Emilia Galotti - Theater an der Parkaue

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Emilia Galotti - Theater an der Parkaue
Emilia Galotti
Ein Trauerspiel
Gotthold Ephraim Lessing
14 +
B E G L E I T M AT E R I A L Z U M S T Ü C K
Emilia Galotti
Es spielen:
Anton Berman
Katrin Heinrich
Niels Heuser
Hagen Löwe
Thomas Pasieka
Franziska Ritter
Andrej von Sallwitz
Danielle Schneider
Camillo Rota / Pirro / Angelo / Battista / Pianist
Emilia Galotti
Hettore Gonzaga, Prinz von Guastalla
Odoardo Galotti, Vater der Emilia
Graf Appiani
Klaudia Galotti, Mutter der Emilia
Marinelli, Kammerherr des Prinzen
Gräfin Orsina
Regie: Sascha Bunge Bühne + Kostüme: Angelika Wedde Komposition + Musik: Anton Berman Dramaturgie + Theaterpädagogik: Stephan Behrmann Licht: Rainer Pagel Ton + Videotechnik: Sebastian Köster Regieassistenz: Susann Ebert, Johanna Thomas Inspizienz:
Anne Richter / Anita Stenzel Soufflage: Jutta Rutz Technischer Direktor: Eddi Damer Bühnenmeister: Henning Beckmann Maske: Karla Steudel Requisite: Jens Blau Ankleiderei: Birgit Wilde, Lotta Hackbeil Kostümassistenz: Clemens Leander Dramaturgiehospitanz: Marit
Buchmeier Herstellung der Dekoration: Werkstätten des Bühnenservice der Stiftung Oper
in Berlin unter der Leitung von Jörg Heinemann Herstellung der Kostüme: Firma Gewänder
Maren Fink-Wegner
Premiere: 8. März 2012 im Rahmen von
TUGEND, EHRE – SOLL & HABEN
EMILIA. MINNA. LESSING. EIN SPEKTAKEL
Bühne 1
ca. 90 Minuten
Die Aufführungsrechte liegen bei dem THEATER AN DER PARKAUE.
Premierenklasse: Profilkurs 1 Deutsch JG 11 der Carl-von-Ossietzky-Oberschule, Berlin-Kreuzberg
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Emilia Galotti
Inhalt
Vorbemerkung
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Zugänge zur Inszenierung
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Lessing – ein biografischer Querschnitt
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Die Galottis – Bürgertum oder Adel?
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Das Herzogtum Guastalla
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Historische Vorgängerinnen Emilias
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Titus Livius: Verginia
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Peter Sloterdijk: Über die Entstehung der res publica
aus dem Geist der Empörung
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Emilias Tod und das Trauerspiel
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Hugh Barr Nisbet über Emilias Tod
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Joseph Vogl und Alexander Kluge: Die Fähigkeit zu Trauern
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Anregungen für den Unterricht I
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Männer und Macht
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Johann van der Dennen: Sex und Autorität
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Anregungen für den Unterricht II
36
Literatur
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Hinweise für den Theaterbesuch
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Impressum
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Emilia Galotti
Szenenfoto mit Anton Berman, Katrin Heinrich und Andrej von Sallwitz
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Emilia Galotti
Vorbemerkung
Mit seinen dramatischen Texten und kritischen Essays prägte Lessing die deutsche Literatur
nachhaltig und wurde zum Vorbild vieler nachfolgender Schriftsteller. Der Toleranzgedanke,
den Lessing in vielen seiner Schriften vertritt, macht ihn für alle Zeiten relevant. So ist Lessing
auch der einzige deutsche Autor der seit Lebzeiten durchgehend in den Spielplänen der Theater vertreten ist.
Das Trauerspiel Emilia Galotti gehört zu den bekanntesten Theaterstücken Lessings. Es erzählt vom Dilemma eines jungen Mädchens, das sich zwei rigiden Systemen gegenübersieht.
Auf der einen Seite der Adel mit dem Anspruch alles besitzen und benutzen zu können, auf
der anderen Seite ihre Familie, allen voran Odoardo, Emilias Vater, der von seinem Ehrgefühl
getrieben ist. Emilia ist dazwischen nur ein „Rohstoff“, der beliebig herumgereicht, gehandelt
und benutzt werden kann.
Gleichzeitig durchlebt Emilia eine unbekannte, eine extreme Gefühlssituation. Geprägt durch
einen starren Ehrbegriff und die religiöse Erziehung ist Emilia gegen körperliche Annäherung nicht gewappnet. Lust und Sexualität sind vollkommen fremde Dinge. Die Avancen des
Prinzen prallen an Emilia aber nicht spurlos ab. Ekel und Widerwillen stehen Faszination und
Anziehungskraft gegenüber.
Als Theater liegt unseren Auftrag in der Heranführung Kinder und Jugendlicher an das Format
Theater. Inszenierung sind immer Interpretationen eines Stoffes. Mit jeder Inszenierung entsteht
ein neues Kunstwerk mit eigener Lesart und eigener Gesetzmäßigkeit, das wiederum die Theaterzuschauer zu eigenen Deutungen und Sichtweisen einlädt. Großes Gewicht liegt, gerade auch
bei den beiden Stücken Lessings, auf der Erschließung des Materials aus heutiger Perspektive.
Das vorliegende Begleitmaterial zur Inszenierung Emilia Galotti richtet sich an Lehrer, die mit
ihren Schülern eine Vorstellung besuchen und diese vor- oder nachbereiten möchten. Es beschäftigt sich mit dem Autor G.E. Lessing, sowie den Hintergründen von Emilia Galotti und
den thematischen Schwerpunkten der Inszenierung. In einem gesonderten Kapitel finden Sie
Anregungen für den Unterricht in Form verschiedener Projekte, die sich mit Text und Inszenierung beschäftigen.
Wenn Sie Fragen zum theaterpädagogischen Begleitmaterial oder zur Inszenierung Emilia Galotti haben oder wenn Sie Ihre Kritik und Anmerkungen mitteilen möchten, können Sie sich
gerne mit dem betreuenden Dramaturgen Stephan Behrmann in Verbindung setzen.
Ich wünsche Ihnen und Ihren Schülern einen anregenden Theaterbesuch und interessante
Diskussionen danach.
Marit Buchmeier
Betreuender Dramaturg und Theaterpädagoge: Stephan Behrmann
Tel: 030 – 55 77 52 -45 / E-Mail: stephan.behrmann@parkaue.de
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Emilia Galotti
Zugänge zur Inszenierung
„In der ‚Emilia Galotti’ wird die Schuld nicht bestraft und die Unschuld stirbt ungesühnt. [...]
Emilia war doppelt bedroht, von fremder Gewalt und von ihren eigenen Sinnen. Das macht
den Verlauf noch trauriger für die bürgerliche Ehre. Ihr Tod von der Hand des Vaters war eine
Tat der Verzweiflung, mit tragischer Schuld hatte er wenig zu tun. Dafür war er wahr. So sahen
Heinrich Mann
die bürgerlichen Trauerspiele im Leben aus.“ Emilia Galotti ist geprägt von zwei Welten, wie sie unterschiedlicher nicht sein können. Die des
Hofes und die der Familie, in der Emilia aufwächst.
Prinz Hettore von Gonzaga ist gelangweilt vom Leben und den Gepflogenheiten am Hofe.
Sich seiner Macht aber wohl bewusst, nutzt er die Privilegien seines Status. Er betrachtet sein
Umfeld als sein Eigentum und missbraucht seine Macht, um sich selbst den größtmöglichen
Vorteil zu verschaffen, sei dies politisch oder privat. Emilia hat ab dem Moment, ab dem der
Prinz ein Auge auf sie geworfen hat, keine Chance mehr zu entkommen. Um sein Opfer zu
erlegen, ist dem Prinzen jedes Mittel recht, aufzugeben kommt nicht in Frage. Dafür lässt er
Staatsgeschäfte schleifen, vergisst alles andere. Er hüpft, tanzt, rennt durch seine Welt, in der
er immer wieder neue Dinge für sich entdeckt, um sie wieder fallen zu lassen und zu vergessen.
Unterstützt wird er von seinen, ihn umgebenden, Dienern und Beratern, allen voran seinem
Kammerherren Marinelli. Ein Intrigant, der scheinbar ohne Moral daran arbeitet, die Macht des
Prinzen und damit auch seine eigene Macht zu erweitern.
Die Figur des Prinzen lässt Parallelen zu Geschehnissen von heute zu. Beispiele sind die Fälle
Dominique Strauss-Kahn oder Christian Wulff. Der Skandal um den ehemaligen Bundespräsidenten Christian Wulff fiel in die Probenzeit. Ein Mann, der jegliche Maßstäbe aus den Augen
verloren und der bis zum Ende nicht eingesehen hat, etwas falsch gemacht zu haben. Wulffs
Sprecher und „Einflüsterer“ Olaf Glaeseker mutet dabei wie ein moderner Marinelli an.
Dem Hof gegenüber steht Emilias Elternhaus, das sich in zwei Lager teilt. Auf der einen Seite
die Mutter, Klaudia, die mit Emilia in der Stadt lebt und danach strebt ihre Tochter in die Hofgesellschaft einzuführen. Dies gelingt ihr durch Emilias Verlobung mit Graf Appiani. Der Vater
Odoardo wiederum lebt auf dem Land, verweigert sich der direkten Konfrontation mit dem
korrupten Hofmilieu und kann es nicht abwarten, nach der Hochzeit der Stadt und dem Hof
den Rücken zu kehren. Ist Emilia alleine mit der Mutter, darf sie sich frei und selbstständig
bewegen, sie feiert Feste wie das bei Kanzler Grimaldi, schließt Bekanntschaften am Hof, lernt
das lasterhafte höfische Leben kennen. Im Gegensatz dazu steht die streng religiöse, moralische Erziehung des Vaters.
Die beiden Parteien reichen Emilia herum, entscheiden und beraten über sie, sie wird zum
Rohstoff, der gehandelt werden darf. Das Wissen, dass ihr Meinung und ihre Taten kaum Konsequenzen haben, lässt sie nüchtern, fast kalt erscheinen.
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Emilia Galotti
Durch die Avancen des Prinzen wird Emilias Neugier geweckt. Diese aufkommenden Gefühle
machen ihr aber Angst. Der Konflikt Emilias spielt in der Inszenierung eine große Rolle. Das
Zusammentreffen zwischen Emilia und dem Prinzen in der Kirche wird von Lessing nur indirekt
erzählt – indem Emilia ihrer Mutter und der Prinz Marinelli davon berichten. Dieses Treffen ist
einer der Ausgangspunkte für alle weiteren Geschehnisse. Emilia erfährt vom Interesse des
Prinzen an ihrer Person und an ihrem Körper. An dieser Stelle beginnt ihr moralisches Dilemma, Ekel und Faszination erwachen gleichermaßen. Sie bekommt eine Vorstellung davon,
wie Leidenschaft aussieht, etwas, dass sie mit ihrem Verlobten Graf Appiani noch nicht erlebt
hat. In Emilias Beziehung zu Graf Appiani spielt körperliche Anziehung eine untergeordnete
Rolle. Ihre Begegnung am Tag der Hochzeit ist von Emilias Hin- und Hergerissenheit geprägt.
Ein Wechselspiel von Annäherung an ihren zukünftigen Ehemann und Abweisung wegen ungerechtfertigter Schuldgefühle, die aus der Begegnung mit dem Prinzen resultieren. Sascha
Bunge erfand daher diese Szene, seine Inszenierung beginnt mit den Geschehnissen in der
Kirche.
Auch die Bühne spielt mit diesen Ebenen, indem sie sich immer weiter öffnet. In der Kirchenszene wird Emilia zwischen Vorhang und Prinz und dem Publikum förmlich eingequetscht. Im
Vergleich dazu weitet sich der Raum mit den Ortswechseln vom intimen, privaten Elternhaus
bis hin zum Lustschloss, einem öffentlichem, politischen Raum und Spielplatz des Prinzen.
Der Pianist ist nahezu immer auf der Bühne, reagiert mit seiner Musik auf das Geschehen oder
die Zurufe der Schauspieler und kreiert so eine Klangatmosphäre durch die ganze Inszenierung. Er übernimmt die Rollen der Diener und Berater vom Prinzen, von Marinelli und Odoardo, die im Laufe des Geschehens die Zuspieler und Ausführer von Befehlen sind.
Der Lessing Biograf Hugh Barr Nisbet bietet eine gute Zusammenfassung der widersprüchlichen Charaktere:
„Sie [die Figuren] sind alle labil, hin- und hergerissen zwischen widersprüchlichen Impulsen –
der Prinz zwischen Leidenschaft und Pflicht, Emilia zwischen gefühlsmäßiger Unsicherheit
und moralischer Entschlossenheit, Odoardo zwischen moralischer Strenge und Ehrerbietung
gegenüber der Autorität, Klaudia zwischen Neigung zum Hofleben und Liebe zum wohlanständigen Familienleben, Orsina schließlich zwischen Liebe zum Prinzen und Rachedurst.
Unter dem Druck rasch wechselnder Umstände kann jeder von ihnen diese oder jene Richtung einschlagen.“
Hugh Barr Nisbet: Lessing – Eine Biographie. München: C.H. Beck, 2008.
