Das Buch - Helga Friederike Karoline
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Das Buch - Helga Friederike Karoline
Lore de Chambure Helga Friederike Karoline Romanbiographie (c) 2013 Lore de Chambure 13, rue de Tournon 75006 PARIS Tel.: +33 1 43 29 50 25 E-Mail: ldechambure@free.fr ISBN: 978-3-933431-80-6 1. Kapitel: Weihnachten 1915 „Ich will aber eine richtige Puppe!”, brüllte Luise und trat mit dem Fuß gegen die Wiege. Das Wickelkind kräuselte die Stirn unter dem weißen Baumwollhäubchen, ballte die Fäuste und öffnete den winzigen Mund, schrie dann aber doch nicht, sondern schlief weiter. „Wer wird denn da”, sagte Fräulein Dahm und blickte Luise streng an, „so darfst du doch nicht reden. Soll ich das deinem Vater schreiben, was meinst du?” Luise stampfte auf. „Aber Karlchen hat doch auch das gekriegt, was er sich gewünscht hat!”, schrie sie, und die Spange eines ihrer langen Zöpfe traf Fräulein Dahms rechte Hand. Der neunjährige Karl stand im Matrosenanzug dicht neben dem Weihnachtsbaum und drehte unbehaglich einen Schraubenschlüssel zwischen den Fingern. Er hatte gerade den Metallbaukasten von Märklin aus dem Packpapier mit den goldenen Sternen gewickelt, während Luise in der Wiege das Wickelkind entdeckte.Vor lauter Aufregung hatte er gar nicht richtig zugehört, als Fräulein Dahm die Tür des Bescherungszimmers leise geöffnet und dabei etwas geflüstert hatte. Jetzt war er allerdings aufgesprungen, weil ihm die Wutausbrüche seiner großen Schwester jedes Mal aufs Neue Angst einjagten. „Ich wollte eine Puppe, so eine von der Käthe, eine weiche mit richtigen Haaren, die man kämmen und bürsten kann.” 2 Luises Stimme klang immer noch schrill. Fräulein Dahm rieb sich die Hand und wusste ausnahmsweise nicht, was sie tun sollte. Dabei war bisher alles so glatt gelaufen. Als die Hebamme sich mit ihrem riesigen Korb durch die Haustür geschoben hatte, freundlich lächelnd, behäbig und dabei überraschend gewandt, waren die beiden Kinder und sie selber in ihre Mäntel geschlüpft und hatten sich auf den Weg zur Kirche gemacht. Der Kindergottesdienst begann um halb vier, und es war schon dunkel. Unterwegs hatten sie zwei von Luises Klassenkameradinnen getroffen, und die Mädchen waren in ihrer Vorfreude über den glatten Bürgersteig gerutscht, bevor sie sich dann in der Nähe der Kirche untergehakt hatten. Fräulein Dahm hatte sich auch im zweiten Kriegsjahr noch nicht daran gewöhnt, die Weihnachtslieder nur von Frauenund Kinderstimmen gesungen zu hören. Normalerweise fiel ja wenigstens der Pastor mit seinem Bass aus dem Rahmen, aber diesmal war er so erkältet gewesen, dass man die kurze Predigt kaum verstanden hatte. Was die Orgelbegleitung anging, so ließ sie eigentlich zu wünschen übrig, dachte Fräulein Dahm noch und zog ihre schwarze Wollmütze etwas tiefer über die Ohren. So gut wie Herr Breckenfels spielte Fräulein Bröker nicht; aber sie war ja auch Klavierlehrerin, und außerdem: Man musste überall ohne die Männer zurechtkommen. Sie hatte einmal mit ihren behandschuhten Händen über die Augen gewischt und 3 dann ihre Aufmerksamkeit auf das Krippenspiel vorn am Altar gelenkt. Karl hatte den viel zu großen Hut seines Vaters nach hinten geschoben; bei den Proben war er ihm nämlich immer wieder über die Ohren gerutscht, und das tat der Wichtigkeit seiner Rolle doch Abbruch. Unter dem Kittel, aus einem aufgetrennten Sack zusammengeheftet und in der Mitte von einem Strick gehalten, ragten die Pulloverärmel heraus, die Karl so weit wie möglich über die Hände gezogen hatte. Es war kalt in der Kirche, so kalt, dass die drei Engelchen in ihren hellen Nachthemden sichtbar zitterten, obwohl auch sie lange Strümpfe und gewiss dicke Unterwäsche trugen. Wahrscheinlich hatte Frau Pastor dafür gesorgt, dass sie wenigstens nicht direkt auf dem Steinfußboden knieten: Die Krippe mit dem Jesuskind aus Celluloid darin stand auf einem braunen Teppich, unter dem ganz rechts übereinander geschichtetes Zeitungspapier herausschaute. Else Landwehr, die Nachbarstochter, spielte die Maria. Sie war wirklich hübsch anzusehen mit dem blauen Tuch, das Haar und Schultern bedeckte, dem roten Wollkleid von Luise, viel zu lang für sie und gerade deshalb ein Gottesgeschenk an diesem Heiligen Abend, dachte jedenfalls Fräulein Dahm, weil es bis auf die Füße fiel und mit Sicherheit schön warm hielt. Anfangs war Luise ziemlich eifersüchtig auf Else gewesen, aber nachdem Frau Pastor ihr taktvoll zu verstehen gegeben hatte, zwei Kindern aus einer Familie könnte sie doch nun wirklich nicht die beiden Hauptrollen übertragen, hatte sie sich damit getröstet, dass Else immerhin ihre beste Freundin war. Frau Landwehr hatte Fräulein Dahm gegenüber mit einem kleinen Lachen in der Stimme geäußert, Luises straßenbekannte Heftigkeit entspreche ja nun auch nicht gerade dem Bild, das man sich von der demütigen Jungfrau Maria mache. Ja, ja, ansonsten sei sie schon recht, halt nur ein wenig unbotmäßig. Und da konnte Fräulein Dahm nur zustimmen. Die Gemeinde hatte dann Kommet, ihr Hirten gesungen, dick eingemummelte kleine Jungen mit Stöcken in den Händen waren durch den Mittelgang nach vorn gelaufen, hatten Josef einen Krug Milch und ein Schafsfell überreicht und sich auch hingekniet, während Fräulein Bröker das Lied von Peter Cornelius auf der Orgel spielte, Drei Kön’ge wandern aus Morgenland, und Luise, jetzt aber doch Luise, dazu sang, ganz allein und nur zu Beginn kurz unsicher - erstaunlich, wie weit ihre Stimme trug, und dabei war sie doch erst zehn Jahre alt. Drei von den Katechumenen traten aus der Sakristei heraus und bewegten sich vorsichtig auf die Krippe zu, zwei hoch aufgeschossen und einer erstaunlich pummelig. Ihren samtenen Umhängen war anzusehen, dass sie in nächster Zukunft wieder die Fenster ihrer Eigentümer gegen Zugluft abdichten würden. Aber so prosaische Gedanken stellte Fräulein Dahm doch hintenan, weil Luises klare Stimme abschließend forderte Schenk’ ihm dein Herz und die drei Könige ihre Gaben, zwei blank geputzte Kupferbehälter und einen in Glanzpapier einge- 4 5 wickelten Würfel, vor der Krippe abgesetzt hatten und auch auf die Knie gesunken waren. Fräulein Dahm nestelte noch einmal an ihren Handschuhen herum und dachte, der arme Herr Pastor hätte sich ja eine wirklich böse Erkältung zugezogen, so, wie er da vorn krächzte und hustete. Obwohl sie sich kaum als fromm bezeichnen würde, schätzte sie doch die Gespräche mit Pastor Ackermann, der als einer der wenigen Männer aus dem normalen Straßenbild herausfiel. Oft hatte sie ihn mit leicht gesenktem Kopf vorbeistürmen sehen und auch fast immer gewusst, wem er einen Besuch abstatten würde. In Eckesey kannte man sich ja, und es sprach sich schnell herum, wenn ein Bruder oder ein Ehemann auf dem Feld der Ehre gefallen war. Das mit dem Feld der Ehre hatte Fräulein Dahm nicht einmal ganz zu Anfang, im Sommer 1914, über die Lippen bringen können, und im November – sie schluckte einmal kräftig, räusperte sich und richtete sich auf, so gerade sie konnte. Ob sie die Nachricht je verwinden würde? Pastor Ackermann jedenfalls hatte ihr bedeutet, als sie Karl von einer der Proben abholte, eigentlich sei er nicht damit einverstanden, die drei Weisen aus dem Morgenland als Könige auftreten zu lassen; das stehe so nicht im Neuen Testament, von Kaspar, Melchior und Balthasar ganz zu schweigen – kurzum, der Katholizismus färbe ab. Aber andererseits, er hatte geseufzt, handle es sich um einen Kindergottesdienst, und ohnehin seien dies keine Zeiten für Kinder. ,Ich meine’, hatte er hinzugefügt, ,da sagen die Leute immer: Gelobt sei, was hart macht. Aber diese kleinen Burschen und Dirnchen wachsen ohne Väter auf, und kommt einer auf Urlaub, dann erkennen sie ihn oft nicht einmal. Jetzt werden Sie einwenden, dafür stünden aber die Mütter ihren Mann. Recht haben Sie da schon, aber ist das der Sinn der Sache? Sie sorgen dafür, dass alles weiter läuft, das Geschäft, der Laden. Doch das sind Notlösungen, die althergebrachte Rollenverteilung hat schon ihre Berechtigung. Die Idealisten’, – er hatte Fräulein Dahm kurz in die Augen gesehen und sich dann wieder leicht abgewandt –, ,die Idealisten haben ja geglaubt, Weihnachten sei alles vorbei, Weihnachten 1914 wohlgemerkt. Und jetzt?’ Er hatte sich unterbrochen und war dann fortgefahren: ,Jetzt wollen wir dafür sorgen, dass unsere Kinder nicht zu hart werden, drei Weise hin, drei Könige her.’ Frau Pastor schaltete die ohnehin spärliche Deckenbeleuchtung aus, nur noch die hohen Kerzen auf dem Altar spendeten ein wenig Licht. Man konnte nicht einmal erkennen, wer die kleineren am Weihnachtsbaum anzündete. Aber dann musste Fräulein Bröker alle Register gezogen haben, denn die Kinder brüllten geradezu Oh du fröhliche, als wollten sie die Orgel übertönen. Ob wohl viele wieder sangen Oh du seliche, wie Luise ziemlich empört bemerkt hatte? Pastor Ackermann hatte jedem einzeln beim Herausgehen die Hand geschüttelt, das heißt, die Kinder waren natürlich längst auf die Straße gelaufen und strebten nach Hause, wo, wie sie wussten, nach evangelischer Sitte bald die Bescherung stattfinden würde. Karl rieb sich die blau gefrorenen Hände, 6 7 und Fräulein Dahm fragte ihn, ob er etwa seine Fäustlinge verloren hätte. Aber dann hatten auch sie sich rasch auf den Heimweg gemacht. Ida, das Dienstmädchen, kam ihnen entgegen. Ihr junges Gesicht war auffallend gerötet, und obwohl sie eine frische Schürze vorgebunden hatte und keine Strähne aus ihrer blonden Haarkrone heraushing, sah Fräulein Dahm doch sofort, dass Ida sich in einem Zustand großer Verwirrung befand. Wahrscheinlich hatte sie, obwohl sie doch auf dem Lande aufgewachsen war, noch nie eine Geburt miterlebt. Jetzt jedenfalls legte sie den Zeigefinger über die Lippen und flüsterte immerzu Pst!, wobei sie angestrengt die Stirn runzelte. Karl und vor allem Luise beeindruckte das nicht. Sie zogen ihre Mäntel aus, schlüpften wieder in die dicken Wolljacken, die ihre Mutter ihnen gestrickt hatte, wenn sie schon längst schliefen, und blickten sich dann erwartungsvoll um. Fräulein Dahm tauschte einen raschen Blick mit Ida; als das Dienstmädchen nickte, schob sie die beiden Kinder in die Küche und sagte, dort sei es mit Sicherheit am wärmsten. Sie wolle einmal nachschauen, was sich in ihrer Abwesenheit getan habe. Luise versetzte Karl einen Stoß mit dem Ellbogen, aber ihr Bruder machte nur einen Schritt auf den breiten Herd zu, nä- 8 herte sich dem Topf und traute sich doch nicht, den Deckel zu lüften. „Nun sag schon”, meinte Luise und blieb vor Ida stehen, „was ist es, ein Junge oder ein Mädchen?” „Wie meinst du das?” Ida war wirklich verwirrt und drehte sich zum Herd um, setzte noch einen weiteren Ring ein. „Die Würstchen platzen sonst”, erklärte sie. „Ja, warst du denn nicht dabei?” Luise wusste nicht, was genau sich im Schlafzimmer der Eltern abgespielt hatte, einmal abgesehen davon, dass Frau Amecke, die Hebamme, in der letzten Zeit mehrfach ins Haus gekommen war und mit ihrer Mutter hinter verschlossenen Türen längere Gespräche geführt hatte. Luise hatte auch einmal gehorcht, aber durchs Schlüsselloch war nur dieses Gemurmel gedrungen, und jedesmal, wenn sich Frau Amecke verabschiedet hatte, klang ihre Stimme fröhlich. „Das wird schon werden”, pflegte sie zu sagen, „beim vierten geht alles wie von selbst, noch dazu, wenn’s ein Christkind wird.” Luise stutzte kurz, erinnerte sich jedoch ganz schwach daran, wie ihre Mutter schon einmal guter Hoffnung gewesen war; so nannten die Erwachsenen das, wenn der Bauch einer Frau immer dicker wurde und irgendwann, viel viel später, ein kleiner Bruder oder eine kleine Schwester in der Wiege lag. Damals war auch Frau Amecke gekommen, dann aber noch Dr. 9 Rosenthal, und obwohl ihre Mutter am nächsten Tag ziemlich dünn und blass im Bett gelegen hatte, war die Wiege leer gewesen. Manchmal hatten ihre Eltern von einem Ilseken gesprochen und immer ein trauriges Gesicht gemacht. Plötzlich stand Fräulein Dahm in der Küchentür. „Ich glaube, ich glaube, ich habe das Christkind gesehen. Hat jemand von euch das Glöckchen vernommen? Niemand? Aber wir wollen doch einmal nachschauen, ja?” Die beiden Kinder drängten sich hinter ihr her ins Wohnzimmer, wo es längst nicht so warm war wie in der Küche. In der Ecke hinter dem Esstisch stand der Weihnachtsbaum aus dem Stadtwald, viel kleiner als der vom letzten Jahr, aber wie immer geschmückt mit den bemalten Holzfigürchen aus dem Erzgebirge und den furchtbar zerbrechlichen silbernen Vögeln. Diesmal berührte der Stern oben auf der Spitze nicht die Decke, doch Luise stellte mit einem weiteren Blick befriedigt fest, immerhin seien die Kerzen so aufgesteckt, dass kein Zweig Feuer fangen konnte. Aus früheren Jahren wussten die Geschwister, dass man sich nicht so einfach auf seine Geschenke stürzen durfte, und so ratterte Karl, der sonst so geduldige und folgsame Karl, sein Gedicht herunter: 10 Da die Hirten ihre Herde Ließen und des Engels Worte Trugen durch die niedre Pforte Zu der Mutter und dem Kind, Fuhr das himmlische Gesind Fort im Sternenraum zu singen, Fuhr der Himmel fort zu klingen: „Friede, Friede auf der Erde!” Das hatten sie in der Schule gelernt, und ihr Lehrer, mindestens so alt wie der Opa in Halden, hatte jedesmal die letzte Zeile laut mitgesprochen und hinzugefügt: ,Merkt euch das! Ja, der Conrad Ferdinand Meyer war ein Schweizer, und die haben immer schon gewusst, dass Friede das Wichtigste ist.’ Luise hatte längst das Klavier aufgeklappt, ihre Hände lagen schon auf den Tasten, und kaum war das letzte Wort verklungen, als sie auch schon Vom Himmel hoch, da komm ich her spielte, viel schneller, als Fräu Bröker es mit ihr eingeübt hatte. Doch dafür hatte Fräulein Dahm durchaus Verständnis. Sie klatschte in die Hände. „Jetzt müsst ihr rasch Ida holen. Für einen Augenblick kann sie das Abendessen wohl allein lassen.” Luise und Karl liefen in die Küche, Fräulein Dahm verließ auch kurz das Wohnzimmer, und dann klingelte das Glöckchen wirklich. Karl hockte sich vor dem Paket mit seinem Namen auf den Boden, und Ida faltete eins der rot gewürfelten Tro11 ckentücher auseinander, das sie eben aus der Schachtel mit ihrem Namen darauf gezogen hatte, während Fräulein Dahm Luise zur Wiege führte. Dann brüllte Luise los. Vorsichtig bewegte sich die Prozession die Treppe hinauf. Voran ging Fräulein Dahm. Sie trug das Wickelkind mit leicht angewinkelten Armen vor sich her, eigentlich fast genauso wie Ida, die sich bemühte, das Tablett waagerecht zu halten. Verschütten konnte sie eigentlich nichts, denn sie hatte den Deckel über die Terrine gestülpt, damit die doppelte Kraftbrühe mit Eierstich für Frau Schulte nicht kalt wurde. Den Abschluss bildeten Karl und Luise, wobei Luise eindeutig die Füße hinter sich her zog, während Karl die Tür zum Elternschlafzimmer ganz öffnete und zunächst einmal im Rahmen stehen blieb. Die Mutter blickte Luise fragend an, dann überzog ein verschmitztes Lächeln ihr Gesicht. „Na, was sagst du zu deinem Weihnachtsgeschenk? Eine lebendige Puppe hat gewiss keine deiner Freundinnen geschenkt bekommen. Diese kann trinken, weinen, sich bewegen und sonst noch vieles mehr.” Luise warf einen verstohlenen Blick auf die Mutter. Da, wo der dicke Bauch gewesen war, lag die Bettdecke flach auf, von Blässe konnte diesmal nicht die Rede sein, und ihre Augen blitzten erstaunlich vergnügt. 12 Nachdem sie ein wenig vor sich hin gedruckst hatte, hob Luise den Kopf und sagte, eigentlich habe sie sich eine richtige Puppe gewünscht, also eine, mit der sie machen könne, was sie wolle. „Weißt du, Mutter”, – obwohl Luise sich zusammennahm, wurde ihre Stimme lauter –, „ein Wickelkind ist doch kein Spielzeug, und Karl hat auch seinen Metallbaukasten bekommen.” „Wie wäre es denn mit einem Tausch?”, meinte ihre Mutter und zupfte ein wenig an der Bettdecke. Sogar Ida, die inzwischen die Kissen in Frau Schultes Rücken aufgeschüttelt hatte, sodass sie sich zum Essen aufrichten konnte, lächelte jetzt etwas unsicher und blickte zwischen ihrer Dienstherrin und deren Tochter hin und her. Fräulein Dahm lachte laut, und Karl, der immer noch in der Türöffnung stand, zog verblüfft die Stirn kraus. Endlich hatte auch Luise begriffen. Sie stürzte auf das Bett zu, blieb dicht davor stehen und streckte beide Hände aus. Neben ihrer Mutter lag die schönste aller Puppen, mit hellbraunem Haar, einem sanften Gesicht, richtigen Schühchen und einem Kleid, sogar einer Wolljacke darüber in genau derselben Farbe wie die von Luise und Karl. „Wie soll sie denn heißen?”, erkundigte sich die Mutter, während Luise die Puppe in die Arme schloss. „Ilse Emma Henriette”, antwortete Luise und strebte zur Tür. 13 Die beiden Kinder waren die Treppe hinuntergesprungen und hatten versprochen, auf den Weihnachtsbaum aufzupassen. Ida war in der Küche verschwunden, nachdem sie sich mit einem Knicks für das Dutzend Trockentücher bedankt hatte. „Das ist aber ein komisches Geschenk.” Luise blieb neben dem Herd stehen, während Ida die Würstchen auf einer vorgewärmten Schale anrichtete, den Kartoffelsalat von der Fensterbank hereinholte und ihn noch einmal abschmeckte. „Was machst du denn damit?” Ida hielt mitten in der Bewegung inne. „Die sind für meine Aussteuer.” „Was ist das denn?”, fragte Luise. Sie kannte niemanden, der wie Ida gerade fünfzehn geworden war und zu Ostern die Schule verlassen hatte. „Wenn man heiratet, also, dann bringt man das mit in die Ehe, Bettlaken zum Beispiel, Kopfkissenbezüge, Handtücher und halt auch welche für die Küche. Diese sind zudem sehr schön, aus Halbleinen; so etwas ist schwer zu kriegen, und außerdem kostet es viel Geld.” „Wirst du denn bald heiraten? Hast du schon einen Liebsten?” Luise wippte vor Ida auf und ab. „Was du aber auch alles wissen willst”, murmelte Ida vor sich hin. „Und wenn’s so wäre, würd ich’s dir nicht sagen.” Luise wollte gerade nachbohren, doch dann schnitt sie nur ein Gesicht, weil Fräulein Dahms Schritte auf der Treppe zu hören waren. „Ich denke, wir sollten jetzt auch zu Abend essen, Ida. Du kannst das Tablett von Frau Schulte herunterholen, und wenn du die Küche aufgeräumt hast, darfst du dich gern noch ein bisschen zu mir unter den Weihnachtsbaum setzen. Es war ja wohl so ausgemacht, dass du morgen frei hast, nicht wahr? Frau Schulte wird sich noch ausruhen, und außerdem kommt ihre Mutter, um das neue Enkelkind in Augenschein zu nehmen. Wirst du abgeholt?” Ida nickte. „Ja, mein Opa spannt ganz früh an. Er will nicht, dass ich in der Dunkelheit bis zum Hof laufe, und bis es hell wird, möchte ich nicht warten.” Fräulein Dahm nickte und ging Ida ins Bescherungszimmer voraus, wo der Tisch gedeckt war. Sie hielt es für sehr vernünftig, das Abendessen erst aufzutragen, wenn die Kinder ihre Geschenke ausgepackt hatten. So würden sie wenigstens die Speisen nicht herunterschlingen, wo es doch mit der Versorgung schwieriger geworden war. Nur gut, dass Idas Vater neben der Arbeit in Plates Federnfabrik immer schon eine kleine Landwirtschaft betrieben hatte, um die sich jetzt allerdings vorwiegend Frau Effenkamp kümmerte. 14 15 Fräulein Dahm zuckte kurz zusammen, doch die Mutter meinte nur, das sei aber ein schöner Name. 2. Kapitel: Spätsommer 1916 „Habt ihr eigentlich Nachricht von deinem Vater und von deinen Brüdern?”, erkundigte sie sich, während Ida abdeckte und eine Schale mit Haselnüssen und blank polierten Äpfeln mitten auf den Tisch stellte. Ida versteckte die Hände unter der langen weißen Schürze und senkte den Kopf. „Der letzte Feldpostbrief kam aus Flandern, also irgendwo aus der Gegend, wo sie letztes Jahr die Felder unter Wasser gesetzt haben, Vimy, glaube ich, und dahin haben wir auch sein Weihnachtspaket geschickt. Aber heute”, – sie schluckte –, „ich meine, am Heiligen Abend werden sie doch wohl nicht schießen, oder?” „Herr Schulte liegt mit seinem Regiment irgendwo bei Ypres. So weit ist das alles nicht voneinander entfernt, aber in Kriegszeiten, da können wir schon froh sein, dass doch immer Lebenszeichen kommen. Er hatte ja um Heimaturlaub gebeten, wegen der bevorstehenden Entbindung, aber daraus ist nichts geworden. Nun hoffe ich wenigstens, dass ihn die Nachricht schnell erreicht. Auf den Namen hatten sich Schultes schon vorher geeinigt. Wenn es ein Junge würde, sollte er Rudolf heißen. Nun ist es ein Mädchen.” Fräulein Dahm unterbrach sich und richtete sich auf. „Ich glaube, Luise, dir ist deine Puppe wichtiger als deine neue Schwester. Weißt du überhaupt, wie sie heißt?” Bevor Luise auch nur den Mund aufmachen konnte, rief Karl: „Aber ich weiß es: Helga Friederike Karoline mit K.” „An Kundschaft fehlt es ja nicht, und die Lieferung klappt auch noch ganz ordentlich”, sagte Frau Schulte und verschränkte die Arme vor der Brust. Sie trug, wie Fräulein Dahm, die ihr gegenüber hinter dem schweren Schreibtisch Platz genommen hatte, ein Sommerkleid, das bis auf den Boden reichte, keilförmig ausgeschnitten und über der Brust leicht gerafft. Aber während das von Frau Schulte aus grünem Kattun mit Blumenaufdruck geschneidert war, hatte Fräulein Dahm wie immer ein in sich gemustertes Grau gewählt. „Die Zuteilung an Zucker reicht gerade noch für die Gläserware”, fuhr Frau Schulte fort. „An Essenzen hingegen kommt man leichter als an alles andere, und was wir an Lebensmittelfarben brauchen, ist vorhanden. Himbeeren könnten wir also weiterhin herstellen und ein paar andere von den ungewickelten Fruchtbonbons.” Sie machte einen Schritt zum Fenster und sah kurz hinaus. „Die Sache hat allerdings einen Haken, Helene: Unsere Mädchen und Frauen sind keine ausgebildeten Süßwarenkocher, und Mauritz ist wirklich zu alt. Nur eine oder zwei, Frieda zum Beispiel, verfügen über die nötige Kraft. Hast du einmal zugesehen, wie sie die heiße Bonbonmasse über dem Haken auszieht? Seitdem Mauritz auf die Idee gekommen ist, einfach eine geringere Menge Zucker mit den übrigen Zutaten in die 16 17 Kessel zu geben, läuft es wie am Schnürchen. Aber natürlich produzieren wir nicht so viel.” Fräulein Dahm glättete mit der Hand die aufgeschlagene Seite des Kontobuchs und erwähnte dabei einen Artikel in der Hagener Zeitung, den sie allerdings leider nicht aufbewahrt hatte. Darin sei es um Lebensmittelkarten und Bezugsscheine gegangen, und mit Sicherheit werde sich die Lage vorerst nicht bessern. Nur um Säuglinge, fügte sie mit dem Ansatz eines Lächelns hinzu, brauche man sich keine Sorgen zu machen. Nach einer kurzen Pause meinte sie noch: „Gut, dass wir wenigstens Mauritz haben!” Frau Schulte blieb vor dem Glasschrank mit den Mustern stehen und nickte, ging dann aber wieder auf und ab. „Vorhin hat er mich durchs Lager geführt. Lakritz und Salmiakgeist sind seltsamerweise noch reichlich vorhanden, sogar viele Rollen Wickelpapier, aber unsere Hustenbonbons können wir trotzdem nicht herstellen, von Toffees ganz zu schweigen. Frischmilch, Sahne und vor allem Butter, davon dürfen wir höchstens träumen. An Milchpulver wäre heranzukommen, an Vanillin auch, natürlich keine echte Vanille wie vor dem Krieg. Aber das hilft uns nicht weiter. Unsere Toffees, Hartkaramellen ohne gute Butter, und außerdem: mit welchem Zucker? Mit dem künstlichen von Fahlberg und List lässt sich das nicht machen.” „Ja, Saccharin hat leider nicht die richtige Konsistenz, und wenn ich mich nicht irre, ist der Gebrauch doch verboten. Was meint Herr Mauritz denn dazu?”, fragte Fräulein Dahm. Frau Schulte antwortete nicht, sondern zog die Stirn in Falten. Es war nicht zu überhören, dass Luise die Außentreppe zum Eingang herauftrampelte, die Haustür aufriss und nach ihrer Mutter rief. Ida schien sie abgefangen zu haben, denn mit einem Mal wurde es still. „Es muss uns einfach etwas einfallen”, sagte Frau Schulte und schloss das Fenster. „Wir können doch die Frauen und Mädchen nicht entlassen, und im Übrigen wollen die Leute auch etwas anderes essen als Kartoffeln und Gemüse, Gemüse und Kartoffeln. Auf Kriegsproduktion umstellen können wir den Betrieb ja nun wirklich nicht; da sind Blankensteins und Plates schon besser dran. Die bei Remy im Tiegelstahlwerk haben jetzt übrigens einen Ersatz für Wolfram gefunden; seit der Blockade fehlte ihnen das ja. Einem von den Ingenieuren, er hat um die Jahrhundertwende bei Schneider Creusot gearbeitet”, – Frau Schulte sprach das Schnädre Kröso aus – , „ist wieder eingefallen, dass sie da ein Element zur Stahlhärtung benutzten, das in unseren Kupferbergwerken mit abgebaut werden kann. Den Namen habe ich mir allerdings nicht merken können, aber der spielt ja auch keine Rolle; Tatsache ist, dass sie weiterarbeiten können.” Fräulein Dahm schloss mit einer langsamen Bewegung das Kontobuch und erhob sich. 18 19 „Entschuldige, Helene”, sagte Frau Schulte betroffen, legte den Arm um Fräulein Dahms Schulter und zog sie durch die Bürotür auf den Flur, „ich hab wieder einmal nicht daran gedacht.” In der Diele redete Ida leise auf Luise ein. „Pass doch auf. Du weckst das Helleken noch, und die Hildegard auch.” „Warum schlafen sie bloß um diese Zeit?”, brummte Luise. „Es ist doch vier Uhr, und ich muss der Mutter un-be-dingt was erzählen.” „Sie ist im Kontor mit Fräulein Dahm; niemand darf sie stören”, erwiderte Ida und versperrte mit ausgebreiteten Armen den Gang. Aber Luise hatte gehört, wie sich die Bürotür schloss, und außerdem traten ihre Mutter und Fräulein Dahm gerade aus dem Halbdunkel des Flurs in die Diele mit der oben verglasten Tür. „Mutter! Mutter, Elses Vater kommt wieder!”, rief Luise, und unmittelbar hinterher drang aus der oberen Etage Geschrei. Ida murmelte vor sich hin, sie habe es ja gewusst, und stieg die Treppe hinauf, während Frau Schulte und Fräulein Dahm Luise entgegen sahen. Die Mutter freute sich wohl, denn ihr Mund verzog sich zu einem breiten Lachen, und ihre Augen strahlten. Fräulein Dahm schien eher ein bisschen traurig zu sein. 20 „Nun rück mal mit der Sprache raus”, meinte Frau Schulte, „das heißt, am besten gehen wir jetzt alle in den Garten. Es ist nicht mehr so schrecklich warm. Ich hatte vor, Erbsen zu döppen, und Ida bringt sicher gleich die beiden Kleinen. Da kannst du mir alles in Ruhe erzählen.” „Wenn es dir recht ist, Anna”, meinte Fräulein Dahm, „spreche ich noch einmal mit Herrn Mauritz, und die Marga Dennersmann von der Musterabteilung holen wir uns dazu. Viele Köche” – sie schlug schon den Weg zu den Betriebsräumen ein – „verderben ja nicht immer den Brei.” „Das sollte wohl lustig klingen”, sagte Luise. Ihre Mutter warf ihr einen strafenden Blick zu, schwieg jedoch. Zehn Minuten später saß Frau Schulte mit ihrem Hocker auf der Wiese, von der wenig mehr als ein bettlakengroßes Stück übrig geblieben war, einen Korb Erbsenschoten zu ihrer Rechten, eine noch leere Schüssel auf dem Schoß, und öffnete die Schoten mit geübten Fingern. Ihr nackter Fuß wippte unter dem langen Rock hervor; eines der beiden Krabbelkinder hatte gerade die Schnürsenkel ihrer Schuhe entdeckt. „Aber Helleken”, – Luise ahmte Fräulein Dahms Tonfall perfekt nach –, „nicht in den Mund stecken!” Sie zögerte noch, ob sie der kleinen Schwester die Schuhe wegnehmen oder Helga hochheben und einfach ein bisschen weiter vom Hocker wieder absetzen sollte, als ihre Mutter 21 meinte, so schlimm sei das nicht, Dreck habe auch ihr offensichtlich nicht geschadet, und sie wolle nun endlich einmal hören, was es mit Elses Vater auf sich habe. „Die Nachricht muss aber erst gestern Abend spät oder heute in aller Herrgottsfrühe eingetroffen sein”, fügte sie hinzu, „sonst hätte Frau Landwehr doch bestimmt selber reingeschaut.” Luise bettete ihre Puppe sorgsam auf den mit einer Plane abgedeckten Haufen Ziegelsteine und griff versuchsweise nach einer Erbsenschote. „Sie ist heute Morgen in der Schule vorbeigekommen”, sagte sie eifrig. „Stell dir vor, da klopfte es mitten in der Deutschstunde an der Tür, der Herr Direktor stand da und neben ihm Frau Landwehr in ihrer Schaffnerinnenuniform; beide hatten ganz fröhliche Gesichter, und sie haben Else rausgeholt. Als sie wieder reinkam, wollten natürlich alle wissen, was los war, und die Isenbrink, schon gut: Frau Isenbrink, hat auch gefragt. Wir hätten ja sonst sowieso nicht aufgepasst.” Luise holte einmal tief Luft. „Also: Herr Landwehr hat doch bei so einer Schlacht mitgekämpft, wo sie Giftgas verwendet haben; das wussten sie ja schon aus seinen Briefen.” „Ja, im April, irgendwo an der Yser, bei ...” „Ich dachte, die Isar sei ein deutscher Fluss”, unterbrach Luise ihre Mutter. „Yser”, wiederholte Frau Schulte, erhob sich kurz und holte Helga zurück von den Bohnenstangen, an denen sie sich aufzurichten versuchte. „Bei Steenstrate”, fuhr sie dann fort. „Das könnte übrigens genauso gut Plattdeutsch sein, Steinstraße, doch es liegt in Belgien. Danach hat er eine Zeitlang in verschiedenen Lazaretten gelegen; besser ist es aber eigentlich nicht geworden. Wie genau das passiert ist, konnte er sich übrigens nicht zusammenreimen. Du weißt ja, dass unsere Truppen das Chlorgas zuerst eingesetzt haben und nicht der Feind. Aber bei dem vielen Hin und Her ... und vielleicht hat der Wind auch das Gas in die eigenen Linien zurückgetrieben.” Nachdenklich strich Frau Schulte eine Haarsträhne aus der Stirn. Luise hörte zwar zu, aber es war ihr anzusehen, dass sie lieber erzählen wollte. „Elses Vater konnte gar nicht mehr selbst schreiben, er musste seine Briefe immer einem Kameraden diktieren, weil er fast blind war. Außerdem hat er ganz furchtbar gehustet, nicht so wie Pastor Ackermann mit seiner Tuker… seiner Tuberkulose, sondern eben von diesem Gas. Und deshalb entlassen sie ihn jetzt. Rate mal, wo er hinkommt.” Frau Schulte brauchte nicht lange nachzudenken, aber sie tat doch so, als fiele ihre keine Antwort ein. „Ich helf dir ein bisschen. Da, wo Pastor Ackermann behandelt wird.” 22 23 „Nach Ambrock?” „Ja, ist das nicht schön? Da können sie ihn immer besuchen, du natürlich auch. Vielleicht weiß er ja was von Vater.” Frau Schulte schüttelte den Kopf. „Das sollte mich wundern, mein Kind. Flandern ist groß.” In diesem Augenblick begann das zweite Krabbelkind jämmerlich zu schreien. „Na, was ist denn, Hildegardchen”, fragte Frau Schulte, „hat dich was gestochen?” Sie stellte die Schüssel mit den Erbsen ab, beugte sich über das leicht angeschmutzte Kleiderbündel und richtete sich sofort wieder auf. „Luise”, meinte sie lächelnd, „trag doch das Hildegardchen mal zu Ida und bitte sie, es frisch zu wickeln. Und bring mir die Blumenschere mit. Das Beet ist ja arg geschrumpft, aber für einen Strauß wird’s noch reichen.” Luise sah zu, wie Ida die kleine Hildegard auf die Wickelkommode legte, nacheinander alle Sicherheitsnadeln öffnete und mit der schmutzigen Windel sorgfältig den Po abwischte, bevor sie ihn mit einem möglichst klein bemessenen Stück Watte und ein wenig Penatencreme reinigte. Dabei kitzelte sie Hildegard unter den Füßchen, sodass sie vor Vergnügen quietschte. 24 „Hast du das zu Hause gelernt?”, fragte Luise und warf einen Blick auf die schmutzige Stoffwindel, die dicht zusammengerollt auf dem Kachelboden lag. Ida schüttelte den Kopf. „Ich bin doch die Jüngste ! Hannes und seine Frau haben noch keine Kinder, und Erich ist nicht einmal verheiratet. Da kommen auch so schnell keine, wo meine Brüder doch beide an der Front sind. Nein, das hat mir die gnädige …, also deine Mutter beigebracht, die kennt sich da aus. Von ihr weiß ich auch, dass man das Gröbste sofort rauskratzen muss, und dann werden die Windeln erst einmal eingeweicht, bevor wir sie auskochen. Die waschen wir übrigens immer extra, selbst wo wir jetzt mit dem Persil so sparen.” Während Ida Hildegard das Kittelchen wieder überstreifte, gab Luise sich einen Ruck. „Sag mal, Ida, warum zieht Tante Dahm eigentlich nie etwas anderes an als diese grauen oder schwarzen Sachen? Hat sie denn sonst nichts?” Ida griff nach der weichen Kinderbürste und fuhr damit über Hildegards dunkle Locken. „Am besten fragst du sie selbst, sonst erzähl ich dir was Falsches. Letztes Jahr, kurz bevor das Helleken geboren wurde, hat sie jedenfalls noch Volltrauer getragen. Ihr Verlobter ist gefallen, gleich zu Kriegsbeginn, irgendwo in Flandern, da, wo mein Vater mit seinem Regiment liegt und deiner auch.” 25 „Tante Dahm? Wer verguckt sich denn in die? Sie ist ja schon fast dreißig, noch dazu, wie sie aussieht mit ihrer dicken Brille und ihrem fetten ...” Ida war zwar nur rund vier Jahre älter als Luise, aber jetzt blitzten ihre Augen so, dass Luise ihren Satz nicht zu Ende führte. „Hier, nimm mal das Hildegardchen und bring’s raus in den Garten, jetzt riecht es wieder gut”, meinte Ida bestimmt, und Luise wusste, dass sie von ihr nichts mehr erfahren würde. Frau Schulte hatte gerade den Korb mit den Erbsenschoten wieder vom Rasen aufgenommen und dachte, dass sie es genau richtig gemacht hätten, als sie im Frühjahr den größten Teil der Wiese und des Blumengartens im Schweiße ihres Angesichts umgegraben und mit Gemüse bepflanzt hatten. Da wuchsen jetzt mehrere Bohnensorten, Möhren, Erbsen natürlich und alle Arten von Kohl, roter, weißer für Sauerkraut und der grüne, der nach dem ersten Frost am besten schmeckte, außerdem Rosenkohl und selbstverständlich Kartoffeln. In diesem Augenblick liefen von der Schillerstraße her zwei Jungen durch das Hoftor zu ihr herüber. „Fritz kommt, um seine Schwester abzuholen”, sagte Karl etwas außer Atem. „Und damit du es gleich weißt: Die Schulaufgaben haben wir schon bei ihm zu Hause erledigt.” „Ist deine Mutter denn zurück?” Fritz, so groß wie Karl, aber dunkelhaarig und braunäugig, nickte. „Sie hat sehr lange Schlange stehen müssen auf dem Lebensmittelamt, doch darauf war sie vorbereitet. Auf jeden Fall dankt Sie Ihnen schon einmal ganz herzlich.” „Eure Hildegard und unser Helleken sind ja fast auf den Tag genau gleich alt”, sagte Frau Schulte und lachte, „sie leisten sich Gesellschaft und schreien um die Wette. Jetzt wird dein Schwesterchen gerade frisch gewickelt, aber dann kannst du losziehen. Steck auch noch eine Handvoll Toffees ein; vielleicht sind’s die letzten.” Frau Schulte wurde wieder ernst. „Habt ihr übrigens Nachrichten von deinem Vater?” Fritz nickte. „Sein Regiment liegt immer noch im Argonnerwald. Er glaubt jedoch, das stand jedenfalls auf der letzten Feldpostkarte, wo eine Menge durchgestrichen war, dass sie bald nach Verdun marschieren werden. So genau weiß ich das auch nicht. Aber ich wünschte mir”, fügte er mit gesenktem Kopf hinzu, „er käme bald mal zu Besuch. Manchmal vergesse ich, wie er aussieht, und er ist doch mein Vater.” „Übrigens”, sagte Karl in die Stille hinein, „haben wir Fräulein Bröker getroffen; sie möchte mir dir sprechen wegen Luises Klavierstunde oder so.” 26 27 Luise trug Hildegard vorsichtig die Außentreppe hinab, überreichte sie Fritz mit einem halb spöttisch, halb verlegenen Lächeln und holte sofort ihre Puppe von dem Ziegelsteinhau- fen herunter. Während Fritz sich mit einem Diener verabschiedete und seine kleine Schwester eigentlich mehr unter den Arm klemmte als auf Händen heim in die Eckeseyer Straße brachte, baute sie sich mit dem Henriettchen im Arm vor ihrer Mutter auf. Ihre neue Puppe hieß nämlich nicht mehr Ilse, seitdem ihr Vater sie bei seinem letzten Heimaturlaub gebeten hatte, den Namen zu ändern, weil er ihm und der Mutter doch sehr in den Ohren schmerze; sie müssten jedesmal an das Kindchen denken, das gleich nach der Geburt gestorben war. Während dieses kurzen Besuchs im Februar war die neue kleine Schwester in der evangelischen Kirche getauft worden und hatte nicht einmal geschrien, als Pastor Ackermann dreimal Wasser über ihren Kopf gegossen hatte, obwohl draußen Schnee lag und das Gebäude noch schlechter geheizt war als am Heiligen Abend. Und gleich am nächsten Tag hatten Luise und Else dann die Puppe umgetauft, allerdings ohne Wasser; man konnte ja nie wissen, ob die Haare nicht doch angeleimt waren. eigentlich nicht, dir einmal davon zu erzählen? Du kannst es dir vielleicht nicht vorstellen, aber es tut ihr gut, immer wieder davon zu sprechen. Sie zeigt dir auch sicher gern die Fotografien von Herrn Weiland, Ernst Weiland; er arbeitete übrigens als Ingenieur bei Remys, im Stahlwerk.” Luise war ganz still geworden und hatte sogar aufgehört, das Henriettchen in den Armen zu wiegen. „Meinst du wirklich, Mutter?” Obwohl sie sonst nicht auf den Mund gefallen war, zweifelte sie daran, dass ihr Mut ausreichen würde, Fräulein Dahm nach diesem Herrn Weiland zu fragen. „Warum hat sich Tante Dahm eigentlich nicht darüber gefreut, dass Elses Vater wieder nach Hause kommt?” Frau Schulte hob den Kopf und ließ die Hände kurz ruhen. „Ich glaube, sie freut sich schon. Aber sie wird doch immerzu daran erinnert, dass ihr Verlobter gleich im ersten Kriegsjahr, Anfang November 1914, gefallen ist. Warum bittest du sie Aber dann ergab sich alles von selbst. Frau Schulte hatte, als die Uhr der evangelischen Kirche weiter unten an der Straße halb sechs schlug, den fast leeren Korb und die volle Schüssel ineinander gestellt und nach dem Strauß aus Rosen und Margeriten gegriffen. „Passt mir gut auf das Helleken auf”, sagte sie zu Luise und Karl. „Ida hat im Haus zu tun, und wenn ich wieder komme, wird gleich gegessen. Deine Hausaufgaben sind doch auch gemacht, Luise? Dann kannst du nachher noch ein bisschen Klavier üben.” Karl wollte seine Mutter unterbrechen, aber sie schüttelte den Kopf. „Ja, ja, ich weiß, Fräulein Bröker. Heute Abend geht’s nicht mehr, jetzt ist zuerst einmal Frau Landwehr an der Reihe. Wie 28 29 lange hat sie heute Dienst, Luise? Ach, sie wird schon zu Hause sein.” Während Frau Schulte mit raschen Schritten durchs Hoftor ging, bestimmte Luise, dass Mutter und Kind gespielt werden sollte. „Du”, sagte sie zu Karl, „lehnst dich mit dem Rücken gegen die Ziegelsteine; nein, die Plane rühren wir diesmal nicht an, sonst kriegen wir wieder eins hinter die Ohren. Tu einfach so, als zögest du deine Decke höher. Du liegst im Sanatorium in Ambrock, und wir kommen dich besuchen.” Karl murrte, erstens seien die Steine hart und zweitens piekste das Gras in seine nackten Beine, aber dann blickte er Luise doch erwartungsvoll entgegen. „Wie geht es dir denn heute, Vater?”, erkundigte sie sich. „Hast du deine Medizin auch brav geschluckt? Und was meint der gute Doktor Rosenthal?” Sie verbesserte sich sofort und fiel kurz aus der Rolle. „Verflixt, Doktor Rosenthal arbeitet ja in irgendsoeinem Lazarett. Also, was meint denn Doktor Knippschild? Der Jüngste ist er ja selber nicht mehr, aber bei all den Verwundeten wollte er in dieser schweren Zeit doch auch sein Scherflein beisteuern.” Karl bemühte sich, laut zu husten und krächzte, er habe es immer noch auf der Lunge, und vielleicht sei es gar nicht gut, dass sie die Kinder mitgebracht habe. 30 „Chlorgas”, behauptete Luise, „ist zum Glück nicht ansteckend. Das Henriettchen wird übrigens nächstes Jahr zu Ostern eingeschult, dann kann es dir gewiss bald etwas aus der Zeitung vorlesen.” In diesem Augenblick trat Fräulein Dahm durch einen Flügel des Lagertors, blieb kurz mit Frau Dennersmann auf der Rampe stehen und verabschiedete sich dann von ihr. Frau Dennersmann winkte den Kindern zu und rief etwas, aber weder Karl noch Luise verstanden mehr als Fränzken, denn ihre Worte gingen im Lachen eines der Mädchen unter, die gleichzeitig mit ihr den Fabrikhof verließen. Indessen war Fräulein Dahm zu ihnen getreten und suchte ganz offensichtlich Frau Schulte. „Die Mutter bringt Frau Landwehr Blumen, weil ihr Mann wiederkommt”, sagte Karl und erhob sich, wobei er sich den Rücken und die Oberschenkel rieb. „Einige Frauen haben eben Glück.” Fräulein Dahm kniete sich zu Helga auf die Wiese und versuchte, sie auf die Beinchen zu stellen, hob sie dann aber auf und drückte sie an sich. „Tante Dahm”, – Luise gab sich einen Ruck –, „wie war das? Ida wollte es mir nicht sagen, und die Mutter denkt ...” Sie brauchte nicht einmal richtig zu fragen. „Dixmude”, begann Fräulein Dahm und wiegte Helga ganz behutsam, „Dixmude liegt auch in Flandern, wo euer Vater mit 31 seiner Krupp-Kanone den Feind beschießt. Da ist mein Ernst gefallen, am 2. November 1914, Allerseelen.” Sie schwieg kurz, fuhr dann aber fort, seine Briefe lese sie immer aufs Neue, wenn er davon auch nicht wieder lebendig würde. „Warum schlagen sie sich da oben eigentlich schon so lange?”, fragte Karl. „Weil außer den Franzosen und den Belgiern auch die Engländer zu unseren Gegnern zählen. Deren Nachschub an Munition und auch die Verpflegung werden natürlich per Schiff über den Ärmelkanal transportiert, und so wollte unser Generalstab schon ganz zu Anfang der Feindseligkeiten die beiden Häfen in deutsche Hand bekommen, wo diese Schiffe entladen werden, Calais nämlich und Dünkirchen. Die Straße nach Dünkirchen führt über Dixmude; das Städtchen ist ein Brückenkopf, so nennt man das, denn wenn man Dixmude erobert hat, steht einem der Weg nach Dünkirchen offen.” Karl nickte. „Das haben wir gerade durchgenommen. Unser Klassenlehrer hat eine Landkarte mitgebracht und uns gezeigt, wo die Yser fließt und natürlich die Marne, die von der großen Schlacht mit den Mietdroschken. Das war wirklich eine Prachtsidee”, fügte er hinzu, aber Fräulein Dahm erzählte schon weiter. „Unsere Truppen haben tapfer gekämpft, und an Einfallsreichtum mangelt es ihnen wirklich nicht. Da oben gibt es viele Entwässerungskanäle; Flandern liegt ja nicht weit vom Meer, ist flach wie ein Kinder …”, – sie hielt inne – , „also sehr flach, da wachsen höchstens ein paar Weiden, und Windmühlen gibt es, eigentlich wie in Norddeutschland, Richtung Emden-Norddeich. Auf jeden Fall sind die deutschen Soldaten auf die Idee gekommen, dicke Holzplanken vor sich her zu tragen, erstens als Schild, denn natürlich beschossen die feindlichen Truppen sie pausenlos, und zweitens, um diese Kanäle überqueren zu können. Als es dann gar nicht mehr weiter ging, das hat Ernst mir alles noch schreiben können, hat sich der Generalstab, der belgische diesmal, daran erinnert, dass sie dem Heer Ludwigs XIV. von Frankreich schon einmal Einhalt geboten hatten, indem sie einfach die Schleusen öffneten. Da konnte man sich dann nur noch auf den Deichen vorwärts bewegen, weil alles andere unter Wasser stand.” „Die Deiche, die ich kenne, sind aber nicht breit”, warf Luise ein. „Da kann man höchstens zu zweit nebeneinander hergehen.” „Die da oben sind auch ganz schmal. Wenn die Feinde aufeinander stießen, erstachen sie sich mit ihren Bajonetten oder gerieten sich sogar ganz einfach in die Haare, als hätten sie gar keine Gewehre. Mein Ernst hat einmal einem schwarzen französischen Soldaten gegenüber gestanden; sie haben richtig miteinander gerungen, bis der Feind den Deich hinunter ins Wasser rollte. Er hat auch Sikhs gesehen, Männer, die keinen Helm trugen, sondern einen Turban, stellt euch das vor, als ob 32 33 das vor Kopfverletzungen schützte. Die Sikhs kommen aus Indien und dienen in der britischen Armee.” „Die Franzosen sind doch nicht schwarz!”, rief Karl empört. „Nein, aber Frankreich besitzt Kolonien in Afrika wie Deutschland auch, das müsstest du doch schon im Erdkundeunterricht gelernt haben, also den Senegal zum Beispiel.” Fräulein Dahm warf einen Blick auf Helga, die mit einem Lächeln auf dem Gesichtchen in ihren Armen schlief, und atmete dann einmal tief ein. Ihre Stimme klang plötzlich ganz hart. „Gefallen ist mein Ernst, weil die deutschen Befehlshaber, unter anderem der Herzog von Württemberg und ein Prinz aus Bayern, Dixmude erobern und damit den Weg nach Dünkirchen um jeden Preis öffnen wollten. Um jeden Preis, wiederholte sie. Auf unserer Seite bedeutete das zehntausend Tote allein dort.” „Und dein Ernst hat wirklich einen richtigen Schwarzen gesehen?”, fragte Karl. Fräulein Dahm nickte. „Wo ist er denn begraben? Haben sie dir das geschrieben, Tante Dahm?” Luises Gesicht war ganz ernst. „Ja, das weiß ich genau. Aber nützen tut es nichts. Nach Flandern fahren jetzt nur Soldaten … und vielleicht noch Krankenschwestern”, fügte sie hinzu. „Zuerst habe ich mit dem Gedanken gespielt, mich auch beim Roten Kreuz ausbilden zu las- sen; aber eure Mutter hat mich gebeten, ihr zur Seite zu stehen. Sie kannte sich ja im Geschäft so gut nicht aus, während ich als Prokuristin ...” Darauf wusste Luise nichts zu sagen, und sie war erleichtert, als Karl meinte, die Franzosen seien ganz schön dumm, in ihren roten Hosen und blauen Jacken sähe sie ja jeder Blinde mit Krückstock; die deutschen Soldaten mit ihren grauen Uniformen hingegen fielen überhaupt nicht auf. „Getroffen werden sie trotzdem”, meinte Fräulein Dahm, „zum Beispiel von Schrapnells und Kanonenkugeln.” 