ME/CFS: Ein Handbuch für Ärzte

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ME/CFS: Ein Handbuch für Ärzte
ME/CFS: Ein Handbuch für Ärzte
Schriftenreihe Informationen, Konzepte und Erfahrungen Chronisches Fatigue-Syndrom
Myalgische Enzephalomyelitis
Ein Handbuch für Ärzte
Internationale Gesellschaft für
Chronisches Fatigue-Syndrom/ Myalgische Enzephalomyelitis
IACFS/ME
1
Nr. 22
ME/CFS: Ein Handbuch für Ärzte
Ausgabe von 2013
ME/CFS: Ein Handbuch für Ärzte
Mitglieder des Handbuch-Schreibkomitees im IACFS/ME
Dr. Fred Friedberg Vorsitzender , Stony Brook, New York, USA
Dr. med. Lucinda Bateman, B.S.
Allgemeine Innere Medizin
Salt Lake City, Utah, USA
Dr. Kenneth J. Friedman
Physiologe, Naturwissenschaftler
Castleton, Vermont, USA
Dr. med. Charles W. Lapp
Ambulanzarzt
Charlotte, North Carolina, USA
Dr. med. Alison C. Bested, F.R.C.P.C.
Hämatologische Pathologie
Toronto, Ontario, Kanada
Dr. med. Alan Gurwitt
Psychiater
Newton Highlands, Massachusetts, USA
M.A. Staci R. Stevens
(Molekulare) Belastungsphysiologin
Stockton, Kalifornien USA
Todd Davenport, D.P.T., O.C.S.
Physikalischer Therapeut
Stockton, Kalifornien, USA
Dr. Leonard A. Jason
Psychologe der Klinikgemeinschaft
Chicago, Illinois, USA
Rosemary A. Underhill, M.B., B.S.
Ärztin
Upper Saddle River, NJ, USA
Rosamund Valings, M.B., B.S.
Ambulanzärztin
Howick, Neuseeland
Danksagungen
Wir sind dankbar für die großzügige Unterstützung von „Chase Community Giving“ und „Hemispherx Biopharma“ bei der
Erstellung dieses Handbuchs. Das Handbuch-Komitee möchte außerdem seinen Dank gegenüber folgenden Personen
aussprechen: Dr. med. Lily Chu, Barbara B. Comerford Esq., Dr. Lucy Dechene, Pat Fero, Dr. med. Nancy G. Klimas, der CFIDS/
ME & FM-Gesellschaft Massachusetts, Lydia Neilson, Ellen V. Piro und Dr. med. Eleanor Stein für ihre sorgfältige Lektüre einer
früheren Fassung dieses Handbuchs. Wir danken auch Renée Rabache für die Spende des Bildes für das Titelblatt dieses
Handbuchs.
Kontakt
IACFS/ME, 27 N. Wacker Drive, Suite 416, Chicago, IL 60606, USA www.iacfsme.org
Email: Admin@iacfsme.org
Copyright © 2012 International Association for Chronic Fatigue Syndrome/ Myalgic Encephalomyelitis
Stellungnahme zu möglichen Interessenkonflikten
Die IACFS/ME bekam eine Spende von 10.000$ von Hemispherx, dem Hersteller von Ampligen ® (einem möglichen Medikament bei ME/CFS), die diesem Handbuch zugute kam. Charles Lapp ist Prüfarzt für Ampligen®-Studien bei Hemispherx und
besitzt eine kleine Anzahl von Aktien dieser Firma. Lucinda Bateman war für zehn Jahre Prüfärztin für Ampligen®-Studien von
Hemispherx. Alle anderen Autoren versicherten, keine Interessenkonflikte zu haben.
Haftungsausschluss
Das Handbuch entstand durch einen Konsens der Mitglieder des Handbuch-Komitees, die sich bemüht haben, sicherzustellen, dass die Informationen korrekt und auf dem neuesten Stand sind – unter dem Vorbehalt, dass es noch keine etablierte
physiologische Grundlage von ME/CFS gibt. Statements, Meinungen und Forschungsergebnisse, die in diesem Handbuch
veröffentlicht sind, sind diejenigen der einzelnen Autoren und der zitierten Studien, sie spiegeln nicht notwendigerweise die
Position oder Verfahrensweisen der IACFS/ME wider. Die IACFS/ME übernimmt weder die ausdrückliche, noch die stillschweigende Garantie für die Korrektheit oder Seriosität aller Inhalte dieses Handbuchs. Die Empfehlungen, die in diesem Handbuch gegeben werden, erheben keinen Anspruch auf einen exklusiven Behandlungsverlauf oder eine exklusive Vorgehensweise. Nichts in diesem Handbuch kann das medizinische Urteil eines behandelnden Arztes ersetzen.
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ME/CFS: Ein Handbuch für Ärzte
Impressum
Herausgeber:
Fatigatio e.V.
Bundesverband Chronisches Erschöpfungssyndrom
(CFS/CFIDS/ME)
Albrechtstraße 15
D - 10117 Berlin
Tel: 030 • 310 18 89 - 0
Fax: 030 • 310 18 89 - 20
Email: info@fatigatio.de
Homepage: www.fatigatio.de
Übersetzung:
Katrin Himmler und Kerstin Eßing
Übersetzung erfolgte mit
freundlicher Genehmigung des Präsidenten der IACFS/ ME
Dr. Fred Friedberg
Redaktionelle Bearbeitung
Edelgard Klasing
Druck:
PMS Print + Medien
Schäferstr. 34
59174 Kamen
1. Auflage 2012
Wir danken herzlich für die
finanzielle Unterstützung
dieses Nachdrucks durch
die Techniker Krankenkasse.
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ME/CFS: Ein Handbuch für Ärzte
VORWORT
des autonomen Nervensystems bei Patienten mit ME/CFS
ergeben.
Vor ungefähr 25 Jahren begann die moderne Medizin ernsthaft die Krankheit zu erforschen, die wir jetzt als Chronisches
Erschöpfungssyndrom kennen - auch bekannt als Myalgische Enzephalomyelitis (ME/CFS).
Energiestoffwechsel: Es gibt eine wachsende Zahl von Hinweisen daraus, dass der Energiestoffwechsel und die Funktion der Mitochondrien bei Patienten mit ME/CFS beeinträchtigt sind. Die Grundlage für diese Anomalien steht nicht
eindeutig fest, aber chronische Virusinfektionen und eine
chronische Aktivierung des Immunsystems sind bekannte
Ursachen für solche Anomalien.
In den Vereinigten Staaten haben die „National Institutes of
Health“ und die „Centers for Disease Control and Prevention“ in ihren eigenen Laboren Forschung durchgeführt und
anderswo Forschung gefördert. Die „International Association for CFS/ME (IACFS/ME) hat zehn internationale Konferenzen organisiert, auf denen Wissenschaftler aus aller Welt tausende von Forschungsstudien präsentiert haben.
Infektiöse Auslöser: Viele (aber nicht alle) Patienten berichten, dass ihre Erkrankung schlagartig begann, mit einer infektähnlichen Erkrankung. Es gibt gute Belege dafür, dass
ME/CFS die Folge von verschiedenen viralen und bakteriellen Infektionen sein kann. Tatsächlich ist es unwahrscheinlich, dass sich ein einziger neuartiger Erreger in der großen
Mehrheit der Fälle als Ursache erweisen wird. Auch gibt es
Hinweise, dass verschiedene Viren latente, lebenslange Infektionen bei vielen Menschen auslösen können, die bei ME/
CFS wiederaufflammen oder reaktiviert werden, obwohl unklar ist, ob das die Ursache oder ein Effekt der Krankheit ist.
Was haben uns 25 Jahre Forschung gezeigt? Damals hatten
wir keine Vorstellung von der zu Grunde liegenden Pathophysiologie dieser Krankheit. Schlimmer noch, wir wussten
nicht einmal, ob es irgendwelche zu Grunde liegenden biologischen Anomalien bei der Krankheit gibt. Tatsächlich behaupteten einige Kliniker und Wissenschaftler, dass die
Krankheit wahrscheinlich psychologisch sei, und einige behaupteten sogar, dass sie eine Konstruktion sei: Patienten
würden sich Symptome einbilden, die keine physiologische
Basis hätten.
Aktivierung des Immunsystems: Viele Studien haben gezeigt, dass eine chronische T-Zellen-Aktivierung vorliegt.
Eine gerade erschienene Studie zu dem Medikament Rituximab liefert indirekte Beweise für eine chronische B-ZellenAktivierung.
Für diejenigen unter uns, die praktizierende Ärzte sind, war
das eine frustrierende Situation. Wir hatten wenig Kenntnisse und keine sicheren Mittel, mit denen wir versuchen konnten, den Patienten zu helfen, die zu unserer Praxis kamen.
Genetische Komponente: Zwillingsstudien, Studien der
HLA-Antigene und einige Gensequenzstudien zeigen, dass
ME/CFS – wie die meisten Krankheiten – eine zugrunde liegende genetische Komponente hat.
Aus meiner Sicht hat die Forschung der letzten 25 Jahre viele
zu Grunde liegende biologische Anomalien identifiziert, die
bei Patienten mit ME/CFS häufiger gefunden werden als bei
gesunden Kontrollgruppen oder bei Gruppen mit anderen
Krankheiten, die mit Erschöpfung verbunden sind, einschließlich Depression, Multipler Sklerose und Borreliose.
Auswirkungen auf die Praxis: Trotz der erheblichen Fortschritte im Verständnis der zugrunde liegenden Biologie bei
ME/CFS haben wir bislang noch keinen ausreichend genauen diagnostischen Test oder eine bewährte Behandlung. Was
wir Patienten sagen können, ist: 1) Die Forschung versucht
herauszufinden, was im Körper schief läuft; 2) viele Labore
arbeiten an der Entwicklung diagnostischer Tests und Behandlungsempfehlungen, entsprechend unserem wachsenden Verständnis darüber, wie ME/CFS den Körper beeinträchtigt.
Neurologische Anomalien
Gehirnuntersuchungen mit bildgebenden Verfahren wie
SPECT, PET und MRT haben Anomalien sowohl in der weißen
als auch in der grauen Hirnsubstanz gefunden. Kognitive
Tests haben Auffälligkeiten gezeigt, die nicht in Verbindung
mit irgendwelchen koexistenten psychologischen Krankheiten stehen. Eine Gruppe, die EEG-Daten verwendete, hat
eine „Signatur“ gefunden, durch die sich Patienten mit ME/
CFS von Patienten mit Depression und von Gesunden unterscheiden. Neuroendokrinologische Studien haben Anomalien in mehreren Hormonausschüttungsachsen des Hypothalamus identifiziert, Anomalien, die oft das Gegenteil dessen
sind, was bei Depressionen gesehen wird. Studien zu Proteinen in der Spinalkanalflüssigkeit haben einzigartige Muster
gefunden, und die Konzentration von Milchsäure in der Rückenmarksflüssigkeit (und, folglich auch der pH-Wert) sind
anomal. Schließlich haben zahlreiche Studien Anomalien
In diesem Primer ist das gesammelte Wissen vieler erfahrener Kliniker und klinischer Wissenschaftler zusammengetragen worden. Hier finden Sie Tips, wie Sie ME/CFS diagnostizieren können, und Hinweise auf Therapien, die Besserung
zu bringen scheinen, obwohl sie nicht heilen. Ich denke, Sie
werden ihn nützlich finden.
Dr. med. Anthony L. Komaroff
Simcox-Clifford-Higby Professor der Medizin,
Harvard Medical School
Leitender Oberarzt des Brigham & Women’s Hospital
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ME/CFS: Ein Handbuch für Ärzte
INHALTSVERZEICHNIS
5.8. Management von begleitenden Faktoren
Orthostatische Intoleranz und kardiovaskuläre Symptome
Gastrointestinale Probleme
Harnwegssymptome
Allergien
Multiple Chemikaliensensitivität (MCS)
Infektionen und immunologische Faktoren
5.9. Ernährungsmanagement
5.10. Alternative und ergänzende Behandlungsansätze
5.11. Nachsorge
Präfix
1. Einführung und Überblick
1.1. Namensgebung
1.2. Epidemiologie
1.3. Diagnose
1.4. Darstellung und Krankheitsverlauf
1.5. Die Rolle des Arztes bei Diagnose und Krankheitsmanagement
6. 6.1. 6.2. 6.3. 6.4. 6.5. 6.6. 6.7. 7. Ätiologie
Prädisponierende Faktoren
Begünstigende und kausale Faktoren
Pathophysiologie
Anomalien des Immunsystems
Neuroendokrine Dysregulation
Anomalien des Gehirns
Kognitive Beeinträchtigungen
Autonome/ kardiovaskuläre Störungen
Mitochondriale Anomalien / Störungen der Energieproduktion
3.7. Genetische Studien
2. 2.1. 2.2. 3. 3.1. 3.2. 3.3. 3.4. 3.5. 3.6. Klinische Überlegungen
Schwerstbetroffene Patienten
Schwangerschaft
Gynäkologische Probleme
Kinder mit ME/CFS
Impfungen
Blut- und Knochenmarkspende
Empfehlungen vor chirurgischen Eingriffen
Literaturverzeichnis
Anhänge
A Arbeitsblatt zur Internationalen Falldefinition zur Erforschung von ME/CFS (Fukuda et al. 1994)
B Arbeitsblatt zur pädiatrischen Falldefinition von ME/
CFS (Jason et al.)
C Skala der funktionellen Belastbarkeit
D Aktivitätstagebuch
E Empfehlungen vor chirurgischen Eingriffen
4. Klinische Diagnose
4.1. Patientengeschichte Arbeitsblatt zur Diagnostik
4.2. Körperliche Untersuchung
4.3. Laboruntersuchungen
4.4. Differentialdiagnosen
4.5. Unterscheidung des ME/CFS von Depression und
Angststörungen
4.6. Ausschlussdiagnosen
4.7. Komorbide Erkrankungen
Krankheitsmanagement / Behandlung
Behandlungsansätze
Schlaf
Schmerzen
Erschöpfung und Zustandsverschlechterung nach Anstrengung (PEM)
Management von PEM: Pacing und Energiemanagement
Aktivitäten und körperliche Bewegung
5.5. Kognitive Probleme
5.6. Depression, Ängste und Verzweiflung
5.7. Kognitive Verhaltenstherapie (KVT)
5. 5.1. 5.2. 5.3. 5.4. 4
ME/CFS: Ein Handbuch für Ärzte
PRÄFIX
Dieses Handbuch wurde für Ärzte geschrieben. Unser Ziel ist es, die Informationen zur Verfügung zu stellen, die für ein besseres
Verständnis, eine sichere Diagnose und ein individuelles Krankheitsmanagement beim „Chronischen Erschöpfungssyndrom“ auch bekannt als „Myalgische Enzephalomyelitis“ (ME/CFS) - nötig sind. Der Text wurde übereinstimmend vom Handbuch-Komitee entwickelt. Die Autoren haben sich außerordentlich Mühe gegeben, sicher zu stellen, dass die hier vorliegenden Informationen korrekt und auf dem neuesten Stand sind. Wo veröffentlichte Studien fehlen, basieren unsere Empfehlungen auf den
klinischen Erfahrungen unserer praktizierenden Ärzte.
Wir hoffen, dieses Handbuch wird zum nützlichen Begleiter in Ihrer Praxis und zum wertvollen Nachschlagewerk in Ihrer Handbibliothek.
Regelmäßige Aktualisierungen sind auf unserer Website www.iacfsme.org verfügbar.
1. EINFÜHRUNG UND ÜBERBLICK
dere, weniger bekannte Namen dieser Erkrankung sind auch
„Myalgische Enzephalopathie“ und „Chronisches Erschöpfungs- und Immundysfunktionssyndrom“ (CFIDS). Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) klassifiziert die „Myalgische
Enzephalomyelitis“ unter G93.3 als eine Krankheit des zentralen Nervensystems. (3) Eine ähnliche Krankheit, das „Post-virale Erschöpfungssyndrom“ (PVFS), beschreibt eine anhaltende
Erschöpfung in Folge einer Virusinfektion.
Die Begriffe „Chronisches Erschöpfungssyndrom“ und „Myalgische Enzephalomyelitis“ (ME/CFS) beschreiben eine komplexe körperliche Krankheit, die durch lähmende Erschöpfung, Verschlimmerung der Symptome nach Anstrengung
geistiger oder körperlicher Art, Schmerzen, kognitive Probleme, Schlafstörungen und eine Anzahl weiterer immunologischer, neurologischer und autonomer Manifestationen charakterisiert ist. (1)
Das Hauptmerkmal des Syndroms ist die Symptomverschlimmerung nach Anstrengungen, das bedeutet ein Aufflammen
von Symptomen schon nach minimaler physischer wie mentaler Aktivität, das Stunden, Tage oder sogar Wochen andauern kann. Ruhe oder Schlaf führen nur zu einer geringen Besserung der Erschöpfung und der anderen Symptome.
Die Krankheit ist auch durch substantiell reduzierte körperliche und/oder kognitive Leistungsfähigkeit gekennzeichnet.
Der Name „ME“ wird überwiegend in Europa und Kanada verwendet, während der Begriff „CFS“ eher in den USA und Australien benutzt wird. Eine Anzahl verschiedener, sich überschneidender Falldefinitionen wurde unter beiden
gebräuchlichen Begriffen veröffentlicht. Die meisten Forschungsstudien benutzen den Begriff „CFS“ auf Grundlage
der zu diesem Begriff verfassten „Fukuda-Kriterien“ (Fukuda
et al., 1994) (4).
Die Akronyme ME/CFS und CFS/ME werden zunehmend weltweit verwendet.
Obwohl ME/CFS eine körperliche Erkrankung ist, kann ein
chronischer Verlauf mitunter psychische Auswirkungen haben, wie bei vielen anderen chronischen Krankheiten auch.
1.2. EPIDEMIOLOGIE
Die Mehrheit der Patienten sind sporadische Einzelfälle, obwohl Massenausbrüche
in vielen, weit verstreuten Gebieten auftraten (5), so etwa in
Island (1948), London, England (1956), Neuseeland (1984)
und in den Vereinigten Staaten (Nevada, 1984; New York State
und North Carolina, 1985). Die Krankheit betrifft alle Altersgruppen, Ethnien und Gesellschaftsschichten. Am häufigsten
tritt sie bei den 30- bis 50-Jährigen auf, sie kann jedoch alle
Altersgruppen treffen. Es wird geschätzt, dass etwa 0,42% der
erwachsenen U.S.-Bevölkerung an ME/CFS leiden, hiervon
sind etwa 70% Frauen. (6) Prävalenzschätzungen aus einigen
anderen Ländern liegen teilweise höher, teilweise niedriger.
Genaue Daten zur Prävalenz bei Kindern und Jugendlichen
liegen noch nicht vor, sie scheinen jedoch niedriger zu sein als
bei Erwachsenen, wobei Mädchen und Jungen gleichermaßen betroffen sind.
