(4) Die Gefährdung des Friedens durch Ressourcenkonflikte 1
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(4) Die Gefährdung des Friedens durch Ressourcenkonflikte 1
Vogt – Nachhaltigkeit [Zsfg. 4] 28 (4) Die Gefährdung des Friedens durch Ressourcenkonflikte 1. Zusammenhänge Zu Beginn des 21. Jahrhunderts findet eine „Enthegung des Krieges“1 statt. Dies zeigt sich in neuen Formen des globalen Terrors als asymmetrischer Gewaltstrategie, in „low intensity-Kriegen“, Dauerkriegen auf dem Rücken der Zivilbevölkerung, in Entwicklungsländern (besonders Afrika), im neuen Typus des Präventivkrieges, wie er seit den Terroranschlägen des 11. September geführt wird und in Ressourcenkonflikten. Aus Nachhaltigkeits-Perspektive ist insbesondere die Analyse der Zusammenhänge zwischen Umweltkonflikten und Gewalt von Interesse. Hierzu gibt es seit Beginn der 90er Jahre vielfältige Untersuchungen.2 Demnach spielt Umweltzerstörung etwa bei etwa einem Drittel der zwischen 1994 und 1997 beobachteten Kriege und bewaffneten Konflikte eine Rolle.3 Diese Konflikte werden überwiegend innerstaatlich ausgetragen, gemäß einer allgemeinen Tendenz von zwischenstaatlichen Konflikten zu Bürgerkriegen. Nur selten führt Umweltdegradation unmittelbar zu gewaltsamen Konflikten, vielmehr wirkt sie häufig als ein verstärkender Faktor in bereits bestehenden Konfliktlagen im Kontext „fragiler Staatlichkeit“.4 Klimawandel ist unter sicherheitspolitischen Gesichtspunkten ein hohes Risiko, da er zu ökologischer und sozialer Destabilisierung durch Versorgungsengpässe bei Wasser, Energie und Nahrung, durch die Ausbreitung von Krankheiten bei Überschwemmungen und durch Zunahme der Migrationen führt. In Afrika spielen Konflikte um Wasser eine wachsende Rolle.5 Der Kaukasus und Mittelasien, auf deren Energiereserven die Industrienationen angewiesen sind, drohen zum Hauptkampfplatz um Ressourcen zu werden. Ebenso problematisch ist unter Sicherheitsgesichtspunkten die extreme Vulnerabilität westlicher Gesellschaften durch die Abhängigkeit fast aller Bereiche von (zentraler) Energieversorgung, die nur schwer gegen terroristische Angriffe zu schützen ist. Die erbitterte Konkurrenz um Wasser als „Gold des 21. Jahrhunderts“ hat ihre Ursache in einer enormen Steigerung der Leistungsfähigkeit von Wasserpumpen, die auch in trockenen Regionen üppige Plantagen ermöglichen und den Grundwasserspiegel bzw. den Pegelstand vieler Flüsse rapide absinken lassen.6 Auch das Abschmelzen der Gletscher sowie die weniger gleichmäßige Niederschlagsverteilung wird die Wasserversorgung vieler Regionen im Sommer drastisch verschlechtern. 1 2 3 4 5 6 Vgl. dazu Münkler 2002; Stiftung Entwicklung und Frieden 2003. Vgl. exemplarisch zu dieser Diskussion Bächler u.a 1996 (Forschungsgruppe in Zürich; daneben gibt es noch eine in Oslo und ein in Toronto); Eberwein/ Chojnacki 2001; Carius 2001; eine aktuelle Zusammenfassung der Forschung findet sich in: WBGU: Welt im Wandel: Sicherheitsrisiko Klimawandel, Berlin/Heidelberg 2008. Carius 2001, 9; vgl. auch Bächler u.a. 1996: „Vor zehn Jahren noch nicht einmal als Randthema für Sicherheitspolitik und Friedensforschung, ist die Ökologie zu einer ihrer zentralen und kaum mehr bestrittenen Kategorien geworden" (Vorwort). Die differenzierte Forschungsarbeit von Bächler u.a. ist m.E. nach wie vor die beste Grundlage für eine sozialethische Bewertung der Zusammenhänge von Ökologie, Krieg und Frieden. Brock 2001, 4; einen guten Überblick zum Forschungsstand geben Carius u.a. 2001, 6-10; Eberwein/ Chojnacki 2001, bes. 367-371; WBGU 2008. Bächler u.a. 1996, 117-166; WBGU 2008, 81-138. Vgl. Bert Beyers: Ein nasser Kriegsgrund. Das Beispiel Jemen zeigt, dass Wasser noch vor Öl zur konfliktträchtigsten Ressource der Welt geworden ist (SZ vom 14. 12. 2005, S. 10). In der Nilregion bahnen sich dramatische Konflikte an. Im Nahen Osten sind die Fronten bereits verhärtet. Durch das rasche Bevölkerungswachstum, die Megastädte sowie die bewässerungsabhängige GroßplantagenLandwirtschaft ist die Existenzgrundlage vieler südlicher Länder auf einen so hohen Wasserverbrauch eingestellt, dass die Reserven in absehbarer Zeit ausgeschöpft sein werden. Vogt – Nachhaltigkeit [Zsfg. 4] 29 Das Konfliktpotential um natürliche Ressourcen wird zunehmend auch von Staaten und Forschungsarbeiten ernst genommen.7 Inzwischen spielt es in der sicherheitspolitischen Diskussion eine wesentliche Rolle: Bereits 1999 wurde eine NATO-Pilotstudie zum Thema „Environment und Security in International Context” vom Committee on the Challenges