34 35 Die Abendsonne schien schräg durchs Esszimmerfenster. Frau Schulte hatte Helga gerade gestillt, und Luise, die dabei nicht zusehen mochte, hatte sich, wie immer, kurz vorher ans Klavier im Wohnzimmer verzogen; für sie musste ihre Mutter Kleider tragen oder doch wenigstens ein Nachthemd. Karl warf, auch wie immer, verstohlene Blicke auf die Brust seiner Mutter, steckte dann aber die Nase in das Buch mit den lateinischen Vokabeln und murmelte leise vor sich hin. In diesem Augenblick trat Ida herein, knickste und fragte, ob sie das Helleken noch einmal wickeln und dann schlafen legen sollte, und sie wüsste doch auch gern, was es am nächsten Tag zu essen geben solle. „Morgen früh kochen wir als Erstes die Erbsen ein. Die Weckgläser müssen sterilisiert werden, die Ringe vom letzten Jahr tun’s vielleicht noch einmal.” Frau Schulte zog die Stirn in Falten. „Kartoffeln. Ein paar Scheiben Speck. Grüne Bohnen, dass du mir aber diesmal die Fäden richtig abziehst, Mädchen. Hinterher Vanillepudding, dafür reicht die Milch gerade aus, und ein Ei war doch auch noch da. Das Mondaminpaket haben wir kaum angebrochen, nicht wahr?” Sie schwieg nachdenklich. „Dann wünsche ich eine gute Nacht”, sagte Ida und knickste, wurde rot und drehte sich in der Tür noch einmal um. „Ach ja, fast hätt ich’s vergessen. Fräulein Dahm lässt Ihnen etwas ausrichten von Herrn Mauritz und Frau Dennersmann. Das Sacher…, also der Süßstoff ist nicht mehr verboten.” Karl hob erstaunt den Kopf. Seine Mutter hatte zuerst wie er vor sich hingemurmelt, aber natürlich keine lateinischen Vokabeln, sondern etwas von Vanillin, Speisestärke, Milchpulver, gelber Lebensmittelfarbe und Saccharin, und dann hatte sie sehr laut Puddingpulver zu niemandem gesagt. 36 3. Kapitel: Frühjahr 1917 „Ette”, rief Helga und streckte beide Arme aus. Luise knöpfte ihre dicke Flanellbluse zu, zog noch einmal die kratzenden Wollstrümpfe hoch und schüttelte den Kopf. „Nein, Helleken, du bist noch zu klein. Ich spiele zwar fast gar nicht mehr mit Puppen, aber Henriette ist wirklich zu schade. Heute Nachmittag, wenn ich Schulaufgaben mache, darfst du sie vielleicht ein bisschen halten, ja?” Helga verzog das Gesicht und trottete an Luises Hand in die Küche. „Guten Morgen, Ida”, sagte Luise. „Dada”, sprach Helga nach. Ida lief zwischen Herd und Tisch hin und her, füllte Luises Tasse mit Hagebuttentee und legte ein halbes Stück Zucker daneben. „Streichst du mir heute einmal etwas anderes aufs Pausenbrot als Schmalz?”, fragte Luise und rückte ihren Stuhl zurecht. „Karl findet auch, auf die Dauer ...” Ida fiel ihr ins Wort. „Mein G...”, – sie schluckte – , „also wirklich, Luiseken, sei doch froh, dass wir noch Schmalz haben. Viele von den Frauen unten in der Fabrik wissen schon gar nicht mehr, was sie ihren Kindern mitgeben sollen; ich meine, sogar Marmelade wird knapp, und Honig hat auch kaum noch wer. Und wegen der Blockade kriegen sie Skor…, halt das, was die Matrosen 37 früher auf den Schiffen hatten, wo ihnen die Zähne ausfielen. Wir haben ja wenigstens Äpfel eingelagert, und im Sommer gibt es die Beeren aus dem Garten.” Luise schwieg und trank ihre Tasse in einem Zug leer. „Das ist schon seltsam”, sagte sie dann und steckte das letzte Stück Brot in den Mund, „selbst wenn man Geld hat, kann man nichts kaufen.” „Aber du solltest mal sehen, wie teuer alles geworden ist”, erwiderte Ida und strich ihre Hände an der Schürze ab. „Ja, und ohne Bezugsschein kriegt man sowieso gar nichts.” In diesem Augenblick betrat Karl die Küche. Er rieb sich die Augen und fragte, wo seine Mutter sei. „Mommo”, sprach Helga nach. „Ach, du bist auch schon wach, Helleken.” Karl ging in die Hocke, öffnete die Arme weit und fing Helga auf. „Immer langsam mit de jungen Pferde”, lachte er. „Du brauchst dich doch nicht zu beeilen, du gehst ja noch nicht in die Schule, du Glückliche.” „Die gnädige ... deine Mutter ist unten im Betrieb. Morgens die Erste, abends die Letzte”, fügte Ida noch hinzu. „Und vergiss dein Schulbrot nicht. Ja ja, Luise hat mir ausgerichtet, dass du was anderes möchtest als Schmalz. Frag doch mal Franz Dennersmann, was er zu essen kriegt.” „Franz Dennersmann”, erwiderte Karl etwas bockig, „der ist doch gar nicht in meiner Klasse, nicht einmal mehr in derselben Schule wie ich, jetzt, wo ich aufs Gymnasium gehe.” „Du musst dich beeilen”, sagte Ida, „sonst schaffst du’s nicht rechtzeitig bis zur Bergstraße. Ich glaube, ich muss dich früher wecken.” Karl warf einen Blick auf die Küchenuhr. „Genau das war’s. Ich brauch mal wieder Geld für eine Wochenkarte.” „Gestern Abend ist dir das nicht eingefallen?”, meinte Ida, aber dann versetzte sie Karl einen fast schwesterlichen Klaps auf den Rücken. „Was Frau Landwehr ist, die lässt dich doch auch einmal umsonst Elektrische fahren, oder?” 38 39 Es regnete leicht. Frau Schulte stand unter dem Dach über der Verladerampe, ließ ihre Blicke einmal über den Hof streifen und rieb sich mit beiden Händen den Rücken. In der vergangenen Woche hatte sie die Gemüsebeete umgegraben und davon nicht einmal mehr Blasen bekommen, vorgestern war Idas Großvater mit seinem Gespann frühmorgens erschienen und hatte die Setzlinge gebracht, die sie dann nach und nach gepflanzt hatte, meist allein, denn Fräulein Dahm steckte gerade jetzt in der Buchhaltung bis über die Ohren in Papieren. Die Herstellung von Puddingpulver lief seit einem halben Jahr, aber selbst die Ersatzrohstoffe waren nicht immer ohne Schwierigkeiten zu beschaffen. Natürlich hatte Frau Schulte für Idas Großvater, den alten Bauer Effenkamp, die Flasche mit dem Doppelkorn aus dem Wohnzimmerschrank geholt, und sie hatte ihm voller Aufmerksamkeit, auch mit Besorgnis zugehört, wie er in einer Mischung aus Platt und Hochdeutsch das Neueste vom Neuen erzählte. „Denen von der Stadt gehen die Pferde ein, langsam, aber sicher”, meinte er. „Viele hatten sie ja sowieso nicht mehr mal; die sind auch eingezogen worden”, fügte er hinzu und lachte. „Auf Ackergäulen reitet da zwar keiner, aber zum Ziehen von Kanonen taugen sie doch etwas.” „Ja.” Frau Schulte nickte. „Mein Mann hat etwas geschrieben von 77ern, oder waren es 75er, die auf Eisenbahnschienen befördert werden, natürlich nur da, wo sich das Gelände dazu anbietet. Kraftfahrzeuge setzen sie auch ein, aber sonst ist ein rheinisch-deutsches Kaltblut eher am Platz.” Idas Großvater nippte einmal an seinem Glas, kippte den Inhalt dann herunter. „Vorkriegsschnaps?”, erkundigte er sich, wartete aber nicht auf Antwort. „Also jedenfalls schmilzt der Futtervorrat wie Schnee an der Sonne, ich meine, die Perdkes brauchen ja Hafer, und sie überlegen schon, wer denn dann die Wagen mit den ... also Sie entschuldigen schon, mit den Fäkalien ziehen soll. Sie reden von Ochsengespannen, aber bisher haben sie noch keinen gefunden, der damit umgehen kann. Die Kutscher verstehen sich doch auf so was nicht.” Er lächelte verschmitzt. „Vielleicht, auf meine alten Tage, als Angestellter der Stadt und wenn ordentlich was dabei rausspringt ...” Frau Schulte lachte und drückte ihm einen Umschlag in die Hand. „Wo wir gerade von Geld sprechen; aber zählen Sie doch besser noch einmal nach.” Zum Abschied hatte er ihr geraten, das Hoftor abends abzuschließen und sich vielleicht sogar einen Hund anzuschaffen. „Einen Wachhund, also nicht so einen für Ihre Kleinen zum Spielen”, sagte er, während er auf den Bock stieg, griff nach der Peitsche und ließ sie einmal knallen. „Nur gut, dass Sie da Ziegelsteine unter den Planen gestapelt haben und keine Kohle. Die kriegt nämlich neuerdings überall Beine.” 40 41 Karl stellte seinen Schulranzen ab, schüttelte seine Jacke aus, dass die Regentropfen spritzten, und fragte sofort wieder nach seiner Mutter. „Sperr die Augen auf”, meinte Ida, verschränkte die Arme und wartete weiterhin darauf, dass Helga auf dem Topf ihr Ge- schäft erledigte. „Weit kann sie nicht sein, entweder im Garten oder im Betrieb unten.” „Mommo”, sagte Helga und klatschte in die Hände, „Ka.” „Da gehört hinten noch was dran, aber ich glaube, du kannst schon besser sprechen als Hildegard.” Karl wurde auf einmal ganz lebhaft. „Fritz und ich wollten das sowieso mal rausfinden.” Ida drohte mit dem Zeigefinger. „Keine Dummheiten. Sie sind schließlich noch nicht einmal zwei.” Karl brummte etwas vor sich hin und rannte die Treppe hinunter. Seine Mutter, das sah er durch die mannshohen Fenster aus verdrahtetem Glas, war tatsächlich im Betrieb. Wie alle Mädchen und Frauen, die das Puddingpulver abwogen und in verschieden große Papiertüten oder Gläser abfüllten, trug sie eine weiße Haube, unter der hinten eine winzige Haarsträhne hervorschaute, und hatte einen Streifen Mull vor Mund und Nase gebunden. Zuerst war das nicht nur Karl komisch vorgekommen, und er hatte gefragt: „Warum macht ihr denn das?” Mit den weißen Hauben war er natürlich von früher vertraut; die mussten sein, damit keine Haare mit den Bonbons in Berührung kamen – Hygiene nannte man das. Doch wozu diese Streifen? Den ersten hatte Frau Schulte übrigens aus einer von 42 Hellekens Windeln zurechtgeschnitten und einfach hinter dem Kopf verknotet. Frau Dennersmann indessen hatte sofort begriffen, die Hände auf die Hüften gestützt und genickt. „Ja, das ist die Lösung. Zucker, also richtiger Zucker, der klebt ja nur, an den Schuhen und überhaupt. Aber dieses Pulver, das fliegt. Ich meine, selbst wenn man nicht mit der Schaufel herumfuchtelt oder ständig irgendwelche Tüten platzen, weil da so ein Dusselchen mal mit den Gedanken woanders war, hängt immer was von dem Zeug in der Luft. Wir waschen’s ja alle gern raus. Aber dass wir’s nicht mehr einatmen müssen, das ist schon eine feine Sache.” Und mit Frau Dennersmann sprach die Mutter gerade. Da wartete er lieber vor der Tür. „Na, Karl?”, fragte Frau Schulte, als sie ihren Sohn entdeckte, „wie bist du denn in die Schule gekommen?” Sie sah aber gar nicht böse aus. „Ich habe auf die Elektrische mit Frau Landwehr gewartet, und das letzte Stück bin ich gerannt. Da konnte ich gerade noch durch die Tür reinwitschen, bevor der Lehrer sich umdrehte.” „Beim nächsten Mal denkst du aber abends dran.” Für Frau Schulte war die Sache abgeschlossen, und sie bewegte sich mit weit ausholenden Schritten aufs Kontor zu, blieb aber unterwegs stehen. „Na, was hast du sonst noch auf dem Herzen?” 43 „Warum geht eigentlich Franz Dennersmann nicht ins Gymnasium an der Bergstraße? Ich meine, Fritz war ja nicht einmal in derselben Volksschule wie ich, aber jetzt sitzen wir doch nebeneinander in einer Klasse.” Karl stotterte ein wenig. „Ist er … also ist er durch die Aufnahmeprüfung gefallen?” Frau Schulte seufzte einmal. „Nein, daran liegt es nicht. Franz hat schon immer gute Noten mit nach Hause gebracht. Woher ich das weiß, mein Bester?” Sie sah ihren Sohn liebevoll an, aber ihre Stimme klang so, also wolle sie ihn am Ohr ziehen. „Wenn es Zeugnisse gibt, drehen sich alle Unterhaltungen im Betrieb natürlich darum, und einige von den anderen Frauen wollten es Frau Dennersmann nicht glauben, dass ihr Franz ein so guter Schüler ist. Da hat sie halt das letzte Versetzungszeugnis, das von der 4. in die 5. Klasse, voriges Jahr zu Ostern mitgebracht und allen gezeigt. Er hätte die Aufnahmeprüfung mit Glanz und Gloria geschafft.” Frau Schulte legte Karl die Hände auf die Schultern. „Wenn man aufs Gymnasium geht, muss man Schulgeld bezahlen. Und das hat Frau Dennersmann nicht. Ihr Mann ist gefallen, sie erhält nur eine kleine Pension, und Franzens kleine Schwester, die Herta, muss sie auch noch durchbringen.” Karl senkte den Kopf. „Aber das will nichts heißen. Dass einer tüchtig ist, merkt früher oder später immer irgendjemand. Hast du übrigens deine Schulaufgaben schon erledigt? Ich werfe nachher mal einen Blick darauf. Jetzt muss ich zunächst einmal mit Tante Dahm eine Lösung dafür finden, wie wir unser Puddingpulver nach Hohenlimburg und Meschede kriegen.” 44 45 Ida kam mit Helga auf dem Arm die Treppe herunter, und genau in diesem Augenblick klopfte es an der Haustür. Frau Schulte öffnete selbst, sah auf dem Bürgersteig gegenüber Pastor Ackermann gehen und wurde mit einem Schlag leichenblass. Vor ihr stand Frau Rüter vom Lebensmittelamt, mit der sie schon oft im Rathaus gesprochen hatte, zuletzt wegen der Zuteilung von Süßstoff, Zucker und Speisestärke, obwohl diese Gänge wegen der damit verbundenen Wartezeit meistens von Fräulein Dahm übernommen wurden. Frau Rüter hob sofort beschwichtigend die Hände. „Nein, nein, Frau Schulte, es ist nicht, was Sie befürchten. Ihrem Mann ist nichts zugestoßen, er ist weder verwundet noch …”, sie unterbrach sich. „Ich komme aus einem ganz anderen Grund.” Ida atmete einmal laut aus und drückte Helga fest an sich, während Frau Schulte die Tür richtig öffnete und Frau Rüter hereinbat. Gemeinsam stiegen sie die Treppe hoch, und als Frau Rüter im Wohnzimmer Platz genommen hatte, nannte sie den Grund ihres Besuchs. „Wie Sie vielleicht aus der Zeitung wissen, hat die Stadt Hagen beträchtliche Mengen Steckrüben zu Marmelade verkocht, vorsorglich, weil ja längst nicht alle Einwohner über einen Garten verfügen, sei’s auch nur ein Schrebergärtchen mit ein paar Beerensträuchern und ein oder zwei Obstbäumen. Die Versorgungslage verschlechtert sich indessen ständig; das ist Ihnen bestimmt auch bekannt.” Während Frau Schulte sich langsam beruhigte, trank Frau Rüter einen Schluck von dem Apfelsaft, den Ida ihr gereicht hatte. „Die Steckrübenmarmelade wurde im vorigen Herbst der Einfachheit halber heiß in große Metallbehälter gefüllt”, fuhr sie dann fort, „ein Teil davon auch in weithalsige Glasflaschen, wie man sie für Säure verwendet. Bei der letzten Kontrolle ist nun mehr oder weniger zufällig festgestellt worden, dass ein Gärungsprozess eingesetzt hat, das heißt: Es haben sich winzig kleine Bläschen gebildet. Gestern wurde dann auf der Ratssitzung hin und her überlegt, wie man die Marmelade retten könnte, und einer von den Eckeseyern schlug vor, doch Ihren Mann zur Hilfe zu rufen; der verstehe wahrscheinlich am ehesten etwas davon, möglicherweise mehr als ein Chemiker, einmal abgesehen davon, dass kein einschlägiger Betrieb in Hagen ansässig ist. Kurzum, es wurde gestern Abend zu später Stunde beschlossen, Ihren Mann vom Dienst an der Waffe freistellen zu lassen. Wann mit seiner Rückkehr zu rechnen ist, kann ich Ihnen allerdings nicht sagen.” Frau Schulte sprang von ihrem Stuhl auf, zog eine Schublade ihres Schreibtischs heraus und griff nach der Karte, die zuoberst auf einem Stapel von Feldpost lag. „Sein Regiment kämpft in Nordfrankreich, an der Aisne, mehr weiß ich …” Frau Rüter nickte. „Aber bis man da einmal jemanden findet! Den genauen Standort dürfen sie ja ohnehin nicht angeben, und außerdem geht an der Front alles drunter und drüber. Mein Mann, er ist bei der Infanterie, schrieb uns letztes Jahr zu Weihnachten, manchmal verliefen sich sogar welche von den Franzosen oder auch diese Engländer aus den Kitchener-Divisionen in den Schützengräben, und dann würden sie gefangen genommen. Können Sie sich das vorstellen? Sie schlagen sich manchmal um einen Zwickel Land, bloß, weil die Frontlinie gerade verlaufen soll.” Frau Schulte schüttelte den Kopf. „Ich hoffe nur, dass … jede Frau hofft, dass die Männer aus ihrer Familie heil zurückkehren. Aber alle sehnen bestimmt das Ende dieses Kriegs herbei.” Frau Rüter wollte etwas erwidern, schluckte es aber herunter und erhob sich. „Wir werden Sie auf dem Laufenden halten, sobald wir Näheres wissen. Ach, bevor ich’s vergesse: Ich soll Sie von Pastor Ackermann grüßen; dem bin ich eben begegnet, er war wieder 46 47 einmal auf dem Weg zu …, aber das wissen Sie ja. Er lässt Ihnen ausrichten, dass Luise beim Konfirmationsgottesdienst singen soll, und noch etwas, ja, er huste schon fast so gut wie Herr Landwehr.” Karl hatte im Nebenzimmer, wo er über seinen Schulaufgaben hockte, natürlich alles mitbekommen. Sobald unten die Tür ins Schloss fiel, stand er auf und ging in die Küche. Dort fand er aber nur Ida und Helga. „Stell dir vor, Karl”, hob Ida an. „Hab jedes Wort gehört.” „Na, begeistert scheinst du gerade nicht zu sein. Wenn mein Vater morgen nach Hause käme, ich würde vor Freude an die Decke springen.” Karl beugte sich zu Helga herab, die an seinen Beinen Halt suchte, während Ida begann, Zwiebeln in feine Würfel zu schneiden. Sofort stiegen ihm Tränen in die Augen. „Komm, Helleken, sagte er, ich mag Zwiebeln ja gern, aber lieber nicht roh, und außerdem jetzt muss ich dir dringend was beibringen.” Er nahm seine kleine Schwester auf den Arm und trug sie ins Wohnzimmer. Am Schreibtisch der Mutter blieb er stehen und deutet mit dem Kinn auf das Foto, das darüber in Augenhöhe an der Wand hing. „Mommo”, sagte Helga und klatschte in die Hände. 48 „Ja, das ist die Mutter im Sonntagsstaat, mit dem schönen großen Hut, der ihr so gut steht, mit der Jacke und dem langen Rock aus schwarzem Tuch und der Spitzenbluse mit dem hohen Kragen. Schau mal, sie hat einen Regenschirm in der Hand, obwohl es gar nicht regnet; die Aufnahme hat nämlich ein Fotograf in seinem Atelier gemacht, und die Bäume im Hintergrund sind nur gemalt, obwohl sie ja wirklich ganz hübsch echt aussehen.” Helga steckte Karl ihren Zeigefinger in den Mund, und er lachte. „Der Mann daneben in der Uniform mit den Schulterklappen und der Schirmmütze, das ist der Vater als Kanonier. Den hast du nur einmal gesehen bis jetzt, ich bin aber sicher, dass du dich nicht an ihn erinnerst, denn da wurdest du gerade getauft. Er hat einen flotten Schnäuzer, der kitzelt, wenn er einem einen Gutenachtkuss gibt. Und” – Karl machte eine bedeutungsvolle Pause – „der Schnäuzer gefällt allen Damen. Nun sag mal ,Vater’.” „Pap, Papap.” „Klingt nicht schlecht. Wir werden’s halt üben. Und jetzt sag mal: ,Karl’.” „Ach, das Väterken, das Väterlein, der Friedrich-Vater kommt wieder!” Luise tanzte mit den Noten der Beethovensonate, die sie gerade spielte, um den Tisch herum, an dem Karl wieder Platz 49 genommen und über einer Mathematikaufgabe gebrütet hatte, als seine Schwester ins Zimmer gestürmt war. „Du hast gut reden”, brummte er und stützte den Kopf in die Hände. „In der Schule zählst du ja auch nicht gerade zu den Besten, aber dafür kannst du singen und Klavier spielen, viel besser als Fräulein Bröker, finde ich.” Luise blieb stehen. „Hast du Angst?”, fragte sie nur. „Na ja, entweder hat Mutter ihm schon geschrieben, dass oft nur Genügend unter meinen Mathematikarbeiten steht, und in Latein … ich meine, sie hat ja immer gesagt, dass sie ihm eigentlich nichts erzählt, was ihm Sorgen machen könnte; oder er kriegt’s in null Komma nichts spitz.” „Er wird doch gar keine Zeit haben, sich um deine Zensuren zu kümmern”, meinte Luise und versuchte, so viel Überzeugungskraft wie möglich in ihre Worte zu legen. „Sie holen ihn zurück, damit sie die Steckrübenmarmelade nicht wegzuwerfen brauchen, und da wird ihm etwas einfallen müssen. Frau Landwehr hat im Depot gehört, also da, wo die Elektrischen nachts abgestellt werden, sie hätten unwahrscheinliche Mengen eingekocht – wenn man alle Behälter nebeneinander und übereinander stapelt, so viel wie ein ganzes Haus.” Karl brütete weiter vor sich hin und malte die Zahlen seiner Mathematikaufgabe nach, während Luise die Noten auf dem Klavier ablegte und schon die Türklinke in der Hand hielt, als sie sich noch einmal umwandte. „Übrigens, du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen. Vater hat ja selber die Reifeprüfung nicht abgelegt; er ist schon zu Ende der Quarta abgegangen.” Karl starrte seine Schwester an. „Woher weißt du das denn?” „Ach, einiges hat er mir selber erzählt, ich bin ja schließlich seine Lieblingstochter, und den Rest … ich hab halt ein wenig in den Schubladen herumgestöbert.” Ob Luises Stimme nur geheimnisvoll oder auch ein bisschen patzig klang, vermochte Karl nicht so recht zu entscheiden. Aber er blickte seine Schwester erwartungsvoll an, und sie fasste auch bereitwillig zusammen, was sie da herausgefunden hatte. „Vater und sein Bruder Wilhelm, der war ein paar Jahre älter, haben zuerst die Oberrealschule besucht. Sie wohnten damals in Detmold – das hast du nicht vergessen, oder? Dort hatte ihr Vater einen Kolonialwarenladen und verdiente nicht schlecht. Deswegen hat er seine beiden Söhne wohl auch auf diese Oberrealschule schicken können; es kostete ja was, genau wie jetzt.” Karl senkte den Kopf und schämte sich, weil er das vor ein paar Stunden noch nicht gewusst hatte. „Und dann starb er plötzlich. Die Großmutter, die aus Detmold, konnte das Schulgeld nicht weiter bezahlen, und deshalb wurden Vater und sein älterer Bruder, der ist aber schon lange tot, in die Lehre gegeben.” 50 51 „Ach, das meinte Tante Dahm neulich, als das neue Lehrmädchen sagte, bei so schönem Wetter würde sie samstags lieber spazieren gehen, und Tante Dahm wies sie zurecht, also eigentlich hat sie Maria fast angebrüllt, in den Gemischtwarenläden hätten die Lehrlinge abends bis zehn Uhr arbeiten müssen und am Sonntagmorgen auch.” „Sein Lehrherr muss aber sehr zufrieden mit Vater gewesen sein, denn ihm wurde das vierte Jahr erlassen. Außerdem hat er eine Handelsschule besucht. Was man da lernt, hab ich nicht so genau verstanden; aber vielleicht zeig ich dir mal, wo Vaters Zeugnisse aufbewahrt werden, und du wirst draus schlau. Auf jeden Fall hat man da keinen Lateinunterricht, und es gibt ein Fach, das heißt ,kaufmännisches Rechnen’; wahrscheinlich ist das etwas anderes als Mathematik.” „Aber schlecht in der Schule war er eben doch nicht”, meinte Karl, und Luise schlug beide Hände zusammen. „Dir ist einfach nicht zu helfen. Nun warte doch wenigstens mal ab.” „Ach, Helleken”, sagte sie dann fröhlich, „komm mal auf meinen Schoß; du darfst ein ganz kleines bisschen mit Henriette spielen.” Karl verzog das Gesicht zu einem Grinsen „Fritz und ich haben da so eine Idee. Wir wollen einen Wettkampf veranstalten, also wer besser sprechen kann, Hildegard oder unser Helleken. Ich wette, Helleken gewinnt. Komm, sag mal ,Vater’.” Ida steckte den Kopf durch die Tür und bat die Geschwister, kurz auf Helga aufzupassen; sie müsse jetzt den Tisch fürs Abendbrot decken, denn Teller hätten sie auf jeden Fall noch. Karl schaute ihr ratlos nach und fragte, was sie denn damit wohl meine, und Luise nickte wissend, beschränkte sich allerdings darauf, etwas von Lebensmittelknappheit zu murmeln. 52 53 Im rechten Arm trug Helga die Schultüte, ihre linke Hand lag in der ihres Vaters. Sie war stolz und froh, dass er die Zeit gefunden hatte, sie zur Einschulung zu begleiten, denn er hatte immer so viel zu tun, dass sie ihn oft nicht einmal beim Abendessen zu Gesicht bekam. Aber heute – darauf hatte er Wert gelegt und den Tag auf seinem Terminkalender rot eingerahmt – hatte er mit den anderen Eltern im Schulhof gestanden und gewartet, bis die Frau Rektor ihre kurze Ansprache beendet hatte. Eigentlich stimmte das mit den Eltern nicht, denn außer ihrem Vater hatte sie nur drei Männer gesehen, einen mit ganz weißen Haaren und einen mit einem Holzbein; der dritte war ihr Klassenlehrer, Herr Reckefuß, und der ging schon ganz krumm. Am ersten Schultag hatten sie noch nichts gelernt. Helga war ein bisschen enttäuscht, denn sie hatte ihren Schulranzen – Karl nannte ihn ,Tornister’ – umsonst gepackt. Neu war er natürlich nicht. Luise hatte ihn so lange verwendet, bis sie aufs Lyzeum in der Viktoriastraße überwechselte und ihre Bücher in eine Aktentasche stopfte. Aber den Ranzen der anderen Kinder sah man auch an, dass sie nach unten weitergereicht worden waren. Herr Reckefuß hatte aufgezählt, was sie unbedingt mitbringen müssten, doch das wusste Helga natürlich längst: ihre Schiefertafel mit einem Schwämmchen, einen Griffel, die Fibel zum Lesenlernen und, wenn sie so etwas zu Hause hätten, einen Rechenrahmen. Dass sie schon ein wenig lesen konnte, hatte Helga natürlich für sich behalten, und sie war auch rot geworden, als Herr Reckefuß ihren Namen aufgerufen hatte. Vor ihr waren viele andere Kinder aufgestanden, Albers Ernst August zuerst und dann ein Mädchen, Beckmann Margarete Johanna Elfriede; die meisten hatte sie schon auf der Straße oder in der Kirche getroffen, und Herta Dennersmann kannte sie sogar etwas besser. Aber als Herr Reckefuß dann Schulte Helga Friederike Karoline von dem Buch auf dem Pult ablas, war sie zusammengeschreckt. „Ich sehe, du hast am Heiligen Abend Geburtstag”, fügte Herr Reckefuß noch hinzu, nachdem er gefragt hatte, ob sie auch wirklich in der Schillerstraße wohne, und sie wäre am liebsten im Boden versunken, weil sogar die Jungen, die sich ganz nach hinten gesetzt hatten, plötzlich zu ihr hinstarrten. Wenn doch wenigstens Hildegard neben ihr stünde – die war zu Sylvester geboren, und darüber hätte der Lehrer gewiss auch ein paar Worte verloren. Der Junge, der Ernst August Albers hieß, flüsterte ihr zu, ob sie etwas mit den Schultes von der Bonbonfabrik zu tun hätte. Helga stellte sich taub, aber da zischte jemand schon die Antwort. „Au, dann bringst du aber sicher mal Klümpkes mit!”, meinte Ernst August, während sein Nachbar das Gesicht zu einem 54 55 4. Kapitel: Ostern 1922 Grinsen verzog und wisperte, das sei auf jeden Fall besser als Steckrübenmarmelade. Genau in dem Augenblick erhob sich Herr Reckefuß von seinem Stuhl, stützte sich mit beiden Händen aufs Pult und blickte sehr streng in die Ecke, wo die beiden Jungen saßen. „Bevor ich’s vergesse”, sagte er und griff nach einem Stöckchen, das Helga bislang noch gar nicht bemerkt hatte; es musste aber die ganze Zeit schon in der Querrille mit dem darin eingelassenen Tintenfass gelegen haben. „Hier ist ein Gegenstand, den ich nie vergesse. In der Schule wird gelernt, und Lernen kann man nur, wenn man aufpasst. Damit euch das nicht zu schwer fällt, muss eiserne Ruhe herrschen. Ist das klar? Notfalls sorgt das Stöckchen dafür, dass der Mund zubleibt. In der Pause könnt ihr euch dann austoben, aber im Klassenzimmer ist Schweigen Gold.” Gold gab ich für Eisen, dachte Helga, das hatte der Vater ihr erklärt, als sie ihn gefragt hatte, was da auf der Kette seiner Taschenuhr geschrieben stehe. Aber jetzt wollte sie doch lieber achtgeben und sich die Namen der anderen Kinder einprägen. „In den nächsten Wochen” – seine Stimme klang eigentlich so, als drohte er ihnen – „wird sich herausstellen, wohin jeder von euch wirklich gehört, nach vorn oder nach hinten auf die Faulenzerbänke.” Helga war plötzlich froh, dass der Vater draußen im Hof auf sie wartete. Von all den Fragen, die in ihrem Kopf durcheinander schwirrten, sprach sie auf dem Heimweg nur eine aus. „Vater, warum geht Hildegard nicht in dieselbe Schule wie ich?” Sie sprach absichtlich lauter als sonst, weil ihr Vater, wie er zu sagen pflegte, seit der ,Kanonerei’ schlecht hörte, aber nicht schlecht genug für ein Hörgerät. Seine Finger schlossen sich kurz etwas fester um ihre Hand. „Blankensteins sind nicht evangelisch, auch nicht katholisch, sondern jüdischen Glaubens. Deshalb ist Fritz früher in die jüdische Volksschule gegangen, so wie Hildegard jetzt. Wenn ihr beide in ein paar Jahren die Aufnahmeprüfung besteht, werdet ihr den gleichen Schulweg haben, wahrscheinlich wie Luise zum Lyzeum in der Viktoriastraße, und da könnt ihr nebeneinander sitzen, soviel ihr wollt.” Ihr Vater strich sich einmal über den Kopf. „Du weißt ja, dass Eugen, Onkel Blankenstein, zu meinem engsten Freundeskreis zählt. Wir kennen uns schon, seitdem ich damals aus Detmold nach Hagen gezogen bin. Da arbeitete er bereits im Betrieb seines Vaters. Früher stellten sie nur Werkzeuge her, Schraubenschlüssel und Zangen zum Beispiel, wie jetzt auch noch; aber inzwischen machen sie zusätzlich Werkzeugmaschinen. Seid ihr noch nie durch die Fabrikhalle gegangen, Hildegard und du, so ganz heimlich nach Feierabend? Ehrlich nicht?” Er hielt inne und blieb gleichzeitig stehen. 56 57 „Bin ich doch mal wieder vom Hölzken aufs Stöcksken gekommen. Eigentlich wollte ich dir erzählen, dass selbst die besten Freunde nicht alles gemeinsam tun. Onkel Blankenstein ist zum Beispiel Mitglied im Sauerländischen Gebirgsverein, während ich nicht zu den leidenschaftlichen Wanderern zähle. Doch viele Dinge verbinden uns, und so wie ich bei der Beerdigung seines Vaters in Eilpe anwesend war, ist er zu Karls Konfirmation mit in die evangelische Kirche gegangen, übrigens nicht nur er, Tante Blankenstein auch. Jetzt müssen wir aber machen, dass wir nach Hause kommen”, sagte er abschließend und drückte noch einmal Helgas Hand. „Die Mutter und Ida wollen gewiss hören, wie es dir an deinem ersten Schultag ergangen ist, und heute Nachmittag kannst du mal nachschauen, ob Hildegard etwas anderes als du in ihrer Schultüte gefunden hat, nicht wahr, wenn sie nicht inzwischen in Rudolfs Hände gefallen ist.” Hildegard und Helga hockten im Kinderzimmer auf dem Boden, vor sich den Inhalt ihrer Schultüten. „Nicht, Rudolf! Mutter hat gesagt, dass wir dir keine Bonbons geben sollen, weil du daran ersticken würdest. Hier, nimm mal den Lutscher, der ist zu groß, den kannst du nicht verschlucken.” Rudolf ließ sich auf den Boden plumpsen und schleckte so laut, dass es nicht zu überhören war. 58 „Du hast samstags wirklich keine Schule?”, fragte Helga und konnte sich nicht entscheiden, ob sie nun neidisch sein sollte oder nicht, denn sie zählte darauf, endlich nicht mehr ,Helleken’ gerufen zu werden, wenn sie lesen und schreiben könnte, und deswegen wollte sie beides so rasch wie möglich lernen. Hildegard schüttelte den Kopf mit den dunklen Locken, die noch dichter wuchsen als die von Fritz, und steckte eine Karamelle in den Mund. „Die habt ihr vor dem Krieg schon gemacht, hat mir meine Mutter erzählt. Das waren ihre Lieblingsbonbons, die mit dem gelb-roten Streifenpapier. Samstags gehe ich nicht in die Schule, da feiern wir Sabbat, halt wie ihr am Sonntag nicht arbeitet; aber dafür muss ich manchmal nachmittags hin, genau weiß ich noch nicht wann, um Hebräisch zu lernen.” Helga wollte gerade fragen, was das sei, aber Hildegard machte sich ein bisschen wichtig und erklärte, in der Sprache seien die Thora, also die fünf Bücher Mose, abgefasst und auch der Talmud. „Ihr habt dafür das Alte und das Neue Testament”, fügte sie hinzu. „Aber die sind doch auf Deutsch geschrieben”, wandte Helga ein, „da braucht man keine andere Sprache zu lernen!” In diesem Augenblick stürmte Luise herein, warf einen Blick auf die Uhr an der Wand und sagte nur: „Raus. Ich muss üben.” 59 Ihr Kopf war knallrot, und Helga kniff die Augen zusammen; es sah so aus, als hätte Luise geweint. Hildegard fegte mit einer geschickten Bewegung alles, was auf dem Boden lag, zu einem kleinen Haufen zusammen, während Helga die beiden bunt verzierten Schultüten vom Klavier holte, wo sie vor Rudolfs klebrigen Fingerchen in Sicherheit gebracht worden waren. Helga hatte das Kinderzimmer mit Rudolf an der Hand bereits verlassen, als Hildegard sich in der Türöffnung noch einmal umdrehte und Luise von unten ansah. „Ich übe auch jeden Tag Geige. Aber so zu brüllen brauchst du nicht. Wir haben dir nichts getan.” Das hätte ich mich nie getraut, dachte Helga und wusch Rudolf zunächst einmal die Hände. Es mochte halb sechs sein, jedenfalls noch nicht Abendessenszeit. Helga saß im Lieblingssessel ihres Vaters mit Rudolf auf dem Schoß, hielt seine Rechte und strich über die Handfläche: Hier haste ‘nen Taler, geh kauf dir ’ne Kuh, ‘nen Kälbchen dazu, das Kälbchen hat ein Schwänzchen, macht diddel diddel diddel dänzchen. Rudolf lachte jedes Mal hell auf und bekam offensichtlich nicht genug davon. Im Kinderzimmer übte Luise immer noch ein Stück, das man wohl sehr laut spielen musste, fortissimo, hatte sie Helga einmal erklärt. 60 „Na, hast du deine Schulaufgaben schon gemacht, Hel leken?”, erkundigte sich Karl, warf seine Tasche auf den Boden und stellte gleich die zweite Frage. „Wer ist denn euer Lehrer?” „Herr Reckefuß.” Helga blickte ihren Bruder erwartungsvoll an; sie mochte ihn lieber als Luise, weil er sie zwar manchmal auf den Arm nahm, wie er es nannte, ihr aber ansonsten geduldig zuhörte, vor allem, wenn sie wieder einmal einen Rat brauchte. Außerdem schnitt er bei den Vergleichen, die sie zu anderen großen Brüdern anstellte, wirklich gut ab: Er war dem Vater bereits über den Kopf gewachsen, trug sein dickes blondes Haar links gescheitelt und hatte blaue Augen, die er, anders als Fritz Blankenstein, nicht hinter einer Brille zu verstecken brauchte. Neuerdings zog er immer häufiger lange Hosen an. Er war ja auch schon sechzehn Jahre alt. Besonders gefiel ihr, dass er mit Rudolf rau, aber herzlich umging, ihn jedesmal, wenn er nach Hause kam, in die Arme nahm und dann in die Luft warf, bis sein Brüderchen vor Vergnügen quietschte. Luise hingegen hatte, als Rudolf vor fast zwei Jahren geboren wurde, nur zu Helga gesagt, jetzt werde sie ja sehen, wie das sei – ein kleiner Bruder, um den sich alles drehe. Aber es war anders gekommen; Helga liebte Rudolf so sehr, dass sie jedes Mal überrascht fragte, wovon denn da die Rede sei, wenn jemand die abstehenden Öhrchen ihres Bruders erwähnte. Die gehörten dazu, ebenso wie seine Anhänglichkeit – Ida nannte ihn oft ,unser Klettchen’. 61 „Reckefuß?” Karl steckte eine Hand in die Hosentasche, zog sie aber gleich wieder heraus. „Ich dachte, der sei längst pensioniert. Als ich in die erste Klasse kam, war er gerade in den Ruhestand versetzt worden. Aber ich vermute mal, sie haben ihn zurückgeholt, weil sie nicht einmal genug ausgebildete Lehrerinnen haben, von Lehrern ganz zu schweigen.” Er strich eine Haarsträhne aus der Stirn und setzte sich auf die Tischkante. „In der Bergstraße haben sie eine Tafel angebracht, auf der stehen die Namen der Leute, die im Krieg gefallen sind. Dazu kommen die Vermissten und die Gefangenen. Und außerdem” – sein Gesicht war sehr ernst geworden – „gibt es Leute wie Dr. Merkenfeld und Oberstudienrat Meyer; bei dem einen hängt der linke Ärmel leer herunter, der andere humpelt, weil er mit einem steifen Bein zurückgekehrt ist. Der Meyer soll ein toller Sportler gewesen sein, Langstreckenlauf. Deswegen habe ich auch bei dem Streik 1919 nicht mitgemacht, wo so ein paar Vollidioten aus der Sekunda und der Prima darauf bestanden, das Kaiserbild sollte hängen bleiben.” „War denn der Kaiser an dem Krieg schuld?”, fragte Helga. Karl schreckte zusammen, als ob ihm erst jetzt klar würde, dass er mit seiner sechseinhalbjährigen Schwester redete, aber dann zuckte er mit den Schultern. „Wir sprechen natürlich im Geschichtsunterricht darüber, und mit Vater habe ich mich auch schon oft darüber unterhalten. Ich glaube, da ist vieles zusammengekommen. Vater meint zum Beispiel, alle Soldaten, die Engländer, die Franzosen, die Deutschen und Österreicher, auch die Russen hätten fest daran geglaubt, dass sie für die gute Sache kämpften, also dass das Recht auf ihrer Seite sei. Aber auf jeden Fall ist Deutschland jetzt eine Republik, und der Kaiser sitzt in Doorn. Apropos Sitzen: Wer ist denn deine Banknachbarin, und kenne ich wen aus deiner Klasse?” Er schien wieder etwas in seiner Hosentasche zu suchen, hörte Helga aber aufmerksam zu. „Herta Dennersmann … Gerda Schnettler aus der Eichendorfstraße, sagt dir das etwas? Ein Mädchen finde ich noch ganz nett, Ilse Fandrey heißt sie, ich glaube, sie kommt aus dem Kaschubenland, und sie spricht nicht so wie wir hier.” Sie errötete, weil sie sich an das erinnerte, was sich am Vormittag abgespielt hatte. „Ernst August Albers, kennst du den?” Karl brach in Lachen aus. „Und ob. Das ist der kleine Bruder von Johann, der bei mir in der Klasse war. Unser Lehrer hielt damals sein Stöckchen immer schon griffbereit, wenn Johann sich auch nur nach rechts oder links beugte. Jetzt macht er eine Lehre bei Plates in der Federnfabrik und wirkt ganz vernünftig. Ich sehe ihn 62 63 manchmal, und nach dem, was er so erzählt, ist sein kleiner Bruder ein besonders freches Stück. Hat er dir was getan?” Helga schüttelte den Kopf und blickte auf ihre Schuhspitzen. „Hör mal zu, Helleken. Wenn einer dir was will, selbst so ein Kathole aus der Eckeseyer Straße, dann sagst du’s mir, ja? Nicht beim Lehrer petzen, das tut man nicht; aber mir kannst du’s anvertrauen. Überhaupt, petzen …” Karl führte den Satz nicht zu Ende, und Helga zerbrach sich den Kopf, was er wohl gemeint haben könnte, als nebenan mit einem Riesenkrach der Klavierdeckel heruntergeschmettert wurde und kurz darauf die Haustür ins Schloss fiel. Durch das geöffnete Fenster hörte Helga das Lachen der Frauen und Mädchen, die durchs Hoftor auf die Schillerstraße hinausströmten. Aus den wenigen Arbeiterinnen waren viele geworden – zu schätzen vermochte Helga die Zahl allerdings nicht; sie würde Karl fragen oder den Vater. Da, wo sie als ganz kleines Mädchen noch in den kniehohen Grundmauern Verstecken, auch mal Räuber und Schanditz gespielt hatte – eigentlich: Gendarm, wie sie jetzt wusste –, war in wenigen Monaten ein zweistöckiges Gebäude aus dem Boden gewachsen, das sich nach und nach mit riesigen Metallbehältern für Sirup und Rohzucker, Maschinen und Mischtischen mit Waagen darauf füllte. Die Bonbonkocherei, deren schwenkbare Kupferkessel Helga eigentlich am besten gefielen, war vor Kurzem auch in 64 den Neubau umgezogen, sodass unten im Haus Platz für ein weiteres Büro frei geworden war. Wenn die neue Sekretärin, die Lange hieß und auch lang war, wie Luise schnippisch bemerkt hatte, auf ihrer Schreibmaschine klapperte, hörte man es bis ins Kinderzimmer. Aber jetzt hatte Herr Mauritz das Hoftor geschlossen, und Luise war immer noch nicht zurückgekehrt. Hoffentlich kam sie rechtzeitig zum Abendessen nach Hause! Helga fühlte sich unbehaglich wie immer, wenn Spannungen in der Luft lagen. Ob Luise sich mit der Mutter gestritten hatte? Meistens bekam sie das ja nicht mit, weil sie viel früher als ihre großen Geschwister zu Bett geschickt wurde, aber Karl erwähnte manchmal, da habe es wieder einmal tüchtig gefunkt. Jemand klopfte einmal an die Tür und trat fast gleichzeitig ins Zimmer. „Entschuldige, Helleken, aber ich suche deine Mutter.” Fräulein Dahm hatte es offensichtlich sehr eilig, und Helga fuhr richtig zusammen. So stotterte sie auch nur, sie habe ihre Mutter seit mindestens zwei Stunden nicht gesehen, aber jetzt sei Abendbrotzeit, da werde sie wahrscheinlich nach Hause kommen. „Sag ihr bitte, sie solle einen Sprung ins Kontor machen, um den Bewerber für den Vertriebsleiterposten in Augenschein zu nehmen.” „Den was, Tante Dahm?” 65 „Ich erklär’s dir ein andermal. Ach, da ist sie ja”, sagte Fräulein Dahm vom Fenster her und verließ das Kinderzimmer so schnell, wie sie gekommen war. Noch einmal öffnete sich die Tür, diesmal aber ohne jede Hast. Ida hielt Rudolf auf dem Arm und bat sie, ihr in die Küche zu folgen. „Die gnädige … also ich füttere Rudolf, und du isst mit uns deine Reibekuchen. Sie haben eine Besprechung im Büro, Karl ist bei Blankensteins eingeladen, und Luise …” Helga verspürte genau so ein Unbehagen wie vorhin schon. Aber sie erkundigte sich nicht, was mit Luise war. Vielmehr ging sie hinter Ida her und fragte, mit wem ihre Eltern und Fräulein Dahm denn da unten im Kontor säßen. „Tante Dahm sagte was von einem Vertriebenen, so einem wie die Ilse Fandrey in meiner Klasse, von noch weiter weg als Ostpreußen.” Ida lachte, bestrich Helgas Reibekuchen mit Rübenkraut und reichte ihr den Teller. „Ganz genau weiß ich das natürlich auch nicht. So jemanden hatten wir ja noch nie, dein Vater hat bislang alles erledigt, mit der gnä…, also mit deiner Mutter und mit Fräulein Dahm, die ist Prokuristin und darf alle Papiere unterschreiben. Im Krieg haben die Frauen überhaupt alles allein gemacht. Aber jetzt …” – sie setzte Rudolf kurz auf dem Kachelboden ab und füllte Helgas Becher voll mit Malventee –, „seit dem letzten Jahr geht es ja wieder aufwärts; dein Vater, auf den kannst du wirklich stolz sein, der hat im Lebensmittelamt dafür gesorgt, dass kein Hagener verhungerte.” So lange redete Ida eigentlich sonst nie an einem Stück. „Was ein Reisender ist, weißt du ja inzwischen, oder? Der zieht mit einem Musterköfferchen durchs Land und zeigt den Inhabern von Gemischtwarenläden, was unsere Firma herstellt, Hartkaramellen, Hustenkaubonbons, Gläserware wie Himbeeren und so weiter. Und der Vertriebsleiter, so nennt sich das, der führt die Aufsicht über die Reisenden und sorgt dafür, dass sie möglichst viel verkaufen, wenn ich’s recht verstanden habe.” Sie senkte die Stimme und fügte hinzu, dieser sehe sehr nett aus, heiße Bär oder Behr und sei wohl der Bruder von Frau Rosenthal, der Frau vom Doktor, dem sie im Feldlazarett den Schädel trepa…, ein Loch reingebohrt hätten halt und der mit nur einem Arm heim gekommen sei. „Herr Bär oder Behr zieht ein Bein ein bisschen nach”, meinte sie abschließend. „Aber ein Automobil fahren kann er damit; lehn dich mal vorsichtig aus dem Fenster, da unten steht’s.” Dann hob sie beide Hände vor den Mund und seufzte. „Am liebsten würde ich aber doch wissen, was mit Luise ist.” 66 67 Schließlich war Helga doch eingeschlafen. Sie hatte zwar versucht, wach zu bleiben, wenigstens bis Karl von Blankensteins zurückkehrte, denn meistens schaute er noch kurz zu ihr und Rudolf herein und sagte irgendetwas Lustiges, aber dann waren ihr die Augen zugefallen, obwohl sie immerzu an Luise dachte. Sie hörte die Stimmen ihrer Eltern auf einmal ganz deutlich. Kurz war sie versucht, aufzustehen und an der Tür zu horchen, aber so etwas tat nur Luise, die ja auch in andrerleuts Schubladen herumkramte. Außerdem, so stellte sie fest, war das gar nicht nötig. Ihre Eltern sprachen so laut, besonders die Mutter schrie sogar manchmal, dass sie fast jedes Wort verstehen konnte. Karl sei beim Rauchen erwischt worden, von einem Ausschluss solle noch einmal abgesehen werden, falls die schulischen Leistungen bis Weihnachten sich erheblich, aber wirklich er-heb-lich besserten. Dann benutzte die Mutter ein Wort, von dem Helga nur wusste, dass es der Name einer anderen Schule war, weil die von der Bergstraße in einem Sportwettkampf gegen sie angetreten waren und Karl sie zum Stadion auf dem Höing mitgenommen hatte. Plötzlich erinnerte sich Helga daran, wie Karl am Nachmittag mehrmals die Hand in die Hosentasche gesteckt und leer wieder herausgezogen hatte. Ob er eine Schachtel von diesen flachen ägyptischen Zigaretten mit sich herumtrug, damit niemand sie in seinem Zimmer finden konnte? Jetzt hatte sie den Anschluss verpasst, denn sie sprachen nicht mehr von Karl. Deshalb war die Mutter nicht zu finden gewesen! Wenn Helga das richtig mitbekommen hatte, war die Mutter vom Direktor des Oberlyzeums in der Viktoriastraße zu sich bestellt worden. Aber nun hatte sie sich wirklich verhört, das konnte nicht sein: Luise sollte zu Herrn Dr. Möhle gegangen sein und ihm erklärt haben, sie wolle die Schule verlassen und nur noch Klavier spielen. Natürlich konnte sie das gut, Fräulein Bröker hatte ihr einen Platz an der Musikschule besorgt, und alle Leute fanden, Luise sei ein vielversprechendes Talent. Helga bemühte sich, ihre Gedanken zusammenzuhalten. Aber sie konnte sich nicht entscheiden, ob sie zuhören oder sich die Ohren zuhalten wollte. Die Eltern stritten sich nämlich, sogar ihr Vater brüllte; ,brotlose Kunst’, das war ihre Mutter gewesen, ,ihren eigenen Weg’. Dann wurde es etwas leiser, und ganz deutlich vernahm sie erst wieder, was ihr Vater erklärte, nämlich: Sie müssten in aller Ruhe mit Luise das Für und Wider abwägen, mit Luise und nicht in ihrer Abwesenheit. Es gelte jedoch zunächst, in Erfahrung zu bringen, wo sie überhaupt stecke. Helgas Herz klopfte stark. Am liebsten wäre sie aufgestanden und hätte Rudolf ein bisschen in den Armen gewiegt. Außerdem hätte sie gern gewusst, wie spät es war; in der Schule hatte sie festgestellt, dass viele der anderen Kinder die Uhr noch nicht lesen konnten, und sie war ein kleines bisschen stolz gewesen. Aber dazu hätte sie Licht machen müssen, und dann wäre ihren Eltern vielleicht aufgefallen, dass sie gar nicht schlief. Unten wurde einmal ganz kurz an die Haustür geklopft. 