Parteien im Wahlkampf Europa - Hans-Böckler
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Parteien im Wahlkampf Europa - Hans-Böckler
Mitbestimmung Mitbestimmung 9/2013 september 9/2013 Postvertriebsstück D 8507 Entgelt bezahlt DAS MAGAZIN DER HANS - BÖCKLER-STIFTUNG · WWW.MAGAZIN - MITBESTIMMUNG.DE · VW will mit Werkswohnungen Fachkräfte gewinnen europa · Gesine Schwan fordert Kooperation statt Standortkonkurrenz Gerechtigkeit · Wie die INSM ein Wort marktradikal umdeutet Arbeitsmarkt, Sozialpolitik und die Rolle der Gewerkschaften WSI-HERBSTFORUM AM 27. Und 28. NOVEMBER IN BERLIN Mit Colin Crouch, Claudia Weinkopf, Jill Rubery, Herbert Brücker, Erika Mezger, Alfred Kleinknecht, Brigitte Unger, Reinhard Bispinck, Thorsten Schulten, Martin Behrens u.v.a. Europa steckt in der Eurokrise fest: Der Sozialstaat wird abgebaut, der Arbeitsmarkt dereguliert und viele Lebensbereiche werden dem Markt unterworfen. Wie können Alternativen entwickelt werden? Die Gewerkschaften haben die Chance, zum Motor eines neuen Europa zu werden. Nur nach Voranmeldung www.boeckler.de Telefon: 02 11/77 78-124 Katharina-Jakoby@boeckler.de 5,00 € 56. 5,00 € 59. € 56. Jahrgang Bund-Verlag € 57. Jahrgang Bund-Verlag Aufbau statt Abbruch in Europa Parteien im Wahlkampf · Welche Farbe tut der Arbeit gut? Konzerne Parteien im Wahlkampf Welche Farbe tut der Arbeit gut? Größtes Fachsortiment für Betriebs- und Personalräte www.buchundmehr.de Kündigung wegen 1,30 Euro? Das darf nicht sein! www.betriebsratswahl2014.de Betriebsratswahl 2014: Der Chef zahlt!* Bestellen Sie jetzt online: www.betriebsratswahl2014.de * Der Arbeitgeber trägt die Kosten der Betriebsratswahl! 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In die Richtung zielen auch die Ergebnisse der Beschäftigtenbefragung der IG Metall (Seite 34) oder die Pläne von Klaus Wiesehügel, dem designierten Arbeitsminister in Stein brücks Schattenkabinett, die Rente mit 67 auszu setzen und die Arbeits losenversicherung zu einer „Arbeitsversicherung“ auszubauen (Seite 20). Es ist kein Geheimnis, dass die Vorschläge der Oppositionsparteien mehr mit den Forderungen der Gewerkschaften gemein haben als die Politik der Bundesregierung. Doch das Wahlverhalten wird von vielen Fakto ren beeinflusst, nicht nur von den arbeitsmarkt- und betriebspoli tischen Themen. Parteienforscher Peter Lösche vertritt die These, dass diese Wahl nicht durch Sachthemen, sondern durch die Spitzenkandidaten entschieden wird (Seite 18). Zu dem bleiben immer mehr Menschen den Wahlen fern – ein Trend, der sich vor allem in Teilen der Unterschicht verfestigt (Seite 10). Nur die Kampagnenmacher erhalten sich noch ihren unverbrüchlichen Optimismus (Seite 40). Wechselstimmung sieht anders aus. Respekt verdienen die Männer und Frauen, die sich jetzt als Kandidaten für den Bundestag bewerben. Wer es nicht selbst erlebt hat, kann sich kein Bild machen von ihrer Ochsentour, die auf Campingplätze, zu Denk malseinweihungen und Weinköniginnen führt. Einige dieser Kandidaten, die alle auch gewerkschaftlich enga giert sind, stellen wir vor (Seite 24). Ihre Sichtweisen sind so unterschiedlich wie die Meinungen der Wähler. Selbst wenn dies ein Personenwahlkampf ist, am Ende, das illustriert unser Titelbild, wird es auf die Koalition ankommen. Und die wird mit Sicherheit auch auf den Spitzenkandidaten abfärben. k ay meiners kay-meiners@boeckler.de Mitbestimmung 9/2013 3 Foto: Florian Bachmeier 10 42 T ITEL Bundestagswahl 2013 A RBEIT 10 Die gespaltene Demokratie 4 2 VW baut nicht nur Autos Unterwegs zum Nichtwähler. Von Andreas Molitor 15 Niemand plant, die Mitbestimmung einzuschränken Analyse der Parteiprogramme. Von Marie Seyboth und Rainald Thannisch 18 Das Thema ist zweitrangig Werkswohnungen sind wieder ein Asset. VW setzt darauf, die IG BCE steht zu ihrem Wohnungsbestand. Von Stefan Scheytt Warum diese Wahl eine Personenwahl ist. Von Peter Lösche 46 Kostendruck auf Callcenter 2 0 „Die SPD ist heute eine andere Partei“ Die Insolvenz der Walter Services GmbH wirft ein Schlaglicht auf den ruinösen Wettbewerb der Branche. Von Carmen Molitor IG-BAU-Chef Wiesehügel über seine Chancen als Schatten-Arbeitsminister 24 Diese Leute wollen in den Bundestag Kurz vorgestellt: Sechs Kandidaten aus vier Parteien 30 Pfeiler einer neuen Ordnung der Arbeit DGB-Positionen nach Zitaten von Michael Sommer 3 2 „Betriebsräte brauchen zwingende Rechte“ Yasmin Fahimi, IG BCE, zu Reformen der Mitbestimmung 34 Stimmen der Arbeitnehmer „Arbeit: sicher und fair!“ – zur Beschäftigtenumfrage der IG Metall 3 6 „Der Gesetzgeber muss nur wollen“ Wolfgang Uellenberg, ver.di, über entsicherte Dienstleistungsarbeit 38 Wie die Parteien Arbeit neu ordnen wollen Analyse der Parteiprogramme. Von Barbara Adamowsky 40 Die Kampagnenmacher Wie die Profis Wähler aktivieren wollen. Von Kay Meiners 4 Mitbestimmung 9/2013 RUBRIKEN 3Editorial 6Nachrichten 9 PRO & CONTRA 72rätselhaftes fundstück 73vorschau, impressum 74 MEIN ARBEITSPLATZ Matthias Helmer, Journalist INHALT 48 54 66 P OLITIK W ISSEN AUS DER STIFTUNG 48 Gerechtigkeit à la INSM 5 4 „Da wird eine rote Linie überschritten“ 58 Zur Sache Ein Begriff wird marktradikal umgedeutet. Von Rudolf Speth 50Europa braucht Weitblick Didaktik-Professor Tim Engartner kritisiert den Einfluss der Wirtschaft auf Schule und Lernmaterialien. Karin Schulze-Buschoff über Auswege aus der Altersarmut 60Böckler-Tagungen Debatte: Gesine Schwan will den Standortwettbewerb überwinden AVE von Tarifverträgen Bilanz der Energiewende 53Es liegt nicht nur an den Löhnen 63 Tipps & Termine 64Böckler-Nachrichten Debatte: Michael Wendl zu den Ungleichgewichten in der Eurozone 66 Die Wegbereiterin interview Ministeranwärter Klaus Wiesehügel kann nichts so leicht umwerfen. Die Agenda 2010 konnte seine Treue zur SPD nicht brechen; ebensowenig dämpfen Umfragewerte seinen Siegeswillen. Beim Mindestlohn aber wäre er zu keinem Kompromiss bereit. Seite 20 Foto: Stephan Pramme Altstipendiatin Kathrin Mahler Walther kämpft für Chancengleichheit. Von Susanne Kailitz MEDIEN 68 Buch & mehr 70Website-Check Mitbestimmung 9/2013 5 Foto: Arnulf Stoffel/dpa BILD DES MONATS Torschlusspanik … … befällt in diesem Sommer deutsche Schiffer häufig. Denn wie hier bei Wesel am Niederrhein oder am Nord-Ostsee-Kanal bleiben die Schleusen zu. Weil die Wärter streiken. Verkehrsminister Peter Ramsauer will die Behörde für Wasser- und Schifffahrtsverwaltung komplett umkrempeln. ver.di fürchtet den Abbau von 3000 der 12 000 Arbeitsplätze und fordert einen Tarifvertrag zum Schutz vor betriebsbedingten Kündigungen und Versetzungen. Jetzt scheint der Verkehrsminister einzulenken. „Es finden Gespräche auf höchster Ebene statt“, bestätigt Onno Dannenberg, ver.di-Tarifsekretär für den Öffentlichen Dienst. An der Kampfbereitschaft der Schleusenwärter ändert das nichts. „Wenn es sein muss, streiken wir zeitgleich und deutschlandweit“, sagt ver.di-Mann Jochen Penke. ■ Salzgit ter IG Metall pocht auf Zukunftsvertrag Die IG Metall stemmt sich gegen die geplanten Stellenstreichungen bei der Salzgitter AG. Deutschlands zweitgrößter Stahlkonzern hat nach Bekanntgabe eines Halbjahresverlusts von mehr als 300 Millionen Euro angekündigt, 1500 der 23 000 Stellen zu streichen. Das will die IG Metall nicht ohne Weiteres hinnehmen. Sie verweist auf den sogenannten Zukunftsvertrag zwischen der Gewerkschaft und der Unternehmensleitung. Darin sind wichtige Arbeitnehmerinteressen festgehalten. Er hat eine Laufzeit bis zum Jahr 2018. „Demnach 6 Mitbestimmung 9/2013 sind betriebsbedingte Kündigungen ausgeschlossen“, sagt HansJürgen Urban, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall und stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender bei Salzgitter. Unter anderem regelt der Zukunftsvertrag auch, wie mögliche Alternativarbeitsplätze beschaffen sein müssten. Zudem legt er die Höhe von etwaigen Abfindungen fest. „Wir haben bei Salzgitter einen hohen Grad an Mitbestimmung. Den gilt es jetzt zu nutzen“, bekräftigt Salzgitter-Aufsichtsratsmitglied und IG-Metaller Urban. ■ NACHRICHTEN drei z ahlen , drei meldu ngen US-Fast-Food-Br anche 864 Spartipps vom Arbeitgeber für die Burger-Flipper Euro monatlich hatte der Durchschnitts-Student im vergangenen Jahr zur Verfügung. Allerdings hat ein Drittel der Studierenden höchstens 700 Euro, während gut jeder Vierte auf 1000 Euro und mehr kommt. Tausende von Beschäftigten in US-amerikanischen FastFood-Restaurants haben Ende Juli für höhere Löhne gestreikt. Von New York bis Detroit und von Chicago bis St. Louis traten die „Burger-Flipper“ in den Ausstand, um für ihre Arbeit bei McDonald’s, Taco Bell, Subway und anderen Imbissketten einen Stundenlohn von 15 Dollar (etwa 11,30 Euro) einzufordern – rund das Doppelte des Mindestlohns von 7,25 Dollar. Die landesweite Kampagne wird von der Dienstleistungsgewerkschaft SEIU und vielen lokalen Gruppen getragen und richtet sich gegen eine notorisch arbeitnehmerfeindliche Branche, die durchschnittlich nur 9,05 Dollar pro Stunde bezahlt, weshalb U n g le i c h e S t u de n t e n - B u dg e t s Einnahmen pro Monat, Anteil Studierende 2012 Durchschnitt: 864 Euro 31 % 44 % ■ 1001 Euro und mehr: 26 % ■ unter 700 Euro: ■ 701 bis 1000 Euro: Quelle: DSW Sozialerhebung, 2013 53% Foto: John Minchillo/AP Photo der Arbeitnehmer in Westdeutschland arbeiten in Betrieben, für die ein Branchentarif gilt. Weitere 20 Prozent sind bei Unternehmen beschäftigt, die sich zumindest am Branchentarif orientieren, für sieben Prozent gilt ein Haustarifvertrag (Stand 2012). McDonald’s-Beschäftigte begehren auf gegen die Armutslöhne. Zehntausende einem zweiten Job nachgehen und dennoch Essensmarken beziehen müssen. Nur wenige Wochen vor dem Streik hatte McDonald’s seine schlecht bezahlten Angestellten mit einer Spartipp-Broschüre verhöhnt: Um über die Runden zu kommen, sollten sie zu Fuß gehen, mit dem Fahrrad fahren oder nicht mehr die gebührenpflichtigen Geldautomaten fremder Banken benutzen. Zwar bezweifeln selbst gewerkschaftsnahe Beobachter, dass die Arbeitgeber unmittelbar auf die Forderungen eingehen werden – bislang ist keines der rund 200 000 Imbissrestaurants gewerkschaftlich organisiert –, sie hoffen jedoch, dass der mediale Druck Politiker in Stadt- und Bundesstaatsparlamenten sowie im Kongress empfänglicher für eine Erhöhung des Mindestlohns macht. Unterdessen empfahl der chinesischstämmige US-Amerikaner, Wissenschaftler und frühere Redenschreiber Bill Clintons, Eric Liu, den Arbeitgebern eine „patriotische“ Sichtweise: „Heute ist ein Viertel aller US-Angestellten Geringverdiener. Wenn der Profit nicht fairer verteilt wird, werden es in elf Jahren 50 Prozent sein“, warnte er. ■ B r a n c h e n ta r i f b le i b t pr äg e n d Arbeitnehmer in Westdeutschland in Betrieben ... ■ mit Branchentarif ■ mit Orientierung am Branchentarif 20 % 53 % ■ mit Haustarif 7 % ■ ohne Tarif 20 % Quelle: IAB, Juni 2013 22 900 Männer arbeiteten 2011 als Kindergärtner bzw. Erzieher. Das waren zwar fast doppelt so viele wie zehn Jahre zuvor, gemessen an den 460 100 Erzieherinnen in Deutschland ist der Männeranteil noch immer sehr niedrig. K i n de rg ä r t n e r i n n e n b le i b e n u n t e r s i c h Beschäftigte in Kinderbetreuung und -erziehung, 2011 (2001 in Klammern) Frauen: 460 100 (356 500) Männer: 22 900 (11 900) Quelle: Bundesagentur für Arbeit, Juli 2013 Mitbestimmung 9/2013 7 BAG-Urteil Rheinbahn Punktesystem für weniger Stress Betriebsrat darf unbefristeter Leiharbeit widersprechen Foto: Rheinbahn AG Reisestrapazen – wer kennt das nicht? Sechseinhalb bis neun Stunden auf Achse zu sein, für die gut 1200 Bus- und Bahnfahrer der Düsseldorfer Verkehrsbetriebe, der Rheinbahn, ist das tägliche Routine. Die Folge: Stress. Darum wird ab November schrittweise die Betriebsvereinbarung „Rote Karte für rote Dienste“ eingeführt. Gemeinsam mit dem Vorstand hat der Betriebsrat ein Punktesystem entwickelt, das die Belastungen gleichmäßiger verteilen soll. Jeder Dienst erhält Punkte nach Kriterien wie etwa Schichtlänge oder der Anzahl der Fahrzeugwechsel. Dienste bis 51 Punkte gelten als grün, ab 68 Punkten ist ein Dienst Rheinbahn-Arbeitsdirektor Klar (l.) und BR-Vorsitzender David zeigen stressigen Arbeitsbedingungen die rote Karte. rot. So sind die Dienste besser vergleichbar und können unter den Fahrern gerechter verteilt werden. Die 170 „roten Dienste“ sollen bis zum Sommer 2014 abgebaut sein. „Wir kommen damit nicht nur den gesundheitlichen Ansprüchen unserer Fahrer nach, sondern werden auch den Anforderungen einer längeren Lebensarbeitszeit gerecht“, sagt Betriebsratsvorsitzender Uwe David, der auch berichtet, dass „andere Verkehrsbetriebe großes Interesse an unserer Lösung zeigen“. Diese steht am Ende eines längeren Prozesses. In einer Umfrage unter Rheinbahnfahrern wurden die Stressfaktoren ermittelt. Das Ergebnis: Vor allem die Schichtlänge und die Einhaltung der Fahrplanzeiten belasten die Fahrer. „Die Kollegen haben vormals oft ihre Pausen verkürzen müssen, oder sie waren unpünktlich“, sagt David. „Das wirkte sich auch auf die Kundenzufriedenheit aus.“ Dieses Argument überzeugte schließlich auch den Vorstand von der neuen Betriebsvereinbarung. ■ 8 Mitbestimmung 9/2013 Leiharbeit darf nicht dazu missbraucht werden, eine Belegschaft dauerhaft in Stammbeschäftigte und entliehene Arbeitnehmer aufzuspalten. Das stellte das Bundesarbeitsgericht (BAG) in einer viel beachteten Entscheidung klar und sprach Betriebsräten daher das Recht zu, bei unbefristeter Einstellung von Zeitarbeitskräften die Zustimmung zu verweigern. Die 2011 in Kraft getretene Gesetzesänderung, die Arbeitnehmerüberlassung ausdrücklich nur „vorübergehend“ erlaubt, sei nicht lediglich als „unverbindlicher Programmsatz“ zu verstehen, betonten die Erfurter Richter. Eine konkrete Höchstdauer legten sie allerdings nicht fest (Beschluss 7 ABR 91/11 vom 10. Juli 2013). Im verhandelten Fall ging es um die „Braunschweiger Zeitung“, die freie Stellen im Verlag seit einigen Jahren fast ausschließlich mit Leiharbeitskräften besetzt – zu schlechteren Konditionen als das Stammpersonal. An der genutzten Zeitarbeitsfirma sei die mittlerweile zum WAZ-Konzern gehörende Zeitung zudem selbst beteiligt, berichtet Volker Stehr, langjähriger Betriebsratsvorsitzender der BZV Medienhaus GmbH. „Das war die absolute Sauerei.“ Dennoch habe der Betriebsrat vor Gericht reihenweise Niederlagen erlitten, wenn er der Besetzung von Stammarbeitsplätzen durch Leiharbeiter widersprochen hatte. „Ich bin sehr froh, dass das BAG so entschieden hat“, sagt der 65-Jährige, der im Frühjahr in den Ruhestand gewechselt war. ■ Betriebsr atswahl H&M ruft die Polizei Eine Provinzposse hat sich bei der Betriebsratswahl in einer Filiale von H&M in Heilbronn abgespielt: Der Filialleiter des schwedischen Bekleidungshauses störte sich am Besuch eines ver.di-Wahlbeobachters. Dabei hatte ver.di-Sekretär Thomas Müssig den weiteren Gewerkschafter tags zuvor sogar angekündigt – ohne dabei auf Widerstand zu stoßen. Dennoch rief der Marktleiter während der laufenden Wahl die Polizei, um den unliebsamen Besucher rausschmeißen zu lassen. Doch die rückte vergeblich an. Denn rechtzeitig vor ihrer Ankunft hatte Müssig den Gesamtbetriebsrat von H&M eingeschaltet. Und der wiederum alarmierte die deutsche Geschäftsleitung des Konzerns. Ihr gelang es, den zornigen Filialleiter zur Räson zu bringen. „Ab einer bestimmten Ebene setzt dann eben doch die Vernunft ein“, sagt Müssig. Die sechs Polizisten trollten sich schließlich und hätten ohnehin unrecht daran getan, den ver.di-Mann vor die Tür zu setzen. Denn auf Einladung des Wahlvorstands genoss er Zutritts- und Aufenthaltsrecht. Mittlerweile hat der neue Betriebsrat seine Arbeit aufgenommen. Bei einer Wahlbeteiligung von 70 Prozent haben die 56 Beschäftigten vier Frauen und einen Mann bestimmt. „Hauptziel ist es zunächst, Arbeitszeiten normenkonform und arbeitnehmerfreundlich zu gestalten“, sagt Müssig. Immer wieder käme es vor, dass Beschäftigte an eigentlich freien Samstagen doch arbeiten müssen. ■ PRO & CONTR A Fotos: WEG e.V.; Jörn Boewe Sollen wir in Deutschland „Fracking“ zur Erdgasförderung nutzen? Josef Schmid ist Hauptgeschäftsführer des Wirtschaftsverbandes Erdöl- und Erdgasgewinnung e.V. Inga Römer ist Fracking-Expertin beim Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND). „Ja, denn Erdgas ist die Basis für ein verlässliches „Nein, denn die Gefährlichkeit die- und bezahlbares Energiesystem. Derzeit deckt die Erdgasproduktion im Land etwa zwölf Prozent des deutschen Bedarfs – das schafft ein Stück Unabhängigkeit von Lieferquellen im Ausland. Das Frac-Verfahren, mit dem Erdgas aus sehr dichten Gesteinsformationen gewonnen wird, ist in Deutschland hochentwickelt und längst bewährt. Schon seit den 1960er Jahren wird die Frac-Technologie erfolgreich und umweltverträglich zur Erschließung konventioneller Lagerstätten angewandt – etwa in der Produktion von Tight Gas. Das sind tief gelegene, in Sandsstein eingeschlossene Vorkommen. Die Frac-Technologie hat spürbaren Einfluss auf unsere Versorgungs sicherheit. Schon heute kommt jeder dritte im Land produzierte Kubikmeter Erdgas aus Bohrungen, die mit dem Frac-Verfahren erschlossen wurden. Damit werden heute rund zwei Millionen Haushalte in Deutschland mit Erdgas versorgt. Künftig wird dieses Verfahren an Relevanz gewinnen, denn mit der etablierten Technologie kann auch der Zugang zu unkonventionellen Ressourcen in Kohleflözen und Schiefergesteinen gelingen. Deren Erkundung steht noch am Anfang, hier liegt aber ein enormes Potenzial, für die kommenden Jahrzehnte zu einer stabilen Energieversorgung beizutragen.“ ser Hochrisikotechnologie ist mittlerweile erwiesen. In den USA, wo das Verfahren seit einiger Zeit angewandt wird, führte Fracking in ländlichen Regionen Pennsylvanias zu ständiger Lärmbelästigung und erheblicher Luftverschmutzung. In Oklahoma gab es zwischen 1977 und 2008 insgesamt 28 Erdbeben, nachdem Fracking großflächig angewendet wurde, waren es 2009 und 2010 bereits 134. Durch die verwendeten Chemikalien, die mit hohem Druck in den Boden gepresst werden, um Gesteinsschichten aufzubrechen, können Böden und Trinkwasserquellen vergiftet werden. Trinkwasservergiftungen, erhöhte Erdbebengefahr, Lärmbelastung und Luftverschmutzung in einem dicht besiedelten Land wie Deutschland? Nein danke! Außerdem würden die Schiefergasvorkommen hierzulande für gerade mal zehn Jahre reichen. Langfristige Preisstabilität und Unabhängigkeit durch die Nutzung eigener Gasressourcen sind Utopie. In Zeiten des Klimawandels und der Energiewende brauchen wir in Deutschland keine risikoreiche Gasfördermethode, sondern den weiteren Ausbau der erneuerbaren Energien sowie mehr Energieeffizienz und -einsparungen. Das risikoreiche und unwirtschaftliche Fracking-Verfahren sollte deshalb bei uns verboten werden.“ ■ Mitbestimmung 9/2013 9 Fotos: Michael Hughes TITEL Die gespaltene Demokratie Forscher erwarten, dass bei den Bundestagswahlen 2013 weniger Menschen mitmachen als jemals zuvor. Nichtwählen wird bei einem Teil der sozial Schwachen die neue Norm. Gegensteuern fällt den Parteien schwer. MILIEUS Von ANDREAS MOLITOR , Journalist in Berlin. Der Autor wohnt mit seiner Familie im Falkenhagener Feld. E „NEIN, DANKE!“: Eine Passantin lehnt ein FlyerAngebot des SPD-Abgeordneten Swen Schulz ab. igentlich bräuchte Swen Schulz bei seinem Spaziergang durch das Falkenhagener Feld nur den Leuten in den Mund zu schauen, die ihm entgegenkommen. Auffallend viele Menschen in dieser Wohnsiedlung ganz am Rand des Berliner Bezirks Spandau haben kaum noch Zähne im Mund, nur kümmerliche Fragmente sind geblieben. Selbst bei Kindern ragen mitunter schwarze Stümpfe aus dem Kiefer. Fehlt den Menschen hier tatsächlich das Geld für den Zahnarzt, fragt man sich unwillkürlich. Oder ist es ihnen einfach egal, wie es in ihrem Mund aussieht? Swen Schulz, SPDBundestagsabgeordneter für Berlin-Spandau und den Charlottenburger Norden, hat keine Zeit für Gedankenspiele über Zahnhygiene. Der schlaksige, jungenhaft wirkende Politiker hat seine Umhängetasche voll mit SPDFlyern, die er unters Volk bringen will. Bleierne Schwüle liegt über der Stadt, die Luft steht wie eine Mauer zwischen den Häusern. In einer kleinen Einkaufspassage im Schatten eines Elfgeschossers, wo das Schmatzen von Bade- Mitbestimmung 9/2013 11 die mit Anfang zwanzig schon so aussehen, als halte das Leben für sie nicht mehr allzu viel bereit. In den Einkaufswagen liegt viel billiger Schnaps. „Hier leben Menschen, die sich daran gewöhnt haben, weniger zu besitzen, weniger zu tun und weniger zu erwarten, als bisher für die Existenz als notwendig angesehen worden ist.“ So steht es in der berühmten sozialwissenschaftlichen Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“ aus den 30er Jahren, einer Chronik des wirtschaftlichen, sozialen und moralischen Verfalls eines niederösterreichischen Dorfes nach der Schließung der ortsansässigen In manchen Stimmbezirken in Berlin machten Textilfabrik. Es gibt Orte, da trifft der Satz auch 80 Jahre später noch zu. Schulz’ letzter Bundestagswahlkampf – der 45-Jährige tritt bei der letzten Bundestagswahl nicht mal in diesem Jahr zum vierten Mal an – verlief wenig erfolgreich. Er 40 Prozent der Wahlberechtigten ihr Kreuz. verlor den Wahlkreis an den Konkurrenten von der CDU. Nur ein guter Platz auf der Landesliste rettete sein Mandat. Was ihn fast spräch verwickeln. Doch leider ist die über ihren Rollator noch mehr ärgert: Sein Wahlkreis zählt mittlerweile zu den Niststätten der gekrümmte Frau nachmittags um drei schon so betrunken, Wahlmüdigkeit. Im Falkenhagener Feld machten in manchen Stimmbezirken dass der Kandidat nicht mal in Ansätzen versteht, was sie nicht mal 40 Prozent der Wahlberechtigten ihr Kreuz. In den 70er Jahren, als ihm sagen will. Schulz bleibt höflich. Er ist froh, als er Brandt gegen Barzel antrat und Schmidt gegen Kohl, waren es noch weit über weitergehen kann. Das Falkenhagener Feld, wo alt gewor- 80 Prozent. dener Beton das Bild dominiert, zählt zu jenen Berliner Vierteln, die auf dem abschüssigen Weg von der Muster- rückgang der wahlbeteiligung als STARKer trend_ Die 72er-„WillySozialsiedlung zum Wohnquartier der Entbehrlichen weit Wahl“ markiert eine Zäsur in der Geschichte der deutschen Wahlstatistik – vorangekommen sind. Die Arbeitslosenrate schätzt Schulz nicht nur im Falkenhagener Feld. Damals schnellte die Wahlbeteiligung auf 30 Prozent, den Anteil der Hartz-IV-Empfänger noch bundesweit auf den Rekordwert von 91,1 Prozent. Danach sank die Beteiligung höher. Hier wohnen Alte mit kleiner Rente, Russland- peu à peu auf knapp unter 80 Prozent, erreichte bei der Kohl-Abwahl 1998 Aussiedler, junge türkische Männer, die viel Zeit im Fit- mit 82,2 Prozent ein kleines Zwischenhoch und sackte dann bis 2009 auf 70,8 nessstudio verbringen, und abgehängte Ur-Berliner, die Prozent – den niedrigsten Wert seit 1949. Jahrzehntelang interpretierten Wahlforscher den Rückgang der Wahlbeteivon der Wucht der Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt aus der Bahn geworfen wurden. An den Rand der Stadt, ligung als eine unbedenkliche Annäherung an „normale“ Verhältnisse in anan den Rand der Gesellschaft. Man sieht junge Mütter, deren Ländern. Erst jüngste Analysen legen nahe, dass die Erosion der Wahllatschen durch die Häuserschlucht hallt, nähert Schulz sich dem Wahlvolk. „Schönen guten Tag, Schulz mein Name, eine kleine Info von mir?“ Die meisten nehmen das Faltblatt mit Schulz’ Konterfei kommentarlos, manche winken auch ab. Nur eine alte Frau, schwer gezeichnet von jahrzehntelanger Trunksucht, will Schulz in ein Ge- 12 Mitbestimmung 9/2013 TITEL SPAZIERGängerin mit hunden; WOHNSILO; JUNGE FAMILIE: Wohnquartier der Entbehrlichen bereitschaft eine bedenkliche soziale Schieflage aufweist. Denn sie geht vor allem auf das Konto der sozial schwachen Bevölkerungsschichten, in denen der Urnengang oft die einzige Form der politischen Partizipation war. So fanden die Allensbach-Demoskopen im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung heraus, dass der Abstand in der Wahlbeteiligung zwischen dem bestverdienenden Fünftel der Bevölkerung und dem Fünftel mit den niedrigsten Einkommen zwischen 1972 und 2009 dramatisch zugenommen hat – von fünf auf 19 Prozent. Nach ihrer Wahlabsicht für die kommende Bundestagswahl gefragt, gaben nur noch 31 Prozent der Wahlberechtigten aus der Unterschicht an, dass sie „bestimmt zur Wahl gehen“ – gegenüber 68 Prozent bei der oberen Mittelschicht und der Oberschicht. Fazit der Studie: „Menschen mit einem geringeren Bildungshintergrund, weniger Einkommen und insgesamt geringerem Sozialstatus gehen weitaus weniger zur Wahl, als dies Menschen mit höherer Bildung und besserem Einkommen tun.“ Der Befund lässt sich übertragen auf Wohngebiete wie das Falkenhagener Feld. Thorsten Faas, Professor für Methoden der empirischen Politikforschung an der Uni Mainz, hat Daten der amtlichen Statistik ausgewertet. Er sagt: „Je höher die Sozialhilfequote und Arbeitslosenquote in einer Gemeinde ist, desto niedriger liegt dort die Wahlbeteiligung.“ Zu fast gleichlautenden Resultaten kam Faas’ Kollege Armin Schäfer vom Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln nach einer Analyse der Wahldaten in 15 deutschen Städten. Schon ein Schnell-Check der Wahlkreise mit der niedrigsten Beteiligung an der Bundestagswahl 2009 zeigt deutliche Korrelationen: Die fünf Wahlreviere – Anhalt, Mansfeld, Burgenland-Saalekreis, Stralsund-Nordvorpommern-Rügen und Duisburg II – weisen allesamt eine weit über dem Schnitt ihres Bundeslandes liegende Arbeitslosen- und Hartz-IV-Quote sowie eine stark unterdurchschnittliche Kaufkraft auf. Der Rückzug von der Politik birgt ein hohes Ansteckungspotenzial. „Wenn man in einer höchstens durchschnittlichen Wohngegend oder in einem Viertel mit hohem Nichtwähleranteil wohnt“, schreibt Armin Schäfer, „dann verringert sich – unabhängig von anderen individuellen Merkmalen – die Bereitschaft, wählen zu gehen.“ Damit verabschieden sich ganze Wohnquartiere mehrheitlich aus der Teilhabe am politischen Leben; ihre Bewohner werden mit ihren Interessen nach und nach unsichtbar. Wie hieß es in der Marienthal-Studie über die „müde Gemeinschaft“: „Der Eindruck, den wir gewinnen, ist der einer abgestumpften Gleichmäßigkeit.“ NICHTWÄHLEN ALS NEUE SOZIALE NORM_ Doch damals blieb die Wahlbeteiligung stabil bei über 90 Prozent. In den 30er Jahren galt der Urnengang noch als staatsbürgerliche Pflicht. Diese „Wahlnorm“, nach der es in einer Demokratie zu den Bürgerpflichten gehört, regelmäßig zur Wahl zu gehen, hat vor allem am unteren Rand der Gesellschaft deutlich an Bindungskraft verloren. Nach der aktuellen Bertelsmann-Studie sehen nur noch 55 Prozent der Angehörigen der Unterschicht im Wählen eine Bürgerpflicht; in der Mittel- und Oberschicht sind es 82 Prozent. „Wahlen spielen für diese Menschen keine Rolle mehr, sie sind ihnen egal“, urteilt Johanna Klatt, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Göttinger Institut für Demokratieforschung, die gemeinsam mit Institutschef Franz Walter das Engagement sozial Benachteiligter erforscht. „Warum sollte jemand wählen, wenn er weiß, dass er auf dem ersten Arbeitsmarkt keine Chance hat oder dass er ohne Schulabschluss niemals einen Ausbildungsplatz bekommt?“ In der Nichtwahl sieht Franz Walter eine Mitbestimmung 9/2013 13 der neuen Normen, „die sich auf diese Weise quartiersbezogen entwickelt haben. Man fühlt sich vom dominanten Teil der Gesellschaft verlassen und sieht infolgedessen auch keinen Grund, an deren Vereinbarungen und Verständigungsmustern mitzuwirken.