of Modern Society (Studie Nr. 232) vorgelegt, in der erstmals die Ergebnisse der Umweltkonfliktforschung systematisch zusammengestellt, bewertet und militärischen und politischen Entscheidungsträgern vorgelegt wurden.8 Im Auftrag des Pentagon wurde ein Bericht über die möglichen ökologischen und sozialen Folgen eines abrupten Klimawandels erstellt, der im Februar 2004 an die Öffentlichkeit gelangte.9 Die Kernaussage der Studie ist eine sicherheitspolitische: In der Tradition militärischer Bedrohungsstudien wird ein ausgeprägtes Katastrophenszenario gezeichnet: ein schon in wenigen Jahren abrupt eintretender Klimawandel infolge von Veränderungen des Golfstroms. Wissenschaftlich gesehen bietet die Studie weder originäre Forschung noch neue Aussagen. Neu ist dagegen die strategische Einschätzung des Klimawandels als Sicherheits- und Friedensproblem. 2. Umweltflüchtlinge Die Zerstörung der Umwelt ist in Verbindung mit Hunger, Armut, Krieg und Menschenrechtsverletzung zu einer der dominierenden Ursachen für Flucht und Abwanderung geworden. Dabei kristallisieren sich vier Problemkreise heraus:10 (1) übermäßige Deposition von Schadstoffen in einem bestimmten Gebiet; (2) schleichende Degradation (Zerstörung) von lebensnotwendigen Ressourcen; (3) Desaster wie Wirbelstürme oder der befürchtete Anstieg des Meeresspiegels (4) soziale Destabilisierung, die mit Bodendegradation, Wassermangel und anderen ökologischen Problemen verbunden oder durch sie ausgelöst ist. Als Abwanderungsmotiv tritt Umweltzerstörung selten alleine auf. Daher ist der Begriff des „Umweltflüchtlings“ nicht eindeutig abgrenzbar. Er ist bisher auch nicht durch einen besonderen rechtlichen Status geschützt: So erkennt beispielsweise die Genfer Flüchtlingskonvention Umweltzerstörung nicht als Fluchtgrund an. Versucht man die Zahl der Umweltflüchtlinge bezogen auf ökologische Probleme im Sinn der oben genannten vier Phänomenbereiche quantitativ abzuschätzen, so ergeben sich folgendes Bild: Deposition: 130.000 Menschen haben nach dem Reaktorunglück in Tschernobyl ihre Heimat verlassen; 11 160.000 verließen ihre Heimat in der Gegend von Semipalatinsk in Kasachstan, nachdem diese von 1949 bis 1989 durch Kernversuche radioaktiv verseucht wurde. Rund um den Aralsee flüchteten ca. 100.000 Menschen vor 7 8 9 10 11 Vgl. am Beispiel der Schweiz die sicherheitspolitischen Forschungen an der ETH Zürich: Mason/ Müller 2004. Meier bespricht diese Studie unter dem Titel „Security through sustainability“ (siehe: www.ethlife.ethz.ch/e/articles/sciencelife/html_print_style/ressourcessecurity.html vom 1.9.2005). Vgl. dazu Carius u.a. 2001, 8. Vgl. WBGU: “Redefinig security” Besondere Brisanz gewinnt diese Studie vor allem durch ihren Auftraggeber Andrew Marshall. Er leitet seit 1973 das angesehene Office of Net Assessment des US-Verteidigungsministeriums und gilt als ein sehr erfahrener Denker im Pentagon. Die durch eine Indiskretion publik gewordene Studie ist im Internet abrufbar: www.ems.org/climate/pentagon_climate_change.pdf). Zum Folgenden vgl. Biermann 2001, 25-28. Vgl. hierzu und zu den folgenden Zahlen Biermann 2001, 25. Die Schätzungen zu Tschernobyl differieren extrem: Zwischen 4.000 und 90.000 liegen die angaben der toten. Insgesamt betroffen von radioaktiver Verseuchung oder Migration seien bis zu 9 Millionen Menschen. Vogt – Nachhaltigkeit [Zsfg. 4] 30 den Pestizidrückständen, verursacht durch Baumwollanbau. Insgesamt ist mit hunderttausenden Flüchtlingen zu rechnen. Weit mehr Menschen werden durch die schleichenden Umweltzerstörungen (Degradationen) zu Flüchtlingen: So zwangen allein die großen Dürren von 1968-1973 in Burkina Faso eine Millionen Menschen zur Abwanderung. In Mexiko gelten über 60% des Bodens als degradiert, und jedes Jahr gehen dort 260.000ha verloren. 40% der Weltbevölkerung sind heute von Wassermangel betroffen.12 In Indien sind jedes Jahr ca. 15 Millionen Menschen von Naturkatastrophen betroffen. Es wird geschätzt, dass in China zwischen 1949 und 1992 über zehn Millionen Menschen wegen Dammbauten ihre Heimat verlassen mussten. Die Zahl der Umweltflüchtlinge durch Katastrophen ist schwer abzuschätzen und steht vor allem in Verbindung mit dem beginnenden Klimawandel: In Indien würde ein Meeresspiegelanstieg um einen Meter sieben Millionen Menschen gefährden. Für die weltweiten Schäden durch den Klimawandel schätzt Norman Myers, dass hierdurch bis Mitte des Jahrhunderts etwa 150 Millionen Menschen zur Aufgabe ihrer Siedlungsgebiete gezwungen sein werden.13 Insgesamt geht das Rote Kreuz von 500 