68 69 Helga schlug nun doch vorsichtig und rasch die Bettdecke zurück und huschte zum Fenster. Unten stand Frau Landwehr, hinter ihr aufrecht und fest eingehakt Else und Luise. „Mein Mann und ich mussten ihr gut zureden”, sagte sie und schob Luise behutsam nach vorn. Was ihre Eltern erwiderten, konnte Helga nicht verstehen, weil sie beide gleichzeitig sprachen und sowohl Luise als auch Else etwas sagten. Aber es klang eigentlich so, als seien alle erleichtert, und sie kehrte in ihr warmes Bett zurück. Morgen, dachte sie, und woher die in der Schule das mit der Steckrübenmarmelade wissen? 70 5. Kapitel: Hochsommer 1924 Ende Juni, als Karl seinen 18. Geburtstag feierte, hatte Helga im Krankenhaus gelegen, zum ersten Mal in ihrem Leben. Kurz nach dem Straßenbahnunglück in Altenhagen war das gewesen, und Frau Landwehr, die als Schaffnerin zu den Verletzten zählte und auch ins Sankt-Josephs-Hospital eingeliefert worden war, hatte sie eines Tages sogar im Morgenrock besucht und ihr erzählt, wie die Elektrische auf der abschüssigen Straße plötzlich aus den Gleisen gesprungen und auf den Güterbahnhof gestürzt war. Da hatte Helga schon längst kein Fieber mehr und wollte nur wissen, wie Else denn die ganze Zeit allein zurecht gekommen sei, so zwischen ihrer Ausbildung zur Lehrerin und der Versorgung ihres Vaters. Jetzt war sie wieder zu Hause, aber sie sollte sich, hatte Dr. Rosenthal betont, weiterhin schonen, und er hatte auch darauf bestanden, dass sie am 1. August nicht mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern nach Borkum fuhr, sondern sich noch ein wenig in seiner Obhut aufhielt, wie er das nannte. „Dein Vater besucht sie doch in der zweiten Ferienwoche, bei der Gelegenheit kann er dich mitnehmen, und ich vermute, dass die Ergebnisse der Laboruntersuchungen diesmal zufriedenstellend ausfallen, wenn es auch lange gedauert hat, mein Kind”, hatte Dr. Rosenthal gesagt und sein Stethoskop in die große schwarze Tasche gesteckt. 71 Helga mochte Dr. Rosenthal gern; wenn er neben ihrem Bett stand und ihr zuzwinkerte, fühlte sie sich gleich besser. Er war es, der sofort ein Bett für sie gefunden hatte, als sie plötzlich gar nicht mehr wusste, was mit ihr geschah, und sie, wie Karl ihr hinterher erzählte, lauter dummes Zeug geredet hatte. „Bei über vierzig Grad Fieber ist das ja auch kein Wunder”, hatte er hinzugefügt, „ich dachte immer, da stürbe man schon.” Dr. Rosenthal, so hatte sie beobachtet, erledigte alles mit der rechten Hand. Das war manchmal gar nicht so einfach; er musste zum Beispiel den Schreibblock mit einem Buch beschweren, weil er ihn nicht festhalten konnte – der linke Ärmel seines Jackets hing nämlich leer herunter, manchmal war er auch hoch gesteckt. „Kindchen, ich lese die Frage in deinen Augen”, hatte er bei seinem ersten Hausbesuch nach ihrer Rückkehr aus dem Krankenhaus gemeint. „Dein Vater hat dir vielleicht erzählt, dass ich in verschiedenen Lazaretts eingesetzt worden bin; Lazarett nennt man die Krankenhäuser, in der Regel waren das Zelte, wo die verwundeten Soldaten zunächst einmal versorgt wurden, bevor sie gegebenenfalls ins Hinterland, weiter weg von der Front, transportiert und dort kuriert wurden. Auf die Dächer dieser Lazarette war immer ein unübersehbares rotes Kreuz gemalt, was eigentlich bedeutete, dass darauf nicht geschossen werden durfte. Aber erklär das mal einem Artilleristen, der dreißig oder vierzig Kilometer davon entfernt seine Granaten in die Kanone füttert.” Er strich einmal mit seiner Hand durch sein dichtes weißes Haar und richtete sich auf. „Trotzdem können wir beide von Glück sagen, kleine Helga, dass wir noch einmal davongekommen sind. Ich hätte ja nicht nur einen Arm, sondern das Leben auf dem Feld der Ehre ...” Dr. Rosenthal hielt inne, und nach der Pause klang seine Stimme ganz anders, nicht mehr so scharf, eher fröhlich. „Kurzum, ich bin nicht auf der Strecke geblieben und du auch nicht, trotz des harten Winters und der Lungenentzündung, die du vermutlich unter normalen Umständen gar nicht aufgeschnappt hättest.” Es schien Helga, als hätte Dr. Rosenthal wieder vergessen, wo er war. Er starrte nämlich aus dem Fenster und murmelte vor sich hin, all die Leute in ganz Europa hätten auch nicht an der Spanischen Grippe sterben müssen, wenn sie vom Krieg nicht so geschwächt gewesen wären. Das hatte sie ganz genau gehört, aber was es bedeutete, konnte sie wiederum nur raten. „Kurzum, mein Kind: Wir beide sind Glückspilze, du natürlich ganz besonders, weil du nach Borkum fahren darfst.” Auch darunter konnte Helga sich nicht viel vorstellen, obwohl Karl gestern Abend auf ihrem Bett gesessen und ihr vorgeschwärmt hatte, wie schön es dort sei. „Zuerst kommt die Zugfahrt, die ist ziemlich lang, bis Emden Außenhafen; ich hab vergessen, wieviele Stunden das dauert. Aber immerhin reisen wir zweiter Klasse, nicht dritter oder 72 73 vierter mit dem Federvieh. Dann geht’s weiter mit dem Schiff. Auf der Insel können wir laufen: Die Villa Irene liegt nicht weit von der Reede entfernt, und die Koffer holt ein Bursche in einem Karren. Was das ist, eine Reede? So nennt man den Ort, wo das Schiff anlegt. Sei nicht traurig, in einer Woche kommst du doch nach.” Karl musterte sie. „Ich vermute mal, dass dir Borkum gut tun wird. Warum du nicht gleich mitfährst, verstehe ich übrigens nicht so ganz; Leute, die Tuberkulose haben, schicken sie ja in die Alpen, aber du hattest doch bloß eine Lungenentzündung. So dünn, wie du geworden bist, und so blass auch … Auf der Insel bläst ein salziger Wind mit viel Jod drin, und Mutter wird wohl darauf bestehen, dass du zuerst im Strandkorb bleibst und dich schonst, aber dann lässt sich dich bestimmt auch baden, na ja, vielleicht nicht gleich am ersten Tag. Doch eine Sandburg darfst du sicher bauen und gewiss auch Muscheln sammeln. Luise hat ja für solche Sachen nichts übrig, aber Rudolf freut sich bestimmt – und ich mich auch”, fügte er hinzu und erhob sich. „Ich muss Ida noch fragen, ob sie meine weißen Hosen gebügelt hat. Die brauche ich nämlich unbedingt.” Er schnitt eine Fratze. „Du bist zwar erst acht und ein paar kaputte, aber ich … da gibt es hübsche Mädchen.” Karl machte eine Pause und beugte sich dann zu Helga hinunter. „Nicht weitersagen, du weißt ja, das mit dem Petzen. Ich hab da so eine Idee, als ob Luise sich mit wem aus Köln verabredet hätte.” Er grinste von einem Ohr zum anderen. „Was wetten wir, Helleken?” 74 75 Luise hatte heute Morgen ganz früh nur den Kopf durch die Tür gesteckt. „Na, wie fühlst du dich? Traurig? Brauchst du nicht zu sein. Ich würd gern mit dir tauschen. Für jemanden in meinem Alter ist es furchtbar, mit der Familie zu verreisen. Sie erwarten, dass man vor Dankbarkeit auf den Knien rutscht, weil letztes Jahr … Du hast das nicht so recht mitbekommen, weil du zu jung warst, aber wegen der politischen Unruhen und noch dazu den französischen Truppen in Vorhalle lief einfach gar nichts. Bei denen hätte ich übrigens gern mal meine Sprachkenntnisse ausprobiert – ob etwas von der Schule hängen geblieben ist, zum Beispiel Voulez-vous danser avec moi?” Sie warf ihrer kleinen Schwester eine Kusshand zu und verschwand lachend. Wieder war es Karl gewesen, der Helga erzählt hatte, was sich bei Luises Ankunft abgespielt hatte. Luise studierte ja, oder wie man das nannte, seit zwei Jahren an der Musikhochschule Köln und wohnte bei einer Großtante väterlicherseits, die Helga nie zu Gesicht bekommen hatte; aber an das nächtliche Gespräch, den Krach zwischen ihren Eltern erinnerte sie sich noch sehr genau. Was Karl ihr brühwarm berichtet hatte, passte gut dazu: Luise hatte sich nicht nur die wunderschönen dicken Zöpfe abschneiden lassen und trug jetzt einen Bubikopf, sondern pflegte auch, trotz der Einwände ihrer Verwandten, Einladungen von jungen Männern anzunehmen und sowohl Foxtrott als auch Onestep zu tanzen. „Kann sie gut”, hatte Karl hinzugefügt, „also wirklich, das muss ich ihr lassen, passt aber dazu … Sie spielt ja so gut Klavier, dass die Leute an der Musikhochschule sie sofort aufgenommen haben, und singen kann sie auch noch. Deshalb hat sie’s gleich gelernt, diesen Tango ebenfalls – kommt aus Argentinien. Mir fehlt, ganz ehrlich, das geeignete Mädchen dazu.” „Ilse Fandrey aus meiner Klasse, sie stammt aus der Kaschubei, kann auch tanzen”, warf Helga ein. „Ich meine, sie nimmt Ballettunterricht, Spitzentanz und ... ”– sie zögerte ein wenig –, „die Bewegungen haben alle französische Bezeichnungen, irgendwas mit pa de und eschappee, die hab ich vergessen. Ilse will später Tänzerin werden, so richtig an der Oper, Schwanensee und Coppelia.” Helga war ein wenig stolz darauf, sich wenigstens die Namen gemerkt zu haben, und sie freute sich, als Karl nickte. „Ja”, sagte er, „das mag sein, ist aber etwas ganz anderes. Foxtrott und Tango tanzt man immer zu zweit, jeweils ein Mann mit einer Frau, und” – er überlegte kurz – „angezogen ist man dabei ganz normal, nicht mit einem Tütü. Aber du hättest mal die Mutter sehen sollen, als Luise mit diesem kurzen Kleid durch die Tür trat, und dazu noch die Frisur. Vater hat ebenfalls geschluckt, aber dann meinte er, manche von den Krankenschwestern in den Lazaretten hätten das Haar auch kurz getragen, weil es praktischer war. Meine Frau, also wenn ich mal heirate, muss langes Haar haben, am liebsten blond und bis zum Gürtel.” Helga hatte ihren großen Bruder angeblickt und war ein bisschen traurig geworden. Sie selber hatte nämlich dunkle Locken, wenn auch nicht so krause wie ihre beste Freundin Hildegard Blankenstein. 76 77 Wenigstens brauchte Helga nicht mehr im Bett zu liegen. Ida hatte ihr das Sofa im Wohnzimmer hergerichtet und außerdem alle Türen offen stehen lassen, sodass sie sich nicht so allein fühlte. Jetzt zog sie gerade den Vorhang des Regals neben der Standuhr zur Seite und hob behutsam den Stapel mit Schellackplatten heraus. Rudolf hatte neulich eine davon zu Boden fallen lassen, und sie war in tausend Stücke zersprungen. Das sollte ihr nicht passieren, denn sie wusste, wie sehr ihr Vater daran hing. Sie nahm eine nach der anderen in die Hand. Jede steckte einzeln in einem Packpapierumschlag mit einem herausgestanzten Loch in der Mitte, sodass man mit den Fingern nicht die Rillen berührte und trotzdem lesen konnte, was auf dem runden Etikett in der Mitte geschrieben stand, Argonnerwald zum Beispiel oder Sambre et Meuse, auch die Ouvertüre von Guillaume Tell. Ihr Vater hatte ihr gestattet, die Platten auf dem Phonographen abzuspielen. „Ich weiß ja”, hatte er gesagt, „dass du sorgfältig damit umgehst, mein Helleken.” Wie ein Lob klang das und gleichzeitig wie eine Ermahnung. Während die ersten Töne des Liedes, das Argonnerwald hieß und nur von Männern gesungen wurde, aus dem Trichter drangen, hockte sie sich vor die kleine Kommode zwischen den beiden Fenstern zur Schillerstraße und holte das Album mit den Fotos aus dem Krieg hervor. Wenn sie immer wieder neue Platten hätte auflegen wollen, hätte sie sehr häufig aufstehen müssen. Aber rasch war sie in die Betrachtung der blassgrauen Aufnahmen so versunken, dass sie die Musik vergaß und auch nicht merkte, wie Ida ins Zimmer trat. „Es ist mal wieder so weit”, sagte sie, beugte sich zu Helga und steckte ihr einen Löffel Lebertran in den Mund. „Zum Trost hab dir einen Klarapfel geachtelt, wir haben auf dem Hof schon welche. Dr. Rosenthal meint, du müsstest viele Vita…, also dann würdest du wieder richtig gesund. Wie findest du das denn, dass sie so einfach ohne dich verreisen?” Helga hielt das geöffnete Album mit beiden Händen und schaute zu Ida auf. „Sie hatten die Zimmer in der Pension doch schon lange reserviert, und außerdem fahre ich ja mit Vater nach; er bleibt nur Samstag und Sonntag, aber ich immerhin zwei Wochen.” „Was die Luise ist, die hätte sich das nicht gefallen lassen”, meinte Ida und stemmte die Hände auf die Hüften. Helga senkte den Kopf. „In meiner Klasse fährt kaum jemand weg, Herta Dennersmann nicht, Ilse Fandrey bleibt auch hier, den Ernst August Albers” – sie kicherte nun doch – „hat seine Mutter zu Verwandten geschickt, damit wenigstens sie sich ein bisschen erholt, hat sie gesagt. Sie legte die Stirn in Falten. „Alle anderen Mütter arbeiten ja.” Ida wiegte den Kopf hin und her. „Nun hör mal zu, Helleken, deine Mutter arbeitet auch, sogar, seit dein Vater wieder da ist. Sie kriegt dafür keine Lohntüte wie die Frauen und Mädchen im Betrieb und auch kein Gehalt wie die Sekretärinnen oder Fräulein Dahm zum Beispiel. Aber sie hilft deinem Vater von morgens bis spät in die Nacht; das bekommst du manchmal sogar mit, wenn sie nach dem Abendessen noch einmal runter ins Kontor gehen. Was denkst du, was sie da machen?” Ida wurde ganz kurz rot, fing sich aber wieder. „Erinnerst du dich noch, letztes Jahr Ende November ? Da habe ich dich doch jeden Tag in die Schule gebracht und auch wieder abgeholt; das wolltest du nicht, weil du ja sonst immer allein gegangen bist. Aber die Erwerbslosen haben in Hagen die Geschäfte geplündert, einfach die Schaufensterscheiben eingeschlagen und alles rausgeholt, was nicht niet- und nagel- 78 79 fest war. Sie hatten keine Arbeit. Bei uns im Betrieb lief jedoch alles wie sonst, niemand ist entlassen worden, und deine Mutter – hast du gemerkt, dass sie besonders viel unterwegs war?” Helga schüttelte den Kopf. „Na ja, du warst ja nicht einmal acht. Aber was Notgeld ist, wirst du doch wissen? Zuerst haben sie das gedruckt, weil es kein Kupfer und Nickel für die Pfennige mehr gab, und bei Remy und Killing & Sohn hatten sie sogar eigenes. Doch dann waren die Scheine auf einmal nichts mehr wert, das war die Infla…, und außerdem marschierten ja die Franzosen und die Belgier bei uns ein, weil die Deutschen die Reparaturen, nein, Reparationen nicht mehr bezahlen konnten nach dem Vertrag da in dem Riesenschloss bei Paris. Kurzum, den Leuten ging’s schlecht. Doch deine Eltern, besonders deine Mutter natürlich, die hat sich um unsere Arbeiter gekümmert, frag mich nicht wie. Und außerdem” – Ida richtete sich auf – „hat sie vier Kinder. Du und das Rudolfchen, das geht ja, aber ... ” Sie führte den Satz nicht zu Ende. „Mein Bruder Erich, also der, der heil aus dem Feld zurückgekehrt ist, hat sich vor Kurzem bei einer Partei eingeschrieben, der NSABC, glaube ich, die hat der Herr Wachenfeld gegründet. Da steht auf dem Programm, dass alle Leute Arbeit kriegen sollen.” Helga rutschte einmal hin und her. „Ob das wohl stimmt? Der Vater sagt immer, es wird nie so viel gelogen wie vor den Wahlen und nach der Jagd. Das stammt von Bismarck, dem mit dem Hering.” Sie lachten beide, mitten in das Schlagen der Standuhr hinein. „Ach du mein liebes Lottchen”, meinte Ida und schlug die Hände zusammen, „jetzt muss ich mich aber beeilen. Der Herr Schulte zückt sonst wieder seine Taschenuhr, wenn das Mittagessen nicht pünktlich auf dem Tisch steht.” 80 81 Dann saß Helga aber doch allein mit Ida am Küchentisch und löffelte brav ihren Teller leer. Kurz vor zwölf hatte ihr Vater eins von den Lehrmädchen hochgeschickt und ausrichten lassen, er habe eine wichtige Besprechung, Ida möchte doch bitte ein paar belegte Brote herrichten und auch einen Krug Bier dazustellen. Helga hatte ihr dabei geholfen; sie war, wie immer, für die Dekoration zuständig: Petersilie wuchs in einem Blumenkasten auf dem Balkon, und eine reife Tomate fand sie auch in der Speisekammer. Sie hatte neben Ida auf einem Fußbänkchen gestanden und war ganz stolz gewesen, dass sie wieder eins von diesen scharfen Schälmessern benutzen durfte. „Ich will ja nichts sagen”, meinte Ida und strich Leberwurst auf eine Scheibe Brot, „aber manchmal fällt der Apfel wirklich weit vom Stamm. So ordentlich, wie deine Mutter ist, so wenig hat’s deine Schwester mit dem Aufräumen. Weißt du, was ich Nach dem Mittagessen, darauf bestand Ida, musste Helga sich hinlegen. Ida zog sogar die Vorhänge zu und meinte, sie werde gleich noch einmal nachschauen, ob Helga auch nicht etwa ungehorsam sei. Aber dann war sie doch wohl eingeschlafen. Als sie die Augen öffnete, stand ihr Vater vor dem Sofa und lächelte. „So ist’s recht. Ida schickt mich mit deiner Honigmilch.” Helga richtete sich auf. „Stimmt das, Vater, was Karl immer sagt, also dass die Franzosen keine Helme hatten?” „Ich vermute, du hast wieder einmal in meinem Album geblättert? Ja, Helleken, ganz zu Anfang des Kriegs trugen sie nur eine Art Schirmmütze, képi nannten sie die, aber ihr Generalstab hat rasch gemerkt, dass die Infanteristen, so nennt man die Fußsoldaten, anders ausgestattet werden mussten. Sie kamen ja mit dem Feind direkt in Berührung; deswegen waren auch alle Gewehre mit Bajonetten versehen.” Er griff schnell nach dem Album, um das Thema zu wechseln, aber Helga nickte. - „Tante Dahm hat gesagt, dass sie sich damit gegenseitig aufspießten, wenn sie sich auf den Deichen begegnet sind, da, wo ihr Verlobter gefallen ist.” Ihr Vater ging nicht darauf ein. „Für uns von der Artillerie war jedenfalls das, was wir auf dem Kopf trugen, bestimmt weniger wichtig. Aber Ohrenschützer hätten wir gebrauchen können; du hast ja selbst festgestellt, dass ich nicht so gut höre wie du, nicht wahr?” „Ja, aber bei Onkel Blankenstein muss man noch viel lauter sprechen als bei dir. Hildegard sagt immer, sein Regiment hätte Paris bombardiert; die Kanone hätte Langer Max geheißen, 82 83 vorhin beim Fegen unter ihrem Bett gefunden habe ? Einen angefangenen dunkelblauen Socken, richtig mit vier Nadeln drin. Aber stricken kann Luise wirklich gut, ich werd manchmal ganz neidisch. Denk nur an den Pullover mit den Segelschiffen drin für Rudolf, auf den er ganz stolz ist; so schön gleichmäßig krieg ich das nicht hin.” Helga fiel ihr fast ins Wort. „Unsere Handarbeitslehrerin hat uns auch was von Socken erzählt. Gleich nach dem Krieg, 1919, glaube ich, hat der Arbeiter- und Soldatenrat unserer Schule 103 Paar Socken und drei Hemden gespendet, damit die Kinder etwas Warmes anzuziehen hätten. Was sie mit den Hemden gemacht haben, wusste unsere Lehrerin nicht. Aber die Socken waren auch zu groß, natürlich, außer vielleicht für die Jungen aus der 8. Klasse, und so haben die Mädchen sie aufgeribbelt und im Handarbeitsunterricht neue aus der Wolle gestrickt.” Sie blickte Ida von der Seite erwartungsvoll an. „Männer”, sagte Ida nur mit ganz tiefer Stimme und sehr laut. aber von den Franzosen würde sie Dicke Bertha genannt. Ist das wahr?” Ihr Vater nickte. „Die deutschen Kanonen wurden von der Firma Krupp in Essen hergestellt, nicht alle, aber doch die meisten, und Frau Krupp, die Einzelheiten lasse ich weg, trug den Vornamen Bertha.” Helga beugte sich vor und zeigte auf eine der Aufnahmen. „Wer hat denn das Bild gemacht?” Ihr Vater blickte aus dem Fenster. „Ein Kanonier aus Herdecke, Fritz Müller; er hatte den Apparat von seiner Verlobten zu Weihnachten bekommen – richtig, Weihnachten 1915, als du geboren wurdest. Im Zivilleben war er nämlich Fotograf und arbeitete nur in seinem Atelier. Deshalb fehlen bei den Aufnahmen auch die Kontraste, weil er ja keine Lampen zum Ausleuchten hatte.” „Und wer ist der Mann neben dir?” „Ein Mann aus Olpe; den Namen vergisst du doch gleich wieder.” „Wo sind die beiden denn jetzt? Der aus Herdecke könnte uns doch einmal besuchen.” Ihr Vater schüttelte den Kopf. „Sie sind beide gefallen, in der Schlacht an der Somme.” Helga suchte nach Worten. „Ich dachte immer, bei der Artillerie sei es nicht so gefährlich gewesen”, meinte sie schließlich. „Nun mach dir nicht nachträglich Sorgen um mich. Ich bin heil zurückgekommen, und dafür können wir Gott danken.” Er legte den Arm um seine Tochter. „Sieh mal, da, wo wir stationiert waren, oberhalb der Somme, diesem Fluss in Nordfrankreich, lagen uns englische Truppen gegenüber. Unser Generalstab, vor allem von Falkenhayn, aber auch Prinz Rupprecht von Bayern, wusste genau, dass die Allierten, die Engländer und die Franzosen, dort einen Durchbruch versuchen würden. Ende Juni haben sie unsere Linien eine Woche lang bombardiert, und sie glaubten, sie hätten unsere Schützengräben sowie alle deutschen Befestigungsanlagen zerstört. Da hatten sie sich aber geirrt. Als die Engländer ihre Infanterie am 1.Juli 1916, du warst gerade mal sechs Monate alt, auf unsere Frontlinie losstürmen ließen, empfingen wir sie mit Maschinengewehrfeuer. An diesem einen Tag sollen über 19 000 englische Soldaten gefallen sein. Kannst du dir vorstellen, wie viele das sind?” Helga rechnete angestrengt. „Wir haben gelernt, dass Hagen fast 100 000 Einwohner hat; also ungefähr ein Fünftel.” „Tüchtig, Helleken. Aber es sind auch viele Deutsche getötet oder verwundet worden, besonders südlich der Somme, wo sie gegen die französischen Truppen zu kämpfen hatten. Die hatten nämlich ihren Angriff ebenso lange und gut vorbereitet wie wir: Neue Straßen waren gebaut, Aerodrome angelegt, Telefon- und Telegrafenlinien gelegt worden. Genützt hat all 84 85 dies jedoch niemandem, weder ihnen noch uns, nicht unsere Geschosse, 150- und sogar 210-mm” – er deutete mit beiden Händen den Umfang an –, „auch nicht unsere perfekt ausgestatteten Schützengräben und unsere wirklich hervorragenden Stiefel. Wir konnten unsere Kanonen so fest einzementieren, wie wir wollten – der Boden zitterte ständig, es roch scheußlich nach Pulver, von den Dörfern und vor allem von den Bäumen blieb nichts übrig. Mal rückten die Kitcheners vor, meist unerfahrene Kerle, mal wir.” Ihr Vater lenkte ein, als er Helgas aufmerksames, ernstes Gesichtchen sah. „Weißt du, es war so wie ,Rin in die Kartoffeln, raus aus die Kartoffeln’. Den Wald von Delville, Longueval, später auch Ginchy, die eroberten erst wir, dann die Engländer, dann wieder wir, die boches.” „Bosch, ich dachte, das sei eine Firma, die Fahrradlampen macht und so etwas.” „Richtig, Helleken, aber so nannten uns die Franzosen. Übrigens ist das nicht gerade ein Kosename.” „Und was habt ihr zu ihnen gesagt?” „Poilus, die Behaarten, so bezeichneten sie sich sogar selber, weil sie sich natürlich in den Schützengräben nicht rasieren konnten.” „Sprichst du eigentlich Französisch, Vater?” „Ach, Helleken, ich habe dir doch schon mehrfach erklärt, wie es mit meiner Schulbildung aussieht. So ein kleines biss- chen Latein von Sexta bis Quarta und nicht einmal ein Jahr Englisch, das ist kaum der Rede wert. Deshalb legen deine Mutter und ich ja auch so großen Wert darauf, dass Karl … kurzum, nach dem Abitur schicken wir ihn auf jeden Fall ins Ausland.” Dass Karl inzwischen das Paedagogium besuchte und dort auch seine Schulaufgaben unter Aufsicht erledigte, wusste Helga natürlich und fühlte sich unbehaglich. Deshalb blätterte sie ein paar Seiten weiter und fragte: „Ist das hier im Winter? Ihr seht so aus, als ob ihr friert.” „Nein, Helleken, das war im September; da fing es nämlich an zu regnen, pausenlos. Uns von der Artillerie machte das nur insofern etwas aus, als sich die Kanonen schlecht durch den Schlamm bewegen ließen, vorwärts oder rückwärts. Doch was die Soldaten in den Schützengräben zu berichten hatten, das hörte sich schon schlimm an. Ach ja, und dann kamen die Panzer – was das ist, weißt du ja, nicht wahr? Ich selber habe keinen gesehen, aber Oskar Dennersmann, der gefallene Mann von Marga, hat sie mir bei seinem kurzen Heimaturlaub Ende 1916 geschildert. Er kämpfte nämlich mit seiner Infanterieeinheit bei einem Ort namens Flers, und sie müssen den Schreck ihres Lebens gekriegt haben. Die Engländer hatten sie ja sorgsam getarnt, und alle dachten, unter den Planen wären Wassertanks verborgen. Zuerst nannte man sie auch noch Willie; das klingt doch ganz ungefährlich, was meinst du?” Ihr Vater lächelte, und Helga nickte. 86 87 „Viel genützt haben diese Dinger den Engländern allerdings nicht, einmal abgesehen von dem Überraschungseffekt, weil ein großer Teil aus technischen Gründen gar nicht einsatzfähig war.” „Wer hat denn die Schlacht an der Somme gewonnen? Ich meine, dass wir den Krieg verloren haben, weiß ich”, sagte Helga lebhaft. „Niemand. Kannst du dir das vorstellen: niemand. Da haben wir von Juni bis November diesen Höllenlärm ausgehalten, rund 650 000 Soldaten verloren; von den Überlebenden gerieten viele in Gefangenschaft. Außerdem fielen 350 Kanonen und 1500 Maschinengewehre in Feindeshand; von Falkenhayn wurde durch Hindenburg und Ludendorff abgelöst – und trotz alledem haben wir weder gewonnen noch verloren. Die Schlacht hörte einfach auf. Wir blieben zwar noch bis zum Frühjahr in der Gegend, aber an der Aisne war ich schon kaum noch dabei, weil die Stadt Hagen meine Freistellung beantragt hatte.” „Der Ernst August Albers hat mich gefragt, wie du das eigentlich damals gemacht hast mit der Steckrübenmarmelade.” „Wir haben alles mit einem chemischen Zusatz, er bewirkt ungefähr das Gegenteil von Hefe, noch einmal aufgekocht und dann in wesentlich kleinere Gefässe abgefüllt; außerdem ist der gesamte Vorrat kühl und dunkel gelagert worden, allerdings nicht für lange. Es gab ja kaum noch etwas anderes zu essen”, erklärte ihr Vater. „Mussten die Soldaten denn auch Hunger leiden?” „Die Versorgung an der Front hatte Vorrang”, sagte ihr Vater, „das war von oben so festgelegt worden. Aber je länger der Krieg dauerte, desto schlechter sah es natürlich damit aus.” „Und trotzdem hast du dir die 78-er Platten mit den Liedern aus dem Krieg gekauft?”, wollte Helga noch wissen. Ihr Vater richtete sich gerade auf. „Singen tut man doch gemeinsam”, meinte er, „mit den Kameraden, auf die man genauso zählen kann, wie man selber in jeder Not und Gefahr für sie gerade stehen würde. Was mich daran erinnert, Helleken, dass ich mich jetzt umziehen muss, wenn wir gleich gemeinsam zu Abend essen wollen. Hinterher gehe ich nämlich in die Loge.” „Was macht ihr da eigentlich? Triffst du dich da mit Onkel Blankenstein? Neulich im Theater, als wir Hänsel und Gretel von Humperdinck angeschaut haben, saßen wir alle zusammen in einer Loge, aber Tante Blankenstein hat nur den Kopf geschüttelt und den Finger auf den Mund gelegt, als ich sie gefragt habe.” Ihr Vater trat einen Schritt zurück. „Unsere Loge ist eine Art Verein; lassen wir es damit bewenden, ja? Wir tun sehr viel Gutes. Zum Beispiel werden wir wohl Franz Dennersmann eine Ausbildung bezahlen, die seiner Begabung entspricht. Du weißt ja, dass er bei der NUTAP jetzt bald seine Gesellenprüfung als Maschinenschlosser ab- 88 89 legt, aber ich war schon immer überzeugt, dass er das Zeug zu einem studierten Ingenieur hat.” Helga nickte zustimmend und wiederholte ihre Frage, ob Onkel Blankenstein auch Mitglied der Loge sei. „Nein.” Ihr Vater schüttelte den Kopf. „Die Hagener Loge nimmt nur Christen auf; katholisch oder evangelisch muss man sein, nicht nur dem Gebetbuch nach, sondern auch in seiner Lebensführung. Das ist in den Regeln so festgesetzt.” „Da sind Katholen und Evangelen in einem Verein?” Helga wunderte sich sehr. „Die gehen ja nicht einmal in dieselbe Volksschule!” „Aber auf dem Lyzeum sitzen sie dann wieder in einer Klasse”, lachte ihr Vater und wandte sich zur Tür. „Erinnerst du dich noch an unser Gespräch an deinem ersten Schultag? Man kann eng miteinander befreundet sein und braucht doch nicht alles zu teilen.” Es läutete so stürmisch, dass Helga zusammenfuhr und ihr Vater beunruhigt einen Blick auf die Standuhr warf, die kurz vor sechs anzeigte. „Es wird Mutter und den drei Kindern doch unterwegs nichts passiert sein?”, rief er. Aber da betrat Ida auch schon das Wohnzimmer. 90 „Herr Blankenstein möchte Sie unbedingt sprechen. Wenn Sie bitte mit mir kommen würden?” Helga wollte aufstehen, aber die beiden Erwachsenen tauschten einen Blick, und dann sagte ihr Vater, Ida werde gleich zurück sein; es gehe gewiss um etwas Geschäftliches. So wartete sie kurz, klappte dann das Album zu und spürte, dass irgendetwas passiert sein musste. Onkel Blankenstein wäre sonst bestimmt zu ihr gekommen, hätte sie spielerisch am Ohr gezogen und sich erkundigt, ob sie denn nun endlich wieder gesund sei. So stellte sie sich ans Fenster und blickte auf die Schillerstraße hinaus, wo die Mädchen und Frauen nach Arbeitsschluss in alle Richtungen verschwanden. Frau Dennersmann drehte sich noch einmal um, entdeckte Helga und winkte ihr fröhlich zu. Kurz darauf hörte sie Ida hinter sich. „Ich vermute mal”, sagte Ida und seufzte, „wir beide werden heute auch allein zu Abend essen. Sie haben nämlich den jüdischen Friedhof in Eilpe verwüstet.” Helga wollte zuerst einwenden, die Schultes seien doch evangelisch, aber dann besann sie sich: Onkel Blankenstein war ja der beste Freund ihres Vaters, und der war Stadtverordneter. 91 „Also davon, dass du ständig auf die Uhr schaust, wird es auch nicht eher halb vier”, sagte Ida, und ihre Stimme klang ziemlich unwirsch. „Komm, hilf mir lieber ein bisschen, das bringt dich auf andere Gedanken.” Sie reichte Helga einen Stapel kleiner Stoffservietten und zeigte ihr einmal, wie sie zu falten waren. „Davon legst du jeweils eine mitten auf den Kuchenteller, ja? Ich koche inzwischen schon mal den Kakao, dann muss er nachher nur noch warm gemacht werden.” Nachdem sie die Schokolade in einem großen Kochtopf zunächst in ein wenig Milch aufgelöst hatte, hielt sie in der Bewegung inne und rief zu Helga ins Wohnzimmer hinüber, ob sie wisse, wann ihre Mutter zurückkehren werde. „Ich meine, es ist ja schon halb drei”, fügte sie noch hinzu. Helga hatte nicht richtig zugehört. Einerseits war sie damit beschäftigt, den Tisch zu Ende zu decken, andererseits war sie sich gar nicht sicher, ob sie sich nun eigentlich freute oder ob sie die ganze Sache am liebsten abblasen würde. Wenn sie ganz ehrlich war, verspürte sie so etwas wie Angst, es könne schief gehen – ihre Gäste würden sich zum Beispiel streiten oder zu Tode langweilen. Natürlich war sie schon zu Geburtstagsfeiern eingeladen gewesen und erinnerte sich zumindest an eine, wo sie sich am liebsten verdrückt hätte, wie sie Rudolf hinterher gestand. Und wie konnte sie verhindern, dass es ihren Gästen ebenso erginge? Noch dazu war heute ja überhaupt nicht ihr Geburtstag, und das wusste jeder, nicht nur Hildegard, Herta Dennersmann und Ilse Fandrey, sondern auch Helga Meyer, das einzige Mädchen aus ihrer neuen Klasse, das sie eingeladen hatte, aber jede hatte sofort eifrig genickt, als Helga ihnen erklärte, ihre Mutter meine, sonst würde es aus einem Geburtstagsfest nie etwas, denn wenn man am Heiligen Abend geboren sei, feiere der Rest der Christenheit halt Weihnachten. In der Küche schepperte es. Seit einiger Zeit stimmte etwas mit Ida nicht, dachte Helga. Rudolf und sie hatten abends beim Zähneputzen oft darüber getuschelt. Es konnte nicht daran liegen, dass sie zu viel oder zu lange arbeiten musste; ihr kleiner Bruder hatte vor vierzehn Tagen zufällig mitbekommen, wie die Mutter vorschlug, ein weiteres Mädchen in den Dienst zu nehmen, das Ida sogar anlernen sollte, und wie Ida daraufhin – er hatte nur mitgehört und nicht gesehen, was sich im Nebenzimmer abspielte – geradezu heftig protestiert und sogar einmal aufgeschluchzt hatte. „Es klang ja schon ein bisschen so, als tue sie ihre Arbeit nicht ordentlich”, sagte Rudolf, und Helga fand, dass er für einen nicht ganz Sechsjährigen doch schon ziemlich vernünftig sei. Aber gewundert hatte sie sich über den Vorschlag der Mutter eigentlich nicht, einfach deswegen, weil unten im Betrieb immer mehr Leute eingestellt wurden, meistens Frauen, die ihren Mann im Krieg verloren hatten und die, das hatte Frau Dennersmann Helga bei einem ihrer Besuche in der Musterab- 92 93 6. Kapitel: Frühsommer 1926 teilung lachend erzählt, lieber in einer Süßwarenfabrik arbeiteten als zum Beispiel bei Plates, Funckes oder bei Blankensteins, wo Wagenfedern und Werkzeugmaschinen hergestellt wurden, weil es einfach besser roch und weil man außerdem so viele Bonbons essen durfte, wie man wollte – was man, wie sie hinzufügte, allerdings nur in der ersten Zeit auch wirklich tat. Aber dass man welche kaufen konnte, zu einem Vorzugspreis wohlgemerkt, das gab oftmals den Ausschlag. „Nur an Männern hapert’s hier gewaltig”, meinte sie dann noch und lachte nicht mehr. „Mal abgesehen von den neuen Bonbonkochern, den beiden Elektrikern, den Fahrern und natürlich Paule, für dich Herrn Beckmann, dem Nachfolger vom alten Mauritz, ist das Aufkommen an Jagdwild gering. Aber Männer sind überall knapp, und in den Metallfabriken wird man darüber hinaus auch noch dreckig.” Paule, Herr Beckmann, das musste es sein, dachte Helga und hörte Ida leise vor sich hin schimpfen. Karl hatte einmal grinsend erklärt, der Hahn im Korb sei Herr Behr, der Vertriebsleiter, mit seinem schicken Auto; hinter dem seien sie alle her, sogar Tante Dahm, die doch viel älter sein musste als er, auf jeden Fall alle drei Sekretärinnen – und Ida habe sich auch in ihn verschossen, das sehe ein Blinder mit Krückstock. Aber Helga war sicher, dass Karl sich täuschte. Wann sollte Ida Herrn Behr denn treffen? Er war viel unterwegs und hielt sich ansonsten in seinem Büro unten im Kontor auf. Paule hingegen, Paule arbeitete im Lager; von der Musterabteilung aus hörte Helga ihn pfeifen, und sie fand ihn sehr nett. Die anderen Männer, auch solche, die heil aus dem Krieg zurückgekehrt waren, kamen ihr oft eigenartig vor: Sie fuhren andauernd zusammen oder verzogen das Gesicht zu befremdlichen Grimassen, und bei manchen fing alles, aber auch alles mit der Einleitung an, jemand, der 14/18 nicht erlebt habe, könne dies oder jenes gar nicht verstehen. Paule hingegen sah eher frech aus, obwohl er bestimmt viel älter war als Karl und drei Jahre lang an der Ostfront gedient hatte; sein strohblondes, kurz geschnittenes Haar wuchs in vielen Wirbeln durcheinander, und stark war er auch. Als er sich um die Stelle des Lagerverwalters bewarb, hatte ihr Vater zunächst etwas von ,Luftikus’ bemerkt, aber Herr Mauritz hielt große Stücke auf ihn. Die Standuhr schlug drei. Das musste es sein. Helga würde Rudolf fragen und natürlich Karl, der in Liebesangelegenheiten viel Erfahrung zu besitzen schien. Nur mit Luise würde sie ihre Vermutungen nicht teilen, obwohl sie ihre ältere Schwester durchaus bewunderte. Luise hatte nämlich ihre Ausbildung an der Musikhochschule Köln abgeschlossen und gab schon einigen Kindern Klavierunterricht. Indessen hatte die Mutter kürzlich mit ungewohnt hartem Gesicht geäußert, zur Pianistin reiche es eben doch nicht, einmal abgesehen davon, dass eine Künstlerlaufbahn sich auch nicht so recht schicke. Auf jeden Fall könne es nicht schaden, wenn ihre älteste Tochter auch etwas von Haushaltsführung verstünde, worauf Luise nur die Brauen hochgezogen hatte. Sie 94 95 war überhaupt immer so spöttisch, und zudem behielt sie alles, was sie betraf, für sich. Helga warf einen Blick auf die Straße und schüttelte sich. Vor vier Wochen war Herr Direktor Dr. Möhle in ihre Klasse getreten, hatte alle Sextanerinnen freundlich begrüßt und ihnen einzeln die Hand gereicht. „So, hatte er zu ihr gesagt, du bist also die Schwester von der Luise Schulte, die mir vor ein paar Jahren erklärt hat, sie wolle abgehen und sich ganz der Musik widmen, ohne ihre Eltern von ihrem Vorhaben unterrichtet zu haben. Ich hoffe, du ersparst ihnen und mir solche Überraschungen.” Da zog Helga tausendmal ihre Klassenlehrerin vor, die sich mit der Feststellung begnügt hatte, man fände sich mit zwei Schülerinnen namens Helga wieder, und was da zu tun sei. „Na, ich bin wohl zu früh dran”, hörte sie, „da muss ich später noch einmal wiederkommen, denn ich will unbedingt wissen, wer die hübscheste von deinen Freundinnen ist, einmal abgesehen von der Gastgeberin natürlich.” Helga blickte überrascht auf. Ihr großer Bruder hatte doch vorhin sein Mittagessen heruntergeschlungen und als Entschuldigung für seine Hast angegeben, er sei heute als Verteidiger eingesetzt, die Mannschaft der Höheren Handelsschule Hagen spiele gegen eine aus Dortmund. Allerdings, das fiel ihr jetzt auf, hatte er keine Uhrzeit genannt. 96 „Sie kommen in einer Viertelstunde, aber du kennst sie doch alle, bis auf Helga Meyer; die war vorher mit Hildegard in einer Klasse.” „Ah”, sagte Karl nur. „Triffst du dich eigentlich noch manchmal mit Fritz?”, fragte Helga und wollte etwas hinzufügen, schluckte es aber herunter. „Fritz”, meinte Karl und versenkte seine Hände tief in den Hosentaschen, „Fritz studiert doch im zweiten Jahr an der Technischen Hochschule in Aachen. Bei den Noten, die er auf seinem Reifezeugnis stehen hatte, haben sie ihn mit Handkuss genommen. Ich hingegen” – er grinste und zuckte mit den Schultern –, „ich bin gerade mal so durchgerutscht, und ohne die Leute vom Paedagogium, ganz ehrlich, hätte ich nicht nur eine Ehrenrunde gedreht. Aber mit Latein hab ich’s halt nicht so, und was uns da an Literatur vorgesetzt wurde, lyrische Gedichte und der Faust zum Beispiel, das lässt mich ziemlich kühl.” Sie schwiegen beide. Helga erinnerte sich noch genau, wie die Eltern von der Abiturfeier zurückgekehrt waren, kurz vor Ostern war das gewesen, beide festlich gekleidet, der Vater im dunklen Anzug und Homburg, die Mutter in einem dezent gemusterten Kostüm mit einem ihrer weniger breitkrempigen Hüte, damit sie den anderen Gästen nicht die Sicht nahm, wie sie lächelnd erklärt hatte. Beide schienen erleichtert zu sein, dass Karl es nun doch 97 Um zwanzig vor vier traf die andere Helga als Letzte ein. „Du musst schon entschuldigen”, sagte sie und überreichte ihr ein bunt eingepacktes Geschenk, „aber ich bin wohl die einzige, die nicht genau weiß, wo du wohnst.” Helga lachte, sagte, das mache gar nichts und fügte noch den Satz hinzu, den sie oft von ihrer Mutter gehört hatte, die Geschichte mit den Hagenern und den Eckeseyern nämlich, die sich nicht so recht grün seien. Die fünf Mädchen standen etwas verloren in der Garderobe herum, wo Ida die Mäntel aufhängte. „Nun haben wir doch die Eisheiligen schon hinter uns gebracht, und trotzdem ist es kalt”, sagte Ida, „nur gut, dass drinnen gedeckt ist! Spielen könnt ihr ja sowieso in der Wohnung. Wo nur deine Mutter bleibt? Ist nichts dran zu ändern, unverhofft kommt oft. Sie wird wohl aufgehalten worden sein. Soll ich gleich den Geburtstagskuchen auftischen?” Ida schlug schon den Weg zur Küche ein, als ihr auffiel, dass Helga Meyers Kopf plötzlich ganz rot geworden war. „Ist dir nicht gut, Kindchen?”, fragte sie besorgt. Helga Meyer krampfte ihre Hände zusammen, schluckte und sagte, sie habe sich schon immer gewünscht, einmal eine Bonbonfabrik von innen zu sehen, und nun wolle sie ganz höflich fragen, ob das möglich sei. Nach einer kurzen Pause zuckte Ida mit den Schultern und meinte, verboten hätten es Schultes ja nicht, gearbeitet werde am Samstagnachmittag auch nicht und demzufolge könnten sie niemanden stören. 