Wie erleben stotternde Kinder ihr Sprechen?
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Wie erleben stotternde Kinder ihr Sprechen?
Wie erleben stotternde Kinder ihr Sprechen? - Therapeutische Möglichkeiten und Grenzen Dr. phil. P. Sandrieser Diplom-Logopädin Heilbronn, Oktober 2013 P. Sandrieser: „Weißt Du denn, woher dein Stottern kommt?“ Jamil B. (5 Jahre). „Ja, aus meinem Mund.“ Definition „Stottern bedeutet unfreiwillige Wiederholungen von Lauten und Silben, Dehnungen von Lauten und Blockierungen vor oder in einem Wort.“ (Bloodstein, 1995; Guitar, 2014) Stottern kann unabhängig vom Alter des Kindes und vom Zeitpunkt seit Stotterbeginn diagnostiziert werden, wenn mindestens 3% aller Silben gestottert sind. (Yairi&Ambrose, 1999) Epidemiologie Prävalenz: ca: 1% der Bevölkerung Inzidenz: Stottern bei 5% aller Kinder Beginn: ab dem 2. LJ,durchschnittlicher Beginn mit 2.8 Jahren (Guitar, 2014). Remission: 60 - 80% (Silverman, 1996), ab der Pubertät selten, stotternde Erwachsene müssen sich auf ein Leben mit dem Stottern einstellen. Fazit Nur 5% aller Kinder stottern im Verlauf ihrer Sprachentwicklung. Stottern unterscheidet sich von normalen Unflüssigkeiten. Es ist unangemessen, von „physiologischem Stottern“ oder „Entwicklungsstottern“ zu sprechen Epidemiologie Geschlechterverteilung: Jungen : Mädchen 1,3:1 Remissionsrate bei Mädchen höher, Erwachsene Männer : Frauen 3:1 (Silverman, 1996). Sprach- und Kulturspezifisches Vorkommen. Stottern tritt in allen Sprachen und Kulturen auf (Van Riper, 1982). Entwicklung des Stotterns Es gibt keinen typischen Verlauf. Möglich: schnelle Entwicklung innerhalb der ersten Tage und Wochen (Yairi & Lewis, 1984; Yairi, Ambrose & Nierman, 1993). Typisch: situationsabhängige und phasenweise Schwankungen (Bloodstein, 1995, Starkweather & Givens-Ackerman, 1997). Prognose Remissionswahrscheinlichkeit nimmt mit zunehmender Dauer ab, nach der Pubertät ist eine Remission sehr selten. Die Stärke der Symptomatik hat keinen Einfluss auf die Remissionswahrscheinlichkeit (Yairi & Ambrose, 1999). Prognose • Beginn und Dauer der Redeflussstörung • Geschlecht des Kindes • Vorkommen von Stottern in der Familie und/oder Auftreten von Remissionen • Entwicklung der Stottersymptomatik • Phonologische Entwicklung • Sprachliche Entwicklung • Einfluss der Redeflussstörung auf Kind und Eltern (Lattermann, 2011) Ätiologie Unterschieden werden müssen: Disposition, Auslöser, aufrechterhaltende Faktoren. Die Disposition ist genetisch bestimmt (Drayna, 2010). Im Verlauf sind Lernprozesse maßgeblich beteiligt (Fibinger 2010). Funktionelle Unflüssigkeiten Wiederholung von Einsilbern Wiederholung von Mehrsilbern Phrasenwiederholungen Einschübe, Floskeln Gefüllte Pausen Diese Unflüssigkeiten haben eine Funktion; sie verschaffen dem Sprecher Zeit für die Sprechplanung. Entwicklung des Stotterns Kernsymptome (Wiederholungen,Dehnungen,Blockierungen) Versuch, das Stottern zu überwinden (Angst): Begleitsymptomatik Fluchtverhalten Sekundäre psychische Reaktionen (Scham, generalisierte Angst) Versuche, dem Stottern vorzubeugen: Begleitsymptomatik Vermeideverhalten Diagnostik Kernsymptome in Frequenz und Qualität bestimmen (SSI-3, Riley, 1994) Begleitsymptome bestimmen (QBS, Schneider, 1997) Vermutete sekundäre psychische Reaktionen auf das Stottern bestimmen (RSU, OASES, Kiddy-CAT, QUAK, KESS) Screening der sprachsystematischen Bereiche Gegebenenfalls Diagnostik durch andere Fachbereiche (Psychologie, Ergotherapie) Erleben von Stottern - einige Fakten Kinder nehmen war, dass sich ihr Sprechen verändert. (Die zuhörenden Kinder übrigens auch.) Die Bewertung des Stotterns kann sehr unterschiedlich sein. Lebensqualitätsmessungen möglich (aktuelle Studien: LAPUKI und KESS), aber: 1.) keine Korrelation zwischen Schweregrad des Stotterns und Belastung in der Kommunikation und 2.) Angaben der Eltern scheinen eher die eigene Belastung wider zu spiegeln (Walther, in Vorbereitung) Erleben von Stottern Die Einschätzung erfolgt informell über Beobachtung, Anamnese und bislang noch nicht standardisierte Untersuchungsverfahren. Bei hoher Belastung Gefahr des Vermeidens. Im Jugendlichen- und Erwachsenenalter erste Arbeiten zu Traumatisierung durch Stotterereignisse (Richter, 2013) Video: Reaktion auf Pseudostottern ICF-Klassifikation und Stottern Teil 1: Teil 2: Funktionsfähigkeit Kontextfaktoren und Behinderung Körperfunktion und Umweltfaktoren -struktur Aktivität und Beeinträchtigung Personenbezogene Faktoren ICF-Klassifikation und Stottern Teil 1: Funktionsfähigkeit und Behinderung Sprechflüssigkeit Teil 2: Kontextfaktoren Einbeziehung der Bezugspersonen bis zum Ende der Grundschulzeit (Informationen, Modell, Co-Therapeuten) Abbau von Vermeidestrategien Selbstbild als und Begleitkompetenter symptomen Gesprächspartner Therapeutische Ziele Sprechflüssigkeit/Remission! Kommunikation verbessern Autonomie erhöhen Aufklärung/Multiplikatoren (Manning, 2010) Therapeutische Konzepte Abwarten Indirekte Therapie/Beratung Direkte Therapie Fluency Shaping (Lidcombe) Stottermodifikation (KIDS) Methodenkombination Therapie der vermuteten Risikofaktoren Voraussetzung für Therapie Wahl der Therapiemethode Vertragsarbeit (Fern- und Nahziele) Evaluation (interne und externe Validität) Voraussetzung für Therapie: Wahl der Therapiemethode - Beratung über Methoden - Kostenträger - Rahmen (Zeit, Einbeziehung der Eltern) - Ort - Therapeutische Angebote Voraussetzung für Therapie: Vertragsarbeit (Fern- und Nahziele) Therapieziel und-ende formulieren Einbeziehung der Eltern klären • Informationsaustausch • Multiplikatoren • Modell (KIDS) • Co-Therapeuten (Lidcombe) Hausaufgaben/Übungen besprechen Vorgehen transparent machen Abbruchkriterien besprechen Voraussetzung für Therapie: Evaluation Evaluation (interne und externe Validität) auf allen drei Ebenen der Therapie mit geeigneten Verfahren In-Vivo-Therapie/Einbeziehung des Alltags Nachsorge Vorgehen bei Rückfällen/Veränderungen der Symptomatik Therapeutische Möglichkeiten: Arbeit am Symptom Erhöhung der Autonomie, Verringerung des Kontrollverlustes Locus of control internalisiert Direkte Therapie (Fluency Shaping oder Stottermodifikation), Enttabuisieren, Desensibilisieren (Thema Stottern, Zeitverlust, eigene Symptome,Zuhörerreaktionen....), Information, Multiplikatoren, in-vivo Therapeutische Möglichkeiten: Abbau der Begleitsymptome Verringerung der sozialen Auffälligkeit Angstschwelle reduziert (Richter, 2013) Zeitverlust verringert, Grad der Anstrengung (psychisch und physisch) normalisiert Stottermodifikation: in vivo und simulierte Wirklichkeit, Angsthierarchie, Kognition, (zeit-)intensives Training Voraussetzung: günstige Coping Startegien Therapeutische Möglichkeiten: Arbeit an den sekundären psychischen Reaktionen Akzeptanz der primären psychischen Reaktionen Wichtig bei Therapieende ohne Remission Eltern einbeziehen! Auf Familie zugehen. Rituale, „safe place“, Problemlösestrategien, Modell, Therapieende inszenieren, Rückfälle/Veränderungen besprechen, Gruppenarbeit, Elterngruppen (Bürkle, 2013) Video: Information zum Therapieziel Therapeutische Möglichkeiten: Personenbezogene Faktoren Vertragsarbeit (Reduktion der Ziele wenn kein Vermeiden vorliegt) Individuelle Therapieplanung (auch -änderung!) Vertragsarbeit (bei Jugendlichen auch explizit mit den Eltern!), Kriterien zum Therapieende oder -abbruch, Gruppentherapie, in-vivo, Kontakt zu Kindergarten/ Schule/ Ausbildungsplatz. Schulbesuch. Video: Vertragsarbeit bei Hausaufgaben Therapeutische Möglichkeiten: Umweltbezogene Faktoren Multiplikatoren (Betroffene, Eltern, TherapeutInnen) Direkte Therapie, in-vivo auch im Alltag Gesellschaftliche Veränderung Elterngruppen Einbeziehung der Eltern -auch als unspezifischer Therapieeffekt, Kontakt zu anderen Institutionen, Screening?, Selbsthilfe, Stuttering Awareness Day 22. Oktober, Literatur, (Die Maus?) Therapeutische Möglichkeiten Schulung der TherapeutInnen Sicherheit im Konzept Supervision Formulierung realistischer Therapieziele, Klärung der eigenen Rolle, ethische Diskussion über das Rollenverständnis, Haltung zu Normabweichung, Schulform (Benecken) Therapeutische Grenzen Desensibilisierung der Therapeutin? Normenorentierung in der Familie Gesellschaftliche Vorurteile Kulturelle Besonderheiten (bzgl. Umgang mit der Störung, direkter Arbeit, Elternbeteiligung, Vorkommen in der Familie) Persönlichkeit Co-Morbiditäten (kognitive Grenzen, psychische Probleme) „Stottert Mario immer?“ „Nein, nur wenn er spricht.“ I. Noll Dr. phil. Patricia Sandrieser Katholisches Klinikum Koblenz - Montabaur Rudolf-Virchow-Str. 7-9 56073 Koblenz p.sandrieser@kk-koblenz.de www.kids-stottern.de