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Emilia Galotti
Lessing – ein biografischer Querschnitt
Als Lessing 18 war, feierte sein erstes Stück
Der junge Gelehrte Premiere.
Er wurde in kürzester Zeit der bekannteste
Schriftsteller im deutschsprachigen Raum.
Lessing übertrug das französische Modell
des bürgerlichen Trauerspiels nach Deutschland.
1748 musste Lessing Leipzig verlassen, da
ihm als Bürge für diverse Schauspieler die
Gläubiger im Nacken saßen.
Als freier Schriftsteller litt er unter ständigem
Geldmangel und war abhängig von Almosen
von Freunden und Verwandten.
Der Versuch, das „Deutsche Nationaltheater“ über einen längeren Zeitraum hinweg zu
etablieren, scheiterte unter anderem wegen
Geldmangels.
Als Dramaturg am neugegründeten
„Deutschen Nationaltheater“ in Hamburg
revolutionierte er mir seiner „Hamburgischen
Dramaturgie“ das (Nach-)Denken über
Lessing heiratete erst mir 47 Jahren, seiTheater.
ne Frau Eva König starb im Kindbett, wenige Tage nach der Geburt des gemeinsamen
Sohnes.
An seinen Freund Johannes Joachim Eschenbach schrieb er in dieser Zeit: „Ich wollte es
auch einmal so gut haben, wie andere Menschen. Aber es ist mir schlecht bekommen.“
nach D. Hildebrandt
Im Folgenden eine Sammlung an Aspekten aus Lessings Leben, die das Inszenierungsteam
während der Arbeit beschäftigt hat und die teilweise einen ganz anderen Blick auf den großen
Klassiker Lessing werfen.
Ein Leben zwischen künstlerischem Anspruch
und der ökonomischen Lebenswirklichkeit
Gotthold Ephraim Lessings Leben liest sich als großartige Erfolgsgeschichte, aber auch als
Leidensgeschichte. Lessing gilt nach wie vor als einer der bedeutendsten Dichter der deutschen Aufklärung. Es gelang ihm, die in vielen Bereichen überlieferten Anschauungen in Frage
zu stellen. Bei ihm standen der Glaube an die Toleranz, die Freiheit, das „Ich“ als Individuum
im Mittelpunkt. Dies wird in seinen Theaterstücken deutlich, in denen er den Privat- den Familienraum in den Mittelpunkt stellte. Ein weiteres Beispiel sind seine theologischen Schriften,
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Emilia Galotti
in denen er zu mehr Toleranz gegenüber anderen Religionen aufruft. Vieler dieser Ansätze
bringt Lessing in seinem philosophischen Werk „Die Erziehung des Menschengeschlechts“
zusammen.
Abgesehen von wenigen Festanstellungen verdingte Lessing sich sein Brot als freier Schriftsteller, als einer der ersten Auftragsautoren. So war sein Leben trotz seines Erfolges und Bekanntheitsgrades immer auch von Geldnöten geprägt, die Lessing dazu zwangen über Jahre
hinweg Anstellungen anzunehmen, die vor allem dem Broterwerb dienten. So war er unter
anderem Sekretär des Generals Tauentzien, dem Kommandanten von Breslau und späteren
Gouverneur Schlesiens und Hofbibliothekar des Herzogs von Braunschweig in Wolfenbüttel.
Es war ihm unmöglich, bedingt sowohl durch die ungünstige Marktlage für freie Schriftsteller,
als auch durch seine Unfähigkeit vorauszuplanen, als Autor seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, „ohne auf die Möglichkeit zu verzichten, die Überzeugungen zu Papier zu bringen,
die für ihn die wichtigsten waren.“ (Nisbet, Hugh Barr: Lessing – Eine Biographie. München: C.H. Beck, 2008).
Lessing – der Spieler
Lessing hatte eine große Leidenschaft für das Glückspiel, er schrieb dem Spielen schon beinahe therapeutische Wirkung zu. Karl Lessing beschrieb diese Spielsucht ausführlich in der
Biografie über seinen Bruder.
Zitiert nach: Nisbet, Hugh Barr: Lessing – Eine Biographie. München: C.H. Beck, 2008
Allein seinen Freunden ist doch nichts so aufgefallen, wie seine Spielsucht, die in Breslau ihren
Anfang und zu Wolfenbüttel ihr Ende genommen haben soll. Sein liebstes Spiel war Pharao,
das seinen ganzen Reiz vom hohen Gewinne zu haben scheint. [...] Dem, der es nicht selbst
gespielt, muß es der fadeste Zeitvertreib dünken; und wer gar nur pointiert, um zu gewinnen,
wird das Gegenteil von dem bezwecken, worauf er ausgeht.
Was vermochte Lessing also dazu? Die Sorge um seine Gesundheit. – Wird man nicht lachen?
Und noch mehr, wenn man bedenkt, daß er mit großer Leidenschaft spielte. Einer seiner
Freunde, der ihn bei dem Pharaotische beobachtete, sah einmal, wie ihm die Schweißtropfen vom Gesichte herunterliefen. Er sah auch, daß er nicht im Unglücke war, sondern diesen
Abend sehr glücklich spielte. Als sie miteinander nach Hause gingen, tadelte er ihn, daß er
nicht bloß seine Börse, sondern noch etwas Wichtigeres, seine Gesundheit ruinieren würde.
Gerade das Gegenteil, antwortete Lessing. Wenn ich kaltblütig spielte, würde ich gar nicht
spielen; ich spiele aber aus Grund so leidenschaftlich. Die heftige Bewegung setzt meine stockende Maschine in Tätigkeit, und bringt die Säfte in Umlauf; sie befreit mich von einer körperlichen Angst, die ich zuweilen leide. – Dem Boshaften wird dabei der ehrliche Basedow einfallen, welcher seine Trunkenheit fast ebenso verteidigte. Spielte Lessing zum Zeitvertreibe und
gleichgültig, so mußte der Schweiß, den man an ihm bemerkte, aus ganz andern Ursachen
entstehn; entstand er durch die Gefahr des Spiels, so konnte er, nach dem ordentlichen Laufe
der Natur, wohl nicht zur Gesundheit gereichen. Es scheint vielmehr, daß diesen Schweiß das
warme Zimmer, welches voller Menschen und Tabakraucher war, veranlaßt habe.
[...] Ist Lessings eigne Aussage von Gewicht, so gestand er, in Breslau oft und hoch gespielt,
aber im Durchschnitte wenig oder gar nichts verloren zu haben. Sein General habe ihm sogar
sein hohes Spielen vorgehalten; er habe ihm aber stets erwidert: es sei einerlei, ob man hoch
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Emilia Galotti
oder niedrig spiele; ja, das hohe Spiel habe den Vorteil, daß es die Aufmerksamkeit erhalte,
das kleine aber zerstreue sehr leicht.
Lessing und das Theater
Im 18. Jahrhundert wurde das deutsche Theater stark von Entwicklungen anderer Länder
geprägt, eine typisch deutsche Ausprägung, deutsche Stücke fehlten. Neben den Hoftheatern, gab es zahlreiche Wandertruppen. Den Schauspielern als wanderndes Volk wurde in der
Bevölkerung meist großes Misstrauen entgegen gebracht. Die Stücke dieser Truppen hatten
volkstümlichen Inhalt, große Teile bestanden aus Improvisationen. Für diejenigen, die nicht
dem Adel angehörten und dadurch keinen Zugang zu einem Hoftheater hatten, war das Wandertheater der einzige Berührungspunkt mit dem Theater.
Lessing folgte 1767 dem Ruf nach Hamburg, wo die Idee eines bürgerlichen Hoftheaters in
Form eines Nationaltheaters in die Tat umgesetzt werden sollte. Lessing wurde dort als Dramaturg eingesetzt. Obwohl das Projekt bereits nach zwei Jahren scheiterte, schrieb Lessing
dort seine „Hamburgische Dramaturgie“, die er in 104 Teilen veröffentlichte. Neben Stück- und
Inszenierungsbesprechungen, beschäftigte sich Lessing unter anderem ausführlich mit der
Dramentheorie und beschrieb, welche Wirkung das Theater auf das Publikum haben solle.
Lessing kritisierte die Volkstümlichkeit der Wandertruppen, er plädierte für das Literaturtheater. Im Gegensatz zu Johann Christoph Gottsched allerdings, wollte Lessing dabei nicht an
der französischen Klassik festhalten. Ganz entscheidend war auch, dass sich Lessing gegen
Gottsched Idee der Ständeklausel stellte. Gottsched war der Meinung, dass in der Tragödie
die Schicksale von Königen, Fürsten und hohen Standespersonen verhandelt werden sollten,
dem Leben der Bürgerlichen fehle es an Größe, an Bedeutung und an „Fallhöhe“. Im Gegensatz dazu sollten die Geschichten bürgerlicher Personen nur in Komödien auf die Bühne
gebracht werden.
Lessing entwarf ein Gegenmodell mit der Veröffentlichung des Stücks „Miss Sara Sampson“
im Jahr 1755, das als das erste bürgerliche Trauerspiel gilt. Er vertrat die Meinung, dass das
Publikum nur dann mitleide, wenn es sich selbst auf der Bühne wieder erkennt, wenn die auf
der Bühne verhandelten Geschichten, auch die Geschichten des Publikums sein könnten. Er
orientierte sich an den aristotelischen Begriffen ‚eleos‘ und ‚phobos‘ und prägte sie mit seiner
Übersetzung in ‚Furcht‘ und ‚Mitleid‘ neu. „Furcht erweckt nach Lessing all das, was, wenn
sie es an anderen sehen, Mitleid weckt. Und umgekehrt erweckt das in uns Mitleid, was, wenn
es uns selbst treffen würde Furcht macht.“ [Stegemann, Bernd: Lektionen 1 – Dramaturgie.
Berlin: Theater der Zeit, 2009]. Dieses Prinzip setzt voraus, dass Bürger die Protagonisten des
Dramas sind. So fürchtet der Zuschauer, dass ihm das gleiche Schicksal widerfahren könnte,
wie den Protagonisten auf der Bühne. Daraus resultiert, dass der Zuschauer mit sich selbst
Mitleid empfindet. Ohne die Furcht ist dieses Mitleid nicht möglich. Lessing schrieb darüber:
„Die Tragödie soll unsere Fähigkeit erweitern, Mitleid zu fühlen… Sie soll uns fühlbar machen,
dass der Unglückliche zu allen Zeiten und unter allen Gestalten rühren und für sich einnehmen
kann.“
(Für eine detaillierte Beschreibung siehe u.a. Fick, Monika: Lessing Handbuch: Leben-Werk-Wirkung.
Stuttgart: J.B. Metzler, 2000. Nisbet, Hugh Barr: Lessing – Eine Biographie. München: C.H. Beck, 2008.)
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Emilia Galotti
Lessing – der Journalist
Neben den philosophischen Texten und seinen Dramen wird gerne vergessen, dass Lessing
auch Journalist war. Er prägte eine Sparte, die bis heute in keiner Zeitung fehlen darf, das
Feuilleton. 1722 wird die ‚Berlinische Privilegierte Zeitung‘ (BPZ) gegründet, Lessing war für
den „Gelehrten Artikel“, den Rezensionsteil zuständig. Zudem führte Lessing einen weiteren
Rezensionsteil ein, „Das Neueste aus dem Reiche des Witzes“, das sowohl aus Rezensionen
von Veröffentlichungen aller Art, als auch aus eigenen Texten Lessings bestand.
Jakob Augstein berichtete in der ‚Süddeutschen Zeitung‘ vom Journalisten Lessing.
Die gelehrten Sachen
Gottfried Ephraim Lessing: der erste Großkritiker der Presse
Von Jakob Augstein: Die gelehrten Sachen - Gottfried Ephraim Lessing: der erste Großkritiker der Presse /
Serie, Teil V. In: Süddeutsche Zeitung, 7. Januar 2003.
[…]
Einer seiner [Lessings] ersten Zeitungsartikel, den Gedichten von Johann Christoph Gottsched gewidmet, endet 1751 mit den Worten: „Diese Gedichte kosten in den Vossischen
Buchläden zwei Taler und vier Groschen. Mit zwei Talern bezahlt man das Lächerliche und mit
vier Groschen ungefähr das Nützliche.“
Das ist erstens immer noch ziemlich lustig, was ja etwas heißen will, weil nicht viele Witze 250
Jahre halten, und zweitens ist es für Lessings Modernität kennzeichnend, weil Gottsched selber die Kritik erst ein paar Jahrzehnte zuvor in Deutschland etabliert hatte, gleichsam wie ihr
Papst in Leipzig thronte und nun von seinem eigenen Epigonen rücksichtslos wegrasiert wurde. Gotthold Ephraim Lessing, geboren 1729 in Kamenz, Sachsen, gestorben 1781 in Berlin,
war nicht der erste, aber der erste vernichtende Kritiker deutscher Sprache.
[...]
Unter dem Dach des aufgeklärten Absolutismus wuchs eine autonome bürgerliche Sphäre
heran. Und die Menschen lernten das Lesen: Der Analphabetismus ging zurück, Bücher und
Zeitschriften wurden zur bürgerlichen Unterhaltung.
[...]