98 99 geschafft hatte, aber die Mutter rief Karl in Helgas Gegenwart doch noch einmal ins Gedächtnis, was sein ehemaliger Klassenlehrer taktvoll geäußert hatte: dass er sich doch eher praktischen Dingen zuwenden solle, ja ja, die Höhere Handelsschule sei genau das Richtige. „Wie findest du denn das, was du jetzt lernst?”, fragte Helga. „Liegt mir viel mehr, keine Logarithmen, dafür aber Prozente und Zinseszins, dazu viel Englisch, nicht Shakespeare – du wirst schon selber sehen, wer das ist –, sondern wie man Briefe schreibt und Bestellungen aufgibt. Das wird mir nützen; du weißt ja, dass Vater mich so bald wie möglich ins Ausland schicken will, damit ich mal sehe, wie anderswo die Produktion abläuft.” Helga war erleichtert. Sie machte sich oft Gedanken über das Wohlergehen von Karl und auch von Rudolf, vielleicht, weil beide auch merkten, wenn sie Kummer hatte. Es klingelte an der Tür. „Wann beginnt dein Fußballspiel?” Karl verzog sein Gesicht zu einem vergnügten Grinsen. „Ich hab eine Idee. Wie wäre es, wenn ich hinterher in meinem Trikot hier auftauchte? Da wären deine Freundinnen doch sicher beeindruckt. Eine ist wohl gerade im Anmarsch. Ich verspreche dir auch, mich nach dem Spiel zu duschen”, setzte er hinzu und verließ das Wohnzimmer über den Balkon. „Ihr müsst mir allerdings hoch und heilig versprechen, dass ihr an nichts drangeht, also keine Hähne aufdreht, keine Gläser offen stehen lasst und vor allem nicht mit dem Finger durch die Becken mit der Nussfüllung fahrt. Es ist ja alles abgedeckt, doch wenn was passiert, gerate ich in Teufels Küche.” Sie schloss die Verbindungstür zur Fabrik auf und meinte, in einer halben Stunde sollten sie aber wieder zurück sein. Für Helga war es seltsam, alles mit den Augen der anderen Helga zu sehen, die zuerst auf Zehenspitzen ging und ihre vielen Fragen ganz leise stellte – was das für eigenartige lange Maschinen seien zum Beispiel. „An dem Ende mit den drei Walzen führt der Kocher die Bonbonmasse ein; sie ist noch so heiß, dass er dicke Lederhandschuhe anziehen muss”, versuchte Helga zu erklären. „Die längs gestellten Walzen drehen sich gegeneinander, und übrig bleibt ein ganz dünner Strang. Mit der schweren Walze da hinten werden dann die Himbeeren ausgestanzt und von einem Gebläse auf dem Fließband gekühlt. Zum Schluss wird noch irgendwas darüber gestäubt, damit sie nicht aneinander kleben.” „Und wie macht man Karamellen?”, erkundigte sich Helga Meyer. „Eigentlich genauso, nur aus anderen Zutaten; außerdem werden sie viereckig geschnitten und müssen auch noch gewickelt werden. Dafür haben wir jetzt sogar Maschinen, die aus England kommen. Es sieht ganz lustig aus, als ob sie Fin100 ger hätten, ein bisschen wie Zangen, und es geht viel schneller als früher, sagt jedenfalls mein Vater, als die Mädchen alle Bonbons mit der Hand wickelten. Dieses Gebäude”, fügte sie hinzu, „ist erst vor einem halben Jahr aufgestockt worden, und jetzt wird der Zucker direkt von den Lastwagen in die Silos in der vierten Etage hochgepumpt.” Auch Helga Meyer gefiel die Kocherei mit den blank gescheuerten Kupferkesseln am besten. „Ich könnte mich bestimmt darin verstecken”, sagte sie und winkte gleich ab. „Keine Sorge, ich werd’s nicht versuchen, sonst kriegst du Ärger.” „Und hier arbeitet meine Mutter”, meinte Herta Dennersmann auf einmal. Sie waren im Erdgeschoss angelangt und an vielen fertig gepackten Kartons vorbei in die Musterabteilung gegangen. Sowohl Ilse Fandrey als auch die andere Helga schienen überrascht, weil wohl keine von ihnen gewusst hatte, was Frau Dennersmann beruflich machte. Helga ging es blitzschnell durch den Kopf, dass Herta deswegen als Einzige von ihnen jetzt nicht das Lyzeum in der Viktoriastraße besuchte und zu Ende der vierten Klasse nicht einmal versucht hatte, die Aufnahmeprüfung zu machen; Ilse Fandreys Mutter sparte sich das Schulgeld, wie sie immer wieder einmal verlauten ließ, vom Munde ab, obwohl Ilse ja Primaballerina werden wollte; und Helga Meyers Vater verdiente in seinem Bekleidungsgeschäft 101 an der Elberfelder Straße ziemlich viel Geld, hatte Luise gleich nach Ostern in die Unterhaltung eingeworfen. Hildegard... „Also, wenn ich’s mir aussuchen könnte”, verkündete Hildegard laut und fröhlich in das Schweigen hinein, „würde ich auch gern diese Abteilung leiten. Da kriegt man alle neuen Sorten zu sehen, und ich vermute mal, dass man sie auch probieren darf, oder? Man braucht nicht zu stehen wie die Mädchen oben an den Maschinen und an den Mischtischen, und es ist so leise, dass man sich bestimmt herrlich unterhalten kann.” Helga warf Hildegard einen dankbaren Blick zu. Ihr wäre all dies nicht eingefallen. Aber sie brachte es immerhin fertig zu sagen, Ida warte mit dem Kakao auf sie, und dann wollten sie spielen, Stille Post, Ich sehe was, was du nicht siehst, Angeln, auch Topfschlagen natürlich, und es gebe sogar etwas dabei zu gewinnen. Wie viele Stücke von Idas Kuchen – sie hatte ja nicht nur einen gebacken – gegessen wurden, hätte höchstens Ida selbst zu sagen vermocht. Sie füllte Kakao nach und blieb auch manchmal ein bisschen am Tisch stehen. Die Unterhaltung jedenfalls riss nicht ab. Herta erzählte, was Ernst August Albers im neuen Schuljahr schon alles angestellt hatte, und Ilse bedauerte ausdrücklich, dass in ihrer neuen Klasse, ja überhaupt in der ganzen Schule nur Mädchen unterrichtet würden, wenn auch nicht nur von Lehrerinnen. Sie beneidete die andere Helga um ihren kurzen Schulweg, aber die meinte, dafür, dass ihr Haus direkt an der Volme läge, hätte zu Sylvester das Wasser nicht nur im Keller gestanden. Schließlich klatschte Ida einmal in die Hände und meinte, jetzt sei es aber genug, stundenlang reden könnten sie auch später noch, als Erwachsene; auf einer Geburtstagsfeier werde gespielt, und damit sollten sie doch mal anfangen. „Auf Frau Schulte zählen wir da besser nicht”, meinte sie noch und stellte die Stühle für die Reise nach Jerusalem auf. 102 103 Karl hatte ihnen gegen halb sieben, als sie gerade Würstchen und Kartoffelsalat aßen, in der Tat einen kleinen Besuch abgestattet, allerdings nicht im Fußballtrikot und angenehm nach Kölnisch Wasser duftend. Er hatte auch Herta und Hildegard nach Hause begleitet, weil er bei Blankensteins noch etwas für Fritz hinterlegen wollte, und Helga zwischen Tür und Angel zugeflüstert, ihre neue Freundin sehe ja wirklich flott aus, mit echt roten Haaren und grünen Augen. Helga war von ihrem Vater mit dem Wagen abgeholt worden, und Ida meinte anschließend, dieser Horch sei ja eigentlich genauso elegant wie der Mercedes von Herrn Behr. „Wo deine Mutter mit dem Rudolfchen wohl bleibt?”, wiederholte Ida mehrfach während des Aufräumens und betonte dabei, sie wolle das nicht etwa wissen, weil sie eigentlich von sieben Uhr ab frei habe und … Den Rest murmelte sie jeweils so leise vor sich hin, dass Helga zuletzt bat, sie möchte doch lauter sprechen, was Ida aber nicht tat. Plötzlich wurde unten die Tür aufgerissen. Karl und die Mutter brüllten abwechselnd. Dann nahm ihr großer Bruder mehrere Stufen auf einmal und wollte wohl in seinem Zimmer verschwinden, aber die Mutter schrie: „Hiergeblieben! Das kannst du mir doch nicht weismachen! Natürlich hast du etwas gewusst! Ihr steckt doch meistens unter einer Decke!” Helga wollte gerade den Kopf auf den Flur hinausstrecken, als Ida Rudolf zu ihr hereinschob und ungewöhnlich bestimmt anordnete, sie sollten hübsch drinnen bleiben, dafür seien sie noch zu klein, und sie habe die Erlaubnis, jetzt trotzdem nach Hause zu gehen. „Gern lasse ich euch ja nicht allein”, fügte sie noch hinzu. „Und hab ich’s nicht gesagt: immer die Luise! Aber sie ist ja seit April volljährig.” Helga blickte Rudolf fragend an. „Was ist denn los?” Ihr kleiner Bruder drückte, wie immer, wenn er nicht so recht wusste, womit er anfangen sollte, eines seiner abstehenden Ohren fest an den Kopf und ließ es wieder los, setzte dann aber doch zu einer Erklärung an. „Du hast ja wohl mitbekommen, dass Mutter zur Schneiderin musste, zu Fräulein Merten in der Kampstraße, wo sie sich immer ihre Kleider machen lässt. Heute war Anprobe, und sie hatte mich mitgenommen, weil wir Sandalen kaufen wollten; die vom letzten Jahr drücken vorne. Ja …” Rudolf schluckte einmal, und Helga wurde ungeduldig, vor allem, weil aus dem Wohnzimmer immer noch die beiden Stimmen herüberschallten, jedoch nicht zu verstehen war, was da gesagt wurde. „Ja. Und ganz zu Anfang, Fräulein Merten hatte den ganzen Mund voller Stecknadeln, sagte sie: Übrigens, Ihre Tochter heiratet heute.” „Was?” „Ja. Sie müssen vorher, also bei einer anderen Anprobe, schon mal darüber gesprochen haben. Und das Hochzeitskleid hat Fräulein Merten wohl auch genäht.” „Luise heiratet? Luise hat heute geheiratet? Wen denn? Und warum sind wir da nicht eingeladen?” In Helgas Kopf ging alles wild durcheinander. Sie biss sich seitlich in den Zeigefinger und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. „Namen haben sie keine genannt. Ich glaube aber, sie wussten beide Bescheid”, fügte Rudolf noch hinzu und verfiel auch in Schweigen. „Das war doch …”, sagte Helga dann. „Karl hat mal was angedeutet …, dass sie sich in Borkum mit jemandem aus Köln treffen wollte; den muss sie letztes Jahr oder sogar noch eher kennen gelernt haben, ich meine, als sie an der Musikhochschule studierte. Außerdem haben Luise und Else Weihnachten in der Kirche die ganze Zeit miteinander getuschelt, oben auf der Empore, das konnte man von unten sehen, und Fräulein 104 105 Bröker – bei der hat Luise ja eigentlich einen Stein im Brett – hat einmal mit dem Finger gedroht, von der Orgel her. Aber trotzdem …” Helga hielt plötzlich inne. „Haben sie denn richtig in der Kirche geheiratet? Das geht doch gar nicht! Ida hat mir erst ganz vor kurzem erzählt, dass der Pastor drei Wochen vor der Trauung – oder waren es zwei? – die Namen der Verlobten von der Kanzel herunter verkündet, Aufgebot nennt man das, und dann hätte ich’s ja gehört, wenigstens am letzten Sonntag, weil ich da mit Vater in den Erwachsenengottesdienst gegangen bin.” Rudolf schüttelte den Kopf. „Nein, sie sind im Rathaus getraut worden, und ich glaube, Luises Kleid sah auch nicht so aus wie ein Brautkleid, weiß, lang und mit so einem Schleier. Fräulein Merten sagte nämlich was von einem Kostümchen, aber das muss etwas anderes sein als ein Karnevalskostüm.” Diesmal fiel die Pause sehr lang aus, und sie konnten beide hören, was sich im Wohnzimmer abspielte. Das Wort führte allerdings ausschließlich die Mutter. „Aber dieser Herr Rellinghaus war doch verheiratet, und er hat sogar Kinder! Wir haben ihn ja in Borkum einmal getroffen, letzten Sommer. Jetzt verstehe ich auch, warum er so verlegen war, als ich mich nach seiner Frau erkundigte, aber im Grunde …” – ihre Stimme wurde lauter und sogar schrill –, „im Grunde war er längst nicht verlegen genug. Auf jeden Fall werde ich mir zunächst einmal die Else vornehmen, das heißt, sie wird selbstverständlich zur Hochzeit eingeladen sein; eine feine Rolle hat sie da gespielt. Aber ihre Mutter könnte ja auf dem Laufenden sein, das werden wir doch gleich einmal feststellen. Hätte ich von einer Frau wie ihr nun aber auch gar nicht erwartet! Irgendetwas fiel nebenan krachend zu Boden, eine Tür knallte, und dann war es auf einmal sehr still. 106 107 „Ihr habt wohl alles mitbekommen?” Karl hatte einen roten Kopf, und es schien Helga, als zitterten seine Hände. Sie ging zu ihm hin, wie sie es bei ihrer Mutter gesehen hatte, umfasste seinen Unterarm und meinte, er solle sich doch erst einmal setzen. „Tja”, sagte Karl und versuchte zu lächeln, „jetzt brauchen wir kein Geitebrücker Schützenfest; die Luise hat den Vogel abgeschossen. Kannst du mir den Rest von dem Kartoffelsalat holen, Helleken? Rudolf will vielleicht auch welchen; ich vermute mal, dass er nichts zu essen bekommen hat, oder?” Auf dem Weg zur Küche bewunderte Helga ihren großen Bruder wieder einmal dafür, dass er sich so rasch gefangen hatte, beschloss aber, ihn trotzdem nach allen Regeln der Kunst auszufragen. „Ich weiß längst nicht so viel, wie Mutter sich vorstellt”, erklärte Karl ihr wenig später und fuchtelte mit der Gabel in der Luft herum. Seine Hände zitterten immer noch ein wenig. „Aber Mutter und Fräulein Merten”, warf Rudolf ein, „da bin ich ganz sicher, die hatten ganz bestimmt schon mehrmals über Luise und diesen Herrn Rellinghaus geredet. Sonst wäre Mutter doch noch viel überraschter gewesen. Sie haben etwas von ,rechtskräftig’ und ,Scheidung’ gesagt, das habe ich mir gemerkt, obwohl ich nicht genau weiß, was das bedeutet.” Karl strich seinem kleinen Bruder einmal über den Kopf und meinte, er solle sein Ohr in Ruhe lassen. Dann erläuterte er Helga, die sich natürlich auch nicht auskannte, und Rudolf, dass man sich nicht von einem Tag auf den anderen scheiden lassen konnte und dass außerdem ein Grund vorliegen müsse. „Was heißt denn das?”, fragte Helga. Karl holte tief Luft und machte eine unbestimmte Geste mit der Hand. „Man kann nicht so einfach weggehen und sagen, dass man seine Frau nicht mehr liebt. Das muss man schon beweisen. Man muss zum Beispiel Ehebruch begehen, also seine Frau mit einer anderen betrügen.” „Und die andere war Luise?”, erkundigte sich Helga entsetzt und zugleich neugierig. „Nein, natürlich nicht”, erwiderte Karl, „den Scheidungsgrund kann man doch nicht heiraten.” „Wie meinst du das, betrügen?”, fragte nun Rudolf und machte Karl damit sichtlich verlegen. „Da gehen ein verheirateter Mann und eine Frau, nicht seine, in ein Hotel, wo sie die Nacht zusammen verbringen. Wenn man sich scheiden lassen will” – seine Stimme wurde wieder lebhaft –, „bestellt man vorher einen Detektiv oder so jemanden, der kommt dann dazu und bescheinigt, dass man Ehebruch begangen hat.” „Aber was machen sie denn da in dem Hotelzimmer?”, wollte Rudolf wissen, und seine Augen blitzten. Karl zog die Stirn in Falten, blickte zu Boden und suchte nach einer Antwort, während Helga, die sich nicht getraut hätte, eine solche Frage zu stellen, schwieg und offensichtlich scharf nachdachte. „Wenn er jetzt Luise heiratet und Luise nicht der Scheidungsgrund ist, wer war es dann?”, meinte sie schließlich. „Wer hilft einem in jeder Notlage?” Karl seufzte, während Helga ihr Vater und Onkel Blankenstein einfielen. „Natürlich die Else!”, rief Karl, und Helga verstand auf einmal, warum ihre Mutter zu Frau Landwehr gegangen war. Sie schluckte. „Aber Herr Rellinghaus ist doch viel älter als Luise, mindestens… mindestens fünfzehn Jahre!”, sagte sie dann. „Ich denke mal, fast zwanzig”, meinte Karl. „Ich frage mich, was Vater sagen wird – ob er vielleicht eher von seiner Geschäftsreise zurückkommt deswegen.” Helga indessen hoffte nur, dass ihre Eltern sich nie scheiden lassen würden. 108 109 Ida stand oben auf einem Schemel, einen zusammengedrückten Bogen Zeitungspapier in der rechten Hand, und blickte zu Helga hinunter, die auf dem Weg zur Wohnungstür bei ihr vorbeigekommen war und ihr gesagt hatte, sie werde bestimmt zum Abendessen zurück sein. „Und der Fritz reist extra zu eurem Schlussball aus Aachen an, obwohl er doch kurz vor dem Rigo…, also seiner Doktorprüfung steht?” Helga wurde rot, und Ida lachte. „Wer nicht gemerkt hat, dass Fritz ein Auge auf dich geworfen hat, der muss schon blind sein, bei all den Briefen, und in letzter Zeit ruft er ja auch manchmal an, obwohl er in seiner Studentenbude bestimmt keinen Fernsprechapparat hat, oder? Sandkastenliebe nennt das meine Mutter”, fügte sie hinzu, „wenn das auch auf euch nicht ganz zutrifft; er ist doch Karls Jahrgang, und du bist so alt wie die Hildegard. Wundern tut es mich allerdings nicht, Helleken, wer so gebaut ist wie du …” Mit beiden Händen schlug sie von ihrem Halsansatz bis zur Taille einen Bogen oberhalb ihrer eigenen, ziemlich flachen Brust und ließ dabei das Zeitungspapier fallen. „So einen Busen müsste man halt haben”, seufzte sie, und Helga bückte sich, tief rot, um das zusammengeknüllte Blatt aufzuheben. Jeder im Haus und in der Fabrik wusste, dass Ida jetzt wieder hoffte, Paule Beckmann werde sie heiraten, nach- dem seine Frau im Kindbett gestorben war, Fräulein Lange, die als Sekretärin unten im Büro gearbeitet hatte. Helga erinnerte sich natürlich noch an die Hochzeit, wo sie selber mit ihren Freundinnen ein Seil vor dem Kirchentor gespannt und sich dann mit den Jungen aus der Eckeseyer Straße um die Pfennige gebalgt hatte, die Paule ihnen zuwarf. Der Werkschor hatte gesungen, und ihr war sehr feierlich zumute gewesen. Ida war zu Hause geblieben, und Helga hatte sich hinterher bemüht, so zu tun, als bemerke sie ihr verweintes Gesicht nicht. Aber jetzt brauchte Paule eine Mutter für das Päulchen, und es war Helga nicht entgangen, dass er sich in letzter Zeit häufiger nach Arbeitsschluss unten vor der Haustür oder weiter hinten auf dem Fabrikhof mit Ida getroffen hatte, obwohl ihre eigenen Gedanken wirklich eher um Fritz kreisten. Sie hatte nicht so recht gewusst, ob sie empört sein sollte, als Luise vorige Woche rund heraus erklärt hatte, es werde ja auch Zeit: Ida sei mit ihren zweiunddreißig Jahren eine alte Jungfer, und die Kiste mit ihrer Aussteuer quelle bestimmt längst über von all den halbleinenen Trockentücher und Bettlaken, die sie jedes Jahr von Schultes zu Weihnachten bekommen hatte. Außerdem sei Paule seit seiner Beförderung zum Lagerverwalter wirklich eine gute Partie. Helga hatte Luises Bemerkungen herzlos gefunden, ihre Meinung jedoch für sich behalten, einmal geschluckt und sich dann mit ihrem Patenkind, der zweijährigen Kathrine, beschäftigt. „Ist ja schon gut”, meinte Ida dann und drehte sich halb um, um die Fensterscheibe mit dem Zeitungspapier trocken zu po- 110 111 7. Kapitel: Herbst 1932 lieren. „Ich weiß ja, dass du dich genierst, und der Fritz ist ein netter Kerl, gar nicht so eingebildet wie viele von den Studierten. Aber sag mal” – sie drehte sich noch einmal richtig um – , „soll denn dein Schlussballkleid nicht von Fräulein Merten geschneidert werden, vor allem, wo die gnädige …, also deine Mutter so zufrieden ist mit ihrer letzten Abendgarderobe, der langen aus dunkelbraunem Samt mit dem Spitzeneinsatz, die Herta entworfen hat – es war so was wie ihr Gesellenstück, glaube ich.” „Wir treffen uns doch nur und sehen uns in den Läden für Damenoberbekleidung an, was es da gibt. Die andere Helga, Helga Meyer meine ich, hat in der Schule erzählt, dass ihr Vater einige Modelle vorrätig hat, und die wollen wir uns einmal anschauen; schaden kann das doch nicht. Helga lachte, noch immer etwas verlegen, und Ida fiel ein. „Sie sind ja gut sortiert bei Meyers”, meinte Ida dann. Vielleicht werf ich da auch bald einmal einen Blick rein; billiger als bei Fräulein Merten sind fertige Sachen ja auf jeden Fall.” Es kam Helga so vor, als warte Ida auf etwas, aber sie wusste nicht, was sie erwidern sollte. „Dass Herta eine Schneiderlehre begonnen hat und nicht zu uns in die Fabrik gekommen ist, war jedenfalls das Beste, das ihr passieren konnte”, sagte sie schließlich und wandte sich zum Gehen. „Frau Dennersmann hat ja zuerst geschimpft, weil sie das nicht verstehen konnte, aber dann hat Vater mit ihr gesprochen. Der Franz studiert doch jetzt sogar Ingenieurwis- senschaften an einer technischen Universität, du weißt ja, die Loge, und Herta war schon immer gut in Zeichnen und Handarbeit, hundertmal besser als ich. Auf der evangelischen Volksschule saß sie neben mir, da hab ich’s bei jeder Gelegenheit feststellen können. Und dass Fräulein Merten sie genommen hat …” „Ist ja schon gut, Helleken, nun lauf mal. Ich muss die Fenster fertig haben, bevor deine Mutter zurückkehrt.” Sie bückte sich, griff nach einem neuen Blatt Zeitungspapier und begann, die Scheibe damit blank zu reiben. „Wie immer, wenn ich Fenster putze, wird’s anschließend regnen. Nimm einen Schirm mit.” Und dann murmelte sie etwas in sich hinein. 112 113 Noch als sie in die Straßenbahn stieg, überlegte sich Helga, ob sie Idas letzten Satz richtig verstanden hatte. War darin wirklich von einem Hochzeitskleid die Rede gewesen? Zerstreut suchte sie in ihrer Schultertasche nach dem Geldbeutel und rückte einmal an ihrer Baskenmütze herum. „Guten Tag, Helga”, hörte sie Frau Landwehrs Stimme, „wie geht es dir denn? Freut mich, dich zu sehen. Ich hatte mir schon Sorgen um dich gemacht, weil du doch sonst immer mit der Bahn in die Schule fährst und plötzlich wie vom Erdboden verschwunden warst. Aber dann erzählte mir deine Mutter – sie hat mal kurz bei uns reingeschaut und sich erkundigt, wie es Hermann, also meinem Mann geht –, deine Klasse verbrächte vierzehn Tage im Landschulheim der Oberrealschule, hieß der Ort Weilhof oder Lahnstein, und da war ich beruhigt. Ich denke ja immer noch an deine böse Lungenentzündung von damals.” Frau Landwehr machte eine Pause, blieb aber in Helgas Nähe stehen, weil an der letzten Haltestelle niemand zugestiegen war. „Windhof in Weilburg an der Lahn”, erwiderte Helga, und ihre Augen strahlten. „Muss ja schön gewesen sein.” Frau Landwehr rückte einmal an ihrer Schaffnermütze, wechselte das Standbein und sah Helga freundlich an. „Was habt ihr denn da den ganzen Tag gemacht? Doch wohl nicht nur gelernt?” Helga schüttelte den Kopf. „Natürlich hatten wir auch Unterricht; dafür waren ja drei Lehrerinnen und unser Klassenlehrer mitgekommen, und da jeder zwei Fächer geben kann, fiel eigentlich nichts aus. Die Stunden fanden bei schönem Wetter draußen statt, da wurde einfach die Tafel auf die Wiese geschoben. Arbeiten mussten wir glücklicherweise keine schreiben. Aber nachmittags und abends – nachts ebenfalls”, fügte sie zögernd und leiser hinzu –, „da hatten wir viel Spaß … Kahnpartien, Völkerball, getanzt haben wir auch und vor allem gesungen, und ein Theaterstück haben wir einstudiert, wo ich den Prinzen spielte. Jungen”, ergänzte sie, „hatten wir ja keine dabei, und Vati, unser Klassenlehrer, ist schon ein bisschen zu …” Die Bahn hielt, zwei Frauen stiegen zu, und Frau Landwehr ging den Mittelgang hinauf. „Noch jemand ohne Fahrschein?”, fragte sie mit einer Stimme, die Helga völlig fremd vorkam, bevor sie zu ihr zurückkehrte. „Ich muss Else einmal fragen, ob sie auch ein Landschulheim besitzen”, meinte Frau Landwehr, die offensichtlich vergessen hatte, worum sich die Unterhaltung vor der Unterbrechung gedreht hatte. „Was macht sie denn?”, erkundigte Helga sich höflich. Sie hatte immer noch nicht vergessen, welche Rolle Else bei Luises Heirat zu spielen bereit gewesen war, und obwohl ihre große Schwester inzwischen Rudolf und ihr mit einer wegwerfenden Handbewegung erklärt hatte, anders sei es halt nicht zu bewerkstelligen gewesen, und außerdem habe ihr Mann, also Otto Rellinghaus, ihre Freundin in dem besagten Hotelzimmer nicht einmal angerührt, fühlte sie jedesmal Unbehagen in sich aufsteigen, wenn die Rede auf Else kam. Frau Landwehr streckte ihren Rücken durch, wies nach unten, lachte einmal auf und meinte, sie spüre mit den Jahren doch so langsam ihre Füße. „Ja, hat sich das noch nicht rumgesprochen? Sie wird sich wohl mit Franz Dennersmann verloben; der ist zwar ein ganz klein wenig jünger als sie, aber was macht das schon? Else hat bereits ihre Versetzung nach Braunschweig beantragt; das ist nicht so einfach, ich meine, von einem Teil Deutschlands 114 115 Von der anderen Straßenseite winkten ihr Hildegard und Ilse Fandrey zu, bevor sie sie gemeinsam am Gartentor des Meyerschen Hauses klingelten. „Ich habe Ilse unterwegs getroffen, sie kam von einer Ballettprobe und ich” – Hildegard wies auf den schwarzen Kasten in ihrer Hand – „hatte gerade Geigenunterricht. Sie wollte zuerst nicht mitkommen, aber wir kaufen ja ohnehin nichts; nur mal so schnuppern, nicht wahr?” Helga schämte sich wieder einmal. Natürlich wusste sie genauso gut wie Hildegard, dass Frau Fandrey neben ihrer Arbeit als Buchhalterin abends Nachhilfestunden in Mathematik erteilte, vor allem an Mitschüler von Rudolf, um die Ballettstunden und das Schulgeld für ihre Tochter bezahlen zu können. Für eine Freistelle waren Ilses Leistungen nie gut genug gewesen – kein Wunder, wie Frau Fandrey immer erklärte, wenn man sich auf die Aufnahmeprüfung ins Corps de Ballet vorbereitete. Den Betrag für den Tanzkurs hatte Ilse von einem Onkel geschenkt bekommen, über den sie ansonsten nicht reden mochte, und einmal hatte sie sogar angedeutet, am liebsten hätte sie das Geld gar nicht angenommen. An ein neues Kleid für den Schlussball war indessen nicht zu denken. Ilse hatte schon mit Helga und Hildegard vor ihrem Schrank gestanden und war eigentlich zu der Erkenntnis gelangt, höchstens ihr Konfirmationskleid würde sich eignen, wenn sich jemand fände, der es ein wenig veränderte. Aufs Nähen verstand sich allerdings leider keine von ihnen, aber Hildegard hatte gemeint, es blieben ja noch zwei Wochen, und vielleicht gewänne Ilses Mutter bis dahin in der Lotterie. Helga hatte nicht einmal in Erwägung gezogen, Ilse zu fragen, ob sie mit ihnen gemeinsam die Auslagen der Damenoberbekleidungsgeschäfte an Elberfelder- und Kampstraße begutachten wolle. Aber sie hatte doch ein schlechtes Gewissen dabei gehabt und fand jetzt wieder einmal, dass es Hildegard beneidenswert leicht zu fallen schien, stets das Richtige zu tun. Ein schwarz gekleidetes Dienstmädchen mit weißem Häubchen und spitzenbesetzter Schürze öffnete ihnen die Tür. Gleich hinter ihr stand Helga schon fast ausgehbereit und sagte, ihre Mutter habe angeordnet, dass sie zunächst einmal etwas essen und trinken sollten. „Machen wir’s aber kurz, nicht wahr? Ein Glas Saft für jeden und ein Stück Marmorkuchen aus der Hand, damit könnte ich mich anfreunden. Ich muss nämlich hinterher noch meine Schulaufgaben erledigen, ihr auch? Hat jemand schon einen 116 117 zum anderen, wo sie doch gerade erst in Dortmund verbeamtet worden ist.” Helga war froh, dass sie die Haltestelle in der Nähe des Volmeufer erreicht hatte, wo sie aussteigen musste, und erhob sich. „Da wünsche ich ihr aber alles Gute”, sagte sie und deutete in ihrer Verlegenheit sogar einen Knicks an, bevor sie an Frau Landwehr vorbei aus dem Wagen sprang. Blick auf die französische Übersetzung geworfen? Dieser Matéo Falcone ist ja schon ein seltsamer Kauz. Warum müssen wir so eine alte Kamelle lesen, die noch dazu in Korsika spielt, wo ich doch gerade einmal weiß, wo das liegt.” Helga Meyer war sehr gut in Erdkunde, und außerdem hatte sie ihre Eltern schon auf Reisen nach Österreich, in die Schweiz und nach Italien begleiten dürfen. Aber so pflegte sie sich halt auszudrücken, fishing for compliments, erinnerte sich Helga und bot ihr an, nachdem sie den letzten Bissen heruntergeschluckt hatte, ihr nachher noch kurz zu helfen. „Wenn ich in Sprachen bloß so gut wäre wie du!”, seufzte die andere Helga und schoss eine Kastanie in den Rinnstein. Das Lob war gerechtfertigt, denn selbst Karl, ihr großer Bruder Karl, wiederholte bei jeder Gelegenheit, Helga spreche besser Französisch als er, obwohl er doch ein halbes Jahr in einer lothringischen Firma zugebracht und den ganzen Tag nichts anderes gehört habe. Aber trotzdem fühlte sie sich jetzt genötigt, eine abwehrende Handbewegung zu machen und zu erklären, in der letzten Nacherzählung habe aber nicht sie die beste Note erzielt, einmal abgesehen von ihren Schwierigkeiten mit Latein und Mathematik. In diesem Augenblick fuhr ein Maybach vorbei, bremste kurz, setzte dann aber seinen Weg fort. Sowohl Hildegard als auch Helga blieben ruckartig stehen, runzelten die Stirn und schwiegen zunächst. Dann sprachen beide gleichzeitig. 118 „Das war doch dein Bruder.” „Das war ja Karl.” Ilse und die andere Helga machten neugierige Gesichter. Natürlich kannten sie beide Karl, waren ihm jedenfalls bei Schultes schon mehrfach begegnet, und die andere Helga himmelte ihn, den hoch aufgeschossenen, blonden und blauäugigen Sechsundzwanzigjährigen, sogar unübersehbar an. „Was ist denn los?”, fragte sie schließlich und stützte die Hände auf die Hüften. „Hat er keinen Führerschein, oder sollte er zu dieser Zeit eigentlich woanders sein, zum Beispiel in der Bonbonfabrik?” Helga schüttelte den Kopf und gab sich einen Ruck. „Nein, es ist eher das Mädchen, das da neben ihm saß. Meine Eltern sehen es nämlich nicht gern, dass Karl … ich meine, sie sind jetzt schon ziemlich lange zusammen. Er soll ja noch einmal ins Ausland gehen, und …” „Wie heißt sie denn?”, erkundigte sich die andere Helga. „Vielleicht kenne ich sie ja.” Helga wusste nicht so recht, ob sie antworten sollte, besann sich aber. Immerhin waren Hildegard, Ilse und die andere Helga ihre Freundinnen, und außerdem hatte Karl schließlich nichts Unrechtes getan. „Sophie Winterhoff”, sagte sie und beschleunigte ihre Schritte. „Dabei …” Helga Meyer lachte einmal auf. 119 „Klar kenne ich sie, nicht persönlich allerdings. Ihr Vater ist doch Rechtsanwalt, nicht wahr? Irgendwann, vor gar nicht so langer Zeit, hat er uns mal vertreten. Aber ich glaube” – sie zögerte und warf einen fragenden Blick zu Hildegard hinüber –, „dass er nicht so viele Klienten hat; er ist doch nicht aus Hagen, oder?” „Sie kommen aus dem Kölner Raum”, erklärte Helga, steckte beide Hände tief in die Manteltaschen und sah beim Gehen auf ihre Fußspitzen, „das ginge ja noch. Aber die Winterhoffs sind katholisch.” Hildegard und die andere Helga sahen sich ganz kurz an, und Ilse sagte, sie selber fände das gar nicht schlimm, doch sie hätten sich zu Hause schon einmal darüber gestritten, als sie nämlich das Thema im Religionsunterricht behandelt hatten, und abschließend sei ihre Mutter sehr erregt aufgestanden und habe fast gebrüllt, eine Mischehe, das komme ja nun gar nicht in Frage. „Karl hat mir kürzlich erzählt, dass Sophie bereit wäre, sich evangelisch trauen zu lassen und auch die Kinder evangelisch zu erziehen”, meinte Helga und wäre gestolpert, hätte Hildegard nicht nach ihrem Ellbogen gegriffen. „Die Kinder? Sie ist doch wohl nicht etwa …?”, fragte die andere Helga halb entzückt, halb entsetzt, und Helga schüttelte den Kopf, während Hildegard nichts gehört zu haben schien. „Magst du sie eigentlich ? Ich war ja zufällig anwesend, meine Eltern übrigens auch, als Karl sie bei euch eingeführt hat.” Helgas Stimme klang auf einmal viel lebhafter, und sie wandte sich Hildegard zu. „So zufällig war das gar nicht. Karl hat mir hinterher gesagt, er hätte gewusst, dass ihr bei uns eingeladen wart. Er fand es leichter, Sophie meinen Eltern vorzustellen, wenn Leute dabei waren, weil … ja, weil sie dann doch irgendwie die Form wahren mussten, oder?” „Sie hat jedenfalls ziemlich aufgeschnitten”, meinte Hildegard trocken, „also ich würde nicht gleich bei der allerersten Begegnung jedem aufs Brot schmieren, dass mein Vater, mein Urgroßvater und wohl überhaupt alle männlichen Vorfahren bis zurück zum Neandertaler Jura studiert haben.” Auf einmal zog ein leicht boshaftes Grinsen über ihr Gesicht. „Sophies älterer Bruder, Egon heißt er, wenn ich mich recht entsinne, erledigt seine Sache übrigens besonders gründlich. Er soll so um die dreißig sein und ist mal gerade Referendar in der Kanzlei von Berg und Ostwald.” „Dazu kann diese Sophie doch nichts!”, warf Ilse ein wenig empört ein. „Manche brauchen halt länger.” Hildegard legte ihr beschwichtend den Arm um die Schulter. 120 121 Besonders viel Aufmerksamkeit schenkten die Mädchen den Schaufensterpuppen allerdings nicht, nachdem Ilse mit einem Blick festgestellt hatte, dass zumindest zwei davon Greta Garbo sehr ähnlich sähen, was sie alle zu entmutigen schien. Sie gingen ein paar Schritte weiter und unterhielten sich, jetzt vor Löwensteins Kaufhaus stehend, über den letzten Film der Schauspielerin sowie über ihre Partner, vor allem die beiden Barrymores, und wandten sich dann, Karamellen kauend, den Jungen des Tanzkurses zu. Während die andere Helga an so ziemlich jedem der Obersekundaner und Unterprimaner vom Gymnasium an der Bergstraße etwas auszusetzen fand – der eine hatte Pickel, der andere sollte sich seine Haare öfter waschen, mit dem dritten hatte sie wegen seiner feuchten Hände nicht mehr als einmal getanzt –, erklärte Ilse rund heraus, ihr habe der Unterricht Spaß gemacht. Manchmal sei sie sogar nachts aufgewacht von dem Eins und zwei und Wech-sel-schritt … Nein, nein, mit den Anweisungen ihrer Ballettlehrerin habe das aber nun auch überhaupt nichts gemeinsam; außerdem hätte der junge Mann, der sie zum Schlussball eingeladen habe, Riesenfortschritte gemacht. Hildegard nickte und steckte dabei eine weitere Karamelle in den Mund. „So schön wie John Barrymore ist mein Tanzherr ebenfalls nicht, aber ich will ihn ja auch nicht heiraten.” Die andere Helga und Ilse kicherten. „Die Hauptsache ist doch, dass er tanzen kann, und darauf versteht er sich. Nicht einmal beim Walzer treten wir uns auf die Füße, und im Gegensatz zu so manchem anderen, liebe Helga Meyer, verfügt er über ein unfehlbares Gefühl für Rhythmus.” Die andere Helga wurde rot und biss sich auf die Lippen; David, ihr Schlussballpartner, sah nämlich aus wie ein junger Gott, stellte sich aber beim Tanzen nach wie vor ungeschickt an, und Hildegard war vor Kurzem, als die andere Helga eine wirklich taktlose Bemerkung über eine ihrer Klassenkamera- 122 123 „Du hast natürlich Recht. Nur: Angeben würdest du doch am wenigsten, Ilse.” Die Mädchen hatten die Elberfelder Straße erreicht und blieben zunächst einmal vor der Meyerschen Auslage stehen. „Wie sieht sie denn aus?”, wollte die andere Helga noch wissen. „Das ist ja das Komische an der Sache. Karl hat immer von einer Frau mit glattem blondem Haar geschwärmt, möglichst lang bis zur Taille. Sophies hingegen ist rabenschwarz und zu einem Bubikopf geschnitten.” Sie brachen alle in lautes Lachen aus, und dabei fiel Helgas Blick auf das Schild an der Wand, zwei Häuser neben Meyers. Natürlich, dachte sie, Maßschneiderei Josephine Merten – nicht Fräulein Merten selber selbstverständlich! Und sie nahm sich vor, gleich heute Abend Herta zu bitten, das Konfirmationskleid ihrer ehemaligen Klassenkameradin Ilse für den Schlussball umzuändern. dinnen hatte fallen lassen, der Satz entrutscht, David sei so schön wie die Marmorskulptur von Michelangelo und seine Füße auch genauso schwer. „Und du”, meinte die andere Helga und suchte gleichzeitig etwas in ihrer Schultertasche, „du hast uns ja noch gar nicht … Ach du mein lieber, mein Vater! Es ist ja schon fast fünf, ich habe meiner Mutter versprochen, dass ich mich mit ihr bei Metzgerei Rosenkranz treffe. Seid mir bitte nicht böse, aber ich muss laufen.” „Und die Französischübersetzung?”, rief Helga ihr nach, unendlich erleichtert über den Wechsel des Gesprächsthemas. Sie hatte die ganze Zeit nur gehofft, dass Hildegard nicht verraten würde, wer ihr Schlussballpartner war, denn die andere Helga, so nett und großzügig sie auch oft sein mochte, zählte zu den schulbekannten Klatschbasen. Warum Helga ihr Geheimnis zu diesem Zeitpunkt eigentlich mit niemandem teilen wollte, hätte sie nicht zu sagen vermocht. Es war ja überhaupt schon ein Wunder, dass kein einziger Bekannter Fritz und sie bei ihren Spaziergängen am Hengsteysee oder im Funckepark gesehen hatte. „Die Übersetzung? Ach, es wird schon gehen. Wenn nicht, rufe ich … also ich rufe David an; die haben die Geschichte vor zwei Jahren auch lesen müssen.” Sie winkte ihnen zu und verschwand zwischen den Passanten. Hildegard, Ilse und Helga setzten ihren Bummel nun aber doch fort, betraten sogar einige der Damenoberbekleidungsgeschäfte und ließen sich Preise nennen. Während es Helga ausgesprochen unangenehm war, einen Laden mit nichts als einem Dankeschön an die Verkäuferin zu verlassen, meinte Hildegard, und Helga gab ihr natürlich Recht, wenn man fertige Sachen anbiete, müsse man darauf vorbereitet sein, dass sie nicht jedem gefielen. Mit einem Schneider bespreche man halt alles vorher, und dann passe so ein Kleid auch genau. Trotzdem fühlte sie sich wohler, als sie den Rand der Innenstadt erreicht hatten und sich auf den Heimweg machten. „Ist es möglich, dass mir gestern deine Schwester Luise mit ihren beiden Kindern begegnet ist?”, fragte Ilse und ließ sich auf die hölzerne Bank der Elektrischen fallen. „Ich kenne sie ja kaum, aber das kleine Mädchen sah dir wirklich ungeheuer ähnlich.” Helga lachte. „Das sagen alle. Kathrinchen ist mir wirklich aus dem Gesicht geschnitten, und ich wollte immer schon unsere BioLehrerin aushorchen, wie so etwas möglich ist; sie gleicht mir mehr als ihrer eigenen Mutter.” „Apropos Mutter”, meinte Hildegard, „herrscht da jetzt endgültig Frieden?” „Ja, seit Kathrinchens Geburt haben sich meine Eltern wohl wirklich beruhigt. Vor allem meine Mutter … aber das ist sicher bis an eure Ohren gedrungen. Sie hat ja mit ihrer Mei- 124 125 nung nirgends hinter dem Berg gehalten, fand das Verhalten von Herrn Rellinghaus unmöglich, unverantwortlich” – Helga suchte nach Worten. „Anfangs hat sie sich geweigert, ihn überhaupt zu empfangen. Es störte sie einfach alles an ihm, bis zu dem Schmiss in seiner linken Backe, obwohl er von seiner Zeit als Chorstudent so gut wie nie spricht. Als Otto junior auf die Welt kam, ist sie nicht einmal ins Krankenhaus gegangen, wohin sie Luise in letzter Minute transportiert hatten. Ottochen ist ja mit einem Kaiserschnitt rausgeholt worden, und Luise wäre fast auf der Strecke geblieben, so wie die Frau von Paule Beckmann. Und als sich meine Mutter gerade dazu durchgerungen hatte, einen Strich unter die Sache zu ziehen, da stand auf einmal Christine bei uns vor der Tür.” Helga seufzte, und Hildegard, die mit ihrem Schal gespielt hatte, rutschte einmal auf der harten Bank hin und her. „Davon weiß ich ja gar nichts. Erzähl mal!” „Muss vor ungefähr zwei Jahren gewesen sein, jedenfalls in der Weihnachtszeit. Luise erwartete das Kathrinchen; so sollte das Kind nämlich heißen, wenn es ein Mädchen würde. Da klingelte es unten an der Tür, Ida öffnete und meldete – ich schlug mich gerade mit einer Mathematikaufgabe herum – jemanden namens Chrischtine, so sprach sie den Namen aus. Sie war natürlich besser auf dem Laufenden als ich, und ich fragte ziemlich blöd: Christine? Da stürmte aber auch schon meine Mutter durchs Zimmer, polterte richtig die Treppe hinunter; sie muss meinen Vater aus seinem Büro geholt haben, und … Ganz genau habe ich’s nicht mitgekriegt, aber Christine, sie ist die Tochter aus der ersten Ehe von Herrn Rellinghaus und nur ein Jahr jünger als ich, muss wohl gesagt haben, sie wolle ihren Vater abholen; schließlich sei bald Weihnachten, und das möchte sie doch wie früher mit ihm feiern. Kurz darauf erschien zuerst Dr. Rosenthal, dann kam mein Schwager und ganz zum Schluss auch noch seine geschiedene Frau. Die nahm Christine mit, und eine Woche später, das erzählte Ida dem Rudolf und mir, wurde Christine in eine Heilanstalt eingewiesen, nicht für lange Zeit, aber immerhin.” Ilse starrte Helga an. „Und wo ist sie jetzt?”, erkundigte sie sich. „Gott sei Dank geht es ihr wieder richtig gut. Sie sind aus Hagen weggezogen, aber Christine besucht Luise manchmal, für eine Woche oder so. Ich wollte es zuerst nicht glauben: Sie haben sich mehr zu sagen als Luise und ich.” „Kann ich mir gut vorstellen”, brummelte Hildegard vor sich hin und sprang auf. „Alle Mann aussteigen!”, rief sie und fügte noch hinzu, zuerst wollten sie Ilse nach Hause begleiten, und dann solle Helga noch kurz mit zu ihr kommen; sie müsse ihr etwas geben. „Von Fritz”, setzte sie flüsternd hinzu, „meine Eltern haben ihn heute Morgen besucht.” 126 127 Auf der Eckeseyer Straße herrschte eindeutig ein dichterer Verkehr als sonst gegen kurz vor sechs. Die Mädchen ließen ohne ihn loszulassen, tat so, als werfe sie einen Blick auf ihre Armbanduhr, und murmelte, sie müsse sich jetzt aber sputen; es sei ja schon fast halb sieben. Bevor sie in den Regen hinaustrat, nahm sie gerade noch wahr, wie Hildegard ihre Mutter fragend anschaute. Unter einem erleuchteten Vordach blieb sie stehen und riss mit fliegenden Fingern den Umschlag auf. Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Schlangen von Lastwagen, Radfahrern und Kraftfahrzeugen hinter sich, gingen schnellen Schritts von einem Lichtkegel zum nächsten. Wie Ida eher spöttisch als ernst vorausgesagt hatte, begann es zu nieseln. Aus der entgegengesetzten Richtung vernahmen sie die Sirene eines Feuerwehrwagens, und Helga glaubte, in der Ferne das Gefährt der Werksfeuerwehr gesehen zu haben. Während Ilse ihnen noch einmal zuwinkte, bevor sie in der Bäckerei an der Ecke Eichendorfstraße verschwand, sprangen Hildegard und Helga die drei Stufen zur Blankensteinschen Haustür empor. „Sie hat doch immer Recht, die Ida”, meinte Helga. „In Amerika könnte sie sicher Geld damit verdienen; da soll es ja Regenmacher geben.” Hildegard zog schnell ihren Mantel aus und hängte ihn auf einen Kleiderbügel. „Ich hol dir eben den Brief”, sagte sie, schon auf der Treppe. „Den Brief?” Helga war viel zu überrascht, um einen klaren Gedanken fassen zu können. Warum hatte Fritz ihn denn nicht, wie sonst, mit der Post geschickt, und was machte ein Brief an sie bei seinen Eltern? Aber da streckte ihr Hildegard den Umschlag schon entgegen, und im gleichen Augenblick trat Frau Blankenstein aus dem Esszimmer. Sie sagte gar nichts, sondern schloss Helga ganz fest in die Arme und strich ihr dann einmal über den Kopf. Helga steckte den Brief in die leicht feuchte Manteltasche, Helleken, las sie, Du wunderst Dich sicher, warum ich Dir auf diesem Weg einen Brief zukommen lasse, zudem wir vorgestern Abend noch miteinander geredet haben, wenn auch nur über eine Fernsprechleitung. Ich gebe ihn meinen Eltern mit, die ich morgen früh hier in Aachen sehen werde; Hildegard erfährt dann von ihnen das, was ich Dir jetzt schweren Herzens schreibe. Mehrere Bogen sind schon in den Papierkorb gewandert, weil ich fürchte, mit einer gewissen Ich-Bezogenheit jedoch auch hoffe, dass Dir die folgende Neuigkeit nahegehen wird. Dass ich mich hier und da um ein Forschungsstipendium beworben habe, ist Dir ja bekannt. Nun erhielt ich gestern Morgen eine Zusage aus Amerika, genauer vom Massachusetts Institute of Technology, unterzeichnet vom dortigen Präsidenten, der übrigens mit Vornamen Karl heißt wie Dein großer Bruder. Sie ist an zwei Bedingungen gekoppelt: erstens, dass ich meine Doktorprüfung mit 128 129 Helga starrte mit dem Bogen in der Hand in den feinen Regen, faltete den Brief dann mechanisch, aber sorgsam und steckte ihn zurück in den Umschlag, bevor sie unter dem schützenden Dach hervor auf den Bürgersteig trat. Beide Hände tief in die Taschen gedrückt, schlug sie mit hoch gezogenen Schul- tern die Richtung ein, aus der ihr erstaunlich viele Menschen entgegenströmten; das bemerkte sie, obwohl sie mit ihren Gedanken bei dem war, was Fritz ihr mitgeteilt hatte. Sie öffnete ihren Schirm wieder und beschloss, nicht auf dem kürzesten Weg nach Hause zurückzukehren, weil jetzt Tränen über ihre Wangen liefen und sie es sich eigentlich abgewöhnt hatte, außer Rudolf jemandem aus ihrer Familie Einblick in ihre Gefühle zu gewähren. Fritz, dachte sie zunächst immerzu, Fritz wird nicht mehr da sein, Fritz mit seinen behutsamen Händen, der sie beschützte und gleichzeitig öffnete; das klang zwar widersprüchlich, aber es war so: Ihm gelang es bei jeder Begegnung mehr, ihr die Scheu vor ihrem eigenen Körper zu nehmen, vor ihrem Busen zum Beispiel, den sie als viel zu groß empfand. Von ihm hatte sie auch all die Auskünfte erhalten, nach denen sie niemand zu fragen wagte, weder Ida, die mit Anspielungen auf das, was sich in Schlafzimmern abspielte, geradezu um sich warf, noch Luise und am allerwenigsten ihre Mutter, die sich, wie Helga einzuräumen bereit war, auf die vollkommenste Weise um Haushalt, Kinder und sogar ihr zufallende Aufgaben im Betrieb kümmerte, aber irgendwie abgeschottet wirkte, so, als bleibe da auch nicht die geringste Lücke für eine tastend vorgebrachte Frage oder einen Zweifel. Ohne zu wissen warum, sah Helga wieder einmal Ida vor sich, wie sie vor dem Herd stand und erzählte, die Maria, das faule kleine Stück aus der Musterabteilung, habe es erwischt, sie sei wohl auf jemanden 130 131 magna cum laude oder mindestens cum laude abschließe, zweitens an den Erwerb einer Einreiseerlaubnis, also eines Visums. Die Leute dort scheinen aber großes Vertrauen in mich zu setzen, denn Mr. Compton oder doch wohl eher seine Mitarbeiter haben bereits begonnen, ihrerseits die nötigen Unterlagen zusammenzustellen. Wenn alles glatt läuft, könnte ich Anfang 1933 in die Staaten reisen. Selbst zu tragen sind lediglich die Kosten für die Überfahrt; für alles andere kommt das M.I.T. auf. Ist das nicht fantastisch? Wenn ich mich einerseits also freue und auch ein wenig stolz bin, nicht zuletzt deshalb, weil meine Eltern immer an mich geglaubt und mir ein langes Studium finanziert haben, so denke ich andererseits jetzt schon daran, dass Du mir an Leib und Seele fehlen wirst. So seltsam das auch klingen mag – es trifft genau das, was ich empfinde. Glücklicherweise verlasse ich Deutschland ja noch nicht sofort, und ich hoffe, dass Du Dich für unseren Schlussball nicht verkleidest, sondern mein liebstes Helleken bleibst. Rufe mich bitte nicht gleich an. Ich wüsste noch nichts zu sagen. Immer Dein Fritz. reingefallen, und der wolle sie jetzt nicht heiraten. Etwas von ,unehelichem Balg’ hatte sie triumphierend gesagt und hinzugefügt, so etwas könne Helga ja nicht passieren, nicht wahr, denn sie sei gewiss in der Schule aufgeklärt worden. Das traf indessen keinesfalls zu, obwohl sie natürlich in der Obertertia die Anatomie des Menschen durchgenommen hatten, anhand von Schaubildern, einem Skelett und sogar einiger in Spiritus aufbewahrter Embryos. Aber was man sich unter ,Geschlechtsverkehr’ vorzustellen hatte, war umgangen worden, vielleicht sogar deswegen, weil ihre Biologielehrerin überzeugt war, da seien alle ihre Schülerinnen auf dem Laufenden. Fritz hatte sie mit den Fachausdrücken vertraut gemacht, ihr dabei den Arm um die Schulter gelegt, am Hengsteysee war das gewesen in diesem Sommer, und war abschließend vor ihr stehen geblieben. „Jetzt kennst du die nüchterne, wissenschaftliche Seite”, hatte er gemeint. „Doch wenn zwei Menschen sich lieben, so wirkt dieses Gefühl wie eine Zauberformel, und von der Nüchternheit bleibt nichts mehr übrig.” Er mit seinen fast sechsundzwanzig Jahren habe das schon mehrmals in Erfahrung bringen dürfen, doch wie sie sehe, könne man sich da auch irren. „Drum prüfe”, hatte er lachend zitiert, als er in Helgas Gesicht und Gestik eindeutige Zeichen von Eifersucht wahrnahm, „was sich ewig bindet, ob sich nicht noch was Bess’res findet. ” Wieder ernst hatte er noch ergänzt, manchmal verwechsle man eine rein physische Anziehung mit dem Einklang von Körper und Geist oder Seele, die er letzten Endes anstrebe; er suche natürlich nach einer Frau für Kopf, Herz und Bett, um es auf eine knappe Formel zu bringen. Das bedeute aber auch, dass man den einen Zügel nie stärker anziehe als den anderen. Helga hatte ohne jede Schwierigkeit seinem Gedankengang bis in die Einzelheiten zu folgen vermocht, und trotz der Unruhe und einer unbestimmten Sehnsucht, die jede seiner Berührungen in ihr auslöste, war sie froh gewesen, dass Fritz sie noch nicht vor die Entscheidung gestellt hatte, die sie früher oder später würde treffen müssen. Die Unschuld verlieren, so hatte es die Biologielehrerin das genannt, was ihr seit Fritzens sachlicher und dabei sehr liebevoller Einführung als ,Entjungferung’ bekannt war. Luise hingegen hatte kürzlich in einer Bemerkung ziemlich krass von ,Beischlaf’ und von dem Problem gesprochen, ungewollten Schwangerschaften vorzubeugen. Nun aber würde Fritz nach Amerika gehen, mindestens für ein Jahr, wahrscheinlich für länger. Dort würde er ältere Mädchen kennen lernen, Studentinnen oder erfahrene junge Frauen, die wie er Forschungsarbeit betrieben und deshalb viel mehr mit ihm gemeinsam hatten als sie, noch nicht siebzehn und so schlecht in Latein und Mathematik, dass sie vermutlich nicht einmal die Reifeprüfung würde ablegen können. In diesem Augenblick empfand sie es keinesfalls als tröstlich, dass ihr Englisch viel schöner klang als das von Fritz und dass sie in Deutsch und Französisch zu den besten Schülerinnen zählte; die kaum noch genügenden Noten in den beiden ,Denkfächern’, 132 133 wie ihr Klassenlehrer sie nannte, gefährdeten jetzt schon ihre Versetzung. Sie würde Fritz nie ebenbürtig werden können. „Da bist du ja, Helga, Helleken, wir haben schon gedacht, dir sei etwas zugestoßen in der Stadt. Komm mit, es ist was Schlimmes passiert: Der Alte Fritz brennt.” Ida stand vor ihr und redete pausenlos auf sie ein, umschloss dabei Helgas Oberarme so fest, dass sie aufschrie, und sah ihr mit wild blitzenden Augen ins Gesicht. Es schien ihr nicht aufzufallen, wie verstört Helga war. „Die Sirenen muss man doch auch in der Stadt gehört haben”, rief Ida und schleifte Helga hinter sich her. „Vor einer halben Stunde haben sie die Werksfeuerwehr angefordert; zum Glück waren die Männer noch nicht nach Hause gegangen, es hatte ja gerade Feierabend geläutet. Die gnädige …, also deine Mutter hat mir erlaubt, dass ich mal nachschaue. Du weißt ja: Der Paule ist auch dabei.” Helga erwachte vollständig aus ihrer Starre und bahnte sich gemeinsam mit Ida einen Weg durch die immer dichter werdende Menschenmenge, die sich auf die brennende Gaststätte zuschob. Über den Köpfen und den vereinzelten Regenschirmen konnte sie jetzt den Himmel sehen: Flammen loderten hoch über die Baumkronen hinweg, deren bereits kahle Äste im Regen glänzten, und Helga dachte, dass die Holzbalken des Fachwerkhauses dem Feuer bestimmt nicht lange standgehal- 134 ten hätten. In den Putz war neben Lehm wohl auch Stroh gemischt, und nur das Schieferdach würde nicht brennen. Sie hatten die Brandstelle fast erreicht, als ein dumpfer Knall und gleichzeitig ein Schrei aus vielen Kehlen an ihre Ohren drangen. Ida blieb kurz stehen, schlug beide Hände vor ihren weit aufgerissenen Mund und zog Helga dann an einer Hand hinter sich her, wobei sie mit ihren Ellbogen um sich stieß und alle, die ihr den Weg verstellten, zur Seite drängte. Als sie sich bis zum Brandort durchgekämpft hatten, flogen Idas Blicke zwischen zusammengekniffenen Lidern von den schwarzen Umrissen der Männer zu den Schläuchen, die sich über den Boden wanden, hin bis zu den Mauerresten und den Dachbalken, die gerade mitsamt der Beschieferung herabgestürzt waren. „Paule”, brüllte sie plötzlich, „Paule!” Mit einer Kraft, die Helga nie bei ihr vermutet hätte, riss Ida sich von dem Feuerwehrmann los, der sie zurückhalten wollte, kniete neben der ausgestreckten Gestalt in der Löschwasserpfütze nieder und versuchte, den verkohlten Balken von Paules Bein zu wuchten. Helga blieb zunächst regungslos neben ihr stehen, schaute auf Paules rußgeschwärztes Gesicht und fing einen Blick aus seinen Augen auf, die sich immerzu öffneten und schlossen. Plötzlich drehte sie sich zu der Menschenmenge um. 135 „Warum hilft ihm denn keiner?”, schrie sie und bemerkte gerade noch, wie sich einige Männer aus der vorderen Reihe lösten. 