“ Wenn ein Mensch aus freiem Willen entscheidet, der Wahl fernzubleiben, ist das demokratietheoretisch maximal ein Schönheitsfehler, aber kein ernstes Problem. Aber geht es hier noch ums Wollen? Oder geht es vielmehr ums Können? Politikforscher Thorsten Faas hegt erhebliche Zweifel, ob in der zunehmend wahlabstinenten Unterschicht „individuelle Eigenschaften, die als notwendige Bedingung für politische Partizipation gegeben sein müssen“, noch ausreichend vorhanden sind. Mit dem Räsonieren der bildungsbürgerlichen Wahlverweigerer, die dem Wahllokal fernbleiben, weil das politische Angebot ihnen intellektuell zu armselig erscheint, hat das nichts gemein. „Wenn schen Entscheidungen betroffen ist? Faas hält die Diskussion über die Einführung einer Wahlpflicht für überfällig. „Das würde zumindest die Rationalität des Kalküls der Parteien durchbrechen, dass es sich nicht lohnt, sich um die Interessen von Menschen zu kümmern, die ohnehin nicht wählen“, hofft er, wohl wissend, dass eine Wahlpflicht in Deutschland kaum mehrheitsfähig ist. Doch es muss auch andere Wege geben. Nach einer Forsa-Umfrage im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung glauben 87 Prozent der Nichtwähler, ihre Wahlbereitschaft könne dadurch erhöht werden, „dass die Politiker wieder ein Ohr für die wirklichen Sorgen und Nöte der Menschen haben“. Gesucht werden nicht Lautsprecher, sondern Kümmerer. Das ist das Stichwort für Swen Schulz. Der SPD-Mann sagt bewusst nicht „Wahlkampf“, sondern geht schon seit Jahren „auf Kümmertour“. Der Schulz, der kümmert sich, soll bei den Leuten haften bleiben, den Schulz kannste wählen. Hin und wieder kann er tatsächlich etwas bewegen: dafür sorgen, dass eine Sozialarbeiterin an einer Schule bleiben kann oder dass ein Mann, der nicht mal mehr genug Geld für eine Büchse Ravioli hat, weil ihm die Stütze gestrichen wurde, beim Jobcenter zum richtigen Sachbearbeiter vorgelassen wird. GeholWer sich vom dominanten Teil der Gesellschaft fen hat es dem SPD-Mann bei der letzten Wahl aber nicht. Es gibt noch etwas anderes im Kiez. Eine Ebene des bürgerverlassen fühlt, sieht keinen Grund mehr, an schaftlichen Engagements, die sich zwischen Politik und Kiezbederen Vereinbarungen mitzuwirken. wohnern, zwischenLeuten wie Schulz und den Menschen in Jogginghosen und Badeschlappen formiert hat. „Viertelgestalter“ die Wahlen so erhebend sind wie ein Sonntag bei der nennen Franz Walter und Johanna Klatt jene, die im Viertel leben, sich für Schwiegermutter mit zu viel Bienenstich, dann stimmt das Viertel engagieren und dadurch den einen oder anderen aus der Apathie etwas nicht“, begründet etwa der philosophisch vorgebil- reißen. Auch im Falkenhagener Feld gibt es sie. Die „Nachbarn im Kiez“ dete „Spiegel“-Autor Georg Diez seine Wahlabstinenz. Im organisieren kostenlose Nachhilfe für Grundschüler; die Eltern aus der Initiative „Stark für die Zukunft“ geben Kindern Unterricht in Gitarre, trommeln Falkenhagener Feld gibt es sonntags keinen Bienenstich. Mit Blick auf solche Wohnquartiere sieht die Bertels- und Keyboard; es gibt eine Stadtteilzeitung, Stadtteilfeste und eine Ehrenamtsmann-Stiftung die Gefahr einer „gespaltenen Demokratie“ börse. Schulz könnte auch mit den Viertelgestaltern durch die sommerliche heraufziehen. Wenn die Entbehrlichen als Wähler immer Gluthitze ziehen statt mit seinen beiden Praktikanten, die eifrig Flyer unters weniger in Betracht kommen, warum sollten die Parteien Volk bringen. Doch wie unendlich lang sind die Aktivierungsketten, die sich – vielleicht – dann auf sie noch besondere Rücksicht nehmen? Warum sollten Politiker, wie SPD-Chef Sigmar Gabriel es vor ei- irgendwann einmal in zählbaren Wählerstimmen niederschlagen? Schulz will nigen Jahren gefordert hat, „raus ins Leben; da, wo es Kümmerer sein; er sagt aber auch: „Ich renne hier nicht als Aktivator für den laut ist; da, wo es brodelt; da wo es manchmal riecht, Kiez rum.“ Stattdessen muss er sich in den Haustürwahlkampf stürzen, obwohl gelegentlich auch stinkt“? Wenn es doch ertragreicher er das Hausieren an Wohnungstüren „tendenziell übergriffig“ findet. SPDerscheint, sich an den Präferenzen derer zu orientieren, Generalsekretärin Andrea Nahles hat vorgegeben, dass die Partei-Companedie mit einiger Wahrscheinlichkeit zur Wahl gehen. Die ros in diesen Wochen an fünf Millionen Wohnungstüren klingeln sollen. „Ich Interessen derjenigen, die zur Unterschicht gehören, fallen weiß nicht, ob das in einem Viertel wie dem Falkenhagener Feld der Knaller dann schnell unter den Tisch. ist“, sagt Schulz und denkt wohl schon an die vielen Türen, die sich nicht Wie kann man gestrauchelte Menschen, gestrauchelte öffnen. Länger als zwei, drei Minuten sollten die Gespräche ohnehin nicht Wohnquartiere wieder zurückholen ins Gemeinwesen? dauern, heißt es in einer Handreichung aus dem Willy-Brandt-Haus. Wörtlich Wie könnte die demokratische Re-Integration derer funk- steht in dem Papier: „Ausführliche Diskussionen sollten an der Tür vermieden tionieren, deren Leben letztlich am stärksten von politi- werden.“ ■ 14 Mitbestimmung 9/2013 SCHULZ SAGT NICHT „WAHLKAMPF“, SONDERN „KÜMMERTOUR“_ TITEL Niemand plant, die Mitbestimmung einzuschränken Anders als in früheren Jahren profiliert sich keine Partei mit mitbestimmungsfeindlichen Plänen. Selbst die FDP blendet das Thema aus. Ein Blick auf die Wahl- und Regierungsprogramme ANALYSE Von MARIE SEYBOTH , Leiterin der Abteilung Mitbestimmungspolitik und Justiziarin beim DGB-Bundesvorstand, und RAINALD THANNISCH , in der gleichen Abteilung tätig als politischer Referent ALLGEMEINPLÄTZE VON DER UNION_ CDU und CSU verweisen in ihrem Regierungsprogramm darauf, dass das Zusammenspiel von Gewerkschaften, Betriebs- und Personalräten sowie Arbeitgebern sich ebenso wie die Tarifautonomie gerade in der Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise bewährt habe. Wörtlich heißt es: „Für uns bleiben Sozialpartnerschaft, Tarifautonomie und Mitbestimmung wesentliche Grundlagen unserer sozialen Marktwirtschaft.“ Diese Äußerung stellt – so allgemein sie auch sein mag – einen wesentlichen Unterschied zu dem Regierungsprogramm von 2009 dar, in dem keinerlei Aussagen zur Mitbestimmung oder zu Betriebsräten zu finden waren. Dennoch bleibt Raum für Spekulationen, ob und wie eine unionsgeführte Regierung wichtige Zukunftsfragen der Mitbestimmungspolitik angehen wird. Zum Thema Werkverträge wird – auch hier wieder in sehr allgemeinen Worten – darauf hingewiesen, dass diese ein „wichtiges Instrument am Arbeitsmarkt“ seien. Gerade deshalb sei mit den Sozialpartnern sicherzustellen, dass diese nicht missbraucht werden, „um bestehende Arbeitsregeln und Lohnuntergrenzen zu unterlaufen“. Auf die großen Herausforderungen der Unternehmensmitbestimmung, die in der Harmonisierung des Gesellschaftsrechts in Europa und in der grenzüberschreitenden Mobilität der Unternehmen liegen, geben CDU und CSU keine Antworten. Die Unverbindlichkeit im Wahlprogramm von CDU und CSU wird vom „Bürgerprogramm“ der FDP noch getoppt. Die Partei verzichtet konsequent darauf, Aussagen zur Mitbestimmung zu treffen. Stattdessen spricht sie sich für eine Stärkung der Aktionärsrechte aus: „Deshalb wollen wir beispielsweise den Einfluss der Hauptversammlung auf die Vergütung KEIN THEMA FÜR DIE FDP_ Mitbestimmung 9/2013 15 des Managements stärken, indem wir Vergütungen der Vorstände oberhalb bestimmter Rahmenvorgaben und Beträge an die Zustimmung durch die Gesellschafter knüpfen.“ Doch wer sind die Gesellschafter? Die meisten Aktien gehören nationalen und internationalen institutionellen Anlegern. Im DAX 30 werden 62 Prozent der Aktien von institutionellen Investoren wie Banken, Versicherungen, Pensions- oder Hedgefonds sowie Private-Equity-Gesellschaften gehalten. Wer die Rechte der Gesellschafter stärken will, sollte zugeben, dass er die Rechte der Finanzinvestoren stärken und die der demokratisch gewählten Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat schwächen will. Die SPD bekennt sich in ihrem „Regierungsprogramm“ ausdrücklich zur Mitbestimmung. Dort heißt es: „Wir wollen mehr Demokratie im Betrieb. Mitbestimmte Unternehmen sind auch wirtschaftlich erfolgreicher. Mitbestimmung ist ein wesentliches Element unserer Vorstellung von Wirtschaftsdemokratie und hat sich bewährt. Wirtschaftsdemokratie durch Mitbestimmung erfüllt die Forderung des Grundgesetzes: ‚Eigentum verpflichtet.‘ Wir wollen die Mitbestimmung – auch auf europäischer Ebene – stärken und eine Flucht aus der Mitbestimmung wirkungsvoll verhindern.“ Konkret spricht sich die SPD bei der Unternehmensmitbestimmung für einen gesetzlichen Mindestkatalog zustimmungspflichtiger Geschäfte und für die Absenkung der Schwellenwerte der paritätischen Mitbestimmung auf 1000 Beschäftigte aus. Damit werden zentrale mitbestimmungspolitische Forderungen des DGB aufgenommen. Positiv ist hervorzuheben, dass die SPD eine „Flucht vor der Mitbestimmung“ durch ausländische Unternehmen mit Sitz in Deutschland verhindern will, indem die Unternehmensmitbestimmung auch für diese Unternehmen gelten soll. Diese Forderung unterstützt die Gewerkschaften und ist ein wichtiger Schritt in Richtung „soziales Europa“. Denn die Unternehmensmitbestimmung ist Ausdruck der Gleichberechtigung von Kapital und SPD: KLARES JA ZUR MITBESTIMMUNG_ 16 Mitbestimmung 9/2013 Arbeit, sie steht für eine an sozialen, nachhaltigen und ökologischen Belangen ausgerichtete Unternehmenspolitik. Diese Prämissen müssen für alle Kapitalgesellschaften, die in Deutschland tätig sind, gelten, unabhängig von ihrer Rechtsform. Schade ist, dass die SPD in ihrem Regierungsprogramm darauf verzichtet, wie vom DGB gefordert, weitere Elemente der erfolgreichen Montanmitbestimmung in das Mitbestimmungsgesetz von 1976 aufzunehmen. Im Regierungsprogramm findet sich kein Hinweis auf die Einführung einer neutralen Person in den Aufsichtsrat und auch keine Forderung nach einem Vetorecht der Arbeitnehmerbank bei der Bestellung des Arbeitsdirektors im Mitbestimmungsgesetz. Damit fällt es hinter einen Antrag der SPD-Bundestagsfraktion vom 16. Juni 2010 zurück, in dem beide Forderungen bereits erhoben wurden. Die SPD will durch eine stärkere Beteiligung der Betriebsräte prekäre Beschäftigung zurückdrängen. Dies gilt insbesondere für Umfang und Dauer von Leiharbeit, befristeter Beschäftigung und Werkverträgen im Betrieb. Beim Einsatz von Fremdbeschäftigten fordert die SPD, die frühzeitigen Beratungs- und Verhandlungsrechte des Betriebsrats auszuweiten und das Zustimmungsverweigerungsrecht bei dem Einsatz von Fremdpersonal zu verbessern. Außerdem sollen die Mitbestimmungsrechte bei der Weiterbildung und beim Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz ausgeweitet werden. Im Bereich der Vorstandsvergütung fordert die SPD die Begrenzung der steuerlichen Absetzbarkeit von Vorstandsund sonstigen Managergehältern auf 500.000 Euro und eine Festschreibung im Aktiengesetz, dass Unternehmen nicht nur den Aktionären, sondern auch den Arbeitnehmern sowie dem Wohl der Allgemeinheit verpflichtet sind. Damit greift die Partei eine zentrale gewerkschaftliche Forderung auf. UNTERSTÜTZUNG AUCH BEI DEN GRÜNEN_ Die Partei Bündnis90/Die Grünen fordert, das bewährte Recht von Beschäftigten und Gewerkschaften, sich an betrieblichen und unternehmerischen Entscheidungen zu beteiligen, zu bewahren und auszubauen. Positiv ist auch ein Passus, wonach die Mitbestimmungsrechte „der sich verändernden Arbeitswelt gerecht werden“ TITEL müssen. Das gelte für den Einsatz von Leiharbeit und Werkverträgen im Betrieb. Konkret fordern die Grünen, dass Leiharbeitnehmer die gleichen Rechte haben sollen wie Festangestellte und dass die Betriebsräte in den Entleihbetrieben eine „verbesserte Mitbestimmung“ erhalten sollen. Weiterhin wird die Ausweitung der Mitbestimmungsrechte der Betriebsräte bei Umstrukturierungen gefordert, ohne jedoch genauer auf die Forderungen einzugehen. Bei der Unternehmensmitbestimmung fordert die Partei genau wie die SPD, die Reichweite der paritätischen Mitbestimmung auf Unternehmen ab 1000 Beschäftigten auszuweiten, ebenso die Geltung der Unternehmensmitbestimmung auch für ausländische Rechtsformen. Die Europäischen Betriebsräte sollen gestärkt und die grenzüberschreitende Mitbestimmung zum Kernstück des Europäischen Sozialmodells gemacht werden. Bedauerlicherweise spricht sich die Partei jedoch auch – genauso wie die FDP – dafür aus, dass die Vergütung von Vorständen börsennotierter Unternehmen zukünftig der verbindlichen Zustimmung der Hauptversammlung unterliegen soll. Die Grünen sollten berücksichtigen, dass sich die Aktionärsdemokratie schnell als Mythos entpuppt, da viele Hauptversammlungen von institutionellen Investoren dominiert werden, die üblicherweise nicht im Verdacht stehen, sich für eine Begrenzung der Vorstandsvergütung auszusprechen. DIE LINKE: VON DER MIT- ZUR SELBSTBESTIM- Die Linke fordert in ihrem Wahlprogramm eine „Demokratisierung der Wirtschaft“ u. a. durch eine Ausweitung der Mitbestimmungsrechte auf betrieblicher und Unternehmensebene sowie die Beteiligung der Beschäftigten am Produktivkapital. Die Partei fordert, dass ohne Zustimmung des Betriebsrates künftig keine Leiharbeit nachgefragt werden darf und keine Werkverträge vergeben werden dürfen. Zudem erklärt die Linke, Initiativen unterstützen zu wollen, die die „weißen Flecken der Mitbestimmung, wie Betriebe ohne jegliche Mitwirkung der Beschäftigten“, beseitigen sollen. Diese Forderung erscheint auch aus gewerkschaftlicher Sicht als sinnvoll, weil nach aktuellen Daten des IAB nur 43 Prozent der Beschäftigten in West- und 36 Prozent der Beschäftigten in Ostdeutschland (in privatwirtschaftlichen MUNG_ Betrieben ab fünf Beschäftigten) in einem Betrieb mit Betriebsrat arbeiten. Unter der Überschrift „Wirtschaft demokratisieren: von der Mitbestimmung zur Selbstbestimmung“ fordert die Partei über die Erweiterung der Mitbestimmungsrechte (u. a. durch die Ausdehnung der Mitbestimmungsgesetze auf Scheinauslandsgesellschaften und die Absenkung der Schwellenwerte) hinaus die Schaffung überbetrieblicher Branchenbeiräte, in die Unternehmen, die Wissenschaft, Umwelt- und Konsumentenverbände sowie Gewerkschaften einbezogen werden sollen. Managergehälter sollen auf das 20-Fache der untersten Lohngruppe des jeweiligen Unternehmens beschränkt werden. Die Linke legt im Gegensatz zu den anderen Oppositionsparteien einen stärkeren Schwerpunkt auf die Umsetzung wirtschaftsdemokratischer Konzepte. Diese gehen deutlich über die gesetzliche Mitbestimmung hinaus. Man kann also festhalten, dass keine der derzeit im Bundestag vertretenen Parteien offen Pläne verfolgt, die einen Abbau der Mitbestimmung vorsehen. Während die FDP das Thema schlichtweg ignoriert, bekennen sich CDU/CSU, SPD, Bündnis90/Die Grünen sowie die Linke ausdrücklich zur Mitbestimmung, wobei sich die derzeitigen Oppositionsparteien klar für eine Anpassung der Mitbestimmung an aktuelle Herausforderungen wie die Zunahme von Werkverträgen und die „Flucht vor der Mitbestimmung“ einsetzen. Eine Umsetzung dieser Forderungen bietet einiges Potenzial, um die stets, wenn auch langsam wachsende mitbestimmungsfreie Zone in der Wirtschaft zu verkleinern. Die vorliegenden Wahlprogramme bieten daher eine gute Grundlage für die längst überfällige Diskussion zur Weiterentwicklung der gesetzlichen Mitbestimmung. ■ EIN BLICK IN DIE ZUKUNFT_ Mitbestimmung 9/2013 17 Das Thema ist zweitrangig Es gäbe für die Politik viel zu tun in Deutschland – und dennoch dominiert kein Thema den Wahlkampf. Deswegen kommt alles auf die Spitzenkandidaten an. WAHLFAKTOREN Von PETER LÖSCHE , Parteienforscher und emeritierter Professor an der Universität Göttingen D er Bundestagswahlkampf hat bisher kein Thema an die Oberfläche gespült, das zum Streit, zum Konflikt oder zur Auseinandersetzung zwischen den Parteien geführt hätte. Und das dürfte auch für die restlichen Tage bis zum 22. September, dem Wahltag, gelten. Was für ein Wahlkampf – der eigentlich gar kein richtiger ist. Die Republik liegt gleichsam unter einer bleiernen Decke, unter der kaum ein Mucks hervordringt. Woran liegt das? Natürlich, dahinter steckt die „Sozialdemokratisierung“ der Politik durch die Vorsitzende der CDU. Es gibt genug Themen für den Wahlkampf – aber genau das ist das Problem: Es sind zu viele. Es sind Themen, die zweit- oder drittklassig erscheinen, und keines ragt heraus. Weder die Energiewende noch die Eurokrise noch die Einführung des zweigliedrigen Schulsystems noch der Abhörskandal, der Mindestlohn, die Mietbremse oder die Familienpolitik. Die meisten Themen hat die CDUVorsitzende von der SPD übernommen. Da bleibt für die Sozialdemokratie kaum mehr als der Vorschlag, die Vermögenssteuer wieder einzuführen sowie die Erbschafts- und die Einkommenssteuer zu erhöhen. Aber diese Forderungen reißen bekanntlich niemanden vom Hocker. Im Hintergrund wabert das Megathema „soziale Gerechtigkeit“ – doch es ist ein Thema, das alle Parteien rhetorisch für sich reklamieren, selbst die FDP mit ihrem „mitfühlenden Liberalismus“. Die Verhältnisse drängen kein dominantes Thema auf – etwa eine so starke Zuspitzung der Eurokrise, dass jeder Bürger dies bereits in seiner Geldbörse fühlt. Warum dieser lautlose, ja stumme Wahlkampf? Warum die „schweigsamen“ Wähler? 18 Mitbestimmung 9/2013 An ge wü la M e nsc hen rkel als sich Kan zle rin 54 % Politikwissenschaftler heben – nach dem in den 1950er Jahren in den USA entwickelten Michigan-Modell – drei Faktoren hervor, die das Wahlverhalten wesentlich bestimmen. Der erste Faktor ist die traditionelle Parteiidentifikation: der berühmte rote Großvater, der immer SPD wählt, oder sein Enkel, der bei jeder Wahl eine andere Partei kürt, also Stammwähler im Unterschied zum Wechselwähler. Der zweite Faktor ist ein großes Konfliktthema, das die Wähler aufregt, emotionalisiert, mobilisiert, sodass sie an die Wahlurne gehen. Der dritte Faktor schließlich sind die Spitzenkandidaten selbst, die danach streben, als Charismatiker zu erscheinen und durch ihre Persönlichkeit und ihr Image die Wähler anzuziehen. Die Stammwähler sind zu einer seltenen Spezies geworden. Nur etwa zwölf Prozent der Wahlberechtigten wählen stets und ständig jeweils CDU oder SPD. Die anderen Wähler wandern zwischen den Parteien oder wählen überhaupt nicht, sie werden zu Nichtwählern. TITEL Im sozialwissenschaftlichen Jargon: Die Volatiliät steigt. Die Ursache für diese Entwicklung: Die alten sozialmoralischen Milieus, das katholische und das gewerkschaftlich-facharbeiterliche, sind erodiert. Entscheidend für das tatsächliche Wahlverhalten sind mithin die Spitzenkandidaten oder das den Wahlkampf dominierendeinhaltliche Thema. Da es dieses Thema nicht gibt und sich nicht einmal zwei oder drei Kontroversen herausgebildet haben, die im Vordergrund stünden, kommt alles auf die beiden Spitzenkandidaten an. Angela Merkel führt einen geschickt-schlitzohrigen Wahlkampf angesichts einer Situation, die sie wesentlich selbst geschaffen hat. Sie schwebt gleichsam über den rauen Wassern der Parteipolitik und der internationalen Politik, sie wirkt präsidial, lässt sich auf allen Gipfeln inszenieren, achtet darauf, in keinen Konflikt hineingelockt zu werden, und meidet kontroverse Inhalte. Eine inhaltlich-thematische Auseinandersetzung würde die Bürger polarisieren, sie würde viele potenziell sozialdemokratische und grüne Wähler an die Wahlurne treiben. Gleichwohl vermag Merkel Führungskraft zu dokumentieren, hat sozialdemokratische und grüne Positionen gegen ihre eigene Partei brück Stein r e e P sich chen s n ü w r anzle als K 28 % Quelle: ARD-Deutschlandtrend 15.8.2013/Infratest dimap, 35. Kalenderwoche/Ende August durchgesetzt, so die Energiewende, den (modifizierten) Mindestlohn, die Familienpolitik, die Mietbremse. Ironisch zugespitzt: Merkels Verhalten erinnert an Reichskanzler Otto von Bismarck. Der nämlich hatte seine Sozialpolitik konzipiert, um den bei Wahlen erfolgreichen Sozialdemokraten den Wind aus den Segeln zu nehmen. Merkel wiederum kapert alle für den Wahlkampf der Sozialdemokratie relevanten politischen Themen, um den oppositionellen Merkels Verhalten erinnert an Reichs kanzler Otto von Bismarck. Da kann Steinbrück sich noch so abstrampeln. Gegner dann in der Flaute stehen zu lassen. Da kann Peer Steinbrück sich noch so abstrampeln – und neuerdings auch die einschlägigen Fettnäpfchen umschiffen. Er mag in der Finanz- und Wirtschaftspolitik kompetenter sein als das schwarz-gelbe Kabinett zusammengenommen: Gegen die allgegenwärtige Übermutter vermag er nicht viel auszurichten. Und er wird in der Öffentlichkeit auch nicht mit einem knalligen Thema identifiziert, mit dem er der Kanzlerin Schach bieten und die eigenen Parteigenossen mobilisieren könnte. Die Wahlkämpfe der Jahre 1969 und 1972 waren für das Michigan-Modell wie aus dem Bilderbuch geschnitten. Ein Thema beherrschte damals die Auseinandersetzung zwischen CDU und SPD, die beide gerade noch in einer großen Koalition miteinander verbunden waren: die Ostpolitik. Zwei prominente, bundesweit bekannte und bewunderte Spitzenkandidaten standen sich jeweils gegenüber: im Jahr 1969 der amtierende Kanzler Kurt Georg Kiesinger und Willy Brandt, danach dann Rainer Barzel und noch einmal Brandt. Das katholische und das sozialdemokratische Milieu waren damals relativ intakt, Parteiidentifikation funktionierte noch, von der Erosion der Stammwählerschaft und von Volatilität war noch nicht die Rede. So unterschiedlich damals die drei Faktoren des Michigan-Modells von den verschiedenen Demoskopie-Instituten und von Wahlforschern auch gewichtet wurden, klar war, dass das die deutsche Politik beherrschende Konfliktthema die Wahl entschied. Eben die Ostpolitik. Die Wahlen kamen damals einer Volksabstimmung über die zentrale politische Frage ziemlich nahe. Die Wahlbeteiligung betrug mehr als 90 Prozent. Fast jeder fühlte sich angesprochen, hatte seine eigene Meinung, erregte sich. Die Gefühle schlugen hoch. Nichts davon ist heute zu spüren, kein Thema ist in Sicht, das die Wähler elektrisieren, mobilisieren würde. Wir dürfen uns nicht wundern, wenn wir am Abend des 22. Septembers 2013 wieder einmal feststellen: Die Wahlbeteiligung ist gesunken, dieses Mal liegt sie gar deutlich unter 70 Prozent. Und es dürften nicht die Themen sein, die die Bundestagswahl entscheiden, sondern das Vermeiden inhaltlicher Auseinandersetzung. Und ganz wichtig: Die Spitzenkandidaten – mit dem Amtsbonus für Angela Merkel und dem Oppositionsmalus gegen Peer Steinbrück. ■ Mitbestimmung 9/2013 19 T4 – Wiesehügel „Die SPD ist heute eine andere Partei“ Klaus Wiesehügel, der scheidende Vorsitzende der IG BAU, über seine Berufung als Arbeitsminister ins Schattenkabinett Steinbrück und sein Verhältnis zur SPD. INTERVIEW Das Gespräch führten GUNTRAM DOELFS und k ay MEINERS. 20 Im Internet gibt es einen privaten Blog von Ihnen. Der letzte Eintrag stammt von Ende April. Kommen Sie zeitlich nicht mehr dazu, oder müssen Sie stärker aufpassen, was Sie schreiben? Vor allem komme ich nicht mehr dazu. Hinzu kommt: Den Blog habe ich als Vorsitzender der IG BAU begonnen. Als Mitglied des Kompetenzteams nutze ich andere Medien, das will ich nicht vermischen. Die Agenda hat viele treue SPD-Anhänger, aber auch Gewerkschafter verbittert. Manche sind enttäuscht zur Linkspartei abgewandert. Hatten Sie nie das Gefühl, dass die SPD nicht mehr Ihre politische Heimat ist? Im Gegenteil: Ich habe versucht, andere vom Austritt abzuhalten, denn innerparteiliche Diskussionen müssen geführt werden. Die kann ich nicht führen, wenn ich austrete. Es hat mich geärgert, als Leute die Partei verließen und eine überflüssige neue Partei gründeten, mit der sie nichts bewegen können. Sie waren früher ein scharfer Kritiker der Agenda-Reformen. Ist die SPD heute eine andere Partei als unter Bundeskanzler Schröder? Ja, mit Sicherheit. Das Regierungsprogramm unterscheidet sich ganz deutlich von dem Schröder-Blair-Papier, was 1999 diskutiert worden ist. Die Agenda 2010 ist zehn Jahre her. Wir haben heute eine andere Situation. Die SPD beschäftigt sich mit den aktuellen Problemen. Etwa, dass sieben Millionen Menschen einen Stundenlohn unter 8,50 Euro bekommen und dass wir jedes Jahr Niedriglöhne, das heißt Lohnkosten der Unternehmen, mit mehr als elf Milliarden Euro aufstocken. Ist es Ihr Job als Vertreter des linken Flügels in der SPD, diese Leute wieder zur SPD zurückzuholen? Die SPD hat die große Chance, die zehn Millionen Menschen, die die SPD mal gewählt haben und dies nicht mehr tun, wiederzugewinnen. Und genau an der Stelle will ich mithelfen. Mir geht es vor allem um die Nichtwähler. Wir wissen, dass viele Leute wegen Entscheidungen der vergangenen Jahre noch immer stinkig auf die SPD sind. Deswegen kamen meine Parteifreunde und sagten: Klaus, geh raus ins Land und sag den Leuten, was wir vorhaben. Mitbestimmung 9/2013 Im Falle eines Wahlsieges wollen Sie umgehend einen gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro auf den Weg bringen. Die Wirtschaft warnt, so würden Arbeitsplätze vernichtet. Fotos: Stephan Pramme TITEL Die Warnung der Wirtschaft ist falsch. Es gibt Branchen, wo wir tarifvertragliche Mindestlöhne haben. Da hat der Mindestlohn keine Arbeitsplätze gekostet, obwohl er oft höher liegt als 8,50 Euro. Zudem gibt es Erfahrungen mit Mindestlöhnen in vielen europäischen Ländern. Frankreich hat ihn traditionell. Großbritannien hat ihn 1999 eingeführt. Mit umgerechnet rund 4,30 Euro pro Stunde. Heute liegt der britische Mindestlohn bei sechs Pfund, also rund 7,20 Euro. Wichtig ist, dass der Mindestlohn dort seit der Einführung stark gestiegen ist. Es gibt eigentlich nur positive Erfahrungen. Selbst die Amerikaner haben ihn. Ich bin fest davon überzeugt, dass der Mindestlohn keine Arbeitsplätze kosten wird. Vielleicht wird nicht mehr jeder Marktteilnehmer da sein, aber die Summe der Arbeitsplätze wird sich nicht reduzieren. Es gibt keinen empirischen Beleg, dass der Mindestlohn in unseren Nachbarländern zum Abbau von Beschäftigung geführt hat. Wir wollen allerdings, dass sich der Wettbewerb über die Qualität der Produkte und der Leistung entscheidet, nicht über Billiglohn als Geschäftsmodell. Sind nach dieser Logik die zehn Euro Mindestlohn, die die Linkspartei fordert, nicht noch besser? Der DGB fordert 8,50 Euro, und wir orientieren uns am Vorschlag des DGB und seiner Mitgliedsgewerkschaften. Es geht darum, den Mindestlohn endlich gesetzlich durchzusetzen. Danach werden wir eine Kommission einsetzen, die jährlich einen Vorschlag für die Dynamisierung machen wird. Welche Erfahrungen hat die IG BAU selbst mit dem Branchenmindestlohn auf dem Bau gemacht? Die Mitgliederzahlen der IG BAU haben sich in den letzten 15 Jahren nahezu halbiert. Wir wollten dem Lohnwettbewerb Grenzen setzen. Das hat auch funktioniert, übrigens im Einklang mit den Arbeitgebern, die auf dem Bau den Mindestlohn unterstützen. Worüber wir uns streiten, ist die Höhe. Aber das ist normales Tarifgeschäft. Was die Mitgliederzahlen der IG BAU betrifft: 1995 begann die Krise am Bau, damals waren rund 1,4 Millionen Menschen beschäftigt. Heute haben wir rund 700 000 Beschäftigte am Bau. Dass sich so etwas dramatisch auf die Mitgliederzahlen auswirkt, haben auch andere Gewerkschaften erlebt. Unser Organisationsgrad ist kaum verändert. Mitbestimmung 9/2013 21 Arbeitsministerin von der Leyen spricht von einem stabilen Arbeitsmarkt und niedrigen Arbeitslosenzahlen. Trotz Wirtschaftsboom haben wir seit vielen Jahren eine Sockelarbeitslosigkeit mit mehr als einer Million Langzeitarbeitslosen. Was wollen Sie als Minister dagegen tun? Derzeit gibt es kaum noch aktive Arbeitsmarktpolitik. Frau von der Leyen hat zugelassen, dass die Bundesagentur für Arbeit Zielvereinbarungen abschließt, um Arbeitslose so schnell wie möglich zu vermitteln. Ein größerer Teil der Vermittlungen erfolgt in Zeitarbeitsfirmen, diese Menschen stehen dann nach drei Monaten wieder bei der Agentur auf der Matte. Dieser Drehtüreffekt geht zulasten der Arbeitslosen und nimmt die Mitarbeiter der Agenturen menbringen müssen. Ich möchte nicht, dass die Bundesagentur für Arbeit weiterhin nur eine Vermittlungsorganisation ist. Wir brauchen so etwas wie eine Arbeitsversicherung. Das heißt, es wird ein Beitrag gezahlt, der mich mit neuer Arbeit versorgt, aber der mich auch qualifiziert für eine sich verändernde Arbeitswelt. Dafür braucht man natürlich Geld. Darüber möchte ich mit den Arbeitgebern diskutieren. Eine Reihe von Demografie-Tarifverträgen zeigt, dass das Problembewusstsein da ist. Kommen wir zur Rente: Die SPD will 2014 prüfen, ob die Rente mit 67 ausgesetzt werden kann. Wenn Sie die Rente mit 67 für falsch halten, wäre es nicht besser, sie ganz zu begraben? 2014 steht die Überprüfung an. Die Arbeitgeber haben versprochen, altersgerechte Arbeitsplätze zu schaffen. Die Zusage ist nicht erfüllt worden. Wenn im nächsten Jahr nicht mindestens die Hälfte aller Leute zwischen 60 und 64 Jahren auch arbeitet, werden wir die Rente mit 67 aussetzen. „Wenn nicht die Hälfte aller Leute zwischen 60 und 64 auch Arbeit hat, setzen wir die Rente mit 67 aus.