2008 ADVENIAT-AKTION 2009 Basistext FÜR SCHULE UND JUGENDARBEIT | 18 Medien M7 – République d’Haïti – Republik Haiti Wirtschaft und Entwicklung23 Haiti ist das ärmste Land Amerikas. Der Human Development Index (HDI)24, der jedes Jahr vom UNDP (United Nations Development Programme) errechnet wird, setzte Haiti 2007 auf Rang 146 von 177, wobei Rang 1 das am meisten entwickelte Land ist. Der Entwicklungsstand Haitis ist dem der Region Subsahara-Afrika sehr ähnlich. Haiti weist seit 2004 wieder ein, wenn auch sehr geringes, wirtschaftliches Wachstum auf, nachdem 1961 bis 2000 das BIP jährlich um 1 % gefallen war. Nach 1986 führten die von der Weltbank und von USAID forcierten radikalen Liberalisierungsmaßnahmen sowie hausgemachte Probleme zum stetigen wirtschaftlichen Abstieg Haitis. Vor allem Aristides allgemeines Desinteresse an Wirtschaftspolitik und seine investitions- und unternehmensfeindliche Haltung gegenüber ausländischen Unternehmen trugen wesentlich zum Scheitern der Strukturanpassungsmaßnahmen der internationalen Finanzorganisationen bei. Heute ist der einzige produktive Sektor mit Wachstumspotential die Fertigungsindustrie. Allerdings ist das Potential begrenzt. Die Löhne sind so gering, dass durch sie keine konjunkturstimulierende Kaufkraft generiert wird. Der Großteil der Gewinne fließt ins Ausland ab. Die mit Abstand wichtigste Einnahmequelle Haitis sind die Beträge, die von Auswanderern nach Hause geschickt werden. Pro Jahr beträgt die Summe ungefähr die 1,3 Mrd. US-Dollar. Obwohl sich laut Informationen der Weltbank die wirtschaftliche Situation Haitis seit 2004 allmählich stabilisiert, das Land eine demokratisch gewählte Regierung hat und wirtschaftspolitische Reformen durchgeführt wurden, werden einer eigenständigen Entwicklungspolitik Haitis von der strukturellen Wirtschaftskrise, hohen Kriminalitätsraten und Gewalt klare Grenzen gesetzt. Gesetzlose, fast an Anarchie grenzende Verhaltensweisen sind vor allem unter Gangs in den Elendsvierteln von Port-au-Prince wie Cité Soleil sehr stark verbreitet. Verschiedene Indikatoren weisen auf die dramatische Entwicklungssituation hin. Die soziale Polarisation ist extrem, 54 % der Haitianer haben weniger als einen Dollar, 78 % haben weniger als zwei Dollar pro Tag zum Leben. Fast die Hälfte der Bevölkerung kann nicht lesen und schreiben. Die durchschnittliche Lebenserwartung bei der Geburt liegt bei nur 53 Jahren (vgl. Deutschland: 80 Jahre). Haitis Infrastruktur ist sehr schlecht ausgebaut. Für die Befriedigung der Grundbedürfnisse ist nicht gesorgt. Es fehlen ausreichende Gesundheits- und Bildungseinrichtungen und ein funktionierendes Sicherheits- und Justizsystem. Elisabeth Jeglitzka und Michael Huhn Quellen: Statistisches Bundesamt: Lebenserwartung in Deutschland, http://www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/Internet/DE/Content/Statistiken/Bevoelkerung/ GeburtenSterbefaelle/Tabellen/Content50/LebenserwartungDeutschland,templateId=renderPrint.psml, abgerufen am 02.09.2008; UNDP: Human Development Reports – Haiti; http://hdrstats.undp.org/countries/country_fact_sheets/cty_fs_HTI.html, abgerufen am 27.08.2008. World Bank: Haiti Country Brief; http://www.worldbank.org>countries>Haiti, abgerufen am 27.08.2008 23 Mit Hilfe des Human Development Index (HDI, Index der menschlichen Entwicklung) wird versucht, anhand einer Maßzahl den Stand der menschlichen Entwicklung in den Ländern der Welt zu verdeutlichen. Der in dem jährlichen Bericht über die menschliche Entwicklung enthaltene Index der menschlichen Entwicklung (englisch Human Development Index, HDI) erfasst die durchschnittlichen Werte eines Landes in grundlegenden Bereichen der menschlichen Entwicklung. Der Faktor Lebenserwartung gilt dabei als Indikator für Gesundheitsfürsorge, Ernährung und Hygiene; das Bildungsniveau steht für erworbene Kenntnisse und das Einkommen für einen angemessenen Lebensstandard. Dazu gehören unter anderem die Lebenserwartung bei der Geburt, das Bildungsniveau sowie das Pro-Kopf-Einkommen. Dadurch ergibt sich eine Rangliste, aus der man den Stand der durchschnittlichen Entwicklung eines Landes ableiten kann. 2004 erfasste der Index insgesamt rund 180 Staaten, zwei Drittel davon wurden als Länder mit geringer oder mittlerer Entwicklung eingestuft. 23 ADVENIAT-AKTION 2009 Basistext FÜR SCHULE UND JUGENDARBEIT | 19 Medien M8 – Hungerrevolten in Haiti 25 Preisanstieg für Lebensmittel treibt die Menschen auf die Straßen Die immensen Preissteigerungen bei Grundnahrungsmitteln führen in vielen Teilen der Welt zu Hungerrevolten. Auf dem amerikanischen Kontinent ist insbesondere das Armenhaus Haiti betroffen. Präsident René Préval will nun mit einem Subventionsprogramm die Unruhen eindämmen. Wenn Ginette Pierre vor dem Reisregal im Supermarkt von Pétionville steht, steigt in ihr die Wut hoch. Vor einem Monat musste sie für den 12,5 KiloSack umgerechnet 14 Euro bezahlen. Jetzt kostet die gleiche Menge schon 3,50 Euro mehr. Die 32 Jahre alte Hausangestellte verdient rund 68 Euro im Monat. Das ist noch gut bezahlt im Verhältnis zu anderen Hausangestellten in Haiti, die durchschnittlich rund 15 Euro weniger bekommen. Von ihrem Monatseinkommen muss Ginette Pierre noch die Fahrt zur Arbeitsstelle im Taptap, dem populären Verkehrsmittel bezahlen. Aber auch die Busfahrer halten die Hand immer weiter auf, denn der Benzinpreis ist von 0,65 auf 1,20 Euro pro Liter in die Höhe geschossen. Dass Ginette Pierre mit ihrer Wut keine Ausnahme ist, zeigte sich Anfang April. Ausgehend von der Hafenstadt Les Cayes rollte eine Welle von Hungerrevolten durch die Insel, der mindestens fünf Personen zum Opfer fielen. Bei der ersten Demonstration in Les Cayes skandierten mehr als 2.000 Menschen „Wir haben Hunger“ und forderten: „Runter mit den Preisen“. Die ständigen Preissteigerungen waren in den letzten Wochen auch Thema bei den Busfahrten von Rachel François (Name geändert). Der Brotpreis sei wieder gestiegen, stöhnte eine Mitfahrerin. Seit drei Wochen habe kein Fleisch mehr auf dem Tisch gestanden, stimmte ein anderer in den Beschwerdechor ein. „Mir bleibt am Monatsende immer weniger Geld“, klagt die 24 Jahre alte Sekretärin einer internationalen Hilfsorganisation. Als „einheimische Kraft“ verdient sie monatlich rund 300 Euro. Ein fast fürstliches Einkommen, wenn man sich statistische Angaben für das Armenhaus Lateinamerikas ansieht. Fast 80 Prozent der Bevölkerung verfügen täglich durchschnittlich über gerade mal 1,25 Euro. Und in Armenvierteln wie der Cité Soleil, der ganz und gar nicht „Sonnenstadt“ im Zentrum der haitianischen Hauptstadt, leben die Menschen von der Hand in den Mund. Männer schlagen sich um die kaum vorhandenen Tagelöhnerjobs, Frauen versuchen sich mit Kleinverkäufen an Nachbarn über Wasser zu halten. Ohne die Auslandsüberweisungen sähe die Situation noch düsterer aus. 1,1 Milliarden Euros schickten die im Ausland lebenden rund zwei Millionen Haitianer im Vorjahr an ihre armen Verwandten im „Land der Berge“, hat der Ökonom Kesner Pharel errechnet. Haiti hänge am Tropf der Überweisungen seiner im Ausland lebenden Staatsangehörigen, hat er schon vor Jahren in einem seiner Kommentare im Rundfunksender Radio Metropole vor der Wirtschaftsentwicklung gewarnt. Zwar hat sich das Land nach monatelangen Unruhen und dem Sturz des damaligen Staatspräsidenten Jean-Bertrand Aristide im Jahr 2004 wieder innenpolitisch stabilisiert. Dafür sorgen unter anderem rund 9.000 UN-Blauhelmsoldaten und UNPOL-Polizisten. Die Wirtschaftslage hat sich aber gerade für die Armen nicht verbessert. „Die wirtschaftliche Abhängigkeit wird immer schlimmer“, warnt Pharel. Seit mit Hilfe des Welternährungsprogramms billige Reislieferungen ins Land kommen, lohnt sich für die einheimischen Langkornproduzenten der Anbau kaum noch. Sie können mit den US-Preisen nicht konkurrieren. Ölspekulationen, Lieferengpässe – das tägliche Brot der internationalen Lieferanten mit großen Gewinnen und manchmal auch heftigen Verlusten – bekommt das 9-Millionen-Einwohner-Land sofort zu spüren. „Jede kleine Krise auf dem Weltmarkt macht sich hier als Katastrophe bemerkbar. Mich wundert es, dass das Pulverfass Lebensmittelkosten nicht schon früher explodiert ist“, sagt Pharel. Am 12. Februar wurde schließlich nach tagelangen gewaltsamen Protesten Ministerpräsident Alexis abgesetzt und der Preis für Reis um 16 Prozent gesenkt. Hans-Ulrich Dillmann 25 Lateinamerika Nachrichten Ausgabe 407 - Mai 2008; www.lateinamerikanachrichten.de/?/artikel/2756.html (Letzter Zugriff: 03.05.2009) ADVENIAT-AKTION 2009 Basistext FÜR SCHULE UND JUGENDARBEIT | 20 Medien M9 – Armut in Deutschland Nicht auffällig, aber präsent Zweimal im Jahr ziehen sie durch die Gemeinden, klingeln an Haus- und Wohnungstüren. Die ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei der Haus- und Straßensammlung der CARITAS. Zweimal im Jahr, im Frühjahr und vor Weihnachten, nehmen sie es in Kauf, ungläubig, abschätzig und auch ablehnend angesehen zu werden, wenn sie ihre Bitte vorbringen: die Bitte um eine Spende für die Bedürftigen in der Gemeinde und der Stadt. Oft reicht ein einmaliger Besuch nicht aus. Die Sammlerinnen und Sammler klingeln auch häufiger an einer Türe, bis sie die Bewohner antreffen. Der Erlös der Sammlung, in vielen Stunden während zweier Wochen erlaufen, erstiegen und erklingelt, bleibt zu einem Teil in der Gemeinde, der andere Teil geht an den Stadtverband. „Für die Bedürftigen in unserer Gemeinde?“, „Die gibt es doch gar nicht!“, „Unserer Gemeinde geht es doch gut!