1.1. NAMENSGEBUNG
Der Begriff „Myalgische Enzephalomyelitis“ (ME) wurde im
Jahre 1956 geprägt, um einen gut dokumentierten Clusteroder Massenausbruch einer erschöpfenden Krankheit in London (England) zu beschreiben. Der Name „Chronisches Erschöpfungssyndrom“ (CFS) kam in Folge der Untersuchungen
eines Massenausbruchs einer ähnlich erschöpfenden Krankheit in Nevada (USA) im Jahre 1984 auf. CFS ersetzte dort den
vorläufigen Namen „Chronisches Epstein-Barr-Virus Syndrom“,
weil klinische Studien das Epstein-Barr-Virus nicht als möglichen Auslöser bestätigen konnten. Der Name „Chronisches
Erschöpfungssyndrom“ (CFS) ist umstritten, da er die Krankheit durch seine Ungenauigkeit und Verharmlosung nicht
treffend beschreibt. (2) CFS wurde in der öffentlichen Wahrnehmung auch mit dem Begriff des allgemeinen, unspezifischen Leidens an chronischer Erschöpfung verwechselt. An5
ME/CFS: Ein Handbuch für Ärzte
1.3. DIAGNOSE
krankung ist bei Erwachsenen selten. (10)
Die Beobachtung des Aktivitätsniveaus über einen längeren
Zeitraum (wenigstens 6 Monate) ist ein besserer Indikator für
Verschlimmerung oder Verbesserung als vorübergehende
Veränderungen, die bei einem einzelnen Arztbesuch sichtbar
werden können. (11)
In Ermangelung eines validierten diagnostischen Tests basiert die Diagnose allein auf der Symptombeschreibung
durch den Patienten, wie sie in mehreren umfassenden Falldefinitionen beschrieben ist. (1,4,7) Dieses Handbuch basiert auf der 2003 verfassten „Klinischen Falldefinition“(1), die
für die klinische Praxis bestimmt ist und die Hauptmerkmale
von ME/CFS sehr gut beschreibt (s. Arbeitsblatt zur Diagnostik unter 4.1.)
Obwohl ME/CFS mittlerweile eine beachtenswerte Medienpräsenz erfahren hat, sind die meisten Patienten mit dieser
Erkrankung immer noch ohne Diagnose.1 (6,8)
1.5 Die Rolle des Arztes bei Diagnose und Krankheitsmanagement
Patienten, bei denen ME/CFS vermutet wird, sollten von einem Arzt untersucht werden, da
1.) die Diagnose auf dem Ausschluss anderer erschöpfender
Krankheiten beruht;
2.) sich bei einer Anzahl von Patienten mit der Anfangsdiagnose ME/CFS später herausstellt, dass sie an einer anderen,
behandelbaren Krankheit leiden;
3.) behandelbare Komorbiditäten vorliegen können.
1.4
DARSTELLUNG UND KRANKHEITSVERLAUF
Der Krankheitsbeginn ist häufig von grippeähnlichen Symptomen gekennzeichnet, die schlagartig auftreten. In anderen
Fällen wird auch von einem schleichenden Beginn berichtet.
Der Schweregrad der Erkrankung kann von leicht bis sehr
schwer variieren, mit Symptomen, die sich in Heftigkeit und
Dauer von Stunde zu Stunde oder auch von Tag zu Tag ändern können. Etwa 25% der Patienten sind bettlägerig, ans
Haus gefesselt oder auf einen Rollstuhl angewiesen. (9) Viele
dieser Patienten sind zu schwach, um in die Sprechstunde zu
kommen. Andere, falls nicht ans Haus gefesselt, müssen ihren
Beruf aufgeben. Diejenigen, die „nur“ leicht betroffen sind,
können eventuell noch in Teilzeit oder sogar Vollzeit arbeiten,
wenn die Arbeit nicht zu erschöpfend ist oder die Arbeitsbedingungen entsprechend angepasst werden. Manche müssen sich vielleicht eine weniger beanspruchende Tätigkeit
suchen, um weiterhin arbeiten zu können. Selbst diese weniger schwer betroffenen Patienten sind häufig so erschöpft
von der Arbeit, dass sie einen Großteil ihrer Freizeit damit verbringen sich auszuruhen.
Eine gesicherte Diagnose der Erkrankung ist für den Patienten meist eine große Erleichterung. Eine frühe Diagnose mit
rechtzeitiger Unterstützung und Intervention, um z.B. körperliche und/oder mentale Überanstrengungen zu vermeiden,
ist ein wesentlicher Aspekt, um Verschlimmerungen vorzubeugen und Fortschritte zu erleichtern. Der chronische Verlauf der Krankheit macht ein flexibles Krankheitsmanagement und regelmäßige Nachuntersuchungen erforderlich.
Regelmäßige Untersuchungen können eine Verschiebung
der Symptome bei ME/CFS oder aber neue Komorbiditäten
aufzeigen, die möglicherweise die Erschöpfung verschlimmern.
Trägt man der Komplexität dieser Krankheit Rechnung, so ist
ein Team von methodisch multidisziplinär untersuchenden
Medizinern zwar wünschenswert, leider aber selten zur Hand.
Patienten können erfolgreich behandelt werden, wenn der
behandelnde Arzt mit seiner Praxis als Ausgangspunkt fungiert und er bei Bedarf den Patienten an verschiedene Fachärzte überweist.
Die medizinische Behandlung konzentriert sich auf die Besserung der Symptome und des Aktivitätsniveaus durch:
Der Krankheitsverlauf ist normalerweise ein Auf und Ab von
Rückfällen und Phasen der Besserung. Folgende Faktoren
können eine Verschlimmerung verursachen: körperliche und
mentale Überanstrengung, neue Infektionen, Schlafentzug,
Impfungen, Stress verschiedener Art (z.B. finanzielle und familiäre Probleme, Schwierigkeiten mit der Kinderbetreuung,
Stigmatisierung durch die Krankheit) und gleichzeitige
Krankheiten. In einigen Fällen können keine die Krankheit
verschlimmernden Faktoren identifiziert werden. Fortschritte
und Besserungen sind nicht ungewöhnlich, aber die völlige
Wiederherstellung des Gesundheitszustandes wie vor der Er-
•
•
•
•
1
In Deutschland ist die Lage für die betroffenen Patienten
noch weitaus dramatischer, da hier nicht nur die Medienpräsenz des
Themas ME/CFS fehlt, sondern die Krankheit auch unter Ärzten weitgehend unbekannt ist, Anm. d. Übers.
6
Aufklärung des Patienten über die Krankheit
Anleitung zum Aktivitätsmanagement und zur
Ernährung
Behandlung von Symptomen mit nicht-pharmako
logischen und pharmakologischen Maßnahmen
Beobachtung von Fortschritten bei ständiger Wachsamkeit gegenüber möglicherweise auftreten
den Komorbiditäten.
ME/CFS: Ein Handbuch für Ärzte
Der behandelnde Arzt sollte sich darauf einstellen, eventuell
notwendige medizinische Berichte oder Gutachten zu verfassen und zur Verfügung zu stellen, die - mit Blick auf die oft
begrenzten finanziellen Ressourcen der Patienten - unabdingbar für deren Lebensqualität sein können.2 Der Umfang
der geforderten Dokumentation der Beeinträchtigungen variiert von Land zu Land und in den USA sogar von Bundesstaat zu Bundesstaat.
des ME/CFS mit einer grippeähnlichen Erkrankung. Nach einer Weile lässt sich eine Veränderung im Immunsystem beobachten, ähnlich wie die bei verschiedenen chronischen Infekten mit bekannten Viren. In einigen Fällen folgt ME/CFS auf
eine Infektion mit einem bekannten Virus. Eine beispielhafte
Studie berichtet, dass sechs Monate nach einer Erstinfektion
mit dem Epstein-Barr-Virus (EBV) oder Q-Fieber in 11% der
Fälle die diagnostischen Kriterien für ME/CFS auftraten. In
dieser Studie wies die Schwere der Erstinfektion auf einen anhaltenden Krankheitsverlauf hin. (17)
2. ÄTIOLOGIE
Im Laufe der letzten drei Jahrzehnte hat unser Verständnis
von ME/CFS deutliche Fortschritte gemacht. Jedoch bleibt
die Grundlagenforschung in Bezug auf die Identifizierung der
krankheitsverursachenden Faktoren angesichts der Vielschichtigkeit der Krankheit und der sich ständig weiter entwickelnden Falldefinition weiterhin eine Herausforderung. Sowohl genetische als auch andere begünstigende Faktoren
scheinen den Verlauf der Krankheit zu beeinflussen.
Eine Anzahl anderer Viren und/oder Antikörper gegen diese
Viren wurde in einigen Studien bei ME/CFS-Patienten häufiger gefunden als bei den Kontrollgruppen (z.B. Humane Herpes-Viren oder Enteroviren). Diese Studien lassen vermuten,
dass Viren als Verursacher eine Rolle spielen können. Andererseits können diese Viren auch opportunistische Infektionen darstellen, was bedeutet, dass durch eine zugrundeliegende Immunschwäche bisher noch ungeklärter Ursache
Keime wieder aktiv werden und sich vermehren, die der Gesunde problemlos in Schach hält. Kürzlich hat sich herausgestellt, dass die Präsenz des Gammaretrovirus XMRV in Proben
von ME/CFS-Patienten auf eine Laborverunreinigung zurückzuführen war. Zur Zeit gibt es keinen Hinweis auf eine spezifische Infektionsursache, die allein mit ME/CFS in Verbindung
gebracht werden kann.
2.1 PRÄDISPONIERENDE FAKTOREN
In einigen Fällen scheint es eine vererbte oder familiär bedingte Empfänglichkeit für ME/CFS zu geben. Studien zu Familien haben gezeigt, dass 20% der Patienten mit sporadisch
auftretender ME/CFS Verwandte haben, die ebenfalls daran
erkrankt sind, 70% dieser Verwandten lebten nicht im gleichen Haushalt wie die Patienten. (12) Zudem weiß man aus
Studien zu Zwillingen, dass bei 55% der eineiigen Zwillingspaare ME/CFS-Symptome jeweils bei Beiden gefunden wurden, im Gegensatz zu zweieiigen Zwillingspaaren, bei denen
die Rate bei 19% lag. (13) Ein kürzlich veröffentlichter Bericht
gibt das Risiko, ebenfalls an ME/CFS zu erkranken, mit 2,7%
für Verwandte 1. Grades, 2,3% für Verwandte 2. Grades und
mit 1,3% für Verwandte 3. Grades an. (14)
3. PATHOPHYSIOLOGIE
Die pathophysiologischen Konsequenzen von ME/CFS sind
multi-systemisch und können Folgendes mit einschließen:
Immunologische und neuroendokrine Anomalien; Hirnfunktionsstörungen und neurokognitive Beeinträchtigungen;
kardiovaskuläre und autonome Manifestationen; Dysfunktionen bei der Energieproduktion inklusive mitochondrialer
Dysfunktion; Veränderungen in der Genexpression bestimmter Gene.
Schaubild 1 stellt ein mögliches Modell des ME/CFS als einer
Multi-System-Erkrankung dar.
Obwohl die Ergebnisse verschiedener Forschungsstudien
teils widersprüchlich sind, bestätigen sich die Hinweise auf
Anomalien in jenen neueren Studien, die die Auswirkungen
von Überanstrengung, sowohl physischer (sportlicher oder
orthostatischer) oder kognitiver (mentaler) Art, bewerten.
Solche Provokationsstudien sind besser geeignet, das Kernsymptom der Verschlimmerung nach Überanstrengungen als
möglichen diagnostischen Beweis zu erzeugen. (18-23)
Zukünftige Forschungen, die die Wichtigkeit der Auswirkungen von Überanstrengung auf die Krankheitsvariablen anerkennen, können unser Verständnis dieses facettenreichen
körperlichen Zustands erweitern.
2.2 BEGÜNSTIGENDE UND
KAUSALE FAKTOREN
Dem Ausbruch der ME/CFS kann Folgendes vorausgehen:
eine akute oder chronische Infektion (viral, bakteriell oder parasitär); der Kontakt mit Umweltgiften (z.B. organophosphate
Pestizide); eine Impfung; oder ein signifikantes physisches
oder emotionales Trauma. (15,16) Diese Faktoren können das
Immunsystem angreifen. Doch bei einigen Patienten lässt
sich keine vorangegangene Krankheit oder ein erlebtes Trauma feststellen. Bislang sind die Faktoren, die einen langfristigen Krankheiterlauf bedingen, noch nicht identifizierbar.
Ein hoher Prozentsatz der Patienten beschreibt den Beginn
2
Etwa wenn es um Arbeits- oder Schulunfähigkeitsbescheinigungen sowie die Einstufung des Behinderungsgrades bei den Behörden geht, Anm. d. Übers.
7
ME/CFS: Ein Handbuch für Ärzte
Schaubild 1
Multisystemische Dysregulation bei ME/CFS
Prädisponierende Faktoren
Trigger
• akute oder chronische Infekte
• Umwelttoxine
• schweres physisches oder emotionales Trauma
Immunantwort
Muskuläre Symptome
Pathologische Erschöpfung *
Erschöpfung nach Belastung *
Schmerzen in Muskeln und Gelenken *
Grippesymptome
Symptome des zentralen Nervensystems
Zustandsverschlechterung nach Belastung *
Gedächtnis- und Konzentrationsprobleme *
Schmerzen*: Kopfschmerzen
Schlafstörungen *
Depression / Angst
Immunologische Symptome*
Halsschmerzen
Emp�ndliche �ymphknoten
Neu auftretende Unverträglichkeiten ggü.
Medikamenten, Nahrungsmitteln, Chemikalien
Gehirn
Rückenmark
Nerven
Hormone
Symptome des neuroendokrinen Systems
Unverträglichkeit von Hitze / Kälte
Deutliche Gewichtszunahme/ Gewichtsverlust
Verminderte Stresstoleranz
Autonome Symptome *
Orthostatische Intoleranz
Schwindelgefühl, Herzklopfen
Reizdarmsyndrom
Dysfunktion der Blase
* Diagnosekriterien für ME/CFS
3.1 ANOMALIEN DES IMMUNSYSTEMS
und Lyme-Borreliose-Antikörpern (28)
Die Anomalien im Immunsystem bei Patienten mit ME/CFS
tendieren zu einem Auf und Ab, was mit den wechselnden
Schweregraden der Erkrankung zusammenhängen kann. Bekannte Anomalien des Immunsystems werden jedoch nicht
übereinstimmend bei allen Patienten gefunden und sie treten auch nicht allein bei dieser Erkrankung auf.
Folgende Auffälligkeiten des Immunsystems finden sich bei
Patienten mit ME/CFS:
• Verschiebung in Richtung einer Th2-dominanten Immunantwort, mit einer Immunität, die überwiegend humoral statt über die Zellen vermittelt wird. (24)
• Immunaktivierung mit erhöhter Anzahl von T-Lymphozyten, einschließlich zytotoxischer T-Zellen und Anstieg der
zirkulierenden Zytokine (25)
• schlechte Zellfunktion mit niedriger Zytotoxizität der natürlichen Killerzellen (26)
• Dysregulation des antiviralen Abwehrweges 2-5A Synthease/ RNase L, mit einem charakteristischen Anstieg
der niedrig-molekularen 37 kDa RNAse L (also einer RNAse L mit einem Molekulargewicht von nur 37 kilo-Dalton).
(27)
• gelegentlich niedrige Spiegel von antinukleären Antikörpern, von Rheumafaktoren, Schilddrüsen-Antikörpern
Fatigue und grippeähnliche Symptome können mit erhöhten
Spiegeln verschiedener Zytokine zusammenhängen, einschließlich Interferonen und Interleukinen. (29)
Die Dysregulation des RNase L-Pfades bestärkt die Hypothese, dass virale Infektionen eine Rolle in der Pathogenese der
Krankheit spielen.
3.2 NEUROENDOKRINE DYSREGULATION
Eine oder mehrere der folgenden neuroendokrinen Anomalien wurden bei Untersuchungen von Patienten mit ME/CFS
gefunden:
• latenter Cortisolmangel und verminderte Schwankung
des Cortisolspiegels im Tagesverlauf (30)
• verminderte Funktion der HPA-Achse, wodurch die Funktion der Nebennieren, Keimdrüsen und Schilddrüsen beeinträchtigt werden kann
• Nivellierte DHEA-Reaktion auf ACTH-Injektion trotz normalem Grundspiegel (32)
• niedriger IGF 1 (Somatomedin)-Spiegel und überschießender Wachstumshormon-Anstieg nach Gabe des Medikaments Pyridostigmin (33, 34)
8
ME/CFS: Ein Handbuch für Ärzte
•
•
•
•
verstärkter Prolaktin-Anstieg nach Gabe des Medikaments Buspiron (35)
eine Störung der Flüssigkeitsregulation, erkennbar an einem niedrigen Basalwert von Arginin-Vasopressin (auch
genannt Adiuretin/Vasopressin, oder antidiuretisches
Hormon (ADH) (36)
vergleichsweise niedrigere Aldosteronspiegel als bei
Kon­trollgruppen (37)
erhöhte Spiegel von Neuropeptid Y (freigesetzt im Gehirn und im Sympathikus durch Stress), möglicherweise
im Zusammenhang stehend mit der Dysfunktion der
HPA-Achse. Der Neuropeptid Y-Spiegel im Plasma korreliert mit der Schwere der Symptome. (38)
durch eine Hypersensibilität gegenüber Geräuschen und
Licht, durch eine hohe Anzahl gleichzeitiger Reize und/ oder
schnelle Aktivitätsfolgen und sogar durch normale soziale Interaktion.
Standardisierte neurokognitive Tests sind nicht in der Lage,
die Schwierigkeiten der Patienten beim Bewältigen der Alltagsaufgaben in vollem Umfang zu erfassen. Bei den vergleichsweise idealen Bedingungen der Testsituation und
während der kurzen Zeitspanne eines Tests können Betroffene durchaus in der Lage sein, die Kontrolle über ihre persönlichen Ressourcen zu wahren. Jedoch können diese Patienten
solche Anstrengungen normalerweise nicht über einen längeren Zeitraum aufrechterhalten, wo konstante Leistungen
(etwa bei der Arbeit oder in der Schule) gefordert sind. Intensive Denkarbeit an sich kann sowohl die Denkfunktion herabsetzen, als auch andere post-strapaziöse Symptome auslösen, ähnlich wie solche nach körperlicher Anstrengung. (53)
3.3 ANOMALIEN DES GEHIRNS
Statische und dynamische Bildgebungsverfahren der Hirnfunktion, EEG-Untersuchungen und solche der zerebrospinalen Flüssigkeit haben strukturelle, funktionelle, stoffwechselbezogene und verhaltensbezogene Anomalien im Gehirn
von ME/CFS-Patienten gefunden. Diese Anomalien sind jedoch weder einzigartig bei dieser Krankheit, noch kommen
sie in jedem Falle vor. Sie können jedoch einen Anhaltspunkt
zur Pathophysiologie der Erkrankung liefern. Die entdeckten
Anomalien umfassen folgende Punkte:
• Gesamtreduktion der Grauen Substanz und einzelne Bereiche hoher Signalintensität (weiße Flecken) in der Weißen Substanz (40, 41)
• Abnahme der Hirndurchblutung und des Glukosestoffwechsels (42, 43)
• mehr Hirnareale, die mit der einströmenden Informationsflut beschäftigt sind, als bei Kontrollgruppen (44)
• langsamere zerebrale Aktivität als Antwort auf motorische und visuelle Reize als in Kontrollgruppen (45)
• Anstieg des ventrikulären Laktatwertes (46, 47)
• reduzierte Tiefschlafphasen und vermehrtes Schlafbedürfnis (48)
• Für die Erkrankung spezifische Proteine wurden in der zerebrospinalen Flüssigkeit gefunden (49)
3.5 AUTONOME/ KARDIOVASKULÄRE
STÖRUNGEN
Autonome Dysfunktion, falls vorhanden, manifestiert sich
teilweise als Unfähigkeit, eine aufrechte Körperhaltung beizubehalten oder als Unwohlsein bzw. Schwächegefühl während des Stehens (orthostatische Intoleranz). In solchen Fällen kann ein Kipptischtest zeigen, ob es sich um eine neural
vermittelte Hypotonie (NMH) oder um ein posturales orthostatisches Tachykardiesyndrom (POTS) handelt.