“ stark in Beschlag. Sie sind kaum in der Lage, ein klares Profiling für jeden Arbeitslosen zu machen, um ihn gezielter vermitteln zu können. Was würden Sie anders machen? Aktive Arbeitsmarktpolitik heißt für mich vor allem Qualifizierung. Hier hat Frau von der Leyen den Rotstift angesetzt. Diese Kürzungen müssen wir zurücknehmen. Es ist dringend notwendig, den 1,5 Millionen Arbeitslosen, die keine Berufsausbildung haben, eine zweite Chance zu geben. Wir brauchen ein Programm, damit diese Gruppe eine Berufsausbildung nachholen kann. Gegebenenfalls in einer Ausbildungssituation, in der sie beim Einkommen so gestellt werden wie bei einer Berufstätigkeit. Wie wollen Sie ein solches Programm finanzieren? Sie können sicher sein, dass hierfür das Geld da sein wird. Wir brauchen ein hohes Niveau der Mittel für aktive Arbeitsförderung, das im Interesse der Planungssicherheit der Träger auch verstetigt werden muss. Müssten dazu die Beiträge für die Arbeitslosenversicherung steigen? Der steigende Bedarf an Fachkräften, die hohe Sockelarbeitslosigkeit oder die vielen Menschen, die keine Berufsausbildung haben – das sind die Dinge, die wir zusam- 22 Mitbestimmung 9/2013 Die Erwerbsquote Älterer, also ab 60, hat sich in den letzten 20 Jahren verdoppelt. Wie lange soll die Rente mit 67 ausgesetzt werden? So lange, bis die Hälfte der Menschen zwischen 60 und 64 in sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung sind. Aber wir brauchen auch bei den Rentenübergängen neue Regelungen. Wie könnten die aussehen? Die Vorschläge der SPD wie die abschlagsfreie Rente mit 63, wenn jemand 45 Versicherungsjahre erreicht hat, liegen vor. Wir müssen Lösungen finden, die sich nach den Bedürfnissen der Arbeitnehmer richten. Es gibt welche, die können und wollen bis 67 arbeiten. Andere hingegen sind angesichts der aktuellen Arbeitsbedingungen in vielen Jobs mit 58 oder 59 gesundheitlich am Ende. Wie realistisch sind Überlegungen, die Rentenreform auszusetzen, wenn der erklärte Koalitionspartner diese Positionen gar nicht teilt? Ich bin überzeugt, dass in einer rot-grünen Koalition diese Position zum Tragen kommt. Wir werden den Grünen in den Koalitionsverhandlungen klar sagen, dass nicht nur eine reine Rentenkürzung übrig bleiben darf. Genau das ist derzeit bei der Rente mit 67 der Fall, weil viele Arbeitnehmer mit 61 oder 62 aus dem Job gehen müssen. Das dürfen wir Sozialdemokraten nicht zulassen. Woher soll das Geld kommen? Eine weitere Senkung der Rentenversicherungsbeiträge kommt natürlich nicht infrage. Wir brauchen nach dem Modell des DGB höhere Beiträge, um die Leistungen der Rente stabil zu halten. Ist nicht eher eine grundsätzliche Reform des Rentensystems erforderlich? Wie Sie wissen, habe ich selbst vor vielen Jahren gemeinsam mit Experten ein solches Modell entwickelt. TITEL z u r PERSO N nach einigen Jahren Tätigkeit in der Branche fast zehn Prozent plus auf die Rente. Die Rendite beträgt aktuell vier Prozent, doch es wird angesichts der niedrigen Zinsen immer schwieriger, sie zu halten. Dabei müssen wir weder Aktionäre noch einen Vorstand befriedigen, der von der Suche nach abenteuerlichen Renditen getrieben ist. Es wird immer dann schwierig, wenn an der Altersversorgung noch jemand anders verdienen will. Von daher sage ich, dass die individuelle kapitalgedeckte Rentenvorsorge über private Anbieter ein Weg ist, der nicht zum Erfolg führt. Falls es für Rot-Grün nicht reicht: Wird es auch einen Arbeitsminister Wiesehügel in einer großen oder in einer rot-rot-grünen Koalition geben? Wir sind für Rot-Grün angetreten. Solange der Wähler nicht entschieden hat, brauchen wir über andere Optionen nicht diskutieren. ist ein Mensch, der sich ein Leben in einer Großstadt nicht wirklich vorstellen kann – trotz Zweitwohnung in Berlin. Freie Zeit verbringt er am liebsten beim Alpinwandern. Geboren wurde der gelernte Beton bauer in Mülheim an der Ruhr. Er trat 1973 in die SPD ein, der er auch als Gegner der Agenda 2010 treu blieb. Wiese hügel ist seit 1976 Gewerkschaftssekretär und seit 1995 Bundesvorsitzender der IG BAU. Ab 1998 gehörte er für eine Wahlperiode als SPD-Abgeordneter dem Bundestag an. Klaus Wiesehügel, 60, Das Konzept der IG BAU forderte eine Einbeziehung aller Erwerbstätigen sowie aller Einkommensarten in die gesetzliche Rentenversicherung. Ja. Unser Modell war gut, … … und stieß in der SPD auf Widerstand. Die Erwerbstätigenversicherung ist Ziel der SPD. Ich glaube aber, dass wir diesen Diskussionsprozess intensiver angehen müssen. Wo ist Ihre persönliche rote Linie? Welchen faulen Kompromiss werden Sie als alter Gewerkschafter nicht mittragen? Wenn es keinen gesetzlichen Mindestlohn gibt, gibt es auch keinen Arbeitsminister Wiesehügel. Das ist ein Punkt, wo ich keinen Kompromiss machen werde. Wir machen ein Gesetz über einen gesetzlichen Mindestlohn über alle Branchen und Regionen hinweg. Die Zeitungen berichteten jüngst über innergewerkschaftliche Auseinandersetzungen in der IG BAU. Es gibt offenbar Kritik am Führungsstil des Klaus Wiesehügel. Die Rede ist von einem Mangel an innerer Demokratie. Wie sehr hat Ihnen das im Wahlkampf geschadet? Wenn man aufs Trapez steigt, muss man wissen, dass es schaukelt. Wenn der Chef einer großen Organisation geht, gibt es immer Diskussionen. Die Lager positionieren sich, das ist doch normal. Hätten wir keinen Wahlkampf, wäre darüber kaum berichtet worden. Es geht doch eigentlich darum, das Kompetenzteam der SPD zu treffen. Was macht Klaus Wiesehügel nach einer verlorenen Wahl? Wir verlieren nicht. ■ Welche Zukunft hat die kapitalgedeckte private Rentenvorsorge? Ich bin Aufsichtsratsvorsitzender der Sozialkasse Bau, eines der größten Pensionsfonds in Deutschland. Dieser garantiert Arbeitnehmern der Bauwirtschaft Mitbestimmung 9/2013 23 Diese Leute wollen in den Bundestag Die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder im Bundestag ist nach wie vor hoch. Wir stellen sechs Männer und Frauen mit gewerkschaftlichem Stallgeruch vor, die jetzt um ein Mandat kämpfen. KANDIDATEN Die Frau, die Ströbele schlagen will Cansel Kiziltepe arbeitet im Stab des Arbeitsdirektors von VW. Jetzt kandidiert sie im Berliner Bezirk FriedrichshainKreuzberg für die SPD – und setzt sich für gleiche Bildungschancen ein.Text: KARIN FLOTHMANN „Oh Herr, lass mich da stehen, wo die Stürme wehen, und verschone mich nicht.“ Cansel Kiziltepe zitiert diesen Vers langsam. Sie spricht zu ihren SPD-Genossen in Berlin. Das Zitat aus einer mittelalterlichen Volksweise hat sie von dem kürzlich verstorbenen SPDPolitiker Ottmar Schreiner. Von ihm hat sie es oft gehört, als sie noch seine Referentin im Bundestag war. „Dieser Satz zeigt Geradlinigkeit, Standhaftigkeit und vor allen Dingen Mut“, sagt Kiziltepe. „Auch dann, wenn die neoliberale Hegemonie erdrückend erscheint.“ Deshalb ist der Satz ihr Lieblingsspruch geworden. Cansel Kiziltepe zitierte diesen Vers auch, als sie sich beim SPDKreisverband Friedrichshain-Kreuzberg bewarb. Weil Ottmar Schreiner ihr „politischer Ziehvater“ war, wie sie sagt. Im September wird sie auf Listenplatz fünf der Berliner SPD stehen. Und versuchen, als Direktkandidatin den Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg zu gewinnen. Ihr Konkurrent ist Hans-Christian Ströbele. Die 37-Jährige nimmt’s gelassen. Anders als der Grüne, der aus gutbürgerlicher Familie stammt und nicht in Berlin groß wurde, kommt Cansel Kiziltepe aus Berlin-Kreuzberg. Hier „im Wrangelkiez“ ist sie geboren und auf gewachsen. Hier ging sie zur Schule. Ihr Vater kam 1960 aus der Türkei. Erst arbeitete er in Remscheid und Hagen, 1972 zog er mit der Familie nach Berlin. Er war Schlosser bei Mercedes, Cansels 24 Mitbestimmung 9/2013 Mutter war Hausfrau. „Mein Vater war immer Gewerkschaftsmitglied“, sagt Kiziltepe, „IG Metall, klar.“ Sie selbst ist inzwischen auch bei der IG Metall und zwar seit sie im Stab von Horst Neumann, dem Arbeitsdirektor von VW, arbeitet. Zuvor war sie ver.diMitglied. „Zuerst war ich bei den Gewerkschaften“, betont Kiziltepe, „erst sehr viel später bin ich in die SPD eingetreten.“ Das war im Jahr 2005. Da hatte sie schon an der TU-Berlin VWL studiert. Bei Professor Jürgen Kromphardt, ihrem zweiten Ziehvater. Und hatte schon eine Zeit lang beim DGB gearbeitet und beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Es war die Zeit, als die Regierung Schröder gerade die Agenda 2010 umgesetzt hatte. „Ich war immer agendakritisch“, sagt Kiziltepe. „Und heute bestätigen alle Zahlen, dass das keine sozialdemokratische Politik war.“ Gerade deshalb sei sie damals in die SPD eingetreten und begann, für Ottmar Schreiner zu arbeiten. „Ich will die SPD wieder sozialdemokratisch machen“, sagt die kleine, zierliche Frau. Zu festlicheren Anlässen versucht sie, ihre schwarzen, lockigen Haare zu einem Zopf zu bändigen. An einem Haus in Friedrichshain soll eine Plakette enthüllt werden, die daran erinnert, dass Friedrich Ebert hier mit seiner Familie von 1905 bis 1911 gelebt hat, der erste Reichspräsident der Weimarer Republik. Berliner SPD-Prominenz versammelt sich. Cansel Kiziltepe schüttelt Hände, umarmt einige herzlich. Sie gehört inzwischen zu dieser Prominenz dazu. Auch sie soll eine Rede zu Ehren Eberts halten. Sie spricht von den Arbeitsverhältnissen der Kaiserzeit – und von denen heute, von gerechterer Bezahlung und besseren Arbeitsbedingungen, die auch heute vonnöten sind. Kiziltepe streift sich eine widerspenstige Haarsträhne aus dem Gesicht. „Lasst euch nicht entmutigen!“, ruft sie ihren Genossen in Berlin zu. Wieder muss sie an Ottmar Schreiner denken. „Ich bin stolz auf ihn“, sagt sie, „weil er ein aufrechter Sozialdemokrat war, der seinen Kompass nie aus den Augen verlor.“ Ottmar trat für Ziele ein, denen auch sie sich verschrieben hat. Zum Beispiel dem Aufstiegsversprechen: Kein Mensch solle bei der Bildung aufgrund seiner sozialen Herkunft benachteiligt werden. „Ich habe von den Bildungsreformen Willy Brandts profitiert“, sagt Kiziltepe. „Mein Vater hat sehr viel Wert auf gute Bildung gelegt“, erzählt sie. „Er hat mich und meinen Bruder jeden Morgen zur Schule gefahren, zur ersten Ganztagsschule Berlins.“ Auch Cansels Tochter geht heute auf eine Ganztagsschule. Die 12-Jährige ist gerade Klassensprecherin geworden. „Sie macht mir jetzt schon Konkurrenz“, meint Cansel Kiziltepe und lacht. ■ Foto: Michael Hughes TITEL Foto: Die Linke Politik-Rebell Für Jochen Nagel war 2013 ein besonders heißer Sommer: Der begann bereits Anfang Juni bei der kapitalismuskritischen Blockupy-Demonstration in Frankfurt, bei der er sich von Polizisten mit Pfefferspray besprühen lassen musste – und war Ende Juli noch lange nicht vorbei, als der 63-Jährige lautstark mit Flughafen-Anwohnern gegen eine neue Landebahn protestierte. Der hessische GEW-Vorsitzende ist ein Gewerkschafter, der sich gern auch jenseits der Gremien einmischt. Aber Proteste gegen die Frankfurter Flughafenerweiterung? Klingt schwer nach Startbahn West. Führt er da nicht Kämpfe aus dem vergangenen Jahrhundert? Nagel lacht. „Manchmal fühle ich mich schon wie im Hamsterrad“, räumt der hessische GEW-Vorsitzende ein, der als unabhängiger Kandidat der Linken für den Bundestag kandidiert. Dass die Bildungsausgaben unter den OECD-Empfehlungen liegen, Lehrer in Hessen die höchsten Arbeitszeiten bundesweit aufweisen, das mögen keine neuen Themen sein, aber Themen, „gegen die wir trotzdem die Stimme erheben müssen“. Warum strebt Nagel als Abgeordneten-Neuling nach der harten Berliner Oppositionsbank, wo er doch in seinen zwölf Jahren als GEW-Chef Gestaltungsmacht hatte? Den Lehrer für Gesellschaftskunde und Mathematik treibt das große Ganze um: „ein handlungsfähiger Sozialstaat“. Er will „seine Erfahrungen dahin tragen, wo ständig darüber hinwegregiert wird“. Dass die Kandidatur gewerkschaftsintern zum Konflikt wegen Zweifeln an seiner Unabhängigkeit geführt hat, ficht den zweifachen Familienvater nicht an. Auch dass er nach etwas Gerangel nur auf dem wenig aussichtsreichen Platz vier der Landesliste landete, demotiviert ihn nicht; „Diskutieren und Themen voranbringen macht mir einfach Spaß – egal, ob das Podium in Hessen oder in Berlin steht.“ ■ 26 Mitbestimmung 9/2013 Foto: K-F Schneider Jochen Nagel ist Landesvorsitzender der Gewerkschaft GEW in Hessen. Er will für die Linkspartei in den Bundestag einziehen, denn er macht sich Sorgen um den Sozialstaat. Text: LUKAS GRASBERGER TITEL Versierter Grenzgänger Hans-Joachim Schabedoth , Politikberater beim IG Metall- und zuvor DGB-Bundesvorstand, kandidiert für die SPD im Wahlkreis Hochtaunus (im Bild 3.v.l.).Text: CORNELIA GIRNDT Foto: privat Er weiss, wie SPD-Entscheider ticken und warum Einheitsgewerkschafter sich auch gar nicht einig sein können. Hans-Joachim Schabedoth ist ein Erklärer zwischen Partei und den Gewerkschaften. Wenn man, wie er, die klassische Arbeits- und Sozialpolitik drauf hat und dazu noch den Berliner Politikbetrieb kennt, ist das eine wertvolle Ressource. Mehr noch – Schabedoth ist bekannt als unermüdlicher Buchschreiber und Chronist der Regierungsjahre seit Helmut Kohl. Jetzt will er selbst Politik machen, dafür klopft er an Haustüren und redet mit Wählern über „die Versagensfälle der Regierung Merkel“ die soziale Spaltung, die zerstörte Arbeitsmarktordnung. Etwa bei der politischen Sommertour, die auf dem Campingplatz in Odersbach beginnt und in Tomys Sportsbar endet. Wahlkämpfend absolviert der Politikwissenschaftler Schabedoth, der lange in Berlin erst beim DGB-Bundesvorstand und jetzt bei der IG Metall für Politische Planung zuständig ist, gefühlte 110 Termine – darunter Apfelwein- und Hölderlintage und der Besuch bei Mittelstandsfirmen. Das alles seien wertvolle Erfahrungen, verlautet der 61-Jährige und man ist fast geneigt, ihm zu glauben, dass er sich erneut von seiner Partei habe in die Pflicht nehmen lassen. Die hessischen Genossen nominierten ihn mit stolzen 98 Prozent, in diesem selbst für einen promovierten Sozialdemokraten schwierigen Hochtaunus-Wahlkreis, wo nördlich von Frankfurt eine Menge Besserverdienende wohnen. Umso mehr kämpft er sich durch auf Feuerwehrund Brunnenfesten und um seine Chance. Die hat er, tja, sofern seine Partei zulegt. ■ Auf Gerechtigkeit gepolt Gabriele K atzmarek leitet den Bezirk Rhein-Main der IG BCE. Sie ist die Direktkandidatin der SPD für Baden-Baden/ Rastatt und engagiert sich gegen psychische Belastungen am Arbeitsplatz.Text: LUKAS GRASBERGER „Nicht zu fassen“, sagt Gabriele Katzmarek, wenn die Rede auf Werkverträge kommt. In ihrem Wahlkreis hat die Bezirksleiterin der IG BCE oft mit angeblich selbstständig Beschäftigten zu tun, die nur für eine Firma arbeiten und dennoch nicht davon leben können. „Dagegen muss eine rechtliche Regelung her“, sagt Katzmarek, die für die SPD in den Bundestag strebt. „Die Arbeitnehmerüberlassung wird zu locker gehandhabt.“ Die Chancen, dass sie das Thema bald als Politikerin vorantreiben kann, stehen gut: Sie ist Direktkandidatin für Baden-Baden/Rastatt und hat zudem einen aussichtsreichen Platz auf der Landesliste ergattert. Als Abgeordnete will sie sich gegen psychische Belastungen am Arbeitsplatz engagieren sowie für die Förderung von Jugendlichen, die schwer in Ausbildung zu vermitteln sind. Als Bergarbeiterkind aus dem Ruhrgebiet ist sie von klein auf „auf Gerechtigkeit gepolt“ worden, als sie ihre Mutter, die als Krankenschwester arbeitete, zur Arbeit in Heime und Krankenhäuser begleitete. Bald nach ihrer Ausbildung zur Chemielaborantin begann Katzmarek, sich in der Gewerkschaft zu engagieren. Der Liebe wegen zog sie nach Mannheim, stieg auf zur Leiterin im Gewerkschaftsbezirk Karlsruhe. 2012 wechselte sie zum Bezirk Rhein-Main, wo sie seither die Großen der Branche wie Infraserv und Hoechst betreut. Ihr Engagement blieb der Gewerkschaftsspitze nicht verborgen: IG-BCEChef Michael Vassiliadis förderte und ermunterte Katzmarek auch zur Bundestagskandidatur. ■ Mitbestimmung 9/2013 27 Engagiert gegen Atommüll Uwe Lagosk y ist Betriebsrat bei den Braunschweiger Stadtwerken. Er kandidiert im Wahlkreis Salzgitter-Wolfenbüttel für die CDU und will, dass der Atommüll aus der Asse verschwindet.Text: KARIN FLOTHMANN Eine gutbürgerliche Gaststätte am Stadtrand von Wolfenbüttel. Das Durchschnittsalter ist 60 plus, an langen, mit Kerzen geschmückten Tischen sitzen die Zuhörer. Karl Josef Laumann, der Vorsitzende der Christlich Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA), ist angereist, um den örtlichen CDU-Kandidaten zu unterstützen. Er sagt: „Wir haben hier einen Kandidaten, der mit beiden Beinen auf der Erde steht.“ Und: „Der Uwe ist einer, der den Leuten nicht nach dem Mund redet.“ Der Uwe, das ist Uwe Lagoksy, Betriebsratsvorsitzender der Braunschweiger Stadtwerke und Konzernbetriebsratsvorsitzender der dazugehörigen Konzerngruppe BS Energy. Der 51-Jährige kandidiert im Wahlkreis Salzgitter-Wolfenbüttel zum ersten Mal für den Bundestag. Sein Kontrahent ist Sigmar Gabriel. Seit 1957 hat die CDU den Wahlkreis nicht mehr direkt gewonnen. Lagosky kommt auf die kleine, improvisierte Bühne und greift das Mikrofon: „Ich gebe die Themen, die mich beschäftigen, nicht an der Garderobe des Bundestages ab, das verspreche ich euch!“, sagt er. Den wachsenden Niedriglohnsektor etwa. Einige klatschen, andere prosten dem Kandidaten zu. Mitglied bei ver.di und in der CDU, passt das eigentlich zusammen? Für Lagosky ist das keine Frage. Er kommt aus einem konservativen Elternhaus, „Freiheit und Selbstbestimmung in einer solidarischen Gesellschaft“ sind seine Werte. Als er noch Techniker im Heizkraftwerk Mitte in Braunschweig war, unkten Kollegen: „Mensch, Uwe, du bist so schwarz, du wirfst selbst im Kohlenkeller noch ’nen Schatten.“ Zugleich ist er höchster Arbeitneh- 28 Mitbestimmung 9/2013 mervertreter und kümmert sich um rund 1000 Kollegen. „Wir haben einen Organisationsgrad von 65 bis 70 Prozent“, sagt er und strahlt. Im Landestarifausschuss und als Mitglied im Bundesfachausschuss/Verhandlungskommission hat der ver.diMann den Tarifvertrag für die Versorgungsbetriebe mitgestaltet. Für die CDU hat er Kommunalpolitik gemacht. „Wenn ich etwas anfasse, knie ich mich da auch rein“, sagt er, und man nimmt es dem stämmigen Mann mit dem Mecki-Haarschnitt sofort ab. In Abbenrode, wo Lagosky mit seiner Familie lebt, hat er bis vor drei Jahren im Fußballverein gekickt, hier hat er mit seiner Frau gebaut – vor 23 Jahren wurde die Tochter geboren. An Elternzeit war da nicht zu denken. Aber es gab eine gute Krippe. Inzwischen sind zwei Söhne hinzugekommen. Am Nachmittag trifft sich Lagosky mit Betriebsräten der Asse. Das ehemalige Salzbergwerk, in dem radioaktiver Müll lagert, muss geschlossen werden, weil 2008 radioaktiv kontaminierte Salzlauge gefunden wurde. „Vor vier Jahren hieß es noch, 2020 ist der Müll raus“, erklärt Lagosky. „Jetzt heißt es, 2035 fangen wir überhaupt erst an mit der Entsorgung.“ Der CDU-Mann ist empört: „Vermutlich ist dann erst in 100 Jahren aller Atommüll draußen.“ Jürgen Lühr, Betriebsratsvorsitzender der Asse, pflichtet ihm bei: „Wir brauchen politische Entscheidungsträger, die ’nen Arsch in der Hose haben, um das Problem zu lösen“, sagt er. Lagosky möchte so ein Politiker sein. Er sichert den Betriebsräten seine volle Unterstützung zu. Er will in den Bundestag. „Aber mein Seelenheil hängt nicht davon ab“, meint er. ■ Foto: Peter Heller TITEL Parlamentserfahren Simone Ma aSS war Böckler-Stipendiatin und ist die rechte Hand von Katrin Göring-Eckart. Jetzt kandidiert sie selbst im Wahlkreis um SuhlSchmalkalden für die Grünen.Text: susanne k ailitz Foto: David Ausserhofer Sollte es mit dem Bundestagsmandat klappen, ist eines schon mal sicher: Einarbeiten muss Simone Maaß sich nicht. Die 46Jährige kennt das Parlament in- und auswendig. Seit acht Jahren leitet sie das Büro von Katrin Göring-Eckart, Spitzenkandidatin der Grünen und Bundestagsvizepräsidentin, ist also mitten im politischen Geschehen. Nun würde sie gern selbst Mitglied im Bundestag sein, was im ersten Anlauf vor vier Jahren nicht geklappt hat. Als Direktkandidatin für den Wahlkreis Suhl-Schmalkalden-Meiningen-Hildburghausen tourt sie momentan durch ihre thüringische Heimat und macht Wahlkampf. Was reizt sie an dem Job als Abgeordnete? „Das ist eine andere Art des Arbeitens – mit mehr Verantwortung und der Chance, direkter mitzugestalten.“ Auf das, was ihre Partei in dieser Legislatur vorzuweisen hat, ist sie stolz: „In der Zeit der Opposition hatten wir Zeit, grüne Konzepte zu entwickeln. Und da waren wir wirklich fleißig. Unsere Pläne für eine Kindergrundsicherung, den Mindestlohn oder eine Garantierente haben Hand und Fuß, die sind durchgerechnet und überzeugend.“ Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik sind Simone Maaß’ große Themen. Das bringt sie immer wieder in den Kontakt zu den Gewerkschaften. „Für mich sind diese Treffen wichtig. Ich erfahre dabei die Sicht der Arbeitnehmer aus den Betrieben – das ist der Praxischeck für unsere politischen Konzepte. Man wird immer wieder auf einiges aufmerksam, das man vorher so nicht bedacht hat.“ Ohnehin hat Maaß auch eine persönliche Bindung an die Gewerkschaften. Als ihr DDR-Abschluss als Lebensmitteltechnologin nach der Wende nicht anerkannt wurde, nutzte sie ein Stipendium der Hans-Böckler-Stiftung, um Sozialarbeit zu studieren, und schlug anschließend den Weg in die Politik ein. Seit 1995 arbeitet sie für Göring-Eckardt. Von ihr hat sie sich für die angestrebte eigene politische Karriere mindestens eine Sache abgeschaut: „Immer die Ruhe bewahren! Ich hoffe, dass mir das dann auch gelingt.“ ■ Mitbestimmung 9/2013 29 Pfeiler einer neuen Wir wollen gute Arbeit schützen und prekäre bekämpfen. Deutschland hat den zweitgrößten Niedriglohnsektor in Europa. Aus Arbeitsarmut droht Altersarmut zu werden – für viele Minijobber, Befristete und Aufstocker. 30 Wir wollen eine neue Ordnung der Arbeit. Sie ist nichts Statisches, es wird immer darum gehen, Rege lungen neu zu justieren, sie anzupassen – zumal im digitalen Zeitalter. Der deutsche Arbeitsmarkt ist tief gespalten nach drei Jahrzehnten neoliberaler Deregulierung. Unsere Sorge ist, dass durch die europäische Krise, die in vielen Ländern den Arbeitnehmerschutz aushöhlt, diese Spaltung weiter vertieft werden könnte. Wert und Würde des arbeitenden Menschen in einer freiheitlichen Gesellschaft zu sichern ist unser Auf trag – Tag für Tag. Wir brauchen starke Tarifpartner und Betriebsräte, die die Dinge neu ordnen. Wir brauchen mehr Mitbestimmung. Doch können die Sozialparteien allein nicht reparieren, was die Politik zerstört hat. Wir stärken die Arbeitnehmerrechte aus Tarifverträgen und Mitbestimmung Wir bekämpfen den Niedriglohnsektor und prekäre Beschäftigung Unsere Hauptsorge gilt der Erosion der Tariflandschaft. Deshalb muss der Gesetzgeber Möglichkeiten zur Allgemeinverbindlich erklärung von Tarifverträgen schaffen, damit deren Standards auf bisher tariflose Unter nehmen übertragen werden können. Auch im öffentlichen Interesse könnte dem Dumpingwettlauf so ein Riegel vorgeschoben werden. Deutschland braucht den einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro. Er ist das Herzstück einer neuen Ordnung der Arbeit. Wir wollen den Missbrauch von Leiharbeit und Werkverträgen stoppen und die Mitbestimmung bei diesen atypischen Beschäftigungsformen stärken. Wir wollen sozialversicherte Minijobs und Schluss machen mit der sachgrundlosen Befristung. Mitbestimmung 9/2013 TITEL Ordnung der Arbeit Zitate aus Reden von Michael Sommer Ohne Gesetzgeber wird es nicht gehen. Die Politik ist maßgeblich verantwortlich für den verwahrlosten Zustand am Arbeitsmarkt. Sie hat die schützenden Deiche eingerissen und den Arbeitsmarkt mit Mini jobbern, Solo-Selbstständigen und Hartz-IV-Auf stockern geflutet; sie hat den Missbrauch bei Leih arbeit und Werkverträgen ermöglicht. und Wählerinnen. Die Stärkung ihrer Position am Arbeitsmarkt stärkt auch die Demokratie. Es sind vielfach die Niedriglöhner und Erwerbslosen, die nicht mehr zur Wahlurne gehen. Nachdem man sich jahrzehntelang an den Bedürf nissen des Marktes orientiert hat, ist es an der Zeit, sich den Bedürfnissen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zuzuwenden. Sie sind genauso Wähler Beiträge des DGB-Vorsitzenden Michael Sommer: m e h r I n f o r m at i o n e n Konturen einer neuen Ordnung der Arbeit, www.dgb.de > Themen > Arbeit Für eine neue Ordnung der Arbeit, www.gegenblende.de Wir wollen reguläre Arbeit absichern und mehr gute und fair bezahlte Arbeit schaffen Wir ermöglichen selbst bestimmte Arbeitszeiten, Vereinbarkeit und Entgeltgleichheit Der Wunsch nach Sicherheit und Planbarkeit, nach einem festen, unbefristeten Arbeitsverhältnis rangiert bei den Arbeitnehmer/innen in Deutschland ganz oben. Dazu trägt mehr, nicht weniger Kün digungsschutz bei. Die Menschen brauchen einen besseren Gesundheitssschutz am Arbeitsplatz, von daher befördern wir Initiativen gegen Stress, Burn-out und Mobbing. Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen sollen Familie und Beruf besser vereinbaren können. Wir fordern, dass der Wechsel von Teil- wieder zurück auf Vollzeit garantiert ist. Wir unterstützen die Beschäftigten in ihrem Wunsch nach Weiterbildung und Qualifizierung. Wir wollen Regelungen, die ihnen Kinder erziehungs- und Pflegephasen ermöglichen. Mitbestimmung 9/2013 31 „Betriebsräte brauchen zwingende Rechte“ IG-BCE-Gewerkschafterin Yasmin Fahimi erklärt, warum es bei der Bundestagswahl auch um eine Reform der betrieblichen Mitbestimmung geht. INTERVIEW Das Gespräch führte Joachim F. Tornau , Journalist in Kassel. 