“ Solche Kommentare hat Frau M., seit 16 Jahren ehrenamtliche Mitarbeiterin bei der Haussammlung, schon häufiger zu hören bekommen. Auf ihrer Sammelliste stehen in fünf Straßenbezirken 129 katholische Familiennamen. Aber Frau M. lässt es sich nicht nehmen, auch bei Nichtkatholiken anzuklingeln und ihren Spruch vorzubringen. Schließlich kommt die Hilfe der CARITAS auch andersgläubigen Menschen, vor allem in der Grundschule und dem Kindergarten, zugute. Der Teil der Haussammlung, der in der Gemeinde verbleibt, wird unbürokratisch nach Bedarf vergeben. Der Kindergarten bekommt eine Summe, die er frei verwenden kann. Im Verwendungsbericht, den die Leiterin der CARITAS in jedem Jahr zukommen lässt, ist unter anderem von einem Schulranzen für ein Kind aus einer Familie, deren Vater durch Krankheit seit Jahren arbeitsunfähig ist, und von dem Paar Schuhe, dass einem Schulkind in der Mittagsbetreuung gesponsert wurde, die Rede. Die alleinerziehende Mutter hatte von dem Vater seit Monaten keinen Unterhalt mehr bekommen, und den Mitarbeiterinnen war aufgefallen, dass die Schuhe des Jungen mehr als abgetragen waren. Auch die katholische Grundschule erhält aus den Sammlungen einen Betrag für Kinder in schwierigen Situationen und auch hier erhalten die CARITAS-Mitarbeiter einen Verwendungsbericht, der aber, wie der Kindergarten-Bericht, keine Namen enthält. Manchmal wird von dem Geld die Teilnahme einzelner Kinder an Ausflügen finanziert oder auch die Materialbeteiligung, die die Eltern am Anfang des Schuljahres nicht tragen können. Manchmal fällt auch hier auf, dass ein Kind Mangelerscheinungen zeigt, und so wird zumindest das Milchgeld finanziert. Würden die Namen der Familien bekannt werden, würde so manche Hilfe nicht mehr angenommen, berichtet die Schulleiterin, die die Situation der Familien kennt und weiß, dass die direkte und unbürokratische Hilfe der CARITAS für diese Familien wichtig und unverzichtbar ist. „Armut“, so sagt Frau M., die auch die Kasse der Gemeindecaritas führt, „hat in unserer Gemeinde viele versteckte Gesichter. Sie ist nicht auffällig. Und die Leute, die arm sind, schämen sich, ihre Bedürftigkeit offen zu zeigen. Deshalb ist die CARITAS darauf angewiesen, Hinweise aus der Schule, aus dem Kindergarten oder auch von den Mitarbeiterinnen der Frauengemeinschaft zu bekommen.“ Gerade was die Armut im Alter angeht, sind solche Hinweise hilfreich. Die Mitarbeiterinnen der Frauengemeinschaft, die oft einen engen Kontakt zu den Mitgliedern in ihren Bezirken pflegen, bekommen vieles mit, was sonst „unter der Decke“ bleiben würde. Armut in der Gemeinde hat schließlich viele Gesichter. 72 Jahre ist Frau M. alt. Sie gehört zu den Frauen, die neben den 60% Rente ihres früh verstorbenen Ehemannes eine Betriebsrente der Firma ihres Mannes und eine eigene kleine Rente beziehen. Sie zählt sich selber zu den glücklichen Rentnerinnen unseres Landes, eine, die sich keine Sorgen um Zuzahlungen für Medikamente machen, sich keine sparsame Haltung bei der Beleuchtung und Beheizung ihrer Wohnung auferlegen muss. Frau M. hat es gut. Und sie weiß aus eigener Erfahrung, dass die ungläubige Frage und Bemerkung mancher Türöffner nur zu oft mit: „Doch, die gibt es auch in unserer Gemeinde!“ zu beantworten ist. Frau M. hat Kontakt zu der alten Dame, die vier Kinder großgezogen hat, deren Mann früh verstorben ist und die von weniger als 700 Euro im Monat leben muss. Miete zahlen, Heizung, Telefon, Radio und Fernsehen, Arztzuzahlungen, Medikamente: Da bleibt nicht mehr viel für das Schöne im Leben. ADVENIAT-AKTION 2009 Basistext FÜR SCHULE UND JUGENDARBEIT | 21 Medien M9 – Armut in Deutschland Für Menschen wie sie hat die Gemeinde den wöchentlichen Sonntagstreff für Alleinlebende im Pfarrsaal eingerichtet. Ein Café, organisiert und durchgeführt von ehrenamtlich tätigen Frauen, die zu Hause den Kuchen hierfür backen, Kaffee kochen und alles zum Selbstkostenpreis abgeben. Eine Gelegenheit, ohne Konsumdruck Menschen zu treffen und ein wenig Genuss zu haben. Keine Kellnerin, die fragt, ob man noch etwas bestellen möchte. Und das Stück Kuchen kostet keine unerschwinglichen 2,50 Euro. Viel indirekte Hilfe wird bei diesem Treff geleistet. Aufbau- und Informationsarbeit zum Beispiel. Die Teilnehmer tauschen ihre Erfahrungen aus, geben sich gegenseitig Hinweise, welche Hilfen man beantragen kann. Wohngeld, Pflegezuschüsse, GEZ-Gebührenbefreiung: die Liste von manchmal nicht bekannten Zuschussmöglichkeiten ist nicht kurz. So manche ist schon sonntagabends mit einem erleichterten Gesicht nach Hause gegangen. So manche? Ja, die Teilnehmer an diesen wöchentlichen, offenen Treffen sind weiblich. Und es dürfte kaum verwundern, dass die ehrenamtlichen Helferinnen im Café im Durchschnitt 68 Jahre alt sind! ADVENIAT-AKTION 2009 Frau M. wird, so sagt sie, sicher noch einige Zeit hier mithelfen: bei den Haussammlungen der CARITAS und dem Sonntagstreff im Pfarrsaal. „Solange meine Füße und mein Rücken das mitmachen! Es gibt in unserer Gemeinde genug zu tun. Und es ist doch auch ein gutes Gefühl – wenn man denn mal jemanden kennt, dem geholfen werden konnte, diesen auf der Straße zu treffen und zu sehen, dass es ihm oder ihr besser geht.“ Regina Högner Basistext FÜR SCHULE UND JUGENDARBEIT | 22 Medien M10 – Armut in der Welt ADVENIAT-AKTION 2009 Basistext FÜR SCHULE UND JUGENDARBEIT | 23 Medien M10 – Armut in der Welt Armut in der Welt – Leben unter 1 US-Dollar pro Tag26 Reichtum in der Welt – Leben über 200 US-$ pro Tag Fast Food-Verzehr 26 © Copyright 2006 SASI Group (University of Sheffield) and Mark Newman (University of Michigan), (Quelle: www.worldmapper.org/textindex/text_index.html) ADVENIAT-AKTION 2009 Basistext FÜR SCHULE UND JUGENDARBEIT | 24 Medien M11 – Lebenslage und extreme Armut Lebenslagendimension Indikator Unterversorgungsschwelle moderate Armut Unterversorgungsschwelle extreme Armut Nettoäquivalenzeinkommen 50 % des durchschnittlichen Nettoäquivalenzeinkommens Geringsteinkommen durch Nichtinanspruch nahme von Sozialhilfe Erwerbsbeteiligung Umfang der Erwerbstätigkeit Arbeitslosigkeit und / oder unterwertige Beschäftigung Verfestigte Langzeitarbeitslosigkeit mit mindestens zwei Jahren Dauer Wohnen Wohnungsversorgung Weniger als ein Zimmer je Haushaltsmitglied und / oder 50 % der mittleren Wohnfläche und / oder 50 % eines Ausstattungsindexes Wohnungslosigkeit Bildung Bildungsstatus kein allgemeiner oder berufsbildender Abschluss Funktionaler Analphabetismus Gesundheit Erkrankungen 50 % des Zufriedenheitsindexes gemäß Selbsteinschätzung Signifikantes Unterschreiten von Gesundheits indikatoren und/oder nachhaltige Rationierung Einkommen 27 27 W. Schönig, Extreme Armut wahrnehmen und aufdecken. Wider die Mittelschichtorientierung in der Armutsforschung, in: Amos international 2 (2008) 3-9, 7. ADVENIAT-AKTION 2009 Basistext FÜR SCHULE UND JUGENDARBEIT | 25 Medien M12 – Fakten zur Armutsstatistik Im Jahr 2005 waren in Deutschland 12,7 Prozent der Bevölkerung armutsgefährdet. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes und Ergebnissen der Statistik EU-SILC waren dabei in Ostdeutschland 15,4 Prozent und in Westdeutschland 11,8 Prozent der Bevölkerung armutsgefährdet. Der Schwellenwert für Armutsgefährdung in Deutschland lag für einen Alleinlebenden bei 9.370 Euro pro Jahr. Für zwei Erwachsene mit zwei Kindern unter 14 Jahren lag der Wert bei 19.677 Euro pro Jahr. Die Armutsgefährdungsquote der Männer war mit 12,3 Prozent im Jahr 2005 etwas niedriger als die der Frauen (13,2 Prozent). Und auch die Unterschiede zwischen den Altersgruppen waren bei der vorliegenden Unterteilung nicht auffallend groß: Die Armutsgefährdungsquote der unter 18-Jährigen lag mit 12,4 Prozent nur geringfügig unter der Quote der 18bis unter 65-Jährigen bzw. der 65-Jährigen und Älteren. Allerdings kann eine weitere Differenzierung Unterschiede hervorbringen: So lebten beispielsweise 15 Prozent der 18- bis 24-Jährigen unter der Armutsschwelle. Und während die ältere Generation (65-Jährige und Ältere) in Westdeutschland mit 14,4 Prozent überdurchschnittlich oft von Armut betroffen war, lag die entsprechende Armutsgefährdungsquote in Ostdeutschland mit 8,9 Prozent deutlich unter dem Durchschnitt der Bevölkerung. Am stärksten wird die Armutsgefährdung durch Arbeitslosigkeit erhöht. 2005 waren in Deutschland 43 Prozent der Arbeitslosen armutsgefährdet. Bei den Erwerbstätigen waren es im selben Jahr lediglich 5 Prozent – also jeder Zwanzigste. Vollzeitbeschäftigte hatten mit 4 Prozent eine nur halb so hohe Armutsgefährdung wie Teilzeitbeschäftigte. Auch die Beschäftigungsfristen des Arbeitsvertrags, der Bildungsabschluss und die Berufsausbildung haben Auswirkungen auf die Armutsgefährdung. So lebten im Jahr 28 28 2005 nur 4 Prozent der mit einem Dauerarbeitsvertrag in Beschäftigung stehenden Personen in Armut. Bei befristetem Vertrag lag die Armutsgefährdung bei 11 Prozent. Von den erwerbstätigen Personen, die ihren höchsten Bildungsabschluss im Tertiärbereich (Hoch- und Fachhochschule, Promotion) erreicht hatten, waren lediglich 4 Prozent armutsgefährdet. Demgegenüber lag die Armutsgefährdungsquote der Personen ohne abgeschlossene Berufsausbildung bei 19 Prozent. Wird die Umverteilungswirkung von Sozialleistungen nicht berücksichtigt, waren in Deutschland etwa doppelt so viele Menschen (26 Prozent) armutsgefährdet. Bei den unter 18-Jährigen war die Armutsgefährdungsquote vor Sozialleistungen sogar fast dreimal so hoch (34 Prozent) wie danach. Bei Personen, die 65 Jahre oder älter waren, lag die Armutsgefährdungsquote vor Sozialleistungen hingegen nur 2 Prozentpunkte höher als die Quote nach Sozialleistungen (15 gegenüber 13 Prozent). Bei allen Armutsrisikoquoten ist zu beachten, dass diese keine Erkenntnis darüber liefern, wie weit das Einkommen der armutsgefährdeten Bevölkerung unter der Armutsrisikoschwelle liegt. Diesen Aspekt berücksichtigt die so genannte relative Armutslücke: Nach der Statistik EU-SILC lag der Median der Nettoäquivalenzeinkommen der armutsgefährdeten Personen im Jahr 2005 20,3 Prozent unterhalb der Armutsrisikogrenze. uellen: Statistisches Bundesamt: Pressemitteilung; Eurostat; Q www.bmas.de/coremedia/generator/26892/property=pdf/dritter__armuts__und__reichtumsbericht__kurzfassung.pdf ADVENIAT-AKTION 2009 Basistext FÜR SCHULE UND JUGENDARBEIT | 26 Medien M13 – Leben mit Hartz IV 29 Hartz IV ist die Grundsicherungsleistung für nicht arbeitende Erwerbsfähige. Hartz IV ist die Bezeichnung für das „Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“. Mit diesem Gesetz wurde ab Januar 2005 die Sozialhilfe und die Arbeitslosenhilfe zusammengelegt. Jetzt gibt es Arbeitslosengeld II für Arbeitslose und Sozialgeld für Angehörige von Arbeitslosen. Jeder, der arbeitslos und bedürftig ist, bekommt nur noch Leistungen, die so hoch sind wie die Sozialhilfe. Egal, was jemand gelernt hat und wie viel er oder sie vorher verdient hat. Der Regelsatz, der den Empfängern zur Verfügung steht, beträgt 345 Euro. Zusätzlich bekommt man für die Wohnung die Miet- und Mietnebenkosten bezahlt – allerdings nur bis zu einer gewissen Größe der Wohnung. Arbeitslosigkeit kann jeden treffen. Zurzeit gibt es in Deutschland rund vier Millionen Arbeitslose. Arbeitslosigkeit ist ein Massenphänomen geworden. Das heißt: Der Grund dafür liegt in den meisten Fällen nicht im Verhalten der Betroffenen, sondern im strukturell bedingten Fehlen von Arbeitsplätzen. Wichtigste Ursache der Arbeitslosigkeit ist der Trend zum Stellenabbau der Unternehmen aufgrund von mangelndem Wirtschaftswachstum, Überproduktivität, Fusion, Outsourcing und/oder Gewinnmaximierung. Hinzu kommen Schicksalsschläge wie Krankheit, Invalidität, Mutterschaft u.