Einige Patienten mit ME/CFS können unter Herzklopfen leiden und weisen selbst im Ruhezustand persistierendes Herzrasen auf. Untersuchungen mittels Langzeit-EKG-Messung
(„Holter“-EKG) können gutartige Herzrhythmusstörungen
und unspezifische T-Wellenanomalien aufdecken, sowie wiederholte oszillierende T-Wellenumkehrung und/ oder T-Wellenabflachung. (54) Bei einigen Patienten mit ME/CFS konnte
die Vermutung einer diastolischen Dysfunktion durch Herzechokardiographie bestätigt werden. Diese diastolische
Dysfunktion (unvollständige ventrikuläre Füllung) ist vermutlich auf einen Energiemangel auf zellulärer Ebene zurückzuführen. (55) Bei anderen Patienten mit ME/CFS wurde auch
ein geringes Blutvolumen gefunden. (56)
3.4 KOGNITIVE BEEINTRÄCHTIGUNGEN
Kognitive Defizite sind oft die grundlegendste Beeinträchtigung bei ME/CFS. Solche Defizite schränken die Möglichkeiten der Patienten ein, im Alltag zu funktionieren, zu planen
und Aufgaben zu erledigen. Nachgewiesene Einschränkungen sind u.a. beeinträchtigtes Arbeitsgedächtnis, Verlangsamung des Denkprozesses, mangelhaftes Lernen neuer Informationen (50, 51), kürzere Konzentrations- und
Auf­­merksamkeitsspanne, Wortfindungsstörungen und erhöhte Ablenkbarkeit (1, 52).
Die kognitiven Leistungen können beeinträchtigt werden
3.6 MITOCHONDRIALE ANOMALIEN/
STÖRUNGEN DER ENERGIEPRODUKTION
Jüngere Studien legen nahe, dass eine mitochondriale Dysfunktion eine wichtige Ursache für das zugrundeliegende
Energiedefizit bei Patienten mit ME/CFS ist. Es existieren Hinweise auf eine verminderte aerobe Energieproduktion. (23,
57, 58) Als Folge dieser Beeinträchtigung können die Anstrengungen der Patienten die aerobe Kapazität überschrei9
ME/CFS: Ein Handbuch für Ärzte
ten und dadurch Wege des anaeroben Stoffwechsels aktivieren, die weit weniger effizient in der Energiegewinnung sind.
Dieser Prozess führt zur Produktion von Milchsäure und einer
Störung des ATP/ADP-Stoffwechsels. (20, 57) Es konnte jedoch noch nicht vollständig und abschließend nachgewiesen werden, welche Rolle der verminderte aerobe Stoffwechsel als Auslöser der pathologischen Fatigue, der
Verschlechterung nach Anstrengung und der verlängerten
Genesungsphase einnimmt.
blatt zur Diagnostik unter 4.1.), da sie die eindeutig festgelegten Kernsymptome der Krankheit betont. Die Fukuda-Kriterien für CFS (4) von 1994 (Anlage A) werden in erster Linie für
Forschungszwecke verwendet, obwohl sie durchaus auch bei
Arbeitsunfähigkeitsentscheidungen in den USA und anderswo herangezogen werden. Die kürzlich veröffentlichten Internationalen Konsenskriterien für ME (7) von 2011 werden
noch nicht allgemein angewandt. Es gibt noch keinen spezifischen, labordiagnostischen Test für ME/CFS, obwohl mögliche Biomarker gerade erforscht werden.
Hinweise auf mitochondriale Anomalien sind u.a.: mitochondriale Myopathie (59), reduzierte Sauerstoffaufnahme während körperlicher Anstrengung, Aktivierung des anaeroben
Stoffwechsels bereits zu Beginn der Belastung (19, 20) sowie
erhöhte ventrikuläre Laktatspiegel im Gehirn (46, 60). Im Hinblick auf Belastung zeigte eine Studie über einen zweitägigen kardiopulmonalen Belastungstest am zweiten Tag eine
anomale Erholungsreaktion (Abnahme der maximalen Sauerstoff-Aufnahme), was auf eine beeinträchtigte Stoffwechselfunktion hindeutet. Im Vergleich hierzu waren gesunde
Kontrollpersonen nicht nur in der Lage, den Belastungstest
am folgenden Tag zu wiederholen, sondern sich sogar leicht
zu verbessern, was auf eine Erholung vom ersten Belastungstest schließen lässt (18, 23).
Die Diagnosekriterien der 2003 veröffentlichten Falldefinition sind auf dem untenstehenden Arbeitsblatt zur Diagnostik
aufgelistet und können kopiert und zur Diagnose bei Patienten benutzt werden. Auf der zweiten Seite des Arbeitsblattes
finden Sie die Krankheiten, die vorher ausgeschlossen oder
vollständig behandelt werden sollten, bevor die Diagnose
ME/CFS gestellt werden kann. Dort findet sich auch eine Anzahl von nicht auszuschließenden Komorbiditäten, die im Zusammenhang mit ME/CFS auftreten können. Patienten mit
ME/CFS können darüber hinaus zahlreiche weitere Symptome aufweisen, die in der Falldefinition nicht aufgeführt sind.
4.1 PATIENTENGESCHICHTE
Eine gründliche Erhebung der medizinischen und gesellschaftlichen Lebensumstände ist essentiell für eine genaue
Diagnose. Um eine bündige und zusammenhängende Geschichte zu erstellen, reicht oft ein Praxisbesuch nicht aus,
wenn man die kognitiven Schwierigkeiten einiger Patienten
bedenkt. Die zu sammelnden Informationen sollten sowohl
die Situation VOR der Krankheit (Bildung, Beruf, soziale und
familiäre Umstände) als auch die aktuellen Lebensbedingungen umfassen (Alltagsaktivitäten, Stressoren, die wesentlichen Lebensveränderungen und Unterstützungsmöglichkeiten). Die Untersuchung des funktionellen Status gibt
Aufschluss über die signifikanten Lebensveränderungen, wie
sie die Patienten als Folge der Krankheit erleben. Eine Durchsicht der vom Patienten eingereichten vorangegangenen
medizinischen Aufnahmen, Berichte und Labortests verspricht ebenso nützliche Informationen.
3.7 GENETISCHE STUDIEN
Genetische Untersuchungen bei Patienten mit ME/CFS weisen auf eine veränderte Genexpression bestimmter Gene hin
(22, 61). Dies betrifft auch solche Gene, die die Immunmodulation, den oxidativen Stress und die Apoptose kontrollieren.
Es wird von mehreren unterschiedlichen Genomsubtypen
berichtet (62). Die Ausprägung einiger dieser Subtypen korrelierte mit der Schwere der Symptome.
In einer jüngeren Kontrollstudie (22) konnten zwei Untergruppen von ME/CFS-Patienten mit einer Änderung der Gen­
expression nach Anstrengung festgestellt werden. Die größere Untergruppe zeigte einen Anstieg mitochondrialer RNA für
sensorische und adrenerge Rezeptoren und ein Zytokin. Die
kleinere Untergruppe umfasste die meisten Patienten mit orthostatischer Intoleranz und zeigte nach der Belastung einen
Rückgang adrenerger ALPHA-2A Rezeptor-Genexpression.
4. KLINISCHE DIAGNOSE
Die Diagnose von ME/CFS stützt sich auf die Krankengeschichte des Patienten, das Symptommuster und den Ausschluss anderer erschöpfender Krankheiten. Eine symptombasierte Diagnose kann anhand der veröffentlichten Kriterien
erstellt werden. Dieses Handbuch verwendet die Kanadische
klinische Falldefinition für ME/CFS (1) von 2003 (s. Arbeits10
ME/CFS: Ein Handbuch für Ärzte
ARBEITSBLATT: KLINISCHE DIAGNOSEKRITERIEN FÜR ME/CFS *
Name ________________________ Patientennummer ___________________________
Um die Diagnose ME/CFS zu stellen, muss der Patient folgende Kriterien erfüllen:
• Pathologische Erschöpfung, Zustandsverschlechterung nach Belastung, Schlafprobleme, Schmerzen, zwei neurokognitive
Symptome und mindestens ein Symptom aus zweien der folgenden Kategorien: autonome, neuroendokrine, immunologische Manifestationen
• Die Erschöpfung und die anderen Symptome müssen persistierend oder rezidivierend auftreten, bei Erwachsenen über einen
Zeitraum von mindestens sechs Monaten, bei Kindern drei Monate
• Die Symptome dürfen nicht durch eine andere Erkrankung erklärbar sein.
Eine bessere diagnostische Genauigkeit kann erreicht werden, wenn die Schwere und Frequenz der verzeichneten Symptome
gemessen wird **
Symptome
Beschreibung der Symptome
Pathologische Erschöpfung
Ja o Nein o
Deutliches Ausmaß einer neu auftretenden, nicht anders erklärbaren, persistierenden oder rezidivierenden körperlichen und/oder mentalen Erschöpfung, die das
Aktivitätsniveau erheblich reduziert, die nicht das Ergebnis andauernder Belastung
ist und die sich nicht durch Ruhe bessert
Zustandsverschlechterung nach Belastung & Verschlimmerung der Symptome
Ja o Nein o
Auf geringe Belastung oder sogar auf normale Aktivitäten folgt eine Verschlimmerung: Verlust der körperlichen und mentalen Ausdauer und/oder Verschlimmerung
anderer Symptome. Die Erholung ist verlangsamt und kann länger als 24 Stunden
dauern
Schlafprobleme
Ja o Nein o
Schlaf ist nicht erholsam:
gestörte Schlafdauer - tagsüber Hypersomnie oder nächtliche Insomnie
und/oder gestörter Schlafrhythmus – umgekehrter Tag/Nacht-Rhythmus
Es ist selten, dass keine Schlafstörungen bestehen.
Schmerzen
Ja o Nein o
vielfältige Schmerzen, wandernd oder lokalisierbar:
Myalgien; Arthralgien (ohne Anzeichen einer Entzündung) und/oder
Kopfschmerzen eines neuen Typs, Musters oder Schweregrades
Es ist selten, dass keine Schmerzen auftreten.
Zwei neurokognitive Symptome
Ja o Nein o
Beeinträchtigung der Konzentrationsfähigkeit; Störungen des Kurzzeitgedächtnisses oder Wortfindungsstörungen;
Überempfindlichkeit bei Licht, Lärm oder emotionaler Belastung;
Verwirrung; Desorientierung; verlangsamtes Denken; Muskelschwäche; Ataxie
Mindestens ein Symptom aus zwei der
folgenden Kategorien:
a.
Autonome Manifestationen:
Orthostatische Intoleranz; neural vermittelte Hypotonie (NMH); posturales Tachykardiesyndrom (POTS); Benommenheit; extreme Blässe; Herzklopfen; Belastungsdyspnoe; Störungen der Miktionsfequenz; Reizdarmsyndrom (IBS); Übelkeit und/oder
Brechreiz
Ja o Nein o
Ja o Nein o
b.
Neuroendokrine Manifestationen:
Niedrige Körpertemperatur; kalte Extremitäten; Schwitzen; Intoleranz gegenüber
Hitze oder Kälte; reduzierte Stresstoleranz; unter Stress verschlimmern sich weitere
Symptome; Gewichtsveränderung; anomaler Appetit
Ja o Nein o
c.
Immunologische Manifestationen:
wiederkehrende grippeähnliche Symptome; Halsschmerzen; empfindliche Lymphknoten; Fieber; neu auftretende Überempfindlichkeiten ggü. Nahrungsmitteln,
Medikamenten, Gerüchen oder Chemikalien
* Carruthers BM, et al. ME/CFS: Clinical Working Case Definition, Diagnostic and Treatment Protocols. J CFS 2003; 11(1):7-115.
** Jason et al. The development of a revised Canadian Myalgic Encephalomyelitis-Chronic Fatigue Syndrome case definition. American J Biochemistry Biotechnology 2010; 6(2): 120-135.
11
ME/CFS: Ein Handbuch für Ärzte
ARBEITSBLATT: KLINISCHE DIAGNOSEKRITERIEN FÜR ME/CFS (FORTSETZUNG) *
Charakteristika der Symptome:
• am häufigsten ist ein plötzlicher Krankheitsbeginn, ein schleichender Beginn ist jedoch auch möglich
• Symptome können von Tag zu Tag oder im Verlauf eines Tages variieren
• Rückfälle und vorübergehende Besserungen sind verbreitet
• Das Aufflammen von Symptomen nach Belastung kann sofort erfolgen oder es verzögert sich 24 Stunden oder mehr
• Wenn keine Schmerzen und/oder Schlafstörungen vorliegen, kann ME/CFS diagnostiziert werden, falls die Krankheit einen
schlagartigen Beginn hat.
Ausschlusskriterien:
Bei vielen Krankheiten treten Symptome auf, die denen des ME/CFS ähneln. Aktive Krankheitsprozesse können wichtige Hauptsymptome wie Erschöpfung, Schlafstörungen, Schmerzen und neurokognitive Dysfunktion verursachen und müssen durch
Krankheitsgeschichte, körperliche Untersuchung und medizinische Tests differentialdiagnostisch abgeklärt werden. Im Folgenden einige der verbreitetsten Ausschlusserkrankungen:
• Anämie
• Autoimmunerkrankungen wie Rheumatoide Arthitis, Lupus
• Herzerkrankungen
• Endokrine Störungen wie Diabetes, Morbus Addison, Schilddrüsenerkrankungen, Menopausenbeschwerden
• Infektionskrankheiten wie Tuberkolose, HIV/AIDS, chronische Hepatitis, Borreliose
• Darmerkrankungen wie Zoeliakie oder Morbus Crohn
• Bösartige Tumore
• Neurologische Krankheiten wie Multiple Sklerose, Parkinson, Myasthenia gravis
• Primär psychiatrische Störungen und Drogenmissbrauch (nicht aber klinische Depression)
• Signifikante Erkrankungen der Lunge
• Primäre Schlafstörungen wie Schlafapnoe
Nicht-ausschließende Erkrankungen:
• Einige Komorbiditäten treten häufig in Verbindung mit ME/CFS auf. Dazu gehören Allergien, Fibromyalgie (FM),
Reizdarmsyndrom, Multiple Chemikaliensensitivität (MCS)
• Jede Krankheit, die adäquat behandelt wurde und unter Kontrolle ist
• Jede körperliche Anomalie oder jedes Laborergebnis, das nicht ausreicht, um eine ausschließende Erkrankung zu
diagnostizieren.
ME/CFS und FM sind oft eng miteinander verbunden und sollten als überlappende Syndrome angesehen werden. Eine komorbide Erkrankung kann dem Ausbruch von ME/CFS um Jahre vorausgehen, dann aber damit verbunden sein.
Hat ein Patient eine nicht erklärbare, andauernde Erschöpfung, aber eine nicht ausreichende Anzahl von Symptomen, um
die Kriterien für ME/CFS zu erfüllen, sollte die Krankheit als idiopathische chronische Erschöpfung klassifiziert werden.
o
Patient erfüllt die Kriterien für ME/CFS
o
Patient erfüllt die Kriterien nicht vollständig, sollte aber weiter überwacht werden.
Anmerkungen:
______________________________
___________________________
Unterschrift des Untersuchers
Datum
* Carruthers BM, et al. ME/CFS: Clinical Working Case Definition, Diagnostic and Treatment Protocols. J CFS 2003; 11(1):7-115.
** Jason et al. The development of a revised Canadian Myalgic Encephalomyelitis-Chronic Fatigue Syndrome case definition. American J Biochemistry Biotechnology 2010; 6(2): 120-135.
12
ME/CFS: Ein Handbuch für Ärzte
4.2 KÖRPERLICHE UNTERSUCHUNG
bei Patienten mit ME/CFS, aber der klinische Wert von teuren
und sorgfältig ausgearbeiteten Tests für diese Anomalien
konnte noch nicht nachgewiesen werden.
Körperliche Befunde sind oft nur in sehr geringem Ausmaß
und nicht immer als eindeutige Befunde erkennbar. Patienten
können blass und aufgedunsen aussehen, mit dunklen oder
violetten Ringen unter den Augen. Eine Untersuchung der Rachenhöhle kann eine nicht-exsudative Pharingitis ergeben
(oft als „karmesin- oder puterrote Halbmonde“ beschrieben).
Zervikale und axillare Lymphknoten können deutlich fühlbar
und druckempfindlich sein.
Tabelle 1
DIAGNOSTIK DES ME/CFS:
ROUTINE-LABORUNTERSUCHUNGEN
großes Blutbild und Differentialblutbild
Erythrozyten-Sedimentationsrate (ESR)
Elektrolyte: Natrium, Kalium, Chloride, Bikarbonat
Kalzium
Phosphate
Nüchternglukose
C-reaktives Protein
Leberfunktion: Bilirubin, alkalische Phosphatase
(AP/ ALP), Gamma-Glutamyltransferase (GGT)
Alanin-Aminotransferase (ALT), Aspartat-Aminotransferase
(AST), Albumin/ Globulin-Verhältnis
Nierenfunktion: Harnstoff, Kreatinin,
Glomeruläre Filtrationsrate (GFR)
Schilddrüsenfunktion: schilddrüsen­stimulierendes Hormon (TSH) und freies Thyroxin (f T4)
Eisenstoffwechsel: Serumeisen, Eisenbindungskapazität,
Ferritin
Vitamin B12 und Folsäure
Kreatin-Kinase
25-Hydroxy-Cholecalciferol (Vitamin D)
Urinanalyse
Einige Patienten haben nachweisbar orthostatische Intoleranzen mit neural vermittelter Hypotonie oder ein posturales orthostatisches Tachykardiesyndrom, charakterisiert durch verminderten Blutdruck und/oder Herzrasen bei längerem
Stehen. Das kann in Verbindung mit lageabhängiger Röte in
den Füßen und Blässe der Hände auftreten.
Eine neurologische Untersuchung kann einen positiven Romberg-Test oder einen positiven Seiltänzer-Schritt („Tandem“Schritt) Test ergeben. Wenn weit verbreitete Schmerzen auftreten, sollte Fibromyalgie als Komorbidität in Betracht
gezogen werden und durch eine Untersuchung der Nervendruckpunkte bestätigt werden.