Eine Reihe junge Leute ist in den letzten 250 Jahren Journalist geworden, bevor sie später
was Anständiges gemacht haben. Lessing hat damit den Anfang gemacht. Von seinen Rezensionen und Kritiken in der Vossischen Zeitung sind es 20 Jahre bis zur Hamburgischen Dramaturgie und 30 bis zum Nathan. Und als er 1748 bei seinem Vetter Mylius vorstellig wurde,
begründete er nebenbei eine Existenzform, die gerade für Berlin bis heute typisch ist: Die des
freischaffenden Schriftstellers und Journalisten.
Viel verdienen konnte man damit schon damals nicht - aber viel brauchte er auch nicht: „Was
tut mir das, ob ich in der Fülle lebe oder nicht, wenn ich nur lebe“, schrieb Lessing an seinen
Vater. Noch so ein Satz, der Goethe nicht eingefallen wäre.
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Emilia Galotti
[...]
Als Lessing 1750 das Angebot bekam, so etwas wie der Chefredakteur der Berlinischen privilegierten Zeitung zu werden, lehnte er wegen der Zensur ab; er habe keine Lust, seine Zeit
„mit solchen politischen Kleinigkeiten zu verderben“.
Die Berlinische privilegierte erschien dreimal wöchentlich, dienstags, donnerstags und am
Samstag. 1751 wurde das Blatt nach einem Verlegerwechsel in Vossische Zeitung umbenannt
und hieß so bis zur letzten Ausgabe am 31. März 1934. Die Vossische hat einen guten Anteil
am Ruf Berlins als Zeitungsstadt.
Der Verleger und Buchhändler Johann Heinrich Voß fügte seiner Neuerwerbung schnell ein
Ressort hinzu, das er „Die gelehrten Sachen“ nannte, man würde heute sagen ein Feuilleton.
Aus dem bis dahin offiziösen Nachrichtenorgan für Staats- und Hofangelegenheiten wurde ein
„Intelligenzblatt“, mithin eine Art moderner Tageszeitung.
In erstaunlicher Parallele zu heutigen Verhältnissen bot das Feuilleton schon damals dem
abweichenden Denken mehr Raum als der politische Teil und darum wurde Lessing 1751 der
erste Feuilleton-Ressortleiter. Und weil er offenbar nicht nur ein begnadeter Kritiker war, sondern auch ein geschickter Blattmacher, erfand er eine neue monatliche Beilage: „Das Neueste
aus dem Reich des Witzes“.
In späteren Jahre legte sich Lessing ein Kürzel zu: „Fll“. Seine Opfer leiteten das von „Flegel“
ab, er selbst meinte das Lateinische „flagellum“, Geißel. Man ahnt schon, dass es kein Vergnügen war, diesem Mann unter die Feder zu fallen.
Ein typischer Artikel Lessings begann etwa so: „Man dachte, die Hudemannische Muse wäre
gar vollends eingeschlafen. Aber sie hat sich noch einmal aufgerichtet, sich ausgedehnt und
gegähnet. Sie muss aber doch sehr schlaftrunken gewesen sein, weil sie gleich wieder eingeschlafen ist.“ Wer dem Kritiker das Recht gibt, so mit dem Autor zu verfahren? Er sich selbst.
Nur geschundene Autoren können auf die Idee kommen, der Kritiker müsse sich rechtfertigen. Lessings Biograph Willi Jasper schreibt ein bisschen enttäuscht: „Ein neues Literaturprogramm hatte er nicht zu bieten...Er dachte und formulierte überspitzt, undogmatisch und
scharf - aber wenig programmatisch.“ Lessing hatte seinen Geschmack und sonst keine Maßstäbe. Auch da war er ein Heutiger.
Das Bemerkenswerte an Lessing ist, dass er seinen Ruhm trotz seiner Polemik und Kritik errungen hat. Seine Landsleute konnten damit nämlich bald nicht mehr viel anfangen: Das deutsche Gemüt des 19. Jahrhunderts hatte es lieber waldig-raunend als spöttisch-schneidend.
Seinen Platz im Pantheon der Klassik erhielt Lessing als Trauerspieldichter der Emilia und als
Moral-Dramatiker des Nathan. Der andere Lessing, der eines Voltaire und Diderot würdig war,
den retuschierten die Deutschen lieber weg.
So wie 1929 jener Braunschweiger Mediziner, der die Ferndiagnose anstellt, Lessings widersprüchlicher Charakter sei eine typische Eigenschaft des „cyklothymen Pyknikers“, und solche Menschen neigten nun mal zu jener Krankheit, „die man als manisch-depressives Irresein
bezeichnet.“
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Emilia Galotti
Wahrheitssucher
Ein Wahrheitssucher wurde Lessing gern genannt, ein Wahrheitssucher allerdings, der seine
Aussagen nie als dogmatisch begriff, sondern der eine gewisse Skepsis gegenüber allem
bewahrte. Hannah Arendt erhielt am 28. September 1959 den Lessing-Preis der Freien und
Hansestadt Hamburg. In ihrer Rede sprach sie auch über Lessing:
„Was Lessing betrifft, so hat ihn das gefreut, was die Philosophen seit eh und je [...] so bekümmert hat, nämlich daß die Wahrheit, sobald sie geäußert wird, sich sofort in eine Meinung
unter Meinungen verwandelt, bestritten wird, umformuliert, Gegenstand des Gesprächs ist
wie andere Gegenstände auch. Nicht nur die Einsicht, daß es die eine Wahrheit innerhalb der
Menschenwelt nicht geben kann, sondern die Freude, daß es sie nicht gibt und das unendliche Gespräch zwischen den Menschen nie aufhören werde, solange es Menschen überhaupt gibt, kennzeichnet die Größe Lessings.“
Hannah Arendt: Rede am 28. September 1959 bei der Entgegennahme des Lessing-Preises
der Freien und Hansestadt Hamburg. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt, 1999
Der Lessing-Biograf Hugh Barr Nisbet hat sich die Mühe gemacht, einmal alle Betätigungsfelder Lessings aufzuzählen, wie das folgende Zitat eindrücklich beweist:
„Lessing war Dichter und Dramatiker, Literaturtheoretiker, Kritiker, Historiker der Literatur,
Kunst und Religion, klassischer und mediävistischer Philologe, Paläograph, Bibliothekar und
Archivar, Philosoph und Ästhetiker, gut informierter Amateur in Theologie und Patristik, Übersetzer aus mehreren Sprachen und außerordentlich produktiv als Rezensent und Herausgeber. Zu den Literaturgattungen, in denen er sich auszeichnete, gehören die Ode, das Lied,
das Lehrgedicht, die Verserzählung, das Epigramm, die Fabel, der Aphorismus, die Komödie
und Tragödie, das Parabelstück, Dialog, Satire und Polemik; die einzigen seinerseits gängigen
Gattungen, in denen er sich auffälligerweise nicht versuchte, waren der Roman und das Versepos.“
Hugh Barr Nisbet: Lessing – Eine Biographie. München: C.H. Beck, 2008.
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Emilia Galotti
Szenenfoto mit Hagen Löwe und Danielle Schneider
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Emilia Galotti
Die Galottis – Bürgertum oder Adel?
Obwohl Lessing seine Emilia Galotti nur mit „ein Trauerspiel“ untertitelte, wird das Stück meistens als „bürgerliches Trauerspiel“ eingeordnet. Ein naheliegender Interpretationsansatz ist
daher immer der Konflikt zwischen Adel und Bürgertum. Tatsächlich wird die Bürgerlichkeit
der Familie Galotti in verschiedenen Interpretationen angezweifelt.
„Ein verbreitetes Mißverständnis war es, besonders in den 1960er und 1970er Jahren, als
marxistisches Gesellschaftsdenken weithin en vogue war, den Unterschied zwischen den beiden Kreisen als Klassenunterschied zu verstehen, nämlich den von Mittelklasse oder Bürgertum einerseits und Aristokratie andererseits. Mittlerweile herrscht jedoch Übereinstimmung
darüber, daß die Galotti aus dem niederen Landadel stammen. Odoardo hat Grundbesitz und
trat als solcher den territorialen Ambitionen des Prinzen öffentlich entgegen, was undenkbar
wäre, wenn er nicht dem Adel angehörte, und wenn Lessing ihn als „Nicht-Adligen hätte
darstellen wollen, hätte er ihn eindeutig als solchen gekennzeichnet, um der selbstverständlichen Annahme des Publikums zuvorzukommen, daß er ein Landadliger ist. Der entscheidende Unterschied in Emilia Galotti ist nicht der von Klassen, sondern der von Herrschern
und Untertanen, öffentlicher und privater Sphäre und vor allem von höfischer Gesellschaft
und Familienleben im kleinen Kreis und den entsprechenden wechselseitig unvereinbaren
Wertvorstellungen.“
Hugh Barr Nisbet: Lessing – Eine Biographie. München: C.H. Beck, 2008.
„Schwieriger sind die Galotti zu bestimmen. Sind sie begüterte Bürger oder kleine Adlige?
Oberst konnte man als Bürger so gut wie als Adliger werden – und es mutet wie eine absichtliche Nichtfestlegung an, daß Lessing nur den militärischen, nicht den gesellschaftlichen Rang
angibt. Auch daß Odoardo ein Landgut besitzt und sich darauf zur Ruhe gesetzt hat, definiert
seine Standeszugehörigkeit nicht eindeutig. Der soziale Abstand zum Grafengeschlecht der
Appiani ist beträchtlich. Appianis Verbindung Emilia, „ohne Vermögen und ohne Rang“, wird
in Standeskreisen als „Mißbündnis“ angesehen (I, 6). Andererseits spricht der Prinz vom „Geschlecht“ der Galotti (I, 6), wird Claudia „Gnädige Frau“ tituliert (II, 8+9), das war normalerweise Adligen vorbehalten.“
Gerhard Bauer: G.E. Lessing – „Emilia Galotti“. München: Wilhelm Fink, 1987.
Die Bezeichnung „bürgerliches Trauerspiel“ hat folglich weniger mit dem Gegensatz Adel und
Bürgertum zu tun, vielmehr ist der Rückzug ins Private charakteristisch. Wie bereits erwähnt,
lag der Fokus in Tragödien lange auf dem höfischen Leben, das gleichzeitig auch immer ein
öffentliches Leben war. In Emilia Galotti fehlt jegliche politische Perspektive, der Fokus liegt
auf dem privaten Schicksal eines jungen Mädchens und ihrer Familie. Ob diese nun bürgerlich
sind oder nicht, spielt eine untergeordnete Rolle.
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Emilia Galotti
Das Herzogtum Guastalla
Vielleicht ist Italien als Spielort der Emilia Galotti eine Anlehnung an die Verginia-Legende,
sicher ist aber, dass Lessing vermeiden wollte, einen direkten Zusammenhang zwischen seinem Drama und der gegenwärtigen Situation im deutschen Staat herzustellen, um eventuelle
Zensur zu umgehen. Zumal Lessing zum Zeitpunkt der Premiere als Bibliothekar der herzoglichen Büchersammlung Angestellter des regierenden Herzogs Karl I. von BraunschweigLüneburg war.
Mit der Verlegung nach Italien sollte nicht explizit auf dort herrschende Missstände aufmerksam gemacht werden – vermutlich hätte die Geschichte überall seinen Lauf nehmen können.
II. Machtkampf, Pattgesetzt
Von Gerhard Bauer: G.E. Lessing – „Emilia Galotti“. München: Wilhelm Fink, 1987.
Der „Prinz“ – Lessing gebraucht das Wort im Sinne von ‚Fürst’ – ist eben als solcher eindeutig
bestimmt. Es ist einer der zahlreichen Gebieter von kleinen Fürstentümern, die die politische
Wirklichkeit zu Lessings Zeit dominierten. Es wird in einem real existierenden winzigen Herzogtum in Oberitalien angesiedelt. Das wirkliche Guastalla, eine Residenzstadt von 2000 –
4000 Seelen mit nur wenig umliegenden Gebieten, auf die sich die Herrschaft erstreckte, hatte
seine Bedeutung vor allem als Teil eines politischen Plurals. Es gehörte zu den Höfen und Festungen, die sich vom Kaiser oder von anderen, mächtigen Städten für Bündnisse gewinnen
ließen, meist gegen das bedrohliche, reiche Milano. (Seine lokale Bedeutung für die Sicherung
des fruchtbaren Landes gegen die Fluten des Po blieb im Drama außer Betracht). Lessings
„Prinz“ gehört einem Geschlecht an, das dort wirklich vom 16. Jahrhundert an regiert hatte
und Mitte des 18. Jahrhunderts ausgestorben war, einer Nebenlinie der berühmten Gonzaga, die in Mantua und weiteren Stadtgebieten (darunter Sabbioneta) herrschten. Die Guasallischen Gonzaga galten als ziviler und weniger „brutal“ als die mächtigen Vettern in Mantua;
sie werden bis heute (oder heute wieder) von „ihrer“ Stadt hoch verehrt. Lessing erteilt seinem
Helden einen Vornamen (Hettore), der gut italienisch klingt, doch in dieser Familie nicht vorgekommen war, die italienische Form von Hektor, dem Helden des alten Troja, von dem die ganze Tradition von Homer bis auf Lessings Zeiten nur Positives zu berichten wußte. Mit diesen
halb realen, halb fiktiven Festlegungen war das Spielgeschehen hinreichend bestimmt und
genügend allgemein und vage gehalten. Die gegenwärtige Obrigkeit wurde nicht mit der Nase
darauf gestoßen, daß sie selbst gemeint sein könnte, und das Publikum konnte sich seinen
Teil denken. Lessings gebildete Zeitgenossen waren es gewohnt, ihre Verhältnisse in fremden
Ländern, auch in weit exotischeren als Italien, gezeichnet zu finden. Die leisen Anklänge an
die Renaissance und die Verwendung eines Familiennamens, den es nicht mehr gab, ließen
kaum an vergangene Zeiten denken. Dazu waren die dargestellten Zustände, die Form der
Konflikte und ihre Austragung, die Denk- und Sprechweise viel zu gegenwärtig. Lessing stellt
ein Exemplar des Herrschers auf die Bühne, wie dieser damals prinzipiell, seiner gesellschaft16
Emilia Galotti
lichen Funktion nach beschaffen war, wie er in Italien ebenso vorkam wie in Deutschland. Viele
Leser und Zuschauer aus den verschiedensten Fürstentümern des Reiches (nicht einmal die
Stadtstaaten ausgenommen) reagierten auf die Darstellung so, als sei ihnen dieser Typ aus
ihren eigenen spezifischen Erfahrungen bestens bekannt.