Millionen Umweltflüchtlingen bis Mitte dieses Jahrhunderts aus. 3. Konsequenzen für eine integrale Friedens- und Klimapolitik Angesichts solcher Szenarien müssen Klima- und Energiepolitik als unverzichtbare Bestandteile einer vorausschauenden integrierten Friedens- und Entwicklungspolitik eingestuft werden. Klimaschutz und „Energieautarkie“14 sind integrale Elemente einer vorsorgenden Friedenspolitik. In erster Linie geht es jedoch nicht um Sicherheitsfragen, sondern um grundlegende Dimensionen von Gerechtigkeit: Der ressourcenaufwändige Lebens- und Wirtschaftsstil der reichen Nationen raubt den armen Nationen existentielle Lebenschancen. Klaus Töpfer, Leiter des UNEP, spricht von „ökologischer Aggression“ als Kennzeichen der gegenwärtigen ökologischen Weltlage.15 Die Botschaft zur Feier des Weltfriedenstags 1990 hat Papst Johannes Paul II. unter den Titel „Friede mit Gott, dem Schöpfer – Friede mit der ganzen Schöpfung“ gestellt . Er bezeichnet die „Ausbeutung natürlicher Ressourcen“ als Bedrohung des Weltfriedens.16 Klima- und Energiepolitik sind heute wesentliche Bestandteile einer vorausschauenden und integrierten Friedens- und Entwicklungspolitik. Klimaschutz ist Friedenspolitik. Ein solcher konzeptioneller Zusammenhang wurde nicht nur im konziliaren Prozess für 12 13 14 15 16 Biermann 2001, 25 unter Berufung auf Forschungen von Ashok Swain (Environmental Migration and Conflict Dynamics, in: Third World Quarterly 17 (1996) 5, 964). Zitiert nach Biermann 2001, 26; die Zahlenangaben schwanken in der aus methodischen Gründen Literatur erheblich, da erstens der Begriff „Umweltflüchtlinge“ nicht eindeutig abgegrenzt werden kann und in der Regel von anderen Problemen (z.B. Vertreibung wegen Konflikten) überlagert wird, zweitens die Datenerhebung in vielen Entwicklungsländern und Katastrophengebieten unvollständig ist und drittens Entwicklungen nur schwer kalkulierbar und prognostizierbar sind; zu den verschiedenen Typen von Migrationskonflikten vgl auch Bächler u.a. 1996, 298-306. Scheer 2005 (233-271) nennt die Energiewirtschaft als Schlüsselgröße für gesellschaftliche Ordnungen. Er setzt den Begriff Autonomie gegen den der vereinnahmenden Integration. Nach seiner Analyse bedarf eine globale Friedensordnung des drastischen Wandels der Energiepolitik (ebd.44-54). Töpfer 2003, 14. Vgl. Johnannes Paul II. 1989, Nr. 1. Das Thema Ökologie und Frieden ist Leitthema der gesamten Botschaft. Auch die hohen ökologischen Belastungen eines möglichen Krieges mit den heutigen ABC-Waffen werden angesprochen. Der Zusammenhang zwischen dem (innerem) Frieden mit Gott und mit sich selbst, der sich auch in der Beziehung zur Natur ausdrückt, und dem (äußeren) Frieden zwischen den Völkern ist ein besonderes Anliegen. Vogt – Nachhaltigkeit [Zsfg. 4] 31 Frieden, Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung, sondern auch in den Dokumenten der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung 1992 in Rio de Janeiro (theoretisch) anerkannt.17 Klimapolitik sollte daher nicht allein auf Solidaritätsappelle setzen, sondern auf der Grundlage einer differenzierten Gefährdungsanalyse neue strategische Allianzen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft anstreben. „Eine weitsichtige Friedenspolitik wird den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen in ihr Aufgabenfeld einbeziehen. Offenkundig hat deren Gefährdung oder sogar Zerstörung nachhaltige Folgen für den Frieden. Bereits in der Vergangenheit führten Umweltzerstörungen zu Versorgungsnot, die Kriege auslöste. Diese Gefahr hat sich deutlich erhöht, besonders durch die Zunahme der Weltbevölkerung, durch umweltbelastende Bewirtschaftungsformen und den unbekümmerten Raubbau an der Natur. […] Fachleute befürchten, künftige Kriege würden nicht mehr nur um Öl, sondern um Wasser geführt.“18 Das Ziel der Krisen- und Konfliktprävention muss um das Ziel einer nachhaltigen Friedenspolitik ergänzt und konkretisiert werden, d.h. einer Friedenspolitik, die Umweltschutz betreibt.19 Die Dringlichkeit und die neuen Kontexte der heutigen Friedensfrage sind ein Zeichen der Zeit, das insbesondere aufgrund der Inanspruchnahme von Religion als Begründung für gewaltsame Konflikte eine die Kirchen ganz unmittelbar angehende Bewährungsprobe für die Kraft des Glaubens zu Dialogfähigkeit und verantworteter Zeitgenossenschaft ist. Da in der Geschichte nicht selten auch der christliche Glaube als Kriegsgrund missbraucht wurde, haben die Kirchen hier die Möglichkeit, eine historische Schuld auszugleichen und das, was sie an