32 Frau Fahimi, vor zwölf Jahren wurde das Betriebsverfassungsgesetz durch die rot-grüne Koalition zuletzt modernisiert. Anlässlich der bevorstehenden Bundestagswahl hat die IG BCE nun die Debatte um eine neuerliche Reform der betrieblichen Mitbestimmung angestoßen. Warum? Die Arbeitswelt hat sich massiv verändert. Fremdbeschäftigung – zunächst per Leiharbeit, jetzt immer häufiger auch über Werkverträge – hat in den Betrieben enorm zugenommen und die Stammbelegschaften unter Druck gesetzt. Auch die Befristung von Arbeitsverhältnissen ist ausgeufert. Das ist das eine. Das andere ist die steigende Zahl psychischer Erkrankungen, weil viele Beschäftigte durch die extreme Zunahme von Leistungsverdichtungsprozessen überfordert sind. Wegen des demografischen Wandels, der zu einer längeren Lebensarbeitszeit führen wird, droht sich dieses Problem künftig noch weiter zu verschärfen. All das hat es vor zwölf Jahren in dieser Dimension noch nicht gegeben. wir uns nicht. Es geht darum, Missbrauch und das Unterlaufen von Tarifverträgen zu verhindern. Was müsste sich Ihrer Ansicht nach ändern, damit Betriebsräte auf diese neuen Herausforderungen reagieren können? Betriebsräte brauchen ein zwingendes Mitbestimmungsrecht bei jeglicher Form von Fremdbeschäftigung. Nur mit einer solchen allgemeinen Regelung können wir vom ständigen Hinterherlaufen wegkommen: Wenn wir die Leiharbeit regulieren, dann kommen die Werkverträge. Und danach kommt vielleicht irgendein neues vertragliches Konstrukt. Wir wollen, dass sich die Betriebsparteien darüber verständigen müssen, wie viel Fremdbeschäftigung wirklich notwendig und sinnvoll ist im Verhältnis zur Stammbelegschaft. Es geht uns nicht darum, Fremdbeschäftigung ganz zu verbieten: Den flexiblen Anforderungen einer globalisierten Industrie verweigern Wie könnte das konkret aussehen? Bei der Um- oder Restrukturierung eines Unternehmens beispielsweise könnte der Betriebsrat prüfen, inwieweit ein Anstieg der Arbeitsverdichtung zu befürchten ist, und dann Maßnahmen zu Abwendung, Milderung oder Ausgleich der Belastung verlangen. Eine Vereinbarung mit dem Arbeitgeber über die nötigen Schritte muss erzwingbar sein, notfalls durch Anrufung der Einigungsstelle – weil wir leider die Erfahrung gemacht haben, dass die Arbeitgeber die Bedeutung dieses Themas noch nicht ausreichend erkannt haben. Mitbestimmung 9/2013 Und wie könnte der Schutz vor Leistungsdruck und Überlastung Eingang ins Betriebsverfassungsgesetz finden? Das Thema ist uns fast noch wichtiger als die Fremdbeschäftigung – weil es die Belegschaften in der ganzen Breite betrifft. Heute müssen wir uns nicht mehr nur darum sorgen, dass Beschäftigte, die am Ende ihrer Erwerbsbiografie stehen, gesund in Rente gehen können. Sondern es klappen uns auch die Jüngeren zusammen, weil sie dem Leistungsdruck nicht mehr standhalten. Das Prinzip der Gesundheitsprävention muss darum künftig stärker die Betriebsratsarbeit prägen. Wir fordern, dass der langfristige Erhalt der Arbeitsfähigkeit in den Aufgabenkatalog des Betriebsrats aufgenommen wird. Außerdem brauchen Betriebsräte ein Initiativrecht, um frühzeitig Gefahren von Leistungsverdichtung abwehren zu können. Bei all diesen Herausforderungen der modernen Arbeitswelt könnte man – und viele in den Gewerkschaften tun das ja auch – nach TITEL z u r pe r so n Foto: IG BCE Yasmin Fahimi, 45, leitet das Ressort „Politische Planung“ beim Hauptvorstand der IG BCE und ist unter anderem verantwortlich für die Kampagne „Gute Arbeit“. Außerdem sitzt die Diplom chemikerin im Vorstand des „Denkwerks Demokratie“, eines 2011 gegründeten Thinktanks, dem Vertreter von SPD, Grünen, Gewerkschaften, Umweltverbänden sowie der Hans-Böckler-Stiftung angehören. stärkerer gesetzlicher Regulierung rufen. Warum setzen Sie stattdessen zuallererst auf mehr Einfluss für Betriebsräte? Eine Anti-Stress-Verordnung, wie sie die IG Metall ausgearbeitet hat, finden wir sehr gut. Wir glauben nur nicht, dass das das allein helfende Mittel ist. Das wäre ja nur so etwas wie eine Prüfliste, die man durchgehen kann. Wir wollen aber den Dialog über konkrete betriebliche Maßnahmen. Das Betriebsverfassungsgesetz ist für uns nach wie vor das Zentrum der demokratischen Gestaltung von Arbeitsbedingungen und Arbeitsverhältnissen. Das muss man erst einmal stabilisieren. Eine Anti-Stress-Verordnung zu erlassen widerspricht dem dann nicht. Sie ist eine sinnvolle Ergänzung. So wie andere Anpassungen auch. An welche gesetzlichen Anpassungen denken Sie? Drei Dinge: Im Arbeitsschutzgesetz sollte das Thema der psychischen Belastungen stärker ausgebaut werden. Im Teilzeit- und Befristungsgesetz sollten Befristungen wieder auf maximal 24 Monate begrenzt und ohne Sachgrund gänzlich verboten werden. Und wir fordern eine Änderung des Handelsbilanzgesetzes, damit Fremdbeschäftigte endlich genauso in den Bilanzen auftauchen wie Festangestellte. Dass Unternehmen ihren Personalaufwand schönrechnen können, weil die Ausgaben für Fremdbeschäftigte bislang nur versteckt als Sachkosten auftauchen, halten wir für völlig abstrus. Das Bundesarbeitsgericht hat in diesem Jahr zwei viel beachtete Entscheidungen zur Leiharbeit gefällt: Leiharbeitnehmer zählen mit, wenn die Größe der Belegschaft und damit die des Betriebsrats bestimmt wird. Und: Wenn Leiharbeiter unbefristet eingestellt werden sollen, hat der Betriebsrat ein Vetorecht. Haben die Richter Ihnen damit nicht ein wenig die Luft aus den Forderungen gelassen? Der Gesetzgeber muss sich langsam schämen, dass er sich von den Gerichten immer wieder erklären lassen muss, was notwendige und sinnvolle Maßnahmen sind. Unsere Forderungen erübrigen sich dadurch nicht, sondern werden eher noch beflügelt – und könnten eigentlich auch umso unverkrampfter von den Parteien aufgenommen werden. Werden sie das denn? Wir hatten unsere Forderungen an alle Parteien geschickt mit der Bitte, sie ins Wahlprogramm aufzunehmen. Und das haben zumindest SPD und Grüne getan – weitestgehend. Bei der Linkspartei stehen dagegen nur sehr allgemeine Sätze im Programm. Und von CDU und FDP haben wir zu dem Thema nichts gehört oder gelesen. Für wie groß halten Sie die Chance, dass Ihre Forderungen nach der Bundestagswahl Realität werden? Ich gebe keine Wahlprognosen ab. Ganz allgemein versprechen wir uns natürlich nicht, dass die FDP durch ein Bad der Erkenntnis geht. Damit gibt es erst einmal zwei relevante Parteien, die unsere Forderungen unterstützen und die entweder miteinander oder auch mit der CDU koalieren könnten. Und Bundeskanzlerin Angela Merkel wiederum hat sich – Stichwort Mietpreisbremse und Mindestlohn – zuletzt ja durchaus offen für Ideen aus anderen politischen Lagern gezeigt. Auch da könnte man also noch einmal anklopfen. Was spräche dagegen, sich als große bürgerliche Volkspartei einem Begehren der Gewerkschaften anzunähern? Trotzdem: Ich würde eine der Parteien wählen, die unser Anliegen offensiv vertritt und nicht nur nicht Nein dazu sagt. Das ist für mich glaubwürdiger. ■ Mitbestimmung 9/2013 33 Stimmen der Arbeitnehmer Wie wollen die Menschen arbeiten? Was halten sie vom Mindestlohn, was von der Rente mit 67? Die IG Metall hat danach gefragt und mehr als 500 000 Menschen antworteten. Dieses Meinungsbild der Beschäftigten gibt wertvolle Hinweise – über den Wahltag hinaus. UMFRAGE Von KAY MEINERS , Redakteur des Magazins Mitbestimmung B etriebsräte, Vertrauensleute und Jugendvertretungen verteilten die Fragebögen unter dem Titel „Arbeit: sicher und fair!“. Auch über das Internet, per Brief oder durch das Mitgliedermagazin konnten viele Beschäftigte angesprochen werden. Am Ende beteiligten sich mehr als eine halbe Million Menschen an dieser Beschäftigtenbefragung der IG Metall. „Ein Rücklauf, der über den Erwartungen lag“, sagt Sabine Blum-Geenen, die beim Vorstand der IG Metall für die Umfrage zuständig ist. Die Beschäftigtenumfrage mit 20 Fragen hat die Gewerkschaft zusammen mit dem Fraunhofer Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) sowie dem Soziologischen Forschungsinstitut (SOFI) in Göttingen entwickelt. Die Haltung zu politi- schen Themen wird ebenso erkundet wie die Lage im Betrieb. Besonders erfreulich: Es gelang, viele Nichtmitglieder anzusprechen. Von ihnen stammt etwa ein Drittel der Antworten. BREITE ZUSTIMMUNG ZU KERNFORDERUNGEN_ Die Antworten dokumentie- ren breite Unterstützung für die IG-Metall-Forderungen zur Arbeitsmarkt- und Rentenpolitik. So sieht eine große Mehrheit der Befragten unbefristete und fair bezahlte Arbeit als elementar an. 88 Prozent der Befragten bezeichnen einen unbefristeten Arbeitsvertrag als sehr wichtig, 83 Prozent ein verlässliches Einkommen. Gleichzeitig geben ähnlich viele Befragte an, selbst einen unbefristeten Job sowie ein gutes und verlässliches Einkommen zu haben. Dennoch machen sich viele Menschen Sorgen um die Auswüchse am Arbeitsmarkt. Der Aussage, Deutschland brauche einen gesetzlichen Mindestlohn von anfänglich mindestens 8,50 Euro, stimmen 67 Prozent der Befragten voll und ganz zu. ig-metall-fragebogen: Es gelang, auch viele Nichtmitglieder anzusprechen Gleiches gilt für die Aussage, Leiharbeit und Werkverträge müssten gesetzlich neu geregelt werden, dabei müsse gründsätzlich gelten: „Gleiche Arbeit – gleiches Geld“. Ähnlich ist das Meinungsbild bei der Rente. Lediglich 4 Prozent der Befragten gehen davon aus, dass sie später von der gesetzlichen Rente gut leben können. Eine zusätzliche arbeitgeberfinanzierte Altersvorsorge finden daher 60 Prozent sehr wichtig und 32 Prozent wichtig. Mehr als drei Viertel der Befragten, genau 77 Prozent, stimmen der Aussage voll zu, die „Rente mit 67“ müsse zurückgenommen werden. Genausoviele stimmen der Aussage voll und ganz zu, der Arbeitgeber müsse auch in Zukunft Möglichkeiten eines flexiblen Einstiegs in die Rente fördern. In den Betrieben hapert es noch, was den demografischen Wandel angeht. Gerade einmal 33 Prozent der Befragten geben an, ihr Betrieb sei gut oder sehr gut auf älter werdende Belegschaften vorbereitet. Foto: IG Metall TITEL gewerkschafterin Blum-Geenen: Vom enormen Rücklauf positiv überrascht fAIRER AUSGLEICH GEFORDERT_ Auch zu den Arbeitsbedingungen liefert die Umfrage interessante Befunde. So geben 13 Prozent der von der IG Metall Befragten an, sich ständig gehetzt oder unter Zeitdruck zu fühlen. 40 Prozent stimmen der Aussage, sie müssten immer mehr Arbeit in der gleichen Zeit bewältigen, voll und ganz zu. Rund 40 Prozent sorgen sich, den wachsenden Anforderungen möglicherweise nicht mehr gewachsen zu sein. „Ziemlich spannend sind auch die Ergebnisse zur Flexibilisierung der Arbeitszeit“, sagt Blum-Geenen. „Die Menschen sind bereit, flexibel zu sein, wollen aber für Zugeständnisse einen fairen Ausgleich, der ihnen bei ihrer Zeitsouveränität hilft. Nine to five – das ist für viele Geschichte.“ Drei Viertel der Arbeitnehmer plädieren zwar für geregelte Arbeitszeiten – ebenso viele wünschen sich aber, die tägliche Arbeitszeit kurzfristig an private Bedürfnisse anpassen und Beruf und Familie vereinbaren zu können. Die Arbeitsatmosphäre in deutschen Unternehmen scheint derweil verbesserungswürdig zu sein. Von den Befragten antworten 27 Prozent auf die Frage nach einem guten Betriebsklima mit „Nein“, und eine gute Hälfte, 53 Prozent, wünscht sich mehr Mitsprache- und Mitgestaltungsmöglichkeiten. Dass beim Thema Weiterbildung im Betrieb keine Spitzenwerte erreicht werden, war zu erwarten und signalisiert Handlungsbedarf. Nur 43 Prozent der Befragten stimmen voll und ganz oder tendenziell der Aussage zu, dass der Betrieb ihnen ausreichend Möglichkeiten zur Weiterbildung anbietet. 57 Prozent verneinen dies. Es sind solche Zahlen aus den Betrieben, die man als besonders authentisch ansehen kann. Sehr hohe Zustimmungswerte gab es zu den sozialen Sicherungssystemen, deren Erhalt und Stärkung für 97 Prozent der befragten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ein „sehr wichtiges“ oder „wichtiges“ Handlungsfeld der Politik ist. Ebenso beachtlich: 80 Prozent fordern eine „solidarische Krisenbewältigung“ in Europa – was auch der Tatsache geschuldet sein mag, dass die Fragen sehr allgemein gestellt waren, was gemeinhin für hohe Zustimmungswerte sorgt. Auch GUT für die ORGANISATION_ Kein Zufall, dass die große Beschäftigten- Befragung im Wahljahr 2013 stattfindet. Die Ergebnisse veranschaulichen, dass die IG Metall mit ihren Forderungen nach sicheren und fair bezahlten Arbeitsverhältnissen einen zentralen Punkt anspricht. „Die Beschäftigtenbefragung bestätigt unsere Forderungen. Sie zeigt, dass an den Menschen vorbeiregiert wird“, sagt Blum-Geenen. Zudem liefert die Befragung auch reichlich Aussagen und Daten für die Pressearbeit. „IG-Metall-Studie: Mehr Druck am Arbeitsplatz“, titelte die „Südwest-Presse“; und die „Neue Rheinische Presse“ schrieb – nur halb richtig: „Forderungen von 514 134 IGMetallern“. Daneben nutzt die Gewerkschaft eigene Kanäle, um vor der Bundestagswahl ihre Forderungen lautstark publik zu machen – wie etwa die Kampagnenseite www.arbeitsicherundfair.de. Doch die IG Metall will mehr als ihrem politischen Forderungskatalog durch ein breites Basisvotum mehr Drive zu geben. Die Umfrageergebnisse sollen „ein wichtiger Baustein für die Weiterentwicklung der gewerkschaftlichen Ziele“ sein, erklären die beiden Vorsitzenden der IG Metall, Berthold Huber und Detlef Wetzel, im Vorwort einer Broschüre, die die Ergebnisse zusammenfasst. „Für alle Betriebe mit mehr als zehn Rückmeldungen gibt es außerdem über die Verwaltungsstellen automatisierte Auswertungen“, erklärt Gewerkschafterin Blum-Geenen. Die Ergebnisse der Umfrage sollen genutzt werden, um die Betriebs- und die qualitative Tarifpolitik weiterzuentwickeln. Die Vorsitzenden versprechen: „Beteiligungsorientiert werden wir unsere weitere Programmatik gestalten.“ Ein Prozess, der gerade erst begonnen hat. ■ m e h r i n f o r m at i o n e n Die Kampagnenseite der IG Metall: www.arbeitsicherundfair.de Die zentralen Ergebnisse der Umfrage mit vielen Grafiken (Broschüre): http://bit.ly/126OFQG Die Vorsitzenden der IG Metall zur Umfrage (Video): http://bit.ly/13CfqKq Mitbestimmung 9/2013 35 „Der Gesetzgeber muss nur wollen“ Wolfgang Uellenberg-van Dawen über entsicherte Arbeitsverhältnisse im Dienstleistungsbereich und die Chancen, mit dieser Bundestagswahl umzusteuern – hin zu guter Arbeit und guten Dienstleistungen. INTERVIEW Das Gespräch führte Cornelia Girndt in Berlin. Wolfgang Uellenberg, warum haben sich Formen von ungesicherter, schlecht entlohnter Beschäftigung gerade im Dienstleistungsbereich so ausgebreitet? Viele Dienstleistungsunternehmen bevorzugen das Geschäftsmodell „Niedriglohn und Entsicherung von Arbeitsverhältnissen“ anstelle des Geschäftsmodells „Innovationen, gute Arbeit und gute Dienstleistungen“. Das ist unser Hauptproblem. Ein Grund dafür ist, dass die Devise „Jede Arbeit ist besser als keine“ insgesamt das gesellschaftliche Klima verändert und Arbeit systematisch entwertet hat. Darum ist es notwendig, wie in der Industrie, durch Druck von Gewerkschaft und betrieblicher Interessenvertretung eine Strategie von „Besser statt billiger“ durchzusetzen, konkret von guter Arbeit für die Beschäftigten und guten Dienstleistungen für die Nutzerinnen und Nutzer. Der große Lohnabstand zwischen Industrie- und Servicebeschäftigten ist ein spezifisch deutsches Phänomen. Warum ist das so? Weil es politisch gewollt ist! Uns allen war klar: Der Beschäftigungsaufbau muss vor allem im Dienstleistungssektor passieren. Der richtigen Erkenntnis folgte die falsche Niedriglohnstrategie. Man hätte die Beschäftigungslücke bei den Dienstleistungen schließen müssen durch mehr Geld und gute Löhne, etwa wie in der Schweiz. Sowie durch einen Ausbau der Kinderbetreuung, Investitionen ins Gesundheitswesen oder in die Pflege, wie beispielsweise in den skandinavischen Ländern Hätte man Alternativen gehabt? Es hieß doch immer, bei Dienstleistungen funktioniert die Produktivitätspeitsche nicht. 36 Mitbestimmung 9/2013 Man hat den Dienstleistungen in Deutschland einen falschen Produktivitätsbegriff übergestülpt, der für die Industrie stimmen mag, nicht aber für den Dienstleistungssektor. Das war der Grundfehler. Wenn eine Erzieherin in einer Kita-Gruppe statt zehn Kinder 20 erziehen soll, dann wird das Arbeitsergebnis betriebswirtschaftlich gerechnet „produktiver“, aber die Qualität nimmt ab. Wir benötigen einen dem besonderen Charakter der Dienstleistungsarbeit angemessenen Begriff von Produktivität. Stattdessen schaut man nicht auf Qualität, sondern auf Zahlen, senkt die Kosten und entwickelt damit eine Strategie der Entsicherung von Arbeitsverhältnissen und Lohndrückerei. Wo ist das besonders eklatant? Wir reden von Hunger- und Niedriglöhnen gerade im Bereich der Minijobs, aber auch bei vielen Teilzeit- und Vollzeitbeschäftigten. Im Handel beispielsweise finden Frauen vielfach schlicht keine andere Beschäftigung mehr als in Minijobs. Wir reden auch von der kurzfristigen Leiharbeit, wo wir dringend Equal Pay brauchen. Wir reden vom Missbrauch von Werkverträgen, wo es durch Scheinselbstständigkeit zum Beispiel bei Kurierfahrern zum Sozialversicherungsbetrug kommt, weil sich Arbeitgeber durch Werkverträge der Pflicht von Sozialabgaben entziehen, obwohl sie die Hauptauftraggeber sind. Kann die Politik nachhaltig dagegen vorgehen? Auf jeden Fall. Der Gesetzgeber muss es nur wollen. Das sieht man bei der Leiharbeit, wo es nach Jahren der weitgehenden Deregulierung jetzt einen verbindlichen Mindestlohn gibt. Solange die Politik Foto: Deutsche Welle TITEL z u r pe r so n Wolfgang Uellenberg-van Dawen , 62, leitet den Bereich „Politik und Planung“ in der ver.di-Bundesverwaltung in Berlin. Der promovierte Historiker pendelt zwischen Hauptstadt und Heimatstadt Köln. Dort war er bis 2008 DGB-Vorsitzender, davor in Berlin Bundesvorstandssekretär des DGB und zuvor Büroleiter des damaligen DGB-Vorsitzenden Dieter Schulte. Wolfgang Uellenberg-van Dawen ist im Vorstand der Hans-Böckler-Stiftung. die Arbeitsverhältnisse weiter entsichert, nutzen Arbeitgeber, was ihnen die Politik anbietet. Der Staat muss daher wieder knallhart re-regulieren. Denn die Hartz-Reformen waren die Initialzündung für die Spaltung des Arbeitsmarktes – und eben kein Sprungbrett in dauerhafte und reguläre Beschäftigung, wie es versprochen worden war. Wenn alle Arbeitsverhältnisse wieder gleichermaßen arbeitsund sozialrechtlich gesichert sind, dann sind auch für alle Arbeitgeber die Bedingungen gleich. Der gesamte Niedriglohnsektor ist eine gigantische Subventionierung jener Arbeitgeber, die ihr Billig-Geschäftsmodell durchziehen. Im Handel, im Gesundheitswesen, der Gastronomie, im Erziehungsbereich, selbst bei öffentlichen Dienstleistungen sind mittlerweile die Hälfte der Beschäftigungsverhältnisse atypisch. Das sind vor allem Dienstleistungsbranchen mit einer hohen Beschäftigung von Frauen. Der Dienstleistungssektor ist auch deshalb besonders betroffen, weil die Arbeit von Frauen geringer bewertet wird als die von Männern, ebenso wie die Dienstleistungsarbeit gegenüber der Industriearbeit geringer bewertet wird. Zudem sind es die Frauen, die Beruf und Familie vereinbaren müssen, was dann im Dienstleistungsbereich zu ausufernden Teilzeitbeschäftigungen führt. Deshalb fordert der DGB schon seit vielen Jahren ein Rückkehrrecht von der Teilzeit in die Vollzeit oder Arbeitszeiten, die eine bessere Vereinbarkeit für Männer wie Frauen ermöglichen. Sind die Parteien generell bereit, mehr zu tun? Was die Wahlprogramme von SPD, Grünen und Linken betrifft, sind wir mit unseren Forderungen relativ weit vorgedrungen. So bein- haltet das Wahlprogramm der Sozialdemokraten und das der Grünen in weiten Teilen die Abkehr von Hartz IV. Und es gibt in allen Lagern eine große Bereitschaft, die Entsicherung der Arbeitsverhältnisse zurückzunehmen, nachzulesen etwa in den Programmen aller Oppositionsparteien. Denn es ist etwas Vorhersehbares passiert: Viele Menschen können von ihrer Arbeit, häufig sogar in Vollzeitbeschäftigung, nicht mehr menschenwürdig leben. Sie sind auf staatliche Unterstützung angewiesen, können keinen Beitrag zu den Sozialsystemen leisten und fallen auch als Steuerzahler aus. Hätte ver.di mehr tun müssen gegen die Deregulierung der Dienstleistungen? Wo bleibt das genuine Geschäft der Gewerkschaften? Wir als ver.di müssen nicht nach dem Gesetzgeber als Retter in der Not rufen. Unsere tariflichen Erfolge können sich sehen lassen. Dennoch können wir im ständig wachsenden Dienstleistungssektor nicht die zunehmende Arbeitgeberwillkür und Entrechtung verhindern, wenn diese gesetzlich möglich sind. Denn die Entsicherung der Beschäftigungsverhältnisse hat unzuträgliche Machtverhältnisse in den Betrieben geschaffen und Menschen verängstigt. Wir wollen, dass die Menschen in ihrer Arbeit wieder frei und selbstbestimmt sind. Darum geht es und nicht um Flexibilität zulasten von Menschenwürde und Sicherheit. Gilt das auch für die europäischen Länder, die derzeit harten Struktur- sprich Arbeitsmarktreformen unterzogen werden? Deutschland ist ein Referenzmodell für Europa. Umso wichtiger ist es, dass bei uns die Entsicherung der Arbeitsverhältnisse zurückgenommen wird. Genau das Gegenteil will aber der Sachverständigenrat, wenn er der „Neuen Ordnung der Arbeit“ eine Absage erteilt, weil diese die Wettbewerbsfähigkeit in Deutschland schwächen, während die Wettbewerbsfähigkeit in Südeuropa durch Strukturreformen verbessert würde. Die deutsche Lektion ist aber: Nur durch Innovation und Wachstum werden wir in Europa aus der Krise kommen, nicht durch weitere Deregulierung der Arbeitsmärkte. Wir sind durch alle Höhen und Tiefen dieser Entsicherung der Arbeitsverhältnisse gegangen. Und merken jetzt, wohin das führt. Verwundert nicht umso mehr die allgemeine Apathie bei dieser Bundestagswahl 2013? Das Drama dieser Wahl ist die öffentliche Inszenierung eines Kampfes zweier Personen, wovon die eine hoch- und die andere heruntergeschrieben wird. Verdeckt wird dadurch ein knallharter Machtkampf um Verteilungsgerechtigkeit und um eine Neuordnung des Arbeitsmarktes in einem handlungsfähigen Sozialstaat. Meine Meinung ist: Wer eine andere Politik will, darf auch Optionen wie Rot-Rot-Grün nicht ausschließen. Ein Politikwechsel, wie er für unsere Gesellschaft und für ein soziales Europa dringend erforderlich ist, erfordert auch einen Machtwechsel. Darum darf es kein „Weiter so“ geben. ■ Mitbestimmung 9/2013 37 Wie die Parteien Arbeit neu ordnen wollen Wer macht sich besonders stark für die Tarifautonomie, die Bekämpfung des Niedriglohnsektors und gegen den Missbrauch von Werkverträgen und Minijobs? Die Rezepte unterscheiden sich erheblich. WAHLPROGRAMME Von BARBARA ADAMOWSKY, Leiterin der Parlamentarischen Verbindungsstelle im DGB Die SPD verspricht, den Wert der Arbeit wieder herzustellen – gemeinsam mit starken Gewerkschaften und einer gestärkten Tarifautonomie. Dabei setzt sie stärker auf gesetzliche Lösungen. Sie will den Niedriglohnsektor mit einem gesetzlichen, flächendeckenden, in Ost und West einheitlichen Mindestlohn in der Höhe von mindestens 8,50 Euro zurückdrängen. Der Geltungsbereich des Arbeitnehmerentsendegesetzes soll auf alle Branchen ausgeweitet werden, um tarifliche Branchenmindestlöhne möglich zu machen. Tariftreue soll zu einem verbindlichen Kriterium bei der Vergabe öffentlicher Aufträge gemacht werden. Bei der Leiharbeit sollen gleiche Bezahlung und gleiche Behandlung gegenüber anderen Beschäftigten gesetzlich durchgesetzt, der Missbrauch von Werkverträgen durch eine klarere Definition von Scheinselbstständigkeit bekämpft werden. Die SPD will Minijobs in einem ersten Schritt sicherer machen (schriftlicher Arbeitsvertrag und Kontrolle, tariflicher Stundenlohn von mindestens 8,50 Euro) und in einem zweiten Schritt grundsätzlich reformieren. Die sachgrundlose Befristung soll abgeschafft und der Katalog möglicher Befristungsgründe überprüft werden. Die SPD will eine Anti-Stress-Verordnung ins Arbeitsschutzgesetz integrieren und den Arbeitnehmerdatenschutz verbessern. Mit einem Entgeltgleichheitsgesetz will sie die strukturelle Lohnbenachteiligung von Frauen beenden. SPD-PROGRAMM http://bit.ly/spdreg13 Die Partei Die Linke will „die Arbeit, ihre Verteilung, ihre Bezahlung, ihre Organisation neu und besser regeln“. Die Partei fordert ein Verbot der Leiharbeit und bis dahin gleiche Bezahlung und gleiche Behandlung und mehr Mitbestimmungsrechte für Betriebsräte bei Werkverträgen. Minijobs sollen von der ersten Stunde an sozialversicherungspflichtig sein. Kettenbefristungen und die sachgrundlose Befristung sollen untersagt, Praktika mit einer Mindestvergütung bzw. tarifvertraglich vergütet werden. Die Rechte der Beschäftigten und Gewerkschaften sollen gestärkt werden, gerade was ihre Rolle bei der Aushandlung von Löhnen betrifft. Deswegen plädiert die Partei für einen flächendeckenden Mindestlohn von zehn Euro. Dieser soll bis zum Ende der Wahlperiode auf „60 Prozent des nationalen Durchschnittslohnes“ steigen, derzeit etwa zwölf Euro. Tarifverträge sollen auf Antrag einer Tarifvertragspartei allgemeinverbindlich erklärt werden können. Die öffentliche Auftragsvergabe soll an Mindestlöhne und ortsübliche Tarifverträge geknüpft werden. Die Linke will eine Anti-Stress-Verordnung und ein individuelles Vetorecht bei der Umgestaltung der Arbeitsorganisation im Betrieb. PROGRAMM DER LINKSPARTEI http://bit.ly/dielinke2013 38 Mitbestimmung 9/2013 TITEL Die Partei Bündnis 90/Die Grünen verspricht, das Tarifvertragssystem zu stärken und Tarifflucht zu bekämpfen. Sie hat sich in ihrem Wahlprogramm auf einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn von mindestens 8,50 Euro festgelegt und will die Allgemeinverbindlicherklärung von Branchenmindestlöhnen und -tarifverträgen erleichtern. Leiharbeiter sollen nicht nur gleich entlohnt und behandelt werden, sondern auch einen Flexibilitätsbonus erhalten. Zur Bekämpfung von Missbrauch bei Werkverträgen will die Partei eine rechtliche Abgrenzung zur Leiharbeit. Sie will Kontrollen und Mitbestimmung stärken. Befristungsgründe sollen reduziert, Befristungen ohne Sachgrund abgeschafft werden und Bagatellkündigungen nicht mehr möglich sein. Die Minijobs sollen reformiert werden: Zuerst sollen sie eingedämmt und arbeits- und sozialrechtlich bessergestellt und später durch sozialversicherungspflichtige Beschäftigung ersetzt werden. Ein Entgeltgleichheitsgesetz soll mit verbindlichen Regelungen, wirksamen Sanktionen und einem Verbandsklage recht ausgestattet werden. Die Grünen wollen einen modernen Beschäftigtendatenschutz und eine Anti-Stress-Verordnung. PROGRAMM VON BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN http://bit.ly/gruene2013 Die beiden christlichen Parteien bekennen sich in ihrem Wahlprogramm zum Wert der Arbeit, zur Tarifautonomie und Tarifeinheit. Insgesamt sind sie davon „überzeugt, dass die Verantwortung für ein gutes Miteinander zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern in erster Linie bei den Tarifpartnern und in den Betrieben liegt“. So werden zwar Empfehlungen für die Sozialpartner ausgesprochen, aber gesetzliche Regelungen sehr zurückhaltend angekündigt. Eine Lohnfestsetzung durch die Politik wird abgelehnt: Für die Bereiche, in denen es keine Tarifverträge gibt, sollen die Tarifpartner gesetzlich in die Pflicht genommen werden. Sie sollen eine tarifliche Lohnuntergrenze festlegen – allerdings mit Unterschieden je nach Region oder Branche. Auch bei der Leiharbeit setzen die CDU und die CSU auf tarifliche anstatt auf gesetzliche Regelungen. Werkverträgen und Befristungen stehen sie positiv gegenüber, wenn auch Missbrauch verhindert werden soll. Zu Minijobs gibt es keine Vorschläge, etwas zu ändern; offensichtlich erkennen die Parteien hier keinen Handlungsbedarf. Bei der Bekämpfung von Arbeitsstress sollen Lösungen „partnerschaftlich von Arbeitnehmern und Arbeitgebern“ gefunden werden. Für den Anspruch von Frauen und Männern auf gleiche Bezahlung sollen gesetzliche Transparenzpflichten geprüft werden. CDU/CSU-PROGRAMM http://bit.ly/cdu2013 FDP Die Liberalen Die FDP bekennt sich zur Tarifautonomie, was nicht verwundert, will sie doch möglichst jeden staatlichen Eingriff verhindern. Sie lehnt einen allgemeinen, flächendeckenden Mindestlohn strikt ab, will aber Lohnuntergrenzen zulassen, die branchenspezifisch, dezentral und differenziert in Tarifverträgen ausgehandelt werden. Bei der Leiharbeit sieht die FDP der Gerechtigkeit durch Branchenzuschläge Genüge getan. Die gesetzlichen Kündigungsfristen, die derzeit Beschäftigungszeiten vor dem 25. Lebensjahr nicht mit einbeziehen, sollen unter Berufung auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) verändert werden, sodass Jüngere nicht mehr diskriminiert werden. Ebenfalls soll das Vorbeschäftigungsverbot bei der befristeten Beschäftigung gelockert werden. Kettenbefristungen sollen durch einjährige Karenzfristen verhindert werden. Bei Werkverträgen sieht die Partei keinen Handlungsbedarf. Die Verdienstgrenze für Minijobs soll weiter erhöht werden – die FDP sieht darin ein flexibles Arbeits marktinstrument und einen sinnvollen Einstieg in Arbeit. Unternehmen sollen sich zur Geschlechtergerechtigkeit selbst verpflichten. FDP-PROGRAMM http://bit.ly/fdp20131 Mitbestimmung 9/2013 39 Die Kampagnenmacher Die Grenzen zwischen Politik und Werbung verwischen. Klassische Kanäle verlieren an Bedeutung, ohne dass die neuen, digitalen den Verlust wettmachen. Damit am Ende nicht der schlechte Geschmack siegt, hilft ein Knigge. ParteienWERBUNG Von KAY MEINERS , Redakteur des Magazins Mitbestimmung B erufsmäßigen Optimismus bis zur Selbstsuggestion zeigen in diesem Jahr in erster Linie nicht die Politiker, sondern die Werbeagenturen, die mit Millionenbudjets hinter den Kulissen Erfolg versprechen. Rund drei Monate vor der Wahl trafen sie sich in Berlin: die Bundesgeschäftsführer und Wahlkampfkoordinatoren, die Agenturen, Demoskopen und Politikwissenschaftler. Auf der Konferenz „Wahlkampf-Strategien 2013“ am 11. und 12. Juni, einer gemeinsame Verstaltung der Heinrich-BöllStiftung, der Hans-Böckler-Stiftung und der Otto Brenner Stiftung haben sie das kulturelle Unterfutter der kommenden Wahlen verhandelt – die gesellschaftlichen Milieus, die digitalen Medien. Nicht dass es nichts zu tun gäbe in Deutschland. Aber gleich ob Eurokrise, NSA-Enthüllungen oder andere diffuse Bedrohungslagen – immer weniger Probleme scheinen national lösbar. Trotzdem streiten überwiegend die gleichen Parteien um Wählerstimmen wie schon vor Jahrzehnten. Der Politologe Werner Weidenfeld, einer der Gäste in Berlin, nennt das eine „Diskrepanz zwischen Problemstruktur, Entscheidungsstruktur und Legitimationstruktur“. Tatsächlich: Die Wahlbeteiligung bei der letzten Bundestagswahl lag bei 70,8 Prozent, der niedrigste Wert in der Geschichte der Bundesrepublik, folglich reichen immer weniger Stimmen zur Regierungsübernahme. Man könne daher mit klassischen Lagerwahlkämpfen – SchwarzGelb gegen Rot-Grün – noch immer Wahlen gewinnen, sagt der Konservative Weidenfeld, der gleichzeitig prophezeit, dass man „die Lager bald im Museum bewundern kann“. Manch einer fragte sich, ob diese Prognose vom Ende der politischen Lager aus Merkels Portfolio der „asymmetrischen Demobilisierung“ stammt, die den Gegner einschläfern soll, indem man ihm keine Angriffsfläche bietet? Womit mir mitten im Wahlkampf sind. Lutz Meyer von der Agentur Blumberry, die für die CDU arbeitet, wirft ein Bild an die Wand, das im Publikum sogleich für Gelächter sorgt: Ein großes Oval zeigt die Union. Darum gruppiert, wie Satellitenorganisationen, die anderen Parteien. Das soll sagen: Die CDU ist die letzte Volkspartei. Meyer führt einen Imagefilm vor und die CDU-Website,sehr aufgeräumt, weg vom Klein-Klein. Ein Klick links: die sozialen Medien. 40 Mitbestimmung 9/2013 Ein Klick rechts: das Multimedia-Angebot. Dahinter, erzählt Meyer nicht ohne Übertreibung, stehe die „modernste Digitalarchitektur einer Partei, mindestens in Europa.