Prolapschirurgie – Neueres und Bewährtes
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Prolapschirurgie – Neueres und Bewährtes
FORTBILDUNG + KONGRESS OPERATIVE GYNÄKOLOGIE Prolapschirurgie – Neueres und Bewährtes Annett Gauruder-Burmester1, Ralf Tunn1 Deszensusoperationen bedürfen einer ganzheitlichen Planung und einer defektorientierten Umsetzung. Welche Techniken haben sich bewährt, und welche neuen Verfahren können das Spektrum je nach individueller Situation ergänzen? „Kolposuspensionen führen wir an unserer Klinik nicht durch. Um uns herum werden nur Bänder eingesetzt, da können wir nicht mit altmodischen Operationstechniken aufwarten, dann würde man uns keine Patienten mehr schicken. Und stellen Sie sich vor, in einer benachbarten Klinik wird in der Primärsituation die Zystozele gleich mit einem Mesh korrigiert, Wahnsinn, so etwas würden wir nie machen.“ Zum Glück gibt es ja die Cochrane Database und dort ein Review zur Prolapschirurgie. Hier steht zum Beispiel, dass die transvaginale Rektozelenkorrektur gegenüber der transanalen Technik bessere anatomische Ergebnisse zeigt. Und was ist mit der Funktion? Warum gibt es viele funktionelle Versager nach transvaginaler Technik, obwohl das plastische Resultat gut ist? „Wir natürlich auch nicht. Wir kombinieren die vaginale Hysterektomie mit Plastiken immer mit einem Amreich/ Richter, hält super, verstehe nicht, wie andere da Probleme haben, naja, die meisten beherrschen die Technik gar nicht mehr...“ Für die Autoren eine klare Sache: Hier wurde sicher eine Intussuszeption übersehen. Hätte man diese präoperativ mittels Defäkographie diagnostiziert, wäre das eine Indikation zur transanalen STARR-Technik gewesen. Die im Cochrane Review zitierte Literatur hat präoperativ die Anatomie der Rektozele nicht zwischen zentralem Fasziendefekt und einer Intussuszeption differenziert. Die Autoren wiederum können nur auf ihre gute klinische Erfahrung und die enge Zusammenarbeit mit Koloproktologen verweisen. Ein prospektiv randomisierter Vergleich wird daher nicht möglich sein, denn wer will seine guten klinischen Erfahrungen gegen einen Zufallsgenerator zum Randomisieren austauschen? Solche „Expertenmeinungen“ prägen den klinischen Alltag in der Deszensus- und Inkontinenzchirurgie gleichermaßen. Die wissenschaftliche Literatur zu diesen Gebieten ist so durchwachsen, dass man für jeden Trend auch eine zitierfähige Publikation findet, die das Vorgehen unterstützt. Schaut man genauer hin, hat die Publikation meist keinen anspruchsvollen wissenschaftlichen Level, die Fallzahl ist niedrig, der Nachbeobachtungszeitraum kurz und ein prospektiv randomisierter Vergleich fehlt. 1 318 Deutsches Beckenbodenzentrum, Urogynäkologie, St. Hedwig Krankenhaus, Berlin FRAUENARZT 49 (2008) Nr. 4 Die alleinige Auflistung bewährter und neuer Operationstechniken würde dem Leser aus dem beschriebenen Dilemma nicht heraushelfen. Daher werden die Autoren versuchen, den anatomischen Defekten bewährte Operationstechniken zuzuordnen und die bisherigen therapeutischen Lücken mit neuen Techniken aufzu- füllen und diese auch entsprechend zu markieren. Die aktuelle Literatur ist im Cochrane Review (1) und in den aktualisierten Leitlinien der AGUB nachzulesen (erscheinen zum diesjährigen DGGG-Kongress). Herkömmliche und aktuelle Ziele einer Deszensusoperation Ein Deszensus soll erst dann operativ korrigiert werden, wenn er Leidensdruck verursacht, konservative Behandlungsmethoden ausgeschöpft bzw. nicht akzeptiert wurden, ein Zusammenhang zwischen anatomischem Defekt und der Funktionsstörung realistisch scheint und ein Konzept zur operativen Korrektur vorliegt. Ziel der Deszensusoperation ist die Wiederherstellung der Topographie der Organe des kleinen Beckens durch die Rekonstruktion der Faszienstrukturen des Halteapparates von Harnblase, Genitalorganen und Rektum. In der Primärsituation hat die Rekonstruktion körpereigener Faszienstrukturen Priorität, die Rezidivsituation bzw. das primäre Fehlen von Faszienund Bandstrukturen hingegen rechtfertigen den Gewebeersatz. Als Gewebeersatz kommen allogene und xenogene Biomaterialien und alloplastische resorbierbare bzw. nicht resorbierbare Netzstrukturen zur Anwendung. Trägt man dem aktuellen Stand der Literatur und den klinischen Erfahrungen Rechnung, geht der Trend zum Einsatz alloplastischer, nicht