ä. Freilich gibt es auch das Phänomen der Arbeitsunwilligkeit. Weit verbreitet ist die Unterqualifikation, aber auch die Überqualifikation. Über den Empfänger von Hartz IV lässt sich sagen, dass er oder sie: > nicht verhungern muss > nicht verwahrlosen muss > meist mit dem Fahrrad seine Erledigungen machen muss > per Telefon, PC und Internet kommunizieren und sich ausreichend informieren kann 29 Allerdings muss er/sie äußerst bescheiden und anspruchslos leben, mit jedem Cent rechnen, sich rational und rationell verhalten und lernen, zu verzichten. Mit 345 Euro kann er sich regelmäßig seine Grundnahrungsmittel im Discounter kaufen. Dass er aber dennoch arm ist, zeigt sich an den Dingen, für die er in der Regel kein Geld hat: > > > > > > > > > > > > > K ino, Theater und Sportveranstaltungen Einladungen und Bewirtung von Gästen, Freunden, Verwandten Restaurantbesuche Möbel und anderer Hausrat (Neuanschaffung) wie Waschmaschine, Sitzgarnitur etc. Kleidung, Schuhe etc. Kleine Geschenke zu Geburtstagen, Weihnachten etc. PKW (Anschaffung oder Unterhalt) Reinigung Urlaub und Reisen Reparatur für Schuhe, Kleidung, Haushalt Tageszeitung Vereinsbeiträge Rücklagen für spätere Anschaffungen Diese Kosten würden über 400 Euro betragen, also mehr als die ihm zur Verfügung stehenden 345 Euro Grundsicherungsleistung nach Hartz IV. www.armut.de ADVENIAT-AKTION 2009 Basistext FÜR SCHULE UND JUGENDARBEIT | 27 Medien M14 – Der Tag von Herrn Hansen 5.30 Uhr Es ist bitterkalt hier. Ich bin eben bestimmt schon zum achten Mal in dieser Nacht aufgewacht und kann jetzt auch nicht mehr einschlafen. Die Sonne ist schon aufgegangen und auf der Straße fahren immer mehr Autos. Auch, wenn ich morgens oft friere und ziemlich müde bin, muss ich mich daran erinnern, wie es mir bis vor kurzer Zeit ging. Da hatte ich diesen Platz noch nicht gefunden und musste noch mehr frieren. Die Wand hält einen großen Teil des Windes ab und der Boden ist hier nicht so kalt wie Beton. Tagsüber kommen viele Kinder zum Ballspielen her, aber nachts habe ich normalerweise meine Ruhe. und als ich mit der Wahrheit kam, schmiss sie mich heraus. Eiskalt. Mit meiner Familie konnte ich auch nicht darüber reden, was würden die wohl sagen? Also bin ich dann hierher gekommen, fünf Stunden bin ich mit irgendeinem Zug gefahren und einfach irgendwo ausgestiegen. Hier bin ich dabei eben gelandet. Anfangs kannte ich wirklich keinen, was sich mittlerweile zum Glück geändert hat, denn schließlich lebe ich ja jetzt schon seit 15 Jahren hier. Und beschweren kann ich mich auch nicht, ich habe doch eigentlich alles, was ich brauche. 10.15 Uhr Einmal wurde es hier brenzlig: Eine Gruppe betrunkener Jugendlicher hat versucht, mich anzuzünden. Ich möchte nicht wissen, wie es ausgegangen wäre, wenn nicht zufälligerweise zwei Security-Männer auf dem Nachhauseweg gewesen wären. Aber gut, anscheinend muss ich auf alles gefasst sein. Jetzt sollte ich allerdings mal los, mir mein Frühstück kaufen. 8.00 Uhr Zurückgekehrt, geht es mir um diese Uhrzeit immer etwas besser. Immerhin habe ich mich etwas bewegt, da ich mein Frühstück immer mit einem „Aufwärm-Spaziergang“ verknüpfe. Jetzt habe ich etwas im Magen und konnte sogar einen heißen Kaffee trinken. Eine nette Dame hat ihn mir bezahlt. „Weil ich heute Geburtstag habe“, meinte sie. So etwas passiert wirklich selten, aber warum soll ich nicht auch mal Glück haben? Früher war mein Leben noch schön. Ich hatte viele Freunde und war ganz gut in der Schule. Wir wohnten damals in einer Eigentumswohnung und mein Vater war selten zu Hause, weil er viel gearbeitet hat. Das hieß aber auch, dass wir immer genug Geld für Lebensmittel, Spielzeug und Kleidung hatten. Meine Mutter war Mitglied in irgendeiner Frauengemeinschaft. Es hieß immer: Hauptsache wir lernen gut, damit wir später einen guten Beruf kriegen, bei dem wir viel verdienen. Den habe ich dann nach meiner Ausbildung zum Schlosser auch bekommen. Ich habe mich verlobt und war wirklich glücklich. Doch dann machte mein Betrieb Pleite, ich verlor meinen Job und es begann die schrecklichste Zeit meines Lebens. Ich traute mich nicht, mit meiner Verlobten darüber zu reden. Ich wollte mir nicht ausmalen, wie sie wohl reagieren würde. Schließlich sollte ich immer derjenige sein, der für das Geld zuständig war. Weil ich mich in meinen Lügen wohl immer weiter verstrickte, stritten wir uns immer häufiger, ADVENIAT-AKTION 2009 Gerade komme ich von dem nahegelegenen Wasserspielplatz, zu dem ich morgens immer gehe. Ich kann stundenlang die spielenden Kinder beobachten, die hier oft mit ihren Kindergartengruppen aus den umliegenden Institutionen zum Spielen kommen. Ich hatte nie Kinder und werde wohl nie welche haben. Für meine Mutter war es immer klar: „Kinder sind unsere Zukunft.“ Ich denke mir, dass diese Kinder noch gar nicht viel von der Welt wissen. Die müssen sich nicht mit finanziellen Schwierigkeiten rumschlagen. Und Sorgen kennen sie doch bestimmt noch gar nicht. Das sieht man, wenn sie spielen. So unbekümmert und glücklich. Eigentlich beneidenswert. Aber ich bin doch auch glücklich, ich habe schließlich alles, was ich brauche, einen Schlafplatz und immer genug zum Essen. Natürlich könnte mein Leben besser sein, aber wie kann es besser werden? Einen Beruf bekomme ich nicht, weil ich in keiner Wohnung wohne, und eine Wohnung kann ich nicht bezahlen, weil ich kein richtiges Einkommen habe. Da ist es wirklich leichter, mein Leben so fortzuführen. Außerdem bekomme ich ja jeden Tag 10 €, den sogenannten Sozialhilferegelsatz, den ich mir gleich abholen werde. Es gibt ihn in Deutschland um 11 Uhr für alle Menschen, die in ihrem Personalausweis „nicht sesshaft“ stehen haben. Davon kann ich zwar nicht leben, aber es ist immerhin schon eine gute Unterstützung. Danach werde ich direkt nebenan in dem Kloster ein warmes Mittagessen bekommen. Es freut mich wirklich jeden Tag, dass es Orte gibt, an denen so nette Menschen leben und sich die Arbeit machen, uns eine warme Mahlzeit am Tag zu schenken. Jetzt muss ich aber wirklich los. Basistext FÜR SCHULE UND JUGENDARBEIT | 28 Medien M14 – Der Tag von Herrn Hansen 13.30 Uhr 22.00 Uhr Nach einem kurzen Mittagsschlaf geht es für mich nun in die Fußgängerzone. Viele Berufstätige gehen jetzt erst in die Mittagspause, also sind dort mehr Menschen unterwegs. Manchmal bekomme ich sogar einiges an Geld zusammen, in der letzten Woche zum Beispiel. Da kamen nach einiger Zeit vier Straßenmusiker. Alles war dabei, nur ein Sänger fehlte. Erst habe ich leise mitgesungen, bis es dem Gitarrenspieler aufgefallen ist. Der hat mich dann angesprochen, ob ich nicht mitmachen möchte. Ich war schon etwas unsicher, aber irgendwann legte sich dann das Lampenfieber und es machte nur noch Spaß. Vielleicht sehe ich sie ja irgendwann mal wieder? Jetzt bin ich wieder „zu Hause“ angekommen. Öffentliche Schlafstätten sind nichts für mich, ich ziehe meinen Platz hier wirklich vor. Früher habe ich das Angebot dort manchmal wahrgenommen, aber als ich in einer Nacht mal beklaut wurde und mein komplettes Geld am nächsten Morgen weg war, habe ich gemerkt, dass ich wohl wirklich umziehen sollte. Also schlafe ich jetzt immer hier. Bei dem Treffen vorhin habe ich tatsächlich neue Batterien für mein Radio bekommen, das ich täglich benutze, sodass ich meinen Abend jetzt in Ruhe ausklingen lassen kann. Am liebsten höre ich deutsche Musik, denn da verstehe ich wenigstens alles. Außerdem sind die Nachrichten manchmal interessant und die Wettervorhersage ist ja auch sehr wichtig für mein Leben. Die Reporterin hat eben gesagt, dass es heute Nacht nicht mehr so kalt wird... 18.00 Uhr Der Nachmittag heute war wirklich anstrengend. Es hat geregnet, überall waren gestresste Leute, und wie so oft kam es mir so vor, dass mich keiner sieht oder dass mich vielleicht keiner sehen will. In solchen Situationen kann man schnell merken, dass man nicht „einer von denen“ ist. Aber irgendwo tief in meinem Kopf kann ich das ja auch verstehen. Als ich noch gearbeitet habe, habe ich eher auf die Kleidung in den Schaufenstern geachtet als auf irgendwelche Menschen, die gerade davorsitzen. Oder ich hatte es so eilig, dass dazu gar keine Zeit mehr blieb. Erst jetzt weiß ich, wie man sich als derjenige fühlt, der vor einem Geschäft sitzt und an dem alle vorbeirennen. Sollte man den Menschen vielleicht mal wünschen, dass sie einen Tag so leben, wie ich es tun muss? Vielleicht kann ich dann mal eine etwas größere Toleranz erwarten. Ich habe schon so viel Schmerzhaftes gehört, gesehen und auch selbst erlebt, dass ich mich manchmal frage, ob das hier noch so weitergehen kann. Und dann bleibe ich doch noch hier und erlebe wieder spannende Dinge. Dann denke ich mir im nächsten Gedankenblitz, dass mein Leben doch ganz schön ist. Ich kann von mir schließlich sagen: „Ich bin immer mittendrin!“ Heute Abend habe ich mit anderen Nichtsesshaften wieder ein Treffen, bei dem wir über so etwas reden können. Es ist gut zu wissen, dass es auch andere Menschen gibt, denen es so geht wie mir und die ähnliche Sorgen haben. Aber wir stellen immer wieder fest, dass wir an unserem Leben unsere Freiheit lieben, einfach die Lebensart, keine Verpflichtungen zu haben. Zwei Ehrenamtliche kommen auch wöchentlich. Von denen bekommen wir dann Decken oder andere Dinge geschenkt. Die Batterien von meinem Radio sind leer, ich glaube, ich weiß schon, worum ich sie heute bitten werde... ADVENIAT-AKTION 2009 Hannah Lepping Basistext FÜR SCHULE UND JUGENDARBEIT | 29 Medien M15 – Grafik „Teufelskreis der Armut“ ADVENIAT-AKTION 2009 Basistext FÜR SCHULE UND JUGENDARBEIT | 30 Medien M16 – Definition der Kinderarmut Armut wird im allgemeinen Sprachgebrauch absolut verstanden. Danach ist arm, wer wenig hat. Die Armut und auch Kinderarmut wird in der Politik jedoch relativ definiert. Sie misst sich am Wohlstand der Gesellschaft, in der der Mensch lebt. Arm ist, so die herrschende EU-Definition von Armut, wer über weniger als 60 % des mittleren Netto-Einkommens verfügt. Für eine Alleinerziehende mit zwei Kindern sind das in Deutschland ca. 1.440 Euro. 45 % dieser Kleinfamilien fallen unter die Armutsgrenze. Vor allem deren Kinder sind arm, auch wenn man es ihnen nicht ansieht. Armut bemisst sich nach dem, was die anderen haben, wird subjektiv erlebt. Und Armut ist nicht nur materiell, sie misst sich auch an der Fürsorge, die Kinder bekommen und die Eltern geben. Arme Kinder sind ausgeschlossen vom normalen Lebensstandard; sie werden schon sehr früh aus den Lebensbereichen Bildung, Kultur und Sport ausgegrenzt. Wir sehen: reiches Deutschland, arme Kinder. Jedes sechste Kind in Deutschland lebt in Armut. Das sind mehr als 2,5 Millionen Mädchen und Jungen. Das sind Martina, Jana, Leon, Thomas, das sind Einzelschicksale. Ihnen fehlt es an Geld für Essen, Kleidung und Spielsachen. 