136 8. Kapitel: Advent 1933 „Meine Mutter hatte ja erwähnt, dass du zu Weihnachten nach Hause kämest, aber dass wir uns so kurz nach deiner Ankunft über den Weg laufen, ist doch nun wirklich ein Zufall”, sagte Herta Dennersmann und hakte sich bei Helga ein. „Mit einer Freundin aus BdM-Zeiten habe ich die Mittagspause genützt, die letzten Geschenke zu besorgen – dass in diesem Jahr der Heilige Abend mit dem 4. Advent zusammenfällt, lässt einem ja wirklich nicht viel Zeit zum Einkaufen, vor allem, weil wir im Atelier wahnsinnig viel zu tun haben. Wen wundert’s? Etwas Neues zum Anziehen für die Festtage und besonders für den Sylvesterball braucht man halt, wenn man zum Kundenkreis von Fräulein Merten gehört. Wie lange bleibst du denn, und hast du schon etwas vor, oder machst du, wie man so schön sagt, in Familie?” Helga lachte. „Ich habe sie ja alle seit den Sommerferien nicht gesehen, eigentlich seit der Hochzeit von Karl und Sophie, und da freue ich mich richtig darauf, einmal in aller Ruhe zum Beispiel mit Rudolf plaudern zu können. Immer nur Briefe, das ist eigentlich eher eine Notlösung, wenn ich mich natürlich auch riesig über Post freue. Um vier Uhr hole ich Ilse Fandrey am Stadttheater ab, nach ihrer Ballettprobe. Und am zweiten Feiertag bin ich bei Blankensteins eingeladen …” 137 Helga hatte den Eindruck, als ob Herta eine Frage herunterschluckte, bevor sie eine andere stellte. „Und Helga Meyer – werdet ihr euch auch treffen?” Aber dann konnte sie ihre Gedanken doch nicht für sich behalten. „Sag einmal, so ganz habe ich das damals nicht verstanden, ich meine, weshalb du Ostern von der Schule abgegangen bist. Obersekunda, das ist doch nichts Halbes und nicht Ganzes; entschuldige meine Offenheit. Aber so gescheit wie die andere Helga bist du allemal.” Helga vergrub beide Hände tief in den Taschen ihres dicken Wintermantels und senkte den Kopf so tief, dass unter dem Hutrand von ihrem Gesicht nichts mehr zu sehen war, während Herta ihre Schritte dermaßen zügelte, dass die Menschen einen Bogen um sie machten. „Ich versuch einmal, mich kurz zu fassen. Im Januar habe ich einen Blauen Brief bekommen, wegen Mathematik. Das kann ich einfach nicht. Bis dahin ließ sich die Note indessen mit einem Gut in Deutsch ausgleichen, und in den Fremdsprachen … Außerdem waren meine Leistungen in Latein im ersten Halbjahr unter Genügend gesunken, und zwei Fächer – da ist nichts zu machen. Dr. Möhle hat meinen Eltern vorgeschlagen, mich auf die Frauenoberschule überwechseln zu lassen; da kann man zwischen zwei Zweigen wählen, einem technischkünstlerischen und einem, in dem man Hauswirtschaft lernt und auf Pflegeberufe vorbereitet wird. Mit den wissenschaftlichen Fächern hätten die Schulteschen Mädchen es wohl nicht, soll er gesagt haben. Ihm steht wahrscheinlich Luises Auftritt noch vor Augen. Aber in der FOS lernen sie nur eine Fremdsprache, und eigentlich macht mir genau das Spaß. Im Luisenhof …” Herta runzelte die Stirn und fiel Helga ins Wort. „Meine Mutter … nimm’s mir bitte nicht übel und sag ihr um Himmelswillen nicht, dass ich was ausgeplaudert habe, ja? Meine Mutter hat früher manchmal Spekulationen darüber angestellt, wie euer Karl zu seinem Abitur gekommen ist. War ja schon ein bisschen eigenartig, nicht wahr, dieser Wechsel zum Paedagogium, wo sie die Schüler doch wohl trimmen, die reinste Paukerei soll das sein, und kosten tut die Sache auch einen tüchtigen Batzen Geld. Warum haben sie dir denn nicht ein paar Privatstunden bei Frau Fandrey spendiert? Die kennt ihr doch sogar, und außerdem hätten deine Eltern damit ein gutes Werk getan.” Helga hob den Kopf nur kurz, weil sie nicht wollte, dass Herta die Tränen sah, die in ihren Augen standen, senkte ihn dann wieder und erwiderte, Karl sei ja ein Junge, natürlich inzwischen längst ein Mann. „Für Rudolf”, fuhr sie nach einer kurzen Pause fort, „werden sie wohl auch Nachhilfe bezahlen. Bis jetzt schlägt er sich, glaube ich, ganz gut ohne durch, wenn ihm vermutlich auch bald jemand bei seinen Französischhausaufgaben unter die Arme greifen muss; im Englischen hapert’s ebenfalls an Grammatikkenntnissen, wie er mir kürzlich schrieb. Wenn alle Stri- 138 139 cke reißen, stecken sie ihn in ein Internat. Aber bei mir haben sie gemeint, ich würde ja sowieso heiraten.” Jetzt wischte sie doch mit dem Handschuh über die Augen und sah deshalb nicht, wie empört Herta war. „Dass du mal heiratest, ich auch und die Hildegard und Ilse und unser Schneiderlehrling, ist ja sehr wahrscheinlich, wo es für Mädchen unserer Generation vermutlich genug Männer gibt. Aber das ist doch kein Grund dafür, dir nicht das Gleiche zukommen zu lassen wie deinen Brüdern. Die Luise, mit der hätten sie das nicht machen können!” Herta schlug sich auf den Mund, aber auch das sah Helga nicht. Diesmal presste sie beide Hände auf die Lippen, schüttelte sich und sagte dann so laut, dass sich einige Passanten umdrehten, der Satz sei ihr nur so herausgerutscht. „Helleken, bitte bitte, sei mir nicht böse, ich bin eine gedankenlose dumme Kuh. Manchmal höre ich ja so hier und da, was du machst, aber wenn man sich so selten sieht … Auf jeden Fall wäre es nicht schlecht gewesen, wenn du im Frühjahr, ich meine, als du in der Schule so viel um die Ohren hattest, einmal mit zum BdM gekommen wärest.” Herta blieb stehen und baute sich vor Helga auf. „Meine Mutter war ja zuerst auch nicht dafür, und Franz … Du kannst dir kaum vorstellen, wie er dagegen wettert. Aber der Lehrling, den Fräulein Merten voriges Jahr zu Ostern eingestellt hat, war ganz begeistert davon. Weißt du, wenn sie von einer Fahrt zurückgekehrt sind, hat sie in der Nähstube davon geschwärmt – Lagerfeuer, Lieder zu Gitarrenbegleitung und eben alles gar nicht teuer. Die Heimabende gefallen ihr wohl weniger, mir ehrlich gesagt auch nicht so, weil man doch stark spürt, dass man da von etwas überzeugt werden soll. Franz nennt das ,Indoktrinierung’, wenn du verstehst, was das bedeutet.” Helga nickte, schwieg aber. „Wir sind ja eigentlich auch schon zu alt für den BDM”, fuhr Herta fort, „mit achtzehn … ja, mit achtzehn gehört man nirgends mehr richtig hin, ist kein Mädel mehr und noch keine Frau; in der NS-Frauenschaft nehmen sie einen erst, wenn man volljährig ist.” Sie hakte sich wieder bei Helga unter, und gemeinsam zogen sie an den hell erleuchteten Schaufenstern vorbei, ohne auch nur einen Blick hineinzuwerfen. „Wie gesagt, Politik interessiert mich nicht so, und bei den Heimabenden habe ich meist weggehört. Aber was mir gefallen hat, das kannst du gewiss verstehen: Man ist von zu Hause fort, keine Mutter nörgelt an einem herum, weil man zum Beispiel zu viel Lippenstift aufgetragen hat.” „Ich dachte, Lippenstift und Wimperntusche seien verpönt; da gibt es doch einen Satz wie Ein deutsches Mädel schminkt sich nicht, oder?” Herta lachte. „Stimmt schon! Ich hab ein schlechtes Beispiel gewählt, was aber nichts daran ändert, dass ich mich im BdM wirklich 140 141 freier fühle. Sonst schreibt dir doch immer jemand vor, was du tun und lassen sollst – sagen wir mal: nicht zu lange aufbleiben, weil man in der Schule oder am Arbeitsplatz sonst nicht sein Bestes leisten kann. Natürlich gibt es beim BdM auch Mädelschaftsführerinnen und wie sie sonst noch alle heißen; doch habe ich das nie als störend empfunden. Man ist mit Mädchen seines Alters zusammen. Deswegen meinte ich ja, du hättest einmal mitkommen sollen, weil man da richtig sein Herz ausschütten kann, vor allem bei Wochenendveranstaltungen, wo man nachts so lange reden darf, wie man will, jedenfalls, wenn man niemanden damit am Einschlafen hindert.” Helgas Stimme klang auf einmal um so vieles fröhlicher, dass Herta erneut stehen blieb und sie anschaute. „Im Luisenhof – so heißt die Landfrauenschule, in die meine Eltern mich geschickt haben – tun wir das auch. Deshalb empfinde ich es jetzt auch nicht mehr als so schlimm wie ganz zu Anfang, das Abitur nicht abzulegen und nicht mehr mit Hildegard in eine Klasse zu gehen. Darunter habe ich am allermeisten gelitten, um ehrlich zu sein. Die Mädchen dort sind wirklich nett, und mit einigen habe ich mich richtig angefreundet.” Während sie sprach, kramte sie in ihrer Schultertasche herum, zog schließlich ein Foto heraus und trat unter eine Straßenlaterne. „Erkennen wirst du nicht besonders viel, nicht einmal im Lichtkegel. Aber sieh mal, dies ist Brigitte von Albertyll; neben ihr stehen Carla, Lilo, Anneliese und Gaby.” Herta hob die Aufnahme näher an ihre Augen. „Tragt ihr da so eine Art Uniform? Und sogar Kopftücher?” „Ja, natürlich. Die Kleider werden von einer Firma in Schlesien angefertigt, und jede Maid muss sie bei der Arbeit anlegen; aber ich finde, dass sie ganz passabel aussehen, blau-weiß gestreift, längs, das macht schlanker. Kopftücher, das kennst du ja von deiner Mutter: Hygienevorschriften müssen wir natürlich auch einhalten, nicht nur beim Kochen – das berühmte Haar in der Suppe … Nachmittags zum Unterricht und an Festtagen holen wir die hellblaue mit weißem Einknöpfkragen und Manschetten aus dem Schrank – die würde selbst dir gefallen, glaube ich. Eine Schürze gehört übrigens auch dazu, das heißt, wir haben sogar mehrere verschiedene, je nach der Tätigkeit, die wir gerade verrichten, im Garten oder …” Herta lachte. „Schürzen haben sie beim BdM noch nicht eingeführt, Uniformen freilich schon. Das hat mich anfangs gestört, muss ich zugeben, wo ich doch als Schneidergesellin jede Kundin nach ihrem Typ kleide, aber hässlich sind sie eigentlich nicht. Wie gesagt, mit achtzehn ist Schluss, aber ich denke mal, dass ich mich mit einigen Mädchen aus meiner Gruppe weiterhin treffen werde.” 142 143 Herta hatte es endlich fertig gebracht, mit ihren behandschuhten Fingern einen Ärmel hoch zu streifen und einen Blick auf ihre Armbanduhr zu werfen. „Entschuldige”, rief sie, umarmte Helga rasch, aber sehr herzlich und meinte, es sei schön, dass sie sich so unerwartet auf dem Weihnachtsmarkt getroffen hätten, doch jetzt müsse sie dringend zurück ins Modeatelier, und Ilse trete sicher auch schon ungeduldig auf der Stelle. „Wir sehen uns, nehme ich einmal an, ja sowieso bei Franzens Hochzeit in der Kirche, oder bist du da schon nicht mehr in Eckesey? Vorher wird sich’s nicht mehr einrichten lassen. Ich nähe ja Elses Brautkleid, allerdings in meiner Freizeit; das bin ich meinem Bruderherz doch schuldig.” Sie wandte sich zum Gehen, besann sich jedoch und schlug Helga vor, sie bis zu Fräulein Merten zu begleiten; bis zu dem Treffen mit Ilse bleibe ihr ja noch fast eine halbe Stunde. Als Helga zustimmte, zog Herta sie am Arm und kicherte. „Das hast du natürlich nicht mitbekommen, aber in in der Westfälischen Landeszeitung haben sie geschrieben, dass in diesem Jahr allein zu Weihnachten zwanzigtausend Paare heiraten, alle doch wohl wegen dieser Ehestandsdarlehen. Stell dir vor: Mit jedem Kind, das sie dem Staat schenken, ermäßigt sich die Summe, die sie zurückzahlen müssen. Da verlob ich mich doch auch gleich, mit dem großen Bruder von Ernst August Albers zum Beispiel – erinnerst du dich an den furchtbaren Knaben aus der Volksschule? Der Johann ist ja inzwischen längst Vorarbeiter bei Plates und bringt ganz schön was nach Hause. Dabei fällt mir ein …” Herta zögerte, sprach dann aber doch weiter. „Am besten frage ich einmal gerade heraus: Schreibt ihr euch noch, der Fritz und du?” „Ja”, – Helga schluckte –, „allerdings nicht mehr so oft wie zu Anfang. Es ist ja schneller gegangen, als er gehofft hatte, und Mitte Januar, aber das hat dir bestimmt jemand erzählt, ist er dann von Cherbourg nach New York gefahren, auf der Europa. Zuerst hat er mir jede Woche einen Brief geschickt, und es klang auch so, als wolle er nach ein, zwei Jahren wieder nach Deutschland zurückkehren. Aber dann passierten all diese Dinge im April, eigentlich Ende März schon, der Boykott der jüdischen Geschäfte, Plakate überall, die Aufmärsche der SA mit diesen Uniformen …” „Scheußlich, nicht wahr? Es mag ja sein, dass unser Führer die Wirtschaft wieder in Schwung bringt und dieser furchtbaren Arbeitslosigkeit Herr wird mit seinen Autobahnen und was er sonst noch alles plant. Aber diese braunen Uniformen, die verletzen doch mein Auge jedesmal. Übrigens – das mit dem Boykott war ja wohl ein Schlag ins Wasser, jedenfalls hier in Hagen. Meine Mutter ist extra zu Issers gegangen, wo sie sonst nie einkauft, und im Lager haben sie sich abgesprochen, sind alle zu Löwensteins und zu Meyers marschiert, um sich da die Frühjahrsmode anzuschauen. So voll, sagte meine Mutter hinterher, sei es da sonst selten gewesen, obwohl da jemand 144 145 am Ausgang stand und die Kunden fotografierte, um sie einzuschüchtern. In der Zeitung nannten sie das dann ,Trotzkäufe’!“ Herta redete ununterbrochen, offensichtlich erleichtert, dass ihre ehemalige Klassenkameradin ohne langes Hin und Her erzählt hatte, was ihr Kummer bereitete. Jetzt lächelte Helga sogar. „Bei einigen Geschäften haben sich die Nationalsozialisten tüchtig geirrt. Sie hatten sich wohl nicht genau erkundigt und einen Fritz Berg mit einem anderen verwechselt”, fuhr Herta fort, und ausnahmsweise fiel ihr diesmal Helga ins Wort. „Das hat mein Vater in einem seiner Briefe erwähnt. Sogar den alten Apotheker Berg, dem unsere Firma so viel verdankt … er hat meinen Vater vor zig Jahren darauf hingewiesen, dass außer Zucker, Lakritz und ein paar anderen Zutaten unbedingt Kondensmilch in das Hustenkaubonbonrezept gehört, damit die Masse geschmeidig bleibt, – selbst dem wollten sie ans Leder! Auch bei Leuten namens Meyer, mit i oder y, ist so einiges schief gelaufen. Früher hat sich doch niemand, also jedenfalls kaum jemand, darum geschert, ob jemand Jude oder Christ war. Da ging es ja viel häufiger um katholisch und evangelisch, erinnerst du dich noch? Fritz …”, – sie senkte den Kopf kurz, sprach dann aber rasch weiter–, „Fritz hat mir geschrieben, dass diese Boykottaktion überall im Ausland, nicht nur in Amerika, schlecht aufgenommen wurde, also dass sich viele Geschäftsleute dort überlegten, ob sie weiterhin Beziehungen zu Deutschland aufrecht erhalten sollten. Aber seltsam war die Geschichte schon, ich meine, dass jüdische Vereine wie dieser Frontkämpferbund zum Beispiel sich öffentlich gegen eine Einmischung des Auslands aussprachen; den Artikel aus der Hagener Zeitung hat mein Vater mir im April neben den Frühstücksteller gelegt.” Beide Mädchen legten schweigend ein paar Schritte zurück. „Was hätten sie denn tun sollen?”, meinte Herta dann. „Sie sind doch Deutsche, sie wohnen und arbeiten hier seit ewigen Zeiten. Hätten sie sich wehren sollen? Das wäre nie und nimmer ohne Gewaltanwendung abgegangen. Diese SA-Männer jagen sogar mir Angst ein; ich gehe ihnen sorgsam aus dem Weg, wenn sie einen über den Durst getrunken haben.” Helga nickte. „Idas Bruder Erich ist bei der SA. Er zählt zu den allerersten Mitgliedern der NSDAP, und das hat ihm beruflich sogar geschadet, ganz zu Anfang, als sie zwischendurch mal verboten war, hat Ida mir erzählt. Jetzt steht er natürlich fein da mit seinem Parteibuch. Aber er gehört bestimmt nicht zu denen, die auf der Straße herumgröhlen. Vielleicht hat das damit etwas zu tun, dass sein Großvater noch lebt, der alte Bauer Effenkamp. Der hat seine Augen und Ohren einfach überall … und außerdem eine Nase dafür, was sich am politischen Horizont so abzeichnet.” „Ist das dieser uralte Mann mit der Pfeife und dem immer sauber gebürsteten Anzug, der öfters mal mit Päulchen zusammen die Ida abholt, in einer richtigen Kutsche?” 146 147 „Ja. Niemand wusste, was aus Päulchen werden sollte”, erwiderte Helga. „Die Eltern von Fräulein Lange, Paule Beckmanns erster Frau, sind beide tot, der Vater im Krieg gefallen am Chemin des Dames, die Mutter an einer Lungenentzündung gestorben”, – sie hielt kurz inne und putzte sich die Nase –, „dann sein Vater letztes Jahr nach dem Brand vom Alten Fritz … Das habe ich übrigens aus nächster Nähe mitbekommen. Zuerst dachten sie ja, also die Ärzte im Sankt-Josefs-Hospital, es sei nur das Bein abgequetscht worden von dem Balken, aber dann haben sie doch gemerkt, dass er verblutete. Er musste irgend eine innere Verletzung erlitten haben, und wenig später starb er. Du kennst ja unsere Ida und hast auf der Beerdigung gesehen, wie gefasst sie wirkte. Aber das stimmt alles nicht, der Schein trügt. Ich glaube, sie hätte sich umgebracht, wenn das Päulchen nicht gewesen wäre.” Herta streifte Helgas Gesicht mit einem Blick und sagte dann zögernd, Paule sei sozusagen ihre letzte Chance gewesen, habe ihre Mutter gemeint, und Päulchen gebe ihrem Leben jetzt einen Sinn. „Die Frauen aus der Generation”, fügte sie abschließend hinzu, „haben wirklich Pech; denk nur an Fräulein Dahm. Die wenigsten bekommen einen Mann ab, weil sie alle gefallen sind in diesem blödsinnigen Krieg.” Helga legte einen Finger auf den Mund. „Pst! Es wird ja häufig vom ,Versailler Schandfrieden’ geredet, aber an die Frontkämpfer rühr doch besser nicht. Viele von ihnen, einmal abgesehen von meinem Vater und Onkel …”, – sie hielt inne –, „Herrn Blankenstein, glauben doch immer noch felsenfest daran …” „Auweh”, meinte Herta plötzlich und wies auf den Eingang des Hauses in der Kampstraße, durch den Helga in Begleitung ihrer Mutter schon oft zu Fräulein Merten in die erste Etage gestiegen war. „Da kommt unser Lehrmädchen, und so wie sie mich anstiert, spute ich mich doch besser ganz gewaltig. Überstunden, vermute ich. Bis bald, ja?”, rief sie und winkte noch einmal. Helga sah ihr nach, wie sie in ihrem elegant geschnittenen dunkelblauen Mantel und dem flotten Hütchen – ein anderer Ausdruck passte kaum – im Hausflur verschwand und fragte sich, wie es wohl käme, dass alle ihre ehemaligen Klassenkameradinnen um so vieles besser zu wissen schienen als sie selber, wie ihr Leben weiterzugehen hatte. 148 149 Ilse wartete keinesfalls auf sie, im Gegenteil. Als Helga zehn Minuten lang vor dem Haupteingang des Stadttheaters von einem Fuß auf den anderen getreten war, begann es leicht zu schneien, und bei einem Blick auf ihre Armbanduhr stellte sie fest, dass sie zu früh gekommen war. Von vier Uhr hatte Ilse gesprochen und noch hinzugefügt, dann müsse sie sich auch noch umkleiden. Also machte Helga sich auf die Suche nach dem Hintereingang und erkundigte sich höflich bei dem Portier, der ihr über seinen Brillenrand hinweg aus einer Kabine heraus ziemlich mürrisch entgegenblickte, ob schon die eine oder andere der Tänzerinnen das Gebäude verlassen hätte. Der Mann schüttelte den Kopf und machte eine Handbewegung die Treppe hinauf. „Na, nun kommen Sie erst mal rein, Sie sehen ja jetzt schon aus wie ein Schneemann. Mit wem sind Sie denn verabredet? So ein bisschen kon-trollieren muss ich schon – dafür werde ich schließlich bezahlt, verstehen Sie?” „Mit Ilse Fandrey”, erwiderte Helga und schüttelte die Flocken von ihrem Mantel. „So, mit der Ilse. Wird noch fünf bis zehn Minuten dauern. Dann gehen Sie mal den Gang entlang, immer geradeaus.” Helga meinte zuerst, nicht richtig gehört zu haben, aber der Pförtner lächelte ihr jetzt erstaunlicherweise zu, und so machte sie ein paar große, leise Schritte in die Richtung, wo der Übungssaal liegen musste. Ilse hatte ihr oft davon erzählt: von den Spiegeln, die bis zur Decke reichten, den Stangen, die sich manchmal aus den Fassungen lösten, dem Holzboden, der ständig gespänt und gewachst wurde, von der Pianistin, deren Namen Helga schon irgendwo gehört hatte, Fräulein Bröker hieß sie und hatte einen ganz krummen Rücken; vor allem aber von der Ballettmeisterin – als Maître de Ballet pflegte Ilse sie zu bezeichnen und manchmal, wenn sie sich trotz der Einlagen die Zehen in den Spitzenschuhen wund gescheuert hatte, auch als Dragoner. Hinter einer Tür klatschte jemand energisch in die Hände, die Musik setzte ein, wurde unmittelbar darauf durch erneutes Klatschen unterbrochen, und eine scharfe, tiefe Stimme rief, die Damen möchten doch endlich alle gleichzeitig den gleichen Arm im gleichen Winkel hoch heben. Sie wisse wirklich nicht, wie bis zur Aufführung in zwei Tagen aus diesem chaotischen Haufen ein richtiges Corps de Ballet werden solle. Helga hätte furchtbar gern einen Blick auf das geworfen, was sie durch die geschlossene Tür miterlebte, aber es fiel nicht einmal Licht heraus. Das Klavier war wieder zu vernehmen, diesmal nur durch diese französischen Anweisungen unterbrochen, nicht viele allerdings, und etwas später ertönte erneut das jetzt schon vertraute Händeklatschen. Warum nicht gleich so, hörte sie, genug für heute, morgen früh noch einmal, neun Uhr und keine Minute später. Dann raschelte es auf der anderen Seite, und plötzlich wurde die Tür mit Schwung geöffnet. „Ach, hat Meier mal wieder Mitleid gehabt”, sagte die Frau mit der scharfen, tiefen Stimme, musterte Helga von oben bis unten und fügte hinzu, das Betreten der Saales mit Straßenschuhen und noch dazu einem feuchten Mantel sei strengstens untersagt, und verschwand im Halbdunkel. 150 151 Als Ilse in Strümpfen auf den Gang trat, hatte Helga sich bereits wieder ein wenig gefangen. „Dabei war das heute einer von ihren besseren Tagen”, meinte Ilse, als sie den Ausgang erreichten, und winkte dem Pförtner zu. „Es hat fast perfekt geklappt; nur kann sie das aus irgendeinem Grund nicht zugeben. Vielleicht meint sie, wir würden uns sonst in Sicherheit wiegen und uns nicht mehr anstrengen.” Ilse zog die rote, sichtlich selbstgestrickte Wollmütze, die sie in der Hand getragen hatte, tief über die Ohren und seufzte. „Aber man lernt was bei ihr. Ich meine, so ziemlich alles, was ich kann, hat sie mir beigebracht, und ich vermute einmal, dass sie mir sehr fehlen wird.” Helga blieb zunächst stehen und versuchte Ordnung in ihre Gedanken zu bringen; irgendetwas an Ilses letztem Satz erschien ihr seltsam. Aber da meinte Ilse auch schon, es sei wirklich sehr lieb von Helga, sich Zeit für sie zu nehmen, wo sie doch erst gestern eingetroffen und von der langen Zugfahrt gewiss noch müde sei, einmal abgesehen von dem Vorweihnachtstrubel überall und der Tatsache, dass sie ja wohl auch ihren Geburtstag vorzubereiten hätte. Helga war so überrascht von Ilses ungewöhnlicher Redseligkeit, dass sie zunächst einfach zuhörte. Schließlich meinte sie, ihr Geld reiche mit Sicherheit noch für eine Tasse heiße Schokolade und ein Stück Christstollen oder ihrethalben auch einen Mohrenkopf bei Café Tigges; Ilse habe sie doch wohl nicht gebeten, sie abzuholen, um ein Loblied auf den sogenannten Dragoner zu singen. Er oder besser sie erinnere sie übrigens an eine ihrer Lehrerinnen im Luisenhof, Fräulein van Semmern, die ebenso bärbeißig wirke und bei der man auch sehr viel lerne. Ilse schaute sie von der Seite so an, als ob sie eine Frage dazu stellen wollte, schluckte und warf den Kopf nach hinten. „Du hast also wirklich Zeit für mich?” 152 153 Das Café war gut geheizt. Die Tische füllten sich rasch mit Frauen, an deren Taschen und Häkelnetzen zu ersehen war, dass sie einen Bummel über den Weihnachtsmarkt in der Elberfelder Straße gemacht hatten. Es duftete nach Kaffee und auch ein wenig nach Zimt und Nelken. Ilse rieb sich die Hände, nachdem sie ihren Mantel an einen Garderobenhaken gehängt hatte. Er war bei weitem nicht so dick wie Helgas und an den Taschen deutlich abgeschabt. „Das ist nämlich so”, meinte sie, nachdem die Serviererin, die mit ihrem weißen Spitzenhäubchen so aussah wie das Dienstmädchen von Meyers, den Kakao, ein Stück Stollen und den Mohrenkopf für Ilse vor ihnen abgestellt hatte. „Meine Mutter wird wieder heiraten.” Helga fiel nichts ein, was sie hätte sagen können, außer der Bemerkung, dass ihr Bruder Karl auch gerade eine Ehe eingegangen sei, mit der von ihren Eltern nach wie vor nicht so recht akzeptierten Sophie, aber sie schwieg und blickte Ilse nur erwartungsvoll an. „Sie wird meinen sogenannten Onkel heiraten, den, der mir den Tanzkurs bezahlt hat.” Ilse hob die Tasse mit der heißen Schokolade mit beiden Händen zum Mund, trank aber nicht. „Eigentlich sollte ich mich ja freuen, meinst du vielleicht, dass meine Mutter mich nicht mehr mit ihrer Liebe erdrückt. Ja. Aber ihr zukünftiger Mann …”, – Helga schaute jetzt aufmerksam zu ihr hinüber –, „ihr zukünftiger Mann scheint nicht so genau zu wissen, wen er mit seiner Liebe erdrücken soll.” In Helgas Kopf ging schon wieder alles durcheinander. Sie hatte durchaus verstanden, glaubte jedenfalls verstanden zu haben, was Ilse meinte, obwohl sie sich dagegen wehrte, und sie suchte hilflos nach einer Formulierung, um sich Gewissheit zu verschaffen. „Ist er …”, – plötzlich fiel ihr einer von den Ausdrücken ein, die Fritz manchmal benutzt hatte –, „ist er dir etwa zu nahe getreten?” Ilse nickte nur und fügte keine weiteren Erklärungen hinzu. „Deshalb”, fuhr sie fort, „nachdem sie nun doch einen Schluck Kakao getrunken hatte, „möchte ich dich um etwas bitten. Du bist die Einzige, die mir da helfen kann. Also, ich habe nach Köln geschrieben, an die Oper dort, und mich um eine Stelle im Corps de Ballet beworben. Die neue Regierung scheint ja etwas für Kultur übrig zu haben, und einige Tänzerinnen scheiden wohl aus. Auf jeden Fall haben sie mich zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen, nur – ich bin so furchtbar knapp bei Kasse, und meine Mutter wäre doch wohl die letzte Person, die ich um das Fahrgeld bitten könnte. Helga, sei so lieb und schieß es mir vor. Ich zahl’s dir bestimmt zurück, sobald ich kann. Wenn’s was wird, brauche ich natürlich ein Zimmer, und wovon ich meinen Lebensunterhalt bestreiten soll … Ich meine, ein Gehalt zahlen sie schon, aber Sprünge, geschweige denn große, kann man damit bestimmt nicht machen.” „Natürlich gebe ich dir das Geld”, sagte Helga, als sie ihre Sprache wiedergefunden hatte. „Ich habe zwar so einiges ausgegeben für Weihnachtsgeschenke, aber für eine Rückfahrkarte nach Köln wird’s reichen.” Während Ilse zunächst auf ihren Teller starrte und dann ihr Gegenüber doch anzusehen beschloss, zerpflückte Helga den Stollen. „Warum wollen sie denn jetzt auf einmal heiraten?”, fragte sie schließlich mit belegter Stimme. „Sie leben doch schon mehrere Jahre zusammen, selbst, wenn dein … dein Onkel nicht bei euch wohnt. Etwa auch wegen dieses Ehestandsdarlehens?” Ilse strich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Der Mann, den ich auf dringenden Wunsch meiner Mutter Onkel nenne, hat vor, sich selbständig zu machen, weil es jetzt wirtschaftlich wohl wieder aufwärts gehen soll – das hast du bestimmt mitbekommen, dieses Gesetz zum Schutz des Einzelhandels. Er will bei Löwensteins kündigen und ein kleines Herrengeschäft eröffnen, Krawatten, Oberhemden, Socken und so weiter. Einen leer stehenden Laden hat er schon gefunden, an der Eckeseyer Straße, wo bis vor Kurzem das Schuhgeschäft untergebracht war, dessen Besitzer nach Holland ausgewandert 154 155 sind, wegen des Boykotts im April; weißt du, wen ich meine? Spielt ja eigentlich auch keine Rolle. Auf jeden Fall kann meine Mutter abends die Buchführung für ihn erledigen, und hinzu kommt noch, dass …” – Ilse hielt kurz inne –, „dass es ihnen nahe gelegt worden ist, ihre Beziehung offiziell zu machen; so haben die Leute von der Partei das genannt.” „Ist deine Mutter denn Mitglied?” „Nein, aber mein Onkel.” Die Mädchen leerten beide gemeinsam ihre Tassen, Helga winkte die Servierin herbei und reichte Ilse, nachdem sie bezahlt hatte, rasch einen Geldschein. Während sie in ihre Mäntel schlüpften, fiel Helga offensichtlich etwas ein, aber sie begann erst zu sprechen, als sie wieder draußen auf der Straße standen, wo inzwischen die Glühbirnen in den Tannengirlanden angezündet worden waren. „Der Weihnachtsbaum”, las Helga halblaut von einem Transparent ab, „ist das Sinnbild für die nicht zu zerstörende Lebenskraft des deutschen Volkes. So richtig dunkel wird es bei dem Schnee gar nicht”, meinte sie dann und schob ihren Arm durch Ilses. „Aber sag einmal: Gesetzt, es klappt mit der Stelle in Köln. Du bist doch noch nicht volljährig und kannst gar keinen Mietvertrag unterzeichnen.” „Ich gehe einmal davon aus”, erwiderte Ilse, „dass es meiner Mutter ganz recht sein wird, wenn ich ausziehe, bevor mein lieber Onkel einzieht, es sei denn, sie wäre inzwischen erblindet.” Helga fuhr zusammen; so hatte Ilses Stimme noch nie geklungen. Aber sie dachte, damit sei auch wirklich alles gesagt. 156 157 „Kann ich euch mitnehmen?”, hörte sie, wandte sich um und blickte in Fräulein Dahms freundliches Gesicht; sie hatte gar nicht bemerkt, dass ein Wagen neben ihnen angehalten hatte. Seltsamerweise ging ihr der Gedanke durch den Kopf, im Gegensatz zu allen anderen Leuten habe ihre Prokuristin keine rot gefrorene Nase. „Nein danke, ich muss noch etwas erledigen”, meinte Ilse und warf Helga einen Blick zu. „Ich schaue morgen Abend kurz bei euch vorbei, ja, und bringe dir … Du bekommst natürlich eine Freikarte für unsere Galavorstellung zu Sylvester.” Dabei legte sie wie zufällig den Finger auf die Lippen, aber das war Fräulein Dahm gewiss nicht aufgefallen, denn kaum hatte Helga auf dem Beifahrersitz Platz genommen, als sie auch schon mit dem heraussprudelte, was sie beschäftigte. Dabei blickte sie geradeaus, selbst wenn sie eifrig mit einer Hand gestikulierte, und bediente sowohl die Kupplung als auch die Gangschaltung sehr viel sanfter als Karl. „Das war doch wieder einmal eine richtige Entscheidung deines Vaters, jemanden hinzuschicken und diesen Herren vom Amt für Leibesübungen darzulegen, was da abläuft”, stieß sie hervor. Helga schaute Fräulein Dahm von der Seite an und fand, dass sie ausgesprochen elegant aussah mit ihrer Persianermüt- ze und dem dazu passenden Kragen auf dem bordeauxfarbenen Mantel, obwohl sie, wie Karl ihr bei seiner Hochzeit ins Ohr geflüstert hatte, nicht weit von der Quadratur des Kreises entfernt war, so rund wie hoch nämlich. „Oder bist du da nicht auf dem Laufenden?” Fräulein Dahm hatte nicht bemerkt, wie schweigsam Helga war. „Zugegeben, du bist erst gestern aus der Neumark angereist, aber es hätte ja sein können, dass dein Vater oder Karl die Geschichte in einem Brief …” Sie schimpfte kurz über einen Fahrer, der offensichtlich nicht vorschriftsmäßig abgebogen war, lieferte dann aber eine ausführliche Erklärung, ohne den Blick von der Straße zu wenden. „Im Sommer war uns bei einer Besprechung die Idee gekommen, doch einmal an den Bürgermeister zu schreiben und ihm vorzuschlagen, uns das Alleinverkaufsrecht für Süßigkeiten bei all den öffentlichen Veranstaltungen zu überlassen, die in letzter Zeit anberaumt werden, also seitdem der neue Reichskanzler die Geschäfte der Nation übernommen hat. Es tut sich ja wirklich viel mehr als früher! Da finden nicht nur die Schützenfeste und die sportlichen Wettkämpfe statt, die Kirmes und dieser Großflugtag auf Emst nicht zu vergessen, sondern auch Versammlungen, an denen ganz Hagen teilnimmt, und was das Wichtigste dabei ist: Man spürt auf einmal die leitende Hand, ich meine, von der Organisation her klappt alles ta-del-los. Den Einfall mit dem Alleinverkaufsrecht hatte aber auch die Firma Grüne, so ziemlich gleichzeitig mit uns, und dir darf ich’s ja sagen – wir hatten den Eindruck, die von der Stadtverwaltung, genauer: vom Amt für Leibesübungen, in deren Zuständigkeitsbereich die Stadien liegen, spielten uns gegeneinander aus. Anfangs haben wir Briefe geschrieben, sehr höflich, so richtig mit ,der ergebenst unterzeichnete’ und ,vorzüglicher Hochachtung’; unser erstes Angebot ging in Richtung einer prozentualen Beteiligung – 15% des Erlöses sollten in die Stadtkasse fließen. Aber dumm sind die Beamten da nicht, das muss man ihnen lassen. Irgendein ganz Schlauer hatte sich wohl ausgerechnet, dass der Umsatz nicht so berauschend sein könnte, bei all den Arbeitslosen – die bringen sich eher was von zu Hause mit, nicht wahr?” Fräulein Dahm hielt an einer Kreuzung und warf einen Blick zu Helga hinüber. „Die Firma Grüne hingegen schlug eine Pauschale vor, 60 Reichsmark, und das wurde uns zunächst einmal mitgeteilt. Da unser Betrieb bedeutend größer ist als der von Grünes, wollten sie uns wahrscheinlich von Anfang an den Zuschlag erteilen, aber möglichst viel dabei herausspringen sollte für sie doch auch. Langer Rede kurzer Sinn: So ist es auch gekommen. Ich bin allerdings heute dort einmal vorstellig geworden und habe darum gebeten, dass man die Pauschale für das nächste Jahr nur um die Hälfte des Betrags erhöht, den sie Anfang Dezember genannt haben.” 158 159 Ein breites Grinsen überzog ihr Gesicht. „Hat geklappt, Helleken. Die dicke Dahm kriegt so etwas zustande. Und die Tüte mit den Bonbons, Weihnachtsmischung, haben sie hinterher dankend entgegen genommen, mit der Betonung auf hin-ter-her, als wir den Vertrag unter Dach und Fach gebracht hatten. Ganz im Vertrauen gesagt”, fügte sie noch hinzu, „rechnerisch lohnt sich die Sache bislang nicht, aber als Reklame ist sie nicht zu unterschätzen.” Kurz vor der Geitebrücke ging es plötzlich nicht weiter. Der Schnee fiel in großen weichen Flocken, die jedoch nur am Straßenrand liegen blieben. Fräulein Dahm brummte etwas vor sich hin von Schipkapass, drehte sich halb zu Helga und meinte, unübersehbar nervös, so heiße die Brücke halt im Volksmund, nach einem Balkan-Pass von großer strategischer Bedeutung im russisch-türkischen Krieg so um 1870-80 herum. „Nach Eckesey führt ja auch kein anderer …”, setzte sie noch hinzu, ließ den Satz aber in der Luft hängen, warf einen Blick auf die Uhr und kurbelte die Scheibe auf ihrer Seite herunter. Irgendwo weiter vorn, vermutete sie, musste ein Fahrzeug sich quer gestellt haben. Von der Brücke her war ein sehr kräftiges HauRuck zu vernehmen, dann lachten Männer- und Frauenstimmen irgendwo im Halbdunkel, und die Wagenschlange setzte sich wieder in Bewegung. Fräulein Dahm atmete erleichtert auf und erkundigte nach einem weiteren Blick auf die Uhr ziem- 160 lich vergnügt, wie es Helga denn in dieser Landfrauenschule gefalle und was sie inzwischen schon alles gelernt hätte. „Ich war ja immer der Meinung, solide Kenntnisse in Buchführung, Stenografie und Schreibmaschineschreiben könnten einer jungen Frau von heute nicht schaden; die Fächer stehen dort aber nicht auf dem Lehrplan, oder? Als ich hörte, dass ihr Unterricht in Waschen und Bügeln erhaltet, fand ich das schon ein wenig eigenartig – so etwas und auch Kochen und Backen, das bringt einem doch die eigene Mutter zu Hause bei. Dafür braucht man sich nicht ans andere Ende des Deutschen Reiches zu begeben und Schulgeld zu bezahlen. Schneidern und Handarbeit, meinethalben auch Garten- und Gemüsebau will ich mir gefallen lassen – ich sehe heute noch deine Mutter vor mir, wie sie im Weltkrieg, du warst ein ganz winziges Ding damals, fast alle Blumenbeete bis auf eins mit Rosen darauf umgegraben und Kohl, Möhren und vor allem Kartoffeln angebaut hat, weil es einfach nichts mehr zu kaufen gab. Aber Imkerei? Geflügelhaltung? Schweineaufzucht? Molkerei? Als mir der Prospekt von dieser Landfrauenschule rein zufällig, wirklich rein zufällig in die Hände geriet, habe ich nur den Kopf geschüttelt. Gutsbesitzerstöchter aus Ostpreußen können so etwas vielleicht brauchen, aber auch nur vielleicht, weil sie doch mit größter Wahrscheinlichkeit über Dienstleute in Hülle und Fülle verfügen und selber keinen Finger rühren. Aber du, Helga Schulte aus Hagen-Eckesey, aufgewachsen in einer Bonbonfabrik, was willst du mit solchen Kenntnissen anfangen?” 161 Helga wusste nicht so recht, was sie erwidern sollte. Als ihre Mutter ihr im Frühjahr, nicht lange nach dem Eingang des Blauen Briefes, mitgeteilt hatte, die Töchter mehrerer befreundeter Fabrikanten hätten ein sogenanntes Maidenjahr im schlesischen Gnadenfrei oder in Wöltingerode verbracht und seien begeistert zurückgekehrt, hatte sie zunächst ähnliche Einwände erhoben wie jetzt Fräulein Dahm. Aber dann war Ostern immer näher gerückt, und sie hatte sich vor die Entscheidung gestellt gesehen, in die Frauenoberschule überzuwechseln oder abzugehen. Den Ausschlag hatten schließlich ein Gespräch mit Hildegard und eine Bemerkung von Luise gegeben: Ihre beste Freundin würde zwar versetzt werden, sich jedoch immer mehr ihrer Ausbildung in der Musikschule widmen; und Luise hatte ihr kurz und knapp erklärt, sie, Helle, ,müsse hier mal raus’. In die Stille hinein erwiderte Helga, man wisse nie, wozu es gut sein könne, gelernt zu haben, Speisen notfalls auch fast ohne jeden Fettzusatz schmackhaft zuzubereiten, und außerdem stünden alle möglichen theoretischen Fächer auf ihrem Stundenplan, Pflanzenkunde, Physik, Chemie, Bürgerkunde, Gesundheitspflege und sogar die von ihr, Tante Dahm, so hoch gepriesene Buchführung. „Übrigens bin ich bei weitem nicht die einzige Maid, die aus einem Fabrikantenhaushalt stammt. Der Vater von Carla zum Beispiel stellt Fahrräder her, der von Anneliese Liköre. Nur der meiner Zimmerkameradin Brigitte von Albertyll besitzt ein Gut in der Mark Brandenburg.” „So, so, alter preußischer Landadel”, murmelte Fräulein Dahm, verstummte nun doch und widmete ihre ganze Aufmerksamkeit dem Verkehr und meinte nur noch, wegen des Staus vorhin auf der Geitebrücke sei sie ziemlich spät dran. Deshalb solle Helga jetzt rasch nach oben springen. Sie selber müsse dem Chef noch rasch vom Erfolg ihrer Mission berichten; vermutlich erwarte er sie mit Herrn Behr im Kontor. Dabei blickte sie nach vorn durch die Windschutzscheibe und winkte Helga noch einmal zu, so, als sei sie mit ihren Gedanken längst anderswo. 162 163 Helga zog den Schlüssel aus der Tasche und schob die Tür auf. Sie fühlte sich entsetzlich allein. Ihre Mutter, das wusste sie genau, konnte noch nicht aus dem evangelischen Kindergarten zurückgekehrt sein, wo sie heute, begleitet von Müller aus dem Lager, einen Bollerwagen mit Weihnachtsgeschenken ablieferte, eins davon der besagte Wagen, dazu eine sehr stabile Eisenbahn, einen MärklinMetallbaukasten, mehrere Puppen und natürlich Bonbons. Am Donnerstag war sie, diesmal in Begleitung von Karls Frau Sophie, zum katholischen Kindergarten am anderen Ende der Straße gegangen. Die Leiterin dort hatte sich, wie Helga aus einem Brief ihres Vaters wusste, ein Schaukelgerüst für den Garten gewünscht, das von Turn-Meyer schon geliefert worden war, und so hatten Frau Schulte und ihre neue Schwiegertoch- ter nur die Süßigkeiten für die Weihnachtsfeier getragen. Sophie hatte ihr heute Morgen berichtet, dass es sie gefreut, aber auch ein wenig beschämt habe, zu erleben, wie sehr die Kinder beim Anblick der Bonbons jauchzten, die doch seit dem Sommer zu ihrem Alltag gehörten. Rudolf war bestimmt pünktlich um vier Uhr zum Konfirmandenunterricht gegangen und würde erst kurz nach sechs wieder erscheinen. Aber wo steckte Ida ? Ida und das Päulchen, es gab ihrem Leben einen Sinn, Herta würde sich vielleicht mit Johann Albers verloben, Ilse fuhr morgen sofort im Anschluss an die Probe nach Köln, und Fritz, ihr Fritz – wann kehrte er endlich aus Amerika zurück? Warum war nicht wenigstens Ida zu Hause? Helga betrat die Küche, ohne Licht zu machen, entdeckte aber trotzdem einen Zettel mitten auf dem Tisch: ,Bin bei Luise, passe auf das Kathrinchen auf, Luise mit Ottolein bei Dr. Rosenthal, hat eine Himbeerzunge.’ Scharlach, dachte Helga, höchstwahrscheinlich Scharlach, und das ausgerechnet zu Weihnachten, zwei Tage vor meinem Geburtstag auch. Sie begab sich in ihr Zimmer und machte sich daran, endlich ihren Koffer auszupacken. Den Käse, an dessen Herstellung sie selber beteiligt gewesen war, hatte sie natürlich schon am Vorabend, fest in Ölpapier eingewickelt, auf die Fensterbank gelegt. Für ihr Patenkind, die dreijährige Kathrine, hatte sie ein Kittelkleidchen geschneidert und mit Applikationen versehen, Luise und Otto würde sie selbst gebackenen Christstollen und etwas von dem Käse schenken, und beiden Eltern sowie Rudolf hatte sie handgestrickte Schals aus besonders weicher Wolle zugedacht … Plötzlich vermisste sie den fröhlichen Lärm der Weihnachtsfeier am 3. Advent, wo die Luisenhofer Lehrerinnen sich als Verkäuferinnen verkleidet hatten, um den Maiden das feilzubieten, was unter ihrer Anleitung entstanden war. Es hatte nach Lebkuchen, Glühwein und Früchtepunsch geduftet, in irgendeiner Ecke war immer musiziert worden, und es hatte eine vergnügte Aufbruchsstimmung geherrscht, mit vielen Umarmungen und eigentlich überflüssigen Beteuerungen, dass man sich ja im Neuen Jahr wiedersehen würde. 164 165 Viel Zeit beanspruchte das Aus- und Einräumen nicht, denn ihre Maidenkleidung hatte Helga natürlich nicht mitgebracht. So lehnte sie den Kopf an die kühle Fensterscheibe und sah in den Schnee hinaus. Durch die vollkommene Stille hörte sie Stimmen – sie musste wirklich sehr in Gedanken versunken gewesen sein, um vorhin nicht wahrgenommen zu haben, dass sich da jemand in dem kleinen Salon ganz am anderen Ende der Wohnung aufhielt. Vom Innenhof her trat sie in den Lichtkegel, der durch die offene Tür fiel. Ihr Vater und Onkel Blankenstein hatten in dem Augenblick, als sie ihre Anwesenheit bemerkten, ihr Gespräch unterbrochen und sahen ihr entgegen. Zu ihrer Verwunderung blieb Onkel Blankenstein sitzen, obwohl er sie doch seit Monaten nicht gesehen hatte. Bevor sie nach einem Grund dafür zu suchen vermochte, erkundigte sich ihr Vater, ob ihre Suche erfolgreich gewesen sei; die meisten Geschenke habe sie ja ohnehin, falls er das richtig verstanden habe, im Luisenhof selbst angefertigt oder auf der dortigen Weihnachtsfeier erworben. Helga wusste nicht so recht, was sie antworten sollte, denn am liebsten hätte sie sich für die Störung entschuldigt. Mit unsicherer Stimme meinte sie deshalb, nein, Herz auf Taille von Erich Kästner hätte sie nirgends bekommen; das wolle sie Karl schenken, denn eines der Gedichte gefalle ihm besonders gut. Sie öffnete den Mund, um den Anfang herzusagen, aber da fragte Onkel Blankenstein und blickte dabei ihren Vater an, ob ihr denn niemand erklärt habe, warum das Buch nicht mehr vertrieben werde, einmal abgesehen davon, dass sie vielleicht selber darauf hätte kommen können. „Bei Wegener in Bärwalde, halt dort, wo der Luisenhof liegt, gab’s das Bändchen nicht, und eine der Verkäuferinnen hier”, sagte Helga noch unsicherer als zu Anfang, „hatte wohl die Absicht, mir etwas zu erklären, aber dann blickte sie sich rasch um und wandte sich einer anderen Kundin zu.” „Siehst du, Friedrich”, – Onkel Blankensteins Stimme klang ganz eigenartig: triumphierend, sachlich und doch auch wieder ein wenig verzweifelt, mit so etwas kannte Helga sich aus –, „siehst du, einen solch tiefen Eindruck hat die Bücherverbren- nung auf die deutsche Jugend gemacht. Da bauen die braunen Bataillone mit Freude, jaja, also Freud, und Zweigen, meinethalben Spaß beiseite: Arnold und Stefan Zweig, Tucholsky auch, dessen Schloss Gripsholm unsere Töchter unter der Bettdecke verschlungen haben, und dem Schöpfer von Emil mitsamt den Detektiven einen ansehnlichen Scheiterhaufen, und keiner merkt etwas.” „Aber Erich Kästner ist doch evangelisch”, protestierte Helga und war sich im selben Augenblick bewusst, dass sie etwas aussprach, das der Erziehung vor allem ihres Vaters zu Toleranz und Offenheit so voll und ganz widersprach, dass sie am liebsten im Boden versunken wäre. „Noch einmal: siehst du, Friedrich. Sogar auf dein, unser Helleken, die beste Freundin meiner Hildegard und mir so lieb wie eine Tochter, färbt diese Ideologie ab. Helleken meint nichts von dem, was sie da nachgeplappert hat, und würde für Hildegard durchs Feuer gehen, gewiss auch diese oberflächliche kleine Meyer gegen unflätige Bemerkungen verteidigen. Aber das ist es ja. Sie haben’s mit der Legalität seit 1930; die Methoden sind vorgeschrieben, die Ziele indessen nicht, hat mein guter Freund A Punkt ausdrücklich erklärt. Das wird dann Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Staat genannt …” Ihr Vater unterbrach Onkel Blankenstein. „… und ist auf vier Jahre begrenzt.” „Richtig, Friedrich, richtig, auf dem Papier, von 1933 bis 1937. Der Wahlsieg hatte ja auch nichts Überwältigendes, 166 167 und der Herr Reichskanzler regiert nur deshalb, weil ihm die Deutschnationalen ein helfendes Händchen leihen. Aber was folgt gleich auf die Amtsübernahme, vier Tage oder fünf, ganz passend Ende März? Die Notverordnung zum Schutze von Volk und Staat, unterzeichnet von Feldmarschall a.D. Hindenburg, derzufolge der braune Herr H – natürlich nicht in Person, wozu hat man denn seine Abteilungen beziehungsweise Staffeln, A und S – nach Herzenslust Telefongespräche abhören und das Briefgeheimnis verletzen darf. Und wiederum unmittelbar daran schließt sich der 1. April an, oh nein, kein Aprilscherz, vielmehr ein lustiger kleiner Boykott aller jüdischen Geschäfte, Ärzte, Rechtsanwälte und vermutlich auch Straßenkehrer, was zwar keiner vermutet, aber solche gibt’s.” Helgas Vater starrte schweigend auf seine Zigarre und sagte schließlich, an der Rede von Gauleiter Vetter in der Stadthalle habe ihn einiges gestört; er meine die abends nach der Pflanzung der Hitler-Eiche irgendwann im April. Da seien Ausdrücke wie ,Gefahr des internationalen Judentums’ verwendet worden. Dem weiteren Wortlaut des Satzes, dem mit den Bolschewiken, hätte er damals allerdings durchaus zugestimmt.” „Aber sieh mal, Friedrich”, – Onkel Blankenstein warf Helga einen liebevollen Blick zu, und deshalb verließ sie den Raum nicht, sondern setzte sich auf den Hocker neben der Verbindungstür zum Lichthof – , „was sie mit den Gewerkschaften gemacht haben! Ich geb ja gern zu, dass ich die Leute vom Betriebsrat oft zum Teufel gewünscht habe, weil sie zum Teil nicht einmal verstehen, wo ihre eigenen Interessen liegen, geschweige denn die ihrer Arbeitgeber. Aber da wurden im März diese Wahlen durchgeführt, und als ihre NSBO – mit so einem Namen kann man es einfach zu nichts bringen, National-Sozialistische Betriebszellen-Organisation, wer merkt sich denn so etwas … –, als ihre NSBO dann so furchtbar schlecht abschnitt, haben sie doch einfach alle Gewerkschaften aufgelöst, zunächst einmal mit Ausnahme der christlichen, die gegen jede Vernunft dem Irrglauben anhingen, man könne einen netten kleinen Pakt mit dem Satan schließen. Hätten sie besser mal Goethe und seinen Faust gelesen. Jetzt verhandeln wir mit der DAF und schenken unseren Arbeitern zu Weihnachten Sparmarken für KdF. Glaub mir, Friedrich: je mehr Abkürzungen, desto länger die Umwege zur Wahrheit.” Helga hatte ihren Vater noch nie so nachdenklich erlebt. Allerdings wohnte sie auch zum ersten Mal einer Unterhaltung zwischen ihm und Onkel Blankenstein bei, in deren Verlauf keiner von beiden ihretwegen ein Blatt vor den Mund nahm, und sie fühlte sich seltsam erwachsen. „Kraft durch Freude …”, begann ihr Vater langsam und sprach dann immer schneller, „obwohl ich’s wirklich nicht mit den Braunhemden habe und finde, dass sie erstens ihre Finger in viel zu viele Dinge hineinstecken, die sie gar nichts angehen, mein Privatleben und die Erziehung meiner Kinder zum Beispiel, und zweitens von Wirtschaft so wenig zu verstehen scheinen, dass sie nicht einmal merken, wie wichtig solche 168 169 Leute wie Löwensteins und Meyers, auch so eine Bank wie Kaufmann und Strauß, ganz besonders aber Unternehmer wie du für den wirtschaftlichen Wiederaufbau sind – ich meine, die schaffen doch neue zusätzlich zu den alten Arbeitsstellen, machen Umsatz und füllen damit den Steuersäckel. Aber KdF, ganz ehrlich, das ist keine schlechte Idee. Da können unsere Arbeiter doch endlich einmal preisgünstig auf Urlaub fahren. Tun wir ja schon lange – denk nur an Borkum.“ „Zugegeben, manche ihrer Einfälle sind nicht abwegig; das Winterhilfswerk erscheint mir durchaus annehmbar und Kraft durch Freude auch, selbst wenn mir die Wortverbindungen dieser Propagandisten gegen den Strich gehen. Ich habe übrigens einmal nachgeschlagen, was unter dem Begriff ,Arier’ zu verstehen ist. Ob andere Leute, die vielen NSDAP-Wähler, das auch tun? Und nach der Freiheit – Sire, geben Sie Gedankenfreiheit – steht ihnen der Sinn weniger als nach Schiller. Warte mal ab, eure Loge werden sie genau so verbieten wie die Parteien und diese ganz harmlosen Sportvereine, vor allem, wo Herr Erich Ludendorff, ex-Oberste Heeresleitung, und seine Gemahlin Mathilde so gut wie jedesmal, wenn sie den Mund aufmachen, Freimaurer und andere ,Internationale’ als Volksfeinde brandmarken. Kurzum: Arbeiterbewegung oder geschlossene Gesellschaft, das läuft für meinen Freund, den eingebürgerten Österreicher, aufs Gleiche hinaus.” Ihr Vater protestierte nur noch schwach. „Unser 75-jähriges Jubiläum haben sie uns doch gerade in aller Feierlichkeit begehen lassen. Außerdem steht in unseren Regeln geschrieben, dass wir uns dazu verpflichten, das Vaterland mit Gut und Blut zu verteidigen.” „So genau schauen die ja gar nicht hin. Sie lesen nur Frei-, wie Freimaurer, und das reicht schon aus.” „Wenn ich auch nicht ganz so schwarz sehe wie du, Eugen, kann ich doch nicht umhin zuzugeben, dass da ziemlich dicke Wolken aufziehen”, meinte ihr Vater und strich langsam über seinen blanken Kopf. „Helleken, wo du schon einmal hier bist und von einer Lektion in politischer Wissenschaft profitieren durftest, sei doch so lieb und hol uns zwei Flaschen Bier …, ach nein, lieber meinen besten Mosel; der liegt im Weinkeller ganz rechts. Natürlich brauchen wir auch Gläser, die Römer aus der Vitrine. Eins darfst du mit uns trinken, wo du doch in zwei Tagen achtzehn wirst.” Während Helga durch den Lichthof zurück in die Küche ging, um den Schlüssel zum Weinkeller zu holen, hörte sie ihren Vater noch fragen, welche Schlussfolgerungen Onkel Blankenstein denn nun aus all dem zu ziehen gedenke. Sie stieg mehrere Treppen hinab, öffnete die Tür zum Weinkeller und zog eine von den Flaschen, die ihr Vater für besondere Gelegenheiten aufbewahrte, aus dem Regal, löschte das Licht wieder und spürte, als sie die Römer auf das Tablett stellte und einen Korkenzieher daneben legte, dass ihr Herz bis zum Halse schlug und sich wieder einmal dieses Schwindelgefühl 170 171 einzustellen drohte. Als sie die Küche gerade verlassen hatte, hörte sie die Wohnungstür ins Schloss fallen, doch Onkel Blankenstein saß noch ihrem Vater gegenüber, und sie schnappte einen Satzfetzen auf, bevor sie aus dem Dunkel trat und ihr Tablett auf dem Rauchtischchen abstellte. „… um unsere Arbeiter mache ich mir Sorgen, aber vielleicht kommen die bei Otto Brauckmann unter. Für die Maschinen habe ich jedenfalls einen Abnehmer gefunden, einen Betrieb aus Menden im Kreis Iserlohn, der vor allem Werkzeuge herstellt.” Helga blieb mit hängenden Armen zwischen den beiden Männern stehen, während ihr Vater sich erhob, den Korken aus der Flasche zog und die Gläser sorgsam füllte. Nachdem er eins Onkel Blankenstein, das andere Helga gereicht hatte, meinte er mit ganz ernstem Gesicht: „Auf die Zukunft. Hoffentlich hat Amerika es immer noch besser.” Onkel Blankenstein stieß auch mit Helga an und fragte leise, ob sie verstanden habe: Er werde mit seiner Frau und Hildegard in die Staaten auswandern, sobald er die nötigen Unterlagen erhalten habe, diese Unbedenklichkeitsbescheinigung der hiesigen Behörden und natürlich die Einreisegenehmigung vom amerikanischen Konsulat. „Mit Geld”, fügte er sehr ernst hinzu und blickte Helga in die Augen, „lässt sich da viel machen. Noch, Helleken, noch. Hildegard weiß bislang nichts davon, wenn sie es wohl auch ahnt. Falls dein Vater Recht hat, ist in vier Jahren alles vorüber, und wir kehren in die Eckeseyer Straße zurück. Sollte er sich hingegen täuschen, so wird wenigstens die Möglichkeit bestehen, dass wir uns alle wiedersehen, in tausend und einem Jahr hier oder früher in der Neuen Welt. Fritz …” Onkel Blankenstein legte die Arme ganz fest um sie und zog irgendwann einmal ein sauberes weißes Tuch aus seiner Hosentasche, überließ es ihr aber selber, ihre Tränen zu trocknen. Plötzlich stand Ida im kleinen Salon, und ihr Vater begleitete Onkel Blankenstein zur Tür. Eine Weile schwieg sie, räumte mit geübten Bewegungen die Gläser und den Aschenbecher fort, schüttelte die Kissen der beiden Sessel auf und öffnete dann das Fenster. „Zigarren”, sagte Ida mit einem Anflug von Missbilligung in der Stimme. „Der Rauch hängt so furchtbar in den Vorhängen.” Nach einer weiteren Pause fügte sie hinzu, im Übrigen habe der junge Herr Berts schon wieder angerufen, der Sohn des Logenbruders ihres Vaters, mit dem sie auf der Hochzeit von Karl und Sophie so häufig getanzt habe. „Herr Herberts”, verbesserte Helga und begann wieder zu weinen. 172 173 „Spitzenklasse ist deine Spitzentänzerin aber doch wohl nicht”, meinte Luise, löste die rechte Hand vom Lenkrad und zog einmal an ihrer Zigarette. „Als wir neulich Freunde in Köln besuchten, sind wir an einem Plakat für Schwanensee vorbeigekommen, und da stand ihr Name drauf, aber so klein gedruckt, dass man ihn mit der Lupe suchen musste.” Helga, die schräg hinter Luise saß, sagte zunächst gar nichts, während Rudolf sich auf dem Beifahrersitz ruckartig zu seiner großen Schwester hindrehte und sie fast anschrie. „Die Ilse ist doch erst neunzehn, genau wie unsere Helga. Mit neunzehn, du liebe Güte …”, – Rudolf verhaspelte sich und betastete sein rechtes Ohr –, „erzähl mir doch mal, was du mit neunzehn schon alles erreicht hattest!” Er rutschte auf seinem Sitz herum und starrte durch die Windschutzscheibe auf die Landstraße und die Bäume, von denen man noch eher die schwarzen Äste als die hellgrünen Blätter sah. Helga gab sich einen Ruck. „Ganz unrecht hast du sicher nicht, Luise”, murmelte sie zuerst und fuhr dann lauter fort, Ilse habe selber öfters erwähnt, zu der Zeit, als sie noch in Eckesey wohnte, ihre Ballettmeisterin sei der Ansicht, zur Primaballerina reiche es bei ihr nicht. „Aber sieh mal, Luise, versuchen kann sie es doch. Eigentlich hat sie ja in ihrem ganzen Leben nichts anderes getan, von nichts anderem geträumt, und sie ist ja wirklich erst neunzehn.” Luise senkte den Kopf, ihr kurz geschnittenes Haar fiel schräg über ihr Gesicht, und dann nickte sie. Nach einer Pause erklärte sie mit veränderter Stimme, das Herrenoberbekleidungsgeschäft ihres Stiefvaters gehe jedenfalls gut, wenn sie auch nicht ganz verstehe, was Ilse Mutter an diesem Mann fand. Der letzte Satz klang wie eine Frage, doch weder Helga noch Rudolf erwiderten etwas, warfen sich nur einen verständnisinnigen Blick zu. „Apropos Theater”, unterbrach Luise die Stille, drückte die Zigarette aus und lachte. „Beim Aufräumen entdeckte ich vorgestern das Programm des Berliner Stadttheaters, Saison 33/34, das Geschäftsfreunde von Otto ihm zum Geburtstag mitgeschickt hatten. Ratet mal, was es da gab: Die hundert Tage.” „Napoleon”, fiel ihr Rudolf ins Wort, „haben wir im Geschichtsunterricht gelernt, als er von Elba geflüchtet und nach Paris zurückgekehrt ist.” Luise lachte noch einmal. „Nicht schlecht, Bruderherz, dafür trage ich dir ein Gut ins Notenbuch ein. Aber dieses Stück, das hat Benito Mussolini geschrieben.” Rudolf schüttelte heftig den Kopf. „Glaub ich dir nicht.” 174 175 9. Kapitel: Frühsommer 1935 „Stimmt aber. Du schluckst ja sonst alles, oder? Euch vernebeln sie jetzt den Geist, aber nicht nur den Jungen und Mädchen. Mit ihren Sprachschleudern beschießen sie Alt und Jung : HJ, BdM, NSKK, höchstens vier Buchstaben, Entschuldigung, fünf: zum Beispiel NSDAP. Wie sie uns mit diesen Abkürzungen doch das Leben vereinfachen – Herr Dr. Goebbels vor allem, der ist ein ganz geschickter Bursche. Parteien gibt es nur noch eine, Gewerkschaften ebenso, falls man die Deutsche Arbeitsfront überhaupt als Gewerkschaft bezeichnen kann. Was die Freiheit angeht, so kommt die ebenfalls nicht zu kurz, die Wehrfreiheit nämlich, was darauf hinausläuft, dass bald die Achtzehnjährigen eingezogen werden; ich vermute mal, Helle, dass dein Jahrgang auch betroffen ist. Noch beschränken sie sich ja auf die Jungen, so jemanden wie den lieben Rudolf, der bald seinen fünfzehnten Geburtstag feiert.” Luises Stimme klang auf einmal wieder so scharf und bitter wie zu Anfang. Nach einer kurzen Unterbrechnung fügte sie noch hinzu, ihr und Otto sei aufgefallen, dass der Wehrdienst fast auf den Tag genau ein Jahr nach diesen Verdunklungsübungen vom März 1934 wieder eingeführt worden war. Rudolf fiel ihr fast ins Wort. „Das hat Helle gar nicht mitbekommen; sie war zu der Zeit doch in dieser Landfrauenschule. Hat Vater dir etwas davon geschrieben? Er wollte ja nicht, dass ich das Haus verließ, weil in der Zeitung stand, das Betreten der Straßen geschehe auf eigene Gefahr. Aber viele aus meiner Klasse hatten sich verabre- det, mit Taschenlampen und so. Die hätten wir zuerst eigentlich gar nicht gebraucht, weil am Himmel lauter Sterne standen. Sah schon seltsam aus, muss ich sagen, all die Fenster, wo das Licht höchstens durch die Ritzen drang. Manche Leute hatten allerdings nur die nach vorn gehenden abgedichtet; einer von den Luftschutzhauswarten aus der Eichendorfstraße hat bei Dennersmanns fast die Tür eingeschlagen und mit Frau Dennersmann geschimpft, das konnte man kilometerweit hören … Zuerst ging es ja noch; da fuhren ein paar Autos mit abgeblendeten Scheinwerfern, und die Laternen warfen ein wenig Licht nach unten. Man sollte sie ja nur vom Flugzeug aus nicht erkennen können …” „Nicht man”, warf Luise ein, „der Feind.” Rudolf fuhr fort, als hätte er nichts gehört. „Aber bei Grad 2, da mussten wir sogar unsere Taschenlampen ausknipsen. Es war übrigens doch ganz gut, dass wir welche mitgenommen hatten – oben zwischen den Bäumen sah man nämlich die Hand vor den Augen nicht. Deshalb bin ich auf dem Höing Polizeipräsident Hermann in die Arme gelaufen, der was murmelte von Rudolf Schulte, so so, und wissen deine Eltern das; aber dann war er sehr freundlich und hat mir alles erklärt – was ,passiver Luftschutz’ bedeutet zum Beispiel und dass uns die aktiven Möglichkeiten durch den Versailler Vertrag verboten sind.” Rudolf hatte sehr schnell gesprochen und zwischendurch immer wieder einmal kurz gelacht. Er schien enttäuscht, dass 176 177 keine seine Schwestern etwas sagte, und zog die Stirn kraus. Schließlich meinte Luise, jetzt wollten sie eine Pause einlegen. Sie müsse tanken, und eine Tasse Kaffee könne auch nicht schaden. „Was hat sie denn?” Rudolf ging neben Helga her, während Luise sich mit dem Tankwart unterhielt, der die Windschutzscheibe von Insekten befreite. „Nur gut, dass niemand außer uns etwas gehört hat. In der Schule ist neulich einer aus der Sekunda zum Direktor zitiert worden, weil er einen Witz gemacht hat, über Minister Göring und seine Uniformen. Ich bin gespannt, wann sie mir auf die Pelle rücken, weil ich immer noch nicht in die Hitlerjugend eingetreten bin. Kurz nach meiner Konfirmation hat mich der Mann von Frau Fandrey beiseite genommen und gesagt, Pastor Ackermann bekäme auch bald Ärger, was ich nicht ganz verstehe. Der ReiBi Müller hat doch mit von Schirach ausgehandelt, dass die evangelischen Hitlerjungen zweimal im Monat in die Kirche gehen dürfen, und die Eltern meinten damals, es werde nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird – den Spruch kennst du ja.” Helga sah ihn von der Seite an. „Sag lieber ,Reichsbischof’; mit solchen Ausdrücken eckst du leicht an. Aber so wie Luise reden viele Leute in der Schweiz. Ich finde ja manches gut, was die Nationalsozialisten 178 eingeführt haben, das Winterhilfswerk zum Beispiel, also dass die Menschen angehalten werden, nicht immer nur an sich zu denken, und den Eintopfsonntag auch. Dass sie im vorigen Juni vielen von der SA den Garaus gemacht haben, ist mir ebenfalls eher recht. Irgendwann habe ich mal mit Herta Dennersmann darüber gesprochen; die hatte genau solche Angst wie ich, wenn sie denen im betrunkenen Zustand begegnete, ich meine …” „Hab schon verstanden, was du sagen willst. Nur gut, dass Opa Effenkamp auf seinen Enkel Erich aufgepasst hat; Ida hat mir hinterher erzählt, ihr Großvater hätte seine Ohren ja überall, und deshalb sei ihrem Bruder nichts passiert. Hat dir Herta übrigens geschrieben, dass sie jetzt mit Johann Albers verlobt ist?“ Helga schüttelte den Kopf. „Nein, aber mit dem Gedanken gespielt hat sie schon lange.” „Ich dachte, ihr wäret ziemlich gut befreundet”, meinte Rudolf und runzelte die Stirn. Helga drehte sich halb von ihm fort, spiegelte sich in einer Fensterscheibe und rückte ihren kleinen Hut zurecht. „Sie wird viel um die Ohren haben”, sagte sie dann leise. Luise winkte sie herbei, und die beiden bewegten sich langsam auf den Mercedes zu. 179 „Sind wir bald da?”, erkundigte Rudolf sich und ließ die Wagentür hin- und herschwingen. „Bremen werden wir in einer Viertelstunde erreicht haben, und bis Bremerhaven ist es dann nicht mehr so weit. Ich muss sagen, dass die Straßen in einem durchaus passablen Zustand sind”, meinte Luise und griff nach einer weiteren Zigarette, während Rudolf sich anschickte, einzusteigen. „Wenn es dir nichts ausmacht, Helle, würde ich diesmal lieber hinten sitzen. Vielleicht schaffe ich es ja, ein bisschen zu schlafen. Um fünf Uhr aufstehen, das ist nicht so ganz meine Sache. Nur gut, dass wir nicht gleich zurückdüsen müssen; wenn ich’s recht verstanden habe, verbringen wir eine Nacht in einem schicken Hotel. Übrigens wusste ich gar nicht, dass du so gut fährst, Luise, fast wie der Caracciola.” Rudolf streckte sich in seiner ganzen Länge auf der Rückbank aus, gähnte und fragte, ob sie ihm nicht ein paar Fahrstunden geben könnte, worauf Luise auflachte und erwiderte, da solle er sich doch besser an einen der Werkschauffeure wenden. „Dass sie mir heute den Mercedes anvertraut haben, liegt ja wohl daran” – sie sprach plötzlich wieder sehr laut und abgehackt –, „dass weder Ottos noch Sophies Anwesenheit bei der Begrüßung der Eltern erwünscht ist. Otto hat die Entscheidung gelassen hingenommen; was soll’s, mit seinem Status als Angeheirateter, und noch dazu … ihr wisst ja, kann er leben. Aber für Sophie war es doch ein Schlag ins Gesicht, vor allem, weil Karl sich doch nun seit fast drei Monaten in England aufhält, ohne sie und ohne Diezchen. Ich vermute einmal, dass Mutter in diesem Fall das Sagen gehabt hat.” Helga beugte sich zu ihr hinüber und meinte beschwichtigend, Fräulein Dahm wäre auch gern mitgekommen, hatte sogar vorgeschlagen, Sophie in ihrem Wagen mitzunehmen, aber der Vater hätte ihr klipp und klar zu verstehen gegeben – das Telegramm habe sie mit eigenen Augen gesehen –, sie werde im Betrieb gebraucht. „Du findest immer eine Entschuldigung, Helle”, erklärte Luise und nahm den Fuß vom Gaspedal, weil der Verkehr deutlich zugenommen hatte. „Meinst du denn wirklich, im Betrieb wäre alles drunter und drüber gegangen, wenn die Dahm’sche mal einen Tag nicht jedem auf die Finger geschaut hätte? Vater und Mutter scheinen doch darauf vertraut zu haben, dass ganze fünf Wochen lang alles auch ohne sie laufen würde, und es war ja auch so, mal abgesehen davon, dass Vater das fünfundzwanzigjährige Jubiläum der Höheren Handelsschule verpasst hat, bei dem er wohl eine Rede hätte halten sollen.” 180 181 Es war nicht zu überhören, dass Rudolf schlief, denn er schnarchte, und nach einigem Hin- und Herrutschen wurde es hinten ganz still. „Nun sag einmal ganz ehrlich, Helle”, meinte Luise leise, „wie es dir in Lausanne gefällt. Weihnachten, bei Rudolfs Konfirmation und auch an diesem Wochenende waren ja immer irgendwelche Leute dabei, und ich kenne dich gut genug, um zu wissen, dass du mit der Wahrheit hinter dem Berg hältst, wenn sie jemanden verletzen könnte. Warum die Eltern dich sozusagen gleich nach deiner Rückkehr aus dem Luisenhof in die Schweiz geschickt haben, weiß der Himmel – ich jedenfalls nicht.” Helga blickte durch die Windschutzscheibe auf die vorbeifliegenden Bäume und überlegte, bevor sie ihrer Schwester antwortete. In der Landfrauenschule hatte es ihr wirklich gut gefallen, und sie hatte auch einige Freundschaften geschlossen, mit Brigitte von Albertyll zum Beispiel. In den Sommerferien hatte sie den Eltern indessen deutlich zu verstehen gegeben, dass sie gern einen Beruf ergreifen würde, nach Möglichkeit einen, bei dem sie ihre Liebe zu Fremdsprachen nützlich machen könne, und da hatte sich sozusagen als Kompromiss dieser Aufenthalt in Lausanne angeboten, denn mit der Vorstellung, Helga als Korrespondentin für Französisch und Englisch in einem Büro arbeiten zu sehen, hatten sie sich zunächst nicht anfreunden können. „Die ältere Tochter von Vaters Schweizer Geschäftsfreund Ulrich Stoecklin …”, hob sie schließlich an. „Ja, darüber bin ich bestens informiert. Wie oft ich die Geschichte inzwischen gehört habe, kann ich dir kaum sagen”, meinte Luise, „denn natürlich bin ich nicht die Einzige, die sich Fragen gestellt hat. Aber lassen wir das einmal. Ich vermute, oder besser, ich hoffe, dass du wenigstens bei Ilse Fandrey ordentlich ausgepackt hast. Doch immerhin bin ich deine Schwester, und ich sehe doch, dass du nicht gerade vor Begeisterung an die Decke springst.” Helle blickte Luise überrascht an. So hatte sie eigentlich noch nie zu ihr gesprochen. Sonst klang ihre Stimme herausfordernd, patzig, ironisch, wie auch immer, auf keinen Fall jedoch warm und einladend. Deshalb starrte sie zunächst einmal durch die Windschutzscheibe und schwieg. „Cyrano ist schön”, sagte sie langsam. „Der Ortsteil von Lausanne, in dem das Institut der Fräuleins Griesbecque liegt, heißt so, und der Weg, der am Haus vorbeiführt, auch. Von unserem Zimmerfenster aus kann man auf den Genfer See schauen. Die Küche ist gut, und was wir lernen, interessiert mich. Ab und zu gehen wir gemeinsam ins Kino. Neulich wurde dieser Film von Leni Riefenstahl gezeigt, den sie auf dem Parteitag in Nürnberg gedreht hat, Triumph des Willens heißt er. Der ist in Hagen sicher schon längst gelaufen, nicht wahr?” Luise nickte, blickte aber weiter geradeaus. „Ganz schön beeindruckend”, sagte Helga nachdenklich. „Aber ich muss gestehen, dass mir irgendwie unheimlich zumute war; genau beschreiben kann ich das Gefühl nicht – am ehesten fällt mir eine Welle ein, die über einem zusammenschlägt.” „Da hast du den Nagel auf den Kopf getroffen, Helle. Halte ordentlich die Augen auf und hör zu, wenn die Schweizer über Deutschland reden, ja?” 182 183 Luise drehte sich halb zu ihrer Schwester um und lächelte ihr zu. „Ich vermute einmal, dass dir Schloss Hubertus mit Luise Ullrich, Olga Tschechowa und Adolf Wohlbrück besser gefallen hat. So etwas drehen sie ja auch noch, vorausgesetzt, die Schauspieler sind reine Arier. Aber erzähl mal weiter. Auf wieviele höhere Töchter müssen die Damen Griesbecque denn ein Auge haben?” „Wir sind achtzehn”, erwiderte Helga. „Die anderen Mädchen kommen aus aller Herren Länder. Ein paar Deutsche sind darunter, zwei Schwedinnen, vier Südamerikanerinnen, eine aus Prag, die aber deutsche Eltern hat, dann” – sie dachte nach – „Pia aus Mailand und Amalie aus Salzburg. Am besten verstehe ich mich mit einer der drei Amerikanerinnen, Felicity Blake. Zuerst fand ich den Vornamen ja komisch, muss ich gestehen, stell dir vor, Glückseligkeit, aber jetzt habe ich mich längst daran gewöhnt. Wir haben unsere jeweiligen Zimmergenossinnen gefragt, also weil wir zu Anfang einfach nach dem Alphabet aufgeteilt worden waren, ob sie bereit wären, die Plätze zu tauschen, und seitdem wohnen Felicity und ich zusammen. Übrigens habe ich schon ziemlich viele Aufnahmen gemacht, von der Kathedrale, den verschiedenen Brücken, die natürlich alle französische Namen tragen, auch von einem Ausflug nach Montreux zu einem Trachtenfest, aber ich werde dir Anfang Juli dann auch Fotos von den anderen Mädchen und den Demoiselles Griesbecque zeigen können. Für diesen Kurzaufenthalt habe ich sie natürlich nicht eingepackt.” Luise nickte nur. „Ganz zu Anfang, einen Monat lang oder so, hatte ich Heimweh, aber das kannte ich ja schon aus der ersten Zeit in der Neumark”, sagte Helga und blickte immer noch geradeaus. Ihre Schwester fragte sofort, ob sich denn Stoecklins nicht um sie kümmerten. „Ich war dabei, als Vater mit seinem Geschäftsfreund telefonierte und ihm ans Herz legte, dich zu besuchen oder an einem Wochenende auch einmal einzuladen, und ich habe mitbekommen, weil ich nämlich direkt neben Vater stand, wie er hoch und heilig versprochen hat, dich als seine Tochter zu betrachten. Basel liegt ja nicht gerade um die Ecke, von Lausanne aus gesehen, aber da Stoecklins zu Karl während seiner Praktikantenzeit dort wirklich nett waren, hätte ich erwartet …” Helga drehte Luise jetzt den Rücken zu und drehte die Scheibe auf der Beifahrerseite ganz herunter. Das, was sie erwiderte, erriet Luise mehr, als sie es richtig verstand. „Ist dir nicht gut? Soll ich mal anhalten? Kathrine und Otto junior wird auf längeren Fahrten auch immer schlecht”, meinte sie besorgt, aber auch etwas überrascht. Zunächst schüttelte Helga nur den Kopf, dann meinte sie, es sei alles in Ordnung, und schließlich wandte sie sich wieder halb zu Luise um. 184 185 „Es war ja alles so neu für mich, angefangen von der Sprache. Dazu kam noch” – Helga warf einen Blick auf Rudolf, der jedoch mit auf der Brust gekreuzten Armen vor sich hinschnarchte –, „dass ich fast jeden Tag einen Brief von Ernst Herberts erhielt, weißt du, dem Sohn von Vaters Logenbruder, den ich auf der Hochzeit von Karl und Sophie kennen gelernt hatte und den wir im letzten Sommer in Borkum wiedergetroffen haben. Er studiert Betriebswirtschaft und wird später gewiss in die Kanzlei seines Vaters eintreten, braucht sich also um seine Zukunft keine Sorgen zu machen.” Helga sprach auf einmal schneller, wenn auch immer noch mit gedämpfter Stimme, und unterstrich ihre Worte mit lebhaften Handbewegungen. „Ende April, vor knapp einer Woche, haben wir im Literaturunterricht einen französischen Dichter behandelt, von Geburt ist er Pole oder so etwas, der sich während einer Zugfahrt in ein Mädchen verliebte, ihr lauter Briefe schrieb und sich auch per Brief mit ihr verlobte. Als sie sich dann wieder in Fleisch und Blut gegenüberstanden, blieb nicht mehr viel von der Liebe übrig, und die Geschichte ging in die Brüche. Bei diesem Apollinaire muss ich an Ernst Herberts denken. Es stört mich geradezu, dass er mich so anbetet, denn ich finde ihn nett, aber nicht mehr.” Luise schwieg weiterhin, und schließlich platzte es aus Helga heraus, Ernst Herberts habe ihr vorgestern einen Heiratsantrag gemacht, und sie wisse beim besten Willen nicht, wie sie sich verhalten solle. Vielleicht habe sein Vater ja schon mit ihrem Vater darüber geredet … „Nun hör mal genau zu”, sagte Luise mit gedämpfter Stimme, aber sehr deutlich. „Ich mag dir ja wie jemand vorkommen, der mit dem Kopf durch die Wand geht und nur an sich denkt. Daran ist sicher etwas Wahres. Heute würde ich auch manches anders machen, meine Eltern zum Beispiel nicht mehr vor vollendete Tatsachen stellen und einfach so heiraten, ohne jemanden von der Familie auch nur davon zu unterrichten und mir sogar noch von Mutters Schneiderin ein Kostüm anfertigen zu lassen. Aber du, du darfst auf keinen Fall ins andere Extrem fallen. Man schließt mit jemandem eine Ehe” – sie warf einen raschen Blick nach hinten und vergewisserte sich, dass Rudolf immer noch schlief –, „weil man ihn liebt. Darunter verstehe ich, dass man diesen Mann mit Leib und Seele akzeptiert, ihn also achtet und übrigens auch von ihm geachtet wird, alles mit ihm zu teilen gewillt ist – wie man so treffend sagt, unter anderem Tisch und Bett. Ja, Helle, das Bett auch; du brauchst nicht in deinen Schoß zu starren. Du musst dich danach sehnen, von diesem Mann berührt und mit ihm eins zu werden. Wenn das nicht so ist, kommt einem der eheliche Beischlaf wie eine Vergewaltigung vor, glaub es mir. Man geht nicht mit jemandem eine so enge Verbindung ein – bis dass der Tod euch scheide!–, weil es zwei alten Freunden nur allzu recht wäre, wenn ihre Kinder eine Familie gründeten.” 186 187 Luise umfasste das Lenkrad so fest, dass ihre Handknöchel weiß hervortraten, und erklärte, sie habe nicht den Eindruck, dass Helle solche Gefühle für Ernst Herberts hege. „Wenn man sich einsam fühlt, greift man nach jedem Strohhalm. Das Bild passt zwar nicht ganz, aber du verstehst gewiss, was ich sagen will. Und lass dich nicht davon beeinflussen, dass Herta Dennersmann demnächst heiratet. Fahr zurück nach Cyrano, lern tüchtig Französisch und genieße die Zeit dort.” Helga neigte sich zu Luise hinüber und gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Danke”, sagte sie, „danke. Eigentlich bin ich ziemlich erleichtert. Aber was sage ich ihm denn? Ich will ihm doch nicht weh tun.” Luise lachte. „Das hängt davon ab, wie groß dein Mut ist. Entweder bleibst du bei der Wahrheit und erteilst ihm eine endgültige Absage, so etwas wie ,Dein Antrag ehrt mich sehr, aber ich bin überzeugt davon, dass ich nicht die richtige Frau für dich bin’, wobei es natürlich eher zutrifft, dass er nicht der richtige Mann für dich ist. Oder du greifst auf eine Notlüge zurück, zum Beispiel: ,Ich habe in der Schweiz einen jungen Mann kennen gelernt …’; so einen Satz brauchst du nicht einmal zu Ende zu führen.” „Helle hat in der Schweiz einen jungen Mann kennen gelernt? Davon weiß ich ja gar nichts! Gut, dass der Fritz …” Rudolf richtete sich auf, rieb sich die Augen, gähnte übertrieben laut und fragte in das Schweigen hinein, wie weit es noch bis Bremerhaven sei. „Ich drehe mal mein Fenster runter, ob man schon das Meer riecht.” 188 189 Der Dirigent der Musikkapelle hob den Taktstock; jedoch war von dem, was die Männer auf ihren blank geputzten Instrumenten bliesen, nicht allzu viel zu hören, weil die anderen Schiffe zur Begrüßung ihre Sirenen heulen ließen. Luise hatte wohl gesagt, bei der Ausreise hätten sie Muss i denn zum Städtele hinaus gespielt, aber auch das riet Helga mehr, als sie es wirklich verstand. Sie suchte unter den Menschen, die sich an der Reling drängten, ihre Eltern, glaubte den großen Hut ihrer Mutter erspäht zu haben, zupfte Luise am Arm und wies nach oben; sie winkten beide. Ihr Vater musste sie auch in der Menge entdeckt haben; ein Strahlen ging über sein Gesicht, das war aus der Entfernung deutlich zu erkennen, und er deutete mit den Händen auf die Gangway, die gerade ausgelegt wurde, sowie auf seine Uhr: Es würde noch ein wenig dauern, bis sie die Europa verlassen konnten. Luise atmete einmal tief durch: Als sie das Hafengelände erreicht hatten, war der Luxusdampfer durch ein Gewirr von Masten, Schornsteinen und Lagerhallen hindurch schon zu sehen gewesen, hatte aber glücklicherweise mit dem Anlegemanöver gerade erst begonnen. So hatte sie in Ruhe nach einem Parkplatz gesucht, sorgfältig die Wagen- tür verschlossen und Rudolf zugerufen, er möge aber bitte zur Stelle sein, wenn die Eltern das Schiff verließen. Rudolf war sofort losgestoben und schien kurz darauf eine Unterhaltung mit einem der Dockarbeiter angefangen zu haben. Aber dann standen die Eltern doch endlich vor ihnen, schlossen sie in die Arme, zuletzt Rudolf, der sich gerade noch rechtzeitig einen Weg durch die Menschenmenge gebahnt hatte. Luise richtete Grüße von ihrem Mann, von Sophie, Ida, Herrn Behr und Fräulein Dahm aus, fügte hinzu, alle Namen könne sie gar nicht aufzählen, denn natürlich wisse jeder im Betrieb, dass der Chef aus Amerika zurückkehre, während ihre Mutter ständig wiederholte, sie sei so froh und erleichtert, heimatlichen Boden unter den Füßen zu spüren und vor allem wieder Deutsch sprechen zu können; alle ihre Kinder müssten unbedingt solide Englischkenntnisse erwerben, denn so allein und hilflos habe sie sich selten gefühlt. Mitten hinein erkundigte sich der Vater mehrfach und immer lauter, ob sie denn die Karten von den Niagara-Fällen erhalten hätten – Post sei ja wohl zehn bis zwölf Tage unterwegs. Rudolf zuckte nur mit den Schultern, weil seine Fragen im Lärm untergingen, und Helga gab es ebenfalls auf, ein Wort unterzubringen. „Um das Gepäck kümmert sich unser Bezirksvertreter; das hat Behr alles in die Wege geleitet. So fährt der Lieferwagen ausnahmsweise nicht leer nach Eckesey zurück. Rudolf, du gehst jetzt einmal zu unserem Stewart und lässt dir den kleinen Koffer aushändigen, den Mutter für die Übernachtung im Hotel gepackt hat. Er zwinkerte Rudolf zu. „Ich habe ihm gesagt, dass ein baumlanger junger Mann mit” – er legte die Hände hinter die Ohren – „ihn abholen wird. Rot zu werden brauchst du nicht”, meinte er dann ziemlich ernst, „bislang war das immer ein unverwechselbares Erkennungszeichen. Aber Mutter und ich haben beschlossen, wenn du einverstanden bist natürlich, dass wir Dr. Rosenthals Rat folgen und sie in einer ganz einfachen Operation anlegen lassen werden, gerade noch rechtzeitig” – er zwinkerte noch einmal –, „bevor du dich ernsthaft für all die hübschen Mädchen interessierst.” Während Rudolf losstürmte, folgten die anderen Luise langsam zum Wagen. 190 191 „Mit den Hotels in Amerika lässt sich dieses hier nicht vergleichen, überhaupt keins in ganz Deutschland, nicht einmal das Adlon in Berlin oder die Vier Jahreszeiten in Hamburg”, sagte Herr Schulte, als sie um den runden Tisch im Speisesaal Platz genommen hatten und darauf warteten, dass der Oberkellner ihnen die Karten reichte. „Geführt werden sie wohl mit der gleichen Sorgfalt – also hervorragend geschultes Personal, aber was die Größe angeht … Denkt euch nur: zweitausend Zimmer, alle mit Bad, eintausendachthundert Angestellte, auf jeder Etage ein Concierge, der die Schlüssel verwaltet und darauf achtet, dass sich niemand Fremdes einschleicht.” „Das Walldorf Astoria muss dann ja auch ein Wolkenkratzer sein”, sagte Rudolf, und seine Augen leuchteten. „Seid ihr eigentlich im Empire State Building bis ganz oben gefahren?” Der Vater nickte. „Einige der Aufzüge halten in jedem Stockwerk, andere alle zehn, und mindestens einer saust wie eine Rakete ohne Unterbrechung von 1 bis 86. Fragt mal eure Mutter, wie ihr die Besichtigung gefallen hat.” Er warf seiner Frau einen verschmitzten Blick zu. „Ja, es stimmt, genossen habe ich die Sache nicht”, meinte sie und schwankte zwischen Ärger und Lachen. „Ich dachte immer, ich sei schwindelfrei, aber erstens blieb mein Magen unten, als dieser Lift in die Höhe schoss, und zweitens wirkten die Fahrzeuge und die Menschen von der Plattform aus so winzig … nur gut, dass sie verglast ist!” „Mir würde das bestimmt nichts ausmachen”, erklärte Rudolf, während Helga gleichzeitig fragte, ob es denn in New York auch niedrigere Häuser gäbe. „Natürlich”, erwiderte ihr Vater, nickte dem Oberkellner dankend zu und griff nach der Speisekarte, „in Greenwich Village zum Beispiel, und dann natürlich, neben Wolkenkratzern, in den anderen Städten, die wir besucht haben, also in Pittsburg, Chicago, Detroit, einmal ganz zu schweigen von kleineren Orten, in denen wir nicht angehalten haben. Wisst ihr übrigens, wo zum Beispiel der Mount Vernon liegt oder die Stadt, nicht der Staat Washington?” Rudolf nickte. „Ich weiß es ganz genau, weil Ida nämlich eine Karte der Ostküste an die Küchentür gepinnt hat, und darauf haben wir mit Stecknadeln und rotem Zwirn eure Reiseroute markiert. Und das mit Washington State ist eine Fangfrage unseres Erdkundelehrers.” Sein Vater lächelte, warf dem Oberkellner, der schräg hinter ihm wartete, einen Blick zu und erkundigte sich dann bei Frau und Kindern, auf welche Gerichte ihre Wahl gefallen sei. Während der Oberkellner sich mit seinem Block zielbewusst entfernte, strich Herr Schulte mit den Händen einmal über die samtbezogenen Armstützen und meinte dann, in den Vereinigten Staaten hätten sie auf dem Gebiet, also was Restaurants anbetraf, schon Erstaunliches erlebt. Nach einigem Suchen zog er eine Karte aus der Jackentasche und reichte sie Rudolf. „Habe ich dir mitgebracht – die Unterschrift von Jack Dempsey.” „Dem Boxer?” Rudolf riss die Augen auf. „Ja, wir haben in seinem Restaurant eine Mahlzeit eingenommen, und ich dachte, du würdest dich über ein Autogramm freuen.” 192 193 Er setzte das Bierglas an die Lippen, das der Getränkekellner gerade vor ihm auf das gestärkte Tischtuch gestellt hatte. „Gleich bringt er eine besonders gute Flasche Wein, zur Feier des Tages. Aber richtig zu Hause fühle ich mich erst mit einem Dortmunder.” Dann fuhr er fort, das Essen in Restaurants sei in Amerika im Vergleich zu Deutschland sehr teuer, man trinke nur Eiswasser dazu, kein Bier und eigentlich auch keinen Wein, der stark besteuert werde, wie Alkohol ganz allgemein und übrigens auch Tabak. Mit viel weniger Geld käme man in den Drugstores zurecht, wo zu seinem Erstaunen die meisten Arbeiter sogar schon frühstückten. „Ach, bevor ich’s vergesse: Herr Bamberger, mein alter Geschäftsfreund aus Münster, hat mich mit in eine Gaststätte genommen, die hier, vermute ich einmal, ziemlich rasch bankrott gehen würde. Eure Mutter musste draußen bleiben – das heißt, wir hatten sie in weiser Voraussicht gar nicht mitgenommen –, aber wirklich: Das Lokal war nur für Männer reserviert. Man holt sich an einer Theke, was man essen will, erfährt dabei auch den Preis, ohne eine Rechnung oder einen Zettel zu erhalten; beim Hinausgehen sagt man dem Kassierer dann, was man bezahlen muss.” Helga und Rudolf sahen ihren Vater ungläubig an. „Und niemand mogelt? Das wäre doch ein Kinderspiel.” „Nein, aber das ist noch nicht alles. Auf den Straßen stehen überall sogenannte stumme Zeitungsverkäufer, Metallkästen mit Zeitungen darin und einer Art Spardose, in die man das Geld steckt. Ich habe einmal eine Viertelstunde oben an einer Subway-Treppe die Leute beobachtet: Alle entrichteten ihren Obolus. Der Geschäftsführer von Bohack’s Bakery, das ist eine Großbäckerei, erzählte mir übrigens, sie lieferten ihre Ware nachts in Körben vor die Ladentüren, und so gut wie nie werde etwas gestohlen.” „Aber die Amerikaner können doch nicht um so vieles ehrlicher sein als wir”, rief Rudolf aus. „Der Manager, wie man dort sagt, führte das auf die sehr harten Strafen zurück, die vom Gesetzgeber für Diebstahl festgelegt worden sind”, erklärte sein Vater und meinte dann, eine ganze Reihe von Kellnern bewege sich in ihre Richtung; er wolle zunächst einmal in Erfahrung bringen, ob Sauerbraten mit Klößen immer noch so gut schmecke wie vor fünf Wochen. 