4.3 LABORUNTERSUCHUNGEN
Eine Basis-Laboruntersuchung (Tabelle 1) sollte spezifischere
Tests (Tabelle 2) nach sich ziehen, abhängig von besonderen
wegweisenden Symptomen.
Beispielsweise sollte ein EKG bei Brustschmerzen gemacht
werden, eine Röntgenaufnahme der Brust bei Husten und ein
Zöliakietest, wenn gastrointestinale Symptome auftreten. (Bei
heftigen Symptomen sollte eine Endoskopie in Betracht gezogen werden)
4.4 DIFFERENTIALDIAGNOSEN
Auch wenn die Symptome etlicher Erkrankungen denen von
ME/CFS ähneln, erhöht doch das Auftreten einer Zustandsverschlechterung nach Anstrengung (Postexertional Malaise
[PEM]), einem Schlüsselsymptom der Krankheit, die Wahrscheinlichkeit, dass ME/CFS die korrekte Diagnose ist. In Tabelle 3 ist eine Reihe von Krankheiten aufgelistet, die bei der
Differentialdiagnostik mitberücksichtigt werden müssen.
Ergebnisse von Routinetests sind bei ME/CFS-Patienten fast
immer im Normalbereich, selbst während einer Phase der
Krankheitsverschlimmerung. Wenn Anomalien gefunden
werden (z.B. eine erhöhte Erythrozytensedimentationsrate
[ESR]), sollten andere Diagnosen in Erwägung gezogen werden. Spezifische Tests aus Tabelle 2 können einen niedrigen
Cortisolspiegel am Morgen, erhöhte antinukleare Antikörper
(ANA) und/ oder Immunglobulin-Anomalien anzeigen. Hinzu
kommt, dass der Vitamin D-Spiegel oft niedrig ausfällt (63),
weswegen ein Knochendichtetest zur Abklärung von Osteoporose empfehlenswert sein kann. Jede gefundene Anomalie
rechtfertigt weitere Untersuchungen, um andere Krankheiten
auszuschließen.
4.5 UNTERSCHEIDUNG DES ME/CFS VON DEPRESSION UND ANGSTSTÖRUNGEN
Symptome wie Depressionen oder Angst können als Resultat
der Krankheit auftreten oder ihr vorausgehen, wie dies auch
bei anderen chronischen Erkrankungen der Fall ist. Die Unterscheidung zwischen depressiven Störungen/ Angststörungen und dem ME/CFS stellt eine Herausforderung dar (64,
65). Depressive Symptome, einschließlich Schlafproblemen,
kognitiven Problemen und Antriebsschwäche, sowie Er-
Forschungsstudien berichten über eine Anzahl von immunologischen, neuroendokrinen und zentralnervösen Anomalien
13
ME/CFS: Ein Handbuch für Ärzte
schöpfung und Appetitstörungen/ Gewichtsveränderungen
können sich mit ME/CFS überschneiden.
einen durchgehenden Verlust an Interesse, Motivation und/
oder Freude feststellen. Letztlich zeigen die Tagesschwankungen bei ME/CFS eher eine Symptomverschlimmerung am
Nachmittag, während bei einer grundsätzlich depressiven
Störung ernstere Symptome oft eher am Morgen auftreten.
Tabelle 2
DIAGNOSTIK DES ME/CFS: ÜBERLEGENSWERTE
UNTERSUCHUNGEN, JE NACH SYMPTOMATIK
antinukleare Antikörper (ANA)
Röntgenthorax
Elektrokardiogramm (EKG)
Endoskopie: Gastroskopie, Koloskopie, Zytoskopie
Östradiol und follikelstimulierende Hormone
Radiologische Untersuchung der Magenentleerung
Gliadin-Antikörper (AGA) und Endomysiale Antikörper
(EMA), 13C-Atemtest
Immunglobuline
Untersuchung auf Infektionskrankheiten wie HIV, Hepatitis,
Borreliose, Q-Fieber, u.a.
Mikrobiologie: Stuhl, Rachenabstrich, Urin, Sputum, Genitalabstrich
Morgencortisol
MRT bei Verdacht auf Multiple Sklerose
Schlaflabor (Polysomnogramm) und multipler SchlaflatenzTest
Prolaktin
Renin/ Aldosteron-Verhältnis
Rheumafaktoren
Serum-Alpha-Amylase
ACTH-Stimulationstest
Testosteron
Kipptischuntersuchung zur Feststellung orthostatischer
Dysregulation
Einige Patienten mit ME/CFS entwickeln eine depressive Störung, die charakterisiert wird durch gedrückte Stimmung (Interessenverlust ist weniger wahrscheinlich) und darüber hinaus Symptome wie schwindendes Selbstwertgefühl oder
Schuldgefühle und Suizidgedanken. Der behandelnde Arzt
sollte eine Suizideinschätzung bei all den Patienten durchführen, die klinisch depressiv sind oder hochgradig unter
Stress stehen.
Eine reaktive Angststörung kann in der Krise des Krankheitsausbruchs auftreten und sich halten, wenn die Krankheit die
Arbeitsfähigkeit einschränkt und die familiären Beziehungen
belastet. Die reaktive Angststörung kann von der generellen
Angststörung (GAD) unterschieden werden. Die GAD ist charakterisiert durch exzessive Sorgen und einige besondere
physische Symptome. Im Gegensatz dazu führt eine reaktive
Angststörung zu ungewollten Panikattacken. Symptome von
ME/CFS, die bei GAD und Angststörungen NICHT gefunden
werden, sind sowohl Zustandsverschlechterung nach Anstrengung als auch autonome, endokrine oder immunologische Symptome (siehe Arbeitsblatt zur Diagnostik). Außerdem fühlen sich Patienten mit einer primären Angststörung
im allgemeinen BESSER nach einem Training, während es bei
ME/CFS die Symptome verschlimmert. Zu guter Letzt ist eine
Angststörung situativ begründet und jede Attacke nur von
kurzer Dauer, während ME/CFS über Jahre anhält.
4.6 AUSSCHLUSSDIAGNOSEN (TABELLE 3)
Die Differentialdiagnostik basiert auf dem Erkennen der typischen ME/CFS-Besonderheiten – vor allem der Zustandsverschlechterung nach Anstrengung (PEM) – wie auch autonomer, endokriner oder immunologischer Symptome (siehe
Arbeitsblatt zur Diagnostik). PEM bezeichnet die Verschlimmerung der Symptome nach minimaler physischer oder
mentaler Aktivität, die für Stunden, Tage oder sogar Wochen
anhält. Beispielsweise kann ein kurzer Spaziergang eine langanhaltende Symptomverschlimmerung auslösen. Im Gegensatz dazu fühlen sich Patienten mit Depressionen normalerweise nach gesteigerter Aktivität, Übungen oder
konzentrierter mentaler Arbeit besser.
Außerdem haben Patienten mit ME/CFS (mit oder ohne komorbide Depression) in der Regel ein starkes Bedürfnis aktiver zu sein, sind aber (körperlich) nicht in der Lage dazu. Bei
einer klinischen Depression kann man im Vergleich dazu oft
ME/CFS wird nicht diagnostiziert, wenn beim Patienten identifizierbare medizinische oder psychiatrische Zustände vorliegen, die die Symptome plausibel erscheinen lassen. Wenn
jedoch die ME/CFS-Symptome trotz adäquater Behandlung
der auszuschließenden Erkrankung bestehen bleiben, kann
die Diagnose ME/CFS später noch gestellt werden.
4.7 KOMORBIDE ERKRANKUNGEN
(TABELLE 4)
Eine Anzahl weiterer (nicht-ausschließender) Krankheitszustände kann mit ME/CFS einhergehen. Eine Liste dieser Komorbiditäten wird in Tabelle 4 aufgeführt und schließt folgende Erkrankungen mit ein: Fibromyalgie (FMS), Multiple
Chemikaliensensitivität (MCS), Reizdarmsyndrom, Reizblasensyndrom, interstitielle Blasenentzündung, temporomandibuläre Gelenkstörung, Migräne, Allergien, Thyreoiditis, Sic14
ME/CFS: Ein Handbuch für Ärzte
Autoimmunerkrankungen/
Rheumatologie
Polymyalgia rheumatic, (bzw. Arteriitis
temporalis)
Rheumatoide Arthritis (PcP)
systemischer Lupus Erythematosus
__________________________________
Kardiovaskuläre Erkrankungen
Kardiomyopathie
Klaudikation
Erkrankung der Koronararterien
Erkrankung der Herzklappen
Persistierendes Foramen ovale
Pulmonale Hypertonie
__________________________________
Endokrinologische/ Metabolische
Erkrankungen
Morbus Addison
Über- und Unterfunktion der Schilddrüse
Hyper- und Hypokalzämie
männlicher Hypogonadismus
Menopausenbeschwerden
Metabolisches Syndrom
Hypophysentumore oder -störungen
Vitamin B12- oder Vitamin D-Mangel
__________________________________
Gastrointestinale Erkrankungen
Zöliakie
Nahrungsmittelallergien oder –unverträglichkeiten
Entzündliche Darmerkrankungen
(M. Crohn, Colitis ulcerosa)
__________________________________
Tumore
Primäre u. sekundäre Tumorerkrankungen
Tabelle 3
DIFFERENTIALDIAGNOSTIK
Hämatologie
Anämie
Hämochromatose
Leukämie oder Lymphome
Myelodysplastische Syndrome (MDS)
__________________________________
Infektionen
Akutes Pfeiffer’sches Drüsenfieber
Coxsackie-Virusinfektion (Morbus Bornholm)
Brucellose
Giardien
Hepatitis B oder C
HIV
Leptospirose
Borreliose
Parvovirus
Post-Polio-Syndrom
Q-Fieber
Toxoplasmose
Tuberkulose
__________________________________
Neuromuskuläre Erkrankungen
Chiari 1-Fehlbildung
Multiple Sklerose
Myasthenia gravis
Myopathien und Neuropathien
Morbus Parkinson
ca-Syndrom, Raynaud-Syndrom und Mitralklappenprolaps.
Diese Zustände sollten gesondert untersucht und entsprechend behandelt werden.
Psychiatrische Erkrankungen
Bipolare Störung
Generalisierte Angststörung
Depressio major („psychotische“ Depression)
Posttraumatische Streßstörung
Persönlichkeitsstörungen
__________________________________
Atemwegserkrankungen
Aspergillose
Asthma oder Allergien
Sarkoidose
__________________________________
Schlafstörungen
Zentrales Schlafapnoe-Syndrom
Obstruktive Schlafapnoe
Narkolepsie
periodische Beinwegungen (PLM)
__________________________________
Sonstige Erkrankungen
Alkohol- oder Drogenmißbrauch
Ciguatera Fischvergiftung
Ehlers-Danlos Syndrom (EDS)
Golfkriegssyndrom
Blei-, Quecksilber- oder sonstige Schwermetallvergiftungen
Multiple Chemikaliensensitivität (MCS)
Vergiftung durch Organophosphat-Pestizide
Unverträglichkeit von verschriebenen
Medikamente
ME/CFS-Betroffenen, deren Standarduntersuchungen und
Labortestergebnisse vielfach keine Auffälligkeiten ergeben,
skeptisch gegenübersteht; und 2.) weil es keine standardisierte Behandlungsform für diese Patienten gibt. Diese Hindernisse, zusammen mit signifikanten, krankheitsbedingten
Einschränkungen sowie einem Mangel an Unterstützung
durch Familie und Freunde, kann beim Patienten zu Demoralisierung, Frustration und Wut führen.
5. KRANKHEITSMANAGEMENT/
BEHANDLUNG
Der Ausbruch von ME/CFS beeinträchtigt die Fähigkeit des
Betroffenen zu arbeiten, die Familie zu versorgen, soziale
Kontakte zu pflegen, eine grundlegende Selbstversorgung
zu gewährleisten und die eigene Identität zu bewahren. Diese plötzlichen Verluste können Unsicherheit und Krisen auslösen. Bislang erhalten Patienten oft wenig Hilfe bei Arztbesuchen, 1.) weil der Arzt den äußerlich gesund wirkenden
Dieses Kapitel liefert in erster Linie Empfehlungen für ambulante Patienten, die in der Lage sind, ärztliche Sprechstunden
wahrzunehmen. Für die rund 25% der Patienten mit ME/CFS,
die bettlägerig, ans Haus gebunden oder Rollstuhlfahrer sind,
gibt es in Kapitel 7 besondere Überlegungen.
15
ME/CFS: Ein Handbuch für Ärzte
Tabelle 4
NICHT AUSSCHLIESSENDE KOMORBIDE ERKRANKUNGEN
Autoimmunerkrankungen
Gastrointestinale Erkrankungen
Atemwegserkrankungen
Sicca-Syndrom
Nahrungsmittelallergien und
Allergien
Sjögren-Syndrom
–unverträglichkeiten
Bronchialkonstriktion
__________________________________ • Zöliakie/ Sprue
reaktiv oder durch Asthma
Kardiovaskuläre Erkrankungen
• Laktoseintoleranz
Rhinitis
Autonome Dysfunktion
• Kaseinunverträglichkeit
• allergisch
• orthostatische Intoleranz
Darmträgheit
• vasomotorisch
• neural vermittelte Hypotonie (NMH)
• posturales orthostatisches Tachykardie-Syndrom (POTS)
• Synkopen
• Reflux, Dysphagie, frühe Sättigung
• Reizdarmsyndrom
Mitralklappenprolaps
__________________________________
Dermatologische Erkrankungen
__________________________________
Endokrinologische/
Metabolische Erkrankungen
HPA-Achsen-Dysregulation
Gynäkologische Erkrankungen
Schmerzen im Unterbauch/ Becken
Endometriose
Prämenstruelles Syndrom
Prämenstruelle Dysphorische Störung
(PMDS)
Vulvodynie
Vulvar Vestibulitis-Syndrom
__________________________________
Hämatologische Erkrankungen
Neigung zu Hämatomen
_________________________________
Neurologische Erkrankungen
Hypersensitivitäten
• niedriges Normalcortisol
• Hypogonadismus
• verfrühte Menopause
Hypoglykämie
Metabolisches Syndrom
Multiple Chemikaliensensitivität
_________________________________
auf Licht, Geräusche, Berührung, Gerüche
oder Chemikalien
Visuelles Mittellinien-AbweichungsSyndrom
• Schwindel/ Übelkeit
• schlechtes Gleichgewicht
• infektiös
_________________________________
Rheumatologische Erkrankungen
Kostochondritis
Fibromyalgie
Myofasziales Schmerzsyndrom
Ehlers-Danlos-Syndrom
• Gelenkhyperlaxität
• Hyperelastizität
Iliosakralgelenk-Druckschmerz
temporomandibuläre Gelenkstörung
__________________________________
Schlafstörungen
Restless legs Syndrom
Periodische Bewegungsstörung der
Gliedmaßen
Nichterholsamer Schlaf
__________________________________
Urologische Erkrankungen
Interstitielle Zystitis
Detrusorhyperaktivität
Prostatitis
dass es für ihre verwirrenden Symptome eine diagnostische
Bezeichnung gibt – eine wichtige Bestätigung ihres Anliegens. Der behandelnde Arzt kann dem Patienten auch versichern, dass unauffällige Testergebnisse keineswegs bedeuten, dass ihre Krankheit nicht existiert.
5.1 BEHANDLUNGSANSÄTZE
Da es momentan noch keine wirkliche Heilbehandlung gibt,
beinhaltet die ärztliche Versorgung bei ME/CFS die Behandlung der Symptome und die Anleitung zum Patientenselbstmanagement. Das Ziel ist die Reduzierung der Symptome und
die Verbesserung der Lebensqualität basierend auf einer optimalen therapeutischen Zusammenarbeit. Auch wenn sich der
Zustand nicht bei allen Patienten bessern wird, sollte das Potential der Besserung, das von bescheiden bis substantiell
reicht, den Patienten deutlich vermittelt werden.
Wenn die Diagnose erst einmal steht, sollte man durch eine
Multi-Systemuntersuchung ermitteln, welches die schwer­sten
Symptome und Leiden der Patienten sind. Hierzu können einige der folgenden Symptome zählen: entkräftende Erschöpfung und Aktivitätseinbußen, Schlafstörungen, Schmerzen,
kognitive Probleme, emotionale Verzweiflung, orthostatische
Intoleranz, gastrointestinale oder urologische Symptome und
gynäkologische Probleme.
Anzuerkennen, dass die Krankheit des Patienten real ist, wird
seine Beziehung zum Therapeuten und die Entwicklung eines
effektiven Plans für das Krankheitsmanagement erleichtern.
Somit werden Patienten äußerst erleichtert sein zu hören,
Der Behandlungsplan in diesem Abschnitt umfasst sowohl
16
ME/CFS: Ein Handbuch für Ärzte
nicht-pharmakologische Maßnahmen als auch Medikamente. Lehrmaterial in schriftlicher Form kann ebenfalls hilfreich
für Patienten sein, weil sie möglicherweise Probleme mit dem
Kurzzeitgedächtnis haben.
•
Um die ärztliche Behandlung zu verbessern, empfehlen wir
folgendes:
• eine Begleitperson für den Arztbesuch oder eine Aufzeichnung des Besuchs, damit der Patient ihn später besser nachvollziehen kann
• eine schriftliche Aufstellung der schwersten Symptome
des Patienten
• eine Abmachung mit dem Patienten treffen, sich auf eine
begrenzte Anzahl von Symptomen zu konzentrieren mit
dem Ziel, eine Überlastung des Patienten zu vermeiden
• Medikamentendosierungen niedrig beginnen und nur
langsam steigern
• fortwährende (schriftliche) Einschätzungen des Patienten über viele Konsultationsbesuche hinweg vornehmen.
•
•
•
•
•
Reduzieren oder Weglassen koffeinhaltiger Getränke und
Speisen
Benutzen von Ohrstöpseln oder anderem Schallschutz
oder Schlafen in getrennten Zimmern ohne (schnarchenden) Partner
sicherstellen, dass das Schlafzimmer vollkommen abgedunkelt werden kann, entweder durch Verdunkelungsvorhänge oder eine Schlafmaske
falls man nicht schlafen kann, aufstehen und in einem anderen Zimmer so lange einer ruhigen Beschäftigung (lesen, ruhige Musik oder Entspannungs-CD; KEIN Computer, iPad oder TV) nachgehen, bis man müde wird
das Bett nur dem Schlaf und dem Sex vorbehalten
Vermeidung von Versuchen, den Schlaf zu erzwingen.
Medikamente (Tabelle 5). Alle sedierenden Medikamente
müssen für eine Langzeitanwendung empfehlenswert sein
und sollten mit sehr niedriger Dosis begonnen werden. Das
Medikament sollte früh genug am Tag eingenommen werden, so dass die beruhigende Wirkung zur Schlafenszeit einsetzt. Patienten leiden unter Umständen anfänglich an morgendlicher Benommenheit, die jedoch im Laufe der Zeit
abklingt und einer Besserung weicht. Die Risiken der Nebenwirkungen und Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten, die ein Serotoninsyndrom hervorrufen können, sollten
erklärt werden. Bei einigen Patienten entwickelt sich eine Toleranz gegenüber Medikationen. Ein Wechsel der Medikamente im Rotationsprinzip kann möglicherweise effektiver
sein als nur eines anzuwenden.