30 30 Die Armut wächst, die Geburtenrate sinkt. Seit 1965 hat sich die Geburtenrate von 1,3 Millionen auf 680.000 beinahe halbiert. Die Zahl der Kinder, die arm sind, ist hingegen um das 16-Fache angestiegen. Arme Kinder müssen im Jahr 2008 im Monat mit 208 Euro auskommen. Das ist der sogenannte Hartz-IV-Regelsatz für Kinder. In den 208 Euro sind 86 Cent für Spielsachen und maximal 76 Cent für Schulsachen pro Monat enthalten. Rechnet man das auf ein Jahr um, so bekommen arme Kinder Spielsachen für 10,32, Euro und für ihre Schulbildung billigt ihnen die Gesellschaft 9,12 Euro pro Jahr zu. Ein Unding, das nicht mehr gesteigert werden kann. Und was ist mit gesunder Ernährung? Ein 15 Jahre altes Kind, das sich ausgewogen und gesund ernähren möchte, muss täglich im Durchschnitt 4,68 Euro im Discounter oder 7,44 Euro im Supermarkt ausgeben, so das Forschungsinstitut für Kinderernährung in Dortmund. Im Hartz-IV-Regelsatz sind für die Ernährung, das Essen, aber nur 2,57 Euro vorgesehen. www.kinder-armut.de (21.05.2009) ADVENIAT-AKTION 2009 Basistext FÜR SCHULE UND JUGENDARBEIT | 31 Medien M17 – „Lästig wie Moskitos“ – Straßenkinder in Port-au-Prince finden in der Einrichtung „Lakay“ Aufnahme und Schutz 8.000 Straßenkinder soll es in der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince geben. Ein Viertel davon sind Mädchen. Im Volksmund heißen sie „Ti Moun Lari“. Straßenkinder erkennt man daran, dass sie barfuß sind und abgerissene Klamotten tragen. Sie gehören zum Stadtbild. Manche sieht man halb benebelt am Straßenrand an einer Flasche Benzin oder Kleister schnüffeln, andere über die Straße spurten, um sich auf die hintere Plattform eines Busses zu schwingen. Für die Passanten sind Straßenkinder störend, sie seien „lästig wie Moskitos.“ Manche haben noch Kontakte zu Familienangehörigen. Sie haben zumindest eine Hütte oder einen Verschlag, in die sie sich nachts verkriechen können. Die anderen schlafen in Straßengräben, unter Arkaden und in Hauseingängen. Wer auf sich alleine gestellt ist, wird rasch zum ‚grès bourèt’, zum Schmutzfinken, der vor Dreck starrt und der damit endet, dass er wie ein ‚koko rat’ im Abfall nach Essbarem wühlt. Nachts sind Straßenkinder auf den Schutz eines „katèls“, einer Bande, angewiesen Die Gruppe wacht darüber, dass sich keine Fremden im Revier breit machen: „manje sou bab“, heißt das. Innerhalb des „katèls“ herrscht eine strenge Hackordnung: Die „gwo“ (Großen) kommandieren, die „ti“ (Kleinen) parieren. Straßenkinder schlagen sich mit kleinen Arbeiten durch: Schuhe putzen, Autos waschen, Scheiben wischen. Die Älteren bewachen parkende Autos, helfen beim Beladen. Viele Straßenjungen tragen einen runden Lappen im Hosenbund, touwon genannt, mit dem sie durch die Staus wedeln, um die Autofahrer auf sich aufmerksam zu machen. An den Haltestellen für Sammeltaxis sind sie Ausrufer und Drücker. Als selbst ernannte ‚manadjè’ (Manager) schubsen und schieben sie so lange, bis auch der letzte Passagier in das völlig überfüllte ta- tap passt. Dafür gibt es Trinkgeld. ADVENIAT-AKTION 2009 Pater Attilio Stra lebt seit 30 Jahren mit Straßenkindern. Mit Hilfe von Adveniat und der Ordensgemeinschaft der Salesianer hat der italienische Ordensmann in Port-au-Prince ein Asyl namens „Lakay“ gegründet. Dort werden bis zu 1.000 Straßenkinder betreut. „Lacou“ und „Lakay“: Mit diesen Worten lässt sich eine Rettungsaktion für Straßenkinder umschreiben. Sozialarbeiter der Salesianer nehmen nachts oder tagsüber Kontakt zu Straßenkindern auf. Die Streetworker, vielfach selbst ehemalige Straßenkinder, laden sie zunächst ins „Lacou“ („draußen, Hof“), eine Art Auffanglager der Salesianer, ein. Sie können dort ausschlafen, duschen und sich satt essen. Hier sind sie vor der Polizei und rivalisierenden Banden sicher. „Sie müssen sich nur an drei Regeln halten“, sagt Pater Stra: „Lüge nicht, stiehl nicht, respektiere den anderen“. Wenn sich ein Kind dazu entscheidet, das Straßenleben aufzugeben, wechselt es ins „Lakay“ (wörtlich: „das Haus, drinnen“). Dort herrschen feste Regeln. Wer sich in die Hausordnung fügt, erhält ein eigenes Bett und einen verschließbaren Spind. Er wird medizinisch versorgt und eingeschult. Nachmittags arbeitet er in Werkstätten, wo er sich auf eine handwerkliche Ausbildung in einer Schule der Salesianer vorbereitet. Pater Stra weiß von erstaunlichen Karrieren zu berichten: wie die des ehemaligen Straßenkindes Amadée, den er im Alter von acht Jahren in einer Gosse fand und der heute Ingenieur ist. Oder die von Nicole, einer ehemaligen Straßenprostituierten mit zwei Kindern, die es zur Friseurin mit eigenem Salon gebracht hat: „Ihre Kinder werden nie erfahren, dass ihre Mutter einst eine „taksi“, eine Straßenhure, war“, sagt Pater Attilio. Sie können stolz auf ihre Mutter sein. Marcel Bauer Basistext FÜR SCHULE UND JUGENDARBEIT | 32 Medien M18 – Die minderjährigen Haussklaven von Haiti Wie die 14-jährige Melanie wohnen in Haiti mehr als 300.000 Kinder als Haussklaven in fremden Familien. Dort müssen sie jeden Tag hart arbeiten. Sie dürfen nicht in die Schule gehen, werden oft geschlagen und schlafen nachts auf einem kleinen Stückchen Pappe auf dem harten Fußboden. An ihr altes Leben kann sich Melanie nicht mehr erinnern. Sie weiß nicht, wann sie Geburtstag hat, nicht, wie ihre Brüder heißen. Auch an das Gesicht ihrer Mutter hat sie nur noch verschwommene Erinnerungen. „Es ist alles schon so lange her“, sagt sie nur, und ihre großen schwarzen Augen starren ins Leere. Vor zehn Jahren musste Melanie ihre Familie gegen ihren Willen verlassen. „Eines Tages kam ein Mann ins Dorf und nahm mich einfach mit“, erinnert sie sich. Er brachte das kleine Mädchen nach Port-au-Prince, in die Hauptstadt von Haiti, zu einer andern Familie. Das waren wildfremde Menschen, die Melanie vorher noch nie gesehen hatte. Von da an musste sie das Haus sauber machen, jeden Morgen mit drei großen Eimern Wasser vom Brunnen holen und sich um die drei Kinder der Familie kümmern. Wie Melanie geht es vielen Kindern in Haiti. Man schätzt, dass bis zu 300.000 Jungen und Mädchen als Haussklaven in den großen Städten leben. Diese Kinder werden „restavek“ genannt, das ist Kreolisch und heißt übersetzt so viel wie: „Bleib bei“ – ein Kind also, das bei fremden Menschen bleibt. Diese Kinder haben keine Rechte. Sie können nicht zur Schule gehen, werden sehr oft geschlagen und missbraucht. Nachts müssen sie auf einem kleinen Stück Pappe auf dem Fußboden vor dem Bett der Familie schlafen. „Wenn ich unpünktlich bin oder einen Fehler mache, dann wird die Tante wütend und schlägt mich“, sagt Melanie und zeigt auf die blauen Flecke auf ihren Arm. „Ich mache oft Fehler“, sagt sie und schaut zu Boden. ADVENIAT-AKTION 2009 Wie Melanie kommen die meisten „restaveks“ vom Lande. Ihre Eltern sind bitterarm. Sie haben oft viele Kinder und wissen nicht, wie sie alle satt bekommen können. Darum sind sie froh, wenn eines der Kinder das Haus verlässt und bei einer anderen Familie lebt. Das Problem ist, dass diese „Adoptiv“-Familien selber bitterarm sind. Sie leben in Wellblechhütten in den Elendsvierteln außerhalb der Stadt und haben selber oft zu wenig zum Leben. Eine sehr schwierige Situation. Der Staat funktioniert nicht richtig, so dass sich niemand um die Probleme der „restaveks“ kümmert. Nur einige wenige kirchliche Organisationen haben sich vorgenommen, die Situation der Kinder zu verbessern. Schwester Martha und ihre ehrenamtlichen Helfer zum Beispiel. Diese 50 Helfer wohnen selber in dem Elendsviertel. Sie laden die „restaveks“ einmal in der Woche zu sich nach Hause ein. Dann dürfen die Kinder endlich einfach nur Kinder sein. Sie spielen, singen, machen Handarbeiten und lernen fast nebenbei lesen und schreiben. „Viele Kinder sind unterernährt“, erzählt Schwester Martha. „Wir geben den Kindern und ihren Familien Reis und Bohnen. Natürlich würden wir gerne viel mehr und viel schneller die Situation der Kinder hier verbessern. Aber dafür haben wir zu wenig Geld. So können wir nur kleine Schritte machen – aber wir sind auf dem Weg.“ Melanie liebt es zu sticken. Mit geschickten Stichen stickt sie eine Blume auf einen alten Jutesack. „Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich etwas Schönes mache und dafür sogar gelobt werde“, sagt das Mädchen. Und das erste Mal ist in ihren Augen ein kleines Leuchten zu sehen. Gaby Herzog Basistext FÜR SCHULE UND JUGENDARBEIT | 33 Medien M19 – Kinderreport – Die Fakten der Kinderarmut 14 % aller Kinder gelten offiziell als arm. Das ALG II wurde am 01.01.2005 eingeführt. Es resultiert aus der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe und wird an bedürftige erwerbsfähige Menschen gezahlt, die keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld I haben. Seit der Einführung dieses ALG II hat sich die Zahl der auf Sozialhilfe oder Sozialgeld angewiesenen Kinder auf mehr als als 2,5 Millionen verdoppelt. Heute ist jedes sechste Kind unter sieben Jahren auf Sozialhilfe angewiesen. Besonders betroffen sind Kinder aus Einwandererfamilien. Die Folgen sind nicht nur finanzieller, sondern auch gesundheitlicher Art. So ist jedes dritte Kind schon bei seiner Einschulung therapiebedürftig. Es wird geschätzt, dass 5,9 Millionen Kinder in Haushalten mit einem Jahreseinkommen der Eltern von bis zu 15.300 Euro leben. Das sind ca. ein Drittel aller kindergeldberechtigten Kinder. 31 Es entwickeln sich „Armutskarrieren“. Die fehlenden Bildungschancen führen dazu, dass wichtige Potenziale der Kinder und Jugendlichen verloren gehen. Das habe auch mittelfristig gravierende Folgen für die volkswirtschaftliche Leistung. > Jedes dritte Kind wies im Jahr 2004 bei seiner Einschulung therapiebedürftige Entwicklungsstörungen oder Verhaltensauffälligkeiten auf. > Jedes vierte Schulkind habe die Schule „ohne Beherrschung des Mindestmaßes an Kulturtechnik“ verlassen, die selbst für Hilfsarbeiten erforderlich sind. Die Tendenz ist stark steigend. Deutschland habe wegen seiner „Familien- und Bildungsverarmung“ in den Industrienationen eine negative Spitzenstellung. Fazit: Kinderarmut ist mehr, als nur wenig Geld zu haben. Armut ist erblich, so das Deutsche Kinderhilfswerk. Fazit: Die materielle Armut von Kindern hat sich etwa alle 10 Jahre verdoppelt. Doch die Armutsspirale dreht sich weiter, wie der neueste, der 3. Armutsbericht der Bundesregierung aus dem Jahr 2008 zeigt. Danach sind 13 Prozent der Deutschen arm. Noch einmal so viel Bundesbürger müssen mit staatlichen Leistungen vor dem Abstieg in die Armut bewahrt werden (...) Die Auswirkungen der Armut auf die Kinder Bei sozial benachteiligten Kindern ist zu beobachten, dass sie > sich ungesünder ernähren. > sich weniger bewegen. > immer häufiger in isolierten Wohnvierteln unter sich bleiben. > keine guten Schulen besuchen. > nur mangelhafte Ausbildungsmöglichkeiten haben. > keine ausreichend soziale Unterstützung haben. 