17
Emilia Galotti
Historische Vorgängerinnen Emilias
Verginia
Der römische Geschichtsschreiber Livius berichtet über die Legende der Plebejerin Verginia,
die von ihrem Vater ermordet wurde. Grund war die Behauptung des römischen Decemvirs
Appius Claudius, Verginia sei in Wirklichkeit die Tochter einer Sklavin. Die Decemviri war eine
Kommission aus zehn Männern, die die Aufgabe hatten mündlich überlieferte Gesetzestexte
in Schriftform zu bringen. Wäre der Behauptung Glauben geschenkt worden, hätte Verginia
nicht nur ihre Ehre, sondern vielmehr auch ihre Bürgerrechte verloren, so dass der Vater nur
den Tod seiner Tochter als Ausweg sah. Der Fall hatte den Sturz der Decimviri und im Zuge
dessen die Wiedereinführung der Republik zur Folge.
Verginia verkörperte lange das Ideal der sittsamen Frau. Zahlreichen Autoren diente die Legende der Verginia als Vorlage für Dramen und auch Lessing beschäftigte sich ausführlich
damit.
In einem Brief an Friedrich Nicolai schrieb Lessing:
„Sein jetziges Sujet ist eine bürgerliche Verginia, der er den Titel Emilia Galotti gegeben. Er
hat nemlich die Geschichte der römischen Virginia von allem dem abgesondert, was sie für
den ganzen Staat interessant machte; er hat geglaubt, daß das Schicksal einer Tochter, die
von ihrem Vater umgebracht wird, dem ihrer Tugend werter ist, als ihr Leben, für sich schon
tragisch genug, und fähig genug sei, die ganze Seele zu erschüttern, wenn auch gleich kein
Umsturz der ganzen Staatsverfassung darauf folgte. [...]“
zitiert nach Hugh Barr Nisbet: Lessing – Eine Biographie. München: C.H. Beck, 2008.
Lessing wollte mit Emilia Galotti eine moderne, bürgerliche Verginia schaffen, dabei aber eine
politische Dimension zu Gunsten des Privaten vermeiden. Indem er auf den Staatsstreich
verzichtete, richtete er die volle Konzentration auf das Schicksal der Figuren, ganz im Sinne
seines 14. Briefes der Hamburgischen Dramaturgie.
„Die Namen von Fürsten und Helden können einem Stücke Pomp und Majestät geben; aber
zur Rührung tragen sie nichts bei. Das Unglück derjenigen, deren Umstände den unsrigen
am nächsten kommen, muß natürlicherweise am tiefsten in unsere Seele dringen; und wenn
wir mit Königen Mitleiden haben, so haben wir es mit ihnen als mit Menschen, und nicht als
mit Königen. Macht ihr Stand schon öfters ihre Unfälle wichtiger, so macht er sie darum nicht
interessanter. Immerhin mögen ganze Völker darein verwickelt werden; unsere Sympathie
erfodert einen einzeln Gegenstand, und ein Staat ist ein viel zu abstrakter Begriff für unsere
Empfindungen.“
Projekt Gutenberg: Gotthold Ephraim Lessing – Hamburgische Dramaturgie, 14. Brief, 1767
18
Emilia Galotti
Römische Geschichte
Kapitel 44 – 48 (in Auszügen)
Von Titus Livius: Römische Geschichte übersetzt von Konrad Heusinger, Bd. 1. Braunschweig, Vieweg, 1821.
Dem Appius Claudius gab die Liebe zu einer Jungfrau vom bürgerlichen Stande den Entschluß, sie zu entehren. Ihr Vater Lucius Virginius stand bei dem Heere im Algidus als einer der
Hauptleute vom höhern Range; zu Hause und im Felde ein musterhafter Mann. Eben so war
seine Frau erzogen, und so erzogen sie auch ihre Kinder. Die Tochter hatte er dem gewesenen
Tribun, Lucius Icilius, verlobt, einem unternehmenden Manne und um die Partei der Bürgerlichen von bewährtem Verdienste. Als Appius, der vor Liebe glühend dies erwachsene, außerordentlich schöne, Mädchen durch Geschenke und Versprechungen zu verführen suchte,
jeden Zugang durch Keuschheit versperrt sah, so entschloß er sich zu einer grausamen, alles
niedertretenden Gewaltthat. Seinem Schützlinge, Marcus Claudius, gab er den Auftrag, sich
des Mädchens als seiner Sklavinn zu versichern und nicht nachzugeben, wenn man bis zur
Entscheidung ihrer Freiheit Aufschub fordere: da die Abwesenheit des Vaters, wie er hoffte,
seine Ungerechtigkeit begünstigte. Als das Mädchen auf den Markt kam – denn dort standen
unter den Krambuden auch Schulstuben – legte der Kuppler des Decemvirs, indem er sie als
seine Sklavinn anredete, da sie eine Tochter seiner Sklavinn sei, Hand an sie, und befahl ihr,
ihm zu folgen; im Weigerungsfalle werde er sie mit Gewalt fortführen. Während das Mädchen
vor Schrecken starrte, entstand auf das Geschrei ihrer Amme, welche nach Hülfe rief, ein Auflauf. Ihres Vaters Virginius, ihres Bräutigams Icilius beliebter Name wurde laut genannt. Alle,
die sie kannten, machte das Wohlwollen für jene, und den Haufen der Unwille zu Freunden
des Mädchens. Schon war sie vor Gewalt sicher, als der Kläger anfing: „Das zusammengelaufene Volk sei hier ganz unnöthig. Er verfahre nach Recht, nicht mit Gewalt.“ – Er forderte das
Mädchen vor Gericht. Da selbst die, welche sich ihrer annahmen, ihr riethen, mitzugehen, so
kam man vor des Appius Richterstuhl.
Der Kläger sagte seine dem Richter, als Erfinder des Stücks, bekannte Rolle auf. „Diese in
seinem Hause geborene, ihm gestohlne und dem Virginius ins Haus gebrachte Sklavinn, sei
diesem als Kind untergeschoben. [...]“
47. In der Stadt geleitete am frühen Morgen, als die Bürger von Erwartung gespannt schon auf
dem Markte standen, Virginius im Anzuge eines Beklagten, seine Tochter, ebenfalls in veraltetem Kleide, auf den Markt, mit einem Gefolge von mehreren Frauen und vielen Hülfswilligen.
[...]
Gegen dies Alles verhärtet bestieg Appius (so sehr hatte – die Tollheit, möchte man eher
sagen, als – die Liebe, seinen Verstand verrückt) den Richterstuhl; und da der Kläger ganz
kurz sich sogar beschwerte, daß man ihm gestern, um sich gefällig zu machen, sein Recht
vorenthalten habe, so nahm schon, ohne jenen sein Gesuch zu Ende bringen zu lassen, oder
dem Virginius Zeit zur Gegenrede zu gestatten, Appius das Wort. Es kann sein, daß uns ältere
Geschichtschreiber die Erörterung, die er seinem Ausspruche zum Gewande gab, der Wahrheit gemäß überliefert haben. Weil ich aber nirgend eine finde, die einem so abscheulichen
Spruche nur eine erträgliche Wahrscheinlichkeit gäbe, so wird es am Besten sein, das, worin
alle übereinkommen, ohne Hülle darzulegen, daß er dem Kläger das Recht zugesprochen
habe, sich seiner Sklavinn zu bemächtigen.
19
Emilia Galotti
Anfangs waren Alle vor Staunen über das Unbegreifliche einer solchen Scheußlichkeit erstarret, und es erfolgte eine tiefe Stille. Als aber Marcus Claudius hinging, das von Frauen umringte Mädchen zu greifen und mit einem kläglichen Geheule der Weiber empfangen wurde,
so rief Virginius mit gegen den Appius emporgestreckten Händen: „Appius! dem Icilius habe
ich meine Tochter versprochen, nicht dir! und erzogen habe ich sie zur Ehe, nicht zur Schändung! Machst du das zur Sitte, daß man wie das Vieh, wie das Wild, über Alles, was weiblich
ist, wollüstig herfällt? Ob man dir das hier gestatten werde, weiß ich nicht; doch hoffe ich, daß
es die nicht dulden sollen, welche Waffen in den Handen haben.“ Während den verfolgenden
Kläger der Haufe von Weibern und umherstehenden Freunden zurückstieß, ward durch den
Herold Stille geboten.
48. Der Decemvir, außer für die Eingebungen der Wollust, taub gegen Alles, fing an: „Nicht
bloß durch das gestrige Widerbellen des Icilius, nicht bloß durch den Ungestüm des Virginius,
worüber er jetzt das Römische Volk zu Zeugen nehme, sondern durch zuverlässige Aussagen habe er in Erfahrung gebracht, daß sich während der ganzen Nacht Rotten in der Stadt
zusammengethan hätten, um Aufruhr zu erregen. Auf diesen Kampf gefaßt habe er sich mit
Bewaffneten eingefunden; nicht, um irgend Einem der ruhigen Bürger wehe zu thun, sondern
um die Störer der öffentlichen Ruhe der Würde seines Oberbefehls gemäß zu beschränken.
Also rathe ich euch,“ – so fuhr er fort – „ruhig zu sein! Dorthin, Lictor! schlag den Haufen aus
einander und schaffe Platz, daß der Eigenthümer seine Sklavinn greifen kann!“
Als er diese Worte in vollem Zorne herabgedonnert hatte, trat die Menge von selbst aus einander; und das Mädchen stand verlassen da, der Mishandlung zum Raube. Da sprach Virginius,
wie er nirgend Hülfe sah: „Ich bitte dich, Appius, zuerst dem väterlichen Schmerze zu verzeihen, wenn ich mich zu hart gegen dich herausgelassen habe: dann aber erlaube mir, hier im
Angesichte des Mädchens die Amme zu befragen, wie die Sache möglich sei; damit ich, wenn
ich mit Unrecht Vater geheißen habe, so viel eher beruhigt hier abtreten kann.“ Auf erhaltene
Erlaubniß führte er Tochter und Amme auf die Seite, neben dem Tempel der Cloacina zu den
Krambuden, die jetzt die Neuen heißen, und da er hier bei einem Fleischer ein Messer wegriß,
sprach er: „Kind, dies einzige Mittel blieb mir, deine Freiheit zu retten.“ Dann durchstach er
dem Mädchen die Brust und rief, zum Richterstuhle hinaufblickend: „Auf dich, Appius, und
dein Haupt lade ich den Fluch dieses Blutes!“ Appius, durch das über die schreckliche That
erhobene Geschrei aufgeregt, gab Befehl, den Virginius zu greifen. Er aber bahnte sich, wo er
ging, mit dem Messer den Weg, bis er, selbst von der nacheilenden Menge gedeckt, das Thor
erreichte.
Icilius und Numitorius, die den entseelten Körper aufnahmen, zeigten ihn dem Volke und
machten unter Thränen die Gräuelthat des Appius, die unglückliche Schönheit des Mädchens,
die dem Vater gebietende Noth zum Vorwurfe ihrer Klagen. Die Frauen zogen hinterher und
schrieen: „Dazu also sollten sie Kinder gebären? dies sei der Keuschheit Lohn?“ und mehr
dergleichen, wie es ihnen in solchen Fällen der weibliche Schmerz, je inniger er bei ihrem
weicheren Herzen ist, zu so viel rührenderen Klagen eingiebt. Desto lauter war das Geschrei
der Männer, besonders des Icilius, über die dem Volke entrissene tribunicische Macht und
Ansprache, und ihr Unwille über die Lage des Staats.
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Emilia Galotti
Lucretia
Während der Vorbereitungen und Proben beschäftigte sich das Team mit der Legende der
Lucretia, die sich im 6. Jahrhundert vor Christus zugetragen haben soll.