Die folgende Auflistung der ME/CFS-Symptome beginnt mit
denen, die am leichtesten behandelbar erscheinen.
5.2 SCHLAF
Der nicht erholsame Schlaf bei ME/CFS umfasst das morgendliche Aufwachen, ohne sich erfrischt und ausgeruht zu
fühlen, oder sich so müde zu fühlen wie am Abend zuvor.
Das unausgeruhte Gefühl kann mit Morgensteifigkeit, oder
einer allgemeinen Schmerzhaftigkeit und Benommenheit
einhergehen, von ein bis zwei Stunden Dauer. Schlafstörungen umfassen sowohl Einschlaf- als auch Durchschlafstörungen, unterbrochenen Schlaf oder auch komaähnlichen Schlaf.
Hypersomnie kann im frühen Stadium der Krankheit auftreten.
Viele Patienten haben eine diagnostizierbare Schlafstörung,
die von einem Spezialisten behandelt werden könnte.
5.3 SCHMERZEN
Ständige Schmerzen, ob weit verbreitet (disseminiert) oder
lokal, können bei ME/CFS zwischen leicht und sehr schwer
variieren. In einigen Fällen können minimale Stimulationen
wie eine leichte Berührung bereits Schmerzen beim Patienten hervorrufen. Kopfschmerzen sind teilweise heftig und oft
migräneartig. Wenn chronisch weit verbreitete Schmerzen
auftreten, sollte eine Untersuchung auf Fibromyalgie in Erwägung gezogen werden.
Die folgenden Empfehlungen für „Schlafhygiene“ können
hilfreich für Patienten sein (66):
• eine Stunde Entspannungsübungen oder beruhigende
Aktivitäten vor dem Zubettgehen
• regelmäßige Schlaf- und Wachzeiten
• die Aktivitäten des Tages so regulieren, dass Symptomverschlimmerung vermieden wird, die den Nachtschlaf
gefährdet
• „Nickerchen“ nach 15 Uhr vermeiden und durch Ausruhen ersetzen
• morgendliche Stunden in vollem Sonnenlicht entweder
draußen, am Fenster oder unter künstlichem Licht verbringen (67)
Hilfreiche nicht-pharmakologische Interventionen bei
Schmerzen können sein (68, 69): Reduzierung der Aktivitäten
(Pacing), Physiotherapie, Dehnungen, Massage, Akupunktur,
Hydrotherapie, Chiropraktik, Yoga, Tai Chi und Meditation,
Relaxation Response nach H. Benson bzw. Progressive Muskelentspannung nach E. Jacobson). Ziehen Sie auch heiße
oder kalte Packungen, warme Bäder oder Balneotherapie,
Muskeltonika (Einreibemittel), Elektromassagegeräte, TENS
(transkutane elektrische Nervenstimulation) und rTMS (repetitive transkraniale magnetische Stimulation) in Betracht.
17
ME/CFS: Ein Handbuch für Ärzte
TABELLE 5
MEDIKAMENTE GEGEN SCHLAFSTÖRUNGEN
Medikament
Trizyklika: Ami­
triptylin, Doxepin,
Nortriptylin
Cyklobenzaprin
Trazodon
Dosierung
5-100mg
Anmerkungen
Einnahme 5 Std. vor der Schlafenszeit;Nebenwirkungen: trockener Mund,
Verstopfung, orthostat. Intoleranz, Müdigkeit am Tag
5-10mg
12,5-200mg
Quetiapin
Gabapentin
Pregabalin
12,5-100mg
100-1500mg
50-450mg
S.o.
Ist vielleicht das Mittel, bei dem das Nachlassen der Wirkung auf den
Schlaf am unwahrscheinlichsten ist
Kann Gewichtszunahme oder extrapyramidale Symptome verursachen
Kann gegen nächtliche Schmerzen und Restless legs Syndrom helfen
Hilfreich bei nächtlichen Schmerzen, wirkt bei einigen Patienten jedoch
sehr sedierend
Anticholinergische Nebenwirkungen
Antihistaminika:
Promethazin
Diphenhydramin
Clonazepam
Orphenadrin
Ropinirol oder Pramipexo
Melatonin
Zolpidem
Zopiclon
Mirtazapin
10mg
50mg
0,25-1mg
100mg
0,125-0,25mg
Bei restless legs, Muskelkrämpfen oder Ängsten
Bei restless legs oder Muskelkrämpfen (nicht überall zu bekommen)
S.o.
1-3mg oder mehr, 2-3 Std. Kann hilfreich sein bei Patienten mit wechselndem Tagesrhythmus
vor der Schlafenszeit
2,5-10mg
Geringe Wirkdauer kann zu „Rebound“-Schlaflosigkeit führen
7,5mg
S.o.
7,5-15mg
Kann tagsüber sedierend wirken;Verträglichkeit kann mit der Zeit besser
werden
5.4. ERSCHÖPFUNG UND
ZUSTANDSVERSCHLECHTERUNG
NACH ANSTRENGUNG (PEM)
Diese Methoden können einzeln oder in verschiedenen Kombinationen effektiv Spannung und Schmerz lindern. Allerdings werden diese Interventionen möglicherweise schlecht
vertragen, oder sie sind nicht verfügbar oder unerschwinglich teuer. Es ist wichtig, lokale Schmerzen wie z.B. Arthritis
oder Migräne zu behandeln, weil sie die generellen Schmerzen bei ME/CFS verstärken können.
Medikationen (Tabelle 6). Für die Schmerzbehandlung bei
ME/CFS sollte zunächst die niedrigste effektive Dosis verordnet und nur langsam gesteigert werden.
Patienten mit schwerer Schmerzsymptomatik brauchen stärkere Analgetika und Narkotika. Obwohl bei chronischen
Schmerzzuständen von Opiaten abgeraten werden sollte,
können sie in einigen Fällen hilfreich sein. Ihre Anwendung
erfordert eine genaue Begründung und Dokumentation. Der
versorgende Arzt sollte in Erwägung ziehen, solche Patienten
zu einem Schmerzspezialisten zu überweisen.
Management von PEM: Pacing und Energiemanagement
Patienten mit ME/CFS leiden an abnormer Erschöpfung, die
nicht nur intensiver, sondern auch qualitativ anders ist als
gewöhnliche Müdigkeit. Die Erschöpfung bei ME/CFS kann
unterschiedliche Formen annehmen: Symptomverschlimmerung nach Anstrengung (abnorme Erschöpfung oder
Muskelschwäche nach minimaler physischer Aktivität), anhaltendes Grippegefühl, Benommenheit im Kopf (mentale
Erschöpfung nach kognitiven Alltagsbelastungen) und überdrehte Erschöpfung (Überreiztheit bei sehr starker Müdigkeit).
Ein Hauptmerkmal der Erschöpfung bei ME/CFS ist die Zustandsverschlechterung nach Anstrengung (PEM). PEM bedeutet die Verschlimmerung sowohl der Erschöpfung als
auch anderer Symptome (z.B. kognitive Schwierigkeiten,
Halsschmerzen, Schlaflosigkeit), die auf minimale physische
oder mentale Aktivitäten folgt und Stunden, Tage oder sogar
18
ME/CFS: Ein Handbuch für Ärzte
Tabelle 6
MEDIKAMENTE ZUR SCHMERZBEHANDLUNG
Medikament
Azetaminophen
Paracetamol
Aspirin
NSAR:
Diclofenac
Naproxen
Trizyclika:
Antikonvulsiva:
Gabapentin
Pregabalin
Dosierung
500-1000mg/ 3x tägl.
Anmerkungen
oft ineffektiv
300-600mg/ 3x tägl.
oft ineffektiv
s.o.; kann Gastritis verursachen
oder Nierenfunktion beeinträchtigen
75-100mg tägl.
s. Tabelle 5; v.a. bei chronischen Schmerzen
langsam einschleichen;
hilfreich bei neuropathischen
u. FMS-Schmerzen; kann kognitive Dysfunktion oder
Gewichtszunahme verursachen
können Schwitzen verstärken, sowie Blutdruck oder
Herzfrequenz erhöhen
100-300mg/ 4x tägl.
50-450mg/ 2x tägl.
SNRI:
Duloxetin
Milnazipran
Narkotika:
Kodeinphosphat:
Opiate wie Oxycodon,
Hydrocodon, Morphin
Tramadol
20-90mg tägl.
25-100mg/ 2x tägl.
Dosis variiert;
Richtlinien konsultieren
50-100mg, alle 6-8h
Wochen anhalten kann. PEM hängt möglicherweise mit einem anomalen Energiestoffwechsel zusammen.
Verstopfung; Gewöhnung;
Narkotika sollten wenn möglich vermieden werden
kann Anfälle verursachen sowie Interaktion mit Medikamenten zur Steigerung des Serotoninspiegels
Einfache und günstige physiologische Messmethoden, wie
z.B. ein Pulsmessgerät, können hier eingesetzt werden, um zu
garantieren, dass die kardiovaskuläre Echtzeitreaktion unterhalb der Schwelle aerober Beeinträchtigung bleibt.
Die Energie für physische Aktivität wird durch zwei physiologische Systeme produziert: (1) Anaerober Stoffwechsel ist der
vorherrschende Stoffwechselpfad während der ersten 90 Sekunden der Aktivität. (2) Der aerobe/ oxidative Stoffwechsel
ist überwiegend die Energiequelle bei körperlicher Anstrengung, die länger als 90 Sekunden dauert.
Management der PEM: Pacing und Energiemanagement.
Eine Besserung der Erschöpfung kann erzielt werden, indem
man dem Patienten rät, Aktivitäten so zu regulieren oder
„auszudehnen“, dass die fortlaufende Erschöpfung unterhalb
der Schwelle bleibt, wo das Aufflammen der Symptome nach
Anstrengung auftritt (Grafik 2). So sollten zum Beispiel Hausarbeiten nicht an einem Stück erledigt, sondern in einzelne
Tätigkeiten aufgeteilt werden, zwischen denen man Pausen
einlegen kann. So aktiv wie möglich zu bleiben, während
man zugleich eine zustandsverschlechternde Überanstrengung vermeidet, schafft einen optimalen Aktivitätsbereich,
der auch „Energierahmenplan“ oder „Energiemanagement“
genannt wird. Ein Aktivitätslogbuch (118) (Anhang D) kann
hilfreich sein, um herauszufinden, welche persönlichen Aktivitäten innerhalb des optimalen Energierahmens bleiben
bzw. diesen übersteigen.
Da die meisten physischen Aktivitäten im Alltag 90 Sekunden
überschreiten, wird üblicherweise das aerobe System genutzt, um das Energie freisetzende Nukleotid Adenosintriphosphat (ATP) in stetiger Menge zu produzieren und somit
die täglichen Aktivitäten zu bewältigen. Der aerobe Stoffwechsel kann bei Patienten mit ME/CFS beeinträchtigt sein
(23, 57, 58). Somit macht also jegliche physische Anstrengung, die über 90 Sekunden hinausgeht, Gebrauch von einem dysfunktionalen aeroben System, was zu einem verstärkten Rückgriff auf den anaeroben Stoffwechsel führt.
Diese Dysbalance kann mit der verlängerten Symptomspanne und den funktionalen Defiziten bei PEM in Zusammenhang gebracht werden.
19
ME/CFS: Ein Handbuch für Ärzte
Grafik 2
Abnahme der Schwere der Fatigue, wenn Patienten innerhalb
ihres Energierahmens bleiben (71)
Schweregrad der Fatigue
6.4
6.2
6.0
5.8
5.6
5.4
Außerhalb des Energierahmens
Innerhalb des Energierahmens
5.2
Ausgangssituation
nach der Behandlung
6 Monate später
12 Monate später
Zeit
Aktivität und Training. Um innerhalb dieses Energierahmens zu bleiben, müssen einige Patienten ihre Aktivitäten
eher einschränken, während andere vorsichtig mehr Aktivität
entwickeln sollten. Viele Menschen mit ME/CFS überanstrengen sich, in dem Glauben, man könne durch Aktivität die Erschöpfung und andere Symptome überwinden. Darüber hinaus geben mitunter wohlmeinende Anbieter in der
Gesundheitsvorsorge Trainingsempfehlungen an ME/CFSPatienten weiter, die auf Richtlinien für gesunde Menschen
basieren. Solche Richtlinien sind generell ungeeignet und oft
kontraproduktiv bei dieser Krankheit. Dadurch überfordern
sowohl Ärzte die Patienten als auch Patienten sich selbst mit
Aktivitäten, die die Symptome verschlimmern. Diese Symptomverschlimmerung kann mit der zugrundeliegenden aeroben Beeinträchtigung in Zusammenhang gebracht werden
(23,57,58).
Trainingsempfehlungen. Ein individueller Trainingsplan
sollte in Zusammenarbeit mit dem Patienten entwickelt werden (72, 73). Eine Konsultation von REHA-Fachkräften, die
sich mit ME/CFS auskennen, wäre ebenfalls wünschenswert.
Jegliches Training oder Aktivitätsprogramm sollte versuchen,
die negativen Auswirkungen der Überanstrengung auf die
beeinträchtigte aerobe Funktion zu minimieren. Zudem sollte das Training keinen Vorrang vor den alltäglichen Aktivitäten haben.
Fehlgeleitetes Training führt normalerweise zu einem Wiederaufflammen der Symptome nach Anstrengung oder zu
Rückfällen, die die Patienten für jegliches weitere Training
entmutigen. Dagegen liegt der optimale und individuell angepasste Trainingsrahmen in der Regel deutlich unter den
Standardempfehlungen für Gesunde, vermeidet somit Überanstrengungssymptome und begünstigt Besserungen.
Schwerstkranke Patienten (funktionale Kapazität 1-3; Anhang C). Ans Haus und ans Bett gefesselte Patienten können
Hausbesuche durch Physiotherapeuten in Anspruch nehmen, die mit ihnen je nach Belastbarkeit passiv unterstützte
Bewegungsübungen oder leichte kräftigende Übungen
durchführen können. Übungen im Liegen sind dann ratsam,
wenn diese im Stehen oder im Sitzen nur schlecht vertragen
werden. Das Intervalltraining sollte zunächst mit leichten
Dehnungen beginnen, um die Beweglichkeit zu verbessern,
Zu Beginn kann der Grad der Aktivitätsgrenzen des Patienten
mittels einer funktionalen Statusbewertung wie der „Funktionalen Kapazitätsskala“ (Anhang C) eingeschätzt werden. Diese 10-Punkte-Skala variiert von 10 für symptomfreie Menschen bis 1 für Patienten, die bettlägerig sind und keine
Alltagstätigkeiten mehr verrichten können.
20
ME/CFS: Ein Handbuch für Ärzte
5.5 KOGNITIVE PROBLEME
die dann in Intervallen von maximal 90 Sekunden trainiert
wird. Der Patient sollte zwischen den Intervallen so lange
ausruhen, bis er sich vollständig erholt hat. Zusätzliche Intervalle können dazu kommen, wenn die Dehnungsübungen
keine zustandsverschlechternden Symptome auslösen. Anschließend kann man mit Übungen gegen leichten manuellen Widerstand beginnen, evtl. auch mittels Elastikbändern
oder leichten Gewichten (funktionale Kapazität 4-5). Wenn
sich die Ausdauer steigert, können kurzzeitige Trainingsintervalle mit gemächlichem Spazierengehen dazu kommen.
Die kognitiven Probleme des Patienten können mit Hilfe folgender Vorschläge teilweise gemanagt werden:
• Verwendung eines „Gedächtnisbuches“, in dem alle wichtigen Dinge aufgeschrieben werden (einschließlich des
Bemühens, dieses Buch nicht zu verlegen)
• Entwicklung fester Gewohnheiten, wie etwa Schlüssel
oder Brille an derselben Stelle ablegen oder immer am
selben Ort parken
• Nach Möglichkeit Situationen mit „multisensorischem
Bombardement“ und hektische Aktivität vermeiden
• Begrenzung der Dauer und Intensität von kognitiver Anstrengung (eine Form von Pacing)
• Begrenzung oder Stop kognitiver Anstrengung, wenn kognitive Symptome sich verschlimmern
Weniger schwer betroffene Patienten (funktionale Kapazität 5-9; Anhang C). Das Intervalltraining kann mit gemächlichem Gehen, Schwimmen oder Trimmradfahren beginnen
(74). Die Anfangsdauer kann von 5 bis 15 Minuten am Tag
variieren, abhängig davon, wieviel der Patient tun kann, ohne
eine Zustandsverschlechterung zu provozieren. Diese besser
belastbaren Patienten können auch von zusätzlichem Yoga
und Tai Chi profitieren.
Medikamente für kognitive Probleme (Tabelle 8)
Stimulantien scheinen am besten zu wirken, wenn der Patient exzessive „Schläfrigkeit“ während des Tages im Gegensatz
zu „Müdigkeit“ beschreibt. Schläfrigkeit wird auf der EpworthSchläfrigkeits-Skala (ESS) höher als 10 angegeben, was eine
Überarbeitung der Kriterien für primäre Schlafstörungen
rechtfertigt.
Medikationen bei Erschöpfung und Überanstrengungssymptomen (Tabelle 7).
Wegen der beschriebenen Schwierigkeiten, der Kosten und
der begrenzten Effektivität sollten Medikationen gegen Erschöpfung nur zur funktionellen Unterstützung bei besonderen, aber potentiell erschöpfenden Anlässen im Leben des
Patienten vorbehalten bleiben (z.B. eine Hochzeit oder ein
Konzert). Falls das Medikament wirkt, sollten die Patienten
vermeiden, ihr individuelles Aktivitätslimit zu überschreiten,
da dies eine Zustandsverschlechterung provozieren würde.
Somit bleibt ein umsichtiges Überwachen der Aktivitäten
empfehlenswert.
5.6 DEPRESSION, ÄNGSTE UND VERZWEIFLUNG
Die Prävalenz von klinischer Depression und/ oder Angststörungen bei Patienten mit ME/CFS liegt bei rund 40% (116).
Dies ist vergleichbar mit der Rate psychiatrischer Symptome
bei anderen chronischen Erkrankungen wie etwa Arthritis.
Patienten können Depression, Ängste oder Stressreaktionen
aufgrund der Erkrankung entwickeln oder eine Geschichte
TABELLE 7
MEDIKAMENTE GEGEN DIE ERSCHÖPFUNG/ FATIGUE
Medikament
Modafinil
Armodafinil
Methylphenidat
(Ritalin)
Dexamphetamin
Koffein
Dosierung
100-200mg/ 1x tägl.
150-250mg/ 1x tägl.
5-20mg/ 3x tägl.
5-10mg/ 3x tägl.