31 www.kinder-armut.de (21.05.2009) ADVENIAT-AKTION 2009 Basistext FÜR SCHULE UND JUGENDARBEIT | 34 Medien M20 – Die Bedeutung der Bildung für das Individuum und die Gesellschaft 32 (...) Umgekehrt hat Bildung vielen Menschen erst den Weg für ein eigenverantwortliches Leben eröffnet, indem sie über ihre Rechte aufgeklärt wurden und ihnen ermöglicht wurde, diese auch durchzusetzen. Bildung ist über die Aneignung einer gemeinsamen (Schrift-)Sprache ein zentrales Element gesellschaftlicher Integration und Homogenität. Soziale Aufstiegsprozesse wurden durch das Bildungswesen eröffnet. Gesellschaftliche Innovationen wurden durch das Bildungs- und Wissenschaftssystem hervorgebracht und verbreitet. Das Bildungssystem ist daher ein Schlüsselbereich der Gesellschaft, dessen Ausgestaltung differenzierter Überlegungen gerade auch im Kontext gesellschaftsvertraglichen Denkens bedarf, in dem es um die Festlegung grundlegender Regeln und Institutionen der Gesellschaft geht. Welches sind nun solche grundlegenden Anforderungen an das Bildungssystem? Die erste Problematik besteht darin, den Inhalt von Bildung in seiner gesellschaftlichen Bedeutung näher zu definieren.33 In einer vertragstheoretischen Konstellation wird man erstens Bildung als die Aneignung aller derjenigen Grundfertigkeiten (Lesen, Rechnen, Schreiben), die für eine elementare Teilhabe an einer Gesellschaft unverzichtbar sind, bestimmen (Grundbildung).34 Ohne solche Fertigkeiten kann der Einzelne am Alltagsleben nicht teilhaben. Zu dieser Tauglichkeit für das Alltagsleben gehört auch die Vermittlung von grundlegenden gesellschaftlichen Verhaltensweisen, die erst den reibungslosen Umgang in der Gesellschaft selbst ermöglichen. Die zweite Aufgabe von Bildung ist es, den Einzelnen im Sinne der politischen Gemeinschaft zu einem Staatsbürger zu erziehen, der mit den politischen Institutionen der Gesellschaft, der Geschichte des eigenen Landes und darüber hinaus (Europa, Weltgesellschaft) mit politischen Grundwerten (Toleranz gegen politisch Andersdenkende, Abgrenzung gegen Feinde der Demokratie und der Menschenrechte) vertraut ist. Erforderlich ist es, Menschen zu befähigen, sich auch in zivilgesellschaftlicher Form zu engagieren und auch konfliktfähig zu werden.35 Eine dritte Aufgabe von Bildung besteht darin, den Einzelnen mit den religiösen Werten, der Kultur vertraut zu machen, ästhetische Erfahrungen und anderes mehr zu eröffnen. Ein Zugang zu Musik, Kunst, Literatur, zu Sport u.a. muss erschlossen werden. Die vierte Dimension betrifft dann den Erwerb beruflich verwertbaren Wissens. (...) In einer vertragstheoretischen Situation haben alle Gesellschaftsmitglieder ein Interesse daran, dass sie selbst Bildung erhalten können, aber auch dass andere Gesellschaftsmitglieder gleichermaßen entsprechend Bildung erhalten. Gerade im Bildungsbereich kann das Gesellschaftsverständnis von John Rawls36 als „eine Kooperation zum gegenseitigen Vorteil“ ausbuchstabiert werden. Die damit erfolgte gewisse Homogenisierung der Gesellschaft (gemeinsame Sprache, Werte, Grundkenntnisse) senkt gesellschaftliche Transaktionskosten und ermöglicht breite gesellschaftliche Interaktionen. Bildung ist damit sowohl individuelles Recht (Grundrecht/Menschenrecht auf Bildung37) wie gesellschaftliche, nicht nur individuelle moralische Pflicht (allgemeine Schulpflicht). Joachim Wiemeyer J . Wiemeyer, Aufgabe und spezielle Kompetenzen verschiedener Akteure im Bildungssektor: Stadt, Unternehmen, Kirchen und freie Träger, in: M. Dabrowski, J. Wolf (Hrsg.): Bildungspolitik und Bildungsgerechtigkeit, Paderborn u.a. 2008, 97-124, S. 110f. 33 A. Anzenbacher, Bildungsbegriff und Bildungspolitik, in: Jahrbuch für Christliche Sozialwissen, 40. Bd., 12-37, unterscheidet lediglich zwei Dimensionen der Bildung: allgemein und speziell (berufsbezogen-funktionell). 34 Vgl. Ch. Mandry, Gerechte Bildungschancen sicherstellen – ethische Anforderungen an das deutsche Bildungssystem, in: ICEPargumente , 1. Ausgabe April 2006. 35 Vgl. M. Heimbach-Steins, Bildung und Chancengleichheit, in: dieselbe (Hrsg./2005): Christliche Sozialethik. Ein Lehrbuch Bd. 2, Regensburg, S. 50-81. 36 John Rawls (1924-2002) – amerik. Philosoph, Prof. F. politische Philosophie an der Harvard University, USA 37 Vgl. dazu J. Müller, Recht auf Bildung als Voraussetzung für das Recht auf Entwicklung. Bildungspolitik zwischen globaler und lokaler Kultur, in: Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften, 40. Bd., 38-59 und M. Heimbach-Steins (2005), S. 56ff. 32 ADVENIAT-AKTION 2009 Basistext FÜR SCHULE UND JUGENDARBEIT | 35 Medien M21 – Bildung ist Menschenrecht – Implikationen Menschenrecht, also ein Anspruch, der jedem Menschen allein aufgrund seines Menschseins zukommt, kann nur sein, was zum Menschsein grundlegend dazugehört: Bildung ist Menschenrecht, weil und insofern es zum Menschen gehört, sich zu bilden. Der Mensch ist von Grund auf ein bildsames, auf Bildung seiner Fähigkeiten angewiesenes Wesen. Deshalb kann man argumentieren, dass das Recht auf Bildung als unmittelbares Erfordernis aus dem Grundsatz der Menschenwürde hervorgeht39 : Es macht des Menschen Würde aus, sich in Freiheit und in Kommunikation mit Anderen selbst zu entwerfen, sein Leben in die Hand zu nehmen und im sozialen Miteinander verantwortlich zu gestalten. Dazu muss er ermächtigt werden in einem Prozess der Persönlichkeitsbildung, des Weltund Sinnverstehens und des Erlernens von Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kompetenzen der Lebensführung. In dieser Annäherung erschließt sich das Recht auf Bildung zunächst als grundlegendes moralisches Recht. Um aber solche Freiheit des Menschen real sichern zu können, muss der moralische Anspruch in einen Rechtsanspruch der Individuen auf Zugang zu und Beteiligung an freiheitsadäquaten Bildungsmöglichkeiten „übersetzt“ werden. Dementsprechend halten verschiedene Konventionen und Deklarationen der Internationalen Gemeinschaft, beginnend mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) der Vereinten Nationen (1948), ein allgemeines Menschenrecht auf Bildung fest (Art. 26). Bildungsfeindliche Zustände, Bildungsarmut und die Verweigerung gerechter Chancen der Beteiligung an Bildung werden durch das Menschenrecht auf Bildung ins Unrecht gesetzt; die Beseitigung solcher Zustände wird als menschenrechtliches Erfordernis angemahnt. Dies folgt notwendig aus der Einsicht, dass die Möglichkeit zur Bildung als Entfaltung der Persönlichkeit und der menschlichen Fähigkeiten eine unerlässliche, wenn auch nicht allein hinreichende Voraussetzung zur Realisierung personaler Freiheit ist. Zugleich stellt die Beteiligung an Bildung für die einzelnen Menschen eine unhintergehbare Voraussetzung ihrer gesellschaftlichen Beteiligung dar. Und schließlich muss die Art, wie Bildung ermöglicht wird, selbst menschenrechtlich stimmig sein. Systematisch kann man daher drei Kernbereiche innerhalb des Menschenrechts auf Bildung unterscheiden: Ein Recht auf Bildung, Rechte durch Bildung und Rechte in der Bildung: 38 (1) Recht auf Bildung / Beteiligung an Bildung: Bildung ist ein eigenständiges Menschenrecht, das die Subjektwerdung, die Persönlichkeitsentfaltung des Menschen unterstützt; deshalb werden in einem ersten Kernbereich Kriterien formuliert, denen die Ermöglichung von Bildung entsprechen bzw. durch die das Recht auf Bildung verwirklicht werden soll: Die offiziellen Auslegungen der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte (WSK-Rechte) durch den Sozialpaktausschuss der Vereinten Nationen arbeiten dazu mit vier konkretisierenden Kriterien; nach den englischen Begriffen wird dieses Set auch 4A-Schema genannt: Verfügbarkeit (availability), Zugänglichkeit (access), Annehmbarkeit (acceptability), Adaptierbarkeit (adaptability). Funktionsfähige und hinreichend ausgestattete Bildungseinrichtungen müssen zur Verfügung stehen und in physischer wie in ökonomischer Hinsicht diskriminierungsfrei zugänglich sein; Bildungsangebote müssen für die Lernenden annehmbar sein, d.h. in der Formulierung des Sozialpaktausschusses: „relevant, kulturell angemessen und hochwertig“ (CESCR E/C.12/1999/10 08.12.1999 Abs. 6); und sie müssen adaptierbar sein, d.h. den unterschiedlichen Bedürfnissen der Lernenden gerecht werden und an sich ändernde Lebensbedingungen anschlussfähig bleiben. In der Systematik der Menschenrechte wird das Recht auf Bildung den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen (WSK-)Rechten zugeordnet. Es bezeichnet einen Anspruch, der seitens der Einzelnen gegenüber dem Staat und seinen Organen geltend gemacht werden kann und der den Staat in bestimmter Weise, im Rahmen seiner Möglichkeiten und in bestimmten Grenzen verpflichtet. Es fordert zunächst den formal-rechtlich gesicherten freien Zugang zu Bildungsangeboten: „Niemand darf daran gehindert werden, sich die Bildung zu verschaffen, die er möchte, sofern das mit dem Recht für alle anderen vereinbar ist.“40 Angesichts sehr ungleicher Zugangsvoraussetzungen reicht der Schutz vor Diskriminierung allein aber nicht aus. Vielmehr ist die Möglichkeit zu realer Beteiligung an Bildung Voraussetzung für gesellschaftliche Beteiligung. Deshalb sind der freie Zugang zu Bildung und die reale Möglichkeit zur Teilnahme an Bildung notwendige Voraussetzungen, um den Freiheitsanspruch des Menschen einlösen zu können. Die Möglichkeit zur Bildungsbeteiligung ist insoweit ein Erfordernis der Freiheit. Denn nur mittels Bildung kann der Mensch in der Gesellschaft seine Potentiale und Fähigkeiten entfalten, spezifische Kompetenzen entwickeln und einen eigenen Lebensentwurf verwirklichen. Marianne Heimbach-Steins . Heimbach-Steins, Das Menschenrecht auf Bildung: Ein Maßstab für den sozialen Bildungsauftrag katholischer Schulen. Vortrag zum 5. Bundeskongress Katholische Schulen M am 28.11.2008 in Essen, S. 5f (www.katholische-schulen.de/fileadmin/downloads/ Bundeskongress_2008/2008-11-28_Hauptvortrag_Prof_Heimbach_Steins.pdf;) 39 Vgl. dazu J. Müller, Recht auf Bildung als Voraussetzung für das Recht auf Entwicklung. Bildungspolitik zwischen globaler und lokaler Kultur, in: Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften, 40. Bd., S. 51. 40 Ch. Mandry, Gerechte Bildungschancen sicherstellen – ethische Anforderungen an das deutsche Bildungssystem, in: ICEPargumente, 1. Ausgabe April 2006, S. 10. 