“ Karsten Göbel von der Agentur Super an der Spree, die für die SPD arbeitet, mag nicht hinter Meyer zurückstehen. Er zeigt eine Grafik, auf der die SPD und die Grünen als gemeinsamer Balken zu sehen sind. Dieser rot-grüne Balken ist länger als der Balken, der die Konkurrenz, also die CDU, die FDP und die Linkspartei symbolisiert. Das Geheimnis: Göbels Balken zeigen keine neuen Umfrageergebnisse, sondern Potenziale. Das soll sagen: Wir, die SPD, werden gewinnen, wenn wir nur alle Menschen erreichen, die uns wählen könnten. Potenzialausschöpfung heißt das in der Sprache der Agenturen. Je schlechter die Nachrichten der Demoskopen, desto größer erscheint im Verhältnis das Potenzial. „SHARE“ UND „LIKE“ HEISSEN DIE NEUEN WÄHRUNGEN_ Eine schi- cke Website hat die SPD natürlich auch. Wer bei Google „mitmachen SPD“ eintippt, stößt schnell auf die zentrale Netzplattform für freiwillige Helfer. Der Obama-Wahlkampf sei das Vorbild, sagt Göbel stolz. Wer anklickt „Ich habe 1 Minute Zeit“, soll eine EuropaRede von Peer Steinbrück auf YouTube teilen. Später führt der Link zu den neuen SPD-Wahlplakaten oder zu einer Kampagne gegen Steuerflucht. „Like“(mögen) und „Share“ (teilen) heißen die Währungen im digitalen Wahlkampf. Doch die neuen Kanäle sind nicht die wichtigsten. „Wir gewinnen die Wahl in Wohnblocks, nicht in Blogs“, sagt SPD-Werber Göbel. Die konventionellen Medien bleiben ein bedeutender Faktor. Plakate müssen entworfen, Wahlprogramme auf einen Satz eingedampft werden. „Eine Stadt für Soja und Soljanka“, damit haben die Grünen in Berlin geworben. „Zu 100 Prozent sozial“, dieser Slogan soll das Programm der Linkspartei zusammenfassen. „Das WIR entscheidet“, heißt die Kernbotschaft der SPD. Bei der FDP, so berichtet Armin Reins von der Agentur Reinsclassen, gibt es ein Problem besonderer Art: „Viele Menschen, die uns nahestehen, scheuen sich aktuell, sich auch zur FDP zu bekennen.“ Foto: Ulli Winkler/www.talk-republik.de TITEL WERBEr KARSTEN göbel (l .), LUTZ MEYER (R.), ORGANISATOR THOMAS LEIF: Glaubwürdigkeit ist wichtiger als der Kanal, der bespielt wird. JEDER PROBIERT JETZT DIE NEUEN MEDIEN AUS_ „Social Media im Wahlkampf – Do’s and Don’ts“ heißt ein Vortrag, den Benjamin Minack von der Agentur Ressourcenmangel hält. Minack ist eine Art moderner Knigge, der Tipps für den Umgang mit den jüngsten Medien im Kampagnenkonzert gibt. Vieles klingt überraschend altmodisch. Er rät dazu, einen ehrlichen Dialog mit dem Gegenüber zu pflegen – oder wenigstens einen solchen Eindruck zu erwecken. Außerdem soll man sich fragen, ob alles, was man postet, auch in der Zeitung stehen kann. Ein echtes „Don’t“ ist eine Geschichte vom Juni: da hatte Rolf Kleine, Bild-Journalist und Peer Steinbrücks neuer Pressesprecher, ein Foto von Võ Nguyên Giáp gepostet, dem kommunistischen Guerilla-General aus dem Vietnamkrieg. Dazu die Bildunterschrift: „Die FDP ist wieder da“. Ein böser Seitenhieb gegen FDP-Chef Philipp Rösler. Trotz solcher Idiotien ruft Minack allen ein fröhliches „Just do it!“ zu. Jeder muss seine eigenen Erfahrungen machen. Die Digitalisierung führt dazu, dass ehemals getrennte Kommunikationswege miteinander verschmelzen. Begriffe wie Internet oder Social Media seien deswegen „als analytische Kategorien nutzlos“, erklärt Thorsten Faas, Professor für Methoden der empirischen Politikforschung an der Universität Mainz. Denn ein Medium wie Facebook lässt sich ganz unterschiedlich nutzen: für einen Chat unter Freunden ebenso wie für die Hochglanzpräsenz eines Spitzenpolitikers oder als Verteilnetz für traditionell produzierte Medien- inhalte. Viele Diskutanten in Berlin sind der Meinung, dass die Glaubwürdigkeit und die Relevanz der Botschaften am Ende wichtiger ist als der Kanal, der bespielt wird. Zwar haben 50 Prozent aller Internetnutzer in Deutschland heute ein Facebook-Profil. Doch die Mehrheit nutzt Facebook eher unpolititsch. In den USA entdecken die Kampagnenmacher zugleich Hoffnungszeichen und neue Anwendungen wie den Facebook-Button „I voted“ (Ich habe gewählt), der den Gruppendruck im sozialen Netzwerk nutzt, um die Wahlbeteiligung zu erhöhen. Sie werden aufmerksam beobachtet. Politische „Likes“ mögen in Deutschland heute noch ein Randphänomen sein, die Erwartungen an die neuen Medien sind dennoch groß. Wegen der potenziell großen Reichweiten. Und wegen der Struktur, die vom Mitmachen und vom Verändern der Inhalte lebt. Auf diese Weise könnte doch noch gelingen, was die Amerikaner „motivateto action“ nennen: die Verführung des Staatsbürgers zum politischen Handeln. ■ m e h r i n f o r m at i o n e n Online-Dokumentation der Tagung „Wahlkampf-Strategien 2013“: www.talk-republik.de Mitbestimmung 9/2013 41 Volkswagen-Immobilien-Chef Sörgel , V WI-Neubau in Wolfsburg; Werkswohnungen in den 6oer Jahren (u.) fotogr afiert von einem da m aligen V W-beschäf tigten: Vergabe der Wohnungen Fotos: VWI; Hager/VWI durch eine mitbestimmte Kommission arbeit VW baut nicht nur Autos Konzerne haben ihren Besitz an Werkswohnungen heruntergefahren oder ganz abgestoßen – VW dagegen baut den Bestand weiter aus, auch die IG BCE als großer Immobilienbesitzer will mit ihren Partnern den „dritten Weg“ gehen. WERKSWOHNUNGEN Von STEFAN SCHEYTT, Journalist in Rottenburg am Neckar D er Blick aus dem Bürofenster hatte für Ulrich Sörgel in den vergangenen Monaten etwas Erhebendes: Täglich konnte Sörgel verfolgen, wie der viergeschossige Anbau am Stammsitz der Volkswagen Immobilien GmbH (VWI) vorankam. „Trotz des harten und langen Winters sind Ende August 100 Kollegen in den Neubau eingezogen“, freut sich der Leiter für Wohnimmobilien, Marketing und Kommunikation bei VWI. Wie die Mutter VW ist auch die Immobilien-Tochter in den vergangenen Jahren stark gewachsen, inzwischen beschäftigt VWI rund 300 Mitarbeiter und setzt knapp 140 Millionen Euro um. Zwar beruht ein wachsender Teil des Erfolgs auf Spezialimmobilien wie der Volkswagen Arena in Wolfsburg oder dem Technologiezentrum Isenbüttel, auf Logistik- und Gewerbeimmobilien sowie auf Autohäusern verschiedener Konzernmarken auf der ganzen Welt, die VWI entwickelt und realisiert. Doch bis heute, 60 Jahre nach seiner Gründung als VW Wohnungsbau und später als VW Siedlungsgesellschaft, vermietet das Unternehmen Wohnungen in Wolfsburg. Die 9500 ehemaligen Werkswohnungen, die meisten in den 1950er und 1960er Jahren erbaut, werden noch zu jeweils einem Drittel von Konzernmitarbeitern und -rentnern bewohnt. „Bis Mitte der 1990er Jahre erfolgte die Wohnungsvergabe nur an Werksangehörige über eine innerbetriebliche, mitbestimmt zusammengesetzte Kommission. Inzwischen vermieten wir unsere Bestände als privatwirtschaftliches Wohnungsunternehmen frei am Markt“, erklärt Ulrich Sörgel. AUFSICHTSRAT BESCHLIESST NEUBAUPROGRAMM_ Ein ganz normales Woh- nungsunternehmen ist VWI dennoch nicht. Mitte der 1990er Jahre gab es Stimmen im Konzern, man solle sich von VWI trennen und aufs Kerngeschäft konzentrieren. VW hat diesem Ansinnen widerstanden – auch mit den Stimmen der Arbeitnehmervertreter. Nach wie vor wirft der Konzernbetriebsrat im Aufsichtsrat der Volkswagen AG sein Gewicht beim Thema Wohnraum für Arbeitnehmer in die Waagschale – weshalb das Unternehmen heute über ein interessantes betriebspolitisches Instrument verfügt: „VWI hat die klare Aufgabe, Volkswagen dabei zu unterstützen, Top-Arbeitgeber zu sein – und dazu gehört auch die Versorgung mit Wohnraum in einer Stadt mit viel zu knappem Angebot“, befindet Bernd Osterloh, Vorsitzender des Konzernbetriebsrats. „Wer täglich zwei, drei Stunden Fahrtzeit zur Arbeit hat, weil es in der Stadt zu wenig vernünftige Wohnungen gibt, findet nicht mehr ausreichend Erholung.“ Im Aufsichtsrat herrsche deshalb hohes Einvernehmen darüber, die rasante Entwicklung von VW mit einem „schnellstmöglichen Ausbau des Wohnungsangebots“ zu unterstützen. „Und das gelingt VWI sehr gut“, meint Osterloh. Jüngstes Beispiel: 200 portugiesische Kollegen, die wegen mangelnder Auslastung im VW-Werk in Palmela für ein Jahr nach Wolfsburg kamen, leben derzeit in VWIWohnungen. In der Autostadt, deren Einwohnerzahl vor allem dank Volkswagen seit zwei Jahren wieder wächst (aktuell hat die Stadt 125 000 Einwohner und 100 000 Arbeitsplätze), „wäre dies ohne eigenen Wohnungsbestand praktisch unmöglich gewesen“, sagt Osterloh. Mitbestimmung 9/2013 43 Allein in den vergangenen fünf Jahren hat die VW-Immobilien-Tochter VWI 110 Millionen Euro in die Modernisierung und Instandhaltung ihrer Wohnungen investiert und will dies auch in Zukunft mit jährlich 25 Millionen Euro tun. Zum Teil bekommen die engen Altbauten komplett neue Zuschnitte – aus zwei Wohnungen wird eine, aus kleinen Dreizimmerwohnungen werden großzügige Zweizimmerwohnungen – und werden auf heutigen Neubaustandard modernisiert. Mehr noch: Weil sich die Leerstände früherer Jahre komplett auflösten (die Quote liegt derzeit bei 0,2 Prozent), beauftragte der Aufsichtsrat 2011 die Immobilien-Tochter mit einem Neubauprogramm – nach 30 Jahren Neubaupause: In den nächsten fünf Jahren will VWI rund 500 Wohnungen errichten. So war erst im Juni Spatenstich für einen Wohnpark, dem ein altes Hochhaus weichen musste. Bis zum Sommer 2014 enstehen dort für 15 Millionen Euro sieben „Stadtvillen“ mit 73 Ein- bis Vierzimmerwohnungen. Ihre hochwertige Ausstattung – die durchschnittliche Nettokaltmiete soll bei zirka zehn Euro pro Quadratmeter liegen – „dürfte auch potenzielle Fach- und Führungskräfte ansprechen“, hofft VWI-Manager Ulrich Sörgel. Er betont aber, dass die Mehrheit der VWI-Wohnungen mit Kaltmieten zwischen 4,30 und sieben Euro pro Quadratmeter deutlich günstiger sind, worauf auch Konzernbetriebsratschef Osterloh Wert legt: „Wir dürfen nicht nur an hochwertige Wohnungen für Fach- und Führungskräfte denken, sondern und ÖPNV) bis 2021 für rund 80 Millionen Euro etwa 500 neue Werkswohnungen bauen zusätzlich zu den bestehenden 550 SWM-Wohnungen. Gebaut werden vor allem Zwei- bis Dreizimmerwohnungen, aber auch Einzimmerappartements und Wohnungen mit vier bis fünf Zimmern für Familien, außerdem Wohnheime für Wochenendheimfahrer, Diplomanden oder Praktikanten. „Es wird für uns immer schwieriger, Mitarbeiter außerhalb von München zu gewinnen. Wohnungsknappheit und hohe Mieten halten Bewerber von einem Wohnortwechsel ab“, begründet Reinhard Büttner, SWMGeschäftsführer für Personal und Soziales. In den vergangenen Jahren seien die Mieten regelrecht „explodiert“, beklagt Konzernbetriebsratsvorsitzender Reinhard Egger: „Ein Busfahrer mit einem normalen Gehalt kann in München seine Miete fast nicht mehr bezahlen. Ich kenne Mitarbeiter, die staatliches Wohngeld bekommen oder bis zu 100 Kilometer weit aus der Stadt ziehen. Für Kollegen im Schichtdienst und ältere Mitarbeiter ist das nicht zumutbar“, findet Egger. Mit Blick auf Wohnungen als wichtigen Faktor im Wettbewerb um Fachkräfte hatte Oberbürgermeister Christian Ude (SPD) bereits vor anderthalb Jahren an große Münchner Unternehmen appelliert, künftig wieder Wohnungen für die eigenen Mitarbeiter zu bauen. Wie die „Süddeutsche Zeitung“ schrieb, „verpuffte der Appell allerdings weitgehend“. AUSVERKAUF VON WERKSWOHNUNGEN_ Den Zugriff auf eigene Wohnungen – ein Hebel, der für den VW-Konzern im Interesse der Mitarbeiter und der städtebaulichen Entwicklung wichtig ist – haben andere namhafte deutsche Unternehmen jedoch freiwillig aus der Hand gegeben. Dies teilweise mit den in den Medien vielfach beschriebenen negativen Folgen für die Mieter, wenn die Wohnungen an ausländische Finanzinvestoren oder Verwerter veräußert wurden. Schon 2006 prognostizierte eine Studie der HSH Nordbank bis zum Jahr 2015 die Veräußerung von 1,5 Millionen Wohnungen – vor allem von Kommunen – an Investoren, darunter auch nahezu alle bis dahin verbliebenen 340 000 Werkswohnungen. So ist zum Beispiel Deutschlands größter privater Wohnungskonzern mit heute 180 000 Wohnungen, die DeutHülsmeier sche Annington, die gerade an die Börse gegangen ist, durch die Übernahme von Wohnungen des Energie- und Wasserversorgers E.ON (138 000), der damaligen Reichsbahn (65 000) und von RWE (4500) entstanden. Bereits 2009 verkaufte Siemens die letzten 1100 seiner einst 4000 Werkswohnungen und begründete dies wie üblich: „Gehört nicht zu unserem Kerngeschäft.“ Gleichwohl zeigt der Konzern, dass er die Knappheit bezahlbaren Wohnraums im eigenen Interesse nicht ignorieren kann: In München verfügt das Unternehmen über Belegrechte für rund 1500 Wohnungen, deutschlandweit für rund 6500 Wohnungen; übers Intranet erfahren Siemensianer von frei werdenden Wohnungen und erhalten sie bevorzugt. Auch der Chemiekonzern Evonik, der aus dem weißen Bereich der Ruhrkohle AG, der RAG, hervorging, hat sich von Teilen seiner Immobilien-Tochter Vivawest getrennt. Schon Anfang 2012 hatte das Essener Unternehmen die 60 000 Wohnungen seiner Tochter Evonik Wohnen mit den 70 000 Woh- „Die Wohnungen von Vivawest sind eine vernünftige Anlage gewerkschaft lichen Vermögens.“ IG -BCE-Sprecher Christian auch an Wohnraum, den sich Beschäftigte aus der Produktion oder Alleinerziehende leisten können.“ Im Aufsichtsrat sei vereinbart worden, dass neue oder sanierte Wohnungen vorrangig VW-Mitarbeitern angeboten werden. „Wichtig ist, dass zuerst unsere Beschäftigten profitieren“, sagt Osterloh. AUCH STADTWERKE MÜNCHEN BAUEN_ Zu den wenigen Unternehmen, die im großen Stil in neue Wohnungen für ihre Mitarbeiter investieren, gehören auch die Stadtwerke München (SWM), die zu 100 Prozent der Landeshauptstadt gehören. Zumeist auf früheren Betriebsflächen will das kommunale Unternehmen (u.a. Energieversorgung 44 Mitbestimmung 9/2013 Fotos: Hans Blossey/Vivawest; Arndt Sauerbrunn/Vivawest arbeit VIVAWEST-Wohnungen schüngelbergsiedlung, Gelsenkirchen-Buer: Aus dem Bestand der ehemaligen Ruhrkohle AG nungen der bergbauverbundenen THS Wohnen, die je zur Hälfte der IG BCE und Evonik gehörte, zum drittgrößten Wohnungsunternehmen Deutschlands unter dem Namen Vivawest zusammengeführt. In diesem Frühjahr nun bekam das Gelsenkirchener Unternehmen eine neue Eigentümerstruktur: Neuer Haupteigentümer von Vivawest ist mit 30 Prozent die RAG-Stiftung, die die Ewigkeitskosten aus dem Bergbau aufbringen muss; zweitgrößter Anteilseigner ist die IG BCE mit knapp 27 Prozent, 25 Prozent hält der Evonik-Pensionsfonds zur Absicherung von Firmenrenten; die verbleibenden Anteile sollen an Investoren veräußert werden. Gemeinsam verfügen die Eigentümer über rund 500 ehemalige Bergmannssiedlungen in 76 Kommunen von Aachen bis Ahlen mit Schwerpunkt Ruhrgebiet, darunter auch die berühmte, denkmalgeschützte, zur Internationalen Bauausstellung modernisierte Zechensiedlung auf dem Schüngelberg. Im Vorfeld der Gründung von Vivawest hatten Mieterverbände im Westen Schlimmes für die 300 000 Mieter befürchtet. Wegen des geplanten Börsengangs von Evonik hatten sie Sorge, dass auch der Wohnungsbestand an die Börse gehen oder an einen Finanzinvestor verkauft werden könnte. „Das erschien uns wie die Wahl zwischen Pest und Cholera“, sagt Tobias Scholz vom Mieterverein Dortmund. Alarmiert waren die Mietervereine auch durch den Verkauf einiger Hundert THS-Wohnungen an einen „Häuserverwerter“, der die Wohnungen anschließend privatisierte und „dafür bekannt war, dass er dabei keine Samthandschuhe trug“, wie Scholz sagt. „Da hat uns die Politik der THS als gewerkschaftsverbundenes Unternehmen enttäuscht.“ Durch die neue Eigentümerstruktur von Vivawest sei nun aber das Schlimmste abgewendet, meint Mietervertreter Scholz, die neuen VivawestBesitzer verdienten Vertrauen: „Sowohl die RAG-Stiftung als auch der EvonikPensionsfonds und die IG BCE haben – im Gegensatz zu Finanzinvestoren – langfristige Interessen.“ Auch die Investitionen von Vivawest in Instandhaltung und Modernisierung im vergangenen und in diesem Jahr seien zu begrüßen, auch wenn ihre Höhe in Relation zu den Quadratmetern an Wohnfläche „nicht WELCHE RENDITE ERWARTET VIVAWEST?_ überragend, sondern nur ordentlich“ seien. „Vivawest steht unter dem Druck, eine gewisse Rendite erbringen zu müssen. Das Unternehmen wird sich sicher nicht wie ein kommunales Wohnungsunternehmen verhalten und mit einem oder zwei Prozent zufriedengeben können.“ Auch die 650 Millionen Euro, die Vivawest an die Ex-Mutter Evonik bezahlen muss, seien nicht zu unterschätzen: „Das ist eine Menge Geld, das hoffentlich nicht die Investitionsfähigkeit in den Bestand schmälert“, meint Scholz. Für eine mieterfreundliche Politik von Vivawest sprechen indes die Aussagen vieler prominenter Verantwortlicher. So gab Evonik-Chef Klaus Engel das „konkrete Versprechen“ ab, dass „der nachhaltige Ansatz von Vivawest nicht vereinbar ist mit den überzogenen kurzfristigen Renditeanforderungen rein finanzgetriebener Investoren“. Und IG-BCE-Chef Michael Vassiliadis sagt: „Vivawest steht ohne Wenn und Aber zu seiner sozialen Verantwortung. Dies unterscheidet uns von den durch Finanzinvestoren geführten Unternehmen.“ IG-BCE-Sprecher Christian Hülsmeier ergänzt: „Die Wohnungen von Vivawest sind eine vernünftige Anlage gewerkschaftlichen Vermögens. Aber wir sind nicht darauf angewiesen, eine maximale Rendite zu erwirtschaften. Wir haben ein langfristiges Interesse an den Wohnungen und können nur erfolgreich sein, wenn wir auch zufriedene Mieter haben – und darunter sind auch viele Gewerkschaftsmitglieder.“ Es ist dies der „dritte Weg“ zwischen „den berechtigten Interessen von Mietern und solidem Wirtschaften“, den Vivawest mit seinen 130 000 Wohnungen antritt. „Es wird sich zeigen, wie dieser ‚dritte Weg‘ ausgestaltet wird“, sagt Mietervereins-Sprecher Tobias Scholz. „Wir werden das Unternehmen auch in Zukunft sehr aufmerksam begleiten.“ ■ Mitbestimmung 9/2013 45 Kostendruck auf Callcenter Die drohende Insolvenz der Walter Services GmbH, Deutschlands zweitgrößten Anbieters von Callcenter-Dienstleistungen mit über 6000 Beschäftigten, wirft ein Schlaglicht auf den ruinösen Wettbewerb und die Schnelllebigkeit der Branche. CALLCENTER Von Carmen Molitor , Journalistin aus Köln I 2009 als Erster in der Branche mit ver.di einen Entgelttarifvertrag ausgehandelt hatte. Doch seit Juli steht Walter Services vor der Zahlungsunfähigkeit. Weil es laut Firmenleitung „massive Volumenrückgänge im Kernsegment Telekommunikation“ gegeben habe, beantragte der Konzern beim Amtsgericht Karlsruhe Gläubigerschutz durch ein Schutzschirmverfahren. Es bietet eine Art Notbremse vor der Regelinsolvenz, schützt Unternehmen drei Monate vor Vollstreckung und ermöglicht eine Sanierung, über die kein externer Insolvenzverwalter, sondern die Geschäftsleitung selbst Fotos: Walter Services GmbH; Lutz Flegel m Juni gab es gute Nachrichten für die Beschäftigten der Walter Services GmbH: Nach Warnstreiks und einer Schlichtung, die Ex-Bundesfinanzminister Hans Eichel leitete, hatte die Geschäftsführung einem neuen Tarifvertrag zugestimmt. Für die 18 tarifgebundenen deutschen Standorte des internationalen Konzerns war damit eine stufenweise Erhöhung des Grundlohns von 7,60 Euro auf 8,50 Euro pro Stunde bis 2014 unter Dach und Fach. Betriebsräte und ver.di-Vertreter hofften auf ruhigeres Fahrwasser beim zweitgrößten deutschen Callcenter-Dienstleister, der demo der c allcenter-mitarbeiter in Dresden; Walter services-Firmensitz , Et tlingen: Überraschend unter den Schutzschirm 46 Mitbestimmung 9/2013 arbeit entscheidet. Außerdem erspart der Schutzschirm der Firma die Auszahlung von Löhnen und Gehältern; die Arbeitsagentur streckt das Geld vor und bezahlt die Beschäftigten. Dass Walter Services in die Pleite rutschen könnte, erfuhren am 24. Juli zuerst die Betriebsräte und einen Tag später die Beschäftigten. „Wir waren komplett überrascht davon“, berichtet der Vorsitzende des Betriebsrats am Firmenhauptsitz Ettlingen und stellvertretende Konzernbetriebsratsvorsitzende, Marc Bachmann. „Bei uns in Ettlingen sind die Beschäftigten in einer Art Schockstarre. Wobei der Schock nicht allzu tief sitzt, denn Walter Services war in den vergangenen Jahren immer mal wieder in bewegtem Fahrwasser und vor zwei Jahren schon mal quasi insolvent. Wir sind also ein bisschen daran gewöhnt.“ Die letzten ernsten wirtschaftlichen Turbulenzen endeten 2011 damit, dass die Hedgefonds H.I.G. Capital und Anchorage Capital den Callcenter-Dienstleister übernahmen und seine angehäuften Schulden auf null brachten. 2012 verbuchte die Walter Services GmbH laut „CallCenterProfi-Ranking 2013“ ein Nettoroheinkommen (Umsatzerlöse ohne Mehrwertsteuer) von 184 Millionen und behauptete damit den zweiten Platz unter den großen Spielern in der Branche. tarifgebundene Dienstleister dieser Branche ins Trudeln geraten, bei dem dieser Mindestlohn greifbar nah ist. Erste Schwierigkeiten bei Walter Services deuteten sich 2012 an, als der Dienstleister einen Hamburger Standort mit fast 300 Beschäftigten schloss. Bei den Tarifverhandlungen sei ver.di auf die wirtschaftliche Situation eingegangen, betont Beiderwieden. „Wir haben eine Laufzeit von drei Jahren vereinbart, um dem Arbeitgeber zu signalisieren: Wenn wir diese Schritte gemeinsam in Richtung „Generell besteht die Tendenz, dass die Verträge zwischen Auftraggebern und Callcentern wesentlich kürzer laufen als früher.“ RUINÖSER WETTBEWERB_ Wie kann es sein, dass das Unternehmen, das sich im Juni noch wirtschaftlich in der Lage sah, einen Stufentarifvertrag mit höheren Stundenlöhnen zu unterschreiben, quasi über Nacht einen Schutzschirm braucht? Wachsende Planungsunsicherheit und der ruinöse Wettbewerb in der Branche könnten die Hintergründe sein, vermutet Ulrich Beiderwieden, Bundesfachgruppenleiter im Fachbereich „Besondere Dienstleistungen“ bei ver.di. „Generell gibt es die Tendenz, dass die Verträge zwischen Auftraggebern und Callcenter-Dienstleistungsunternehmen wesentlich kürzer laufen als früher“, sagt der Gewerkschafter. „Statt drei Jahren Laufzeit sind heute Jahresverträge üblich. Zudem gibt es immer wieder Klauseln, dass eine fristlose Kündigung möglich ist, wenn bestimmte Anforderungen nicht erfüllt werden.“ Die Auftraggeber können die Preise immer mehr drücken, beobachtet Ulrich Beiderwieden. Das ruinöse Rennen um die Aufträge gewinnt, wer möglichst billig ist. „Die Dienstleister müssen dann sehen, wie sie mit ihrer Belegschaft die Arbeit zu diesen Preisen überhaupt umsetzen können.“ Der Kostendruck wird an die Beschäftigten weitergereicht, die oft mit Grundlöhnen zwischen sechs und sieben Euro die Stunde, Teilzeit- und Jahresverträgen abgespeist werden. Davon lässt sich kaum leben: 33 Millionen Euro habe der Staat laut ver.di allein 2011 an Aufstocker aus der Callcenter-Branche gezahlt. Ein Mindestlohn von 8,50 Euro sei überfällig, fanden jüngst 6700 Unterzeichner einer ver.di-Unterschriftenaktion an 52 Callcenter-Standorten. Doch die Gründung eines Arbeitgeberverbandes als Verhandlungspartner für ver.di lässt auf sich warten. Und jetzt ist ausgerechnet der einzige Ulrich Beiderwieden, ver .di 8,50 Euro gehen können, dann geben wir ihm durch einen längerfristigen Abschluss auch Planungssicherheit bei der Steigerung der Personalkosten. Der Arbeitgeber war damals davon ausgegangen, dass die Gespräche mit Kunden über neue Aufträge auf einem sehr guten Weg sind und er teilweise sogar Preiserhöhungen durchsetzen kann.“ Es kam anders: Kurz nach Abschluss des Tarifvertrages erklärte die Geschäftsführung, dass Kunden angekündigt haben, Aufträge zurückzufahren. Die Krise war da. Wie es mit der Umsetzung des Tarifvertrages weitergeht, müssen die Betriebsräte und ver.di mit neuen Verhandlungspartnern klären. CEO Klaus Gumpp und sein Finanzchef Sascha Zaps verließen im Juni das Unternehmen, die Geschäftsleitung wurde komplett umstrukturiert. Joachim Hofsähs, seit Januar für das operative Deutschlandgeschäft zuständig, übernahm das Ruder. Es gebe aber positive Signale des neuen Managements, sagt Beiderwieden: „Die Neuen haben gesagt, dass sie zu dem Tarifvertrag stehen.“ Er geht deshalb davon aus, dass „alles so umgesetzt wird, wie es im Tarifvertrag steht. Auch das Zukunftskonzept, an dem die Geschäftsführung und die Sanierungsgesellschaft arbeiten, wollen sie mit uns und den Betriebsräten intensiv beraten.“ Während des Schutzschirmverfahrens geht der Betrieb an allen Standorten wie gewohnt weiter. Ob der Sanierungsplan in erster Linie auf die Verbesserung der Einnahmen oder auf den Abbau von Kosten setzen wird, ist Ende August unklar. Betriebsrat Marc Bachmann hat angesichts der Tatsache, dass in Callcentern über 70 Prozent der Kosten Personalkosten sind, eine Theorie: „Die größte Musik wird auf der Kostenseite spielen“, vermutet er. „Es wird eine Kombination aus dem Versuch sein, den Lohn zu drücken und Arbeitsplätze abzubauen.“ Ob das bedeute, dass Standorte mit weniger Personal auskommen müssten oder ganz geschlossen würden, werde sich zeigen. ■ Mitbestimmung 9/2013 47 Gerechtigkeit à la INSM Mit Plakaten im Retro-Look versucht die Initiative Neue Soziale Markt wirtschaft, die Bundestagswahlen zu beeinflussen. Und operiert dabei nicht ungeschickt mit einem Begriff, den bisher die politische Linke besetzt hat. KAMPAGNEN Von RUDOLF SPETH , Publizist und Lobbyismus-Forscher I st es gerecht, dass die Verkäuferin das Studium ihres zukünftigen Chefs bezahlt?“ Diese und weitere sieben Fragen zur Gerechtigkeit werden uns auf einer Plakatserie der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) gestellt. Die Antwort kommt sogleich: „Nein. Es ist ungerecht, wenn die Verkäuferin, die weniger als ihr künftiger Chef verdient, diesem auch noch das Studium bezahlt.“ Doch dann kommt das Kleingedruckte: Der künftige Chef müsste sein Studium eigentlich selbst bezahlen – mit Studiengebühren, die in allen Bundesländern wieder abgeschafft wurden. Die Anzeige fordert dazu auf, diese wieder einzuführen – aus Gründen der Gerechtigkeit. Im Kleingedruckten wird erklärt, warum das so sein soll: „Es ist nicht gerecht, dass die Allgemeinheit für die Bildung Einzelner zahlt.