resorbierbarer Polypropylennetze Typ I nach Amid (grobporig, monofil, leichtgewichtig: ca. 25–35 g/m²). Herkömmliche Operationstechniken bezogen bei ausgeprägten Befunden bzw. zusätzlicher Harninkontinenz neben der Faszienrekonstruktion die Beckenbodenmuskulatur direkt in die Rekonstruktion mit ein. Beispiele hierfür sind die hohe hintere Levatorplastik, Kurzarmschlingen- und Pubokokzygeusplastik. Nur kurzzeitige Operationserfolge, ausgeprägte Ver- Aktuelles Ziel der Deszensusoperation ist es, durch die Faszienrekonstruktion die Druckbelastung auf den Hiatus levatoris zu reduzieren und ihn auf die ursprüngliche Weite zu reduzieren. Hierbei muss einerseits auf ein Gleichgewicht zwischen den Kompartimenten geachtet werden, andererseits sollen keine prophylaktischen Rekonstruktionen durchgeführt werden. Wird eine Rezidivzystozele durch eine Netzinterposition korrigiert, ist das vordere Kompartiment stabiler als das hintere. Die unveränderte abdominale Druckbelastung kann daher im Verlauf zu einer Rektozele führen. Die Möglichkeit eines solchen Verlaufs sollte im Aufklärungsgespräch vermerkt werden, aber eben nicht zur prophylaktischen Korrektur eines intakten Kompartiments führen. Stellt sich eine Patientin mit einer Belastungsharninkontinenz zur operativen Korrektur vor und es findet sich ein mäßiger Lateraldefekt Level II des vorderen Kompartiments als auch eine Rektozele I. Grades ohne Beschwerden, sollte statt einer Kolposuspension eine transobturatorische Bandeinlage erfolgen. Die alleinige Kolposuspension könnte hier das Gleichgewicht zwischen beiden Kompartimenten stören, was frühzeitig postoperativ zur Ausprägung einer erheblichen Rektozele führen kann. Ist der Lateraldefekt ausgeprägt und verursacht neben der Belastungsharninkontinenz einen latenten Restharn und führt die Rektozele nicht zur Obstipation, aber zu einem Nachschmieren nach dem Stuhlgang, sollte die Kolposus- pension mit lateraler Rekonstruktion durchgeführt und mit einer Rektozelenkorrektur kombiniert werden. Fazit: Deszensusoperationen bedürfen einer ganzheitlichen Planung und einer defektorientierten Umsetzung. Was hat sich bewährt, was ist neu? Zystozele (Defekt Level II, vorderes Kompartiment) Die Zystozele, bedingt durch einen zentralen Fasziendefekt, wird primär durch die vaginale Faszienrekonstruktion korrigiert. Steht ein Lateraldefekt im Vordergrund (Rugae vaginales erhalten, die Zystozele reponiert sich beim Bonney-Test), bietet sich die Kolposuspension mit lateraler Rekonstruktion als operatives Konzept an. Neueres: Eine Rezidiv-Zystozele (Defekt Level II) kann mittels transobturatorischer Netzinterposition korrigiert werden, wobei hier häufig kombiniert auftretende zentrale und laterale Defekte gleichermaßen stabilisiert werden. Hier stellt sich berechtigt die Frage, inwieweit in der Primärsituation ein kombinierter Defekt ebenfalls durch eine transobturatorische Netzinterposition korrigiert werden kann, um ein kombiniertes abdomino-vaginales Vorgehen zu vermeiden. Primärer Deszensus des Uterus Der primäre Deszensus des Uterus kann durch die vaginale Hysterektomie sicher korrigiert werden, die Fixation seines Halteapparates am Scheidenstumpf (insbesondere Ligg. sacrouterina) und der hohe Peritonealverschluss dienen der Prävention eines Scheidenstumpfprolapses. Neueres: Bei einem reinen Uterusprolaps (nach Reposition kein Nachweis vaginaler Defekte) bietet sich insbesondere im fertilen Alter bei fehlender Uteruspathologie die laparoskopische Hysterosakropexie zur Korrektur an. Die Kombination aus suprazervikaler Hysterektomie und Kollumsakropexie sollte durch eine Indikation (Uteruspathologie) gerechtfertigt werden. Im Cochrane Review hat sich gezeigt, dass im Vergleich zur vaginalen Hysterektomie organerhaltene Operationstechniken eine höhere Rate an Nachoperationen bedingen. In der postmenopausalen Situation sollten sie daher zurückhaltend indiziert werden. Enterozele (Defekt Level I, Z.n. Hysterektomie) Die Enterozele bietet anatomisch keine rekonstruktionswürdigen Faszienstrukturen, die hohe Peritonealisierung dient vorrangig der Bruchsackreponation, durch die Vaginaefixatio sacrospinalis (nach Amreich/Richter; ein- bzw. beidseitig) kann eine ausreichende Fixation des Scheidenstumpfes erreicht werden, vorausgesetzt, die Vagina ist lang genug (bis an das Ligamentum