Anmerkungen
in formalen Studien wirkungslos
angeblich leichte bis deutliche Besserung; Toleranz steigt bei Besserung; Toleranz steigt bei tägl. Anwendung; kann zu Gewöhnung führen
hat sich in einer kleinen Studie als etwas hilfreich erwiesen; kann zu Gewöhnung
führen. Toleranz steigt bei tägl. Anw.; kann Blutdruck und Herzfrequenz beeinträchtigen
Patienten behandeln sich oft selbst mit koffeinhaltigen Produkten(z.B. Getränke,
Nahrungsergänzungsmittel, Tabletten); kann den Schlaf beeinträchtigen bei zu
später Einnahme
21
ME/CFS: Ein Handbuch für Ärzte
Tabelle 8
MEDIKAMENTE BEI KOGNITIVEN PROBLEMEN
Medikament
Methylphenidat
Dextroamphetamin
Dosis
5-20mg/ 3x tägl.
5-10mg/ 3x tägl.
Modafinil
100-200mg/ tägl.
Armodafinil
Koffein
150-250mg/ tägl.
Anmerkungen
Kann Gewöhnung verursachen
S.o.; kann Blutdruck und Herzfrequenz beeinträchtigen
Starten Sie mit niedriger Dosis und erhöhen Sie langsam bis zur effektivsten Dosis
S.o.
S. Tabelle 7
von Depression/ Ängstlichkeit bereits vor Krankheitsausbruch aufweisen. Der Behandler sollte für alle Patienten, die
klinisch depressiv oder extrem gestresst erscheinen, eine Beurteilung der Suizid-Gefährdung erstellen.
rung und orthostatische Hypotonie, können bei einigen Patienten Erschöpfung und vegetative Labilität verschlimmern.
Die Wahl der Arznei basiert daher oft auf dem Profil der Nebenwirkungen und der Reaktion des Patienten darauf.
Management von Depression, Ängsten und Verzweiflung:
Unterstützung, Coping-Kompetenzen und angenehme Erfahrungen
Folgende Arten der Intervention können hilfreich sein:
• Aufklärung der Familienangehörigen über die Krankheit,
so dass sie für sinnvolle Hilfe und Unterstützung sorgen
können.
• Herausfinden und Aufzeichnen von erfreulichen Aktivitäten mit geringer Anstrengung (Musik, Tiefenentspannung, Natur beobachten), die das Wohlbefinden steigern,
Symptome von Angst, Depression und Verzweiflung reduzieren, und auch die Erschöpfung verringern können.
(75, 76)
• Entwickeln von Coping-Fähigkeiten, wie etwa kognitive
Strategien, um Wut, Sorge und Schwarzmalerei zu verringern, ebenso wie Fähigkeiten, um die Toleranz gegenüber dieser schwierigen Krankheit zu verbessern. Es stehen gute Quellen zur Verfügung, um ME/CFS-Patienten
zu effektiven Coping-Kompetenzen anzuleiten. (64, 77)
• Bei Bedarf Überweisung zu einer unterstützenden Beratung, vorzugsweise bei einem Experten, der mit ME/CFS
vertraut ist
• Empfehlung einer ME/CFS-Selbsthilfegruppe. Erfolgreiche Selbsthilfegruppen haben eine effektive Leitung und
ein konstruktives Programm, das den reinen Austausch
von Krankheitsbeschwerden vermeidet.
5.7 KOGNITIVE VERHALTENSTHERAPIE (KVT)
KVT ist eine viel propagierte und viel diskutierte psychotherapeutische Maßnahme bei ME/CFS, die die Interaktion zwischen Denken, Fühlen und Handeln im Blick hat. Sie konzentriert sich auf aktuelle Probleme und folgt einer strukturierten
Methode der Intervention, die normalerweise ein Programm
mit stufenweiser Erhöhung des Aktivitätsniveaus beinhaltet.
KVT kann Coping-Strategien verbessern und/ oder die Rehabilitation unterstützen, aber die Annahme, dass kognitive
Therapie (zum Beispiel das Ändern der „Überzeugung krank
zu sein“) und langsam gesteigerte Aktivität die Krankheit
„umkehren“ oder heilen können, wird nicht durch Untersuchungen gestützt, die nach einer solchen Intervention vorgenommen wurden. (78, 79)
In der medizinischen Praxisroutine hat KVT für Patienten mit
ME/CFS keine klinisch relevanten Ergebnisse hervorgebracht.
(80-82) Darüber hinaus spricht der Mangel an Anbietern von
Verhaltenstherapie, die auf diese Krankheit spezialisiert sind
(Psychologen, Sozialarbeiter, Pflegepersonal) eher dafür, dass
KVT für viele Patienten mit ME/CFS keine Option ist. Detailliertere Informationen über Verlaufsprotokolle von kognitiver
Verhaltenstherapie und die Kontroverse, die ihre Anwendung
bei ME/CFS begleitet, werden an anderer Stelle vorgestellt.
(82, 83)
5.8 MANAGEMENT VON BEGLEITENDEN
FAKTOREN
Medikamente gegen Depression. Bei Patienten, die klinisch
depressiv sind, können Medikamente manchmal die Stimmung heben und die Erschöpfung verringern. Man sollte dabei mit einer geringen Dosis beginnen. Es kann mehrere Wochen dauern, bis eine Besserung eintritt. Mögliche
Nebenwirkungen von Antidepressiva, insbesondere Sedie-
Orthostatische Intoleranz (OI) und kardiovaskuläre Symptome. Patienten mit Symptomen von orthostatischer Intoleranz wie Benommenheit, Schwindel, Herzklopfen und
Schwächegefühl sollten langsam aufstehen, besonders morgens oder nachts. Längeres Stehen sollte vermieden werden.
22
ME/CFS: Ein Handbuch für Ärzte
Die Verwendung von Stützstrümpfen kann ebenso förderlich
sein wie das Hochlegen der Beine im Sitzen, um einen venösen Rückstau in den Extremitäten zu vermeiden. Zudem werden Übungen im Liegen oft besser vertragen (zum Beispiel
Schwimmen, Radfahren im Liegen oder Übungen auf dem
Bett oder Fußboden).
Harnblasenmuskels, Harnröhrensyndrom oder Endometriose. Der behandelnde Arzt wird vielleicht den Patienten zur
Diagnose und/ oder Therapie an einen Facharzt überweisen
wollen.
Allergien. Viele Patienten mit ME/CFS leiden unter Allergien,
die während eines Rückfalls zu einer Verschlimmerung der
Symptome führen können. Eine Behandlung mit Nasenspray,
Inhalator oder lokalen äußeren Anwendungen kann angezeigt sein, viele werden jedoch orale Antihistaminika brauchen. Am Tage kann ein nicht sedierendes und zur Nacht ein
sedierendes Antihistaminikum genommen werden. Allergische Symptome sollten nicht mit Sensibilitäten oder Unverträglichkeiten verwechselt werden, die nicht mit Histamin in
Verbindung stehen.
Aus diätetischer Sicht wird bei OI versucht, das Blutvolumen
zu erhöhen. Zusätzliches Salz oder eine Elektrolytmischung
bei der Ernährung (salziges Essen, zusätzliches Tafelsalz oder
Salztabletten) gemeinsam mit erhöhter Flüssigkeitszufuhr
durch Trinken kann dabei helfen, die Hypotonie und posturale Tachykardie zu bekämpfen. Diese Empfehlung entspricht
einer Prise Salz alle 2-3 Stunden während des Tages und einem salzigen Snack vor dem Schlafengehen. Salz- und Flüssigkeitszufuhr sollten beide auch vor und nach Übungen erhöht werden.
Multiple Chemikaliensensitivität (MCS). Eine Anzahl von
Patienten mit ME/CFS haben auch MCS. Statt einer allergischen Reaktion haben sie eine Sensitivität gegenüber schwachen Dosen von spezifischen Gerüchen oder Chemikalien,
die eine Verschlimmerung von Symptomen verursachen.
Zum Beispiel kann ihnen das Parfüm anderer Menschen Probleme bereiten. Diese Patienten benötigen eventuell Rat, wie
sie diese Chemikalien in ihrer Umgebung meiden können,
die die Symptome verschlimmern. (84) Patienten mit multipler Nahrungsmittel-Sensitivität brauchen möglicherweise
eine Ernährungsberatung, wie sie sich nach dem Rotationsverfahren ernähren können, um Fehlernährung zu vermeiden.
Fludrocortison in einer Dosierung von 0,1-0,2mg/ Tag kann
bei einigen Patienten die mit Hypotonie und Hypovolämie
verbundenen Symptome verbessern, aber der Erfolg ist möglicherweise nicht dauerhaft. Bei Patienten, die Fludrocortison
einnehmen, sollten Blutdruck und Elektrolyte regelmäßig
kontrolliert werden, bei zusätzlicher Substitution von Kalium,
wenn nötig. Das Risiko des Kaliumabbaus durch Fludrocortison kann durch den täglichen Verzehr einer Banane oder Kiwi
reduziert werden. Niedrig dosierte Betablocker wie Atenolol
(25-50mg) oder Propranolol (10-20mg) sind vorteilhaft, um
Tachykardie oder Herzklopfen zu kontrollieren, die mit posturaler Hypotonie in Zusammenhang stehen.
Infektionen und immunologische Faktoren. In einigen Fällen von ME/CFS wurde eine Anzahl von viralen, bakteriellen
oder parasitären Infektionen gefunden (z.B. Herpesviren, Enteroviren, B. burgdorferi, Mykoplasmen, G. lamblia). Nach klinischer Beobachtung kann die Anwendung von Antibiotika,
Antiparasitika oder antiviraler Therapie über einen langen
Zeitraum vorteilhaft sein für Patienten, bei denen ein Vorhandensein von Pathogenen bestätigt wurde.
Gastrointestinale Probleme. Viele Patienten mit ME/CFS haben gastrointestinale Symptome wie Reflux, Dyspepsie,
Übelkeit, Erbrechen, Blähungen, Schmerzen, und Reizdarmsyndrom. Auch eine langsame Magenentleerung kann vorliegen. Generell werden Ernährungsmanagement (s. unten)
und konventionell konservative symptomatische Behandlung empfohlen. Ein Teil dieser Patienten wird eine Glutenund/ oder Laktoseintoleranz haben, eine Fruktoseintoleranz
oder andere Nahrungsmittelunverträglichkeiten bzw. eine
übermäßige Zunahme von Bakterien im Dünndarm. Diese
Möglichkeiten sollten bereits während der ersten Befragung
ausgeschlossen werden. Jede Veränderung der gastrointestinalen Symptome sollte herausgefunden werden.
Auch wenn erste Ergebnisse einiger neuer medikamentöser
Therapien für verschiedene Virusinfektionen bei ME/CFS vielversprechend aussehen, (85-89) sind Behandlungsprotokolle
doch oft komplex und werden nicht in kontrollierten Studien
getestet. Zudem sind Nebenwirkungen, Resistenzen gegen
das Medikament und Kosten von signifikanter Bedeutung.
Eine Überweisung an einen Spezialisten, der Erfahrung mit
klinischer Erprobung und therapeutischer Behandlung hat,
kann für diese Untergruppe von Patienten nützlich sein.
Harnwegssymptome. Viele Menschen mit ME/CFS haben
häufige Harnwegsprobleme wie Dysurie und Blasenschmerzen. Wenn eine Infektion ausgeschlossen werden kann, sollten andere Möglichkeiten in Betracht gezogen werden wie
interstitielle Zystitis, eine Instabilität des Detrusormuskels/
Da auch immunologische Faktoren bei ME/CFS eine Rolle
23
ME/CFS: Ein Handbuch für Ärzte
spielen können, sind evtl. Immunmodulatoren wie Isoprinosin (Imunovir ®) für einige Patienten hilfreich. Der Rat eines
Spezialisten kann angebracht sein, wenn die klinische Erfahrung begrenzt ist. Basierend auf zwei randomisierten Studien
(90, 91) hat sich das Medikament Rintatolimod (Ampligen ®)
als günstig für solche Patienten erwiesen, die stärker betroffen sind. Das Medikament ist derzeit in Phase III der klinischen
Erprobung und nicht von der US-Arzneimittelzulassungsbehörde (FDA) zugelassen.3 Patienten in den USA können es
nur erhalten, wenn sie an einer offen ausgeschriebenen, kostentragenden Forschungsstudie teilnehmen, und wenn sie
sich dafür qualifizieren, ist es mit großem Aufwand verbunden. Schließlich wurde Rituximab, ein Medikament, das als
Anti-CD 20 monoklonaler Antikörper vor allem bei Krebs angewendet wird, in einer kleinen randomisierten Studie als
nützlich für Patienten mit ME/CFS entdeckt. (117)
fen. Einige Patienten mit gastrointestinalen Symptomen berichten schließlich von einer Besserung durch eine Diät gegen
das „Leaky Gut-Syndrom“ in Kombination mit L-Glutamin
oder Butyrat.
Nahrungsergänzungsmittel. ME/CFS-Patienten müssen sicherstellen, dass sie zumindest die empfohlene Tagesdosis
an Vitaminen und Mineralien erhalten. Dies ist nicht immer
allein über die Ernährung möglich. Ein passendes Multivitamin- und separates Multimineralienpräparat werden dafür
sorgen, dass zumindest die Tagesdosis an Vitaminen und Mineralien im richtigen Mengenverhältnis aufgenommen werden.
Vitamin D. Da Vitamin D-Mangel bei ME/CFS häufig vorkommt, kann die zusätzliche Gabe von Vitamin D erforderlich
sein, um ein optimales Niveau zu erreichen, welches das Risiko von Osteoporose, Tumoren, Herzerkrankungen, Schlaganfall und anderen Krankheiten verringern kann. (93)
5.9 ERNÄHRUNGSMANAGEMENT
Auch wenn es keine spezielle evidenzbasierte Ernährung bei
ME/CFS gibt, sind Ernährungsprogramme bei vielen Patienten sehr beliebt. Gute Ernährung mit einer bewussten, ausgewogenen Diät ist empfehlenswert. Exzesse von bestimmten
Nahrungsmitteln, ebenso wie schwere, fette Nahrung, Süßigkeiten und Koffein sollten vermieden werden. Kleine Mahlzeiten mit Snacks zwischendurch können vorteilhaft sein. Um
das Osteoporose-Risiko aufgrund eines Vitamin D-Mangels
zu verringern, sollten Milchprodukte Bestandteil der Ernährung sein, falls keine Laktoseintoleranz oder eine allergische
Reaktion gegen Milch und Milchprodukte vorliegt. Außerdem sollte Alkoholgenuss minimiert oder ganz vermieden
werden, falls er schlecht vertragen wird (verursacht Sedierung).
Vitamin B12 und B-Komplex. Angesichts der Tatsache, dass
bei einigen ME/CFS-Patienten die Vitamin B12-Werte im zerebrospinalen Liquor stark vermindert sein können, (94) kann
der Versuch dienlich sein, über sechs Wochen (oder vielleicht
länger) wöchentlich eine Injektion von Hydroxycobalamin
1000µg zu verabreichen. Es gibt keinerlei Beleg für ernsthafte
Risiken oder Nebenwirkungen, trotz der hohen Blutwerte, die
dadurch erreicht werden. Ein Nahrungsergänzungsmittel des
B-Komplexes wird gleichzeitig Vitamin B-Mängel verhindern.
Essentielle Fettsäuren. Eine Nahrungsergänzung mit essentiellen Fettsäuren hat bei den behandelten ME/CFS-Patienten
in einigen Untersuchungen eine Symptomverbesserung und
größere Verschiebungen hin zu Normalwerten der Konzentration von Zellfettsäuren erbracht. (95) Eicosapentaensäure (EPA), eine essentielle Fettsäure, ist eine Hauptkomponente der Omega3-Fettsäure. Diese Substanz hat sich für einige
Patienten als förderlich bei der Reduzierung der Krankheitssymptome erwiesen. Zusätzliche Vitamine und mineralische
Ko-Faktoren wie Biotin, Niacin, Folsäure, Vitamin B6, Vitamin
B12, Vitamin C, Selen, Zink und Magnesium, (96) können unterstützend wirken im Zusammenspiel mit einer Ergänzung
essentieller Fettsäuren.
Einige Menschen, die ihr ME/CFS mit Nahrungsmittelunverträglichkeiten in Verbindung bringen, werden darauf achten,
bestimmte Nahrungsmittel zu vermeiden. Gluten- und/ oder
Laktoseintoleranz, nicht ungewöhnlich bei ME/CFS, erfordern eine glutenfreie bzw. laktosefreie Ernährung. Vorausgesetzt, diese Unverträglichkeiten wurden ausgeschlossen,
kann eine Ernährung nach dem Rotationsprinzip statt völliger Vermeidung die möglichen negativen Reaktionen auf
Nahrungsmittel verringern.
Auch wenn es keinen Nachweis dafür gibt, dass Patienten mit
ME/CFS an systemischer Kandidose leiden, sind Diäten mit
dem Ziel, Kandidose und Allergien zu bekämpfen, recht beliebt, und viele Patienten glauben daran, dass sie ihnen hel-
Zink. Eine unzureichende Zufuhr von Zink kann zu einer verminderten Funktion der natürlichen Killerzellen und einer
zellvermittelten Immundysfunktion beitragen. (97) Ein Mulitmineralienpräparat kann die richtige Balance zwischen Zink
und Kupfer sicherstellen.
Heilkräuter. Der Gebrauch von natürlicher/ Kräutermedizin
3
Am 20.12.2012 lehnte die FDA die Zulassung des Medikaments wegen mangelnder Wirksamkeit ab (Anm. d. Übers.).
24
ME/CFS: Ein Handbuch für Ärzte
durch die Patienten sollte erfragt werden, um mutmaßliche
Nebenwirkungen festzustellen und um mögliche Konflikte
mit verschriebenen Medikamenten zu vermeiden. Patienten
wissen oft nicht, dass „natürlich“ nicht unbedingt „besser“
oder „sicher“ bedeutet. Wie bei Medikamenten auch, sollte
mit schwachen Dosierungen begonnen und vor möglichen
negativen Reaktionen gewarnt werden. Einige Kräuter mit
pharmakologischer Wirkung haben traditionell Eingang in
die Ernährung gefunden, wie z.B. Kräutertees aus Pfefferminze, Ingwer oder Kamille bei gastrointestinalen Symptomen
oder bei Schlafproblemen.
die Arztpraxis aufzusuchen. Zudem sollte eine jährliche
Nachsorge stattfinden, die eine Überprüfung der Symptome,
eine körperliche Untersuchung, eine Bewertung der funktionalen Kapazität, Routineuntersuchungen (s. Tabelle 1) sowie
eine Befragung über den Management-/ Behandlungsplan
des Patienten beinhaltet.
6. KLINISCHE ÜBERLEGUNGEN
6.1. SCHWERSTBETROFFENE PATIENTEN:
BESONDERE ÜBERLEGUNGEN
Warnungen sind angebracht vor einigen Produkten, die
größtenteils keiner Beschränkung unterliegen. Glyko-Nährstoffe, Ölbaum-Blätter und Picnogenol (Pinienrinde) wurden
als mögliche Heilmittel gegen ME/CFS angepriesen, aber weder klinische Untersuchungen noch veröffentlichte Befunde
belegen ihren Nutzen. Bei Produkten, von denen behauptet
wird, sie würden das Immunsystem stärken, konnte in medizinischen Veröffentlichungen nicht nachgewiesen werden,
dass sie die Symptome von ME/CFS-Patienten reduzieren.