“ Das Plakat geht an den Diskussionen der letzten Jahre vorbei. Stipendien und Bildungskredite durch den Staat sollen helfen, damit sich alle ein Studium leisten können – und dann so etwas? Das Plakat ist schlicht und bewusst unaufwendig gestaltet. Der Text in einer Schreibmaschinenschrift, die beiden Figuren, eine Verkäuferin und ihr künftiger Chef, sind im Reklamestil vergangener Jahrzehnte gezeichnet. Beide blicken uns freundlich als Figuren aus einer heilen Welt an. So geht es auch mit den anderen Fragen. Gerechtigkeit ist das zentrale Thema des Bundestagswahlkampfes 2013. SPD und Grüne versuchen damit zu punkten, das Thema Gerechtigkeit ist in der gesellschaftlichen Debatte gegenwärtig, doch wird das weit verbreitete Unbehagen, dass es nicht gerecht zugeht in Deutschland vor allem von linken, kirchlichen und gewerkschaftlichen Gruppen aufgegriffen. Umso bemerkenswerter, dass diese Anzeigenkampagne der INSM den Begriff Gerechtigkeit 48 Mitbestimmung 9/2013 für sich nutzt. Konservative, Liberale und rechte Gruppen haben sich dieses Themas kaum angenommen, weil es nicht in ihr Weltbild passt. Denn wer Gerechtigkeit erstrebt, will oft Ungleichheit reduzieren. Für Liberale hingegen ist Ungleichheit ein wichtiges Moment der Gesellschaft. Wer mehr leistet, soll mehr verdienen, so das Credo. Nur gut Informierten erschließt sich, wer hinter der INSM steckt: Sie wurde 1999 von den Arbeitgeberverbänden der Metall- und Elektroindustrie gegründet und für die nächsten zehn Jahre mit je zehn Millionen Euro ausgestattet. Gesamtmetall ist der Dachverband dieser Verbände. Beraten wird die Initiative vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW), das von Verbänden und Unternehmen der privaten Wirtschaft finanziert wird. Das INSM-Konzept wurde als neuartige Form der politischen Werbung von der Werbeagentur Scholz+Friends entwickelt. Sie schlug auch deren Schlüsselbegriff der „Neuen Soziale Marktwirtschaft“ vor. Mit dieser Formel versuchte das Arbeitgeberlager, sich von dem Klassenkompromiss der alten Bundesrepublik in Gestalt der Sozialen Marktwirtschaft zu distanzieren. Was inhaltlich und politisch damit gemeint war, kam in den folgenden Jahren zu Ausdruck: Die INSM war eine Gründung, die das wirtschaftsliberale politische Klima beförderte. Ziel des Unternehmenslagers war es, die Stimmung in der Bevölkerung, die (aus dessen Sicht) allzu pessimistisch und sozialstaatsorientiert war, zu verändern. Deshalb sollten die marktwirtschaftlichen Elemente gestärkt und die sozialen Elemente zurückgedrängt werden. Mehr Eigenverantwortung, weniger Kündigungsschutz, niedrigere Steuern, flexiblere Arbeitsmärkte und insgesamt mehr Marktmechanismen als Steuerungsinstrumente und weniger Dirigismus waren die Slogans, mit denen die INSM versuchte, die politische und soziale Ordnung neu zu interpretieren. Neu und provozierend waren die kommunikativen Methoden der INSM. Diese nutzte die Instrumente der Werbung und die Möglichkeiten der Mediengesellschaft für politische Ziele. Prominente Personen wie der damalige Präsident der Deutschen Bundesbank, Hans Tietmeyer, traten als Multiplikatoren auf. Die Inhalte der INSM wurden für Journalisten bedarfsgerecht aufbereitet, politik INSM-PLAKATMOTIVE: Ein Begriff wird marktradikal umgedeutet. sodass die Grenzen zwischen PR und Journalismus zu verschwimmen drohten. als noch 2005. Die größere Ungleichheit wird von den Dringende Reformen der politischen und sozialen Ordnung wurden reklamiert Bürgerinnen und Bürgern als drängendes Problem wahrund kampagnenmäßig aufbereitet. Die INSM betrat mit dieser Kampagneno- genommen, weil sie unmittelbar die Lebenschancen und rientierung Neuland und fand zahlreiche Nachahmer. Im Kern wurde dieser die Möglichkeiten der sozialen Teilhabe betrifft. GerechKommunikationsstil beibehalten, wenn auch die Themen heute etwas mode- tigkeit ist der Gegenbegriff zu Ungleichheit, und eine Porater angepackt werden und die INSM nicht mehr zu provozieren vermag. litik, die eine gerechtere Gesellschaft erstrebt, versucht, Und nun Gerechtigkeit? Warum entdeckt gerade jetzt eine Initiative aus die Ungleichheit zu bekämpfen. Hier setzt nun die INSM dem Lager der Arbeitgeberverbände ein Thema, das sonst eher im Lager der mit ihrer Gegeninterpretation an, indem sie die DifferenLinken, der Kritiker der Marktwirtschaft und des Kapitalismus zu Hause ist? Offensichtlich versucht die INSM, den Die INSM versucht den Oppositionsparteien das großen Oppositionsparteien, der SPD und den Grünen, das Thema Gerechtigkeit streitig zu machen und deren InterpreThema Gerechtigkeit streitig zu machen und tationshoheit infrage zu stellen. Die INSM greift damit massiv greift damit massiv in den Wahlkampf ein. in den Wahlkampf zur Bundestagswahl ein – zugunsten der Regierung. Von der Seite der Unternehmen ist dies ein gelungener kommunikativer Schachzug, weil sie auf den ersten Blick nicht als Auf- zierungen im Gerechtigkeitsbegriff benutzt. Es gibt nicht traggeber zu erkennen sind. Zum Zweiten wird das Hauptthema der die eine Gerechtigkeit, sondern Chancengerechtigkeit, Oppositionsparteien aufgenommen und mit anderen Akzenten versehen. Generationengerechtigkeit, Bedarfsgerechtigkeit und LeisDie Wahl des Themas Gerechtigkeit als Kampagneninhalt durch die INSM tungsgerechtigkeit. Gerade mit den Begriffen Chancenkann gut begründet werden. Verschiedene empirische Erhebungen belegen, und Leistungsgerechtigkeit lässt sich eine Ungleichverteidass sich die Verteilung von Einkommen und Vermögen weiter auseinander- lung begründen. Die Bildungschancen müssen zwar gleich entwickelt hat. Ein gängiges Maß für Ungleichheit in einer Gesellschaft ist der verteilt sein, doch was der Einzelne daraus macht, bleibt Gini-Koeffizient, der die Einkommensverteilung in einer Gesellschaft misst. ihm überlassen. Studiengebühren können in dieser Logik Dieser hat sich in Deutschland laut EU-Statistik von 0,26 (2005) auf 0,29 durchaus mit Argumenten der Gerechtigkeit begründet (2011) verändert, was indiziert, dass die Einkommen ungleicher verteilt sind werden. ■ Mitbestimmung 9/2013 49 Debatte Foto: Sarah Haupt Gesine Schwan gibt eine politikwissenschaftliche und politische Antwort auf Martin Höpners Forderung „Alle Optionen (zum Euro) müssen auf den Tisch“. Der Wissenschaftler vom MPI in Köln hatte in unserer Juliausgabe argumentiert, der Euro passe nicht zur Heterogenität der europäischen Lohnregime, und plädiert daher für einen Übergang zu einem flexibleren europäischen Wechselkurssystem. Schwan kommt zu einem anderen Schluss: Sie wirbt für mehr Beharrlichkeit und Solidarität – auf dem Weg hin zu einem demokratisch legitimierten, vereinten Europa. Europa braucht Weitblick Mehr Kooperation will Gesine Schwan für Europa. Man müsse „so viele Kräfte wie möglich mobilisieren, um Europa politisch und sozial besser zu einigen“ und gemeinsam lernen – auf Augenhöhe und nicht so, dass Deutschland das Sagen hat. EURO-DEBATTE Von Gesine Schwan. Die Politikwissenschaftlerin und Präsidentin der HUMBOLDT-VIADRINA School of Governance in Berlin und vielfach aktiv in grenzüberschreitenden Wissenschaftsinitiativen kandidierte für das Amt der Bundespräsidentin. a klar, alle Optionen müssen auf den Tisch! Eine Wissenschaft, die etwas auf sich hält, muss das fordern. Sie muss übrigens dabei auch alle denkbaren Implikationen der jeweiligen Optionen – zum Beispiel mögliche „Kollateralschäden“ – in den Blick nehmen. Mit seinem Plädoyer, den Euro wieder aufzugeben und zurückzukehren zu einem „System fester, aber koordinierter Währungskurse“, hat sich Martin Höpner zunächst einmal sehr verdient gemacht. Denn er legt den Finger auf zwei Probleme, die in der öffentlichen Diskussion nicht zureichend beachtet werden: zum einen auf die Unterschiedlichkeit der Gewerkschafts- und Lohnfin- 50 Mitbestimmung 9/2013 dungstraditionen in der Europäischen Union und deren erheblichen Einfluss auf die Wirtschaftsentwicklungen in den jeweiligen Ländern. Dabei kommt auch heraus, dass viel zu kurz greift, wer die Produktivitäts- und Wachstumsunterschiede immer nur auf „angebotstheoretisch“ begründete Reformen wie Lohn- und Sozialleistungskürzungen, Verlängerung der Lebensarbeitszeit, Verschlankung des „Staatsapparats“, Flexibilisierung des Kündigungsschutzes zurückführt. Zu dieser kurzschlüssigen Erklärung gehört auch die häufig geäußerte Annahme, die Agenda 2010 sollte für die europäischen Nachbarn ein Modell sein und von ihnen politik nachgeahmt werden. Nach dem Motto: „Sie haben noch vor sich, was wir schon geschafft haben.“ Es ist wirklich sehr verdienstvoll, dass Martin Höpner dagegen auf die Bedeutung der Gewerkschaftssysteme und überhaupt der Arbeits- und Sozialbeziehungen hinweist. Dabei erkennt man schnell, dass der Kern der deutschen (auch der österreichischen und der skandinavischen) Wirtschaftskraft zu einem großen Teil bei den Arbeitnehmern, den Gewerkschaften (die vor der Krise in Deutschland noch als störender Sand im Getriebe kleingemacht werden sollten) und der Tradition der Sozialpartnerschaft liegt, einer Konstellation, die nun nicht einfach mal schnell woanders nachgeahmt werden kann. Zum Zweiten weist Martin Höpner zu Recht auf die oft leere Rhetorik hin, mit der die Ergänzung der Währungsunion durch eine politische Union gefordert wird, wobei völlig offenbleibt, wie diese aussehen sollte. Dabei ist die zentrale Frage: Kann Europa aus der unfruchtbaren Gegenüberstellung zwischen Rückkehr zum Staatenverbund einerseits und einem starken und notwendig zentralistischen Bundesstaat andererseits einen fruchtbaren und demokratisch legitimen Ausweg finden? Martin Höpner hat auch recht, wenn er auf die Schwierigkeiten hinweist, die die europäischen Gewerkschaften mit langem Atem überwinden müssen, wenn sie ihre historisch gewachsenen und kulturell tief verwurzelten ganz unterschiedlichen Politiken zugunsten einer mehr koordinierten und stabileren Lohnfindung und Tarifpartnerschaft in der gesamten Europäischen Union weiterentwickeln wollen. Und nicht nur die Gewerkschaften: Auch die Arbeitgeber und ihre Verbände müssten ihrerseits zu einer neuen Einstellung gegenüber Arbeitnehmern sowie Gewerkschaften und ihrem unverzichtbaren Beitrag für eine produktive Wirtschaft finden. Sie müssten bereit sein, Vertrauensverhältnisse zwischen den „Sozialpartnern“ aufzubauen, die letztlich der Grund für die Produktivität der deutschen, österreichischen und skandinavischen Wirtschaft sind, nicht niedrige Löhne, die in Deutschland, wie wir sehen, für 20 Prozent der Vollzeit Arbeitenden zum Leben nicht ausreichen. Das über lange Zeit aufgebaute Vertrauen, das gemäß vielen politik- aber auch wirtschaftswissen- schaftlichen Untersuchungen „Transaktionskosten reduziert“, ist es vor allem, was wir sowohl für einen Aufschwung der europäischen Wirtschaft als auch für eine gelungene, Legitimation schaffende politische Union brauchen. Freilich: Wenn Höpner wegen der Schwierigkeit, solche sozialpartnerschaftlichen Beziehungen auch im übrigen Europa aufzubauen, dafür plädiert, derartige politische Koordinationsbemühungen von vornherein als aussichtslos aufzugeben, dann liegt die Logik seines Arguments darin, überhaupt zum System der großen innereuropäischen Unterschiede und der Nationalstaaten zurückzukehren, sie vielleicht sogar zu verstärken. Die Produktivitätsunterschiede, die immer wieder durch Wechselkursänderungen ausgeglichen werden können, würden durch Renationalisierung von Währungen, Gewerkschaftssystemen, Sozialbeziehungen, in denen sie begründet sind, ja nur fortgesetzt. Dabei scheint Höpner auch den „Standortwettbewerb“ (um die Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit) innerhalb Europas zu akzeptie- „Wenn wir nicht zu Nationalstaaten zurück wollen noch hin zu einem zentralistischen europäischen Bundesstaat, dann müssen wir die Standortkonkurrenz überwinden.“ ren und festschreiben zu wollen. Seit Maastricht war der ja gerade ein wesentlicher Faktor dafür, warum es nicht zu einer engeren wirtschafts-, steuer- und finanzpolitischen Zusammenarbeit kam. Denn Staaten und deren Gewerkschaften, die im Wettbewerb zueinander stehen, werden sich ihrer Hebel, mit denen sie sich gegen die anderen durchsetzen können, nicht begeben. Zugleich hat der Standortwettbewerb die Diskrepanzen zwischen Arm und Reich innerhalb und zwischen den nationalen Gesellschaften verschärft. Wenn Höpner die koordinierten Lohnfindungssysteme als eine ausschlaggebende Ursache für die Verringerung der Lohnstückkosten in den prosperierenden europäischen Ländern ansieht; wenn er zugleich einem großen Teil der Länder in der Europäischen Union eine Reform ihrer Gewerkschaftssysteme zugunsten der Senkung der Lohnstückkosten nicht zutraut, will er es bei der Fortset- Mitbestimmung 9/2013 51 zung der inneren Teilungen und der zunehmenden Diskrepanzen zwischen Arm und Reich in Europa belassen. Im Klartext heißt dies: im globalen Wettbewerb Europa nicht gemeinsam zu stärken, sondern die Zukunft in nationalen Alleingängen zu suchen. Was übrigens rund 80 Prozent der Europäer, auch der Deutschen, nicht wollen. Wenn man sich dann noch die völlig unberechenbaren politischen und psychologischen Folgen eines Aufbrechens der gemeinsamen Währung (nachdem sie einmal eingeführt worden ist) vorzustellen versucht und dazu die Währungsspekulationen der Finanzmärkte, für die es ein Leichtes ist, die Nationalstaaten gegeneinander auszuspielen, dann sieht die Bilanz zwischen Renationalisierung einerseits und in der Tat mühsamer Arbeit an freiwilliger Koordination in Europa schon anders aus. Denn darauf läuft die Alternative hinaus: Wenn wir weder zurückkehren wollen zu untereinander vertraglich verbundenen Nationalstaaten noch einen zentralistischen europäischen Bundestaat anstreben – und hier bin ich ganz nahmen des Europäischen Parlaments zusammen mit nationalen Parlamentariern in allen Ländern gleichzeitig debattiert und damit in dieser Entscheidungsphase den Europäischen Rat und die Kommission konfrontiert. Auf diese Weise kann es gelingen, durch eine synchrone Diskussion gemeinsamer Themen jene europäische Öffentlichkeit herzustellen, die es den Bürgern Europas ermöglichen würde, durch gegenseitig interessierende Kommunikation ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu schaffen und sich mit dem gesamten europäischen Gemeinwesen so zu identifizieren, wie das im 19. Jahrhundert in den Nationalstaaten gelungen ist. Ein solches Europa wäre auch in der Lage, eine gewichtige Rolle nach innen und nach außen zugunsten von gleicher Freiheit und Solidarität in einer globalisierten Wirtschaft zu spielen. Damit könnte man die „Spirale nach unten“, die das Zeitalter der Deregulierung ausgelöst hat und die überall auf der Welt die Arbeitnehmer zu Verlierern macht, zugunsten einer weltweiten „Spirale nach oben“ umkehren. Das ist anstrengend, das verlangt Beharrlichkeit und das berühmte Max Weber’sche Bohren harter Bretter. Aber damit setzen wir uns doch ein stimulierendes, kein resignativ rückwärtsgewandtes Ziel! Man kann den immer wieder beschworenen Mangel, dass die Währungsunion ohne den Unterbau einer politischen Union in Europa eingeführt worden ist, dadurch zu beheben versuchen, dass man die Geschichte wieder zurückdreht. Man kann in der damaligen Entscheidung für den Euro aber auch einen klugen Schritt oder zumindest die Chance sehen, im weiteren Horizont der weltpolitischen Entwicklung so viele Kräfte wie möglich zu mobilisieren, um Europa politisch und sozial besser zu einigen. Schon jetzt haben erhebliche Teile der Wirtschaft ein großes Interesse an der Erhaltung des Euro, weil er ihnen hinderliche Unsicherheiten und Transaktionskosten unterschiedlicher Wechselkurse erspart. Weitsichtige politische Führung läge darin, diese Kräfte über ihre engeren betriebswirtschaftlichen Interessen hinaus auf eine europäische Einigung zu lenken, die allen, gerade auch den Arbeitnehmern, überhaupt den europäischen Bürgern zugutekommt. Niemand kann erwarten, dass uns das in den Schoß fällt! ■ „Mit einem demokratisch legitimierten Europa könnte man die ‚Spirale nach un ten‘, die das Zeitalter der Deregulierung ausgelöst hat, umkehren.“ bei Martin Höpner –, dann müssen wir auf allen Ebenen zu mehr geduldiger, respektvoller und solidarischer Kooperation statt Konkurrenz gelangen. Dazu gehört vor allem, den „Standortwettbewerb“ zwischen den europäischen Staaten entschieden zu verabschieden und stattdessen systematisch gemeinsam zu lernen – auf Augenhöhe und nicht so, dass Deutschland ausdrücklich oder unter der Hand das Sagen hat. Man könnte auch als Strategie einer demokratisch legitimen politischen Union das „Europäische Semester für die Koordinierung der Wirtschaftspolitik“, das die frühzeitige Überprüfung der nationalen Haushalts- und Reformentwürfe erlaubt, parlamentarisieren und damit demokratisieren. Indem man bei der europäischen Vorbereitung der nationalen Budgetrichtlinien – was faktisch auf eine gemeinsame europäische Wirtschafts-, Finanzund Haushaltspolitik hinausläuft – öffentliche Stellung- 52 Mitbestimmung 9/2013 politik Debatte Es liegt nicht nur an den Löhnen Foto: David Ebener Für Michael Wendl, Soziologe und ehemaliges Mitglied der ver.di-Landesleitung Bayern, ist Martin Höpners Blick auf die Lohnregime als Ursache für die Ungleichgewichte der Eurozone zu eindimensional. Eurokrise M artin Höpner macht unterschiedliche Lohnregime und Lohnentwicklungen in den Ländern der Eurozone für die Krise der europäischen Währungsunion verantwortlich. Ohne eine Preisgabe der Tarifautonomie könnten diese nicht angeglichen werden. Eine europäische Koordinierung nationaler Lohnregime sei mit der Tarifautonomie nicht möglich. An dieser Sicht irritiert, dass sie in der Entwicklung der Löhne in der Währungsunion das zentrale Scharnier im Wettbewerb der Unternehmen sieht. Diese Sichtweise ist zu einfach, findet doch der Wettbewerb nicht nur in der Eurozone, sondern in der gesamten Weltwirtschaft statt. Rund 60 Prozent der deutschen Exporte gehen in die Weltwirtschaft außerhalb der Eurozone und sorgen dafür, dass die Eurozone insgesamt als Wirtschaftsraum international wettbewerbsfähig geblieben ist. Es ist auch nicht so, dass die deutsche Industrie die Produkte griechischer, irischer oder portugiesischer Unternehmen vom Markt gedrängt hat. Auch bestehen die Leistungsbilanzdefizite der Krisenländer in erster Linie nicht aus den überhöhten Importen deutscher, niederländischer, österreichischer oder finnischer Produkte. Eine große Rolle bei den Leistungsbilanzdefiziten spielt die Energieund Rohstoffeinfuhr dieser Länder, deren Wirtschaft und Lebensweise nach wie vor energieintensiv geblieben ist. Anders als Höpner schreibt, ist das deutsche Problem von zu niedrigen gesamtwirtschaftlichen Lohnstückkosten nicht die Folge eines „hochkoordinierten Lohnregimes“ in Deutschland, sondern das Ergebnis einer massiven Erosion der Wirkung der Flächentarifverträge, die zu einem deutlich wachsenden Sektor von nicht tariflich fixierten Niedriglöhnen geführt haben. Wir haben den Zerfall eines vormals koordinierten Lohnregimes, der schon in den 1990er Jahren eingesetzt hat. Außerdem entscheiden über die wirtschaftliche Entwicklung in den Mitglieds- ländern nicht nur die gesamtwirtschaftlichen Lohnstückkosten und die nationalen Lohnregime, sondern auch die Geldpolitik der EZB, die mit dem Niveau der realen Zinsen Investitionen fördert oder blockiert. Wir haben insgesamt einen Mangel an verbindlicher Koordination der wirtschaftlichen Entscheidungen im Euroraum – nicht nur bei den Löhnen, sondern ebenso bei der Finanzierung der Investitionen, bei der völlig unzureichenden Kontrolle der Kreditschöpfung der Banken und bei der Steuerpolitik der Nationalstaaten, die einen Steuersenkungswettbewerb zugelassen hat. Bei der politischen Konstruktion der Währungsunion ist nicht beachtet worden, dass wir es hier mit unterschiedlichen nationalen Systemen von Kapitalismus zu tun haben, die sich allein mit der Klammer einer gemeinsamen Währung nicht angleichen lassen. Es hat in den 1990er Jahren eine neue europäische Arbeitsteilung mit Deutschland als dem industriellen Zentrum begonnen. Deutschland hat den Schock der Finanzmarktkrise trotz des ökonomischen Desasters seiner Banken besser überstanden, weil die Kooperation zwischen Kapital und Arbeit im industriellen Kern trotz der Erosion der Tarifbindung außerhalb dieses Kerns stabil und der Rheinische Kapitalismus in diesem Sektor funktionsfähig geblieben ist. Der Weg eines Ausstiegs aus dem Euro, den Höpner, Lafontaine und andere vorziehen, ginge einher mit noch höheren wirtschaftlichen und sozialen Risiken als der Weg zu einer europäischen Wirtschaftsregierung. Das Instrument des Wechselkurses würde nicht ausreichen, um den Mangel an einer international wettbewerbsfähigen industriellen Wertschöpfung ausgleichen zu können. Letztlich würde durch die Rückkehr zu nationalen Währungen die bereits bestehende ökonomische Hierarchie zwischen den Gesellschaften der europäischen Union vergrößert. ■ Mitbestimmung 9/2013 53 „Da wird eine rote Linie überschritten“ In deutschen Schulbüchern werden Themen wie Reichtumsverteilung oder Marktversagen ignoriert, während die Unternehmen in Schulmaterialien munter ihr Weltbild ausbreiten, kritisiert Didaktik-Professor Tim Engartner. INTERVIEW Die Fragen stellte die Journalistin Jeannet te Goddar . wissen Herr Engartner, an Schulen in Deutschland spielt sich ein didaktisches Desaster ab, sagen Sie. Ein großes Wort! Was meinen Sie damit? Wenn Sie sich Schulmaterialien aus dem im Grunde weiten Feld der ökonomischen Bildung anschauen, stellen Sie schnell fest: Es werden ausschließlich zwei Themenfelder bestellt: „Entrepreneurship Education“ und finanzielle Allgemeinbildung. Es geht also nicht darum, Schüler umfassend in ökonomischen Fragen zu bilden, sondern darum, Unternehmergeist zu wecken. Das verträgt sich nicht mit dem Allgemeinbildungsauftrag der Schulen und geht an der Lebenswirklichkeit vorbei: Neun von zehn Schülern werden später als abhängig Beschäftigte arbeiten – und nicht als Selbstständige. Foto: Frank Preuss Und das zweite Thema? Finanzielle Grundbildung braucht doch jeder. Tatsächlich geht es dort in der Regel um Marketing für Produkte der Finanz industrie. Die Initiative MyFinanceCoach zum Beispiel, zu deren Förderern die Allianz ebenso gehört wie McKinsey und die Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft, verfügt über ein Jahresbudget von 2,3 Millionen Euro. In ihren Gesprächsleitfäden für Lehrer wirbt sie offensiv für das Kapitaldeckungsprin- Tim Engartner ist Professor für Didaktik der Sozialwissenschaften an der Universität Frankfurt/ Main. Er berät die Hans-Böckler-Stiftung bei der Erstellung von Unterrichtsmaterialien und ist Autor des Böckler-Schule-Themenhefts zur Finanzkrise. zip in den Sozialversicherungen, um zugleich die unser System dominierende Umlagefinanzierung zu diskreditieren. Deswegen sei im Unterricht der Nutzen privater Absicherung zu vermitteln, heißt es dort. Das ist Produktwerbung für private Altersvorsorge – im Übrigen reichlich verfrüht und völlig an den Interessen der Schüler vorbei. Grundsätzlich gilt: Es ist Aufgabe staatlich geprüfter Lehrer und Schulmaterialien, Schüler auszubilden, nicht die von Unternehmensmitarbeitern und Unternehmensbroschüren. Damit wird eine rote Linie überschritten. Die Institute und Initiativen, die sich in der ökonomischen Schulbildung betätigen, beklagen ganz andere Dinge: Der Staat kümmere sich zu wenig um wirtschaftliche Bildung; wenn er es doch tue, dann unter Zuhilfenahme tendenziöser, industriefeindlicher Materialien. Diesen Mythos hat eine Studie des Georg-Eckert-Instituts für internationale Schulbuchforschung in Braunschweig im Frühjahr eindrücklich widerlegt: „Die deutschen Schulbücher zeichnen ein erstaunlich differenziertes Bild der Wirtschaft und unternehmerischer Tätigkeit. Eine grundsätzlich ablehnende Haltung gegenüber Unternehmertum und Marktwirtschaft kann ihnen nicht attestiert werden“, heißt es darin. Der Vorwurf, deutsche Schulbücher blendeten unternehmerische Perspektiven aus, ist aus der Luft gegriffen. Ignoriert werden stattdessen andere Themenfelder: die Kluft zwischen Arm und Reich zum Beispiel, aber auch die Themen Arbeitsrecht, Funktionen von Geld und Marktversagen kommen kaum vor. „Der Vorwurf, Schul bücher blendeten unter nehmerische Perspek tiven aus, ist aus der Luft gegriffen. Ignoriert werden Themen wie Arm und Reich.“ Was sollen die Schulen denn nun tun? Jede Kooperation, auch mit dem lokalen Mittelstand, meiden? Viele betrachten das als weltfremd. Mitbestimmung 9/2013 55 B ö c k le r S c h u le Neues Themenheft zu Trends der Arbeitswelt Wohin gehen die Trends der Arbeitswelt? Hin zu Flexibilisierung und prekären Beschäftigungsverhältnissen? Oder weg von Fremdbestimmung und hin zu mehr Selbstbestimmung? Und – was ist eigentlich das Charakteristische an der Erwerbsarbeit? Über diese und noch weit mehr Fragen können sich Schülerinnen und Schüler ab der 9. Klasse nun mit einem neuen Themenheft („Atypisch, flexibel, gut? – Neue Trends in der Arbeitswelt“) von Böckler Schule Gedanken machen. Auf 50 Seiten werden ökonomische, politische und soziale Aspekte der Arbeitswelt beleuchtet – in Texten, Karikaturen, Schaubildern, Arbeitsaufträgen und ergänzt durch einen didaktisch-methodischen Kommentar. Das Heft ist das zweite des 2012 geschaffenen Lehrerportals der Hans-Böckler-Stiftung zur sozioökonomischen Bildung. Der Anspruch ist, seriöse Unterrichtsmaterialien zu erstellen, die auch kontroverse Positionen zulassen und didaktisch solide sind. Das erste Themenheft zur Wirtschafts- und Finanzmarktkrise – Autor Tim Engartner – wertete der Bundesverband der Verbraucherzentralen als empfehlenswert: „abwechslungsreich, kreativ, gut strukturiert und verschiedene Lernformen ansprechend“. Daneben bietet Böckler Schule mehrseitige Unterrichtseinheiten für den Einsatz ab der 9. Klasse an: zu den Themen Niedriglohn, Mitbestimmung und Europas Sparpolitik zum Beispiel. ■ Alle Schulmaterialien stehen zum Download bereit. Die Themenhefte zur Finanzkrise (2012) und zu den Trends in der Arbeitswelt (ab 16. September 2013) können über die Website auch als gedruckte Exemplare bei der Hans-Böckler-Stiftung bestellt werden. Die Unterlagen sind kostenlos. Telefon: 02 11/77 78-151 www.boeckler-schule.de 56 Mitbestimmung 9/2013 Im Bereich der Arbeitsweltorientierung sind Kontakte zu und Besuche von Unternehmen natürlich nicht grundsätzlich schlecht. Aus pädagogischer wie aus didaktischer Sicht entscheidend bleibt: Wer hat das Heft in der Hand, wer kontrolliert die Inhalte? Und werden die Grundsätze politischer Bildung beachtet? Wenn eine Interessengruppe zu Wort kommt, muss auch die andere gehört werden, also: Wer die Bundeswehr einlädt, muss auch die Bufdis, die Bundesfreiwilligendienstler, in den Unterricht holen, auf den Besuch der Versicherer müsste einer der Verbraucherzentralen folgen. Und so weiter. Das sollten Lehrer, die Fächer wie Politik und Wirtschaft unterrichten, auch wissen. Leider wird das Fach zu häufig nach dem Prinzip „Avanti dilettanti“ unterrichtet. So wird in Nordrhein-Westfalen nahezu jede zweite Unterrichtsstunde in den sozialwissenschaftlichen Fächern von Fachfremden erteilt, also von Lehrern, die für andere Fächer ausgebildet sind. Das Grundproblem ist: Der Staat kommt seinen Verpflichtun- „Der Staat kommt seinen Verpflichtungen nicht nach – weder beim Lehrernach wuchs noch bei der Ver sorgung der Schulen mit Lehr- und Lernmitteln.“ gen nicht nach, und zwar weder bei der Sicherung des Lehrernachwuchses noch bei der Ausstattung der Schulen oder der Versorgung mit Lehr- und Lernmitteln. Durch diese Defizite an den Schulen wird dem Kampf um die Köpfe der Schüler Tür und Tor geöffnet. Schließlich – das weiß jedes Unternehmen – braucht es im Vergleich zu Erwachsenen als Zielgruppe nur ein Viertel des Werbeetats, um ein Kind zu beeinflussen. Der DGB und die GEW erhoben jüngst die Forderung, externe Unterrichtsmaterialien vor ihrem Einsatz von einer Prüfstelle der Kultusministerien prüfen zu lassen. Die Ministerien lehnen das ab. Dabei wäre das in der Tat überfällig. Schulbücher durchlaufen in 13 von 16 Bundesländern ein differenziertes Zulassungsverfahren; Materialien privater Anbieter hin- wissen Lobbyco n t ro l Wirtschaft geht an die Schulen professionell heran Website von Myfinancecoach: Zu den Förderern gehören die Allianz, McKinsey und die bayerische Wirtschaft. gegen kommen völlig ungefiltert in den Unterricht. Das ist überhaupt nicht einzusehen. Um noch einmal deutlich zu machen, wie wenig wir es mit einem Nischenphänomen zu tun haben: 15 der 20 der umsatzstärksten Unternehmen in Deutschland produzieren Unterrichtsmaterialien. Und auch die Schulleistungsstudie Pisa hat bereits 2006 – weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit – ergeben, dass neun von zehn Schulleitern an Sekundarschulen in Deutschland sagen: Wirtschaft und Industrie üben Einfluss auf die Schüler aus. OECD-weit ist das ein Negativrekord. Nun warnen Sie einerseits vor Verfechtern von Partikularinteressen in der Schule – und machen doch selbst mit: Sie beraten die Hans-Böckler-Stiftung bei der Erstellung ihrer Unterrichtsmaterialien und haben selbst ein Themenheft zur Wirtschafts- und Finanzmarktkrise verfasst. Ertappt – eine gewisse Doppelmoral können Sie da nicht in Abrede stellen. Aber: Der Hans-Böckler-Stiftung mag es um Fragen gehen, die für Arbeitnehmer relevant sind, eingebettet in eine auch kontroverse Darstellung von Aspekten der Arbeitswelt; nicht aber um auf der Hand liegende Gewinnerzielungsabsichten. Das ist ein fundamentaler Unterschied. Vor allem aber bin ich angesichts dessen, dass die Lage nun einmal so ist, wie sie ist, der Überzeugung: Man kann sich um ökonomische Bildung auch verdient machen – statt mit ihr zu verdienen. Und das bedeutet, in einem Angebot sehr zweifelhafter Vielfalt einige Leerstellen zu füllen und kritisch eine Entwicklung auf den Finanzmärkten samt ihrer Hintergründe zu beleuchten, deren Folgen im Übrigen auch alle Schüler betreffen. ■ Nach Erkenntnissen der Organisation Lobbycontrol nimmt die Einflussnahme auf Schülerköpfe in den vergangenen zehn Jahren stetig zu. Mit der stärkeren Öffnung der Schulen, schreibt Lobbycontrol in einem aktuellen Diskussionspapier, habe sich die Einflussnahme auf den Unterricht stark professionalisiert. Gespeist würde die Motivation von Unternehmen, an Schulen aktiv zu werden, aus vier Quellen: Durch die Einflussnahme auf den Unterricht würden erstens Stimmungen in der Gesellschaft langfristig beeinflusst, im Englischen ist dieses Vorgehen unter Deep Lobbying bekannt. Als Beispiel dient die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft mit ihren von einer marktliberalen Agenda deutlich gesteuerten Unterrichtsmaterialien, die etwa von „Focus Money“ erstellt und von der INSM gesponsort werden und in denen Subventionen pauschal als „süßes Gift“ bezeichnet und niedrige Stundenlöhne von sieben Euro verteidigt werden. Zweitens sind Schulen ein geeigneter Ort, um das Image aufzupolieren; unter anderem die Energiebranche macht sich das zu eigen. Drittens werden bereits Kinder als Käufer angesprochen. Ein besonders dreistes Beispiel ist der SüßgetränkHersteller Capri Sonne, der von der Verbraucherschutzorganisation foodwatch jüngst mit dem Goldenen Windbeutel für die dreisteste Werbemasche 2013 ausgezeichnet wurde, weil er – nicht zuletzt mit Unterrichtsmaterialien – Kinder anrege, ein völlig überzuckertes Getränk zu konsumieren. Viertens beobachtet Lobbycontrol immer mehr Engagement von ortsansässigen Unternehmen, die an Schulen um potenzielle Fachkräfte werben. Der Gesamteindruck der Initiative für Transparenz ist vernichtend: Es gehe nicht um „Bildung und Erkenntnis. Sondern um Meinungsmache und Manipulation“. ■ Das Lobbycontrol-Papier zum Download: www.lobbycontrol.de/schwerpunkt/lobbyismus-an-schulen/ Mitbestimmung 9/2013 57 Foto: Sören Zieher/HBS Karin Schulze-Buschoff ist Arbeitsmarktexpertin am WSI der Hans-Böckler-Stiftung. zur Sache Karin Schulze-Buschoff über Auswege aus der Altersarmut „Das am Leistungsprinzip orientierte Alterssicherungssystem wird flexiblen und prekären Erwerbs verläufen immer weniger gerecht.