194 195 „Nun bin ich mir nicht sicher, ob mein Bericht euch Mädchen im gleichen Maße interessiert wie Rudolf, der ja schließlich gemeinsam mit Karl einmal den Betrieb übernehmen wird.” Herr Schulte legte sein Besteck auf dem Teller ab, lehnte sich ein wenig zurück und blickte seine Töchter an. Luise hatte sich kerzengerade aufgesetzt, Helga runzelte die Stirn und legte ihrer Schwester beschwichtigend die Hand auf den Unterarm. Deshalb holte Luise zunächst einmal tief Luft und sagte dann eher spöttisch als scharf, er scheine wohl vergessen zu haben, dass sowohl Helga als auch sie in einer Süßwarenfabrik aufgewachsen seien und es nicht an ihnen liege, wenn sie nicht in die Fußstapfen ihres Vaters und übrigens auch die ihrer Mutter treten würden. Er habe ja sicher nicht vergessen, welche Rolle die Frauen im Weltkrieg gespielt hätten. „Den Krupps blieb ja keine andere Wahl, mangels männlicher Erben”, fügte sie noch hinzu. „Aber Otto hält mich über alles, was in seiner Firma geschieht, auf dem Laufenden, und Mutter kennt sich ja wohl auch ein bisschen aus, nicht wahr?” Herr Schulte lachte. „Immer noch die alte Luise. Im Grunde hast du natürlich Recht. Übrigens beschäftigt besonders Henry Ford viele Frauen in seinem Werk, nicht in leitender Stellung allerdings, und Blinde auch, was absoluten Seltenheitswert hat. Er geht noch jeden Tag durch den Betrieb, hat man uns erzählt.” „Genau wie du”, warf Rudolf ein, während Helga sich erkundigte, welche Firmen sie denn besichtigt hätten. „Die meisten Namen werden euch nichts sagen, aber Mars, LifeSavers und Beechnut, davon habt ihr doch schon gehört? Auf unserem Programm stand so gut wie jeden Tag eine Führung, und ich muss sagen, dass wir sehr viele Anregungen erhalten haben. Nehmen wir einmal Beechnut – sie stellen nur zwei Produkte her; das sollten wir auch in Erwägung ziehen, weil es die Herstellung, die Lagerhaltung und auch den Vertrieb vereinfacht: nichts mit Gläserware und Wickelmaschinen für Kaubonbons, frischer Milch und zig Sorten von Essenzen. Außerdem verteilen sie kostenlose Schmeckmuster, Kleinstpackungen mit drei Pfefferminzdragees drin; die Idee sollten wir auch auswerten. Beeindruckt hat mich des Weiteren, dass die Firma Mars, die ja nur das Weiße vom Ei verwertet, das Eigelb an die örtlichen Bäckereien verkauft. Weiß und Gelb werden maschinell getrennt, könnt ihr euch das vorstellen?” Zwei Kellner traten an ihren Tisch und räumten geräuschlos die Teller ab. „Auf dem Gebiet der Hygiene können wir uns ebenfalls ein Stück abschneiden, obwohl ich ja immer dachte, da seien wir vorbildlich mit unseren Kitteln und Hauben sowie dem neuen Waschraum. Die Firma Mars stellt ihrem Personal jeden Tag frische Kleidung, das heißt, wenn die Arbeiter morgens eintreffen, schlüpfen sie zunächst einmal in eine saubere Montur, und um die Reinigung brauchen sie sich nicht zu kümmern. In einem anderen Betrieb gab es sowohl einen Werksarzt als eine Werksärztin; die müssen ja erst einmal bezahlt werden.” „Was mich zuerst überrascht hat …”, meinte Frau Schulte, die bislang nur zugehört hatte, „also ich konnte anfangs nicht verstehen, warum so wenig Verbundenheit mit der Firma zu spüren ist; bei Barkers, der amerikanischen Niederlassung der Verpackungsmaschinenfabrik, in der Karl zur Zeit als Praktikant in England tätig ist, wechselt in jedem Jahr mehr als die Hälfte der Arbeiter, und das, obwohl der Betrieb immerhin eine Krankenkasse eingerichtet hat.” Herr Schulte griff den Gedanken auf. 196 197 „Ja, die Leute werden gut bezahlt, aber was es in den Staaten alles nicht gibt: Invalidenrente, Arbeitslosenversicherung, Kündigungsschutz, bezahlten Urlaub … vieles davon hat bei uns doch schon der alte Bismarck eingeführt.” Der Getränkekellner schenkte Wein nach, und gleichzeitig wurde die Nachspeise herangetragen. Frau Schulte meinte, es sei ihr aufgefallen, dass die Amerikaner alles viel stärker süßten, auch die Geleefrüchte. Bei Blankensteins hätte sie übrigens zum ersten Mal Erdnussbutter probiert, sich damit aber nicht anfreunden können. Am Tisch wurde es ganz kurz still, aber dann sprachen Herr Schulte und Helga gleichzeitig. „Wie geht es Hildegard?” „Ich soll besonders Helle ganz herzlich grüßen, von Hildegard, von Fritz und natürlich auch von Onkel und Tante Blankenstein. Fangen wir mal mit Hildegard an – sie ist gerade an der Juilliard School aufgenommen worden, einer berühmten Musikhochschule. Dort erhält sie weiterhin Geigenunterricht, allerdings auf einem Niveau, das die Amerikaner post-graduate nennen, das heißt, ihre Grundausbildung ist abgeschlossen, und sie bereitet sich in Meisterklassen auf eine Solistenlaufbahn vor. Vielleicht, meinte sie selber in ihrer ganzen Bescheidenheit und mit dem ihr eigenen Humor, werde sie auch bloß die erste Geige spielen, in einem Orchester natürlich.” 198 Helga schaute ihren Vater mit großen Augen an, und er fügte sofort hinzu, Hildegard vermisse Deutschland sehr, insbesondere ihre beste Freundin, und sie hoffe von ganzem Herzen, dass sich bald die Möglichkeit zu einem Wiedersehen eröffnen werde. Aber, fuhr er dann sehr ernst fort, das erscheine sowohl Blankensteins als auch ihm selber als nicht gerade leicht zu bewerkstelligen. Er senkte seine Stimme, so dass alle bis auf Frau Schulte, die vermutlich Bescheid wusste, sich ein wenig vorbeugen mussten. „Ich hole etwas weiter aus, nicht wahr? Wir haben Onkel und Tante Blankenstein ja sowohl zu Anfang als auch zu Ende unseres Aufenthalts in New York besucht. Als ich Eugen, also Onkel Blankenstein, am letzten Abend berichtete – knapp eine Woche ist das her –, der Geschäftsführer von Beechnut hätte mich mit in seine Loge genommen, und ich sei doch ziemlich verwundert gewesen, weil in den Räumen eine Tanzveranstaltung stattfand, was bei uns in Hagen einfach undenkbar wäre, da hat er gefragt, ob er nicht Recht gehabt hätte mit seiner Vermutung, auch die Freimaurerlogen würden verboten werden. Ich konnte ihm leider nur zustimmen und ihm erzählen, wie das gelaufen war, angefangen von der Beschlagnahmung des Gebäudes durch die SS im Juli ‘34 unter dem Vorwand, sie brauchten das Haus für Luftschutzzwecke, und vor allem die Durchsuchung, wo es dann bis zum November dauerte, bevor die Polizei sie für ungesetzlich erklärte. Das nützte freilich nichts mehr, denn sie hatten die Archive und unsere Ritual199 gegenstände gleich beim ersten Mal abtransportiert, und wir haben nie in Erfahrung bringen können, was damit geschehen ist. Eugen bemühte sich unseretwegen ehrlich, nicht aufzutrumpfen, wollte dann aber wissen, ob die Logenbrüder, insbesondere ich natürlich, Schwierigkeiten gehabt hätten wegen ihrer Zugehörigkeit zu einem mittlerweile verbotenen Verein; da konnte ich ihn beruhigen, also jedenfalls halbwegs.” Rudolf hob leicht die Hand, und Herr Schulte verstummte, als sich der Oberkellner mit einer höflichen Verbeugung erkundigte, ob die Herrschaften zufrieden gewesen seien, und den Getränkekellner heranwinkte, der alle Weingläser noch einmal halb füllte. Sobald die beiden sich entfernt hatten, setzte Herr Schulte seine Ausführungen halblaut fort. „Fritz, den wir nicht angetroffen haben, soll von einem ehemaligen Mitdoktoranden aus Aachen erfahren haben, dass sie dort allen jüdischen Professoren die Lehrerlaubnis entzogen haben, mit einer Art Gnadenfrist bis 1934 für ehemalige Frontsoldaten, und dass dort mittlerweile ,deutsche Physik’ unterrichtet wird. Darunter konnte er sich freilich nichts vorstellen.” Helga, die rechts neben ihrem Vater saß, spürte plötzlich seinen Arm um ihre Schulter. „Kurzum, es sieht so aus, als ob Blankensteins in Amerika eine neue Heimat gefunden hätten. Wenn die Devisen nicht so knapp wären … In diesem Zusammenhang fällt mir noch eine Geschichte ein.” Herr Schulte redete etwas lauter und lachte. „Unterwegs, also genauer: bei unserem Besuch an den berühmten Niagara-Fällen, kamen wir ins Gespräch mit einem Deutschen, der sich darüber beklagte, dass wir nur so wenige Dollars mitnehmen durften; er stehe schon fast mit leeren Taschen da. Ich bot an, ihm auszuhelfen –wie ein Betrüger sah er nicht aus, das fandest du doch auch, Anna –, und er gab mir seine Adresse mit dem Versprechen, den Betrag sofort nach seiner Rückkehr auf mein Konto zu überweisen.” „Wie hast du es denn angestellt, dass euch das Geld nicht ausging?”, fragte Luise, „mit Kreditbriefen und über die Firma Barker, so ein kleines bisschen am Rande des Erlaubten?” Ihr Vater erwiderte gar nichts, sondern schmunzelte . „Auch eine Antwort”, meinte Luise. „Otto hat mir übrigens erzählt, dass die Einfuhr ausländischer, unter anderem auch amerikanischer Waren in der letzten Zeit ständig zurückgeht, eben wegen dieser Devisenknappheit. Wie schätzen die Geschäftsleute, mit denen du dich dort unterhalten hast, denn die Lage ein?” Herr Schulte meinte, die meisten hätten die Politik ausgespart und sich auf rein fachliche Themen beschränkt. Aber Mutter und er seien doch von vielen Seiten darauf angesprochen worden, ob Deutschland sich auf einen Krieg vorbereite, wegen der Wiedereinführung des Wehrdienstes vor allem. Luise warf Rudolf einen triumphierenden Blick zu, enthielt sich aber jeder Bemerkung und wollte wissen, was ihr Vater denn darauf geantwortet hätte. 200 201 „Welch eine Frage!”, antwortete Herr Schulte zunächst sehr rasch. Dann rückte er seinen Stuhl ein wenig nach hinten und schüttelte nachdenklich den Kopf. „Die Rückgabe des Saargebiets ans Reich sollte der Regierung in Berlin doch genügen. Zudem sieht es so aus, als ob wir nicht nur wieder über eine Armee, sondern mit britischer Zustimmung auch über eine ansehnliche Flotte werden verfügen können. Viele unserer jüdischen Mitbürger sind im Übrigen 1934 schon wieder aus dem Exil zurückgekehrt, weil die Gesetze und Erlasse unter dem Druck des Auslands und wegen der Missbilligung vieler anständiger Deutscher doch ihrer Lebensqualität weniger Abbruch tun als ein Dasein in einer fremden Umgebung. Meyers – ihr wisst schon: die Familie der anderen Helga – und Dr. Rosenthal haben das Land erst gar nicht verlassen. Aber Eugen, der auf Bitten von Fritz diese beiden Bücher gelesen hat, die man jetzt bei der Eheschließung vom Bürgermeister überreicht bekommt, die zwei Bände von Hitlers Mein Kampf ”– Herr Schulte hatte wieder die Stimme gesenkt –, „Eugen traut dem Frieden nicht, Olympische Spiele hin oder her. Er hat mir übrigens, im Scherz natürlich, aufgetragen, Franz Dennersmann und seine Frau Else, geborene Landwehr, tüchtig am Ohr zu ziehen. Sie leben ja bekanntlich beide in Braunschweig. Nun soll der Herzog – oder besser: sein Hof – Hitler damals zur deutschen Staatsangehörigkeit verholfen haben, indem sie ihm auf dem Papier irgendeinen Posten übertrugen; sonst hätte er weder kandidieren können noch …” Herr Schulte führte den Satz nicht zu Ende, sondern schob seinen Stuhl ganz zurück und erhob sich. „Kurz noch zu Amerika, bevor wir uns auf unsere Zimmer verteilen. Ich bin mir mit mir selbst nicht so recht einig: Automatisierung, also immer mehr Maschinen und auch Fließbandarbeit, senkt die Herstellungskosten und ermöglicht es dem Fabrikanten, seine Produkte billiger zu verkaufen; andererseits verlieren dadurch viele Menschen ihre Arbeit, und sie wird so unpersönlich, dass die Leute in einem Betrieb nur noch daran denken, wie sie ihren Lohn ausgeben und keinen Sinn mehr in ihrer Tätigkeit sehen – nichts mehr mit Werkschor, Weihnachtsfeier und Betriebsausflug. Ich weiß wirklich nicht … Aber dass ich müde bin, das weiß ich genau; ihr sicher auch. Wann seid ihr denn aufgestanden, um vier, um fünf? Helle, du kommst noch eben mit zu uns, ich soll dir etwas geben.” 202 203 Während Luise durch eine der dunkelgrün gestrichenen Türen verschwand, folgte Helga ihren Eltern in deren Zimmer und rechnete eigentlich damit, lediglich ein Päckchen von Hildegard oder Fritz in die Hand gedrückt zu bekommen. Deshalb war sie überrascht und erschrocken zugleich, als ihr Vater sie aufforderte, sich auf den Stuhl am Schreibtisch zu setzen. „Es wird nicht lange dauern”, meinte er, und seine Worte klangen warm, aber bestimmt. „Hier, bevor ich’s vergesse – ein Brief von Hildegard und ein Umschlag von Fritz, den man nicht knicken darf … auch wegen Luise, ich meine: Was wir dir zu sagen haben, bleibt unter uns dreien, ja?” Helgas Herz begann rasend schnell zu schlagen. Sie warf einen Blick auf ihre Mutter, die ihr halb den Rücken zudrehte und nacheinander mehrere lange Nadeln aus ihrem Hut zog. „Mit der Katze und dem heißen Brei habe ich’s noch nie gehalten”, fuhr Herr Schulte fort und ging im Zimmer auf und ab. „Deshalb komme ich gleich zur Sache. Bei Blankensteins, die wir als Anlaufadresse angegeben hatten, erreichten uns zwei Briefe, der eine von Herrn und Frau Stoecklin aus Basel, der andere von den Fräuleins Griesbecque. Beide enthielten, wenn auch unterschiedlich abgefasst, die gleiche Information: Jürg Stoecklin habe wohl Gefallen an dir gefunden, und ihr hättet euch des Öfteren in Lausanne getroffen. Den beiden Damen Griesbecque fiel zunächst auf, dass sehr häufig Briefe mit Baseler Poststempel für dich eintrafen. Stutzig gemacht hat sie der Absender: Eva Stoecklin. Da hätte also Frau Stoecklin, die nur zweimal über das Haustelefon bei dir angerufen hat, dir jungem Ding so viel zu erzählen … Hingegen haben sie deine Zimmergenossin Felicity mehrfach vor der Post warten sehen, auf dich, wie sie dann feststellten, und bei einer Filmvorführung sollst du auch den Saal zwischendurch für längere Zeit verlassen haben. Denke nun nicht, Felicity hätte geplaudert – das war gar nicht nötig, denn die Fräuleins Griesbecque und ihr Personal verfügen über eine Menge Erfahrung mit jungen Mädchen deines Alters. Wohlgemerkt, Helle” – ihr Vater blieb vor ihr stehen, beugte sich zu ihr hinunter und blickte ihr gerade in die Augen –, „das ist alles nicht schlimm; noch ist es nicht zu spät. Dass Fritz nicht nur nach Amerika gegangen ist, sondern allen, auch dir ziemlich bald zu verstehen gegeben hat, dass dort seine Zukunft liegt, war und ist für dich ein sehr harter Schlag. Aber Jürg … Ich deutete ja an, dass auch Stoecklins uns geschrieben haben. Ihnen ist nicht entgangen, was sich da zwischen Jürg und dir gleich bei deinem ersten Besuch in Basel anbahnte, und sie haben sich nur sehr schweren Herzens dazu entschlossen, uns das mitzuteilen, was Karl während seines Praktikums in ihrer Firma schon bemerkt und in so manchem Gespräch hinterher hat durchblicken lassen: Jürg sei ein Tunichtgut und zudem ein Schürzenjäger.” Helga starrte ihren Vater entgeistert an. „Ja, Helleken, so leid es mir tut. In ihrem Schreiben drücken Stoecklins sich verständlicherweise nicht so krass aus; es geht ja schließlich um ihren Sohn. Aber er hat bereits einen Bankert, also ein uneheliches Kind, gezeugt und mindestens drei Mädchen die Ehe versprochen, vielleicht sogar noch mehr, aber diese drei sind bei Stoecklins vorstellig geworden. Außerdem ist er so unstet, dass sein Vater fast die Hoffnung aufgegeben hat, ihn als seinen Nachfolger im Betrieb zu sehen, denn auch Jürgs Verhältnis zu Geld ist eindeutig … sagen wir einmal: getrübt. Ulrich Stoecklin schätzt die Lage als fast aussichtslos ein, und er hofft, dass zumindest eine seiner Töchter später einmal ei- 204 205 Obwohl Helga nicht wusste, wie sie Luise entgegentreten sollte, begab sie sich geradewegs zu ihrem gemeinsamen Hotelzimmer, weil sie vermutete, dass ihre Eltern sich in wenigen Minuten zumindest telefonisch vergewissern würden, dass sie nicht etwa das Gebäude verlassen hätte. Zu Helgas Erleichterung hielt sich Luise im Badezimmer auf, und als es läutete, rief sie ihrer Schwester zu, sie möge doch bitte an den Apparat gehen, nasse Fusstapfen machten sich auf dem Teppich nicht gut. So hob Helga den Hörer ab, antwortete kurz und wünschte ihren Eltern eine gute Nacht, bevor sie sich auf ihr Bett fallen ließ. Seltsamerweise bemerkte sie erst in diesem Augenblick, dass sie die ganze Zeit lang die beiden Umschläge fest in der Hand gehalten hatte. Sie öffnete den mit Hildegards Schriftzügen darauf und bewegte ihre Augen von einer Zeile zur anderen, ohne mehr wahrzunehmen als das, was ihr Vater ihnen vorhin am Tisch schon erzählt hatte. Dabei wünschte sie sich inständig, Hildegard möge ihr gegenübersitzen und sie ein wenig spöttisch, vor allem aber offen ansehen und ihr wie früher zu verstehen geben, dass Helle ihr absolut vertrauen konnte. Mühselig und beladen, murmelte sie vor sich hin und dann: Von einem Bankert hat er gesprochen. Nebenan putzte Luise sich geräuschvoll die Zähne. Nur gut, dass es wirklich noch nicht zu spät war; hätte ja sein können. Und Luise hatte schon Recht: Irgendjemandem musste man sich ja anvertrauen. War das wirklich erst gestern Abend gewesen, als sie Ilse nach dem langen 1.-Mai- Wochenende zum Zug nach Köln begleitet und ihr mit vielen Unterbrechungen zwischen dem zischenden Dampf der Lokomotiven und den Trillerpfeifen der 206 207 nen einschlägig ausgebildeten oder wenigstens fürs Geschäft begabten Ehemann nach Hause bringt.” Herr Schulte blieb hinter dem Sessel stehen, in dem seine Frau mittlerweile Platz genommen und sich Helga voll zugewendet hatte. „Vater und ich haben volles Verständnis dafür, dass du dich zu diesem jungen Mann hingezogen fühlst. Er ist so charmant”– ihre Mutter lächelte und schien wirklich zu meinen, was sie sagte –, „dass er sogar mich auf der letzten Leipziger Messe um den Finger gewickelt hat. Aber du wirst jetzt wohl selber zu dem Schluss gelangen, dass du gut daran tust, ihm keine Hoffnungen zu machen und selber Abstand zu gewinnen. Wir vertrauen auf dich, Helleken, und verzichten deshalb darauf, dir Hausarrest auferlegen zu lassen; so werden solche Situationen von den Fräuleins Griesbecque wohl in der Regel gemeistert.” Helga senkte kurz den Kopf und biss sich auf die Lippen. Dann nickte sie und erhob sich mit einer ruckartigen Bewegung. „Habe verstanden. Ihr könnt euch auf mich verlassen.” Ihr Vater machte ein paar Schritte in ihre Richtung, aber sie hatte die Tür schon hinter sich geschlossen. Bahnbeamten davon berichtet hatte, immer wieder nach Worten suchend, wie Jürg sie bei seinem ersten kurzen Besuch in Lausanne gleich zu Anfang so heftig geküsst und ihr die Lippen zerbissen hatte, dass sie darauf angesprochen worden war und als Erklärung abgegeben hatte, aus Versehen habe sie ein Stück Kuchen mit Haselnüssen darin gegessen, und darauf reagiere sie so wie einige der anderen Mädchen auf Erdbeeren. Bei dem Spaziergang am See entlang, im Februar seien ja nicht viele Leute unterwegs gewesen, habe Jürg sie wenig später hinter einen niedrigen Schuppen gezogen – für Gartengeräte vermutlich, hatte sie hinzugefügt, um Zeit zu gewinnen – , seine Hände kräftig aneinander gerieben, um sie zu wärmen, ihren Mantel aufgeknöpft, den Pullover hochgeschoben und dann ihre Brust berührt. „Nicht nur das”, hatte sie zögernd ergänzt, „er hat sie mit Küssen bedeckt und an meinem Schlüpfer herumgenestelt. Aber dann bellte ein Hund ganz in der Nähe.” Helga hatte gewartet, bis die Ansage aus dem Lautsprecher verklungen war, einem Zug nachgeschaut und dabei berichtet, zwei Wochen später sei es passiert; da hätte Jürg einfach ausprobiert, ob der besagte Schuppen überhaupt verschlossen sei, und … mit Schmerzen sei es nicht verbunden gewesen. Jürg habe ja auch mehrfach betont, auf dem Gebiet fehle es ihm wirklich nicht an Erfahrung, und eigentlich – Helga hatte einmal geschluckt – müsse sie gestehen, als unangenehm habe sie es nicht empfunden, eigentlich eher das Gegenteil. Sie hätten dann bei Jürgs allen weiteren Stippvisiten immer gleich den Schuppen aufgesucht und dort die Zeit zwischen Ankunft und Abfahrt verbracht. „Ich mochte …, um ehrlich zu sein, ich mag das”, hatte sie abschließend erklärt. Ilse hatte zunächst schweigend zugehört, Helga dann aber zu verstehen gegeben, sie selber verliebe sich immer in verheiratete Männer, die ständig darauf bedacht seien, bei ihren Ehefrauen kein Misstrauen aufkommen zu lassen, eben lauter Geschichten ohne Zukunft. Den großen Schritt habe sie deswegen noch nicht gewagt, einmal abgesehen davon, dass man ja immerzu auf der Hut sein müsse, besonders sie als Tänzerin, und ihre Stelle wolle sie wegen eines unehelichen Kindes nun wirklich nicht verlieren. Helga war über und über rot geworden und hatte nichts mehr gesagt. Als der Zug nach Köln angekündigt wurde, hatte sie Ilse fest in die Arme geschlossen und ganz rasch hervorgestoßen, verliebt sei sie in Jürg ja schon, aber Liebe, das müsse etwas anderes sein. Dabei hatte sie an Fritz gedacht und gespürt, wie dicke Tränen über ihre Wangen rollten. 208 209 Als Luise mit noch feuchten Haaren im Bademantel ins Zimmer trat, stand Helga am Fenster und schaute in die Dunkelheit hinaus, wischte jedoch einmal mit der Hand über ihr Gesicht. „Ich an deiner Stelle, liebe Helle, würde jetzt einmal nachsehen, was in dem Umschlag steckt, den du da zwischen deinen Fingern zerknautscht”, meinte Luise und zog ihr Nachthemd aus dem Köfferchen. „Vorher wirst du bitte das Fenster öffnen und den fast mitternächtlichen Wind hereinlassen. Alles neu macht der Mai – und er macht auch sorgenfrei. Letzteres stammt von mir, aber ich wünsche es dir von ganzem Herzen, so, wie du ausschaust.” Helga ging ganz kurz durch den Kopf, dass sie jetzt ja wusste, was sie auf den Heiratsantrag von Ernst Herberts erwidern sollte, und dass in zwei Monaten wieder viele Kilometer zwischen ihr und Jürg Stoecklin liegen würden; nur einen Augenblick lang fragte sie sich, ob sie ihn denn als die Person kennen gelernt hätte, die sein eigener Vater ihren Eltern geschildert hatte. Vielleicht würde er sich ja ihr zuliebe ändern. Aber andererseits hatten ihr Vater und ihre Mutter immer das Beste für sie gewollt. Sie seufzte einmal tief und faltete Hildegards Brief zusammen, griff dann nach dem Umschlag, auf den Fritz ihren Namen geschrieben hatte, und zog ein sorgfältig gepresstes, in Zellophan verpacktes und auf weißen Karton aufgeklebtes vierblättriges Kleeblatt heraus, starrte es fassungslos an und lächelte dann so, dass Luise zu ihr herantrat und sie behutsam an sich drückte, offensichtlich jedoch zunächst nichts zu sagen wusste. „Wie wäre es denn, wenn du dem Vorschlag der Familie Barker zustimmtest, als Austauschpartnerin ihrer Nichte Rosemary Summers für ein halbes Jahr nach England zu gehen?”, meinte sie schließlich. „Weißt du, dahin, wo Karl sich jetzt gerade aufhält?” „Ach, Luise”, sagte Helga, „wenn es doch schon so weit wäre.” Dann richtete sie sich gerade auf und blickte auf das Kleeblatt. „Zum Glück wartet in Cyrano Felicity auf mich … und richtig gut Französisch lernen möchte ich trotz allem.” 210 211 „Was Luftpostbriefe nach Amerika kosten, weiß ich nicht. Wenn ich mich überhaupt einmal zum Schreiben aufraffe, dann reicht es gerade zu einer Geburtstagskarte an eine von meinen Schulkameradinnen aus dem Internat, und die wohnen alle in England. Deshalb bekomme ich natürlich auch längst nicht so viel Post wie du.” Rosemary ging neben Helga her, fuhr graziös mit den Armen durch die Luft und fügte dann hinzu, sie sei nicht einmal sicher, dass Mrs Rowe in der kleinen Dorfpost sich da auskenne. „Es ist schon erstaunlich, dass man hier überhaupt Briefmarken kaufen kann. Chapel St. Leonards” – Rosemary lachte – „besteht doch eigentlich nur aus vier, fünf Häusern, wenn man von denen absieht, die unserer Familie gehören. Außer einem Hotel und dem Tennisplatz daneben, einem Andenkenladen – vielleicht ist seit dem letzten Jahr noch einer dazugekommen – sowie ein paar Bungalows gibt’s doch bloß den Strand und die Dünen.” Sie drehte eine Pirouette mitten auf der Straße und wischte sich dann ihre dunkelbraunen Locken aus dem Gesicht. „Lass mich mal raten. Von den Leuten, denen du den Brief schickst, hast du auch die Geschichte mit der seltsamen Abstimmung in den Vereinigten Staaten erfahren, über die du gestern mit meinen Eltern und Onkel Alf gesprochen hast.” Helga nickte und errötete kaum sichtbar. „Ja, der Bruder meiner Freundin Hildegard und übrigens auch Hildegard selbst haben mir davon berichtet, letztes Jahr in der Weihnachtszeit muss es gewesen sein, dass Avery Brundage, der Präsident des Olympischen Komitees, die Abstimmung um vierundzwanzig Stunden verschoben hat, weil er sicher sein wollte, dass sie zugunsten einer Teilnahme an den Olympischen Spielen ausfiele.” „Du liebe Güte, kannst du einmal kürzere Sätze machen, Helga? War denn jemand dagegen? Alle Sportler wollen doch immerzu gewinnen, Medaillen für ihr Land natürlich erst recht, und warum hätten denn die Amerikaner nicht an den Spielen teilnehmen sollen?” Helga atmete einmal tief durch. Dass Rosemary mit ihren siebzehn Jahren selten einen Blick in die Zeitungen warf, die Mr Summers bei seinem Morgenspaziergang aus dem Dorf mitbrachte, war ihr schon in den ersten Tagen ihres Aufenthalts in Sandy Hills aufgefallen, und so holte sie etwas weiter aus. „Also: 1931 waren die Winter- und Sommerspiele Deutschland zugesprochen worden. Nach dem Regierungswechsel zwei Jahre später” – wie ,Machtergreifung’ zu übersetzen wäre, fiel Helga so rasch nicht ein – „wurde diese Entscheidung von vielen Seiten infrage gestellt, und in Paris bildete sich sogar eine Gruppe um Heinrich Mann, das ist ein berühmter deutscher Schriftsteller, die eine Gegenolympiade in Barcelona durchführen wollten. Aber dann verpflichtete sich Deutschland 212 213 10. Kapitel: Spätsommer 1936 ganz ausdrücklich, die Regeln einzuhalten, nämlich alle Rassen und Konfessionen zuzulassen, und damit war den Gegnern der Wind aus den Segeln genommen. In den Vereinigten Staaten versuchten jedoch die Gewerkschaften und besonders das Committee on Fair Play in Sports weiterhin, einen Boykott zu erwirken, und deshalb hat Avery Brundage halt die endgültige Abstimmung um einen Tag nach hinten verschoben und alle Mitglieder telegrafisch herbeizitiert, die für eine Teilnahme waren. Das Ergebnis fiel dementsprechend knapp aus, 58:56, wenn ich mich recht entsinne.” Sie hatten den kleinen Gemischtwarenladen, wo auch Zigaretten und eben Briefmarken zu erhalten waren, erreicht und blieben davor stehen. „Wenn die Schwarzen nicht nach Berlin gefahren wären, hätten sie sich aber ganz schön ins eigene Fleisch geschnitten”, erwiderte Rosemary. „Onkel Alf meint, allein dieser Jesse Owens wäre mit vier Goldmedaillen in die Staaten zurückgekehrt.” „Ja, in einigen Disziplinen, beim Hochsprung zum Beispiel und sowohl beim 100-, 200- als auch beim 400-Meter-Lauf haben sie gleich zwei Medaillen eingeheimst. Aber es waren ja nicht so sehr die Schwarzamerikaner, die sich für einen Boykott ausgesprochen haben. Die sind mit der festen Absicht nach Berlin gefahren, den Nationalsozialisten die Unhaltbarkeit ihrer Rassentheorie zu beweisen …” „Habe ich das richtig verstanden, was Onkel Alf da von dem Weitsprungduell erzählte, ich meine, dass der deutsche Athlet Lutz Long hieß, Long wie the long jump? Das ist ja ein komischer Zufall!” Rosemary klatschte einmal in die Hände und begrüßte unmittelbar darauf die ältere Frau, die auf das Klingeln der Türglocke hin an die Ladentheke getreten war. „Hello, Mrs Rowe, wie geht es?” „Und wie geht es dir, Rosemary, oder muss ich dich jetzt mit Fräulein Summers anreden?” Helga legte den Luftpostbrief mit der Adresse nach oben zwischen der Registrierkasse und den Gläser mit Süßwaren ab, lächelte, als sie auch eine Schachtel mit Mars-Riegeln entdeckte, und bat Mrs Rowe, ihn zu frankieren. Nachdem die Frau mit dem geblümten Kittel in einem abgegriffenen Büchlein geblättert und den Umschlag gewogen hatte, suchte sie aus einer Schatulle Marken heraus, befeuchtete sie mit einem Schwämmchen und klebte sie sorgfältig in die rechte Ecke. „Wird nachher noch abgeholt”, sagte sie dann sehr deutlich und ließ ihren Blick, wie schon zu Anfang, zwischen Rosemary und Helga hin und her schweifen. Auf Helgas Thank you and good bye hin nickte sie nur und verschwand wieder durch den Türrahmen. Helga machte ein paar Schritte den kleinen Hügel hinauf, der seltsamerweise pullover hieß, und schwieg, bis sie von oben das Meer sehen konnte. 214 215 „Habe ich etwas falsch gemacht?”, fragte sie dann und blieb stehen. „Sie hat mir ja noch nicht einmal Auf Wiedersehen gesagt!” Rosemary war ganz offensichtlich verlegen und wusste nicht, was sie erwidern sollte. Dann legte sie eine Hand auf Helgas Unterarm, schob sie weiter und brachte nach mehreren Anläufen heraus, dass Helga ja schließlich Deutsche sei. Während sie am Strand nebeneinander hergingen, die Hände in den Taschen ihrer weitbeinigen Hosen vergraben und ohne sich anzusehen, unternahm Rosemary den Versuch, ihre Äußerung zu erläutern, was sie ebenso offensichtlich große Anstrengungen kostete. „Dein Englisch ist wirklich hervorragend”, meinte sie zuerst eifrig. „Hast du das in der Schule gelernt?” Helga nickte und fügte hinzu, ihre Unterhaltungen mit Felicity Blake, einer amerikanischen Mitschülerin bei den Fräuleins Griesbecque in Lausanne, wären allerdings auch nicht immer, wie es die Hausordnung vorschrieb, auf Französisch erfolgt. „Hervorragend, aber?”, hakte sie nach. Rosemary seufzte. „Von Politik verstehe ich nichts, das hast du ja schon mitbekommen, und dafür, dass dieser Herr Hitler bei euch Premierminister, nein: Reichskanzler ist, kannst du nichts. Du bist ja nicht einmal jetzt alt genug zum Wählen – das darf man doch bei euch auch erst mit einundzwanzig, nicht wahr? Und deine Eltern … Onkel Alf und meine Eltern kennen sie seit langem, also seit sie unsere Verpackungsmaschinen kaufen. Noch dazu ist dein Vater Freimaurer, was das auch immer sein mag; auf jeden Fall hat Herr Hitler die Logen verboten, und das bedeutet doch wohl, dass er deren Mitglieder als seine Feinde betrachtet.” Obwohl Helga wirklich auf eine Erklärung für das Verhalten der Frau in dem Krämerladen wartete, ließ sie Rosemary den Satz kaum zu Ende führen. „Warum sagen eigentlich alle Engländer immer Herr Hitler und nicht Mister?” Rosemary drehte sich zu ihr hin und starrte sie erstaunt an. „Es ist doch eine Frage der Höflichkeit, jemanden in seiner Sprache anzureden, oder?” „Ach so!” Helga lachte, entschuldigte sich jedoch sofort für die Unterbrechung. Rosemary lachte auch, gab Helga zu verstehen, dass sie ihre Schuhe auszuziehen gedächte, und kurz darauf marschierten sie beide hintereinander barfuß am Rand der Wellen entlang. „Meine Eltern haben nur deshalb ihr Einverständnis gegeben, dich für sechs Monate bei uns aufzunehmen und mich dann zu euch nach Hagen zu schicken, weil sie davon überzeugt sind, dass deine Eltern nicht zu den Menschen zählen, die wir im Radio zu allem und jedem begeistert ,Heil Hitler’ brüllen hören. Sogar ich weiß ja längst, wie die Stimme von Herrn 216 217 Hitler klingt oder die von Herrn Goebbels, und deren Ideen erwecken bei uns in Großbritannien nun einmal Misstrauen.” Helga senkte den Kopf, aber das merkte Rosemary nicht. Sie schwenkte ihre Schuhe an den zusammengebundenen Schnürsenkeln hin und her und meinte, Mrs Rowe im Gemischtwarengeschäft hätte natürlich Helgas deutschen Akzent herausgehört und nicht so recht gewusst, wie sie sich verhalten sollte, denn schließlich sei sie in Begleitung von ihr, Rosemary Summers, in ihrem Geschäft aufgetaucht, und das stelle eigentlich eine Art von Garantie dar. „Außerdem”, fügte sie hinzu und ging wieder an Helgas Seite, „meint Onkel Alf, auch auf die Nazis – was für ein Wort, aber es ist kürzer als ,Nationalsozialisten’ – treffe das alte Sprichwort zu, nämlich: Es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Ganz zu Anfang, also 1933, hätten sie zwar viele Gesetze erlassen, zum Beispiel alle Gewerkschaften und Parteien aufgelöst außer ihrer eigenen natürlich, und …” „… und solche, die den Juden das Leben in Deutschland unmöglich machen, sag’s ruhig”, ergänzte Helga, „mit Boykottveranstaltungen und der Einrichtung gesonderter Schulen sowie Verboten, bestimmte Berufe zu ergreifen, oder, seit September 1935, Nichtjuden zu heiraten.” Helga atmete einmal tief durch und schluckte. „Deshalb wanderten und wandern viele jüdische Familien aus.” „Aber Onkel Alf hat erzählt, dass bei der Sommerolympiade jüdische Sportler sogar für Deutschland angetreten sind, irgendeine Fechterin und eine Leichtathletin; die Namen habe ich selbstverständlich vergessen.” Helga nickte, blickte aber stumm geradeaus, während Rosemary mit ihren großen Zehen Sand in die Luft schleuderte und die Arme kreisen ließ. „Onkel Alf nimmt uns nachher übrigens mit zu Butlin’s, hast du das mitbekommen?”, fragte sie nach einer Pause und warf Helga einen raschen Blick zu. Als Helga wieder nur nickte und weiterhin schwieg, sagte sie vor sich hin, als ob Helga es nicht hören sollte, sie habe vorhin die Adresse auf dem Briefumschlag gelesen. „Blankenstein. Rubinstein … Aber Fritz hieß doch sogar einer eurer Könige, und die Franzosen nennen alle Deutschen so, nicht wahr?” Als Rosemary auch darauf keine Antwort erhielt, zuckte sie einmal mit den Schultern und schien erleichtert, als sie wenig später den Tennisplatz erreichten, wo ihre Eltern gegen zwei Hotelgäste aus Gainsborough ein gemischtes Doppel spielten. 218 219 „Ihr kommt gerade richtig!”, rief Mr Summers und winkte sie mit seinem Schläger heran. „Unser Schiedsrichter hat sich soeben entschuldigt, dringende Familienangelegenheit, was das auch immer bedeutet. Könnte Helga nicht einspringen? Beim letzten Mal hat sie ihre Sache gut gemacht, und als Beitrag zur Zivilisationskunde ist Tennis einfach nicht zu überbieten.” „Cricket”, meinte der andere Herr, „Cricket hast du vergessen, Hugh. Aber du hast Recht: Gleich danach kommt Tennis auf einem Rasenplatz mit Linien aus zermahlener Kreide.” Helga zögerte nicht, sondern stieg, nach einem kurzen Blickwechsel mit Rosemary, die Metallsprossen zum Schiedsrichterstuhl hinauf und begann zu zählen: fifteen – love. Dabei rannen ihr ein paar Tränen die Wangen hinunter, die jeder aufmerksame Betrachter auf den Wind zurückgeführt hätte, der beständig vom Meer über die Dünen blies. „Warum heißt dieser niedrige Erdwall zwischen Land und See im Dorf eigentlich pullover?”, erkundigte sich Helga beim Mittagessen, als sie zu viert an dem runden Mahagonitisch in der Veranda von Sandy Hills saßen. Unter Pullover versteht man in Deutschland etwas anzuziehen, ungefähr das, was man hier sweater nennt.” Rosemary hatte sie unsicher angeschaut, als Helga in Begleitung von Mr und Mrs Summers vom Tennisplatz zurückgekehrt war, und dann erleichtert gelächelt, denn alle drei waren tief in eine Unterhaltung über das gerade gewonnene Doppel verwickelt. Mr Summers strich dabei immer einmal wieder sein Haarkränzchen glatt, wenn er nicht gerade seine lange weiße Leinenhose nach oben zog, und meinte verschmitzt, ihre Gegner seien auch noch nicht so lange verheiratet wie er und 220 Mrs Summers, für Helga Auntie Alice. Im Laufe der Jahre lerne mal halt, jede Bewegung des Partners vorauszusehen, und das mache die Verminderung des Reaktionsvermögens und vor allem die geringere Laufgeschwindigkeit mit Leichtigkeit wett. Sie hatten alle laut und vergnügt gelacht, Mrs Summers war in ihrem Zimmer verschwunden, und Mr Summers hatte Rosemary von ihrem großartigen Sieg berichtet. Vielleicht, hatte er grinsend hinzugefügt, hätten ihre Gegner sie allerdings auch gewinnen lassen, denn immerhin handele es sich bei dem Mann um einen Angestellten der Firma, wenn auch einen in leitender Position. Und sie hatten noch lauter gelacht. Während Helga eine mayonnaiseartige Soße aus einer Flasche auf die Salatblätter goss und mit der Gabel, die Zinken nach unten gerichtet, gepökeltes Büchsenrindfleisch vom Teller zum Mund führte, bevor sie den Nachtisch, eine aus vielen Schichten bestehenden Süßspeise namens trifle, in sich hinein löffelte, lieferte ihr Mrs Summers, Auntie Alice, die Erklärung: Über den besagten kleinen Erdwall müssten die Fischer immer ihre Boote ziehen, um sie vor Sturmfluten in Sicherheit zu bringen; so einfach sei das. Aber jetzt – sie warf mindestens zum fünften Mal einen Blick auf die Standuhr neben der Tür – müssten sich die Mädchen fertig machen, denn Onkel Alf werde gleich erscheinen, um sie abzuholen, und Unpünktlichkeit könne er nicht ausstehen. 221 „Im Übrigen ist es sehr nett von ihm, dass er euch Butlin’s Holiday Camp zeigt. Da es gerade erst eröffnet worden ist, im April, glaube ich, und in ein paar Tagen für den Winter schließt, drängen sich natürlich die Neugierigen. Soweit ich weiß, bedarf es schon guter Beziehungen, um als Nicht-Gast eingelassen zu werden”, meinte Mrs Summers, und ihre Stimme klang deutlich belehrender als sonst. Mr Summers brummte zustimmend, fügte aber hinzu, zwei so hübschen jungen Dingern vermöchte doch wohl selbst der unerbittlichste Türhüter nicht zu widerstehen, und dabei zwinkerte er den beiden Mädchen zu. Helga sah noch einmal auf ihre Armbanduhr und zog Rosemary die geschwungene Treppe mit dem hölzernen Treppengeländer hoch, vorbei an den Fenstern mit den in Blei gefassten Butzenscheiben, und meinte, die Zeit reiche gerade noch, sich die Hände zu waschen. Als sie kurz darauf die Stufen wieder hinuntersprang, trug sie indessen eine frische weiße Bluse, einen wadenlangen, engen Rock und eine ziemlich dicke blaue Wolljacke. Rosemary sah ihr etwas erstaunt entgegen, sagte aber nichts und öffnete die Tür zur Straße, wo Alfred Barker gerade aus seinem Jaguar stieg. Auch er schien überrascht zu sein, breitete dann jedoch lachend seine Arme aus und forderte die beiden Mädchen zum Einsteigen auf. Als Helga sich anschickte, neben Rosemary auf die Hinterbank zu rutschen, hatte sie den Eindruck, Mr Barker wolle ihr vorschlagen, doch auf dem Beifahrersitz Platz zu nehmen, aber dann schloss er schwungvoll die Tür und schob sich hinter das Lenkrad. Kurz darauf warf er einen Blick in den Rückspiegel, wechselte in einen höheren Gang und erkundigte sich dann – seine Stimme klang so, als ob er gleich wieder in Lachen ausbrechen wolle –, ob Helga sich inzwischen durch das Generationengewirr der Familie Barker hindurchgefunden habe. „Bis Skegness, es sind ja nur wenige Meilen bis zu Butlin’s, können wir einen Stammbaum erstellen, nehme ich an. Also, Helga?” Wenn sie auch nicht wusste, wozu sie sich dieser Übung unterziehen sollte, zählte Helga doch bereitwillig die Mitglieder der Familie Barker auf und merkte, dass ihr die Sache sogar Spaß machte. „Da wäre zunächst Elizabeth, Ihre Mutter. Ihr Vater, der auch Alfred hieß, lebt schon lange nicht mehr. Hat er nicht die Firma wiederum von seinem Vater übernommen, dessen Name auch Alfred war?” „Gut aufgepasst, kleine Deutsche”, stimmte er zu, wendete aber den Blick nicht von der Straße ab. „Und weiter?” „Elizabeth und Alfred bekamen drei Kinder …” Rosemary wollte wohl etwas einwerfen, unterließ es aber auf eine Handbewegung ihres Onkels hin. „…Phyllis, die älteste, heiratete einen Architekten, Mr Alderson; sie war bei der Hochzeit noch sehr jung, siebzehn, stimmt das? Ihre Kinder Peter, Paul und Mary, sind bereits erwachsen und wohnen nicht mehr in Gainsborough. Peter, hat Rosemary mir erzählt, ist fast so alt wie Sie und hat schon zwei 222 223 kleine Töchter. Die zweite, Alice, hat Mr Summers, Onkel Hughie, geheiratet; deren Tochter sitzt neben mir.” Helga lachte und griff nach Rosemarys Hand. „Und Sie sind mit Abstand der Jüngste. Sie leiten mit Onkel Hughie zusammen die Firma Barker Brothers, Verpackungsmaschinen aller Art, von Waschpulver bis Weichkaramellen.” „Wenn Onkel Alf einmal heiratet”, kicherte Rosemary, „dann werden seine Kinder die Onkel oder Tanten von Peters Töchtern sein, die älter sind als sie. Da kann man in der Tat von seltsamen Familienverhältnissen sprechen.” Helga beugte sich vor. „Wieso eigentlich Barker Brothers? Einen Bruder haben Sie doch gar nicht, Onkel Alf.” Rosemary, die aus dem Fenster gestarrt hatte, gab die Antwort. „Der erste Alfred, mein Urgroßvater, hatte aber einen, und Onkel Alf … eigentlich auch. Der ist jedoch in Flandern gefallen.” Sie schwiegen alle drei, aber da fuhren sie schon an einer Art Siedlung mit einem Zaun darum entlang. Auf einem der Gebäude entzifferte Helga einen Satz, den sie nur mit einigem Nachdenken zu übersetzen vermochte: Our true intent is all for your delight. Als er seinen Wagen auf dem Parkplatz abgestellt hatte, öffnete Onkel Alf erst Rosemary, dann Helga die Tür. Dabei sagte er zu Helga, so dass auch Rosemary es hören konnte, er sei eigentlich nicht ihr Onkel und schlage deshalb vor, dass sie ihn einfach mit seinem Vornamen, Alfred, anreden möge. 224 225 Zielbewusst ging Onkel Alf, Alfred Barker, auf eine der Türen des Gebäude mit dem beflaggten Turm zu und erklärte den beiden Mädchen, sie würden in den Genuss einer richtigen Führung gelangen. „Diese Ehre verdanken wir der Tatsache, dass Norman Bradford, einer der Ingenieure, die diese Anlage für Billy Butlin gebaut haben, mit mir zusammen in die Schule gegangen ist. Ein toller Bursche übrigens, der Norman”, fügte er hinzu und rieb sich die Hände. „Ganz zu Anfang, das Ferienlager besteht ja erst seit ein paar Monaten, klappte es mit dem Kontakt unter den campers nicht so recht, und Butlin hatte den Eindruck, dass manche Leute sich sogar langweilten, obwohl sie hier ja rund um die Uhr unterhalten werden. Aber das wird euch gleich ein Redcoat erzählen, nehme ich an. Norman selbst kam auf die Idee, den Gästen nicht nur das Tagesprogramm mündlich zu präsentieren, sondern sie auch miteinander bekannt zu machen.” „Sieh mal, Helga”, rief Rosemary, „sie haben hier sogar eine eigene Post!” In dem Augenblick trat ein junger Mann in einer weißen Flanellhose und einer roten Jacke zu ihnen, verbeugte sich und fragte, ob er das Vergnügen habe, Mr Barker und seinen beiden Begleiterinnen gegenüber zu stehen. Dann bitte er sie nämlich, ihm zu folgen. „Kurz noch die Geschichte zu Ende”, meinte Alfred Barker. „Norman stand also oben auf der Bühne und forderte die campers auf, sich ihrem Nachbarn zur Rechten vorzustellen. Nachdem die anfängliche Überraschung abgeklungen war – Helga weiß ja inzwischen auch, dass Engländer nur mühsam dazu zu bewegen sind, über ein How do you do? hinauszugehen –, folgten sie seiner Bitte und wunderten sich dann schon weniger, als sie den Vorgang mit ihrem Nachbarn zur Linken wiederholen sollten. Plötzlich war das Eis gebrochen: Die Leute redeten miteinander. Kannten Sie diese Anekdote?”, erkundigte sich Alfred bei dem jungen Mann, der ihnen schweigend und umsichtig einen Weg durch die Menschenansammlung in der Nähe des Eingangs gebahnt hatte. „Bekanntschaften werden inzwischen übrigens auch in den Bügelzimmern geschlossen, vor allem natürlich zwischen unseren Gästen weiblichen Geschlechts. Aber darf ich mich zunächst vorstellen? Mein Name ist Tom Payne. Sie wissen so gut Bescheid, Mr Barker, dass ich Ihnen gewiss nichts Neues werde erzählen können; aber ich biete Ihnen und den beiden jungen Damen trotzdem an, Ihnen jede gewünschte Auskunft zu erteilen.” Helga war stehen geblieben. Vor ihnen erstreckten sich bis zu der Dünenkette am Horizont lange Reihen völlig gleich aussehender Holzhäuschen, blendend weiß gestrichen mit einem Giebeldach, zwei kleinen Fenstern und einer Tür dazwischen, hier ein wenig Gelb, dort etwas Blau. Weiter hinten glaubte sie auch einige zweistöckige Gebäude entdeckt zu haben. „Die Inneneinrichtung ist natürlich einfach, ein paar Betten, ein Schrank, ein Tisch, Stühle, eine Waschgelegenheit mit fließendem Wasser”, hörte sie Tom Payne sagen. „Aber was braucht man mehr, wenn drei Mahlzeiten in einem der Restaurants im Preis inbegriffen sind und man sich ohnehin, jedenfalls bei schönem Wetter” – er grinste Alfred Barker zu –, „meist draußen aufhält? Das Schwimmbad mit dem Sprungturm, übrigens auch nach Anbruch der Dunkelheit zu benutzen, weil es mit einer Scheinwerferbeleuchtung ausgestattet ist, sowie das Meer laden zum Baden ein, jetzt vielleicht nicht mehr, wir haben ja schon Ende September, und was Butlin’s an sportlichen