Zur Entstehungsgeschichte des alten Puppenspiels „Doktor

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Zur Entstehungsgeschichte des alten Puppenspiels „Doktor
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Zur Entstehungsgeschichte des alten Puppenspiels
„Doktor Johannes Faust“
Eine gekürzte Fassung des Nachwortes aus der Reclamausgabe des Puppenspiels
von Günther Mahal
Die Vorlage für das Puppenspiel ist Christopher Marlowes Drama vom Leben und Tod
des Doctor Faustus, welches auf der deutschen Historia von D. Johann Fausten basierte,
dem so genannten Volksbuch von 1587, einem mit langen theologischen Disputationen
und einem noch breiteren Schwank-Teil ausgestatteten Erzählwerk, das die
geographischen, gastronomischen und erotischen Sensationen seines Helden in
ausführlicher Weise darbietet. Jene Eskapaden sind eingerahmt von düsteren
theologischen Apellen. Dieses Konzept von Zuckerbrot und Peitsche verhalf der Historia
schnell zu hohen Auflagenzahlen und fünf Übersetzungen. Halb Europa erfuhr im
Jahrzehnt nach 1587, dass die kühnsten Aufschwünge unweigerlich in den ewigen
Absturz führten.
Christopher Marlowe, wie Shakespeare 1564 geboren (1593 bei einer Messerstecherei
ums Leben gekommen) und anerkannter maßen dessen bedeutendster dramatischer
Vorläufer, entkleidete die Historia etwa drei Jahre nach ihrem Erscheinen sowohl ihrer
voyeuristischen Trivialität als auch der polternd warnenden Selbstgerechtigkeit, die
Fausts Ende nur in der Optik eines „recht geschieht es ihm“ kommentieren konnte.
Marlowes Faustus war (Goethe brauchte ihn nicht mehr zu erfinden) ein seriöser
Gelehrter, dem es um die Sprengung obrigkeitlich verordneter Wissensgrenzen ging, ein
Renaissancemensch, ein Vorreiter künftiger autonomer Wissenschaft. Wie der Faust der
Historia war auch er dem höllischen Untergang geweiht.
Marlowes Faustus kam seit 1597 durch englische Wandertruppen aufs europäische
Festland und in den deutschen Sprachraum. Der Rückimport eines hier vor einem
Jahrzehnt angeschlagenen Themas erfolgte freilich nicht kulturtouristisch, sondern
deswegen, weil auf der britischen Insel allzu viele Schauspieler sich gegenseitig das Brot
wegnahmen und weil der kirchliche Druck auf Truppen mit religiöser Thematik zu stark
wurde.
Die „englischen Komödianten“ trafen in deutschen Landen auf ein theaterungewohntes
Publikum, auf Menschen, die von Bühnendarbietungen keine differenzierten
Charakterdarstellungen erwarteten, die vielmehr Unterhaltung in möglichst drastischer
Form genießen wollten: Spektakuläres, Kampfgetümmel, Liebeshändel, Zauberwelten,
Pyrotechnisches, Futter für Augen und Nerven.
Derlei Erwartungen zu bedienen, war der Faust- in Marlowes Version mit langen
Monologen, reflektierenden Passagen und einer geistigen Grundfrage- nicht geeignet.
Kein Wunder, dass die Akteure rasch reagierten, nachdem das fremdsprachige, schlicht
langweilige Stück bei den deutschen Zuschauern nicht ankam.
Zwei Gegenmaßnahmen wider die Langeweile dienten seiner „Rettung“: zum ersten die
Einführung einer in anderen Stücken längst auftretenden Figur des Pickelhäring (später
Hanswurst wie bei uns oder Kasperle)- dieser lustige, seine Verfressenheit schon in der
Namensgebung signalisierende Typus trat zunächst in mit der Faust- Handlung kaum
verknüpften Intermezzi auf, anfänglich wohl auf schmale Passagen eindeutiger Witze
und grober Kraftwörter beschränkt; und zum zweiten das Vorschalten einer
Höllenberatung (die auch Goethe aufgreift und in den Himmel verlagert), in welcher der
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Höllenfährmann Charon einen Streitdialog mit dem Höllenfürsten Pluto hat. Fausts
Eingangsmonolog stand nun nicht mehr am Anfang. Im Blick auf die eher ermüdende
Zuschauerwirkung war er sozusagen entschärft. So wurde er zu einer Figur, die durch
ihre nachdenkliche Art und Weise nach einer turbulent einsetzenden Handlung die
Spannung hinauszögerte.