38 ADVENIAT-AKTION 2009 Basistext FÜR SCHULE UND JUGENDARBEIT | 36 Medien M22 – Die Künstlerin – Port-au-Prince Vom Stadtrand der Hauptstadt macht Clarisse sich auf den Weg zur Arbeit. Sie nimmt ein Tap-tap, einen zum Bus umfunktionierten Pick-up, in schrillen Farben bemalt. Die Rückseite des bunten Gefährts ziert ein Bild von Mose, der gerade die zehn Gebote erhält. Clarisse quetscht sich in das überfüllte Innere des Busses. Wie jeden Morgen sind die Einfahrtsstraßen völlig verstopft und das tap-tap rumpelt langsam über die schlecht asphaltierte Straße. Vorbei an kleinen Häuschen, deren Wellblechdächer rostig und löchrig sind, an einfachen Ziegelbauten, auf deren Dächern bunte Wäsche flattert. Clarisse denkt an den gestrigen Abend. Im wöchentlichen Bibelkurs hat Pater André mit der Gruppe über eine Stelle aus dem Lukasevangelium gesprochen: Die Ablehnung Jesu in seiner Heimat. Ein Satz ist Clarisse besonders im Gedächtnis geblieben: „Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe.“ Pater André hatte gemeint, dass Jesus das damals über sich selbst gesagt hat, aber dass er das auch als Auftrag für seine Jünger verstanden hätte. Clarisse selbst also und alle anderen, die zum Bibelkurs kommen, sollten den Armen eine gute Nachricht bringen. Sie seien doch selber die Armen, habe eine andere Teilnehmerin gesagt, und Pater André habe nur gemeint, dass sie deshalb ja umso besser wüssten, was für sie und alle anderen Armen eine gute Nachricht sei. Vier Panzer kommen dem Bus entgegen, wie überdimensionale weiße Käfer mit den großen Lettern „UN“. Zur Vermeidung eines Bürgerkrieges sind die Soldaten nach Haiti gekommen. Bei den Bewohnern Haitis sind sie nicht sehr beliebt. Clarisse hat sich an die Soldaten gewöhnt, aber das gezückte Maschinengewehr, das sie in der Hand haben, bereitet ihr noch immer Unbehagen. Dass Haiti so friedlich sei, dass die UN-Truppen nicht mehr gebraucht würden – das wäre zum Beispiel eine gute Nachricht, denkt Clarisse. Eine Gruppe kleiner Schulmädchen in rosafarbenen Kleidchen drängelt sich am Straßenrand. Für die hübschen Mädchen wäre ein Frühstück wahrscheinlich eine ziemlich gute Nachricht, denn viele von ihnen kommen mit leeren Bäuchen in die Schule. Gott sei Dank gibt es die Suppenküche der Pfarrei, so werden sie zumindest ein warmes Mittagessen erhalten. Wie die meisten ihrer Landsleute legt Clarisse viel Wert darauf, dass ihre Kinder in die Schule gehen. Sie weiß, dies ist der beste Weg, um im Leben weiterzukommen. Aber in Haiti kann der Schulbesuch lebensgefährlich ADVENIAT-AKTION 2009 sein. Clarisse schaut zum Hang hinauf. Im letzten Jahr ist hier eine Schule eingestürzt und hat 200 Kinder unter sich begraben. Die kleinen Leichen liegen noch immer unter dem Schutt. Die Schule war baufällig und überfüllt, wie so oft hier in der Hauptstadt. Die Schule der katholischen Kirche in Clarisses Gemeinde ist eine Ausnahme. Sie ist dank Hilfe aus Deutschland fest gemauert. Jede sichere Schule ist eine gute Nachricht, überlegt Clarisse. Der kleine Junge, der gerade vor dem Bus über die Straße läuft, geht nicht zur Schule. Er schleppt Wasser hinauf zu den Hügeln. Sein ausgemergelter Rücken krümmt sich unter der Last, seine Haut ist schuppig, sein Blick leer. Man schätzt, dass 300.000 Kinder vom Land an Haushalte in der Hauptstadt für die Hausarbeit „ausgeliehen“ werden, eine moderne Form der Sklaverei. Als Mensch und Kind wahrgenommen zu werden, ein kleines bisschen Fürsorge – das wäre eine gute Nachricht für diese ausgebeuteten Kinder. Das tap-tap rumpelt an einer knallig angestrichenen Lottobude vorbei. Auch Clarisse hat hier schon ihren Tipp abgegeben, drei Zahlen auf ein Zettelchen gekrakelt. Glück in Haiti, daran glauben nicht mehr viele. Clarisse denkt an ihre Geschwister, die alle ausgewandert sind, drei Brüder in die USA und zwei Schwestern in die Dominikanische Republik. Sie haben natürlich recht, woanders ist es viel leichter, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Aber Clarisse möchte bei ihren Kindern bleiben. Es ist ein täglicher Kampf, das Nötigste für ihre kleine Familie zu organisieren. Immer wieder muss Clarisse sich etwas Neues einfallen lassen und aus nichts etwas zaubern. Wenn ihr alles über den Kopf wächst, sind es oft die Freunde in der Pfarrgemeinde, die ihr neuen Mut machen. Das Zusammensein, das gemeinsame Gebet, das Gefühl, nicht allein zu sein, Pater André, der immer ein offenes Ohr für sie hat. „Ich bin eine große Künstlerin“, lächelt Clarisse in sich hinein, „eine Überlebenskünstlerin“. Seit zwei Monaten hat sie eine neue Beschäftigung auf dem Markt. Eine Bekannte hat sie mit einer Marktfrau in Verbindung gebracht, die eine Hilfe an ihrem Stand braucht. „Wenn wir Armen uns gegenseitig unterstützen, wenn wir gegen alle Widrigkeiten für das Leben kämpfen, dann bringen wir einander gute Nachrichten.“ Julia Stabentheiner Basistext FÜR SCHULE UND JUGENDARBEIT | 37 Medien M23 – Gute Kindheiten – schlechte Kindheiten Ganz ohne Zweifel bietet das Aufwachsen in einfacheren sozialen Verhältnissen weniger Chancen für die spätere Teilhabe an der Gesellschaft. Durch die Zunahme der Kinderarmut gewinnt das Problem an Brisanz. Seit 2000 steigen die Armutszahlen deutlich an. Armut betrifft vermehrt Kinder von Einwanderern mit erst kurzer Aufenthaltsdauer; doch hält die Armutssituation in dieser Gruppe in der Regel nicht lange an. Vor allem aber betrifft sie Kinder von Alleinerziehenden: Während vier von zehn Kindern dieser Gruppe in Armut leben, sind es bei Kindern in Haushalten mit beiden Elternteilen nur vier von 100; Kinder von Alleinerziehenden verweilen auch häufig längerfristig in Armut.42 Aber sind Kindheiten in mittleren und höheren sozialen Schichten – abgesehen von den besseren Zukunftschancen, die sich hier bieten – auch „bessere“, also glücklichere Kindheiten? Wir können es als gut gesichertes Ergebnis betrachten, dass Eltern-Kind-Interaktionen je nach sozialer Schicht anders verlaufen. Betty Hart und Todd R. Risley haben in einer aufwändigen Studie Gespräche von Eltern mit ihren Kindern aufgezeichnet und ausgewertet. Von der Geburt an, bis die Kinder zweieinhalb Jahre alt waren, zeichneten sie jeden Monat eine Stunde Gespräch auf. Die 42 untersuchten Familien teilten sie in drei Kategorien: (a) Familien, in denen beide Elternteile qualifizierten Berufen nachgingen, (b) Arbeiterhaushalte und (c) Familien, die von der Wohlfahrt lebten. Die Eltern in der gehobenen Schicht sprachen fast viermal mehr zu bzw. mit ihren Kindern als die Eltern in den Familien, die von der Wohlfahrt lebten. Anders als bei den Eltern in prekären Verhältnissen erschöpften sich ihre Botschaften auch nicht in Anweisung und Tadel, sondern beinhalteten auch Lob und forderten die Kinder zur Äußerung ihrer Meinungen auf.43 Die Kompetenzunterschiede im verbalen Verhalten, die bei den Kindern in der Folge festgestellt werden konnten, waren enorm. Vergleichbar zeigt eine Untersuchung von Anette Lareau, wie Mütter etwas älterer Kinder je nach sozialer Herkunft in unterschiedlichem Maße das persönliche Ausdrucksvermögen und selbstbewusste Auftreten ihrer Kinder unterstützen.44 Es handelt sich hier zwar um die Ergebnisse amerikanischer Untersuchungen. Für Deutschland verfügen wir aber über Datenquellen, welche die Situation aus Kindersicht erhellen: In der World 41 Vision-Studie, einer repräsentativen Studie an 8- bis 11-Jährigen, urteilen Kinder aus höheren sozialen Schichten günstiger als die Kinder aus tieferen Schichten über die ihnen von den Eltern zugestandenen Freiheiten, über die Berücksichtigung ihrer Meinung durch die Eltern, und sie geben seltener an, geohrfeigt oder geprügelt zu werden.45 Ebenfalls aus Kindersicht erfassten Jürgen Zinnecker, Werner Georg und Christine Strozda die Beziehungsqualitäten zwischen Kindern und ihren Eltern. Unter den vier Mustern von Beziehungsqualitäten, die sie unterscheiden können, stechen zwei als konträr hervor, ein aus Kindersicht anerkennendes, unterstützendes Verhalten der Eltern, zu dem auch viele gemeinsame kulturelle Aktivitäten gehören, und ein konfliktgeladenes, wenig einfühlsames und interessiertes Verhalten der Eltern.46 Die Muster sind schichtabhängig, in der erwarteten Art. In die gleiche Richtung weist eine Untersuchung von Peter Büchner und Burkhard Fuhs.47 Diese schichtspezifischen Unterschiede in der Beziehung zwischen Eltern und Kindern können als plausible Erklärungen für unterschiedliche Kompetenzen, welche die Kinder erwerben, angeführt werden. Die so gemessenen Eigenarten der Eltern-Kind-Beziehung erfassen aber mehr und vielleicht Wichtigeres als eine unterschiedliche Ausstattung für den zukünftigen Erfolg: den Respekt vor der Persönlichkeit des Kindes und das elterliche Interesse daran und damit sicher eine zentrale Dimension der Qualität von Kindheit. Es ist jedoch davor zu warnen, Kindheiten unterer Schichten generell zu stigmatisieren. So sind die beschriebenen Unterschiede solche in der Häufigkeit oder Stärke eines Verhaltens, nicht solche seines prinzipiellen Vorhandenseins oder seiner Absenz. Dies lässt sich an zwei Variablen verdeutlichen, die die Schichten besonders klar unterscheiden: Auch in der untersten Schicht beziehen über 60 Prozent der Kinder keine Ohrfeigen oder gar Prügel, während immerhin zehn Prozent der Kinder aus der höchsten Schicht solche beziehen, und auch in der untersten Schicht ist mehr als ein Drittel der Kinder der Ansicht, dass ihre Mütter eher viel Wert auf ihre Meinung legen würden, während auch in der obersten Schicht ein Drittel der Kinder nicht dieser Meinung ist.48 . Bühler-Niederberger, Ungleiche Kindheiten - alte und neue Disparitäten, D in: APuZ 17/2009 (www.bpb.de/publikationen/HFRMWE,3,0,Ungleiche_Kindheiten_alte_und_neue_Disparit%E4ten.html#art3; 22.05.2009) 42 Vgl. Miles Corak/Michael Fertig/Marcus Tamm, A Portrait of Child Poverty in Germany. Innocenti Working Paper 2005 - 03, Florenz 2005; Michael Fertig/Marcus Tamm, Die Verweildauer von Kindern in prekären Lebenslagen, in: Hans Bertram (Hrsg.), Mittelmaß für Kinder, München 2008, S. 152 - 166. 43 Vgl. Betty Hart/Todd R. Risley, Meaningful Differences in the Everyday Experience of Young American Children, Baltimore 1995. 44 Vgl. Anette Lareau, Unequal childhoods. Class, Race, and Family Life, Berkeley-Los Angeles 2003. Eine ähnliche Erforschung unterschiedlichen Elternverhaltens war bereits in den 1970er und 1980er Jahren als „sozialstrukturelle Sozialisationsforschung“ verbreitet, die aktuelle Forschung zum Thema hat allerdings den Vorzug, dass sie sich stärker den unmittelbaren Eltern-Kind-Interaktionen zuwendet und dass sie neu auch die Kindersicht berücksichtigt. 