Friedensfähigkeit aus diesen Erfahrungen gelernt haben, im Dialog mit Vertretern anderer Religionen weiterzugeben. Ohne eine Achtung der unterschiedlichen Glaubenstraditionen und das Bemühen um Dialog und Aufklärung werden insbesondere die Konflikte in und mit islamischen Ländern, die derzeit im Zentrum der weltpolitischen Auseinandersetzungen stehen, nicht zu bewältigen sein. Ebenso notwendig ist Armutsbekämpfung durch eine gerechtere Verteilung von Öl und Wasser sowie der damit verbundenen politischen und finanziellen Macht. Das von der Deutschen Bischofskonferenz vertretene Paradigma „gerechter Friede“20 deutet hier wegweisende Antworten an, die weiter entfaltet und mit dem Nachhaltigkeitsdiskurs verknüpft werden müssen. 4. Energiearmut Mehr als ein Viertel der Weltbevölkerung (1,6 bis 2 Mrd. Menschen) hat keinen Zugang zu Elektrizität. Die Energieversorgung von 2,4 bis 3 Mrd. Menschen hängt, insbesondere in ländlichen Regionen Asiens und Afrikas, überwiegend oder vollständig von der Nutzung traditioneller Biomasse ab (Brennholz, Holzkohle oder Dung) (vgl. WBGU 2003, 24f; Misereor 2004, 1f).21 Nachteile dieser Energieträger sind folgende: 17 18 19 20 21 Vgl. z.B. Rio-Deklaration, Nr. 23-26; in der Klimarahmenkonvention, Artikel 3, Abs. 1, wird der Klimaschutz gerechtigkeitstheoretisch begründet. Deutsche Bischofskonferenz 2000, Nr. 96. Die Textziffern 96-99 der Schrift „Gerechter Friede“ stehen unter der Überschrift „Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen“ als notwendiger und integraler Bestandteil des Gerechten Friedens. Carius 2001, 13; Brock 2001; Eberwein/ Chojnacki 2001, 373f.; zu Strategien einer friedlichen Lösung umweltverursachter Konflikte vgl. insbesondere Bächler u.a. 1996, 333-350. Vgl. Deutsche Bischofskonferenz 2000. Ostheimer, J./Vogt; M: Energie für die Armen. Entwicklungsstrategien angesichts des Klimawandels, in: Amos international. Gesellschaft gerecht gestalten 1/2008, 10-16. Vogt – Nachhaltigkeit [Zsfg. 4] 32 (1) Sie sind oftmals nur mühsam zu beschaffen und bloß eingeschränkt nutzbar (in der Regel nur für Wärme); (2) häufig ist die Nutzung mit erheblichen gesundheitlichen Schäden verbunden (nach WHO-Schätzung sterben jährlich 1,6 Mio. Menschen infolge der Verbrennung von Biomasse in geschlossenen Räumen); (3) oft ist die Beschaffung mit erheblichen ökologischen Belastungen verbunden und nicht auf Dauer gesichert (bei Übernutzung verschlechtern sich die Bedingungen für eine zukünftige Existenzsicherung). Zusätzlich belastet wird die Lage der Armen durch die Verknappung der fossilen Brennstoffe. Das Fördermaximum für leicht gewinnbares Erdöl (peak of easy oil) ist bald erreicht. Wie gegenwärtig zu beobachten, klettern die Preise nach oben, was die Armen noch mehr vom fossilen Energiemarkt ausschließet. Energiearmut ist angesichts der universalen Bedeutung von Energie eine der gravierendsten Formen der Armut, weil sie viele andere Phänomene des Mangels nach sich zieht: verzögerter Aufbau einer leistungsfähigen Industrie und Infrastruktur, geringe Effektivität der Landwirtschaft, Mangel an Trink- und Brauchwasser, Abkopplung von der modernen Kommunikation sowie erschwerter Zugang zu Wissenschaft und Bildung. In einer sich beschleunigenden Abwärtsspirale verschlechtern sich mit wachsender Armut die Voraussetzungen, der Armut zu entkommen. „In den ärmsten Regionen wird die Versteppung durch Überlebensstrategien hervorgerufen, die die Armut vergrößern: Überweidung, Abholzung von Bäumen und Büschen zum Kochen von Nahrung oder zum Heizen.“22 Energiearmut in Entwicklungsländern ist zugleich Ursache und Folge der Armut. Energiearmut bedeutet nicht nur mangelnden Zugang zu Energie, sondern auch Armut aufgrund der Auswirkungen bestimmter Formen der globalen Energieversorgung. Der exzessive Energieverbrauch der Industrienationen beeinträchtigt durch den Abbau und Transport der Energierohstoffe sowie über den Ausstoß von Treibhausgasen die Lebenschancen zahlloser Menschen in Entwicklungsländern. Darüber hinaus verursacht ein Energieeinsatz, der nicht in gesamtgesellschaftlich und ökologisch sinnvolle Entwicklungsstrategien eingebettet ist, eine indirekte Belastung der Armen durch Ressourcenübernutzung: Beispielsweise lassen sich mit Motorpumpen Brunnen besser betreiben. Doch zuweilen sinkt gerade durch den erleichterten Zugang zu Wasser der Grundwasserspiegel so schnell ab, dass dies nach kurzer Zeit neue Armut bei denen hervorruft, die sich nicht ständig stärkere Pumpen leisten können. Eine nachhaltige Entwicklung ist ohne Lösung der Energiefrage