Lucretia wurde von Sextus Tarquinius, einem Verwandten ihres Mannes, vergewaltigt. Nachdem sie ihrem Mann und ihrem Vater von der Tat berichtete und diese ihr glaubten und verziehen, erstach sie sich selbst, da ihre Geschichte nicht zur Ausrede untreuer Frauen werden
sollte. Die Auswirkung dieser Tat war ein Aufstand des Volkes und die Stürzung des bestehenden Regimes.
Der folgende Text stellt Bezüge zwischen der Legende und der heutigen Zeit her.
Über die Entstehung der res publica aus dem Geist der Empörung
Von Peter Sloterdijk in: Kunstforum International, Band 212, 2011.
Abb. 1: TIZIAN, Tarquinius und Lucretia,
1568 – 1571, Öl auf Leinwand, 189 × 145 cm.
21
Emilia Galotti
[...]
Wer Rom erwähnt, sagt zugleich res publica, und wer von dieser spricht, sollte nicht versäumen, nach dem Geheimnis ihrer Anfänge zu fragen. Versuchen wir also zu erklären, wie
es kam, dass die exemplarische "öffentliche Sache" Alteuropas mit einem bedenkenswerten
Affektsturm begann: Der Sohn des letzten römisch-etruskischen Königs, Tarquinius Superbus
junior, war auf die Reize einer jungen römischen Matrone namens Lucretia aufmerksam geworden, nachdem er durch die Prahlereien ihres Gatten Collatinus von deren Schönheit und
Sittsamkeit erfahren hatte. Offensichtlich wollte er nicht hinnehmen, dass ein Untergebener
erotisch glücklicher sein sollte als er selbst, der Spross aus königlichem Haus.
Der Rest ist dank Livius Weltgeschichte und dank Shakespeare Weltliteratur: Der junge Tarquinius dringt in Lucretias römische Wohnung ein und nötigt sie durch eine infame Erpressung,
in ihre Vergewaltigung einzuwilligen (Abb. 1). Nach der erlittenen Entehrung ruft die junge
Frau ihre Verwandten zusammen, berichtet ihnen von den Vorfällen und erdolcht sich vor den
Augen der Versammelten (Abb. 3 bis 6). Eine beispiellose Welle der Erschütterung verwandelt
nun das harmlose Hirten- und Bauernvolk der Römer in eine revolutionäre Menge. Tarquinius
Superbus wird vertrieben, die etruskische Vorherrschaft ist für immer beendet (Abb. 2).
Nie wieder werden Hochmütige an der Spitze des Gemeinwesens geduldet sein. Der Name
des Königs wird für alle Zeiten geächtet – nicht nur ad personam, sondern im Hinblick auf die
monarchische Funktion als solche.
Aus der Konvulsion der Bürger erwächst eine folgenschwere Idee: Die Gemeinwesenlenkung
wird künftig allein von Römern ausgeübt werden, sie wird pragmatisch und profan erfolgen.
Zwei Konsuln halten sich gegenseitig in Schach, ihre jährliche Neuwahl beugt jeder erneuten
Verwechslung von Amt und Person vor. Der religiöse Überbau implodiert, bis auf die Staatsorakel, ohne dies es auch in der Republik nicht geht; für immer bleibt die königliche Superbia
verbannt. Die produktiven Energien des Hochmuts werden auf das Format des Strebens nach
Ansehen durch Vortrefflichkeit zurückgeschraubt, wie in Meritokratien üblich.
[...]
Eine bedeutsame Information sollte der heutige Leser dieser Geschichte festhalten: Die Lucretia-Legende handelt von der Geburt der res publica aus dem Geist der Empörung. Was
man später Öffentlichkeit nennen wird, ist anfangs ein Epiphänomen des Bürgerzorns. Aus
dem Unmut der zusammenströmenden Menge bildete sich das erste Forum. Die erste Tagesordnung umfasste nur einen einzigen Punkt: die Zurückweisung einer herrscherlichen Infamie.
Aus ihrer synchronen Erregung über den zügellosen Hochmut der Machthaber lernten die
einfachen Leute, dass sie von nun an Bürger heißen wollen. Der consensus, mit dem alles
anfängt, was wir bis heute öffentliches Leben nennen, war die zivile Einmütigkeit hinsichtlich
eines unerträglichen Affronts gegen die ungeschriebenen Gesetze des Anstands und des Herzens.
[...]
22
Emilia Galotti
Empörter Bürger trägt seine Dissidenz auf öffentliche Plätze
Abb. 8: Deutsche Lucretia (II):
Ein Polizeibeamter stoppt eine
als Clown verkleidete AntiAKW-Aktivistin Foto: ddp
Abb. 10: Deutsche Lucretia (IV):
Eine "Stuttgart 21"Demonstrantin flüchtet vor dem
Strahl eines Wasserwerfers.
In einer Sitzblockade versuchen
die Demonstranten sein Vorrücken zu verhindern.
Foto: Uwe Anspach, dpa
23
Emilia Galotti
Foto: https://astrologieklassisch.
wordpress.com/2010/10/07/
warnung-an-den-spin-doctorden-stuttgart-einstellt-wegenstuttgart-21/
Bürgerausschaltung mittels Resignation als Spiel mit dem Feuer
Wer versucht, inmitten der Polemiken Beobachterruhe zu wahren, gewinnt ein Bild, das die
verschiedenen Konfliktherde zu einer kohärenten Szene zusammenzieht: Auf breiter Front
sieht man dieselben Bunkerreflexe gegen die Störung der Routinen, dasselbe Ausweichen ins
Mobbing gegen die Träger „unerwünschter Meinungen", dasselbe Unbehagen an der Wortergreifung der Unberufenen, dieselbe Verwechslung von Verstopfung mit Charakterfestigkeit.
Über so viel eingehauste Dumpfheit kann nur eine genauere Analyse des politischen Systems
und seiner Paradoxien hinausführen. Diese würde beginnen mit der Erklärung, warum die
moderne repräsentative Demokratie in der Regel außerstande ist, zu bewirken, was den Caesaren noch scheinbar spielend gelang: Diese waren jahrhundertelang imstande, den systemischen Imperativ der postrepublikanischen Bürgerausschaltung mit dem psychopolitischen
Imperativ der thymotischen Bürgerbefriedigung zu verbinden. Die Modernen scheitern an dieser Aufgabe, seit ihnen die Ausflucht in die nationale Selbstüberhöhung nicht mehr so leicht
fällt wie vor hundert Jahren. Daher stehen ihnen nur zwei Auswege offen, von denen einer
ökonomisch ruinös, der andere psychopolitisch unberechenbar ist: die Bürgerausschaltung
durch Stillhalteprämien und die Bürgerlähmung durch Resignation.
Wie Prämien funktionieren, weiß jeder, der die aktuellen Debatten über den Alimentenstaat
beobachtet. Auch wie die Resignation erzielt wird, ist kein Geheimnis. Diese gleicht oberflächlich der Zufriedenheit unter einer guten Regierung. Sie unterscheidet sich von ihr durch die
mutlos grollende Stimmung, nach deren Urteil die da oben im Grunde doch alle gleich sind.
In solchem Klima können Wahlbeteiligungen, wie in den USA üblich, auf unter 50% absinken,
ohne dass die politische Klasse Grund sähe, sich zu beunruhigen.
Bürgerausschaltung mittels Resignation ist ein Spiel mit dem Feuer, da sie jederzeit in ihr
Gegenteil, die offene Empörung und den manifesten Bürgerzorn umschlagen kann. Hat der
Zorn erst einmal sein Thema gefunden, lässt er sich nicht mehr leicht davon ablenken. Für die
24
Emilia Galotti
politische Klasse kommt die Erschwerung hinzu, dass die moderne Bürgerausschaltung sich
als „Einbeziehung" des Bürgers präsentieren will. Dessen Entpolitisierung muss mit so viel
restlicher Politisierung verbunden bleiben, wie zur Selbstreproduktion des politischen Apparats nötig ist.
Die Steuerbürger in der Position von ewigen Schuldnern
In keiner Hinsicht sind die Bürger unserer Hemisphäre so ausgeschaltet wie in ihrer Eigenschaft als Steuerzahler. Es ist dem modernen Staat gelungen, seine Angehörigen im Moment
ihrer materiellsten Zuwendung zum Gemeinwesen, im Augenblick ihres Einzahlens in die gemeinsame Kasse, die passivste Rolle aufzudrängen, die er zu vergeben hat: Statt die Geberqualität der Zahlenden zu hervorzuheben und den Gabe-Charakter von Steuern respektvoll
zu betonen, belasten die modernen Fiskalstaaten ihre Steuerzahler mit der entwürdigenden
Fiktion, sie hätten bei der öffentlichen Kasse massive Schulden, so hohe Schulden, dass sie
dieselben nur in lebenslangen Raten tilgen können. Im Zentrum des modernen Bürgerausschaltungsgeschehens findet man ein psychopolitisch völlig falsch konstruiertes Steuerwesen. Es raubt den steueraktiven Bürgern den Stolz und drängt sie in die Position von ewigen
Schuldnern des Leviathans. Je leistungsfähiger sie sich zeigen, desto tiefer stehen sie in der
Kreide, je mehr sie zu geben haben, desto mehr sind sie im Minus.
Im übrigen werden die Steuerbürger neuerdings nicht nur im Augenblick ihres Einzahlens in
die Gemeinschaftskasse zur Passivität verdammt, sie erleiden eine Passivität zweiten Grades,
seitdem der Staat sie hinterrücks an die Galeere der öffentlichen Schulden gefesselt hat.
Ohne zu begreifen, wie ihnen geschah, sehen sich die Gebenden in eine Schicksalsgemeinschaft neuen Typs verstrickt. Sie bilden ab sofort eine Kollektivschuldgruppe, die morgen und
bis zu ihrem letzten Atemzug für das bezahlen werden, was die Bürgerausschalter von heute
ihnen aufbürden.
Man sage nicht, die heutige Politik habe keine Visionen mehr. Noch gibt es eine Utopie für unser Gemeinwesen. Wenn das Glück auf unserer Seite ist und alle alles tun, was in ihrer Macht
steht, gelingt am Ende sogar das Unmögliche, die Staatsbankrottvermeidung. Sie ist von nun
an der rote Stern am Abendhimmel der Demokratie.
Durch Zorn entstehen neue Architekturen politischer Teilhabe
Unzählige Kommentare haben seit der 2008 aufgebrochenen Finanzkrise die Gefährlichkeit
der Spekulation an den Finanzmärkten beschworen. Von der gefährlichsten der Spekulationen
war nie die Rede: Die meisten heutigen Staaten spekulieren, durch keine Krise belehrt, auf
die Passivität der Bürger. Westliche Regierungen wetten darauf, dass ihre Bürger weiter in die
Unterhaltung ausweichen werden; die östlichen wetten auf die unverwüstliche Wirksamkeit
offener Repression. Man muss kein Prophet sein, um zu ahnen, in welchem Maß die Zukunft
vom Wettbewerb zwischen dem euro-amerikanischen und dem chinesischen Modus der Bürgerausschaltung bestimmt sein wird. Beide Verfahren gehen davon aus, man könne das Aufklärungsgebot der Repräsentation von positivem Bürgerwillen und gutem Bürgerwissen im
Regierungshandeln umgehen, indem man weiter mit hoher Bürgerpassivität rechnet.
25
Emilia Galotti
Das ging bisher erstaunlich gut: Sogar nach der missglückten Kopenhagener Weltklimakonferenz von 2009 widmeten sich die Bürger Europas in jenem fatalen Dezember lieber ihren Weihnachtseinkäufen als der Politik; sie zogen es vor, mit vollen Tüten nach Hause zu kommen,
statt ihre mit leeren Händen zurückgekehrten „Vertreter" zumindest symbolisch so zu teeren
und zu federn, wie sie es verdient hätten.
Auch ohne divinatorische Begabung kann man wissen: Dergleichen Spekulationen werden
früher oder später zerplatzen, weil keine Regierung der Welt im Zeitalter der digitalen Zivilität
vor der Empörung ihrer Bürger in Sicherheit ist. Hat der Zorn seine Arbeit erfolgreich getan,
entstehen neue Architekturen der politischen Teilhabe. Die Postdemokratie, die vor der Tür
steht, wird warten müssen.
Szenenfoto mit Niels Heuser, Hagen Löwe und Katrin Heinrich
26
Emilia Galotti
Emilias Tod und das Trauerspiel
Warum muss Emilia sterben? Aus heutiger Perspektive ist Emilias Tod eine unverständliche
Wendung der Geschichte und auch die Zeitgenossen Lessings waren mit den Entwicklungen
des Stückes nicht per se einverstanden.
Über Emilias Tod
Von Hugh Barr Nisbet: Lessing – Eine Biographie. München: C.H. Beck, 2008.