45 Vgl. Klaus Hurrelmann/Sabine Andresen, Kinder in Deutschland. 1. World Vision Studie, Berlin 2007. 46 Vgl. Jürgen Zinnecker/Werner Georg/Christine Strozda, Beziehungen zwischen Eltern und Kindern aus Kindersicht, in: Jürgen Zinnecker/Rainer K. Silbereisen (Hrsg.), Kindheit in Deutschland, Weinheim-München 1996, S. 213 - 228. 47 Vgl. Peter Büchner/Burkhard Fuhs, Der Lebensort Familie. Alltagsprobleme und Beziehungsmuster, in: Peter Büchner/Burkhard Fuhs/Heinz-Hermann Krüger (Hrsg.), Vom Teddybär zum ersten Kuss. Wege aus der Kindheit in Ost- und Westdeutschland, Opladen 1996, S. 201 - 224. 48 Vgl. K. Hurrelmann/S. Andresen (Anm. 22). 41 ADVENIAT-AKTION 2009 Basistext FÜR SCHULE UND JUGENDARBEIT | 38 Medien M23 – Gute Kindheiten - schlechte Kindheiten Eine Studie von Ariadne Sondermann, die arbeitslose Eltern befragt, zeigt, dass der Wunsch der Eltern, die intergenerationale Weitergabe des eigenen Schicksals zu verhindern, diese zu einem hohen Einsatz für ihre Kinder bewegt, der aber mit der eigenen Arbeitssituation eher kollidiert.49 Ergebnisse zu schichtspezifischen Eltern-Kind-Interaktionen müssen differenziert und sorgfältig dargestellt und rezipiert werden, da die ungleichen Bildungschancen - wie bereits gezeigt - zu einem erheblichen Teil auf stereotypen und in ihrer Verallgemeinerung falschen Annahmen von Lehrkräften hinsichtlich unterschiedlicher Erziehungsqualität und deren Folgen beruhen, die auf keinen Fall bestärkt werden dürfen. Wichtig ist es auch, auf die Kehrseiten der verschiedenen Eltern-Kind-Verhältnisse aufmerksam zu machen. Lareau bezeichnet den von ihr in der oberen Mittelschicht gefundenen Umgang von Eltern und Kindern als „concerted cultivation“: als gezielte Bearbeitung der Kinder.50 Diese erfordert nicht nur einen Einsatz, für den nur ein kleinerer Teil von Eltern die Voraussetzungen besitzt, sie besetzt auch das Kind umfassend, seine Zeit, seine Handlungen, seine Psyche. Wie weit dies gehen kann, zeigen Untersuchungen von Carol Vincent und Stephen J. Ball sowie von Victoria Caputo, die auf die zusätzlichen Bildungsanstrengungen aufmerksam machen, die Mittelschichteltern für ihre Kinder unternehmen, womit sie diesen aber auch viel abverlangen.51 Klar erkennbar wurde in den Begründungen der Eltern das Kalkül, bessere Startbedingungen für die spätere Bewährung im Konkurrenzkampf schaffen zu wollen. 41 Die Studie „Eltern unter Druck“ weist auf vergleichbare Erscheinungen in Deutschland: Bildungsanstrengungen und Betreuungsinvestitionen werden so hoch wie möglich getrieben.52 In den vordergründig optimal vorbereitenden Kindheiten findet allerdings manches wenig Raum, was für die (gemessen am Erwerb von akzeptiertem Bildungskapital unterprivilegierten) Kindheiten eines „natural growth“-Modells noch gilt.53 In dieser unterschichttypischen Erziehungsvorstellung, die besagt, dass Kinder so oder so groß werden, wenn sie nur versorgt und einigermaßen diszipliniert werden, ist zum Beispiel die Hilfe der Kinder im Haushalt oder bei der Geschwisterbetreuung wichtiger.54 Demgegenüber werden die intensiv geförderten Kinder sehr einseitig zu Empfängern von Leistungen innerhalb der Familie, vor allem von Seiten ihrer Mütter - Sharon Hays prägte für diese Mutterschaft, die vor allem von besser gebildeten Frauen als Norm akzeptiert wird, den Begriff „intensive mothering“.55 Für die intensiv geförderten Kinder wird zudem der autonome Raum kleiner: das unkontrollierte Leben und Lernen jenseits elterlichen Einflusses. So geben etwa in einer Untersuchung in NRW nur 20 Prozent der Kinder aus mittleren Schichten an, dass sie häufig auf dem Spielplatz spielen, in den unteren Schichten sind es noch 50 Prozent.56 Doris Bühler-Niederberger gl. Ariadne Sondermann, Familie als Ort der Vernachlässigung elterlicher Pflichten? Arbeitslose und die Sorge um die Zukunft ihrer Kinder, in: Doris Bühler-Niederberger/AnV dreas Lange/Johanna Mierendorff (Hrsg.), Kindheit zwischen fürsorglichem Zugriff und gesellschaftlicher Teilhabe, Wiesbaden (i.E.). 50 Vgl. A. Lareau (Anm. 21). 51 Vgl. Carol Vincent/Stephen J. Ball, Making Up’ the Middle Class Child: Families, Activities and Class Dispositions, in: Sociology, 41 (2007) 4, S. 1061 - 1077; Victoria Caputo, She‘s From a Good Family: Performing Childhood and Motherhood in a Canadian Private School Setting, in: Childhood, 14 (2007) 2, S. 173 - 192. 52 Vgl. Tanja Merkle/Carsten Wippermann/Christine Henry-Huthmacher/Michael Borchard, Eltern unter Druck: Selbstverständnisse, Befindlichkeiten und Bedürfnisse von Eltern in verschiedenen Lebenswelten, Stuttgart 2008. 53 Vgl. A. Lareau (Anm. 21). 54 Vgl. Helga Zeiher, Hausarbeit: Zur Integration der Kinder in die häusliche Arbeitsteilung, in: Heinz Hengst/Helga Zeiher (Hrsg.), Die Arbeit der Kinder, München 2005, S. 45 - 70. 55 Vgl. Sharon Hays, The Cultural Contradictions of Motherhood, New Haven 1996. 56 Vgl. Jürgen Zinnecker/Imbke Behnken/Sabine Maschke/Ludwig Stecher, Null Zoff & Voll Busy, Opladen 2002. 49 ADVENIAT-AKTION 2009 Basistext FÜR SCHULE UND JUGENDARBEIT | 39 Medien M24 – Option für die Armen – Was bedeutet sie für Deutschland? 57 (...) Die lateinamerikanische Option für die Armen wurde getroffen in einer gesellschaftlichen Situation, in der die Armen die Mehrheit der Bevölkerung darstellen (auch wenn sie häufig mit dem eigentlich falschen Begriff der „Marginalisierten“ bezeichnet werden). Sie ist keine Option für eine Minderheit, für die Betroffenen eines Randproblems, sondern für die Mehrheit und die Betroffenen desjenigen Problems, das für alle sichtbar und unstrittig im Zentrum der gesellschaftlichen Entwicklung steht und auch ethisch als die drängendste Herausforderung wahrgenommen wird. Diese Option für die Armen ist aber eine Option gegen die Armut der Armen. Ihr Ziel ist es, die Armut zu bekämpfen, die Armen von der Armut zu befreien und dadurch – wenn man so will – sich selbst überflüssig zu machen. Sie impliziert deshalb auch nicht eine Idealisierung der Armut. Die Option für die Armen war zunächst eine Option der Kirche im Blick auf ihr eigenes Handeln, d.h. eine Prioritätensetzung in Bezug auf ihre pastoralen Schwerpunkte, ihre anwaltschaftlichen Aufgaben, ihre unterschiedliche Solidarität mit verschiedenen Gruppen der Gesellschaft. Damit die Liebe zu den Armen aber effektiv werden kann, impliziert sie eine Option für die Veränderung gesellschaftlicher Strukturen, da ja die Armut nicht als individuelles Schicksal, als naturhaftes Ereignis oder Ergebnis individuellen schuldhaften Handelns richtig verstanden wird, sondern als Ergebnis gesellschaftlicher Strukturen, Mechanismen, Systeme gesehen werden muss. Es genügt deshalb nicht, die Gesinnung der Personen zu verändern. Es ist nötig, auf politischem Wege auch die „Zustände“ zu verändern. Je länger man die eigene kirchliche Praxis in Lateinamerika im Licht dieser Option reflektierte, umso mehr wurde bewusst, dass mit der Heterogenität der Armen zu rechnen ist. Die Armut hat verschiedene Gesichter, wie auch das Dokument von Puebla (Nr. 31) formuliert. Keinesfalls sind die Armen allein mit einer ganz bestimmten Gruppe, etwa dem Proletariat im marxistischen Sinne, oder Menschen mit einheitlichen Problemlagen zu identifizieren. ADVENIAT-AKTION 2009 Besonders betont wurde immer wieder, die Armen seien nicht Objekte der Hilfe, sondern selber Subjekte von Selbsthilfe und Widerstand. Letzten Endes wissen sie selbst am besten, was für sie gut und wichtig ist. Die Solidarität mit ihnen darf deshalb nicht paternalistisch oder assistenzialistisch missverstanden werden. Die Option für die Armen darf die Armen nicht nochmals demütigen. Die Kirche verstand sich in Lateinamerika zunächst als „die Stimme derer, die keine Stimme haben.“ Im Zuge des Lernprozesses jedoch, der mit der Option für die Armen verbunden war, lernte sie, sich als eine Instanz zu begreifen, die in Solidarität mit den Armen dafür kämpft, dass die Armen selbst zu Wort kommen und eine Stimme haben – ihre eigene. In Lateinamerika wurden die Armen dabei auch immer als Hoffnungsträger für eine menschlichere Gesellschaft angesehen, wobei man sich der Gefahr möglicher Idealisierungen nicht immer bewusst war. (...) Aber auch in Deutschland gibt es Armut. (...) Auch wenn soziale Ungleichheiten durch Arbeitslosigkeit, Reformen des Sozialstaates und eine teilweise verfehlte Steuer-, Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik in Deutschland zugenommen haben, so hat Armut bei uns doch ganz andere Charakteristika als in Lateinamerika. Sie ist kein Massenphänomen. Die Armen sind eine marginalisierte Minderheit, die selbst dazu tendiert, die eigene Armut zu verdecken, während die sie umgebende Wohlstandsgesellschaft alles daransetzt, sie möglichst nicht ins Blickfeld nehmen zu müssen. (...) Anders als in Lateinamerika können die Armen in Deutschland auch nicht als ein wichtiger Faktor gesellschaftlichen Wandels identifiziert werden. Sie sind nicht die treibende Kraft, die gesellschaftliche Veränderungen provozieren wird. (...) Basistext FÜR SCHULE UND JUGENDARBEIT | 40 Medien M24 – Option für die Armen – Was bedeutet sie für Deutschland? 57 Vor dem Hintergrund des Gesagten werden auch die Gefahren einer unreflektierten Übernahme der lateinamerikanischen „Option für die Armen“ in Anwendung auf die Minderheit der Armen in Deutschland erkennbar: Sie würde zu einer gewissen Provinzialität führen, da man die globalen Verflechtungen und die größere Armut in der sogenannten „Dritten Welt“ nicht mehr wahrnehmen würde. (...) Eine reflektierte Übernahme der Option für die Armen für Mitteleuropa oder Deutschland hingegen müsste folgende Aspekte bedenken: Eine Option für die Armen in Deutschland müsste erstens eingebettet bleiben in eine Option für die Armen weltweit. Die Armen der Dritten Welt sind auch „unsere Armen“: Die Option für die Armen, die eine Bekehrung der Reichen erfordert, betrifft uns alle als Oberschicht des Erdballs. Unser Bemühen muss darauf gerichtet sein, weltweit Strukturen und Institutionen zu schaffen, die es den Ländern der sogenannten Dritten Welt erlauben, sich entsprechend ihrer eigenen kulturellen Traditionen und Zielvorstellungen zu entwickeln und in den Weltmarkt zu integrieren. (..) Darüber hinaus bedarf es aber zweitens sicherlich auch einer Option für soziale Gerechtigkeit in Deutschland. Auch Christen und Kirche müssen daran mitarbeiten, die sozialen Spaltungstendenzen und Entsolidarisierungsprozesse in der Bundesrepublik Deutschland zu überwinden, insbesondere die nach wie vor hohe Arbeitslosigkeit. Dabei dürfen die Armen in der sog. „Dritten Welt“ nicht gegen die Armen in Deutschland ausgespielt werden. (...) 