nicht möglich. Der Wissenschaftliche Beirat Globale Umweltveränderungen der Bundesregierung (WBGU) fordert für die gesamte Weltbevölkerung bis 2020 Zugang zu moderner Energie. Dieses Ziel ist jedoch nur dann dauerhaft erreichbar, wenn der Anschluss an Energieversorgungsmöglichkeiten auf natur- und kulturverträgliche Weise stattfindet. Der energiepolitische Suchprozess ist darum eine Schlüsselfrage der Gerechtigkeit. In ihm bündelt sich die Komplexität der Entwicklungsfragen. Dabei wird es keine schnellen und einfachen Lösungen geben. Folgende Stellschrauben sind zu beachten: (1) Die menschenrechtliche Dimension einer integralen Armutsbekämpfung ist auch im Blick auf die Energiefrage zu beachten. Durch Energiemangel werden Arme von (Grund-)Rechten ausgeschlossen, z.B. vom Recht auf Nahrung, auf verlässliche Gesundheitsversorgung, auf Zugang zu Bildung oder – mangels Mobilität – vom Recht 22 Päpstlicher Rat „Cor Unum“ 1996, Nr. 30; Sachs 2006, 75. Vogt – Nachhaltigkeit [Zsfg. 4] 33 auf Teilhabe am öffentlichen Leben. Energie hat eine Schlüsselbedeutung für Entwicklung und ist deshalb menschenrechtlich zu verankern. (2) Die „Millenniumsentwicklungsziele“, in denen sich die Vereinten Nationen zum Jahrtausendwechsel darauf geeinigt haben, die Zahl der Armen bis 2015 weltweit zu halbieren, sollten auch für die Überwindung der Energiearmut als Bezugsrahmen genutzt werden. Die energiepolitische Dimension wurde jedoch erst bei der UNKonferenz in Johannesburg 2002 nachträglich ergänzt und ist weder hinreichend in die 8 Grundziele integriert noch im Blick auf die ökologisch sensiblen Zusammenhänge differenziert. Ohne deren Berücksichtigung besteht jedoch die Gefahr, dass alle Entwicklungsanstrengungen durch Energiearmut einerseits oder vermehrte Wasserarmut und Bodendegradation andererseits zunichte gemacht werden.23 (3) Die gegenwärtige Form der Energieversorgung verursacht zugleich unermesslichen Reichtum und neue Formen extremer Armut. Gerechtigkeit und Wohlstand können angesichts der sozialen Folgen des Klimawandels auf Dauer nur gesichert werden, wenn sich der kohlenstoffbasierte Stoffwechsel der Industriegesellschaften drastisch ändert. Damit verschiebt sich der Maßstab von Fortschritt. Er wird künftig wesentlich an der Verbesserung der CO2-Bilanz zu messen sein (vgl. Vogt 2007, 130). 5. Die Rückkehr der Verteilungskonflikte Zwischen reichen und armen Ländern besteht eine Asymmetrie, die sich im Energiesektor besonders deutlich zeigt. Die Industrieländer verbrauchen die Rohstoffe der ärmeren Länder. Diesen Transaktionen fehlen auch nach Ende des Kolonialismus viele Merkmale eines freien und fairen Marktes. (1) Die bei der Exploration tatsächlich anfallenden Kosten für Umweltschäden werden (wie etwa im Nigerdelta) den Opfern und nicht den Kunden aufgebürdet. (2) Manche Akteure nutzen die Notlage der Exportländer aus und zahlen aufgrund langfristiger Verträge deutlich unter dem Weltmarktniveau liegende Preise, etwa Russland bzw. Gasprom in Zentralasien oder China in Angola. (3) In manchen Sektoren haben sich mächtige Kartelle herausgebildet. Das bekannteste ist die 1960 gegründete OPEC, die Organisation der Erdöl exportierenden Länder. (4) Im Zuge der Globalisierung und der so genannten Liberalisierung der Märkte ist die Tendenz zur Konzentration deutlich gewachsen. Einige wenige Ölmultis dominieren die gesamte Ressourcen- und Wertschöpfungskette, beginnend mit der Exploration neuer Ölfelder und endend an der Zapfsäule. Darüber hinaus stellt sich die Frage, wem die kostbaren Rohstoffe gehören, wer über ihre Förderung entscheiden darf und wem der Verkaufserlös zusteht. Nicht selten wird der größte Teil der Gewinne von transnationalen Unternehmen eingestrichen. Durch die Globalisierung öffnet sich in Schwellen- und Entwicklungsländern die Schere zwischen Arm und Reich zusehends. Die dortige Oberschicht verbraucht kaum weniger Energie als die Wohlhabenden in den hoch entwickelten Ländern. Gemeinsam bilden sie eine „transnationale Verbraucherklasse“ (Wuppertal Institut 2006, 82). Die ökologischen Verteilungskonflikte spalten nicht nur die Welt in Nord und Süd, sondern verursachen ebenso Spaltungen innerhalb der (südlichen) Gesellschaften. 