“ War lange Zeit die Beitragshöhe DAS Thema der Rentendebatte, lautet heute die drängendste Frage: Wird meine Rente zum Leben reichen? Befürchtungen werden laut, das absehbar sinkende Leistungsniveau könnte künftig zu einem deutlichen Anstieg der Altersarmut führen. Bereits heute bekommen ostdeutsche Männer, die derzeit in Ruhestand gehen, im Schnitt 867 Euro monatlich – das sind fast 200 Euro weniger, als der männliche Durchschnittsrenter in den neuen Bundesländern erhält. Altersarmut und Alterssicherung sind daher auch ein Thema im Bundestagswahlkampf. Zwei Entwicklungen verstärken diese Besorgnis: zum einen die jüngsten Rentenreformen und zum anderen die Dynamik am Arbeitsmarkt. So zeichnet sich im Rentensystem eine verstärkte Erwerbszentrierung ab. Als Leistung, die einen Rentenanspruch begründet, zählt immer stärker die individuell erbrachte Arbeit. Phasen, in denen keine Beiträge gezahlt werden, etwa während Ausbildung oder Arbeitslosigkeit, wurden dagegen abgewertet. Der Erwerb von Ansprüchen wird damit auf die immer kürzer werdende Phase des Erwerbslebens reduziert. Auf dem Arbeitsmarkt wiederum haben sich sowohl atypische Beschäftigung als auch der Niedriglohnsektor ausgeweitet. Zuletzt wurde vor allem mit den Hartz-Reformen das Ziel verfolgt, eine stärkere Aktivierung von Arbeitssuchenden umzusetzen, indem einzelne atypische Beschäftigungsformen weiter dereguliert wurden. Entsprechend ist der Gesamtumfang von Leiharbeit, Teilzeit, geringfügiger Beschäftigung und befristeter Beschäftigung gestiegen. Die Arbeitsmarktentwicklung spiegelt sich dementsprechend in zunehmend flexiblen Erwerbsverläufen wider. Daher erscheint es paradox, 58 Mitbestimmung 9/2013 dass sich die gesamte Logik des Alterssicherungssystems nach wie vor an der Vorstellung eines Arbeitnehmers mit ungebrochener und in Vollzeit ausgeübter Erwerbstätigkeit von der Ausbildung bis zum Altersrenteneintritt orientiert. Die für das Rentensystem erforderlichen Vorleistungen können infolge von Arbeitslosigkeit, prekärer Beschäftigung und längeren Ausbildungszeiten nur noch unter erschwerten Bedingungen erbracht werden. Vor dem Hintergrund des Aktivierungsparadigmas wird in Bezug auf die Höhe der späteren Rente jedoch verstärkt auf Leistungserbringung gepocht. Zwischen Anspruch und Wirklichkeit klafft so eine Lücke. Was kann getan werden, wenn das entlang dem Leistungsprinzip organisierte deutsche Alterssicherungssystem dem Wandel der Erwerbsarbeit nicht mehr gerecht wird? Notwendig sind erstens Reformen des Arbeitsmarkts, etwa durch die Regulierung von Arbeits- und Einkommensbedingungen, beispielsweise die Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohnes, die Stärkung der Tarifbindung und angemessene Löhne sowie die Eindämmung von geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen. Letztlich würde das auch zu höheren Renten führen. Zweitens könnte die Rentenversicherung die veränderten Rahmenbedingungen besser berücksichtigen. Zur adäquaten Einbeziehung atypischer Beschäftigungsformen in die sozialen Sicherungssysteme wäre eine Erwerbsverlaufsperspektive nötig unter Berücksichtigung von Zeiten unsteten Einkommens und Brüchen in der Erwerbsbiografie. Möglich wäre eine Wiederbelebung der „Rente nach Mindesteinkommen“. Dabei wurden bei der Berechnung der Rentenhöhe niedrige Einkommen höher angesetzt, als sie tatsächlich aus der stiftung waren, damit die Rente auch zum Leben reichte. Zudem könnten Ausbildung und längere Arbeitslosigkeit besser bewertet werden. Helfen könnte auch die Idee sogenannter „flexibler Rentenanwartschaften“. Sie zielt darauf ab, dass Phasen, in denen der oder die Versicherte in Teilzeit gearbeitet hat, im Alter besser von den Lebensabschnitten „aufgefangen“ werden, in denen der Arbeitnehmer eine volle Stelle hatte. Denkbar ist drittens ein Systemwechsel hin zu einem Rentensystem, das statt auf der Leistungsgerechtigkeit auf der Idee der Bedarfsgerechtigkeit basiert und eine stärkere soziale Umverteilung vorsieht, etwa in Form einer steuerfinanzierten und armutsvermeidenden Grundrente. Solche Grundrentensysteme, wie sie etwa in Dänemark oder den Niederlanden etabliert sind, erweisen sich hinsichtlich der Bewältigung der Herausforderungen durch zunehmend flexible Arbeitsmärkte als überzeugender als die traditionelle deutsche Rentenversicherung. Trotz erwartbarer Hürden sollten einzelne Reformoptionen gründlich und umfassend geprüft werden – damit die Lücke, die zwischen der Funktionslogik des Sicherungssystems und der gesellschaftlichen Realität klafft, nicht noch größer wird. ■ Foto: Ulrich Baatz WIR – DIE HANS-BÖCKLER-STIFTUNG Die Stress-Expertin Psychische Arbeitsbelastungen, wie sie entstehen und was man dagegen tun kann, das sind die Kernthemen von Elke Ahlers am WSI. „Das Thema wird für Arbeitnehmer und Gewerkschaften immer wichtiger“, sagt die Sozialwissenschaftlerin. „Hauptursachen für den zunehmenden Stress sind höhere Verantwortung am Arbeitsplatz, wenig Personal, berufliche Unsicherheit und Selbstausbeutung.“ Durch ständige Umstrukturierungen und den damit verbundenen Personalabbau habe nicht nur die Arbeitsdichte zugenommen, auch der eigene Arbeitsplatz sei immer in Gefahr. Hinzu komme, dass sich Beschäftigte zunehmend selbst unter Druck setzten, weil sie gesetzte Ziele – etwa den Umsatz zu steigern – nicht nur erreichen müssen, sondern auch wollen. Ahlers liefert mit ihren Analysen auch Lösungsansätze. Derzeit untersucht sie, wie Betriebsräte dem Stress den Nährboden nehmen können. ■ Referat Qualität der Arbeit Elke Ahlers, Telefon: 02 11/77 78-344, elke-ahlers@boeckler.de Mitbestimmung 9/2013 59 Fotos: Simone M. Neumann Tariferosion kann gestoppt werden WSI-Wissenschaftler plädieren seit Jahren für die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen. Was das der Baubranche und dem Handel bringen würde, diskutierten Politik-, Gewerkschafts- und Wissenschaftsvertreter. ALLGEMEINVERBINDLICHERKLÄRUNG Die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen ist eine der Säulen einer neuen Ordnung des Arbeitsmarktes, machte DGB-Vorstandsmitglied Claus Matecki auf einer Tagung deutlich, die das WSI zusammen mit dem DGB bzw. deren Tarifkoordinatorin Ghazaleh Nassibi Ende Juni in Berlin ausgerichtet hatte. Roter Faden war die Frage: Wie kann das Tarifsystem durch eine Reform der Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) wieder stabilisiert werden? Die WSI-Wissenschaftler Thorsten Schulten und Reinhard Bispinck verweisen in ihren Studien zur Entwicklung der Tarifvertragssysteme in Deutschland und Europa seit Längerem darauf, dass zur Stärkung der Tarifbindung in Deutschland das tarifpolitische Instrument der AVE revitalisiert werden sollte. Zumal die Zahl der allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträge hierzulande rückläufig ist, wie Bispinck, der Leiter des Tarifarchivs, nachgerechnet hat. Während Anfang 1991 noch 621 allgemeinverbindlich erklärte Tarifverträge in Deutschland existierten und im Verlauf jenes Jahres 199 Mal die AVE beantragt wurde, gab es 2012 noch 489 AVETarifverträge, beantragt wurde die Allgemeinverbindlichkeit nur noch in 19 Fällen. Bei der CDU ist offenbar jenseits des Arbeitnehmerflügels die Einsicht gewachsen, dass hier Handlungsbedarf besteht. Auf dem linken Flügel ist das Thema sowieso gesetzt. Bündnisgrüne, SPD und Linke haben Vorschläge zur Reform der Allgemeinverbindlicherklärungen vorgelegt, wobei Konsens darüber besteht, dass die 60 Mitbestimmung 9/2013 Anwendung von Tarifverträgen auf ganze Branchen leichter werden muss, um permanente Unterbietungswettbewerbe zu verhindern. Vor allem zwei Hebel sind dafür umzulegen: Zum einen muss das 50-Prozent-Quorum gekippt werden; die Regelung verlangt den – oft schwer zu erbringenden – Nachweis, dass die tarifgebundenen Arbeitgeber mindestens die Hälfte der Arbeitnehmer im Geltungsbereich des Tarifvertrags beschäftigen. Zum Zweiten sollten im entscheidenden Tarifausschuss beim Bundesarbeitsministerium auch Delegierte der entsprechenden Branche mitreden dürfen; bisher sitzen dort nur Vertreter von BDA und DGB, und bei Stimmengleichheit ist der Antrag gescheitert. Gerade einmal 1,5 Prozent der Tarifverträge gelten heute flächendeckend; Anfang der 1990er Jahre waren es immerhin noch 5,4 Prozent gewesen. Auch wenn es in letzter Zeit bei der Allgemeinverbindlicherkläung fast ausschließlich um die Absicherung von Mindestlöhnen ging, warnte IG-BAU-Vorstandsfrau Bärbel Feltrini, die AVE darauf zu reduzieren. „Mit Tarifverträgen lassen sich auch die Arbeitsbedingungen oder sozialpolitische Ziele wie Ausbildung gestalten.“ Genau das belegte Harald Schröer, Geschäftsführer beim Zentralverband des Deutschen Baugewerbes. So hat sich beispielsweise die Winterarbeitslosigkeit auf dem Bau halbiert, seit Arbeitszeitkonten flächendeckend eingeführt wurden. Die Beschäftigten bummeln ihre im Sommer angesammelten Überstunden in der kalten Jahreszeit ab und bekommen so lange einen festen Monatslohn, aus der stiftung BISPINCK, WSI; Nassibi, DGB; Feltrini, IG BAU; Wiedemuth, Ver.di; Baugewerbevertreter Schröer ( v.L .) Katzenjammer im Arbeitgeberlager bis ihr Arbeitszeitkonto ins Minus rutscht. Erst dann muss der Staat mit Saisonkurzarbeitergeld einspringen. Im Vergleich zu früher erspart das den Sozialversicherungen jährlich 300 Millionen Euro. „Beschäftigte, Betriebe und der Staat profitieren“, so Schröer. Viele Fragen lassen sich im Baubereich nur betriebsübergreifend befriedigend regeln. Zum einen sind die Firmen durchschnittlich sehr klein: 90 Prozent beschäftigen weniger als 20 Mitarbeiter. Zum anderen ist eine hohe Fluktuation typisch für die Branche. Deshalb gibt es inzwischen für vieles eine gemeinsame Buchhaltung – was dazu führt, dass Bauarbeiter oft schon nach wenigen Wochen in einem neuen Job Ferien machen können, sofern sie entsprechende Ansprüche bei der vorherigen Stelle erworben haben. Dafür existiert in der Baubranche eine Urlaubsausgleichskasse, die jährlich etwa 1,9 Milliarden Euro umverteilt. Auch die Kosten für die Berufsausbildung von jährlich 37 000 Azubis werden über eine Umlage finanziert. Außerdem erreichen mehr als zwei Drittel der Beschäftigten aufgrund der starken körperlichen Belastung das gesetzliche Rentenalter nicht und benötigen Ausgleichszahlungen, was ebenfalls über einen allgemeinverbindlichen Tarifvertrag geregelt ist. In diese Umlagesysteme einbezogen sind nicht nur die 69 000 deutschen Betriebe mit ihren 610 000 Arbeitnehmern einschließlich Teilzeitkräften sowie geringfügig und befristet Beschäftigte. Auch die 2900 ausländischen Unternehmen mit ihren 75 000 Arbeitnehmern, die hierzulande auf Baustellen arbeiten, sind verpflichtet, sich zu beteiligen. Völlig anders sieht die Lage im Handel aus, wie der Leiter der tarifpolitischen Grundsatzabteilung bei ver.di, Jörg Wiedemuth, ausführte. Dort galten bis 1999 so gut wie alle Tarifverträge branchenweit. Sie regelten nicht nur die Lohnhöhen, sondern auch Arbeitszeitfragen oder vermögenswirksame Leistungen. „Es gab damals einen Konsens zwischen den beiden Arbeitgeberverbänden sowie HBV und DAG, dass alle Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt werden“, berichtet Wiedemuth. Dann aber scherte die Bundesarbeitsgemeinschaft der Mittel- und Großbetriebe aus und bot Mitgliedschaften ohne Tarifbindung an. Peek & Cloppenburg griff als Erstes zu und befeuerte damit einen brutalen Verdrängungswettbewerb auf Kosten der Beschäftigten mit sinkenden Löhnen und immer weniger Personal auf immer mehr Quadratmetern Verkaufsfläche. Die wurde in den vergangenen 20 Jahren um 58 Prozent ausgedehnt, während der Gesamtumsatz im Einzelhandel gerade einmal um zwei Prozent wuchs. „Heute herrscht im Arbeitgeberlager Katzenjammer“, beschreibt Wiedemuth die Lage. Nur für 42 Prozent der Beschäftigten im westdeutschen Einzelhandel gilt noch ein Branchentarifvertrag, für vier Prozent gibt es Haustarifverträge; im Osten der Republik sieht es noch weit düsterer aus. Sogar nicht gerade als arbeitnehmerfreundlich geltende Konzerne wie Lidl oder Aldi Nord fordern inzwischen die Einführung eines Mindestlohns. Ironie der Geschichte: Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Mittel- und Großbetriebe wurde aufgelöst, nachdem Karstadt ausgetreten war. Der übrig gebliebene Handelsverband Deutschland (HDE) setzt sich jetzt zumindest verbal dafür ein, die Bedingungen für eine Allgemeinverbindlicherklärung zu vereinfachen und das 50-Prozent-Quorum zu senken. Die Gespräche zwischen ver.di und HDE sind aber erst einmal gescheitert. Wie absurd die aktuelle Gesetzeslage ist, brachte der Arbeitsrechtler Ulrich Preis von der Universität Köln auf den Punkt: „Je niedriger der Organisationsgrad der Arbeitgeber ist, desto höher ist der Schutzbedarf durch eine Allgemeinverbindlicherklärung. Mit dem 50-Prozent-Quorum verhindert der Staat aber gerade dort die Handlungsmöglichkeiten, wo der Schutzbedarf besonders hoch ist.“ ■ Von Annet te Jensen, Journalistin in Berlin Tagu n gs d o k um e n tat i o n e n www.boeckler.de/28733_42839.htm www.dgb.de, Themenbox anklicken, http://bit.ly/14xFjkP Mitbestimmung 9/2013 61 Akzeptanz wird verspielt Ist Kohle als kostengünstiger Energielieferant und Brückentechnologie für den Industriestandort unverzichtbar? Das diskutierten Gewerkschafts-, Wissenschafts- und Arbeitgebervertreter auf einer Böckler-Tagung ENERGIEWENDE Fotos: Stephan Pramme „Die Akzeptanz für die Energiewende schwindet in der Bevölkerung und in den Betrieben“, warnte DGB-Vorstandsmitglied Dietmar Hexel. Die anfängliche Euphorie sei inzwischen großer Unsicherheit gewichen, schuld daran sei fehlende politische Steuerung. So lautete das einhellige Fazit einer Veranstaltung der Hans-Böckler-Stiftung in Kooperation mit dem DGB Ende Juni in Berlin, auf der eine „Bilanz der Energiewende“ gezogen wurde – und zwar „dezidiert aus Sicht der Arbeitnehmer“, wie Hexel betonte. Dabei sei die Energiewende machbar: Im Juni stammten erstmals an zwei Tagen rund 60 Prozent der in Deutschland eingespeisten und verbrauchten Energie aus Sonne und Wind. Im Schnitt stellen die erneuerbaren Energien ein Viertel der Kraftwerksleistung. Bis 2050 sollen es 80 Prozent sein. Doch wie das erreicht werden soll, DGB-vorstand Hexel , DIW-Forscherin Kemfert, Diskutanten,Ver.Di-Experte Klopffleisch, ( V.L .o.): Arbeitnehmersicht 62 Mitbestimmung 9/2013 ist – wie sich auch auf dieser Tagung zeigte – heftig umstritten. „Es muss darum gehen, dass wir immer weniger auf Kohle und stattdessen immer stärker auf die Erneuerbaren setzen“, forderte Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Immerhin zähle die Kohle aufgrund ihres erheblichen CO²Ausstoßes zu den klimaschädlichsten Energietechnologien. Laut Kemfert würde ein Abschied von der Kohle auch den Energiemarkt in Deutschland verändern: weg von der Konzentration auf wenige Großunternehmen hin zu vielen kleinen, auch kommunalen Energieunternehmen. „Die Erneuerbaren sind in Bürgerhand“, referierte Kempfert neueste DIW-Zahlen, „denn über 40 Prozent der Investitionen in Wind, Sonne oder Biogas kommen von Privatpersonen oder Kommunen. Der geringere Teil stammt von den vier großen Energiekonzernen in Deutschland.“ IG-Metall-Vorstandsmitglied Jürgen Kerner sieht das ähnlich: „Unsere Perspektive ist es, unsere Beschäftigten von Gas und Kohle zu Wind und Sonne zu transferieren“, sagt er. Dass es dazu einer breiten Qualifizierung bedarf, betont auch Reinhard Klopffleisch: „Wir bei ver.di setzen auf die Qualifizierung unserer Beschäftigten in der Energiewirtschaft, also bei den Stadtwerken und den Konzernen.“ Klopffleisch sagt auch: „Wir brauchen die Kohle noch – allein aus Kostengründen.“ Mit diesem Argument steht der ver.diMann nicht alleine. „Wir brauchen eine lange Brücke aus Kohlekraftwerken, bis wir bei 80 Prozent der Erneuerbaren angekommen sind“, sagte Ralf Bartels, Ressortleiter bei der IG BCE. Denn Kohle rechnet sich, die Emissionszertifikate sind derzeit billig zu haben. „Ohne Strompreise auf der Grundlage von Braunkohle treiben wir die energieintensive Industrie ins Ausland“, ist Bartels überzeugt. Eine Einsicht, die der Gewerkschafter mit Carsten Rolle vom Bundesverband der deutschen Industrie, dem BDI, teilt. Dessen Argument: Schon heute fände eine schleichende Abwanderung der Industrie statt. Deutschland habe jedenfalls die zweithöchsten Stromkosten in der EU. Der Industrie geht es auch um eine stabile Stromversorgung. Dass die in Deutschland nicht gefährdet sei, demonstrierte Rainer Baake, Direktor der Initiative Agora Energiewende, entlang der Statistik. Bei uns sei der Strom im Jahr für durchschnittlich 14 Minuten unterbrochen, „wovon andere Industrienationen nur träumen. In den USA und anderen westeuropäischen Ländern sind 100 bis 200 Minuten an der Tagesordnung“, sagt Baake. Außerdem werde der Strom aus Erneuerbaren mit der Zeit kostengünstiger. Denn immerhin braucht er keinen Brennstoff wie der Strom aus Braunkohle, für den jährlich in Deutschland rund 90 Milliarden Euro ausgegeben werden. Nicht zuletzt hätten die Erneuerbaren keine Folgekosten – weder für Renaturierung noch für Endlager. Folgekosten, die heute Staat und Steuerzahler aufgebürdet werden. ■ Von K arin Flothmann, Journalistin in Berlin aus der stiftung TIPPS & TERMINE i n ves tore n au s de n b r i c-s ta ate n Welche Risiken, welche Chancen zeichnen sich für eine Belegschaft ab, wenn Investoren aus Brasilien, Russland, Indien oder China den Betrieb übernehmen? Ein Böckler-Projekt präsentiert Ergebnisse. wsi - gle i c hs te llu n gs tagu n g Thematisiert wird der Zusammenhang von gesellschaftlich anerkannter Erwerbsarbeit und eher wenig anerkannter Fürsorgearbeit, die aber beide – möglichst geschlechtergerecht – im Lebensverlauf ermöglicht und abgesichert werden müssen. Absolve n te n f e i e r Die Hans-Böckler-Stiftung feiert gemeinsam mit ihren Stipendiatinnen und Stipendiaten, die in den vergangenen zwei Jahren ihr Studium erfolgreich abgeschlossen haben. ve r . di -a rb e i t sdi re k tore n - ko n f e re n z Die Hans-Böckler-Stiftung lädt in Kooperation mit der Gewerkschaft ver.di Arbeitsdirektoren ein, um über Themen wie Konfliktmanagement und gewerkschaftliche Europapolitik zu diskutieren. Da s Rec h t de r ILO Die Veranstaltung, die das WSI mit der Universität Hamburg organisiert, widmet sich den Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation und ihrer Umsetzung in diversen Ländern. öko n om isc h e b i ldu n g Die Hans-Böckler-Stiftung und die IG Metall wollen zusammen mit Pädagogen aus Schulen und aus der politischen Jugend- und Erwachsenenbildung über einen durch soziale Aspekte erweiterten Begriff der „ökonomischen Bildung“ reflektieren. workshop am 26. september in düsseldorf tagung vom 26. bis 27. September in Berlin veranstaltung am 5. Oktober in Berlin konferenz vom 10. bis 11. Oktober in Berlin veranstaltung am 11. Oktober in Hamburg Tagung am 24. Oktober in Frankfurt Hans-Böckler-Stiftung Steffi Nohl Telefon: 02 11/77 78-123 steffi-nohl@boeckler.de Hans-Böckler-Stiftung Katharina Jakoby Telefon: 02 11/77 78-124 katharina-jakoby@boeckler.de Hans-Böckler-Stiftung Maria Jackschitz Telefon: 02 11/77 78-105 maria-jackschitz@boeckler.de Hans-Böckler-Stiftung Beatrice Menz Telefon: 02 11/77 78-111 beatrice-menz@boeckler.de Hans-Böckler-Stiftung Steffi Nohl Telefon: 02 11/77 78-123 steffi-nohl@boeckler.de Hans-Böckler-Stiftung Steffi Nohl Telefon: 02 11/77 78-123 steffi-nohl@boeckler.de * Weitere Veranstaltungstipps unter www.boeckler.de und Fachtagungen für Aufsichtsräte unter www.boeckler.de/29843.htm Mitbestimmung 9/2013 63 STUDIENFÖRDERUNG Foto: Rolf Schulten Ambitionierte Veranstaltungsmacher Die Promotionsstipendiaten Sebastian Bischoff, Lena Kahle, Dagmar Lieske und Torben Villwock (v.l.) aus dem Vorbereitungsteam der Böckler-Tagung „Gewerkschaften und Migration“ Wie wirken sich Migrationsprozesse auf die Arbeitsbeziehungen aus? Prägen fundamentale Werte wie Solidarität, Mitbestimmung und Gleichberechtigung auch die gewerkschaftliche Migrationspolitik? Es waren politisch brisante Fragen, die in Göttingen auf der zweiten wissenschaftlichen Tagung der Promovierenden der HansBöckler-Stiftung in Kooperation mit der Göttinger Graduiertenschule Gesellschaftswissenschaften zum Thema „Gewerkschaften und Migration“ diskutiert wurden. „Im Fokus der Veranstaltung stand die Idee, Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler aus verschiedenen Fachbereichen miteinander ins Gespräch zu bringen“, erklärt Torben Villwock die Intention der Veranstalter, „und darüber auch gesellschaftlich relevante Themen in der akademischen Debatte zu verankern.“ Die Resonanz auf den deutsch-englischen Call for Papers war groß: „Wir bekamen Bewer- 64 Mitbestimmung 9/2013 bungen aus ganz Europa und konnten im Programm ein breites Spektrum abdecken“, berichtet Promotionsstipendiatin Dagmar Lieske von der Arbeit des Vorbereitungsteams. Besonders stolz sind die Organisatoren, dass es ihnen gelungen ist, den renommierten indischen Migrationsforscher Ranabir Samaddar sowie seinen deutschen Kollegen Ludger Pries von der Universität Bochum als Key-Note-Speaker zu gewinnen. Zum Vorbereitungsteam gehörten außerdem die Promotionsstipendiaten Florian Hohenstatt und Thorsten Mense sowie Susanne Schedel, die in der Hans-Böckler-Stiftung ein Promotionsförderungsreferat leitet (nicht im Bild). Eine Dokumentation der Tagung „Subjekte in Bewegung, Organisationen in Bewegung? Gewerkschaften und Migration“ wird vorbereitet. ■ aus der stiftung GA ST VORTR AG wsi Marc Amlinger unterstützt Tarifforscher Marc Amlinger ist seit Juni wissenschaftlicher Mitarbeiter im WSI-Projekt „Tarif- und Einkommensentwicklung“, das über drei Jahre läuft. Der 31-Jährige kümmert sich um die Erweiterung der Datenbasis für das Tarifarchiv, analysiert die gewonnenen Daten – mit Blick auf die Tarif- und Einkommensentwicklung und die verteilungspolitischen Wirkungen. Dabei arbeitet er auch mit den Tarifexperten Reinhard Bispinck und Thorsten Schulten. Die Hans-Böckler-Stiftung ist für Amlinger kein Neuland. Zuvor hat er an der Universität Trier Marc Amlinger im Projekt „Postdemokratie und industrielle Beziehungen“ mit Ulrich Brinkmann und Oliver Nachtwey gearbeitet, das von der Hans-Böckler-Stiftung gefördert wurde und bei dem Daten aus der WSI-Betriebsrätebefragung Verwendung fanden. Amlinger, der bei Trier aufwuchs und dort auch Soziologie, Philosophie und Anglistik studierte, pendelt jetzt zwischen Mosel und Rhein. ■ schung der Ruhr-Universität Bochum innehatte, ihr Projekt vor. Pugh interessiert, wie Menschen kulturelle Muster und Narrative einsetzen, um in der Arbeitswelt und in der Gesellschaft zu funktionieren. Prekarität und Vermarktlichung gilt ihr besonderes Interesse. So berichtet sie, dass Gekündigte die Schuld oft auch bei sich suchen und zugleich die Kündigung als Chance ansehen – eine Art „Neoliberalismus im Kopf“, der sie, wie sie sagt, zugleich erschreckt und wegen seines Pragmatismus im Umgang mit Emotionen fasziniert. Die Frage, ob Frauen, wie Pugh sie beschreibt, in ihren Rollen verharren oder ein emanzipatorisches Potenzial bergen, beantwortete die Autorin nur indirekt: „Früher sollten Frauen mit ihrer emotionalen Wärme die kalte Arbeitswelt der Männer heilen. Heute gilt das Bild als überholt – aber man erwartet zugleich, dass Frauen die alte Rolle der Fürsorgenden noch mit ausfüllen. Das ist nicht nachhaltig.“ ■ www.allisonpugh.com Publikationen Zeugnis des Terrors In den Jahren 1941 und 1942 wurde ein Teil der jüdischen Einwohner Berlins ins deutsch besetzte Minsk im heutigen Weißrussland deportiert und fast ausnahmlos ermordet. Ein Buch, an dem die Böckler-Stipendiatin Anja Reuss maßgeblich mitgearbeitet hat, rekonstruiert 59 Einzel- und Familienbiografien Deportierter. Das Buch, an dessen Finanzierung sich die Hans-Böckler-Stiftung beteiligt hat, präsentiert eine beeindruckende Rechercheleistung. Dies gilt für die Texte ebenso wie für die Fotodokumente. „Die meisten Bilder erhielten wir von überlebenden Verwandten“, berichtet Reuss. Hinweise auf deren Existenz fanden sich in Entschädigungsakten oder im Internet. Man ahnt, dass diese Arbeit oft eine emotionale Belastung war. Wer den einleitenden Text von Thomas Baruch liest, der zwei Tanten durch den organisierten Mord verloren und das Buchprojekt mit einer großzügigen Spende unterstützt hat, der versteht, wie groß die Trauer über jene „Leben, die nicht gelebt werden durften“, bis heute ist. Ein Muster, nach welchen Kriterien die Transporte nach Minsk erfolgten, haben die Forschungen nicht ergeben. „Es war letzlich Willkür“, sagt Reuss. ■ Anja Reuss Mitbestimmung 9/2013 Foto: Stephan Pramme „Tumbleweed“, Steppenroller, nennt man in den USA eine Gruppe von Pflanzen, die sich zu ihrer Verbreitung vom Boden lösen, zusammenrollen und vom Wind durch die Landschaft treiben lassen. Analog zu diesem Bild beschreibt die US-Soziologin Allison Pugh in ihrem aktuellen Buchprojekt die US-Gesellschaft als „Tumbleweed Society“, als eine Gesellschaft Entwurzelter. Ihr Material sind Interviews, die sie mit 80 Personen, meist Allison Pugh Frauen, im Ostküsten-Bundesstaat Virginia geführt hat. Während eines Besuches in der Stiftung auf Einladung von WSI-Direktorin Brigitte Unger stellte Pugh, die bis Mitte Juli die Marie-Jahoda-Gastprofessur für Internationale Frauenfor- Foto: privat Foto: Kay Meiners Verinnerlichung des amerikanischen Kapitalismus 65 aus der stiftung O ft braucht Kathrin Mahler Walther viel Fantasie, manchmal aber auch nur eine ganz pragmatische Lösung: Mit Partnern aus Politik und Wirtschaft sucht sie neue Wege, alte Strukturen aufzubrechen – damit Frauen ihre Fähigkeiten endlich überall einbringen können und im Berufsleben nicht mehr von alten Mauern eingeschränkt werden. Die Überzeugung, dass die richtigen Einsichten sich irgendwann durchsetzen, wenn man nur dafür kämpft, speist sich auch aus Mahler Walthers Biografie. Selbst ein Vierteljahrhundert nach der „Friedlichen Revolution“ in der DDR gelingt es ihr schnell, sich in eine Zeit zurückzuversetzen, die wohl die aufregendste ihres Lebens bleiben wird. 18 Jahre war sie damals alt, lebte in Leipzig und machte eine Ausbildung zur Facharbeiterin für Schreibtechnik. Sie hatte sich der Arbeitsgruppe Menschenrechte um Pfarrer Christoph Won- Die Wegbereiterin In der Revolution von 1989 lernte Kathrin Mahler Walther, dass sich alles verändern lässt. Heute kämpft sie für mehr Frauen in Führungspositionen. PORTRÄT Von sUSANNE k AILITZ, Journalistin in Dresden neberger angeschlossen, später wurde sie Sprecherin des Arbeitskreises Gerechtigkeit. „Und dann kam die Revolution“, sagt sie, „da fanden die Demonstrationen statt, es gab einen runden Tisch nach dem anderen, und es ging pausenlos darum, wie wir dieses System verändern können. Zeit zum Schlafen gab es eigentlich nicht.“ Noch heute, in ihrem Berliner Büro der Europäischen Akademie für Frauen in Politik und Wirtschaft (EAF), ist zu spüren, mit welcher Begeisterung sie sich dafür einsetzte, ein ganzes Land zu verändern. Die Dinge anpacken, für das kämpfen, was wichtig ist – damit hat sie nie mehr aufgehört. Die 42-Jährige ist überzeugt, dass sich die Verhältnisse verändern lassen. „Zu sehen, wie ein ganzes Volk aufsteht, trotz der Gefahren, das hat mich sehr berührt und geprägt.“ Heute engagiert sich Mahler Walther für die Gleichberechtigung. Zur EAF kam sie vor 14 Jahren – als Praktikantin. Die Professorin Barbara Schaeffer-Hegel und die Journalistin Helga Lukoschat hatten die Organisation 1996 ins Leben gerufen, überzeugt davon, dass Frauen und Männer überall gebraucht werden: als Eltern genauso wie als Fach- und Führungskräfte. 