Viele der Gebräue, die angeblich die Nebennierenfunktion
unterstützen, enthalten Steroide, die Nebenwirkungen bei
denjenigen haben können, die sie nicht brauchen, vor allem,
wenn ihre Einnahme plötzlich gestoppt wird. Steroide sollten
nur von einem Arzt verschrieben werden.
Etwa ein Viertel der Patienten sind so schwer erkrankt, dass
sie ans Bett oder an den Rollstuhl gefesselt sind und kaum
das Haus verlassen können. (119) Diese Menschen sind nicht
in der Lage, regelmäßig in die Arztpraxis zu kommen. Ärztliche Gutachten stellen bei diesen Erkrankten eine schwerere
Ausprägung der Symptome, mehr Komorbiditäten, begrenzte geistige Aktivität und ein sehr niedriges körperliches Aktivitätsniveau fest. Eine kleine Minderheit dieser Patienten ist
völlig bettlägerig und klagt über ständige Schmerzen, ebenso wie über die Unverträglichkeit jeder Art von Bewegung,
Licht oder Lärm und bestimmter Gerüche von Chemikalien
(einschließlich verschriebener Medikamente).
Häusliche Pflegekräfte sind unerlässlich, um schwer erkrankte ME/CFS-Patienten zu unterstützen und um an ihrem fortlaufenden Behandlungsplan teilzuhaben. Auch Pflegekräfte
können beim Erfüllen der Bedürfnisse des Patienten einigem
Stress ausgesetzt sein.
5.10 ALTERNATIVE UND ERGÄNZENDE
BEHANDLUNGSANSÄTZE
Patienten mit ME/CFS probieren auf der Suche nach Heilung
häufig teure alternative Behandlungen aus. Eine Überprüfung etlicher Studien ergab allgemein wenig Methodik und
geringe Nachweise für mehr als bescheidene Erfolge. Die Belege für Homöopathie und Biofeedback sind zweifelhaft.
Akupunktur, Massage und Chiropraktik sind relativ etablierte
Schmerzbehandlungen und werden dementsprechend von
der Schmerztherapie abgedeckt. Detailliertere Informationen finden sich evtl. in neueren Rezensionen. (98, 99)
Folgende Vorschläge können hilfreich sein für diese Gruppe
der Schwerstbetroffenen:
• Sorgen Sie für ein sehr ruhiges Umfeld
• Begrenzen Sie geistige Aktivität (wie Lesen, Schreiben,
Computer oder andere Konzentration erfordernde Tätigkeiten), denn geistige Anstrengung ist für viele dieser Patienten genauso erschöpfend wie körperliche Anstrengung
• Minimieren Sie Medikamente und ergänzende Mineralstoffe auf das absolut Notwendige
• Verschreiben Sie Medikamente in sehr niedriger Dosierung und steigern Sie langsam, je nach Verträglichkeit
• Steigern Sie jegliche Aktivität nur sehr langsam, z.B. beginnend mit einer Auswahl von Bewegungsübungen im
Liegen, anschließend Bewegungsübungen gegen leichten Widerstand und schließlich sehr leichte Übungen im
aeroben Bereich.
5.11 NACHSORGE
Patienten mit ME/CFS benötigen regelmäßige Weiterbehandlung und Nachsorge, um adäquat mit ihren gravierend­
sten Symptomen umgehen zu können, und um die Diagnose
zu bestätigen oder anzupassen. Auch wenn Patienten vermuten, dass neu auftretende Symptome zum ME/CFS-Syndrom
gehören, können sich auch andere Krankheiten entwickeln,
deren Symptome nicht charakteristisch sind für ME/CFS; diese sollten ermittelt werden. Jeder Patient, der eine Verschlechterung der Symptome oder das Auftreten neuer/ zusätzlicher Symptome bemerkt, sollte ermutigt werden, erneut
Darüber hinaus benötigen schwerstbetroffene Patienten oft
zusätzliche Dienstleistungen und Unterstützung in Bezug auf
25
ME/CFS: Ein Handbuch für Ärzte
folgende Aspekte:
• Nachsorge (z.B. über Hausbesuche, telefonischen Kontakt oder Online-Kommunikation)
• Soziale Unterstützung, einschließlich häuslicher Krankenpflege und Beratung
• Stressmanagement und Beratung bezüglich Trauer und
Verlust
• Bescheidene Erwartungen an den Patienten von ihm
selbst und von anderen
• Ausgewogene Ernährung und gesunde Lebensmittel
(die von Pflegekräften besorgt und zubereitet werden).
Stillen ist nicht kontraindiziert. Die Vor- und Nachteile des
Stillens sollten mit der Mutter besprochen werden. Für die
Nacht kann Milch abgepumpt werden, um der Mutter genügend Erholung zu ermöglichen. Kindererziehung ist die größte Herausforderung für Mütter mit ME/CFS und viele sind auf
ein gutes Netzwerk von Unterstützern angewiesen.
Der Nachwuchs von Müttern mit ME/CFS hat möglicherweise
ein höheres Risiko an ME/CFS zu erkranken als die übrige Bevölkerung. Einer Studie zufolge liegt das Risiko für diese Kinder bei 5%, in der Kindheit oder im frühen Erwachsenenalter
ME/CFS zu bekommen. (12) Eine andere kleine Untersuchung
kommt zu der Einschätzung, dass diese Kinder auch ein höheres Risiko von Entwicklungsverzögerungen und Lernproblemen haben. (101)
Irma Pinxterhuis hat in ihrer Untersuchung zu Schwersterkrankten (100) angemerkt: „Mehr als alles andere benötigten
sie inneren Frieden und das Gefühl, das man sich um sie und
ihre Familien kümmere, so dass sie all ihre Energie darauf verwenden konnten, sich zu erholen.“
6.3. GYNÄKOLOGISCHE PROBLEME
6.2. SCHWANGERSCHAFT
ME/CFS sowie einige verbreitete gynäkologische Probleme
wie prämenstruelles und klimakterisches Syndrom zeigen
eine auffällige Übereinstimmung der Symptome. Diese Erkrankungen verschlimmern häufig die ME/CFS- Symptome
und umgekehrt.
Die meisten Mütter mit ME/CFS haben eine unauffällige
Schwangerschaft und bringen ein normales Kind zur Welt.
Während der Schwangerschaft können die Krankheitssymptome sich bei einigen bessern, bei manchen bleiben sie
gleich und bei anderen verschlechtern sie sich. Bei vielen Patientinnen kehren die Symptome einige Wochen nach der
Entbindung zum Level vor der Schwangerschaft zurück. Eine
Schwangerschaft ist im Anfangsstadium des ME/CFS nicht
empfehlenswert, da die Patientin schwer erkrankt und die Diagnose unklar sein kann.
Eine kleine Anzahl signifikanter Studien vermuten, dass verschiedene gynäkologische Erkrankungen bei Frauen mit ME/
CFS häufiger auftreten. Einige dieser Beschwerden können
bereits vor Ausbruch der Krankheit bestehen, wie etwa: prämenstruelles Syndrom; verzögerte oder ausbleibende Ovulation; niedriger Östrogenspiegel, der zu einer Vielzahl von
Symptomen des Zentralen Nervensystems führt wie Verlust
der Libido, und in späteren Jahren Osteoporose; Dysmenorrhoe; Beckenbodenschmerzen; Endometriose; Blasenentzündungen; Dyspareunie und Vulvodynie; und häufige Hysterektomien (von Fibrosen oder Ovarialzysten). (37, 103, 104) Die
Untersuchung und Behandlung dieser Erkrankungen sollte
der gängigen gynäkologischen Praxis folgen.
Einige Medikamente gegen ME/CFS können einen heranwachsenden Fötus vor allem im Frühstadium der Schwangerschaft schädigen. Die Auswirkungen der meisten pflanzlichen Präparate auf den Fötus sind unbekannt. Der
behandelnde Arzt sollte die Schwangere bezüglich der weiteren medikamentösen Behandlung beraten; in Bezug auf
die Risiken für den Fötus sollten die Medikamente vor einer
geplanten Schwangerschaft abgesetzt werden. Dabei kann
die Patientin feststellen, ob sie ohne die Medikamente mit einem möglicherweise verschlimmerten ME/CFS zurecht
kommt. Einige essentielle Medikamente müssen möglicherweise in geringerer Dosierung weiter eingenommen werden.
Viele Patientinnen mit Beschwerden während des Klimakteriums und danach, die zugleich ME/CFS haben, können von
einer Hormonersatztherapie (HET) profitieren. Patientinnen
mit Prämenopausen-Syndrom, die an ME/CFS und einem
niedrigen Östrogenspiegel leiden, kann HET unter Umständen ebenfalls helfen. Östrogen kann die zerebrale Durchblutung verbessern, die Wahrnehmung begünstigen und Erleichterung verschaffen in Bezug auf Hitzewallungen,
Schlaflosigkeit und Erschöpfung. HET verringert auch das
Osteoporose-Risiko. (105)
Manche Frauen reagieren besser auf eine reine ProgesteronBehandlung, etwa eine Progesteron-Pille oder ein impräg-
Probleme der Geburtshilfe können bei Frauen mit ME/CFS
verbreiteter sein, darunter solche wie geringere Fruchtbarkeit, Fehlgeburten, heftige Übelkeit mit Übergeben während
der Schwangerschaft, Erschöpfung während der Wehen, verzögerte Erholung nach der Geburt und postnatale Depression. (101, 102) Wenn die Geburtswehen zu lange dauern, ist
ein Kaiserschnitt empfehlenswert.
26
ME/CFS: Ein Handbuch für Ärzte
niertes Intrauterinpessar. Diese Behandlungen bieten zugleich eine Möglichkeit der Verhütung, was für Frauen mit
ME/CFS entscheidend sein kann. Orale Kontrazeptiva können
hilfreich sein für Patientinnen, die unter Menstruationsschmerzen leiden, vor allem, wenn sie starke Blutungen haben.
Rahmen des „Erziehungsprogramms für Personen mit Behinderungen“ (IDEA), da sie „gesundheitlich eingeschränkt“ sind.
Mit ärztlichem Gutachten können anspruchsberechtigte
Schüler einen individualisierten Bildungsplan (IEP) bekommen.5
Häusliche Nachhilfe, Unterricht an einer Fernschule oder
Hausunterricht ermöglicht es den Schülern, die durch ME/
CFS stark geschwächt sind, sich ihre Kräfte einzuteilen und so
das Aufflackern von Symptomen zu reduzieren. Ein gestaffelter Zeitplan kann, falls angemessen, erfolgreich sein bei der
Rückkehr in die Schule - in Verbindung mit Schulpersonal,
das bereit ist, mit dem Kind und den Eltern zusammen zu arbeiten. Die Reintegration kann z.B. so aussehen, dass das
Kind anfangs nur eine Stunde täglich am Unterricht teilnimmt
und man diese Stundenzahl über mehrere Wochen oder Monate ganz allmählich steigert.
Eine hormonelle Therapie sollte nur zeitlich begrenzt eingesetzt werden angesichts des erhöhten Risikos, durch HET an
Brust-, Eierstock- oder Gebärmutterkrebs zu erkranken. Einige Frauen bevorzugen es, „natürliche“ Hormone zu nehmen
(z.B. Phytoöstrogene und Yamswurzel-Produkte), aber es
muss betont werden, dass bislang keine umfassenden randomisierten Studien bezüglich deren klinischer Effekte und
möglicher Nebenwirkungen durchgeführt wurden. (106,
107)
6.4. KINDER MIT ME/CFS
Um die Chancen einer Genesung zu steigern, sollte Wettkampfsport am besten vermieden werden. Wenn sich beim
Patienten die Symptome durch Stress bedingt verschlechtern, wäre es wünschenswert, schulische Klassenarbeiten auf
die wirklich notwendigen zu beschränken.6 Eine Familienberatung kann empfehlenswert sein, wenn familiäre Konflikte,
die mit der Krankheit in Verbindung stehen, augenfällig sind.
Die Prognose für Kinder mit ME/CFS ist bedeutend besser,
auch wenn sie anfangs schwer erkrankt sein können. (111113)
ME/CFS kann in jedem Alter auftreten, aber bei Kindern unter
zehn Jahren ist es schwer zu diagnostizieren. Die Behandlung
von Kindern kann eine besondere Herausforderung sein. Kinder und Jugendliche reden manchmal nicht über ihre Symptome und nehmen an, Erschöpfung sei normal. Außerdem
werden sie oft fehldiagnostiziert, indem man ihnen unterstellt, sie seien faul, hätten Verhaltensstörungen, Schulangst,
ADHS oder ein Münchhausen-Syndrom.4 (108, 109) Die Diagnose ME/CFS wird oft gar nicht oder erst verspätet gestellt,
aber die Erkrankung kann festgestellt werden, indem man
eine spezielle pädiatrische Falldefinition (Anhang B) benutzt
(110), die auf der klinischen Falldefinition des kanadischen
Konsensdokuments beruht. Bei Kindern kann die Diagnose
gestellt werden, wenn die Krankheit mindestens seit drei Monaten besteht. Die Häufigkeit von ME/CFS bei Kindern und
Jugendlichen variiert in verschiedenen wissenschaftlichen
Untersuchungen sehr stark, aber insgesamt scheint die Rate
niedriger als bei Erwachsenen zu sein.
6.5. IMPFUNGEN
Patienten mit ME/CFS sollten versuchen, alle nicht wirklich
wichtigen Impfungen zu vermeiden, besonders solche mit
Lebendimpfstoff, da bekannt ist, dass nach einer Impfung
Rückfälle auftreten können. Die übliche medizinische Praxis
ist es, eine ansonsten gesunde Person nicht zu impfen, wenn
sie gerade krank ist. Allerdings sollten ME/CFS-Patienten
während einer Grippewelle zwischen dem Risiko, an Grippe
zu erkranken, und der Möglichkeit, dass es zu einer Symptomverschlechterung aufgrund einer Impfung kommt, abwägen.
Krankheitsmanagement und Behandlung von Kindern mit
ME/CFS sind ähnlich wie oben für Erwachsene beschrieben.
Jegliche Medikamente sollten nur mit großer Vorsicht verschrieben werden. Wie erwachsene Patienten auch, reagieren viele Kinder mit ME/CFS bereits auf viel niedrigere als die
Standard-Dosierungen von Medikamenten.
6.6. BLUT- UND KNOCHENMARKSPENDE
5
In Deutschland haben Kinder mit ME/CFS im Rahmen des
Schulgesetzes ebenfalls Anspruch auf „sonderpädagogischen Förderbedarf“ innerhalb der Regelschule, dabei werden jedoch nur körperliche und motorische Einschränkungen berücksichtigt; der Förderbedarf wird durch ein Gutachten des behandelnden Arztes und der
Schulbehörde ermittelt. Erfolg und Umsetzung hängen allerdings
stark vom Wohlwollen aller beteiligten Institutionen ab, Anm. d. Übers.
Viele Kinder mit ME/CFS erleben eine Verschlechterung ihrer
schulischen Leistungen. In den USA haben Kinder und Jugendliche mit kognitiven Defiziten und körperlich begrenzter Belastbarkeit Anspruch auf spezielle Dienstleistungen im
6
Im deutschen Schulgesetz wird die Reintegration durch den
„Nachteilsausgleich“ für chronisch kranke Schüler geregelt, der jedoch
in jedem Bundesland anders aussieht, Anm. d. Übers.; weitere Informationen unter www.schuleundkrankheit.de
4
Bzw. den Eltern resp. Müttern wird ein Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom unterstellt, Anm. d. Übers.
27
ME/CFS: Ein Handbuch für Ärzte
Das Deutsche Rote Kreuz verlangt ebenso wie das Amerikanische Rote Kreuz von Blutspendern, dass sie „sich gesund fühlen“ müssen, was bedeutet, dass sie sich wohl fühlen und zu
normalen Aktivitäten in der Lage sein müssen.7 (120) Da Menschen mit ME/CFS nach dieser Definition nicht gesund sind,
sollten sie kein Blut spenden. Außerdem haben aufgrund der
möglichen Verbindung zwischen ME/CFS und XMRV einige
nationale Blutbänke Massnahmen ergriffen, um Patienten
mit ME/CFS von Blutspenden abzuraten bzw. sie ihnen zu
verbieten.8 (121)
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6.7. EMPFEHLUNGEN VOR CHIRURGISCHEN
EINGRIFFEN
Für Menschen mit ME/CFS, die vor einem chirurgischen Eingriff stehen, ist es wichtig, dass sie mit dem operierenden
Arzt und dem Anästhesisten über die Erkrankung sprechen.
Aspekte wie verringertes Blutvolumen, orthostatische Intoleranz, Schmerzkontrolle sowie Sensibilität gegenüber anästhetischen Mitteln sollten angegeben werden. Weiterführende Informationen für Menschen mit ME/CFS, die operiert
werden müssen, finden sich im Anhang E.
Updates zu diesem Handbuch finden sich unter www.iacfsme.org
7. LITERATURVERZEICHNIS
7
Weitere Informationen unter www.drk-blutspende.de
8
Die betreffende Studie über den Zusammenhang zwischen
ME/CFS und XMRV wurde Ende 2011 zurückgezogen, Anm. d. Übers.
28
ME/CFS: Ein Handbuch für Ärzte
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30
ME/CFS: Ein Handbuch für Ärzte
ANHÄNGE
A
B
C
D
E
Arbeitsblatt zur Internationalen Falldefinition zur Erforschung von ME/CFS
(Fukuda et al. 1994)
Arbeitsblatt zur Pädiatrischen Falldefinition von ME/CFS (Jason et al.)