23 Zur entwicklungspolitischen Bewertung des Millenniumsdevelopment-Programms vgl. die jährlichen Berichte der Gemeinsamen Konferenz Kirche und Entwicklung (GKKE). Vogt – Nachhaltigkeit [Zsfg. 4] 34 Die Energiefrage wird in letzter Zeit nochmals aus einer anderen Perspektive thematisiert: „peak oil“. Die fossilen Brennstoffe gehen unwiderruflich zu Neige.24 Zwar ist die Bandbreite der Prognosen groß. Dennoch besteht ein gewisser Konsens: (1) Die fossilen Energieträger sind seit Ende der 1990er Jahre wegen des starken globalen Wirtschaftswachstums, zu dem vor allem die aufstrebenden Schwellenländer in Asien beigetragen haben, viel stärker verbraucht worden als erwartet. (2) Zumindest drei der vier weltweit größten Erdölfelder (Burgan/Kuwait, Cantarell/Mexiko und Daqing/China) haben ihren Zenit bereits überschritten. (3) Nicht-konventionelles Erdöl (z.B. die Ölsande in Alberta/Kanada) kann nur einen geringen Beitrag leisten.25 (4) Ein Fördermaximum wird als erstes bei konventionellem, relativ leicht ausbeutbarem Erdöl erreicht, wohl bis zum Jahr 2020. Technologischer Fortschritt kann das Ende des Öls lediglich hinauszögern. (5) Nach Eintritt des Fördermaximums ist der Produktionsabfall beim Nordseeöl deutlich stärker ausgefallen als berechnet. (6) Die Zahl der Produzenten wird abnehmen, was die Versorgungssicherheit gefährden und politische Probleme nach sich ziehen kann. Bereits jetzt sind mehrere kriegerische Maßnahmen auch in Zusammenhang mit der Sicherung des Zugangs zu Öl zu sehen, z.B. die beiden USAKriege gegen den Irak, Russlands Operationen in Tschetschenien, der Bürgerkrieg im Sudan. (7) Öl ist als Treibstoff zur Zeit kaum ersetzbar. (8) Die Preise sind bereits drastisch gestiegen. Ein weiterer, auch sprunghafter Anstieg ist zu erwarten. (9) Die Einschätzungen haben sich in wenigen Jahren radikal gewandelt: Die Prognosen über das Fördermaximum sind wiederholt nach unten korrigiert worden. Es ist daher unwahrscheinlich, dass sich der Trend umkehren wird. Eine Politik, die auf neue Funde setzt, kann ihre Hoffnungen nicht wissenschaftlich begründen. Energie aus Erdöl, Erdgas und Kohle ist eine wesentliche Grundlage des gegenwärtigen Wohlstandes der Industriegesellschaften. Der statistisch erfasste Weltenergieverbrauch beruht zu drei Vierteln auf fossilen Energien (32 % Erdöl, 25 % Kohle, 17 % Erdgas). 26 Deren Vorrat ist jedoch begrenzt: Die Reichweite der fossilen Energien - also die Abschätzung der Zeitdauer, in der die heute bekannten Reserven bei einer Fortschreibung des gegenwärtigen Verbrauchs erschöpft sein werden - wird von der Internationalen Energieagentur der OECD (IEA) folgendermaßen angegeben: Erdöl 44 Jahre, Erdgas 65 Jahre, Braunkohle 60 Jahre und Steinkohle 159 Jahre.27 Da in der Globalisierung der Wirtschaft alle Menschen verstärkt nach Fortschritt streben und dieser wesentlich von der Energieversorgung abhängig ist, wird der Bedarf weiter steigen. Die IEA, die von einem eher zurückhaltenden Wachstumsszenario ausgeht, schätzt, dass der Energieverbrauch bis 2020 um ca. 65 % ansteigen wird.28 Die begrenzte Reichweite der fossilen Rohstoffe ist nicht nur im Hinblick auf die Energiewirtschaft eine existentielle Herausforderung, sondern ebenso im Hinblick auf die chemische Industrie: Etwa ein Drittel der fossilen Ressourcen wird in Deutschland nicht als Treibstoff, sondern als chemischer Rohstoff genutzt. Nach dem bisherigen Entwicklungstand ist die Substitution der 24 Vgl. Campbell u.a. 2007; IEA 2005, 38f. Vgl. Scheer 1999, 96ff. 26 Vgl. Hierzu und zum Folgenden International Energy Agency [IEA] 1998, sowie ; Detzer u.a. 1999, 257-278. 27 International Energy Agency [IEA] 1998. 28 Insbesondere für die Entwicklungs- sowie die asiatischen Schwellenländer wird eine hohe Zuwachsrate erwartet. So ist beispielsweise der Energiebedarf Chinas zwischen 1976 und 1996 auf das Fünffache gestiegen. Unter anderem wegen der rapiden Zunahme des Verkehrs wird auch für die Industrieländer ein steigender Bedarf prognostiziert. Da die knapper werdenden Energierohstoffe zunehmend von schwer zugänglichen Lagerstätten abgebaut werden, steigt das Maß der damit verbundenen Umweltbeeinträchtigung erheblich. 25 Vogt – Nachhaltigkeit [Zsfg. 4] 35 fossilen Rohstoffe in diesem Bereich mindestens ebenso schwierig wie in der Energiewirtschaft. Auch zur Lösung der Müllprobleme wäre die Reduktion der chemischen Produkte aus fossilen Kohlenwasserstoffen ein entscheidender Schritt. Ölkrise und Klimakatastrophe sind zwei Seiten einer Medaille, nicht im Sinne eines Teufelskreises, sondern als reziproke Potentiale für Veränderung: Für sich allein motiviert der Klimawandel nur sehr schleppend zum Verzicht auf fossile Energieträger; erst in Verbindung mit deren Verknappung ergibt sich ein starker Anreiz für Schritte zu einer nicht-kohlenstoffbasierten Wirtschafts- und Lebensweise. Es bedarf jedoch einer politischen Anstrengung, dass dies nicht auf Kosten der Armen geschieht. 