sacrospinale reichend). Die Vaginalachse ist aber unphysiologisch nach dorsal verlagert, wodurch die ventrale Bruchpforte eine zusätzliche Druckbelastung erfährt, was eine Zystozelenbildung unterstützt. FORTBILDUNG + KONGRESS narbungen und Dyspareunien wie auch der kernspintomographische Nachweis, dass sich diese Muskelanteile postoperativ nur noch als Narbengewebe darstellen, haben diese Techniken hoffentlich aus dem klinischen Alltag verdrängt. Die direkte operative Beeinflussung der Beckenbodenmuskulatur hinterlässt Vernarbungen, Funktionsstörungen und Dyspareunien. Die abdominale Sakrokolpopexie hingegen erlaubt eine sichere und physiologische Rekonstruktion der Enterozele. Durch die Interposition des Netzes ins Spatium vesico- bzw. rectovaginale können Rekto- und Zystozelen mit gutem funktionellem Resultat mit korrigiert werden. Die Rezidiv-Enterozele (Defekt Level I nach vaginaler Rekonstruktion) kann erfolgreich durch die Sakrokolpopexie korrigiert werden. Das Vorgehen bei zusätzlicher Zystozele wurde bereits beschrieben, in Kombination mit der Kolposuspension und lateralen Rekonstruktion kann der Lateraldefekt Level II mit korrigiert und eine Belastungsharninkontinenz therapiert bzw. vermieden werden. Ist eine Darmentleerungsstörung durch ein Sigma elongatum bedingt, FRAUENARZT 49 (2008) Nr. 4 319 FORTBILDUNG + KONGRESS kann eine Kombinationsoperation aus Resektionsrektopexie und Sakrokolpopexie hier aus anatomischer und funktioneller Sicht sinnvoll sein. Neueres: Vaginale Netzinterpositionen unter Nutzung kompletter Netze sollen den apikalen Prolaps gleichermaßen wie die Zysto- und Rektozele korrigieren. Der hohe Netzanteil und ggf. Defektheilungen sind zu rechtfertigen, wenn ein abdominales Vorgehen durch Komorbiditäten nicht zu empfehlen ist. Rektozele (Defekt Level II, hinteres Kompartiment) Die Rekonstruktion erfolgt durch Faszienrekonstruktion, soweit hier eine anteriore Rektozele mit zentralem Fasziendefekt vorliegt. Hier wird die Faszie bis zur Umschlagfalte unter Erhaltung des Rektumpfeilers nach lateral mobilisiert. Die tiefe Rektozele (Defekt Level III) erfordert meistens neben der Faszien- auch die Dammrekonstruktion. Neueres: Häufig stellt sich aber eine mäßige Rektozele mit erhaltenen Rugae vaginales dar, die klinische Symptomatik im Sinne der Darmentleerungsstörung kann trotzdem sehr ausgeprägt sein. Hier empfiehlt sich die Durchführung einer Defäkographie, um eine Intussuszeption einzuschließen, diese sollte transanal mittels der STARR-Methode korrigiert werden. Die Rezidiv-Rektozele (Defekt Level II) kann durch eine transischioanale Netzinterposition korrigiert werden. rektur eines Deszensus (vaginale Netzinterpositionen) sind innovativ und füllen bisherige therapeutische Lücken, insbesondere bei Rezidiven im Bereich des vorderen und hinteren Kompartiments. Dies ermöglicht eine differenziertere Indikationsstellung zur defektorientierten Korrektur eines Deszensus und dort, wo erforderlich, die Umsetzung von „Gesamtkonzepten“, was zu verbesserten anatomischen Ergebnissen führen kann. Um dies zu erreichen, sind drei langwierige Lernkurven erforderlich: zur Indikationsstellung, zur operativen Umsetzung der Faszienrekonstruktionstechniken und zur Umsetzung der GewebeersatzTechniken. Sich von herkömmlichen Vorgehensweisen zu lösen, scheint hierbei oftmals schwieriger, als neue Techniken zu erlernen. Inwieweit die neuen Gewebeersatztechniken dauerhafte Erfolge mit sich bringen werden, bleibt abzuwarten. Die aktuelle Datenlage zeigt, dass Rezidive und Komplikationen nicht ausbleiben werden, aber korrigierbar sind. Literatur 1. Maher C, Baessler K, Glazener CMA et al.: Surgical management of pelvic organ prolapse in women. Cochrane Database of Systematic Reviews 2007, Issue 3. Art. No.: CD004014. Fazit Bewährte Operationstechniken haben einen unvermindert hohen Stellenwert, insbesondere in der primären Deszensuschirurgie. Sie haben durch den Verzicht auf direkte Muskelplastiken und durch Nerven bzw. Gefäße schonende Präparationstechniken ihre Modifikationen erfahren, wodurch auch die funktionellen Ergebnisse verbessert werden konnten. Neuere Operationstechniken zur Kor- 320 FRAUENARZT 49 (2008) Nr. 4 Für die Autoren PD Dr. med. Ralf Tunn Deutsches Beckenbodenzentrum/Urogynäkologie St. Hedwig Krankenhaus Große Hamburger Straße 5–11 10115 Berlin