Skala der funktionellen Belastbarkeit
Aktivitätstagebuch
Empfehlungen vor chirurgischen Eingriffen
ANHANG A
ARBEITSBLATT: INTERNATIONALE FALLDEFINITION ZUR ERFORSCHUNG
VON ME/CFS (FUKUDA ET AL. 1994)
Name des Patienten _____________________________________
Datum _____________________
Hauptkriterien:
o Klinisch gesicherte schwere Erschöpfung, wiederkehrend oder andauernd, schleichend oder plötzlich
einsetzend, über mindestens sechs Monate anhaltend
o Ausschluss anderer klinischer Gegebenheiten, die die schwere Erschöpfung plausibel erklären können
Nebenkriterien: (mindestens 4 von acht müssen erfüllt sein)
Symptome (müssen persistierend oder rezidivierend nebeneinander bestehen und dürfen nicht vor Beginn der Erschöpfung
aufgetreten sein)
o Halsschmerzen
o schmerzhafte Lymphknoten (Hals, Achsel, Leistengegend oder supraklavikulär)
o Kopfschmerzen neuen Typs
o Myalgien oder schmerzhafte Muskulatur
o wandernde Arthralgien
o Zustandsverschlechterung nach körperlicher Aktivität (PEM)
o neuropsychologische (kognitive) Beschwerden
o Schlafstörungen
Patient erfüllt:
o Hauptkriterien
o Vier oder mehr Nebenkriterien
Bewertung:
o Erfüllt CDC CFS-Kriterien
o Erfüllt CDC CFS-Kriterien nicht
o Erfüllt Kriterien für Idiopathische Erschöpfung (ICF) - schwere Erschöpfung reicht für die Erfüllung der CFSKriterien nicht aus
o Erfüllt weder CFS-Kriterien noch besteht eine ICF
o Atypische Ausprägung von CFS oder unklare Diagnose
31
ME/CFS: Ein Handbuch für Ärzte
ANHANG B
ARBEITSBLATT: PÄDIATRISCHE FALLDEFINITION VON ME/CFS (JASON ET AL.) (110)
Person: _______________________________ Datum: _______________ Untersuchender Arzt:_________________________
Um die Kriterien für ME/CFS zu erfüllen, muss der Patient seit drei Monaten an medizinisch ungeklärter Erschöpfung leiden;
Zustandsverschlechterung nach Anstrengung; nicht erholsamer Schlaf oder Schlafstörungen; verbreitete oder wandernde
Muskel-, Gelenk-, Bauch- oder Kopfschmerzen; zwei oder mehr neurokognitive Manifestationen (Beeinträchtigung des (Kurzzeit-) Gedächtnisses, Schwierigkeiten beim Fokussieren oder verlangsamtes Denken); und mindestens ein Symptom aus zwei
der drei Bereiche: autonome, neuroendokrine und immunologische Manifestationen. Die Symptome müssen moderat oder
schwerwiegend sein, um die Kriterien zu erfüllen.
I. Symptome: Die ME/CFS-Symptome müssen in den vergangenen drei Monaten der Erkrankung ständig oder wiederkehrend aufgetreten sein.
II. Zustandsverschlechterung nach Anstrengung (PEM): Selbst bei geringer Aktivität kommt es zu einem Verlust an körperlicher oder geistiger
Ausdauer, schneller oder plötzlicher muskulärer oder kognitiver Ermüdbarkeit, zu einer Zustandsverschlechterung nach Anstrengung oder Erschöpfung nach Belastung und einer Tendenz, dass sich andere Symptome im Symptommuster des Patienten verschlimmern. Die Erholungsphase ist verlangsamt, dauert oft 24 Stunden oder länger.
III. Schlaf: Nicht erholsamer Schlaf oder Störungen der Schlafquantität oder des Schlafrhythmus
IV. Schmerzen. Mindestens eines der folgenden Symptome:
o
Muskel- oder Gelenkschmerzen
o
Bauch- oder Kopfschmerzen
V. Zwei oder mehr neurokognitive Manifestationen:
o Beeinträchtigung des (Kurzzeit) Gedächtnisses
o Vergeßlichkeit bezüglich dessen, was man sagen wollte
o verlangsamtes Denken
o Schwierigkeiten, Informationen zu verarbeiten
oKonzentrationsstörungen
o Geistige Abwesenheit
o Schwierigkeiten, sich auf mehr als eine Sache o Verlieren des Gedankenfadens
gleichzeitig zu konzentrieren
o Schwierigkeiten, Informationen in Erinnerung zu rufen
oWortfindungsprobleme
o Schwierigkeiten, Gedanken auszudrücken
o Neu auftretende Probleme bei Mathematik oder in anderen Bildungsbereichen
VI. Mindestens ein Symptom aus zwei der folgenden drei Kategorien:
o Autonome Manifestationen:
Neural vermittelte Hypotonie (NMH), Posturales Tachykardiesyndrom (POTS), verzögerte posturale Hypotonie, Herzklopfen mit oder ohne Herzrhythmusstörungen, Schwindel, Störungen des Gleichgewichts, Kurzatmigkeit
o Neuroendokrine Manifestationen:
Wiederkehrendes Fiebergefühl und kalte Extremitäten, subnormale Körpertemperatur und ausgeprägte Schwankungen im Tagesverlauf; episodische Schweißausbrüche; Intoleranz gegenüber extremer Hitze und Kälte; deutliche Gewichtsveränderung - Verlust des Appetits oder anomaler
Appetit; Verschlimmerung der Symptome bei Stress
o Immunologische Manifestationen:
Wiederkehrende grippeähnliche Symptome, nicht-exsudative Rachenentzündung, wiederholte Fieberschübe und Schweißausbrüche, empfindliche Lymphknoten, neu auftretende Überempfindlichkeiten gegenüber Nahrungsmitteln, Gerüchen oder Chemikalien
Ausschlusskriterien:
o Aktive Krankheitsprozesse, die die chronische Erschöpfung erklären könnten
o Aktive psychiatrische Erkrankungen, die die chronische Erschöpfung erklären könnten, wie:
1. kindliche Schizophrenie oder psychotische Störungen
2. Bipolare Störung
3. aktiver Alkohol- oder Substanzmissbrauch
4. aktive Magersucht oder Bulimie
5. schwere depressive Störungen
Begleitend können Patienten Störungen haben, die die Erschöpfung nicht adäquat erklären können wie Schulphobie, Trennungsängste, Angststörungen, somatoforme Störungen, leichtere depressive Störungen, multiple Chemikaliensensibilität (MCS) und Fibromyalgie
Diagnose:
o
Schwere ME/CFS (die Kriterien der Kategorien I,II,III,IV,V und VI sind erfüllt)
o
Leichte ME/CFS (die Kriterien aus fünf der sechs Kategorien sind erfüllt)
o
Atypische ME/CFS (vier oder weniger Kategorien sind erfüllt)
32
ME/CFS: Ein Handbuch für Ärzte
ANHANG C
SKALA DER FUNKTIONELLEN BELASTBARKEIT
Die Skala der funktionellen Belastbarkeit enthält die Einstufung der vorhandenen Energie, die Schwere der Symptome
und das Level der Aktivität. Die Beschreibung anhand der Skala kann dazu genutzt werden, die funktionale Belastbarkeit
einzuschätzen
0
1 2 Keine Energie, schwere Symptome einschließlich sehr schlechter Konzentration; an allen Tage bettlägerig,
kann sich nicht selbst versorgen (muss z.B. im Bett gewaschen werden).
Schwere Symptome in Ruhe, einschließlich sehr schlechter Konzentration; die meiste Zeit des Tages bettlägerig; benötigt Unterstützung mit der Selbstversorgung (z.B. beim Waschen).
Schwere Symptome in Ruhe, einschließlich schlechter Konzentration; häufige Ruhepausen oder kurzer
Schlaf; benötigt etwas Assistenz bei der Selbstversorgung (kann das Gesicht am Waschbecken waschen)
und benötigt anschließend eine Ruhephase wegen der gravierenden Zustandsverschlechterung nach Anstrengung.
3 Mäßige Symptome in Ruhe, einschließlich schlechter Konzentration; braucht Ruhepausen oder kurzen
Schlaf über den Tag verteilt, kann sich zum Teil selbst versorgen (kann sich ein paar Minuten am Waschbecken im Stehen waschen), hat aber schwere Erschöpfung nach Anstrengung und benötigt Ruhe.
4 Mäßige Symptome in Ruhe, einschließlich einiger Schwierigkeiten bei der Konzentration; benötigt häufige Ruhepausen über den ganzen Tag, kann sich selbständig selbst versorgen (kann duschen) und begrenzt am täglichen Leben teilhaben (z.B. leichte Hausarbeit, Wäsche waschen); kann einige Minuten am Tag gehen.
5 Schwache Symptome in Ruhe mit einigermaßen guter Konzentration für einen kurzen Zeitraum (15 Minuten); benötigt vormittags und nachmittags Ruhephasen; kann sich selbständig versorgen und leichte
Aktivitäten des täglichen Lebens tun, hat aber geringfügige Zustandsverschlechterung nach Anstrengungen;
kann am Tag 10-20 Minuten gehen.
6 Schwache oder keine Symptome in Ruhe mit ziemlich guter Konzentration für bis 45 Minuten; Multitasking nicht möglich; braucht nachmittags eine Ruhephase, kann die meisten Tätigkeiten des täglichen
Lebens erledigen, außer Staubsaugen; kann am Tag 20-30 Minuten gehen; kann höchstens vier Stunden in der
Woche ehrenamtlich tätig sein, bei flexibler Arbeitszeit.
7 Schwache oder keine Symptome in Ruhe mit guter Konzentration für bis zu einem halben Tag; kann intensivere Tätigkeiten des täglichen Lebens erledigen (z.B. Einkauf, Staubsaugen), nach Anstrengung kann
aber vermehrte Erschöpfung auftreten, wenn „übertrieben“ wird; kann pro Tag 30 Minuten gehen; kann eine begrenzte Zahl an Stunden arbeiten, weniger als 25 Stunden pro Woche; kein oder minimales Sozialleben.
8 Schwache, zeitweilig auftretende Symptome mit guter Konzentration; kann sich vollständig selbst versorgen, 40 Stunden pro Woche arbeiten, am Sozialleben teilhaben, kann sich dreimal wöchentlich mäßig
körperlich anstrengen.
9 10
Keine Symptome; sehr gute Konzentration; volle Arbeit und soziales Leben; kann sich drei bis fünfmal
wöchentlich stark körperlich anstrengen.
Keine Symptome; ausgezeichnete Konzentration; Überflieger (benötigt manchmal weniger Schlaf als eine durchschnittliche Person).
© Charles W. Lapp, MD, 2009. Kann für individuelle Zwecke kopiert werden.
33
ME/CFS: Ein Handbuch für Ärzte
ANHANG D
AKTIVITÄTSTAGEBUCH
Name:_____________________________________
Beginn der Aufzeichnung:_____________________________
© Charles W. Lapp, MD, 2009. Kann für individuelle Zwecke kopiert werden.
TAG
Montag
Dienstag
Mittwoch
Donnerstag
Freitag
Samstag
Sonntag
Schlaf: Trage die Anzahl der geschlafenen Stunden und die Schlafqualität ein
1 sehr schlecht 2 schlecht 3 mittelmäßig 4 gut 5 sehr gut
Skala der funktionalen Belastbarkeit: Protokollieren Sie Ihr Energielevel für jede Stunde unter Anwendung der Skala von 1 – 10
6 Uhr
7 Uhr
8 Uhr
6 Uhr
10 Uhr
11 Uhr
12 Uhr
13 Uhr
14 Uhr
15 Uhr
16 Uhr
17 Uhr
18 Uhr
19 Uhr
20 Uhr
21 Uhr
22 Uhr
23 Uhr
Spazierengehen in
Minuten
Nutzbare
Stunden pro
Tag
ANZAHL DER NUTZBAREN STUNDEN PRO TAG = Anzahl der Stunden, in denen nicht geschlafen oder
mit geschlossenen Augen geruht / meditiert wird.
34
ME/CFS: Ein Handbuch für Ärzte
Aktivitätsprotokoll:
• Bewahren Sie es an einem gut zugänglichen Platz auf
• Füllen Sie es jeden Tag aus
• Nehmen Sie das ausgefüllte Protokoll bei Folgeuntersuchungen zum Arzt/ Behandler und zu anderen Terminen mit, bei denen es um Ihre Gesundheit geht
• Das Protokoll kann dem Arzt/Behandler dabei helfen, Ihren Behandlungsplan neu anzupassen
• Das ausgefüllte Protokoll kann dazu beitragen, Ihre Krankenversicherung oder Gutachter zu
überzeugen, dass Sie sich aktiv an der Behandlung beteiligen
Ausfüllen des Aktivitätsprotokolls:
• Sie können die Zeitangaben in der linken Spalte so verändern, dass sie ihrem Tagesablauf entsprechen (wenn Sie z.B. gewöhnlich um 10.00 Uhr aufstehen und nachts um 2.00 Uhr ins Bett gehen, tragen Sie 10.00 Uhr als erstes in die Spalte ein und passen Sie die folgenden Zeiten entsprechend an).
• Tragen Sie in Stichworten die Aktivitäten in das passende Kästchen ein
(z.B. anziehen, Bett gemacht, Dusche, lesen)
• Ruhezeiten sind definiert als Zeiten, in denen Sie sich hinlegen, die Augen geschlossen haben,
nachdenken, meditieren oder schlafen.
• Um die Aktivitätsmuster besser zu erkennen, können Sie Zeiten, in denen sie körperlich aktiv sind, rot markieren, Zeiten, in denen Sie sitzende Tätigkeiten ausüben, gelb und Ruhezeiten blau. Dies hilft Pati
enten dabei herauszufinden, welches individuelle Muster von Aktivität und Ruhe für sie am besten
funktioniert.
35
ME/CFS: Ein Handbuch für Ärzte
ANHANG E
EMPFEHLUNGEN VOR CHIRURGISCHEN EINGRIFFEN
Ratschläge für Patienten mit ME/CFS vor geplanten Operationen
Dr. Charles W. Lapp
ME/CFS ist eine Erkrankung, die durch schwere, lähmende Erschöpfung, wiederkehrende grippeähnliche Symptome, Muskelschmerzen und neurokognitive Dysfunktionen wie Probleme mit dem Gedächtnis, mit Konzentration, Verstehen, Erinnern, Rechnen und verbalem Ausdruck charakterisiert ist. Schlafstörungen sind nicht selten. All diese Symptome verschlimmern sich selbst
durch minimale körperliche Aktivität oder durch emotionalen Streß, und Rückfälle können spontan auftreten.
Auch wenn leichte immunologische Abnormitäten (T-Zellen-Aktivierung, geringe Funktion natürlicher Killerzellen, Dysglobulinämie und Antikörper) bei ME/CFS verbreitet sind, sind die Betroffenen nicht stärker immungeschwächt und nicht anfälliger für
mögliche Infektionen als die allgemeine Bevölkerung. Die Krankheit ist offenbar nicht infektiös, aber es ist nicht zu empfehlen, dass
die Betroffenen Blut oder Knochenmark spenden.
Über den intrazellulären Abbau von Magnesium und Kalium bei ME/CFS wurde berichtet. Aus diesem Grund sollten der Magnesium- und der Kaliumspiegel im Serum vor einer Operation abgeklärt und diese Mineralien wieder ergänzt werden, wenn sie grenzwertig oder niedrig sind. Intrazellulärer Magnesium- oder Kaliumabbau kann unter Anästhesie zu Herzrhythmusstörungen führen.
Bis zu 97% der Patienten mit ME/CFS zeigen vasovagale Synkopen (neural vermittelte Hypotonie) beim Kipptischtest, und eine
Mehrzahl unter diesen hat ein geringes Blutplasmavolumen, niedrige Erythrozytenwerte und venöses Pooling
Synkopen können durch Katecholamine (Epinephrine), Sympathomimetika (Isoprenalin) und Vasodilatatoren (Stickoxid, Nitroglyzerin, Alpha-Blocker und Mittel gegen niedrigen Blutdruck) herbeigeführt werden. Man sollte besonders darauf achten, dass die
Patienten vor der OP nicht austrocknen und dass Medikamente vermieden werden, die neurogene Synkopen oder niedrigeren
Blutdruck bewirken können.
Allergische Reaktionen treten bei Patienten mit ME/CFS häufiger auf als bei anderen Patienten.
Aus diesem Grund sollten histamin-freisetzende Anästhetika (wie Thiopenthal) und Muskelrelaxantien (Curare, Tracrium und Mevacurium) möglichst vermieden werden. Propofol, Midazolam und Fentanyl werden in der Regel gut vertragen. Die meisten ME/
CFS-Patienten reagieren auch extrem empfindlich auf Seditativa – einschließlich Benzodiazepine, Antihistaminika und psychotropische Substanzen - die nur sparsam und in geringer Dosis eingesetzt werden sollten, bis die Reaktion des Patienten festgestellt
wurde.
Heilkräuter sowie ergänzende, alternative Therapien werden häufig von Patienten mit ME/CFS und FM angewendet. Die Patienten
sollten den Anästhesisten über all diese möglichen Anwendungen informieren, und es wird ihnen geraten, diese Therapien mindestens eine Woche vor dem operativen Eingriff abzusetzen, wenn möglich.
Am wichtigsten sind hierbei:
• Knoblauch, Gingko und Ginseng (die die Blutung verstärken, da sie die Blutgerinnung hemmen
• Ma Huang/ Ephedra (können hämodynamische Instabilität, Bluthochdruck, Tachykardie oder Arrhythmie
verursachen)
• Kava und Baldrian (verstärken die Sedierung)
• Johanniskraut (multiple pharmakologische Wechselwirkung aufgrund der Enzyminduktion von Zytochrom P450) und Echinacea (allergische Reaktionen und mögliche Immunsuppression bei dauerhafter Anwendung)
Die amerikanische Gesellschaft für Anästhesisten empfiehlt, dass alle pflanzlichen Medikamente 2-3 Wochen vor einer möglichen
OP ausgesetzt werden sollten. Das Absetzen des Präparates Kava (auch bekannt als Kava-Kava oder Rauschpfeffer) kann einen
Entzug bewirken, daher sollte man die Dosis über einen Zeitraum von 2-3 Tagen allmählich verringern.
Schließlich ist eine Supression der Achsen von Hypothalamus zu Hypophyse und zu Keimdrüsen und Nebennieren bei fast allen
ME/CFS-Patienten nachweisbar, aber nur selten hemmt sie die Cortisol-Produktion stark genug, um Probleme zu bereiten. Bei
schwer erkrankten Personen sollte evtl. im 24-Std.-Urin der Wert des freien Cortisol untersucht (einzelne oder zufällige Proben sind
für gewöhnlich normal) oder ein Synacthen-Stimulations-Test und bei pathologischem Ergebnis Cortisol ergänzend zugeführt
werden. Jene Patienten, die eine Cortisol-Supplementierung erhalten, sollten ihre Dosis vor und nach der OP verdoppeln oder
verdreifachen.
36
ME/CFS: Ein Handbuch für Ärzte
Zusammenfassende Empfehlungen
• Stellen Sie sicher, dass die Blutwerte für Magnesium und Kalium ausreichend sind
• Sorgen Sie für Hydration des Patienten vor dem Eingriff
• Wenden Sie Katecholamine, Sympathomimetika, Vasodilatatoren und Mittel gegen Hypotonie nur
mit Vorsicht an
• Vermeiden Sie histamin-freisetzende Anästhetika und Muskelrelaxantien, wenn möglich
• Verwenden Sie Seditativa sparsam
• Fragen Sie nach pflanzlicher und ergänzender Arznei, und beraten Sie Patienten über das
Ausschleichen aus diesen Therapien mindestens eine Woche vor der OP
• Ziehen Sie eine Cortisol-Supplementierung bei solchen Patienten in Betracht, die regelmäßig
Steroide erhalten oder die schwer krank sind
• Rückfälle sind nach größeren operativen Eingriffen nicht selten, und der Heilungsprozeß ist
angeblich langsam, allerdings gibt es keine Zahlen, die diese Behauptung belegen
Ich hoffe, dass Sie diese Anmerkungen hilfreich finden und dass sie Ihnen dabei helfen werden, das Risiko operativer
Eingriffe zu verringern.
Charles W. Lapp
Direktor des Hunter-Hopkins Center
Assistant Consulting Professor
am Medizinischen Zentrum der Duke University
Diplomat
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ME/CFS: Ein Handbuch für Ärzte
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