6. Der Verlust an Artenvielfalt Aktualität des Themas: Vom 19. – 20. Mai findet in Bonn die UN-Konferenz zur Biodiversität statt (9. Vertragsstaatenkonferenz des Abkommens von Rio, das 190 Staaten unterzeichnet haben, über 5000 Teilnehmer). Die Maßnahmen sollen dazu beitragen, den Beschluss des Weltgipfels für nachhaltige Entwicklung 2002 in Johannesburg umzusetzen, wonach der Rückgang der biologischen Vielfalt bis zum Jahr 2010 aufgehalten werden soll. Der Schutz der biologischen Vielfalt soll durch konkrete und verbindliche Vorgaben auf eine breite internationale Basis gestellt werden. Wichtigstes Instrument zur Bestimmung des Gefährdungsgrades von Arten und der Prioritäten des Schutzes sind die Red Data Books („Rote Listen“) der World Conservation Union (IUCN). Die Gesamtzahl der Arten ist unbekannt und wird auf 5 - 100 Millionen Arten geschätzt. Trotz der Zunahme an Naturschutzgebieten und erfolgreicher Bemühungen um den Schutz einiger besonderer seltener Arten nimmt die biologische Vielfalt mit hohem Tempo ab: Von den 1,75 Millionen wissenschaftlich bekannten Arten gelten 23% der Wirbeltiere [genauer: der in die üblich Bewertung einbezogenen, bekannten Arten, ansonsten 9 %] (12% der Säugetiere, 61% der Reptilien, 31% der Amphibien, 46% der Fische) und 57% der Nichtwirbeltiere (73% der Insekten, 45% der Weichtiere, 86% der Krustentiere) als gefährdet (Fischer-Weltalmanach 2007, S. 726). Jährlich verschwinden bis zu 35.000 Arten. In dreißig Jahren sind das ca. eine Millionen. Insgesamt ist das Aussterben von Arten gegenüber dem evolutionären Durchschnitt um den Faktor 1000 erhöht.29 Wesentliche Ursachen sind die Beeinträchtigung oder Vernichtung von Lebensräumen, v. a. der Regenwälder, die Übernutzung von Ökosystemen, die Einführung fremder Arten, die allgemeine Umweltverschmutzung sowie die globale Erwärmung. Besonders problematisch ist die kontinuierlich zunehmende Verschmutzung der Meere, was – zusammen mit der nur schwer in den Griff zu bekommenden Überfischung - auch im Bereich des Meeres zu einem erheblichem Rückgang der Arten führen könnte (die Datenerhebung ist hier naturgemäß sehr schwierig). Lange stand der isolierte Schutz einzelner Arten im Vordergrund, heute dagegen richtet sich der Fokus auf ökologische Gesamtzusammenhänge. Der gegenwärtig dominierende Leitbegriff "Biodiversität" meint daher nicht nur die Anzahl unterschiedlicher Arten, sondern ebenso die Vielfalt der Ökosysteme. Unverzichtbar für Artenschutz sind Schutzgebiete, in denen menschliche Tätigkeiten wie Land- und Forstwirtschaft sowie Siedlungen eingeschränkt werden. 29 Schettler, Hannes: Angekündigter Tod. 800 Tier- und Pflanzenarten stehen kurz vor der Ausrottung, in: SZ vom 14. 12. 2005, S. 10; zur Entwicklung der biologischen Vielfalt vgl. Berié/ Kobert 2005, 696-699. Nach einer empirischen Studie der UNO besteht weltweit eine signifikante Korrelation zwischen der Bedrohung kultureller und biologischer Vielfalt, vgl. Töpfer 2003, 13. Vogt – Nachhaltigkeit [Zsfg. 4] 36 Die wichtigsten Abkommen zum Artenschutz sind das Washingtoner Artenschutzabkommen von 1975 (Schutz bedrohter Arten durch Handelskontrollen), mehrere Walfangabkommen, die Biodiversitäts-Konvention von Rio de Janeiro (1992), die europäischen Flora-Fauna-HabitatBestimmungen (1992) sowie das Cartagena-Protokoll (2003) über die grenzüberschreitende Verbringen gentechnisch veränderter Organismen. Gesetzliche Grundlagen in Deutschland sind das Bundesnaturschutzgesetz (1986, Novellierung 2005) und die Bundesartenschutzordnung. Bewertung aus Sicht christlicher Sozialethik „Biodiversität“ meint „Reichtum der Natur“. Von dessen Schutz hängt die künftige Entwicklung des Lebens auf der Erde und damit auch der menschlichen Zivilisation entscheidend ab. Biodiversität zählt – ebenso wie das Klima – zu den Basisgütern menlicher Existenzsicherung. Die biologische Vielfalt ist eine Schlüsselgröße für den Erhalt des ökologischen Gleichgewichts und zur Aufrechterhaltung wichtiger Funktionen für Natur und Gesellschaft. Der Erhalt der Vielfalt der Pflanzen-, Tierarten und Lebensräume sowie der genetischen Vielfalt der Pflanzenund Tierarten ist ein Gebot der intergenerationellen, ökologischen und globalen Gerechtigkeit. Hierzu sind entsprechende Initiativen und Abkommen vonnöten. Bisher ist das öffentliche Bewusstsein für den ethischen, ökologischen, kulturellen und ökonomischen Wert der biologischen Vielfalt relativ gering ausgeprägt. Die lange übliche Begründung des Artenschutzes, dass