66 Mitbestimmung 9/2013 Die EAF berät und begleitet an der Schnittstelle von Wirtschaft, Wissenschaft und Politik Organisationen in Veränderungsprozessen. Mit Mentoringprogrammen fördert sie weibliche Nachwuchskräfte und unterstützt Frauen und Männer bei der Vereinbarung persönlicher, familiärer und beruflicher Anforderungen. Gemeinsam mit Helga Lukoschat trägt Mahler Walther seit 2008 als Geschäftsführendes Vorstandsmitglied die Verantwortung für das knapp 20-köpfige Team. Mit dem Bundesministerium für Familie, Frauen, Senioren und Jugend initiierte die EAF 2011 die „Regionalen Bündnisse für Chancengleichheit“, Deutschlands größtes Unternehmensbündnis für mehr Frauen in Führungspositionen. Mahler Walther leitet das Programm. Sie berät Unternehmen vom Mittelständler bis zum Großkonzern und ist zudem auch in der Forschung aktiv. Viel Aufmerksamkeit bekam 2008 ihre Studie „Kinder und Karrieren: Die neuen Paare“. Dafür befragte sie mit ihrem Team rund 1200 Doppelkarriere-Paare mit Kindern, wie sie Partnerschaft, Familie und Erfolg im Job unter einen Hut bekommen, und plädiert in ihrem Fazit für deutlich mehr Flexibilität in der Arbeitswelt. Wer mit Mahler Walther spricht, erlebt eine Frau, die von der Sinnhaftigkeit ihres Tuns überzeugt ist. Dabei hätte sie auch leicht an anderer Stelle landen können: Während der Friedlichen Revolution diskutierte die Geschäftsführerin der Initiative Frieden und Menschenrechte (IFM) Leipzig am runden Tisch der Stadt und des Bezirks darüber, wie es weitergehen sollte. Später verhandelte sie als Mitglied im Bundesvorstand der IFM die Fusion zum Bündnis 90 mit. Im Sächsischen Landtag baute sie die erste bündnisgrüne Fraktion mit auf. Spannend und aufregend sei das gewesen, „aber auch ernüchternd“: „Wir mussten lernen, uns in die mühsamen Wege parlamentarischer Demokratie einzufinden. Viele unserer hochfliegenden Ideen ließen sich so nicht umsetzen.“ 1992, nach sechs intensiven Jahren, gönnte sich Mahler Walther eine Pause. Sie wollte lernen, um anzukommen im neuen politischen System. Sie machte in Berlin auf dem zweiten Bildungsweg Abitur. Dass darauf ein Studium folgte, verdankt Mahler Walther auch der Unterstützung anderer. „Ich hatte das große Glück, dass ich von der Hans-Böckler-Stiftung schon während des Abiturs für ein Stipendium ausgewählt wurde und im Anschluss Sozialwissenschaften studieren konnte. Die Seminare und Kontakte im Rahmen der ideellen Förderung, die Zusammenarbeit mit den Gewerkschaftsvertretern, all das hat mir sehr geholfen, in diesem Land anzukommen.“ Heute will sie dafür etwas zurückgeben und hat mit der HansBöckler-Stiftung ein Mentoringprogramm entwickelt, das Stipendiaten und Altstipendiaten zusammenbringt und Absolventen hilft, den Weg zu Führungspositionen einzuschlagen. Ihre Botschaft an den Nachwuchs ist klar: „Man darf nicht abwarten, bis die Dinge von selbst passieren. Wenn sich etwas ändern soll, muss man selbst vorangehen.“ Und auch mal eine Mauer einreißen.■ ALTSTIPENDIATEN STIFTUNG aus derDER stiftung Frauenrechtlerin Kathrin Mahler Walther auf dem Foto: Rolf Schulten balkon Ihres Berliner Büros: Wer wirklich kämpft, kann die Verhältnisse umkrempeln. Mitbestimmung 9/2013 67 Rot-grünes Politikprojekt Zukunftsdebat te „ Roadmaps 2020“, der neue Sammelband von „Denkwerk Demokratie“, lässt viele Wege zu – auf einer Plattform gegen die Hegemonie des Neoliberalismus. Von Hans Joachim Sperling, Sozialwissenschaftler, war als Industriesoziologe am Göttinger SOFI tätig, lebt jetzt in Berlin. Denkwerk Demokratie (Hrsg.): Roadmaps 2020. Wege zu mehr Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit und Demokratie. Frankfurt, Campus Verlag 2013. 273 Seiten, 19,90 Euro, auch als E-Book 68 Mitbestimmung 9/2013 Auch wenn der derzeitige Wahlkampf nicht gerade den Eindruck vermittelt, dass es angesichts vielfältiger kumulierter Krisenprobleme um politische Weichenstellungen oder einen Kurswechsel geht, wächst doch bei politisch interessierten Beobachtern und Akteuren das Bedürfnis nach Krisenerklärungen und tauglichen Zukunftskonzepten. Im Spektrum der Berliner Thinktanks hat sich der 2011 gegründete Verein „Denkwerk Demokratie“ etabliert, der 2012 mit einer ersten Denkschrift, „Neues Denken. Strategien und Denkaufgaben für einen sozialen und ökologischen Entwicklungspfad“, an die Öffentlichkeit getreten ist und im Sommer 2013 einen Band unter dem Titel „Roadmaps 2020. Wege zu mehr Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit und Demokratie“ vorgestellt hat. „Denkwerk Demokratie“ (nicht zu verwechseln mit dem 2007 von Meinhard Miegel gegründeten „Denkwerk Zukunft“) versteht sich als linkes Reformvorhaben, das ein rot-grünes Politikprojekt argumentativ befördern und begleiten will und dabei ausdrücklich die Gewerkschaften mit ins Boot nimmt ebenso wie zivilgesellschaftliche Initiativen. Personell bildet sich das im Vorstand ab, der von einer Vierergruppe aus drei Frauen und einem Mann geleitet wird. Dies sind die beiden PolitManagerinnen Andrea Nahles, SPD-Generalsekretärin, und Steffi Lemke, Bundesgeschäftsführerin der Grünen, und die gewerkschaftlichen Vordenker Yasmin Fahimi, Leiterin des Ressorts Politische Planung der IG BCE, und Michael Guggemos, der die Vorstandsaufgaben der IG Metall koordiniert. Das Anfang Juli in Berlin öffentlich vorgestellte Buch „Roadmaps 2020“ versammelt in vier thematischen Blöcken insgesamt 25 Artikel sowohl von „etablierten Persönlichkeiten aus Politik und Gesellschaft“, darunter die grün-roten Parteivorsitzenden Claudia Roth und Sigmar Gabriel sowie die Gewerkschaftsvorsitzenden Michael Sommer, Berthold Huber, Michael Vassiliadis und Frank Bsirske, als auch Beiträge von wissenschaftlich und politisch Engagierten meist aus der Generation der 40-Jährigen. Wohin sollen die Wege nun führen, wenn man sich den angebotenen Roadmaps (bewusst in den Plural gesetzt) anvertraut? „Roadmap“ verstehen die Initiatoren als „einen politischen Strategieansatz, der langfristige Ziele formuliert und zugleich Wege aufzeigt, wie diese Ziele im Zusammenwirken politischer Akteure zu erreichen sind“. Als Zieleingabe programmieren die Initiatoren das Navi mit Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit und Demokratie. Da wollen viele hin. Auch wenn das Bekenntnis zu Nachhaltigkeit „längst in den parteiübergreifenden Kanon politischer Rhetorik aufgenommen wurde“, wie die Ökonomen Sebastian Dullien und Till van Treeck betonen, halten sie in ihrem Vorschlag eines neuen Stabilitäts- und Wohlstandsgesetzes am Zielbegriff Nachhaltigkeit fest. Was auch plausibel wird, weil die einzelnen Dimensionen von Nachhaltigkeit in diesem Band von verschiedenen Autoren ausdifferenziert und als kohärentes Gesamtkonzept begründet werden. Freilich wird der Ansatz dann trivial und kaum politiktauglich, wenn Zielkonflikte zwischen den Dimensionen und die Interessen und Strategien der vielfältigen Akteure nicht thematisiert werden. Aber hier bietet der Band dem Leser Raum für Anregungen zum Weiterdenken. Gerade im Hinblick auf das mehr als komplexe politische Großprojekt der Energiewende, das in dem Buch den breitesten Raum einnimmt und von unterschiedlichen Positionen aus erörtert wird: vom Plädoyer für einen „energiepolitischen Innovationspakt für Deutschland“ bei Michael Vassiliadis bis hin zum Plädoyer für eine bürgereigene dezentrale Energieversorgung bei der Initiatorin einer lokalen Energiegenossenschaft, Luise Neumann-Cosel. Auch hinsichtlich der Positionen zum Wachstum dokumentiert der Band nicht einen einzigen Weg. medien Foto: privat DREI FRAGEN AN … Während der IG-Metall-Vorsitzende Huber überzeugend für ein anderes qualitatives, auch industrielles Wachstum plädiert, hält der BUND-Vorsitzende Hubert Weiger die „Fokusssierung auf ‚grünes‘ oder ‚nachhaltiges‘ Wachstum für trügerisch“ und plädiert für Strategien, die die Ziele nachhaltiger Entwicklung „ohne den Umweg über Wachstum“ erreichen können. Zwar betonen die Protagonisten von „Denkwerk Demokratie“ die Bedeutung von Betrieb und Unternehmen als zentraler Handlungsebene, doch bleibt dieses Politikfeld noch wenig konturiert, und eine postulierte „neue Kultur der Wirtschaftsdemokratie“ wird kaum expliziert. Der Beitrag des BMW-Betriebsrats Alexander Farrenkopf bleibt hier noch eine einsame Stimme. In diesem Politikfeld ließen sich in Verbindung mit den anregenden Thesen zu einer „Politik für einen mitbestimmten Erwerbslebensverlauf“, der von den Autorinnen Bogedan, Kohlrausch und Smolenski beigesteuert wird, arbeits- und sozialpolitische Konzepte verknüpfen, bei denen Tarifparteien und Betriebsräte gesellschaftliche Absicherungen und Rahmensetzungen kollektiv vereinbaren könnten. In der Summe bieten der Band und die Aktivitäten des „Denkwerks Demokratie“ als eines sozial-ökologischen „Think-Nets“ eine Plattform der Verständigung und der Diskursorganisierung, die die Konturen eines „neuen Denkens“ gegen die Hegemonie des Neoliberalismus schärfen und politische Handlungsoptionen über den nationalen Rahmen hinaus in die politische Auseinandersetzung einbringen kann – auch mit Blick auf eine Neubegründung von Europa als demokratischem und sozialem Projekt. Denken hat selten geschadet. Und einen langen Atem dafür braucht es sowieso, auch über den Horizont von Legislaturperioden hinaus. Aber so viel Zeit bleibt bis zum Jahre 2020 wiederum auch nicht mehr, die drängenden Probleme lassen sich immer weniger aussitzen. ■ … Uwe Ritzer , „Süddeutsche“-Korrespondent, ausgezeichnet für seine investigativen Recherchen (auch über Siemens) Ja. Nicht im Sinne einer Verschwörungstheorie. Es gab nicht das eine „Mastermind“, den Strippenzieher. Aber fest steht: Gustl Mollaths Wissen war eine Bedrohung. Zum Beispiel für seine Frau, die in Schwarzgeldgeschäfte verstrickt war, für die HypoVereinsbank (HVB). Wusste Gustl Mollath wirklich zu viel? Ein interner Bericht warnte bereits 2003 vor Mollaths „Insiderwissen“. Also hat die Führung tatenlos zugesehen, wie ein Mensch sieben Jahre in der Psychiatrie verwahrt wurde – vor allem wegen der Behauptung, er sei wahnkrank, weil er Schwarzgeldskandale wittere. Er war der Bank schlicht im Weg – wie auch dem Richter. Es muss einen Grund gegeben haben, dass der so mit ihm umgegangen ist; welchen, kann man nur spekulieren. Welche Rolle spielte die HVB? Wird sich nach dem Fall Mollath etwas ändern? Ich bin sicher, dass das neue Verfahren fair wird. Ich habe aber auch die vage Hoffnung, dass Strukturen geändert werden. Hinter dem Fall steht auch ein Korpsgeist in der Justiz, der in Bayern stärker als in anderen Ländern befördert wird: dadurch, dass ranghohe Richter und Staatsanwälte nicht gewählt, sondern in einsamer Entscheidung eines Ministers ernannt werden. Allerdings ist bereits etwas passiert. Würde die Justiz noch ticken wie unter Franz Josef Strauß, gäbe es weder Ermittlungen gegen Uli Hoeneß noch wäre der Siemens-Korruptionsskandal derart akribisch aufgearbeitet worden. ■ Die Fragen stellte Jeannet te Goddar. Mitbestimmung 9/2013 69 Interne t Omas eigene Bank Günther Schmid und Barbara Schmid-Heidenhain: Mikrofinanzierung als Entwicklungshilfe. Sparen und Leihen als Alternative zu Mikro- krediten, Berlin, Edition Pamoja 2013. 84 Seiten, 9,90 Euro wir testen … www.chinalaborwatch.org Zwar hat sich das Tempo verlangsamt, aber Chinas Wirtschaft boomt nach wie vor. Viele ausländische Firmen lassen im Reich der Mitte produzieren – unter zum Teil himmelschreienden Arbeitsbedingungen. Die in New York ansässige Organisation China Labor Watch (CLW) hat bereits zahlreiche Missstände aufgedeckt, etwa bei den Apple-Zulieferern Foxconn und Pegatron. Die englischsprachige Website zeigt, in welchem Ausmaß dort und in anderen Fabriken Arbeitnehmer- und Menschenrechte verletzt werden. Ein aktueller Beitrag berichtet über Kinderarbeit bei Lianchuang, wo Flachbildschirme für Sharp und HTC hergestellt werden. Elf Stunden am Tag müssen die Kinder hier schuften. Auch beim Samsung-Zulieferer HEG montieren Kinderhände Handys und anderes, wie CLW enthüllte. Auf der Internetseite finden sich zahlreiche Reports und Meldungen vornehmlich aus der Elektronik- und Spielwarenindustrie. Foxconn war 2010 in den Schlagzeilen nach einer Serie von Selbstmorden unter den Beschäftigten. Der eindrucksvolle Kurzfilm „Deconstructing Foxconn“ widmet sich diesem Thema. Das Portal bietet noch mehr Videoclips, zum Teil allerdings älteren Datums. Außerdem viel lesenswertes Hintergrundmaterial. Fazit: Erschreckende Einblicke in die Fabrikhallen Chinas! Die Großmütter treffen sich jede Woche im Schatten der Bäume, um über Geldgeschäfte zu sprechen. Ihr Dorf liegt in der ärmsten Provinz Kenias, und doch legen die Frauen bei jeder Versammlung umgerechnet mindestens 20 Cent in einen gemeinsamen Darlehens topf und fünf Cent in einen Sozial fonds. Jede von ihnen kann aus der Kasse Geld leihen, etwa um Sisal zu kaufen, aus dem sie Seile herstellen. Die monatlich zehn Prozent Zinsen erhöhen den Kapitalstock und ermöglichen vielen Kindern den Schulbesuch – denn ein Großteil der Frauen hat mehrere Enkel zu versorgen, deren Eltern an Aids gestorben sind. Barbara Schmid-Heidenhain und Günther Schmid haben gemeinsam ein Buch über dieses hierzulande kaum wahrgenommene Finanzierungssystem geschrieben. Während die Mikrokredite des Nobelpreisträgers Muhammad Yunus allgemein bekannt sind, kennt fast niemand „Sparen und Leihen“. Dabei hat das System deutliche Vorteile, weil die Beteiligten sich nicht hoch verschulden können und trotzdem Zugang zu Darlehen bekommen, um ihre wirtschaftliche Situation zu verbessern. Nur knapp zehn Prozent der erwachsenen Bevölkerung Kenias haben Zugang zu Bankkrediten. Die beiden Autoren, die frühere Leiterin einer Schulbuchredaktion und ein emeritierter Arbeitsmarktprofessor, engagieren sich seit über einem Vierteljahrhundert ehrenamtlich für Kinder in Kenia. Dabei haben sie das Mikrofinanzsystem kennengelernt. Genau das macht das Buch wertvoll: Die Informationen stammen aus erster Hand. Beispielhaft beschreiben sie verschiedene Spar- und Leihgruppen. Das Autorenduo zeigt auch die Grenzen des Systems auf: Weil es sich um sehr kleine Geldsummen handelt, können strukturelle Verbesserungen wie beispielsweise ein Bewässerungssystem damit nicht finanziert werden. Außerdem ist das System am Anfang sehr schulungsintensiv; an dieser Stelle gibt es Unterstützungsbedarf durch internationale Organisationen. Auch bezüglich der Bildung der Kinder kann es nur eine Ergänzung sein. Die Autoren plädieren hier für mehr Stipendien und Patenschaften, so wie sie sie selbst seit vielen Jahren insbesondere für Mädchen übernommen haben. ■ Von Annet te Jensen , Journalistin in Berlin Von mat thias helmer , Journalist in Göttingen 70 Mitbestimmung 9/2013 medien bu chtipps Hauptschule und dann? Nora Gaupp: Wege in Ausbildung und Ausbildungslosigkeit. Edition der Hans-Böckler-Stiftung, Band 277, Düsseldorf 2013. 120 Seiten, 18 Euro Für Jugendliche mit Hauptschulabschluss gestaltet sich der Übergang von der Schule in Ausbildung und Arbeit besonders schwierig. Lediglich 27 Prozent dieser Gruppe schaffen unmittelbar nach Schulabschluss den Einstieg in die Berufsausbildung, viele treten erst nach Jahren der Berufsvorbereitung oder des weiteren Schulbesuchs in ein Ausbildungsverhältnis ein, und rund ein Fünftel der Hauptschüler und -schülerinnen befindet sich nach mehreren „Übergangsjahren“ gar auf dem „Weg in die Ausbildungslosigkeit“. Nora Gaupp vom Deutschen Jugendinstitut in München fragt in ihrer Studie nach den Faktoren, die dafür ausschlaggebend sind, dass Jugendliche mit vergleichbaren Voraussetzungen so unterschiedliche Lern- und Arbeitsbiografien ausprägen. Im Zentrum stehen dabei nicht die „harten“ Einflussfaktoren wie die strukturelle Benachteiligung von Hauptschülern und -schülerinnen im Bildungssystem oder der generelle Mangel an Ausbildungsplätzen. Gaupp fragt vielmehr nach den von ihr so genannten „weichen Faktoren“, etwa der Bedeutung von „dritten Personen“ – etwa Gleichaltrigen, pädagogischen Fachkräften oder Eltern – für das Gelingen bzw. Misslingen von Übergängen in Ausbildung und Arbeit. Die Autorin illustriert die Bedeutung dieser Faktoren in eindrucksvoller Weise durch die ausführliche Darstellung von fünf typischen „Übergangsbiografien“. So lernen die Leser etwa den 23-jährigen Omar kennen, der nach seiner Ausbildung zum Kfz–Mechatroniker einen Anstoß durch den verbindlich-konsequenten Betreuer der Arbeitsagentur brauchte, um sich nach längerer Arbeitslosigkeit erfolgreich um einen Arbeitsplatz zu bewerben. Oder den gleichfalls 23-jährigen Felix, der durch einen Todesfall im familiären Nahbereich mitten in seiner beruflichen Orientierungsphase in eine Krisensituation gerät und immer noch keine Ausbildung begonnen hat. Auch die Berichte von Susi, Hatice und Sascha lassen erkennen, dass die sozialen Bezugspersonen im Lebenslauf junger Erwachsener von zentraler Bedeutung sein können. Sie müssen bei pädagogischen Fördermaßnahmen zur erfolgreichen Gestaltung von Übergangssituationen genauso berücksichtigt werden wie die „harten“ sozialen, institutionellen und strukturellen Bedingungen des Ausbildungs- und Arbeitsmarkts. ■ Von Dirk Manten , ver.di-Bildungsreferent in Bielefeld Gleichberechtigung Der Band gibt einen Überblick über Geschichte und Gegenwart der Frauenbewegung. Zudem liefert er neue Impulse im Kampf für Gleichberechtigung und gibt praktische Tipps, wie frau beim Karriere machen die Mädchenfallen umgeht. Die bewegte Frau. Von Katrin Pittius, Kathleen Kollewe, Eva Fuchslocher, Anja Bargfrede (Hrsg.). Münster, Westfälisches Dampfboot. 19,90 Euro Innovation Anhand von Fallstudien zeigt sich, wie die Mitbestimmung zu Spielregeln beitragen kann, die Innovation fördern. Neues können im Unternehmen schließlich nur die Beschäftigten hervorbringen. Letztlich kommt es aber darauf an, dass sie in einem sicheren Rahmen ihre Kompetenzen auch einbringen können. Mitbestimmte Innovationsarbeit. Von Jürgen Kädtler, Hans Joachim Sperling, Volker Wittke, Harald Wolf. Reihe Forschung aus der Hans-Böckler-Stiftung. Berlin, edition sigma. 19,90 Euro Mobilität Die Entgrenzung der Arbeit nimmt immer mehr zu. Nicht nur durch Smartphone und Laptop, sondern auch durch häufigere Dienstreisen. Die Auswertung von Betriebs- und Dienstvereinbarungen bietet einen Überblick, wie Betriebsräte das Thema angehen können. Mobile Arbeit. Von Gerlinde Vogl und Gerd Nies. Reihe Betriebs- und Dienstvereinbarungen. Frankfurt am Main, Bund-Verlag. 12,90 Euro Veröffentlichungen mit Bestellnummer sind nicht im Buchhandel erhältlich, sondern ausschließlich über SETZKASTEN GMBH , Düsseldorf, Telefon: 02 11/408 00 90-0, Fax: 02 11/408 00 90-40, mail@setzkasten.de oder über www.boeckler.de. Hier sind auch alle Arbeitspapiere der Hans-Böckler-Stiftung kostenlos herunterzuladen. Mitbestimmung 9/2013 71 Foto: The U.S. National Archives/Gary Miller R ÄTSELHAFTES FUNDSTÜCK Am New Jersey Turnpike, einer gebührenpflichtigen Auto straße am Hudson River im Bundesstaat New York, stößt der Fotograf Gary Miller auf eine gewaltige illegale Mülldeponie. Im Hintergrund, auf der anderen Seite des Flusses, ist die Skyline von Manhattan mit dem eben fertiggestellten World Trade Center zu erkennen. Miller ist einer der Fotografen, die zwischen 1972 und 1977 im Auftrag der US-Umweltbehörde Environmental Protection Agency, kurz EPA, durch das Land reisen. Sie sollen dokumentieren, in welchem Zustand sich die Ökologie der Supermacht USA in diesem Jahrzehnt befindet. Der Mann, der dazu den Auftrag erteilt hat, ist selbst Fotojournalist. Er heißt Gifford Hampshire und leitet die Öffentlichkeitsarbeit der EPA. Seine Fotografen zeigen den gefährlich sorglosen Umgang einer modernen Konsumgesellschaft mit ihrem Müll: Familien fahren am Wochenende mit Pick-ups aus der Stadt heraus, um ihren Hausmüll zu verbrennen. Dunkle Abgaswolken hüllen die Standorte der Schwerindustrie ein. Bei der Landgewinnung am Meer wird Müll als Füllmaterial verwendet. Entlang von Flüssen werden Autowracks abgeladen, um damit die Ufererosion zu stoppen. Die Gründung der EPA im Jahr 1970 und der Aufbau einer riesigen Fotodatenbank sind Reaktionen auf die rasant fortschreitende Umweltzerstörung, die in diesen Jahren als globales Problem erkannt wird. Die Fotos sollen das öffentliche Bewusstsein für die schleichende Katastrophe erhöhen. Längst haben sich in den USA die ersten Umweltgruppen gegründet. Ebenfalls im Jahr 1970 ruft Gaylord Nelson, der Senator von Wisconsin, erstmals zu einem nationalen Umweltaktionstag auf, dem „Environmental Teach-in“ oder „Earth Day“. Schon im ersten Jahr nehmen daran 20 Millionen Menschen teil. ■ KAY MEINERS 72 Mitbestimmung 9/2013 RÄTSELFRAGEN ■ Welchen Namen hatte das Fotoprojekt der EPA? ■ An welchem Tag findet in den USA bis heute der Earth Day statt? ■ Wie heißt der japanisch-amerikanische Architekt, der das World Trade Center entwarf? Alle richtigen Einsendungen, die bis zum 25. September 2013 bei uns eingehen, nehmen an einer Auslosung teil. PREISE 1. Preis: Gutschein der Büchergilde Gutenberg, Wert 50 Euro, 2.– 4. Preis: Gutschein der Büchergilde Gutenberg, Wert 30 Euro SCHICKEN SIE UNS DIE LÖSUNG Redaktion Mitbestimmung, Hans-Böckler-Straße 39, 40476 Düsseldorf, E-Mail: redaktion@boeckler.de Fax: 02 11/ 77 78-225 AUFLÖSUNG DER RÄTSELFRAGEN 7+8/2013 Karl (Freiherr von) Drais – Evangelium des Lukas – Bertha Benz Den 1. Preis hat Silvana Wagner aus Schwerin gewonnen. Je einen Gutschein im Wert von 30 Euro erhalten Hans Pehl aus Frankfurt/Main, Juli Günther aus Berlin und Margret Schiller aus Schwerin. VORSCHAU IMPRESSUM Herausgeber: Hans-Böckler-Stiftung, Mitbestimmungs-, Forschungs- und Studienförderungswerk des DGB, Hans-Böckler-Straße 39, 40476 Düsseldorf Verantwortlicher Geschäftsführer: Wolfgang Jäger Redak tion: Cornelia Girndt (verantwortlich), Telefon: 02 11/77 78-149 Margarete Hasel, Telefon: 02 11/77 78-192 Andreas Kraft, Telefon: 02 11/77 78-575 Kay Meiners, Telefon: 02 11/77 78-139 Konzeption des titelthemas: Kay Meiners co-Redak tion dieser ausgabe: Girndt/Kraft Redak tionsassistenz: Astrid Grunewald Telefon: 02 11/77 78-147 Fa x: 02 11/77 78-225 E-Mail: redaktion@boeckler.de Mitglieder des Redak tionsbeir ats: Birgit Grafe-Ruhland, Wolfgang Jäger, Rainer Jung, Birgit Kraemer, Michaela Kuhnhenne, Manuela Maschke, Sabine Nemitz, Karin Rahn, Susanne Schedel, Sebastian Sick Projek tmanagement/Layout/Produk tion/Artdirec tion: SIGNUM communication Werbeagentur GmbH, Mannheim, Nicole Ellmann, Pascal Fedorec, Roger Münzenmayer, Jörg Volz, Oliver Weidmann Titelgestaltung: SIGNUM communication Werbeagentur GmbH, Mannheim, Jörg Volz Druck: Offset Company, Wuppertal Verlag: Bund-Verlag GmbH, Postfach, 60424 Frankfurt/Main Anzeigen: Bund-Verlag GmbH, Peter Beuther (verantwortlich) Christine Mühl Telefon: 069/79 50 10-602 E-Mail: christine.muehl@bund-verlag.de Abonnentenservice und Bestellungen: Bund-Verlag GmbH Telefon: 069/79 50 10-96 Fa x: 069/79 50 10-12 E-Mail: abodienste@bund-verlag.de titelthema 10/2013 Arbeitsbeziehungen Arbeitgeberverbände und Lohnpolitik Zwar sind die Arbeitgeberverbände seit sie bestehen per se Gegenspieler der Gewerkschaften bei der Aushandlung von Löhnen, Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen. Zugleich aber profitieren die Gewerkschaften auch von starken Verbandsstrukturen auf Arbeitgeberseite. Denn ohne handlungsfähige Verbände ist es kaum möglich, flächendeckend Mindeststandards für Einkommen und Arbeitsbedingungen zu etablieren, geschweige denn „gute Arbeit“ durchzusetzen. Erosionsprozesse, wie sie im Einzelhandel, in der Holzindustrie, auch in Teilen der Metallindustrie zu beobachten sind, oder Entwicklungen wie in der IT- oder der Windkraftbranche, wo sich bis heute keine Arbeitgeberverbände herausgebildet haben, müssen deshalb auch Gewerkschaften beunruhigen. Wie ist es unter diesen Umständen um die Sozial partnerschaft bestellt? Dazu befragen wir den Korporatismusforscher Wolfgang Schroeder. Wir thematisieren, wie Gewerkschaften strategisch mit der wachsenden Bindungsunfähigkeit im Arbeitgeberlager umgehen. Wir fragen, ob der Generationswechsel, der jüngst an der Spitze der bedeutendsten Verbände – DIHT, BDI, Gesamtmetall und BAVC – vollzogen wurde, einen Politikwechsel erwarten lässt. Und geben einen Überblick, wie die Arbeitgeber in Europa aufgestellt sind. Preise: Jahresabonnement 50 Euro inkl. Porto, Einzelpreis 5 Euro. Der Bezugspreis ist durch den Fördererbeitrag abgegolten. Abbestellungen mit einer Frist von sechs Wochen zum Jahresende Für Spenden und sonstige Förderbeiträge an die Stiftung: SEB AG Düsseldorf, BLZ 30010111, Konto-Nr. 1021125000 Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck nur mit Genehmigung der Redaktion. Dies gilt auch für die Aufnahme in elektronische Datenbanken und Newsletter. ISSN 0723 5984 der heisse dr aht zur redak tion 0211/77 78-147 redaktion@boeckler.de printed by OFFSET COMPANY SCC-13 Gibt es in Ihrem Betrieb etwas, über das wir unbedingt einmal berichten sollten? Etwas, das richtig gut läuft, oder etwas, über das Sie sich ärgern? Vermissen Sie ein Thema im Magazin? Dann schreiben Sie uns oder rufen Sie uns an. Mitbestimmung 9/2013 73 MEIN ARBEITSPL ATZ Göttingen, Windausweg 28 „Früher war mein Arbeitsplatz die Welt, ich war viel M at thias Helmer , 47, Jour nalist und Sozialwissenschaftler, schreibt seit zwölf Jahren für das Magazin Mitbestimmung, wo er 2008 ein Jahr vertretungsweise als Redakteur tätig war. Zuvor war Helmer wissenschaftlicher Mitarbeiter am SOFI in Göttingen. Text: Mat thias Helmer Foto: K arsten Knigge 74 Mitbestimmung 9/2013 unterwegs. Heute reise ich nur noch virtuell. Vor vier Jahren ging es los mit meiner Erkrankung, mit Zittern in den Armen und Humpeln. Seither verlieren immer mehr Muskeln ihre Funktion, sie bekommen vom Gehirn die falschen Signale. Arme und Hände kann ich mittlerweile gar nicht mehr bewegen, die Beine kaum noch. Seit drei Jahren sitze ich nunmehr im Rollstuhl. Am schlimmsten ist jedoch, dass ich nicht mehr sprechen kann. Ohne die Technik wäre ich aufgeschmissen, ich mag mir gar nicht ausmalen, was noch vor 15 Jahren gewesen wäre. Den Computer bediene ich mit einer Kopfmaus. Auf dem Bildschirm ist eine Tastatur, die über die Kamera oben am Monitor und einen Reflektor am Stirnband gesteuert wird, per Kopfbewegung. So kann ich kommunizieren. Und alle normalen Programme nutzen. Es gibt auch eine Augensteuerung. Beides ist sehr lichtempfindlich, dadurch kann ich nicht draußen arbeiten. Von meinem Schreibtisch blicke ich auf eine Kleingartenanlage. Nebenan sind außerdem ein Freibad und ein griechisches Restaurant. Das sorgt im Sommer für eine Geräusch- und Geruchskulisse wie am Mittelmeer, irgendwo zwischen Athen und Zypern. Auch die Sonnenuntergänge sind spektakulär. Mein Tagesablauf ist straff organisiert durch Termine mit Pflegekräften oder Therapeuten. Vormittags bin ich für gewöhnlich produktiver, dann schreibe ich. Am Nachmittag ist eher Lesen und Recherchieren dran, wenn meine Kräfte es zulassen. Ich darf mich nicht überanstrengen – und will natürlich auch Zeit mit meiner Familie oder Freunden verbringen. Sie geben mir Halt. Und auch die Arbeit, obwohl ich nur noch einen Bruchteil von dem schaffe wie früher. Ich kann ja noch froh sein, auch wenn sich das komisch anhört. Aber jeder andere Job wäre in meiner Situation nicht leistbar. Ich kann noch schreiben, immerhin. Mein letztes Interview vor Ort habe ich im Frühjahr 2010 geführt. Ein anderes Thema ist die materielle Absicherung: Zum Glück hatte ich eine Berufsunfähigkeitsversicherung abgeschlossen. Mit meinen bis dato erworbenen Rentenansprüchen kämen wir nicht weit – die Kehrseite der Selbstständigkeit. Und barrierefreie Wohnungen sind rar und teuer. Hier hat die Politik noch viel zu tun.“ ■ Größtes Fachsortiment für Betriebs- und Personalräte www.buchundmehr.de Kündigung wegen 1,30 Euro? 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Mitbestimmung Mitbestimmung 9/2013 september 9/2013 Postvertriebsstück D 8507 Entgelt bezahlt DAS MAGAZIN DER HANS - BÖCKLER-STIFTUNG · WWW.MAGAZIN - MITBESTIMMUNG.DE · VW will mit Werkswohnungen Fachkräfte gewinnen europa · Gesine Schwan fordert Kooperation statt Standortkonkurrenz Gerechtigkeit · Wie die INSM ein Wort marktradikal umdeutet Arbeitsmarkt, Sozialpolitik und die Rolle der Gewerkschaften WSI-HERBSTFORUM AM 27. Und 28. NOVEMBER IN BERLIN Mit Colin Crouch, Claudia Weinkopf, Jill Rubery, Herbert Brücker, Erika Mezger, Alfred Kleinknecht, Brigitte Unger, Reinhard Bispinck, Thorsten Schulten, Martin Behrens u.v.a. Europa steckt in der Eurokrise fest: Der Sozialstaat wird abgebaut, der Arbeitsmarkt dereguliert und viele Lebensbereiche werden dem Markt unterworfen. Wie können Alternativen entwickelt werden? Die Gewerkschaften haben die Chance, zum Motor eines neuen Europa zu werden. Nur nach Voranmeldung www.boeckler.de Telefon: 02 11/77 78-124 Katharina-Jakoby@boeckler.de 5,00 € 56. 5,00 € 59. € 56. Jahrgang Bund-Verlag € 57. Jahrgang Bund-Verlag Aufbau statt Abbruch in Europa Parteien im Wahlkampf · Welche Farbe tut Arbeit gut? Konzerne Parteien im Wahlkampf Welche Farbe tut Arbeit gut?