Das Stück endete dann mit einem Finale furioso, bei welchem der eben noch gottähnlich
agierende Doktor unter Blitz und Donner von den Teufeln von der Bühne gefegt wurde.
All das zum höchsten Gaudium der Zuschauer. Aus Marlowes ernstem Denk- Spiel war
unter den- natürlich auf geschäftlichen Erfolg angewiesenen- Händen der
„Komödianten“ ein scharf gepfefferter Publikumsschlager geworden.
Einige Jahrzehnte später stieg dann der nun schon fest etablierte Hanswurst vollends
zum Gegenspieler Fausts auf. Er wird mit der Faust-Handlung verflochten um diese zu
kontrastieren und zu parodieren- ein Gleichberechtigter, und sei er von seiner sozialen
Stellung her auch nur der Diener von Fausts Famulus Wagner.
Fausts Diener- Diener gab sich dreist, zuweilen obszön, aufsässig und mit jener
Bauernschläue, vor der selbst der Teufel versagen musste: als ihm, wie zuvor Faust,
durch den Teufel ein Pakt angeboten wird, verweißt er auf seine hölzerne und somit
seelenlose Existenz.
Der lustige Kerl, der Enkel Pickelhärings, anfänglich eher verschlagen und feige,
mauserte sich sehr schnell zum Liebling der Zuschauer. Er war wie einer aus dem Volk
und ein Gegensatz zum aller Normalität entrückten gelehrten Doktor. Er sprach wie die
einfachen Leute und hatte deren Primärbedürfnisse: reichlich essen und trinken, sich
ungeschoren durchs Leben lavieren, den Großköpfigen mit Mutterwitz und frechanarchischem Spott eins auswischen zu können.
Wann der Faust erstmals nicht mit Personen, sondern mit Puppen aufgeführt wurde,
lässt sich nicht genau ermitteln, doch darf man vom späten 17. Jahrhundert ausgehen.
Eine Spezialforschung hat überzeugend ermitteln können, dass von einigen Truppen
sowohl Schauspiel als auch Puppenspiel angeboten wurde- letzteres dann, wenn an
kleineren Orten keine ausreichende Bühne zur Verfügung stand; auch dann, wenn das
Ensemble durch Krankheit oder Abgänge reduziert war; schließlich dann, wenn ein
Prinzipal vorübergehend oder endgültig sparen und seine Truppe auf den (spesenfreien)
Kreis der eigenen Familie gesundschrumpfen musste. Wenn es auch an einigen Orten
eine finanzielle Einbuße bedeutete, „nur“ mit Puppen zu spielen, so wurde dieser
Nachteil durch die größere Mobilität rasch wieder wettgemacht.
Die größere Mobilität kam dem Puppenspiel- Ensembles außerdem immer dann zugute,
wenn übereifrige Magistrate oder geistliche an den Frechheiten des Hanswurst oder den
allzu realen Teufeleien Anstoß nahmen. Erschien der Büttel mit einem Strafbefehl, war
man schnell über alle Berge.
Wer im Zeitalter der Aufklärung für das Volk spielte, der unterhielt die Dummen. Diesen
vorerst geschlossenen Regelkreis sollten erst die Romantiker, angeregt von Herde,
durchbrechen. Vorerst blieben auch die Faust- Aufführungen im Abseits einer Ästhetik,
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die sich um den Anschluss an im europäischen Ausland längst verwirklichte Standards
bemühte. Gottsched versuchte durch seine Theaterreform die Hanswurste von der
Bühne zu vertreiben, was ihm aber keineswegs gelang. Und zudem (auch hier hatte
Gottsched ebenso vehement wie vergeblich polemisiert) blieb der Faust der
Wanderbühnen weiterhin mit „Gespenstern, Teufel, Tod, Himmel und Hölle“ verquickt,
also mit eben den Ausschweifungen, die der Professor von der Bühne verbannt sehen
wollte. Über das Jahr 1800 hinaus agierten die Faust-Puppenspieler mit ihrem vor- und
antiaufklärerischen Erfolgskonzept, den Doktor auf dem Titel und den plebejischen
Spaßmacher im Mittelpunkt.
Heute versteht man die Faustspiele der Truppen nicht mehr als primitive
Publikumsrenner, sondern als Protest gegen die Aufklärung, ein Protest, dem auch der
junge Goethe sich nach seiner Leipziger Rokokozeit anschließt.
Im zehnten Buch des zweiten Teils von Dichtung und Wahrheit bekennt Goethe wie das
Puppenspiel für ihn anregend wirkte: „klang und summet gar vieltönig in mir wieder“.