Vielfalt eine notwendige Bedingung für ökologische Stabilität sei, wird heute nicht mehr geteilt, weil der Zusammenhang nicht zwingend und keinesfalls linear zu begreifen ist. Die ethische Begründung des Artenschutzes muss daher beim Eigenwert der Lebewesen ansetzen, was nicht notwendig ein biozentrisches Weltbild voraussetzt. So wählt beispielsweise das Kompendium der Soziallehre der Kirche, in dem die Bedeutung der Biodiversität besonders hervorgehoben wird (Kapitel 10, Nr. 466-487), einen schöpfungstheologischen und gemäßigt anthropozentrischen Begründungsansatz (Artenvielfalt als gemeinsames Gut der Menschheit). Für Christen sind Schutz und Erhalt der Artenvielfalt Ausdruck der Pflicht zum verantwortungsvollen Umgang mit der Schöpfung, die allen Menschen durch Gott anvertraut worden ist. Auf engste mit dem Naturerbe verbunden ist die Frage nach der Lebensqualität gegenwärtiger und künftiger Generationen. Unterschiedliche Lebensräume und Landschaften bedürfen nicht nur aus ethischen und ökologischen Gründen des Schutzes auf nationaler und internationaler Ebene, sie stellen zudem ein hohes Kulturgut dar. Die Pflicht zum Schutz der Biodiversität ergibt sich auch aus ihrer enormen wirtschaftlichen und sozialen Bedeutung: Mit der weltweiten Reduktion der Ernährung auf wenige Nutzpflanzen geht ein enormer Reichtum verloren. Für drei Viertel der Menschen basiert die Gesundheitsversorgung direkt auf biogenen Medikamenten. Im Blick auf Gerechtigkeit gegenüber den Entwicklungsländern ist das Anliegen der Vertragsstaatenkonferenz zu begrüßen, nach Rahmenbedingungen einer angemessenen Gewinnbeteiligung aus dem Umgang mit genetischen Ressourcen zu suchen. Handlungsmöglichkeiten der Kirchen (vgl. van Saan-Klein, B./ Wachowaik, M.: Vielfalt als Gewinn. Kirchengemeinden und Biodiversität, Heidelberg Mai 2008): Fledermäuse (70 % des Vorkommens in Bayern nisten in kirchlichen Gebäuden), Turmfalken, Feuchtbiotope, Streuobstwiesen (z.B. Rückzüchtung alter Apfelsorten in alten Pfarrgärten) auf kirchlichem Grund). Bilanz: Wir leben auf Kosten der Zukunft Die bisher umfassendste Untersuchung über den globalen Zustand der Umwelt hat die UNO in dem „Millenium Ecosystem Assessment“ (MEA) nach vierjähriger Arbeit von 1.400 Vogt – Nachhaltigkeit [Zsfg. 4] 37 Wissenschaftlern aus 95 Ländern im März 2005 veröffentlicht.30 Darin werden sechsundzwanzig grundlegende „Dienstleistungen der Natur“ unterschieden, z.B. Wälder zur Holznutzung, Böden für die Landwirtschaft, Fischvorkommen, Frischwasser. Fünfzehn dieser Dienstleistungen der Ökosysteme für „Human Well-being“ werden der Untersuchung zufolge derzeit auf nicht nachhaltige Weise genutzt und damit gefährdet. Besonders dramatisch ist die Auswirkung der seit 1960 verdoppelten Entnahme von Wasser aus Flüssen und Seen. Die Zunahme der Bewässerungslandwirtschaft sowie der Bevölkerung erzeugt einen enormen Druck auf die Wasserreserven (Binnengewässer und Grundwasser). 1,4 Milliarden Menschen haben gegenwärtig keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Jährlich sterben 15 Millionen Kinder unter 5 Jahren an Unterernährung und mangelndem Trinkwasser. Ferner sind in 54 Staaten die Wälder zu 90 bis 100 % verschwunden; insbesondere die tropischen Regenwälder werden mit hohem Tempo gerodet. Mehr als ein Drittel der tropischen Regenwälder ist bereits vernichtet, so dass bei Fortsetzung der gegenwärtigen Entwicklung zum Ende des Jahrhunderts nur noch ein kleiner Rest übrig sein wird.31 Die Waldfläche geht jährlich um 0,8 % zurück, über 90 % davon in den Tropen.32 In den letzten 50 Jahren ging weltweit mehr als ein Viertel des fruchtbaren Bodens unwiederbringlich verloren. Die Versiegelung der Landschaften, die Ausbreitung von Wüsten, die großräumige Schädigung der Vegetationsdecke schreiten scheinbar unaufhaltsam voran. Die Bilanz ist eindeutig: Rohstoffe, die sich in Jahrmillionen herausgebildet haben, werden in rasant kurzer Zeit verbraucht. Wir leben auf Kosten der Zukunft. 30 31 32 UNO – World Ressources Institute 2005. Eine Zusammenfassung des insgesamt 2.500 Seiten umfassenden Berichtes für Entscheidungsträger in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft findet sich ebd. 26-70, eine Analyse der sich daraus ergebenden Szenarien für künftige Entwicklungen und politische Handlungsalternativen ebd. 71-102; einen guten Überblick zur weltweiten Datenlage gibt vor dem Hintergrund dieser UNO-Studie der Fischer-Weltalmanach 2006: Berié/ Kobert 2005, 681-704. UNEP 1999, bes. 24-51. Forum Umwelt & Entwicklung 2002, 13.19-21.