Zweifel und Ungewißheiten dieser Art umranken die endlos erörterte Frage, was denn Emilias
tragischer Fehler oder ihre tragische Schuld eigentlich sei, wodurch ihr Tod vielleicht verständlicher werden würde. Nach ihren eigenen Worten zu urteilen, erregte die unziemliche
Annäherung des Prinzen in der Kirche bei ihr das Gefühl einer Mitschuld, und später hält sie
sich für schuldig, weil sie, wie sie fürchtet, ihrem eigenen Geschlechtstrieb nicht widerstehen
könne: „Ich stehe für nicht. Ich bin für nichts gut.“ Nun gibt es in der Literatur des achtzehnten
Jahrhunderts, von Clarissa bis Gretchen, viele junge Frauen, die nach der Verführung oder
Entehrung sterben, aber es gibt da keine, die bloß deswegen sterben, weil sie sexuell anfällig
sind. Und wenn es auch sein mag, daß Emilia darüber erschrocken ist, daß sie Triebe spürt,
die ihre religiöse Erziehung konsequent unterdrückt hat, so muß eben diese religiöse Erziehung ihr doch auch vermittelt haben, daß Selbstmord und Kindesmord Todsünden seien. Eine
Versuchung empfinden ist nicht dasselbe wie ihr nachgeben, und jede Schuld, der sie sich bewußt ist, kann allenfalls hypothetisch sein und folglich völlig unangemessen an ihr Schicksal.
Goethe und andere haben behauptet, Emilia sei insgeheim in den Prinzen verliebt, doch deutet
alles eher auf das Gegenteil. Emilias früherer Bericht über das Benehmen des Prinzen in der
Kirche läßt nicht an sexuelle Erregung denken, sondern nur an Furcht und Hilflosigkeit, was
der Prinz dann auch selbst bestätigt: „Stumm und niedergeschlagen und zitternd stand sie
da; wie eine Verbrecherin, die ihr Todesurtheil höret.“ Auch ist auf Grund von Emilias kurzem,
aber liebevollen Gespräch mit Appiani der Schluß nicht gerechtfertigt, daß ihre Beziehung zu
ihm konventionell und nicht eigentlich eine Gefühlsbindung sei. Die Schwierigkeit aller derartigen Hypothesen liegt darin, daß wir zu wenig über Emilias seelische Verfassung wissen, als
daß sie sich bestätigen ließen, und anders als der Prinz und Odoardo hält sie keine Monologe,
die uns Auskunft geben könnten. Dasselbe ist der Behauptung entgegenzuhalten, daß sie ihre
Schuld oder Schwäche bloß vorgibt, um ihren Vater zu veranlassen, sie zu töten, denn damit
wird lediglich die ursprüngliche Frage durch eine neue ersetzt: was sie denn dazu bewege,
sterben zu wollen, wenn sie jene Schwäche eben nicht empfände. Auch psychoanalytische
Interpretationen haben bisher nicht weitergeführt: einen Konflikt zwischen Emilias Über-Ich
und dem Es festzustellen heißt nur, ihre Freudschen Etiketten versehen, ohne anzugeben, wie
sie sich auswirken; und zu behaupten, Odoardos Beziehung zu seiner Tochter sei Inzest und
Emilia wähle den Tod, um der Mutterrolle zu entgehen, macht die übrigen Gestalten und den
größten Teil der Handlung überflüssig.
27
Emilia Galotti
Die größte Schwierigkeit, auf die man auf der Suche nach einem Schuld-und-Sühne-Schema
bei Emilia stößt, ist durch Emilias fast durchgehende Passivität bedingt, bis die dann in den
Schlußszenen plötzlich Willenskraft entwickelt und ihren Vater veranlaßt, sie zu töten; und bei
diesem Todeswunsch geht es ihr ihren eigenen Worten zufolge um die Bewahrung ihrer Tugend statt um die Sühne für den Verlust ihrer Tugend – womit sie ihre grundsätzliche Unschuld
betont.
Schlecht paßt dazu (und auch zu ihrem anscheinend über jeden Tadel erhabenen Verhalten
vom Anfang des Stücks an) allerdings, daß sie im selben Atemzug bekennt, daß möglicherweise sündige Triebe ihr nicht fremd seien. Dieses Bekenntnis hat lediglich den Zweck, ihre
Lage um etwas Richardsonsches Pathos zu bereichern – das jedoch dadurch auch wieder
erheblich gemindert wird, daß die Zuschauer wissen, daß Emilia kein gefallenens Mädchen ist,
sondern nur möglicherweise eins werden könne. So oder so bleibt eine unaufhebbare Unstimmigkeit zwischen der furchtsamen und anscheinend unschuldigen Emilia der vier ersten Akte
und der entschlossenen und potentiell schuldigen Emilia der Schlußszenen. [...]
Wenn Emilia also keine erkennbare Schuld hat, die schwerwiegend genug wäre, ihren Todeswunsch gerechtfertigt erscheinen zu lassen, auf welche andere Weise hat Lessing dann
die Katastrophe motiviert? Wider erwarten spricht Emilia nicht, was doch völlig verständlich
gewesen wäre, von ihrem Schmerz über die Ermordung ihres Bräutigams als einen Grund für
ihren Todeswunsch – vermutlich weil das im Widerspruch zu ihren Worten über ihre sexuelle
Anfälligkeit stehen würde, die Lessing ihr in den Mund legt, um ihrem Vater ein Motiv für die
Verteidigung ihrer Tugend zu liefern. Auch scheint sie nicht verzweifelt zu sein: ihr fester Entschluß, die gebildeten Anspielungen und komplizierten, ja kasuistischen Argumente, die sie
benutzt, um ihren Vater zu veranlassen, sie zu töten, deuten auf eine Person, der es durchaus
nicht an Selbstbeherrschung fehlt. Doch kommt es hier zu einem eigenartigen Widerspruch:
einerseits beruft sie sich auf den Präzedenzfall der Märtyrerinnen, die sich (Augustin zufolge)
ertränkten, um ihre Tugend zu bewahren. (Es ist allerdings nachgewiesen worden, daß dieser
Verweis ungenau ist, da die betreffenden Frauen nicht, wie Emilia meint, heiliggesprochen
wurden und Augustin sich auch nicht in bestimmter Weise über die äußert, weil er nicht entscheiden konnte, ob göttliche Gnade sie geleitet habe oder nicht. Denn freiwilliges Märtyrertum hatte die frühe Kirche ausdrücklich verboten, und ohnehin trifft der Präzedenzfall nicht
auf Emilia zu, weil sie auf ihre Schwäche statt auf ihren religiösen Glauben als Grund für ihren
Todeswunsch verweist.) Andererseits aber sieht sie keinen Widerspruch darin, sich auf einen heidnischen Präzedenzfall zu berufen (den der römischen Verginia und ihres Vaters), um
Odoardo zu einer Tat zu veranlassen, die die christliche Theologie unter keinen Umständen
rechtfertigen würde; auch zögert sie nicht, diese Verweise mit der höhnischen Bemerkung zu
verbinden, ihr Vater wolle, daß eine Hure aus ihr würde (das Wort wird nicht ausgesprochen,
ist aber unmissverständlich gemeint). Manche Kritiker haben trotzdem die Auffassung vertreten, daß ihr Tod als moralischer Triumph zu sehen ist, als Verteidigung nicht so sehr ihrer
Keuschheit, als ihrer moralischen Autonomie, ob nun im Sinne stoischen Heldentums oder einer Vorwegnahme deutschen Idealismus. Es ist jedoch bekannt, daß Lessing stoische Helden
konsequent ablehnte und den Selbstmord als Indiz mangelnden Glaubens an die Vorsehung
missbilligte, und Emilias Sterben aus Furcht vor der Verführung mit der Erfüllung des kategorischen Imperativs zu vereinbaren würde einigen Scharfsinn erfordern.
Daß Emilia vielfache, sogar sich wechselseitig ausschließende Gründe für ihren Todeswunsch
angibt, und darunter einige (wie die Analogie mit den christlichen Märtyrerinnen), die Lessing
28
Emilia Galotti
selbst kaum ernst genommen hätte, weist eindeutig darauf hin, daß er bei ihrer Motivation
und der ihres Vaters ein ungutes Gefühl hatte. Kein Wunder, daß die Schlußszenen, die auf
die lebendige und im allgemeinen überzeugende Handlung folgen, die Regisseure schon seit
langem zur Verzweiflung bringen: mit den Worten eines frühen Kritikers (der damit die Hamburgische Dramaturgie gegen Lessing selbst zitiert) stirbt Emilia „am fünften Akt“. Man kann
daraus nur mit vielen von Lessings Zeitgenossen schließen, daß es ihm nicht gelungen ist, den
Tod der Virginia völlig überzeugend zu modernisieren, nachdem er die Vorgeschichte der politischen Unterdrückung ausgeschieden hatte, die Virginias Vater zu seiner verzweifelten (wenn
auch im römischen Recht legitimen) Tat und seine Mitbürger zum Aufstand trieb. Tatsächlich
ist fraglich, ob Odoardos Tat – selbst im völligen Einverständnis mit seiner Tochter – sich jemals als gerechtfertigt darstellen lassen könne, sei es im christlichen oder im säkularen menschenrechtlichen Kontext: wie moralisch der Zweck auch sein mag, kann er eine so eklatant
unmoralische Tat wie die Ermordung einer Tochter nicht rechtfertigen.
Die Fähigkeit zu Trauern
Der Literaturwissenschaftler Joseph Vogl beschreibt im Gespräch mit Alexander Kluge die
Funktion des (Helden-)Todes im bürgerlichen Trauerspiel im Gegensatz zum tragischen Heldentod der Antike.
Furcht und Mitleid im Leben und auf der Bühne
Furcht und Mitleid zu erzeugen, ist das Projekt des bürgerlichen Trauerspiels
Von Alexander Kluge und Joseph Vogl: Soll und Haben – Fernsehgespräche. Zürich: diaphanes, 2009.
Vogl: Das Trauerspiel ist die Versammlung maskierter Menschen als Bürger, maskierter Menschen auf einer Bühne, um nicht Affekte, sondern bestimmte Gefühle, im wesentlichen
Furcht und Mitleid hervorzurufen. Das Trauerspiel ist eine komplizierte Intrige mit schlechtem Ausgang, in der das Publikum, die vor der Bühne sitzenden Zuschauer, Partei ergreifen, ja mehr noch, selbst Partei sind im Spiel, und zwar auf eine komplexe Art: eben
durch Furcht und Mitleid, und das heißt durch Mitleid mit den Helden auf der Bühne und
durch Furcht um sich selbst. Der Zuschauer ist also unmittelbar Beteiligter. Jeder, der
im Zuschauerraum sitzt, weiß, mein Schicksal wird auf der Bühne verhandelt, und jeder
Schauspieler weiß, dass er nur dann gut spielt, wenn er so spielt, dass tatsächlich auch
ich in seiner Maske auf der Bühne stehen könnte. In dieser wechselseitigen Verschränkung von Bühne und Zuschauerraum entfaltet das Trauerspiel seine höchste Macht.
Kluge: In Deutschland ist das bei Lessing so.
Vogl: Bei Lessing beispielsweise.
Kluge: Er führt das ein gegen Voltaire, gegen den Franzosen.
Vogl: Gegen die klassizistische Tragödie in Frankreich und vor allem die große Politik der
Tragödie. Die Tragödien Corneilles und Racines zeichnen sich ja nicht zuletzt dadurch
aus, dass es darin eigentlich keine privaten Empfindungen gibt, sondern nur öffentliche
Affekte; also sind einzelne Affekte tatsächlich politische Geschosse, sie haben eine ge29
Emilia Galotti
wisse Kurve über die Bühne hinweg, sie sind Ballistik, es gibt eine Ballistik der Affekte,
wenn man so will, und in der Hinsicht ist die Tragödie eigentlich immer auch eine bestimmte Art des Kriegstheaters, eine bestimmte Art der großen Politik. Sie ist im Grunde
eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, so wie der Krieg eine Fortsetzung der
Politik mit anderen Mitteln ist. Und das ändert sich ganz entscheidend mit dem bürgerlichen Trauerspiel, mit seiner Programmatik und vor allem auch mit seiner politischen
Dimension. Ganz wesentlich ist, dass die Größe der Tragödie, die die Figuren über Kontinente, Erdreiche, Länder hinweg laufen lässt, plötzlich zusammenschnurrt auf einen
Raum, auf den Familienraum, auf die Kleinfamilie, auf das Wohnzimmer, das es damals
noch nicht gibt, aber auf irgendetwas Salonartiges, in dem gehegte Affekte, nämlich Gefühle zur Inszenierung kommen.
Gegensatz zwischen antiker Tragödie und Trauerspiel / Emilia Galotti, Lady Diana und
der unverdiente Tod
Vogl: Der Tod des tragischen Helden ist einer, der dort, wo er einmal stattgefunden hat, eine
schreckliche Konsequenz reklamiert und nicht das Inkonsequente eines Unfalltodes hat.
Das heißt also, in der Tragödie kann, muss der Tod dem Tod noch zugeschrieben werden, es werden Zuschreibungsfragen aufgeworfen.
Kluge: Und heute – nehmen sie etwa den Unfalltod von Lady Diana – gilt eher das Gegenteil?