57 Es gilt aber, noch ein drittes Problem im Auge zu behalten, das in Zukunft stärker spürbar werden wird, nämlich der drohende Klimawandel, seine Rückwirkungen und die Folgen, die eine einigermaßen faire Reduktion von Klimagasen für die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands haben wird. Sollten die vielfältigen ökologischen Probleme nicht bewältigt werden, droht der Menschheit eine dramatische Verschärfung von ökologisch verursachten Notlagen, die im Extremfall zu weiterer Entsolidarisierung und bewaffneten Auseinandersetzungen führen können. In den Ländern der sog. „Dritten Welt“ zeigen sich bereits eindeutige Zusammenhänge von Armut und Umweltzerstörung. Deshalb muss alles getan werden, um nachfolgenden Generationen eine Welt zu hinterlassen, die auch ihnen noch Lebensraum bieten kann, wobei es vor allem darauf ankommt, die Schadstoffaufnahmekapazität der Ökosysteme nicht zu überlasten (...). Gerhard Kruip G. Kruip, Die Option für die Armen. Was bedeutet sie für Deutschland?, in: Amos international 2 (2008) S. 23-31, S. 25-31 D (Auszüge mit neuen Hervorhebungen, kleineren Ergänzungen und Korrekturen). ADVENIAT-AKTION 2009 Basistext FÜR SCHULE UND JUGENDARBEIT | 41 Medien M25 – Mach dich stark für starke Kinder (...) „Mach dich stark für starke Kinder“ – das Motto, das die Caritas im Jahr 2007 über ihre Jahreskampagne und über den Caritas-Sonntag gestellt hat, den wir heute eröffnen, klingt widersprüchlich. Muss man sich denn für starke Kinder starkmachen? Sie wollen doch selber stark sein. Und manche Teenager und Jugendliche scheinen es mit ihrer Stärke oft zu übertreiben. Von Gewalt gegenüber Mitschülern oder sogar Lehrern wird immer wieder berichtet. (...) Jedes sechste Kind in Deutschland lebt von Hartz IV. In Nordrhein-Westfalen liegen die Zahlen noch höher. Hier betrifft es fast ein Viertel aller Kinder. Ihnen stehen pro Tag 2,57 Euro für Lebensmittel zur Verfügung. Eine wirklich gesunde Ernährung ist damit kaum möglich. Selbstverständliche Dinge wie Klassenfahrten, Nachhilfestunden, Sportverein, der Besuch im Spaßbad und Kino oder ein Musikinstrument werden mit den heutigen Sätzen des Arbeitslosengeldes II zum unerschwinglichen Luxus. Wir müssen also leider feststellen: Überall in unserem Land gibt es Kinder, deren junges Leben so belastet ist, dass sie früher, als es ihnen gut tut, stark sein müssen. Kinder, die nur selten eine warme Mahlzeit bekommen und die Geborgenheit einer Familie zu Hause nicht erleben. Kinder, die nicht zur Ganztagsbetreuung im Kindergarten oder in der Schule angemeldet werden, weil die Eltern das Essensgeld nicht bezahlen können. Kinder, die die Schule abbrechen oder verweigern, weil ihnen niemand zeigt, wie sie ihrem Leben ein Ziel oder eine Struktur geben können, weil niemand genug Zeit hat, sie zu unterstützen. Kinder, die körperliche und seelische Gewalt erfahren und die irgendwann selbst gewalttätig werden, weil sie nichts anderes gelernt haben. Kinder, die sich nirgendwo angenommen fühlen und sich doch nur nach dem einen sehnen: nach Geborgenheit und Liebe, nach Anerkennung und Halt in ihrem Leben. Solche Kinder müssen schon sehr früh „ihren Mann“ bzw. „ihre Frau“ stehen. Andere sind gezwungen stark zu sein, weil sie in irgendeiner Form anders sind als die Mehrheit, weil sie zu Hause nicht die deutsche Sprache lernen, weil sie eine andere Hautfarbe haben, weil sie aus einem anderen Land, zum Beispiel aus der Türkei, dem Libanon, aus Bosnien oder aus Russland stammen, weil ihre Kultur und Religion für uns fremd sind. ADVENIAT-AKTION 2009 58 Schnell ist dann der Punkt erreicht, an dem Kinder solchen Herausforderungen nicht mehr gewachsen sind, an dem sie nicht mithalten können und ins Hintertreffen geraten. Auf diese Kinder will uns der Caritas-Sonntag aufmerksam machen: Kinder, die ganz viele Stärken haben, die Kraft, Träume und Ziele haben, die aber heillos überfordert werden. Sie brauchen es wirklich, dass wir uns für sie starkmachen und sie unterstützen. Sei es ganz praktisch durch konkrete und direkte Hilfe oder auch einfach durch unser Verständnis und unseren Einsatz für eine Gesellschaft, die allen Kindern eine Chance gibt. Als Christen lassen wir uns dabei nicht allein von sozialwissenschaftlichen Analysen leiten, sondern orientieren uns auch an Gottes Wort und Jesu Beispiel. (...) Denn wer aufmerksam die Evangelien und die übrigen Schriften des Neuen Testaments liest, der erfährt, dass Kindern hier eine ganz besondere Wertschätzung entgegengebracht wird. Dabei fallen mehrere Stellen auf, die berichten, dass Jesus selbst für Kinder Partei ergreift. Das ist alles andere als selbstverständlich. Denn zur Zeit des Neuen Testaments galten Kinder als unfertige Erwachsene, als schwache Wesen, die in der Gesellschaft keine Rolle spielten. Eine bekannte Begebenheit aus dem Markusevangelium bringt diese Haltung deutlich zum Ausdruck. Die Jünger wollen die Kinder wegschicken, die man zu Jesus brachte, um sie segnen zu lassen. Wir alle kennen die Reaktion Jesu. Seine Antwort ist fast zu einem geflügelten Wort geworden: „Lasst die Kinder zu mir kommen. Denn Menschen wie ihnen gehört das Himmelreich.“ Und auch diese Szene aus dem Matthäusevangelium ist uns geläufig: Als die Jünger darüber streiten, wer im Himmel der Größte sei, stellt Jesus ein Kind in ihre Mitte und sagt: „Wenn ihr nicht umkehrt und wie die Kinder werdet, könnt ihr nicht in das Himmelreich kommen“ (Mt 18, 3). Basistext FÜR SCHULE UND JUGENDARBEIT | 42 Medien M25 – Mach dich stark für starke Kinder Kinder kommen bei Gott also nicht unter ferner liefen. Jesus stellt sie in den Mittelpunkt. Für ihn sind sie Maßstab für ein christliches Leben. Wer ein Kind aufgenommen hat, hat Christus aufgenommen. Nur wer sich die Haltung eines Kindes bewahrt, kann in das Himmelreich eingehen. Gemeint ist damit gerade das kindliche Vertrauen in die eigenen Stärken und zugleich das Vertrauen darauf, dass der himmlische Vater es gut mit uns meint und uns annimmt, so wie es ein guter Vater und eine gute Mutter tun. Gottes Herz schlägt für die Kinder. Dafür hatte auch die frühe Kirche ein Gespür. Die besondere Nähe Gottes zu den Kindern fanden die Christen der ersten Jahrhunderte bestätigt in der Menschwerdung seines Sohnes. Auch deshalb entwickelte sich neben Ostern das Weihnachtsfest für viele zum eigentlichen Hauptfest der Christen. Gott kommt als Kind zur Welt. Wie jedes andere Kind ist er darauf angewiesen, angenommen und geliebt zu werden. Der Bericht über den Kindermord von Betlehem zeigt zugleich in drastischer Weise, wie gefährdet Kinder schon immer waren. Daher übernahmen die Christen in vielen Fällen die Rolle eines Schutzpatrons für Kinder. Die im Altertum weit verbreitete Kindstötung wurde von den Christen abgelehnt und bekämpft. Und in den ersten Zeugnissen des caritativen Engagements der Gemeinden der Frühen Kirche erfahren wir, dass die christliche Gemeinschaft sich um Waisen und Witwen kümmerte. Von dieser Praxis der Urkirche führt ein direkter Weg über die kirchlichen Findel- und Waisenhäuser und die Aufnahme von Kindern durch die Klöster zu den heutigen kirchlichen Angeboten der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe und dem breiten Netz an Bildungs-, Beratungs- und Hilfeangeboten der Caritas und der Kirche. Es würde den Rahmen sprengen, alle kirchlichen und caritativen Dienste im Einzelnen darzustellen, die sich heute in unserem Bistum direkt oder indirekt für Kinder und Familien starkmachen. Ich will hier aus der Umgebung das Schifferkinderheim St. Nikolaus und das Caritascentrum Meiderich nennen und ihre Angebote wie zum Beispiel der Erziehungsberatung, der flexiblen Erziehungshilfe und der Schuldnerberatung erwähnen. Beiden Einrichtungen danke ich besonders für die Vorbereitung und Gestaltung des Kinderfestes heute Nachmittag und unseres Gottesdienstes. 58 58 Ich erinnere aber neben den vielfältigen Diensten der Caritas auch an die katholischen Kindertagesstätten, an die Familienbildungsstätten und an das Engagement der Caritas im Bereich der offenen Ganztagsschule. Darüber hinaus gibt es in zahlreichen Gemeinden ehrenamtliche Initiativen wie Hausaufgabenbetreuung oder ganz neu in Hamborn eine Schulmaterialienbörse. All das sind Orte, wo sich die Kirche und ihre Caritas starkmacht für starke Kinder. Ich möchte an dieser Stelle allen, die sich in unterschiedlicher Weise, aber immer mit großem Engagement für Kinder einsetzen, sehr herzlich danken. Angesichts der zunehmenden sozialen Ausgrenzung, die besonders Kinder bitter zu spüren bekommen, muss unser Engagement für starke Kinder noch einmal intensiviert werden. Die zunehmende Nachfrage nach Schuldnerberatung, aber auch nach allgemeiner Sozialberatung und Erziehungsberatung macht den wachsenden Bedarf an Unterstützung und die Mängel in der Sozialgesetzgebung deutlich. Auch die Zunahme der sozialen Initiativen, die überwiegend von Ehrenamtlichen getragen werden, zeigt wie ein Seismograph, dass gerade mit Blick auf Kinder und Familien politischer Handlungsbedarf besteht. (...) Weihbischof Franz Vorrath eihbischof Franz Vorrath, Caritasbischof der Diözese Essen, Mach dich stark für starke Kinder. Predigt beim Pontifikalamt zur diözesanen Eröffnung des Caritas-Sonntags, W St. Michael, Duisburg-Meiderich am 22.09.2007, Schrifttexte Lesung: Am 8,4-7; Evangelium: Lk 16, 1-13. ADVENIAT-AKTION 2009 Basistext FÜR SCHULE UND JUGENDARBEIT | 43 Medien M26 – Kreuz aus Haiti ADVENIAT-AKTION 2009 Basistext FÜR SCHULE UND JUGENDARBEIT | 44 Medien M27 – Sirup- Kuchen Ein traditionelles Rezept aus Haiti Zutaten: 225 g Zuckerrübensirup 80 g brauner Zucker 100 ccm Wasser 1 TL gemahlener Zimt 1 TL gemahlener Muskat 1 TL gemahlener Ingwer 1/3 TL gemahlene Nelken 1 TL Backpulver 100 g Butter oder Margarine 125 g Rosinen 500 g Mehl Zubereitung: > Das Fett zerlassen und den Zuckerrübensirup einrühren. > Das Wasser und den Zucker hinzufügen, bis eine gleichmäßige flüssige Masse entsteht. > Den Backofen auf 160 Grad vorheizen. > In einer weiteren Schüssel das Mehl mit den Gewürzen und dem Backpulver vermischen. > Nach und nach das Mehl zu der Sirupmasse hinzugeben. Der Teig sollte nun von Hand geknetet werden, bis er fest wird. > Zum Schluss die Rosinen hinzufügen und vorsichtig unterkneten. > E in Backblech wahlweise mit Öl oder Butter einfetten. > Den fertigen Teich ausrollen und alles in den Ofen schieben. > Dort ungefähr 30 Minuten bei Umluft backen lassen. > D en fertigen Kuchen in kleine Stücke schneiden und bedeckt lagern – oder noch am selben Tag verzehren. Tipp:Wer keine Rosinen mag, kann stattdessen auch Nüsse oder Mandeln verwenden. ADVENIAT-AKTION 2009 Basistext FÜR SCHULE UND JUGENDARBEIT | 45