Vogl: Das scheint mir heute eher das Gegenteil dazu zu sein, und schon das bürgerliche Trauerspiel, glaube ich – das spielt auch im Zusammenhang mit Lady Diana eine gewisse
Rolle –, kann mit dem verdienten Tod oder mit der Zuschreibung des Todes und mit der
Vollendung der Tragödie durch die Annahme eines Schuldzusammenhangs nicht mehr
viel anfangen. Es ist der unverdiente Tod, es ist der zufällige oder völlig inkonsequente
Tod, der eine spezielle, moralische Frage freisetzt, die sozusagen wie ein Dunst den
Augenblick des Sterbens selbst umhüllt. Um ein Beispiel zu nennen: Emilia Galotti etwa
stirbt in Lessings Drama völlig unverdient, sie will sich selbst töten, weil die der Nachstellung eines Hofschranzen ausgesetzt ist, und sie wird dann schließlich von ihrem Vater
getötet. Das ist eigentlich untragisch, hier gibt es keine tragische Schuld. Dieser Tod ist
in jeder Hinsicht unverdient und hat seine Logik einzig und allein in der Veredelung eines
moralischen Satzes, der dort erscheint: Unbestechlichkeit in schwieriger Lage. Ich glaube, vor dieser Perspektive ließe sich auch der unverdiente Tod Dianas, dieser Unfalltod
lesen. Auch hier wird nachträglich ein moralischer Satz oder Sinn eingefädelt, der eine
Konfliktlage inszeniert und einen sittlichen Mehrwert hervorbringt: auf der einen Seite
die Real- und Heiratspolitik, die das englische Königshaus betreibt, und auf der anderen
Seite Diana als Attraktion einer mitfühlenden Gemeinschaft, die weit über die Grenzen
Englands hinausgeht und sozusagen eine universale Mitmenschlichkeit meint. Dieser
moralische Einsatz wurde im unverdienten Tod Dianas mobilisiert und hat dann schließlich dramatischen Charakter gewonnen, Nachhall eines eher bürgerlichen Trauerspiels.
Das ist eine ganz andere Geschichte als der Tod des tragischen Helden, der immer in
letzter Konsequenz, wenn auch ungewollt schuldig wird.
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Emilia Galotti
Anregungen für den Unterricht I
Teil I
Diese Variante bietet sich als Zusammenfassung oder Resümee des Gelesenen, Gesehenen
und Erlebten an. Es handelt sich dabei um eine Textarbeit in Verbindung mit einer szenischen
Umsetzung
Die Schüler werden in fünf Gruppen eingeteilt. In den Gruppen werden in 15 Minuten die unterschiedlichen Charaktere des Stückes untersucht. Ihre (moralischen) Haltungen und Handlungsmotivationen stehen dabei im Mittelpunkt. Dazu ist es hilfreich entsprechende Textpassagen zu finden, die die Überlegungen belegen. Folgende Fragestellungen sollen dabei in
Betracht gezogen werden:
Worum geht es der Figur zu Beginn des Trauerspiels? Wie ergeht es ihr/ihm am Zeitpunkt der
Katastrophe? Welche Charaktereigenschaften haben die jeweiligen Figuren? Verändert sich
ihre Haltung im Verlauf der Geschichte? Welche Motivation steckt hinter den Aktionen der
Figuren? Welche Haltungen stehen hinter ihren Handlungen? Welche Werte vertritt die Figur?
Welche Lebenskonzepte gibt es?
Eigenschaften und Haltungen folgender Personen gilt es herauszufinden und zu belegen:
•
•
•
•
•
Emilia Galotti
Marinelli
Odoardo Galotti
Klaudia Galotti
Prinz Hettore.
Im Anschluss werden die Ergebnisse, sowie Textbelege in der Klasse vorgestellt.
Teil II
Odoardo. Ich ward so wütend, daß ich schon nach diesem Dolche griff um einem von beiden das Herz zu durchstoßen.
Emilia.
Um des Himmels willen nicht, mein Vater! – Dieses Leben ist alles, was die Lasterhaften haben. – Mir, mein Vater, mir geben Sie diesen Dolch.
Odoardo.
Kind, es ist keine Haarnadel. – Auch du hast nur ein Leben zu verlieren.
Emilia.
Und nur eine Unschuld!
Odoardo.
Die über alle Gewalt erhaben ist. –
Emilia.
Aber nicht über alle Verführung. – Gewalt! Gewalt! wer kann der Gewalt nicht
trotzen? Was Gewalt heißt, ist nichts: Verführung ist die wahre Gewalt. – Ich
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Emilia Galotti
habe Blut, mein Vater. Auch meine Sinne sind Sinne. Ich stehe für nichts. Ich
bin für nichts gut. Ich kenne das Haus der Grimaldi, es ist ein Haus der Freude.
Eine Stunde da, unter den Augen meiner Mutter – und es erhob sich so mancher
Tumult in meiner Seele, den die strengsten Übungen der Religion kaum besänftigen konnten! – Der Religion! Und welcher Religion? – Nichts Schlimmeres zu
vermeiden, sprangen Tausende in die Fluten und sind Heilige! – Ehedem wohl
gab es einen Vater, der seine Tochter von der Schande zu retten, ihr den ersten,
den besten Stahl in das Herz senkte – ihr zum zweiten Male das Leben gab. Aber
alle solche Taten sind von ehedem! Solcher Väter gibt es keinen mehr!
Odoardo.
Doch, meine Tochter, doch! – Gott, was hab ich getan!
(Auszug aus der Spielfassung „Emilia Galotti“ von Sascha Bunge)
Nachfolgend wird jeweils einer aus den jeweiligen Gruppen gewählt, der den untersuchten
Charakter vertritt (Emilia, als Geist; Marinelli, Odoardo, Klaudia, Prinz Hettore). Sie sind die
Zeugen in einer Gerichtsverhandlung, die den Tod Emilias verhandeln. Zudem muss ein Richter bestimmt werden. Der Rest der Klasse nimmt die Rolle der Schöffen ein. Es sollte ein Setting ähnlich einer Verhandlung geschaffen werden. Der Richter sitzt in der Nähe der Schöffen,
die fünf Zeugen nehmen einzeln auf dem Befragungsstuhl vor dem Richter Platz.
Der Richter und seine Schöffen versuchen herauszufinden, ob es sich bei dem Tod von Emilia
um Selbstmord oder Mord handelt. Dabei steht nicht die szenische Darstellung im Vordergrund, sondern das Darstellen der Haltungen und Motivationen der Einzelnen.
Im Zentrum steht folglich nicht die Frage, was hätte ich gemacht. Vielmehr sollen die Ergebnisse aus Teil I als Anhaltspunkte dienen, um die Rolle der fünf Zeugen im Verlaufe der Geschichte nachvollziehbarer zu machen.
Die Gerichtsverhandlung wird vom Richter geleitet, die Schöffen können, nach Aufforderung
des Richters, zusätzliche Fragen stellen. Am Ende kommt es in Absprache mit den Schöffen
zu einem Richterspruch.
Der Workshop erleichtert es die unterschiedlichen Perspektiven und Haltungen der Figuren
zu erkennen. Vor allem die Oppositionsbildung zwischen bürgerlicher Moralvorstellung und
höfischer Freizügigkeit, zu der man heute nur noch wenig Bezug hat, kann dadurch verständlicher werden.
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Szenenfoto mit Thomas Pasieka und Andrej von Sallwitz
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Emilia Galotti
Männer und Macht
Mächtige Menschen geben sich leicht der Illusion hin, ihre Umgebung sei ihr Eigentum. Daraus ergibt sich die Selbstverständlichkeit, alles bekommen zu können und durch den Status
auch die Möglichkeiten, es tatsächlich zu bekommen. Johann van der Dennen erklärt, warum
dieses Verhalten bei Männern häufig auch mit der Eroberung von Frauen zu tun hat.
Sex und Autorität
ein Interview mit dem Soziobiologen Johann van der Dennen
Von Rafaela von Bredow in: Der Spiegel, 25. Mai 2012, Nr. 21.
Frage: Haben mächtige Männer einen übermäßig starken Sexualtrieb oder werden ihre Verfehlungen eher erkannt, weil sie selber so sichtbar sind?
Van der Dennen: Beides könnte wahr sein. Mächtige Männer haben sowohl eine hyperaktive
Libido im Vergleich zu normalen Männern als auch eine größere Bereitschaft, darauf zu
spekulieren, dass sie überall und jederzeit mit ihren sexuellen Aktivitäten davonkommen
können. Macht ist ein starkes Aphrodisiakum. Mächtige Männer erwarten quasi automatisch, dass andere Menschen ihre Wünsche erfüllen. Sex ist bloß ein Teil dieses Spiels.
Auch mächtige Frauen haben einen überdurchschnittlichen sexuellen Appetit.
Frage: Wären Clinton, Berlusconi, Strauss-Kahn und Schwarzenegger den Frauen genauso
hinterhergestiegen, wenn sie keine Machtposition innegehabt hätten? Oder ist es die
Macht an sich, die sie dazu bringt, sich so zu verhalten?
Van der Dennen: Männer, die schließlich eine Machtposition erreicht haben, haben zweifellos
starke Ambitionen in dieser Beziehung, und sie benötigen eine gewisse Risikobereitschaft, ja sogar Skrupellosigkeit. Meiner Meinung nach ist es aber die Machtposition an
sich, die Männer arrogant, narzisstisch und egozentrisch macht, ihnen einen übermäßigen Sexualtrieb verleiht, der sie paranoid und despotisch macht und gierig auf noch
mehr Macht, auch wenn es Ausnahmen zu dieser Regel gibt. Mächtige Männer haben im
Allgemeinen ein scharfes Auge für weibliche Schönheit und Anziehungskraft, und Frauen
fühlen sich im Allgemeinen von mächtigen, erfolgreichen, berühmten, reichen Männern
angezogen. Jede "willige" Frau bestätigt die Macht eines mächtigen Mannes.
Frage: Wo bleiben bei den Männern Einfühlungsvermögen, Fürsorglichkeit und nicht zuletzt
der Verstand?
Van der Dennen: Sex und den starken männlichen Sexualtrieb gibt es auf der Erde schon seit
Millionen von Jahren, lange bevor der Mensch Verstand und Empfindsamkeit entwickelt
hat. Jede sexuelle Handlung beinhaltet eine gewisse Rückentwicklung, bei der Einfühlungsvermögen, Verstand und so weiter vorübergehend ausgesetzt werden. Das trifft,
denke ich, nicht nur auf mächtige Männer zu.
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Emilia Galotti
Frage: Der Psychologe Satoshi Kanazawa hat herausgefunden, dass erfolgreiche Männer
mehr Sex und mehr Sexualpartner haben. Handelt es sich um eine evolutionsbedingte
Verhaltensanpassung?
Van der Dennen: Kanazawa ist nicht der Einzige – Dutzende von Studien haben eine solche
Beziehung festgestellt. Eine interessante evolutionsbiologische Analyse der Verbindung
zwischen Macht, Sex und Vielehe wurde bereits 1986 von Laura Betzig in ihrem Buch
"Despotismus und Differentialreproduktion: Eine darwinistische Betrachtung der Geschichte" vorgestellt. Starke Männchen haben ihre Macht mit ungezügelter Begeisterung in den Dienst des Reproduktionserfolgs gestellt.
Frage: Was glauben Sie, wie nehmen sich diese Männer selber wahr, wenn sie drauf und dran
sind, sich verbotenem Sex hinzugeben?
Van der Dennen: Man muss nicht allzu sehr spekulieren, wenn man meint, mächtige Männer
würden in einer sexualisierten und erotisierten Welt leben. Nicht nur, dass sie erwarten,
jederzeit Sex zu haben, wenn ihnen danach ist; sie erwarten auch, dass jede Frau immer
bereit ist, ihnen diesen Dienst zu erweisen und Spaß daran hat. Sie sind vollkommen
egozentrisch und opportunistisch, und sie nehmen sich einfach das, was sie wollen. Es
trifft sie vermutlich vollkommen überraschend, wenn jemand sich nicht fügen will. Das
Bewusstsein des Verstoßes macht den Sex sogar noch attraktiver.
Frage: Sie wollen jetzt aber nicht sagen, dass jeder, der sich bis an die Spitze kämpft, Gefahr
läuft, ein Vergewaltiger zu werden.
Van der Dennen: Nicht unbedingt. Die meisten mächtigen Männer brauchen nicht zu vergewaltigen, denn sie haben viel häufiger einvernehmlichen Sex als der Durchschnittsmann.
Das schließt nicht aus, dass einige mächtige Männer es wegen des Nervenkitzels machen oder weil sie sehen möchten, ob sie damit durchkommen. Nahezu alle Studien, die
sich mit Vergewaltigung befassen, zeigen, dass es machtlose und ausgestoßene junge
Männer sind, die vergewaltigen.
Frage: Was ist notwendig, um sich mächtig zu fühlen: Reicht eine gesellschaftliche Stellung
aus? Oder braucht es auch Geld? Ruhm?
Van der Dennen: Macht ist gewissermaßen alles verzehrend. Macht geht einher mit Reichtum,
Berühmtheit, Erfolg und mit sexuellem Zugang zu zahlreicheren und vielseitigeren Partnern. Das Einzige, was wirklich nötig ist, damit einer sich mächtig fühlt, ist die Unterwürfigkeit des anderen. Und umgekehrt ebenso.
Frage: Was stellt Macht sonst noch mit den Menschen an?
Van der Dennen: Verzeihen Sie mir dieses Klischee, aber letztendlich ist es tatsächlich so:
Macht korrumpiert.
Das Gespräch führte Rafaela von Bredow.
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Emilia Galotti
Anregungen für den Unterricht II
Zur hier vorgeschlagenen Vor- bzw. Nachbereitung des Trauerspiels Emilia Galotti sind keine
Textkenntnisse nötig. Um einen kurzen Überblick über den Inhalt zu bekommen, empfiehlt
sich die Lektüre folgender Inhaltsangabe:
Prinz Hettore hat ein Auge auf die junge Emilia Galotti geworfen. Er will das bürgerliche Mädchen zu seiner Geliebten machen. Die offensiven Avancen des Prinzen zeigen ihre Wirkung
und verwirren die junge Galotti. Emilia ist bereits dem Grafen Appiani versprochen, der die
Gunst von Emilias Eltern genießt. Als der Prinz von der geplanten Hochzeit erfährt, beauftragt
er seinen Kammerherrn Marinelli, sich etwas einfallen zu lassen. Marinellis Plan kennt keine
Skrupel. Bei einem fingierten Überfall stirbt der angehende Bräutigam und Emilia wird auf das
Lustschloss des Prinzen gelotst, wo sie erneut dem zudringlichen Werben des Prinzen ausgesetzt ist. Mit dem festen Vorsatz, ihre Ehre wiederherzustellen, gibt Emilias Vater dem Geschehen eine unerwartete Wendung. Am Ende eines Tages, nach Intrige, Entführung, Liebeswirren, einem Auftrags- und einem Ehrenmord ist nichts mehr wie es war.
Teil I
„Verführung ist die wahre Gewalt.“, so Emilia kurz vor ihrem Tod zu ihrem Vater. Es ist einer
der Schlüsselsätze des Trauerspiels, der viel über Emilias Situation erklärt. Das Zusammentreffen Emilias mit dem Prinzen ist eine Szene, die bei Lessing nur in Berichten vorkommt. Da
diese Szene aber Ausgangspunkt für alle weitere Handlung ist, entwickelte Regisseur Sascha
Bunge für seine Inszenierung eben jene Szene als Eröffnung seiner Inszenierung von Emilia
Galotti.
Ausgangspunkt für folgende Aufgabe, sollen die Beschreibungen der Kirchenszene durch
Emilia und den Prinzen sein [1. Aufzug/7. Auftritt; 2. Aufzug/6. Auftritt; 3. Aufzug/3. Auftritt].
Die Szenen sollen unter folgenden Gesichtspunkten gelesen werden. Wo stimmen die beiden Beschreibungen überein? Wo sind die Unterschiede? Welche Auswirkungen haben die
Geschehnisse in der Kirche auf Emilia und den Prinzen und ihre Situationen? Welche Auswirkungen kann das auf das Verhalten der beiden haben?
In einem tabellarischen Tafelbild können verschiedene Aspekte verglichen werden. Der Lehrer
übernimmt dabei die Funktion des Moderators.
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Emilia Galotti
Emilia
Hettore
Textstellen, Seitenzahlen
Wem wird berichtet?
Was wird berichtet?
Haltungen zu der Situation
…
Teil II
Die Schüler sollen sich in Zweiergruppen aufteilen, dabei ist die Geschlechterfrage unbedeutend. In Partnerarbeit soll nun die Kirchenszene szenisch umgesetzt werden.
Dazu soll zunächst das Konzept der Szene entwickelt und verschriftlicht werden. Der Text
muss sich dabei sprachlich nicht an Lessing orientieren, sondern darf an die heutige Zeit
angepasst werden. Als Hilfestellung können in die Gruppenarbeit folgende Fragestellungen
mitgegeben werden:
Wie würde ich selbst in so einer Situation agieren und reagieren?
Ist das Verhalten des Prinzen/ Emilias angemessen?
Um eine Szene zu entwickeln, muss auch der Ort, an dem die Szene spielt, bestimmt werden.
Die Ortswahl Lessings für die Szene ist dabei interessant. Sicher liegt eine pragmatische Interpretation nahe, wo sonst könnte der Prinz Emilia alleine erwischen, wenn nicht in der Kirche
beim Gebet? Aber wie wichtig ist die örtliche Setzung in diesem Fall? Wäre Emilias Reaktion
eine andere gewesen, hätte der Prinz sie an einem anderen Ort angesprochen? Für die Szene
dürfen alternative Räume gefunden werden, dabei muss mitgedacht werden, wie ein anderes
Setting auch die Stimmung der Szene beeinflusst (z.B. S-Bahn, Party, Wartezimmer etc.).
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Wahl einer Perspektive. Gibt es einen Erzähler, wird aus der
Sicht des Prinzen oder aus der Sicht Emilias erzählt oder soll ein Dialog entstehen?
Bei der Entwicklung der Szene dürfen sich die Schüler vom Original entfernen, die Szene
sollte inhaltlich stimmig sein.
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Emilia Galotti
Zunächst präsentieren die Gruppen mündlich ihre Ergebnisse. Diese sollen durch die Mitschüler befragt, kritisiert und diskutiert werden. Wird der Bezug zum gewählten Raum klar? Sind
die Figuren in sich schlüssig oder gibt es Widersprüche in ihrem Handeln und Sprechen? Sind
Ihre Reaktionen angemessen? Dabei soll die Umsetzung nicht bewertet werden, da es hierbei
kein „richtig“ oder „falsch“ geben kann, sondern eher Lösungen, die ihren Ansatz „verständlicher“ und „klarer“ herausarbeiten können, als andere.
Der Lehrer übernimmt wieder die Rolle des Moderators.
Teil III
Für die szenische Umsetzung der Konzepte gibt es zwei Möglichkeiten:
1. Die Paare können ihre Szene nach circa 20 Minuten Probenzeit im Klassenverband aufführen. Dabei ist auf die angemessene Zuschauerhaltung hinzuweisen (siehe Hinweise
für den Theaterbesuch). Nach jeder Szene kann der Moderator die Zuschauer befragen,
was sie soeben gesehen haben und ob die Intention, die das Paar zuvor beschrieben hat,
deutlich geworden ist.
2. Per Abstimmung werden die drei interessantesten Konzepte ausgewählt. Die Klasse wird
dann in drei Gruppen gegliedert, die jeweils bestimmte Aufgabenbereiche untereinander
aufteilen (Expertengruppe). Die Gruppen haben 25 Minuten Zeit für die Umsetzung nachfolgender Aufgaben. Nach dieser Zeit findet sich die Klasse zusammen und jede Gruppe
richtet die Bühne ein.
a.Bühnenbild: Diese Expertengruppe überlegt sich, wie das Bühnenbild für ihre Szene
aussehen könnte und fertigt hierzu Skizzen an. Vielleicht können Gegenstände vor
Ort, wie die Tafel, Tische und Stühle etc. auch als Bühnenbild genutzt werden.
b.Kostüm: Die Kostümbildner entwickeln ein Kostümkonzept für die Schauspieler. Die
Designer fertigen Skizzen an, oder sie arbeiten mit den zur Verfügung stehenden Jacken, Mänteln, Pullovern etc.
c.Schauspiel/Regie: Diese Expertengruppe muss sich einigen, ob sie gemeinsam die
Szene entwickeln, oder ob ein Regisseur bestimmt wird, der die Anleitung übernimmt.
Die Szene wird geprobt, Haltungen besprochen, Handlungsabläufe konstruiert.
Zum Abschluss werden die verschiedenen Arbeiten präsentiert. Nach jeder Szene kann der
Moderator die Zuschauer befragen, was sie soeben gesehen haben und ob die Intention, die
das Paar zuvor beschrieben hat, deutlich geworden ist.
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Szenenfoto mit Franziska Ritter und Katrin Heinrich
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Literatur
• Arendt, Hannah in Normann, Ingeborg (Hrsg.): Rede am 28. September 1959 bei der
Entgegennahme des Lessing-Preises der Freien und Hansestadt Hamburg.
Hamburg: Europäische Verlagsanstalt, 1999. 48
• Augstein, Jakob: Die gelehrten Sachen - Gotthold Ephraim Lessing: der erste
Großkritiker der Presse / Serie, Teil V. In: Süddeutsche Zeitung, 7. Januar 2003.
Link: http://www.sueddeutsche.de/kultur/sz-serie-grosse-journalisten-die-gelehrtensachen-1.416212
• Bauer, Gerhard: G.E. Lessing – „Emilia Galotti“. München: Wilhelm Fink, 1987. 10f
• Bredow, Rafaela v.: Sex und Autorität – „Mächtige Männer haben eine hyperaktive
Libido“. In: Der Spiegel, 25. Mai 2012, Nr. 21.
Link: http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/sex-und-autoritaet-maechtigemaenner-haben-eine-hyperaktive-libido-a-764593.html
• Fick, Monika: Lessing Handuch: Leben-Werk-Wirkung. Stuttgart: J.B. Metzler, 2000.
14, 259ff, 279ff
• Hildebrandt, Dieter: Lessing – Biographie einer Emanzipation. München: Hanser, 1979.
8ff, 349ff
• Kluge, Alexander; Vogl, Joseph: Soll und Haben – Fernsehgespräche.
Zürich: diaphanes, 2009. 47ff
• Lessing, Gotthold Ephraim: Hamburgische Dramaturgie, 14. Brief, 1767
Link: http://gutenberg.spiegel.de/buch/1183/16
• Livius, Titus: Römische Geschichte übersetzt von Konrad Heusinger, Bd. 1.
Braunschweig, Vieweg, 1821. 61ff
• Nisbet, Hugh Barr: Lessing – Eine Biographie. München: C.H. Beck, 2008.
12, 377f, 639f, 646, 647ff, 653, 872
• Sloterdijk, Peter: Über die Entstehung der res publica aus dem Geist der Empörung.
In: Kunstforum International, Band 212, 2011. 56ff
• Stegemann, Bernd: Lektionen 1 – Dramaturgie. Berlin: Theater der Zeit, 2009. 39
Internetquellen Stand: 30.09.2012
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Hinweise für den Theaterbesuch
Liebe Lehrerin, lieber Lehrer,
viele Kinder und Jugendliche besuchen zum ersten Mal ein Theater oder haben wenig
Erfahrung damit. Wir bitten Sie, im Vorfeld eines Besuches sich mit Ihrer Klasse die besondere
Situation zu vergegenwärtigen und die nachfolgenden Regeln zu besprechen. Damit eine Vorstellung gelingt, müssen sich Darsteller und Zuschauer konzentrieren können. Dafür braucht
es Aufmerksamkeit. Alle Beteiligten müssen dafür Sorge tragen. Wer die Regeln nicht einhält,
beraubt sich selbst dessen, wofür er Eintritt gezahlt hat – und natürlich auch alle anderen
Besucher.
Folgende Regeln tragen zum Gelingen eines Theaterbesuchs bei:
1. Wir bitten, rechtzeitig im Theater einzutreffen, so dass jeder in Ruhe den Mantel und seine
Tasche an der Garderobe abgeben und ohne Eile seinen Platz aufsuchen kann. Unsere Garderobe wird beaufsichtigt und ist im Eintrittspreis enthalten.
2. Während der Vorstellung auf die Toilette zu gehen, stört sowohl die Darsteller als auch
die übrigen Zuschauer. Wir bitten darum, sich entsprechend zu organisieren. In unseren
Programmzetteln lässt sich auch nachlesen, ob es eine Pause in der Vorstellung gibt.
3. Es ist nicht gestattet, während der Vorstellung zu essen und zu trinken, Musik zu hören und
Gespräche zu führen. Mobilfunktelefone und mp3-Player müssen vollständig ausgeschaltet
sein. Während der Vorstellung darf weder telefoniert noch gesimst oder fotografiert werden.
4. Der Applaus am Ende einer Vorstellung bezeugt den Respekt vor der Arbeit der Schauspieler und des gesamten Teams unabhängig vom Urteil über die Inszenierung. Wem es gut
gefallen hat, der gibt mehr Beifall – wem nicht, entsprechend weniger. Wichtig ist, erst nach
dem Ende des Applauses den Saal zu verlassen.
Unser Einlasspersonal der ARTService GmbH steht den Zuschauern als organisatorischer Ansprechpartner am Tag der Vorstellung zur Verfügung.
Wir sind an den Erfahrungen des Publikums mit den Inszenierungen interessiert. Für
Gespräche stehen wir zur Verfügung. Unter www.parkaue.de können unsere Zuschauer einen
Kommentar zu den Inszenierungen abgeben.
Wir freuen uns auf Ihren Besuch.
Ihr THEATER AN DER PARKAUE
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Impressum
Impressum
Spielzeit 2011/2012
THEATER AN DER PARKAUE
Junges Staatstheater Berlin
Parkaue 29
10367 Berlin
Tel. 030 – 55 77 52 -0
www.parkaue.de
Intendant: Kay Wuschek
Redaktion: Marit Buchmeier
Redaktionelle Mitarbeit: Michael Isenberg
Anregungen für den Unterricht: Susann Apelt
Gestaltung: pp030 – Produktionsbüro
Heike Praetor
Fotos: Christian Brachwitz
Titelfoto mit Niels Heuser und
Katrin Heinrich
Abschlussfoto mit Niels Heuser
und Katrin Heinrich
Kontakt Theaterpädagogik:
Stephan Behrmann
Telefon: 030 – 55 77 52 -45
stephan.behrmann@parkaue.de
theater
an
der
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Junges Staatstheater Berlin
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