Betätigungsmöglichkeiten anbietet, vermag ich Ihnen kaum alles aufzuzählen: Fußball, Basketball, Tennis natürlich sowie Tischtennis und selbstverständlich Cricket, vor allem in seiner vereinfachten Form als beach cricket unten an der See, einmal abgesehen davon, dass Sie hier auch Schwimmen lernen können …” „Und wenn es nun ausnahmsweise einmal regnet?” Alfred Barkers Frage klang eher humorvoll als ironisch. „Sollten Ihre Neigungen in Richtung Kampfsport gehen, so würde ich Ihnen Boxen oder Ringen vorschlagen, immer unter fachkundiger Anleitung natürlich. Eher bietet sich für jeman- 226 227 den wie Sie indessen der Billiardraum an, den ich Ihnen gleich zeigen werde. Oder spielen Sie gern darts?” „Darts, was ist das?”, erkundigte sich Helga. „Man wirft einen Pfeil mit einer Metallspitze auf eine Korkscheibe mit konzentrisch angeordneten Ringen, und je näher zur Mitte man trifft, desto mehr Punkte erzielt man”, meinte Rosemary. „Bei uns wirst du allerdings so etwas nicht finden”, fügte sie hinzu, und Helga beobachtete, dass Alfred Barker seine Nichte leicht strafend ansah. „Das ist aber noch längst nicht alles.” Tom Payne wies auf die großen Gebäude rechts und links. „Wenn Ihnen der Sinn danach steht, können Sie auch Tanzunterricht nehmen, ballroom dancing, also lernen, kunstgerecht einen Walzer, Foxtrott, Tango und so weiter aufs Parkett zu legen, oder sich beibringen lassen, wie man Whist, Canasta und Bridge spielt. Damit wären wir schon bei einer weiteren Besonderheit von Butlin’s Luxury Holiday Camp in Skegness. Werfen Sie doch bitte einmal einen diskreten Blick auf die beiden Herren dort. Können Sie erkennen, was sie tun?” Rosemary begann zu raten. „Es sieht so aus, als wickelten sie etwas ein, aber klein muss es sein.” „Sie rollen doch nicht etwa Zigaretten?”, meinte Helga gleichzeitig, und während Alfred Barker halb komisch, halb ernst den Kopf schief legte, nickte Tom Payne eifrig und setzte hinzu, jeden Tag fänden mehrere Wettbewerbe statt, vor allem natürlich Turniere in den einzelnen Sportarten, aber eben auch einer, wo es darum gehe, in einer festgesetzten Zeit möglichst viele Zigaretten zu drehen. „Wenn Ihre Stärken eher auf intellektuellem Gebiet liegen, beteiligen Sie sich doch einfach an einem Quiz; freilich müssen Sie darauf gefasst sein, dass nicht alles mit Wissen zu lösen ist, denn Humor nimmt eine wichtige Stellung im Alltag der campers ein. Hier wird zwar die charmanteste Großmutter gewählt und auch die Holiday Princess – übrigens haben wir Ende August das junge Mädchen gekrönt, das unserer Prinzessin Elizabeth am ähnlichsten sieht –, aber Sie können sich auch um den Preis der schönsten Glatze oder der most knobbly knees bewerben.” Sogar Rosemary schüttelte sich vor Lachen, und als sie Helgas fragenden Gesichtsausdruck bemerkte, wies sie auf ihre Knie und fuhr mit beiden Händen darum herum. „Richtig, Knie, aber halt welche, die möglichst nicht so wohlgeformt sind wie unsere.” „Dabei”, warf Alfred Barker ein und blickte sich um, „fallen mir meine eigenen ein, die ich als Kind vor allem in kurzen Hosen, das heißt, im Sommer, ständig aufzuschrammen pflegte. Soweit ich weiß, wird den erholungsbedürftigen Eltern hier weitgehend die Betreuung ihrer Sprösslinge abgenommen, so dass man in Ruhe im Pig and Whistle ein Glas Bier trinken oder sich all diesen höchst interessanten Tätigkeiten widmen kann.” 228 229 „Oh ja, für Kinder jeden Alters wird gut gesorgt. Das jeweilige Programm ist natürlich auf die Altersstufe abgestimmt, aber wie Sie sich denken können, stellen Säuglinge nicht die Gruppe dar, für die wir uns die aufregendsten Spiele einfallen lassen.” Tom Payne hatte inzwischen eine riesige Glastür geöffnet und bat sie, einen Blick ins Innere eines der Speisesäle zu werfen. Die Reihen der mit weiß-blauen Stoffdecken und gelben Servietten gedeckten Tische verloren sich irgendwo hinten im Dunkel, und die beiden Mädchen schwiegen beeindruckt. „Natürlich essen unsere Gäste in Schichten; das gilt für alle Mahlzeiten. Sie können sich zum Beispiel frei entscheiden, ob sie schon kurz nach acht oder erst gegen neun frühstücken möchten – das hängt davon ab, wie sie ihren Tagesablauf gestalten wollen. Die Teilnahme an der Morgenandacht ist übrigens selbstredend freiwillig, obwohl wir immer wieder feststellen, dass großes Interesse daran besteht.” Helga riss die Augen weit auf, und als ihr Redcoat sie vorbei an einem Gebäude führte, das York House hieß, flüsterte sie Rosemary zu, so etwas sei in Deutschland unvorstellbar; ihr Bruder Rudolf habe in seinem letzten Brief geschrieben, die Mitgliedschaft in der Hitlerjugend werde wohl bald verpflichtend, und wenn man sonntags in die Kirche ginge, werde man schief angesehen oder sogar tätlich angegriffen. Rosemary hörte indessen nur mit einem halben Ohr zu und meinte, die tägliche assembly mit Gebet im Internat reiche ihr vollends, und deshalb schlafe sie in den Ferien normalerweise über die Gottesdienstzeit hinaus. Tom Payne warf einen verstohlenen Blick auf seine Uhr und meinte dann, den Ballsaal müssten sie unbedingt noch in Augenschein nehmen, denn der werde gerade für eine Abendveranstaltung geschmückt. „Natürlich erscheinen die Gäste nicht in Smoking und Abendkleid”, meinte er, während Alfred Barker hinter die beiden Mädchen trat und ihnen je eine Hand auf die Schulter legte. „Aber Sie würden überrascht sein, was unsere campers inzwischen neben Badeanzug und Freizeitkluft in ihre Ferienkoffer packen.” Alle drei legten sie die Köpfe in den Nacken und schauten zu der Balustrade hinauf, von der aus man gewiss das Treiben auf der Tanzfläche herrlich beobachten könnte. In diesem Augenblick waren dort freilich junge Leute damit beschäftigt, Girlanden aus Papierblumen von einer Seite zur anderen zu spannen und einige davon auch unter der Decke anzubringen. „Hm”, machte Alfred Barker, „hm.” Plötzlich zog er Helga zu sich herum und wirbelte sie quer über den Tanzboden, wobei er ziemlich laut und im Allgemeinen richtig den Donauwalzer pfiff. Dann blieb er stehen und lachte. „Wenn es Ihnen recht ist”, meinte Tom Payne, den offensichtlich nichts aus der Ruhe zu bringen vermochte, „begleite ich Sie jetzt in den Teesalon, wo ich mich von Ihnen verab- 230 231 „Onkel Alf musste dringend telefonieren, und so hat er uns vor seiner Garage abgesetzt”, erwiderte Rosemary auf die Frage ihrer Mutter, ob der Jaguar etwa unterwegs zusammengebrochen sei, weil sie zu Fuß nach Sandy Hills zurückkehrten. Mrs Summers warf schon wieder einen Blick auf die Uhr – es war Helga in den vier Wochen ihres Aufenthalts in England längst aufgefallen, dass Auntie Alice, genau wie ihre Mutter, einem geregelten Tageslauf sehr viel Bedeutung beimaß, es aber, anders als diese, selten fertigbrachte, alles dafür Nötige ruhig und planvoll zu erledigen. In Gainsborough verfügte sie über eine Haushälterin, die auch in Ausnahmsituationen den Überblick nicht verlor. Zum Beispiel hatte sie ihnen, also ihren Eltern und Helga selber, am Tag ihrer Ankunft noch um neun Uhr abends eine Mahlzeit mit drei Gängen servieren lassen, obwohl sie eigentlich mehrere Stunden früher hätten eintreffen sollen. Die Überfahrt war ausgesprochen stürmisch verlaufen, der boat train nach Victoria Station hatte zwar gewartet, aber in London King’s Cross hatten sie natürlich den Zug nach Lincoln verpasst und auf dem Bahnhof zunächst einmal nach einer Möglichkeit suchen müssen, ihre Gastgeber telefonisch zu benachrichtigen. Helga hatte ein wenig herumgestottert, doch die Dame am anderen Ende war sehr freundlich gewesen und hatte ihr zu verstehen gegeben, sie werde dafür sorgen, dass einer der Chauffeure von Barker Brothers sie in Lincoln erwarte; zu erkennen sei er an seiner Uniform … und an seinen roten Haaren, hatte sie hinzugefügt. In Chapel St. Leonards jedoch kümmerte sich Mrs Summers um alles selber, abgesehen davon, dass eine Putzfrau aus dem Dorf die gröbste Hausarbeit erledigte, und es war ihr anzumerken, dass sie besser mit der Organisation von Bridgenachmittagen und Wohltätigkeitsbasaren zurecht kam 232 233 schieden werde. Eine meiner Kolleginnen geleitet Sie dann zum Ausgang zurück. Hoffentlich hat es Ihnen bei uns gefallen. Wenn nicht, so lassen Sie uns wissen, warum; wenn ja, so empfehlen Sie Ihren Freunden und Bekannten einen Aufenthalt in Butlin’s Skegness Luxury Holiday Camp.” Alfred Barker schüttelte dem jungen Mann, wohl zu dessen Überraschung, die Hand und steckte ihm dabei einen Geldschein zu. „Nein, nein, rasseln Sie mir jetzt nicht die Regeln der Redcoats herunter, dass Sie von morgens bis abends dienstbereit sind, ob es nun um Kofferschleppen oder das Beantworten von mehr oder weniger dummen Fragen geht. Sie brauchen ja niemandem unter die Nase zu reiben, dass wir uns erkenntlich gezeigt haben, und diese beiden jungen Damen würden sich vermutlich lieber mit Ihnen nach Dienstschluss verabreden als Sie verpetzen”, sagte er mit ganz ruhiger Stimme, nickte Tom Payne noch einmal zu, wandte sich um und meinte dabei, er hätte eigentlich auch nichts dagegen, dem Biergarten oder der amerikanischen Cocktailbar einen Besuch abzustatten, aber Tee sei nun einmal, selbst um halb vier nachmittags, viel britischer. als mit Tagen, an denen außer den Mahlzeiten, gelegentlichen Tennisturnieren und Kinobesuchen in Skegness nichts auf dem Programm stand. Helga hatte gleich bei ihrem ersten Wochenendaufenthalt in Sandy Hills Vergleiche zum Verhalten ihrer Mutter während der üblichen drei Ferienwochen auf Borkum angestellt und sich in Erinnerung gerufen, dass Frau Schulte in jedem Jahr eine neue Petit-Point-Stickerei in den Koffer packte und Anfang September ein Hocker oder ein Stuhl mit dem Ergebnis ihrer Bemühungen bezogen wurde. Wenig später stülpte sich Mrs Summers einen breitkrempigen Hut auf, warf einen hastigen Blick in den Spiegel und rief den Mädchen beim Hinausstürmen zu, sie führe mit … – der Name ging im Quietschen eine Diele unter - zum Einkaufen nach Skegness. Mit einem Male war nur noch das Rauschen des Meeres durch das angelehnte Esszimmerfenster zu hören. Helga ging, ohne wie anfangs zu fragen, zum Geschirrschrank, zog die Sets aus einer Schublade und begann, den Tisch für die Abendmahlzeit zu decken. „Das eilt nun wirklich nicht! Wir essen doch erst um sieben”, maulte Rosemary und blieb in der Tür stehen, wobei sie ihr ungeduldig zusah und Helga, obwohl sie Rosemary absichtlich den Rücken zudrehte, deutlich spürte, dass der Tochter ihrer Gastgeber mehrere Fragen auf den Lippen brannten, seitdem sie auf dem Parkplatz wieder in den Jaguar gestiegen waren. Sie war ungeheuer erleichtert, zu hören, dass Rosemary sich zunächst dafür entschied, die unverfänglichste von allen zu stellen. „Sag mir lieber, ob ich das richtig verstanden habe, dass man nämlich bei Butlin’s auch Schlittschuh laufen kann. Du weißt doch, oder habe ich das etwa für mich behalten, dass ich in letztes Jahr mit meinen Eltern in Arosa war und dort Trainerstunden bekommen habe. Solche Sprünge wie Sonia Henie kann ich natürlich noch längst nicht machen, aber der Trainer meinte, talentiert sei ich schon, und das wäre doch was, gleich hier in der Nähe … Hat eigentlich jemand von deiner Familie bei den Winterspielen zugeschaut? Onkel Alf interessiert sich ja nur für …” Helga drehte sich sehr rasch zu Rosemary um, stellte das letzte Glas auf den Tisch und erklärte, sie sei fertig. „Das muss ich dir doch schon erzählt haben!”, meinte sie dann. „Meine große Schwester Luise und ihr Mann hatten Karten für das Finale im Paarlaufen gekauft, und da Herr Rellinghaus, so heißt Luise mit Nachnamen, geschäftlich verhindert war, durfte ich sie begleiten. Du kannst dir nicht vorstellen, wie aufregend das alles war. Garmisch-Partenkirchen ist ja eigentlich ein Nest; den Ort gab es sozusagen vor den Olympischen Spielen gar nicht, und einige der Sportanlagen sind erst Mitte Januar fertig geworden, wo doch die Eröffnungsfeier am 6. Februar stattfinden sollte. Über eine halbe Million Zuschauer sind zu den den Wettbewerben angereist, natürlich nicht alle auf einmal; so viele Leute hätten ja gar nicht untergebracht wer- 234 235 den können. Aber die arme Sonia Henie, das haben Luise und ich mit eigenen Augen gesehen, musste sogar von der Polizei beschützt werden; sonst hätten ihre Verehrer sie geradewegs erdrückt.” „Als leidenschaftliche Eiskunstläuferin” – Rosemary grinste von einem Ohr zum anderen – „ist mir natürlich bekannt, dass ihr die Goldmedaille im Paarlauf gewonnen habt. Diese Maxi Herber … sie ist jünger als ich, und ein bisschen neidisch werde ich schon, mit dem schicken Ernst Baier ... Aber dafür haben wir im Eishockey besser abgeschnitten als ihr. Stimmt das, was Onkel Alf berichtete, also dass euer Spieler Rudi Ball – den Namen habe ich mir gemerkt, obwohl man da ja mit einer Hartgummischeibe die Tore schießt – eigentlich schon ausgewandert war und zurückgerufen wurde, genau wie diese jüdische Fechterin, über die wir vorhin sprachen?” „Ganz ehrlich”, erwiderte Helga, „davon ist mir nichts bekannt, aber es mag natürlich sein. Ich müsste einmal meinen …” Sie verstummte und blickte zu Boden, fing sich aber gleich wieder. „Du wolltest doch die Marken haben, auch die von den Briefen aus Deutschland, nicht wahr? Einer ist von Brigitte aus der Mark Brandenburg, den anderen hat meine Freundin Ilse geschickt; wahrscheinlich wirst du sie nächstes Jahr kennen lernen. Sie tanzt zwar seit ungefähr zwei Jahren im Corps de Ballet der Kölner Oper, doch das Wochenende verbringt sie manchmal in Hagen. Übrigens hat sie mir gerade geschrieben, dass ihr Vertrag wohl verlängert wird.” Rosemary war hinter Helga die Treppe zu den Schlafzimmern hinaufgesprungen und ließ sich in einen mit Chintz bezogenen Sessel unter dem Fenster fallen. „Ballettunterricht habe ich auch erhalten”, meinte sie und seufzte. „Aber glaube nun ja nicht, dass meine Eltern es auch nur in Erwägung ziehen würden, mich so eine Laufbahn einschlagen zu lassen! Als der Trainer in Arosa andeutete, ich sei wirklich begabt, haben sie beide die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. Zum Spaß, alles zum Spaß, Eleganz der Bewegungen, dazu ein bisschen Malerei und ein bisschen Klavierspielen, aber ansonsten wird unsere Tochter natürlich den richtigen Mann heiraten, einen, der in Eton, Harrow oder Winchester zur Schule gegangen ist, sich trotzdem noch für Mädchen interessiert – das haben sie natürlich nicht gesagt, aber du verstehst schon – und der einen Beruf ausübt, der es ihm erlaubt, in seiner Freizeit Golf zu spielen. Was macht eigentlich dieser Fritz Blankenstein?”, fuhr sie im selben Atemzug fort. „Fritz …”, hob Helga an, holte einmal tief Luft und unternahm einen neuen Anlauf, „Fritz ist Physiker. Vor drei Jahren hat er ein Forschungsstipendium vom Massachussetts Institute of Technology, kurz M.I.T., erhalten, und dort wird er, wie er mir vorgestern per Brief mitgeteilt hat, auch weiterhin bleiben.” Rosemary schien nicht zu bemerken, wie schwer Helga das Sprechen fiel. Sie wickelte eine ihrer Locken ständig um den 236 237 linken Zeigefinger, sah zum Fenster hinaus und fragte, wie alt Fritz denn sei. „Dreißig, wie mein großer Bruder Karl.” „Aber verheiratet” – Rosemary geriet nun doch ins Stottern –, „verheiratet ist er nicht?” Wie um sich zu entschuldigen, fügte sie hinzu, ihr Vater habe immerhin auch bis achtundzwanzig gewartet. Helga schüttelte den Kopf. „Nein”, sagte sie dann plötzlich mit fester Stimme. „Wenn … falls wir heiraten wollten, und das hatten wir eigentlich immer vor, seit meinem Tanzstundenschlussball, als ich fast siebzehn war, oder sogar noch länger, dann müsste ich ihm nach Amerika folgen, denn in Deutschland könnten wir nicht leben. Eheschließungen zwischen Juden und Ariern sind ja seit einem Jahr verboten. Zudem hat Fritz unsere gemeinsame Heimatstadt schon vor drei Jahren verlassen, und inzwischen … Es ist wohl besser, wenn ich es jemandem erzähle, sonst ersticke ich daran: Vor ein paar Wochen hat er eine Jüdin kennengelernt, die auch ausgewandert ist. Noch dazu arbeitet sie – sie trägt übrigens den schönen deutschen Vornamen Helene, wie unsere Prokuristin, Fräulein Dahm – auf derselben Etage wie er.” Nach einer kurzen Pause fuhr Helga fort und sah Rosemary gerade in die Augen. „So anständig wie Fritz ist niemand, musst du wissen. In seinem Brief”– sie wies auf ihren Nachttisch – „hat er mir geschrieben, dass sie sich verloben werden. Er wollte nicht, dass ich es von jemand anderem erfahre, zum Beispiel von seiner Schwester, meiner besten Freundin Hildegard, oder von Bekannten meiner Eltern in New York.” Es war ganz still in Helgas Schlafzimmer. Rosemary hatte längst aufgehört, mit ihrer Haarlocke zu spielen, und sie hockte in dem Sessel mit dem Rosenmuster, ohne sich zu rühren. Schließlich sagte sie in das Schweigen hinein, es tue ihr leid. „I am ever so sorry for you”, wiederholte sie und erhob sich langsam. „Deswegen warst du die ganze Zeit so traurig, während der Fahrt von Gainsborough schon und hier auch. Aber ist es nicht gut” – sie sprach schneller, und ihre Stimme klang fast wieder so unbesorgt wie meistens –, „dass du bei uns so viel Neues erlebst und auch neue Leute kennen lernst?” Unten klingelte jemand an der Tür. „Wer das wohl ist? Heute erwarten wir doch niemanden mehr.” Schon auf dem Treppenansatz angelangt, drehte sich Rosemary noch einmal um und meinte, Helga müsse ihr un-be-dingt erzählen, was ihr die Wahrsagerin vorhin aus der Hand gelesen habe. „Ich sterbe beinahe vor Neugier, und im Auto wollte ich nicht fragen”, sagte sie, warf den Kopf in den Nacken und öffnete die genau in dem Augenblick die Tür, als es zum zweiten Mal läutete. Draußen standen zwei Mädchen und ein junger Mann, ganz in Weiß gekleidet und mit Tennisschlägern in der Hand. 238 239 „Hallo, Rosy, hoffentlich stören wir nicht.” Der junge Mann ließ seinen Schläger in Hüfthöhe pendeln und erkundigte sich, ob Rosemary – er räusperte sich –, also ob Rosemary ein kleines Doppel mit ihnen zu spielen bereit wäre. „Aber ich sehe, dass du Besuch hast. Da passt es wohl nicht so recht”, bemerkte er und schien sich umdrehen zu wollen, als Helga neben Rosemary in den Türrahmen trat. „Machen Sie sich meinetwegen keine Gedanken. Ich hatte ohnehin vor, Briefe zu schreiben und … Wirklich, Rosemary, ich wünsche euch viel Spaß; zieh dich rasch um. Hab nur Verständnis dafür” – Helga lächelte –, „dass ich nicht zum zweiten Mal an einem Tag in die Rolle des Schiedsrichters schlüpfe.” Während Rosemary zwei Treppenstufen auf einmal nahm, unterbrach eines der beiden Mädchen etwas verlegen die Stille. „In der Eile hat Rosemary es unterlassen, uns vorzustellen; darf ich das bitte nachholen? Wir sind die Kinder des Ehepaares, das heute Morgen so kläglich gegen Mr und Mrs Summers verloren hat. Von Ihnen hingegen wissen wir, dass Sie auf höchst souveräne Art die schwierigsten Entscheidungen getroffen haben; beim Mittagessen drehte sich die Unterhaltung nämlich um nichts anderes … Du hast deinen eigenen Rekord gebrochen, Rosy”, grinste sie, als Rosemary nur wenige Minuten später die Treppe wieder herunterpolterte. „Aufgeschoben ist nicht aufgehoben”, flüsterte sie Helga zu. „Was dir die Wahrsagerin erzählt hat, möchte ich liebend gern erfahren. Natürlich erzähl ich dir auch, was sie mir prophezeit hat.” Dann verschwand sie in Begleitung der drei jungen Leuten durch das Gartentor. 240 241 Mit Schreibzeug und einigen Briefen in der Hand ging Helga auf dem Pfad zwischen den Sanddornsträuchern zur beach hut, einem weiß gestrichenen Holzwürfel mit angeschrägtem Dach, zwei Fenstern und einer winzigen Terrasse davor, der auf vier Pfosten halb verborgen in den Dünen stand. Sie setzte sich auf die ausgebleichten Planken und zog zunächst die beiden Bögen, die Ilse mit ihrer schlaufenreichen Schrift eng gefüllt hatte, aus dem Umschlag und begann dann, mit zwei Nummern der Saturday Evening Post als Unterlage, ihre Antwort zu schreiben. Indessen fiel es ihr sehr schwer, sich zu entscheiden, was sie Ilse überhaupt mitteilen wollte, und so blieb der Bogen zunächst bis auf Anrede und Datum leer. Sie würde natürlich ihrer Hoffnung Ausdruck geben, dass Ilse die Vertragsverlängerung inzwischen unterzeichnet hätte, und sie würde ihr auch dafür danken, dass sie den Zeitungsausschnitt mit der Todesanzeige von Herrn Landwehr beigefügt hatte, ohne zu erwähnen, dass ihre Mutter deswegen vor einer Woche in Gainsborough angerufen und sie gebeten hatte, Frau Landwehr und Else doch möglichst bald schriftlich ihr Beileid auszusprechen. Auch auf Ilse Klagen darüber, dass ihr Stief- vater sich bei jedem Besuch in Hagen danach erkundigte, ob sie denn nun endlich Mitglied der NSDAP geworden sei, weil das ihrer Karriere doch nur nutzen könnte, würde sie etwas zu erwidern wissen, nämlich, dass ihr eigener Vater nicht so recht abzuschätzen vermöge, wie lange sich der Erwerb des Parteibuches noch umgehen lasse. Rudolf jedenfalls sei der Hitlerjugend noch nicht beigetreten, nicht so sehr aus Überzeugung, wie er ganz ehrlich zugab, sondern weil er gern mit dem Feuer spielte. Aus einem unvollständigen Nebensatz hatte Helga herausgelesen, dass der besagte Stiefvater Ilse bei ihren selten gewordenen Besuchen zu Hause nach Möglichkeit aus dem Wege ging; auf ihre Erleichterung darüber würde Helga ebenfalls nur anspielen. Selbst Ilses Frage, ob Jürg Stoecklin noch einmal versucht habe, die Beziehung wieder aufzunehmen, ihr also trotz des ausdrücklichen Verbotes ihrer Eltern geschrieben oder sie etwa sogar angerufen habe, ließ sich leicht mit Nein beantworten. Vor allem ihre Mutter hatte ja so häufig und in immer den gleichen Worten wiederholt, weshalb Jürg mit absoluter Sicherheit kein geeigneter Umgang für sie sei – das Wort ‘Bankert’ klang ihr noch in den Ohren –, dass Helga sich die Argumente fast zu eigen gemacht hatte, wenn sie sich auch manchmal wünschte, jemand würde ihr auf eine ebenso direkte Weise zu verstehen geben, dass er sie begehre. Jürg hatte ihr vielleicht nie die ganze Wahrheit gesagt, aber ein Heuchler war er nicht. Helga kaute auf ihrem Füller herum und wandte den Kopf nach links, wo die Nordsee grau-grüne Wellen an den leeren Strand warf. Würde sie es über sich bringen, den Inhalt von Fritzens Brief an Ilse weitergeben? Sie legte Papier und Schreibzeug auf die Planken der Veranda, öffnete die Tür der Strandhütte – wie alle anderen war sie nicht zugeschlossen – und suchte aus dem Stapel der Schellackplatten eine von Gracie Fields heraus, Wish Me Luck, legte sie auf das Grammophon und kurbelte so lange, bis die Winde Widerstand leistete. Dann setzte sie behutsam die Nadel auf und hörte zu. Als die letzten Worte verklungen waren, wiederholte sie das Manöver. Wish Me Luck, summte sie mit, setzte sich hin und griff nach ihrem Füllhalter. Ohne Beschönigung und ohne zu dramatisieren fasste sie für Ilse gleich zu Anfang des Briefes zusammen, was Fritz ihr vor einigen Tagen geschrieben hatte, gab zu, dass sie ihre Gefühle noch nicht in Worte zu kleiden vermöge, und fügte hinzu, die Tochter ihrer Gastgeber, Rosemary, habe wohl Recht mit ihrer Bemerkung, die neue Umgebung mache es ihr leichter, mit dieser Nachricht fertig zu werden. Sie sind nett zu mir, Mr und Mrs Summers, besonders Mr Summers, der mit seinem Humor schon so manche heikle Situation überspielt hat. Viele Engländer verstehen nämlich nicht, wieso er und seine Frau im Jahre 1936 – will sagen: in der gegenwärtigen außenpolitischen Lage – eine junge Deutsche bei 242 243 sich aufnehmen. – Mrs Summers mag ich aber auch gern. Sie ist ziemlich tüchtig, lässt sich jedoch leicht aus dem Gleichgewicht bringen, wenn etwas ihre Pläne durchkreuzt. Ich schreibe Dir übrigens aus Chapel St. Leonards, wo alle Mitglieder der Familie Wochenendhäuser besitzen, insgesamt drei. Wenn Du irgendwo einen Atlas auftreiben kannst – in der Kölner Oper wird es wohl keinen geben –, dann schau doch einmal nach, ob Du das Dörfchen entdeckst. Es liegt in der Nähe von … Helga hatte Mr Barker, Alfred, nicht kommen hören, und so hob sie ruckartig den Kopf, als ein Schatten auf ihren Schreibblock fiel. „Haben Sie mir einen Schrecken eingejagt!”, sagte sie dann leise. „Ich hatte gehofft, Sie hier zu treffen.” Er stand breitbeinig vor ihr, die Hände in den Hosentaschen vergraben, und lächelte freundlich zu ihr hinunter. „Es bleibt doch bitte dabei, dass wir uns beim Vornamen nennen. Sie können sich ja immer noch aussuchen, wie Sie das you ins Deutsche übersetzen. Im Englischen wird heutzutage ohnehin nur Gott mit thou, also du, angeredet. You hat sich aus dem französischen vous entwickelt.” Das war Helga neu, und so verlor sie etwas von ihrer Befangenheit. „Warum haben Sie eigentlich vorhin Rosemary so strafend angeschaut, als sie erklärte, bei ihr zu Hause werde nicht darts gespielt?” 244 „Vermutlich ist Ihnen längst aufgefallen, dass die englische Gesellschaft sich aus Klassen zusammensetzt, von denen eine jede sorgsam darauf bedacht ist, sich von den anderen abzuheben, selbst die Cockneys in London. Sind in Ihrer Gegenwart schon einmal Begriffe wie upper upper oder lower middle gefallen? In welches von diesen Schubfächern jemand passt, vermag ein Kenner innerhalb von Minuten, selbst mit einem Blick zu ermitteln: anhand der Schule, die man besucht hat, anhand der Kleidung – sie darf oder muss sogar ein wenig abgeschabt aussehen, denken Sie einmal an Onkel Hughies Tweedjacke mit den Lederflecken auf den Ärmeln –, wo man wohnt, manchmal bis auf die Straßenseite genau. Nicht zuletzt wird er aus der Aussprache entscheidende Schlüsse ziehen … Wissen Sie was? Ich erkundige mich einmal, ob in London irgendwo Shaws Pygmalion aufgeführt wird. Das Stück bringt Ihnen die Sache näher als jede noch so fachkundige Ausführung meinerseits. Machen wir doch einfach einen Abstecher ins West End und hören Eliza Doolittle zu, wie sie bei Professor Higgins Unterricht in der korrekten Lautbildung ihrer Muttersprache erhält.” Alfred hatte sich geradezu in Fahrt geredet und hielt etwas überrascht inne, als Helga ihn daran erinnerte, dass sie eigentlich gern wissen wollte, was es denn mit dem Pfeilwurfspiel auf sich habe. „Richtig: darts. Das betrachten sie als nicht standesgemäß. Die jungen Leute aus Rosemarys Bekanntenkreis spielen alle 245 Tennis, die meisten von ihnen auch Golf, und ebenso viele gehören einem Yachtclub an. Punkt. Eine reichlich verwöhnte Gesellschaft”, fügte er noch hinzu und schwieg dann, obwohl es Helga so schien, als wolle er etwas erklären oder eine Frage stellen. „Butlin’s”, sagte sie schließlich in die Stille hinein und rutschte einmal auf den Planken hin und her. „Wenn ich einen Vergleich ziehen darf, ohne dass Sie mich gleich für … für einen Nazi halten: Das, was Billy Butlin da in Skegness geschaffen hat, eine Siedlung nämlich, in der man für wenig Geld Ferien an der See verbringen kann, hat von der Idee her etwas gemeinsam mit Kraft durch Freude – wie soll ich das übersetzen? –, power, force oder energy through joy, so ungefähr. Mein Vater, den Sie ja kennen, zahlt für die Arbeiter seiner Firma zu Weihnachten immer Geld in die KdF-Kasse ein … oder schenkt er ihnen Sparmarken, die man in ein Buch einkleben muss? Auf jeden Fall freuen sich unsere Bonbonkocher und die Mädchen aus der Packabteilung, halt alle, die keine Verwandten auf dem Lande haben, bei denen sie im Urlaub unterschlüpfen können, schon Monate vorher darauf. Sogar Frau Dennersmann – der Name sagt Ihnen nichts, aber sie arbeitet in der Musterabteilung und kennt mich seit ewigen Zeiten – schwärmt jedesmal davon. Ach, und gesungen wird dort auch. Tom Payne hat uns vorhin einige der Butlin’s-Lieder vorgesummt, richtige Ohrwürmer. Was die Texte angeht, also We’re going to spend a ho- liday, we’ve worked and saved all year… Das könnten unsere Betriebsangehörigen auch von sich sagen.” Helga stand auf und drückte die Knie fest durch. „Vom langen Sitzen sind mir fast die Beine eingeschlafen”, lachte sie etwas verlegen. „Da sind zwei Leute unabhängig voneinander auf die gleiche Idee gekommen. Nicht alles, was Herr Hitler und seine Genossen eingeführt haben, ist schlecht, und im Übrigen gibt es auch anderswo, hier in England zum Beispiel, Antisemiten, Leute, denen es gar nicht recht wäre, wenn ihre Tochter einen Juden heiratete.” Es schien Alfred aufzufallen, dass Helga den Kopf wegdrehte, aber er führte seinen Gedanken fort, sah dabei auf das Meer hinaus und rieb sich einmal die Hände. Auch Helga spürte, dass die schrägen Sonnenstrahlen kaum noch Wärme spendeten, und war froh, dass sie vorhin die dicke blaue Wolljacke nicht auf ihrem Bett liegen gelassen hatte. „Berlin war wirklich ein Erlebnis, und selbst einen so skeptischen Briten mit einer unausrottbaren Neigung zum Ironisieren wie mich hat die Eröffnungsfeier zutiefst beeindruckt. Anders als bei den Winterspielen, so habe ich mir sagen lassen, hielt sich alles, was nach Militär aussah, diskret im Hintergrund. Aber trotzdem” – er wandte sich zu Helga um, die mit verschränkten Armen gegen einen der beiden Dachpfosten des kleinen Verandavorbaus lehnte – „mache ich mir Sorgen; dieses ständige Reden vom Volk ohne Raum …” 246 247 Er verschwand in der Strandhütte, suchte in den aufgestapelten Zeitschriften herum und reichte ihr dann eine Art Broschüre. „Ist Ihnen dies schon einmal unter die Augen gekommen?” Helga warf einen Blick auf das Heft und war offensichtlich überrascht. „Die berühmte Sondernummer der Arbeiter Illustrierten Zeitung vom Juli 1936!”, rief sie aus. „Wie haben Sie es denn angestellt, ein Exemplar davon zu ergattern? Darf ich einmal prüfen, ob das, was man mir davon erzählt hat, auch wirklich stimmt? Die AIZ ist nämlich in Deutschland verboten, und der Text soll in Prag gedruckt worden sein. Darin seien sämtliche Straflager, KZs für politische Gegner und auch alle Firmen eingezeichnet, die auf die Wiederaufrüstung Deutschlands hinarbeiten. ,Führer durch das Land der Olympiade’, hier steht’s ja schwarz auf weiß ! Fritz hat mir …” Plötzlich warf Helga die Hände vors Gesicht und schluchzte. Ein paar Sekunden lang verspürte sie nichts als eine ungeheure Erleichterung; dann jedoch begann sie wieder zu denken. Woran lag es, dass sich an diesem Tag und nicht schon eher – zum Beispiel, als sie Fritzens Brief erhalten und immer wieder gelesen hatte – ihre Gefühle einen Weg nach außen bahnten: Verlassenheit, Trauer, auch die Unfähigkeit, etwas an dem Tatbestand zu ändern, weiterhin Erinnerungen, die zu den ersten überhaupt gehörten, die sie in ihrem Gedächtnis spei- cherte; weshalb gerade heute? Es musste damit zusammenhängen, dass sie an diesem Vormittag den Antwortbrief zur Post getragen und damit bestätigt hatte, die Nachricht sei bei ihr eingetroffen. Sie holte tief Luft. Zu ihrer Überraschung schämte sie sich nicht einmal, ihre Selbstbeherrschung verloren zu haben. Das mochte von der überwältigenden Liebenswürdigkeit herrühren, mit der Alfred Barker ihr von Anfang an begegnet war, von seiner großer Behutsamkeit und Nachsicht sowie einer ihr unvertrauten Art von Fürsorge. Er hatte sich nicht von der Stelle bewegt. „Ich werde nicht fragen, wer der Fritz ist, der Sie zum Weinen bringt”, hörte sie ihn sagen. „Aber ich verspreche Ihnen, dass ich mein Bestes tun werde, um Sie zu trösten, wenn Sie mir gestatten, einen Versuch zu unternehmen.” Helga wischte mit dem Ärmel die Tränenspuren fort, knöpfte etwas zerstreut ihre Jacke zu und stieg sehr langsam von dem Verandavorbau in den Sand hinab. An Alfreds Seite kehrte sie nach Sandy Hills zurück und vermochte die Beobachtung nicht so recht einzuordnen, dass er erst dann den Weg zu seiner Villa einschlug, als er sicher war, dass Rosemary sie von ihrem Fenster her zusammen gesehen hatte. 248 249 Kurz vor Helga war Mrs Summers wieder in ihrem Wochenendhaus eingetroffen, und es schien so, als hielte sie sich in allen Räumen des Erdgeschosses gleichzeitig auf. In der Küche schepperte etwas Metallenes auf den Fliesen, dann fiel die Tür zum Esszimmer ins Schloss. Mrs Summers rief, es sei doch sicher Helga gewesen, die da bereits den Tisch gedeckt hätte, und letztendlich kehrte wieder eine Art von Ruhe ein. Rosemary hatte durch ihre geöffnete Zimmertür Helga von oben bis unten gemustert, offensichtlich jedoch nichts Erwähnenswertes bemerkt und sich von ihrem Bett, wo sie in einer Nummer von Vogue geblättert hatte, mit geschmeidigen Bewegungen erhoben. Um ihrer Frage zuvorzukommen, erkundigte sich Helga, wer denn beim Tennis gewonnen habe, worauf Rosemary ihr beinahe hastig berichtete, sie hätten zwei Sätze gespielt, in unterschiedlicher Zusammensetzung, und jedesmal habe das aus zwei Mädchen bestehende Team den Sieg davongetragen. „Aber jetzt wollen wir doch endlich zum Wesentlichen kommen”, erklärte sie dann. „Wenn’s sein muss, fange ich an.” Während Rosemary schilderte, wie die Wahrsagerin im Holiday Camp, auf deren Hütte Alfred Barker auf dem Weg zwischen Teesalon und Ausgang gestoßen war, nach ihrer Hand gegriffen hatte, mit ihrem Zeigefinger über die einzelnen Linie gefahren war und dabei zunächst vor sich hin gemurmelt, dann aber vernehmbar erklärt hatte, Rosemary werde zwei Kinder bekommen und einen Mann heiraten, der … – warum sie da wiederum so undeutlich gesprochen hatte, war Rosemary nicht so recht verständlich –, also, der sehr alt werden würde; sie könne auch sehen, dass dieser Mann mit seiner Ruhe und Ausgeglichenheit hervorragend zu ihr passen würde, als Ergänzung sozusagen. Vorher, das wolle sie ihr nicht verschweigen, stehe allerdings so mancher Kummer auf dem Programm, Liebeskummer vor allem, aber zu guter Letzt würde sich schon alles finden. „Und du”, meinte sie dann, „was hat sie dir vorausgesagt?” Helga erinnerte sich an jede Einzelheit: an das rötlich-braun geschminkte Gesicht der noch jungen Frau, ihr geblümtes Kopftuch, unter dem eine pechschwarze Haarsträhne hervorschaute, ihre funkelnden, gescheiten Augen und die sorgfältig gefeilten Fingernägel. Die Wahrsagerin hatte ihre rechte Hand zu sich herübergezogen, Helga dann gebeten, ihr auch die linke zu zeigen, und mehrfach vor sich hin gebrummt. „An solche Dinge, also Übernatürliches wie Horoskope, Tarotkartenlesen und so weiter, glaube ich eigentlich nicht, obwohl die Bibel eine Menge Prophezeiungen enthält, die sich später bewahrheitet haben. Wie willst du denn erklären, dass einige Menschen über die Gabe verfügen, in die Zukunft zu schauen? Meiner Meinung nach handelt es sich bei Wahrsagerinnen einfach um Leute, die mit einer besonders gut entwickelten Beobachtungsgabe ausgestattet sind. Sie schätzen dich mit einem Blick ein: Kleidung, Haltung, ob deine Hände nach Abwaschwasser aussehen oder eher nach Klavierspielen … wie viele Ringe du trägst und an welchem Finger. Dann dein Gesicht: Wirkst du traurig oder eher vergnügt? Bei jedem Wort, 250 251 das sie sprechen, beobachten sie dich: Stimmst du zu? Ziehst du die Stirn kraus? Und die Sache mit dem Liebeskummer – das trifft doch auf neunundneunzig von hundert Mädchen in unserem Alter zu.” Rosemary blickte sie zuerst zweifelnd, dann eher zustimmend an. „Aber trotzdem”, meinte sie dann, „was hat sie dir nun gesagt? Selbst, wenn nichts dran sein sollte, interessiert es mich. Ich habe dir doch auch erzählt, was sie aus meinen Handlinien gelesen hat.” „Also gut: Von Liebeskummer auf der ganzen Linie hat sie gesprochen, in der Vergangenheit und auch weiterhin. Gewundert habe ich mich indessen doch ein wenig; sie hat mir nämlich gesagt, dass zwei meiner Freunde, meiner … engeren Freunde, im Ausland leben, und das trifft zu.” Es war Rosemary deutlich anzusehen, dass sie mit sich rang, ob sie nun fragen sollte, um wen es sich da handelte. Aber sie erkundigte sich nur, was die Wahrsagerin denn für Helgas Zukunft prophezeit habe. „Drei Kinder”, lachte Helga, „da schlage ich dich um eine Nasenlänge, und einen Mann, der in einer Fabrik tätig ist, wo es nach Schmieröl und Fräsmilch riecht. Du hast richtig gehört. Ich kannte den Ausdruck nicht, aber sie hat mir erklärt, was das ist.” „Und weiter?” Rosemary, das erriet Helga ohne die geringsten Schwierigkeiten, stellte natürlich eine Verbindung zu dem her, was sie den ganzen Nachmittag lang mitbekommen hatte. „Sein Vorname beginnt mit einem h”, fügte Helga deswegen hinzu; mehr wollte sie mir nicht verraten. Zu ihrer Erleichterung klatschte unten Mrs Summers in die Hände und rief sie zum Abendessen. Auf Rosemarys Gesicht war Enttäuschung zu lesen, und Helga überlegte, ob sie ihr irgendwann später einmal beichten würde, dass die Wahrsagerin zunächst einmal den Buchstaben a genannt hatte. 252 253 11. Kapitel: Frühjahr 1937 „Schwester Grete würde gern wissen, ob es ins Programm passt, wenn sie mit den Kindern gegen halb elf erscheint”, sagte Helga mit dem Hörer in der Hand zu Luise, die mit raschen Schritten die Garderobe durchquerte. „Sie haben einen Kanon einstudiert, Wir kommen all’ und gratulieren, und Schwester Grete will einige der Schülerinnen aus der 8. Volksschulklasse zum Aufpassen einspannen.” Dass Luise diesen Satzes überhaupt mitbekommen hatte, stellte Helga fest, als ihre große Schwester kaum eine Minute später mit einer Vase wieder zu ihr trat. „Halb elf, das ist eine gute Zeit”, meinte Luise, hielt die Vase unter den Wasserhahn und drehte sich dann zum Gehen. „Die katholische Kinderschule hat sich für kurz nach zehn angemeldet, und die erwachsenen Gäste werden wohl ab elf eintreffen. Aber dass sie sich an einen Kanon gewagt haben, überrascht mich doch ein wenig. Ich vermute einmal, dass die Mädchen aus der 8. Klasse tüchtig mitsingen werden. Übrigens, wenn du noch mehr Kleiderbügel brauchst: Ich habe in Vaters Schrank hinten seinen Anzügen einen ganzen Stapel entdeckt. Hoffentlich sind ein paar Leute so vernünftig, ihren Mantel im Wagen zu lassen! Meine Jacke und die von Otto junior legst du bitte auf dein Bett; es könnte ja sein” – Luise verzog ihr Gesicht zu einer spöttischen Grimasse –, „dass wir auch einmal nach Hause gehen wollten.” 254 Luise rauschte wieder davon, während Helga die Hand von der Muschel nahm und Schwester Grete mitteilte, der Zeitpunkt sei genau richtig gewählt. Als sie den Hörer aufgelegt hatte, machte sie sich auf die Suche nach Luise, die sie schließlich im hintersten der drei ineinander übergehenden Salons entdeckte, wo sie gerade Fresien und Narzissen zu einem Gesteck anordnete. „Was hältst du davon, wenn ich unsere Vasen, vielleicht nicht gerade die ganz kleinen, auf den Balkon stelle, gleich hinter die Tür zu Küche, damit man nicht jedesmal extra zum Schrank im Lichthof laufen muss? Die Blumenschere legst du daneben, sobald du mit der Dekoration hier fertig bist.” Luise blickte auf und meinte, das sei aber nun einmal eine praktische Idee. Sie hoffe ohnehin, dass die Gäste ihrem Vater eher etwas anderes schenken würden, Wein, Bildbände … „Vielleicht auch eine neue goldene Taschenuhr mit Kette”, sagte sie dann verschmitzt und zwinkerte Helga zu. „Erinnerst du dich, Helle, Gold gab ich für Eisen? Du liebe Güte, wie lange liegt das zurück!” Helga warf einen Blick auf den blauen Samtvorhang im Nebenzimmer, hinter dem immer noch das Grammophon mit der Kurbel und die Schellackplatten verborgen waren, die sie als kleines Mädchen so oft angehört hatte, dass sie die Soldatenlieder aus dem Weltkrieg jetzt noch, ohne zu stottern, hätte mitsingen können. Aber dann wurde sie wieder geschäftig. 255 „Noch etwas, Luise. Hat schon jemand daran gedacht, dass für die Kinder und auch für Jungen, die Blumen bringen, Bonbons bereit gestellt werden?”, erkundigte sie sich. „Die Boten sollen ein paar Groschen bekommen”, erwiderte Luise. „Frag Karl einmal, ob er genügend Kleingeld besorgt hat. Aber du hast Recht, ein Korb mit Süßigkeiten, am besten in Beuteln abgepackt, sollte für alle Fälle neben der Haustür stehen. Kümmere du dich doch bitte darum. Wollte Sophie nicht auch kommen, oder habe ich mich da wieder einmal verhört?”, fügte sie hinzu und rückte die Vase in die Mitte des kleinen Tisches, öffnete eine der Türen des mächtigen Frankfurter Schranks und holte mehrere Aschenbecher heraus. „Sie wird in einer halben Stunde hier sein, nehme ich an, frisch dauergewellt; einen anderen Termin hat der Friseur ihr nicht geben können, weil halb Eckesey sich die Haare legen lässt. Sehr nützlich kann sie sich ja ohnehin nicht machen, das müsstest sogar du einsehen, Luise – schließlich ist sie im siebten Monat schwanger. So”, meinte Helga und wandte sich zur Tür, „jetzt lege ich noch die Gästehandtücher bereit und sehe nach, ob wir auch genug Toilettenpapier vorrätig haben. Zerschnittene Zeitungen …” Sie lachte. „Wusstest du übrigens, dass Alfred Krupp vor rund hundert Jahren auf den Klos der Werkswohnungen herumspionierte, ob seine Arbeiter etwa den Vorwärts lasen?” In diesem Augenblick drangen aus einem der nach hinten hinaus gelegenen Räume – ob es die Küche oder das Schlafzimmer der Mutter war? – lautes Geklirr und noch lautere Schreie zu den beiden jungen Frauen herüber. „Was ist denn jetzt schon wieder los?”, seufzte Luise. „Es hört sich so nach Rosemary an, und Englisch kannst du nun einmal besser als ich. Deutsche Sprache, schwere Sprache, den Satz hat sie sich indessen schon gut eingeprägt!” Aber dann trieb sie die Neugier doch, Helga zu folgen. In der geräumigen Küche herrschte ein ungeheures Durcheinander. Bis in die Ecken hinein war alles vollgestellt mit Meißener Esstellern, Kästen voller Silberbesteck, Stapeln von matt glänzenden Servietten, Gläserkartons, und trotzdem hatte Rosemary in der Nähe des Fensters das Bügelbrett aufgebaut und offensichtlich damit begonnen, den Knautschfalten ihres schwarzen Satinrocks zuleibe zu rücken. Bügeln, so wusste mittlerweile jedes weibliche Mitglied des Schulteschen Haushalts, zählte nicht zu Rosemarys Stärken, denn das erledigte in Gainsborough ein Dienstmädchen. Meistens nahm Ida ihr das Eisen aus der Hand und sagte, das solle Rosemary ihr überlassen, es ginge schneller so. Aber heute, am Vorabend von Herrn Schultes 60. Geburtstag, war Ida mit anderen Dingen beschäftigt. „Nun beruhige dich doch”, sagte Helga und versuchte zu verstehen, was denn geschehen sein mochte. „Fisch, Tisch! Fisch, Tisch!” 256 257 Rosemary hüpfte von einem Bein auf das andere und deutete auf das Bügelbrett, auf dessen Bezug zwischen Glasscherben in der Tat ein Goldfisch, Idas Goldfisch, herumzappelte. Helga überlegte nicht lange, riss eines der Trockentücher von dem Reck an der Wand, griff damit vorsichtig nach dem Goldfisch und warf ihn in den Spülstein, setzte den Stöpsel ein und drehte den Hahn weit auf; zuletzt schöpfte sie mit einem leeren Gurkenglas Wasser und Fisch aus dem Becken und atmete erleichtert auf. „So, das hätten wir fürs Erste! Ob wir heute allerdings noch die Zeit finden werden, ein neues Aquarium zu kaufen, steht in den Sternen. Wie ist es denn passiert? Mit einem Bügeleisen fuchtelt man doch normalerweise nicht in der Luft herum.” Rosemary hatte sich auf einen der Küchenstühle sinken lassen und starrte vor sich hin. Es war ihr anzusehen, dass sie mit sich rang, was für eine Erklärung sie nun liefern sollte. „Wo”, meinte Luise plötzlich und runzelte die Stirn, „ist eigentlich Rudolf?” Rosemarys Gesicht überzog sich schlagartig mit einer tiefen Röte, aber sie schwieg weiterhin. „Rudolf”, fuhr Luise fort, „sollte doch die Sektflaschen aus den Kartons holen, damit wir sie morgen in aller Herrgottsfrühe auf Eis legen können, wenn die Stangen geliefert werden, und er sollte sich auch darum kümmern, dass die Zinnwannen aus dem Betrieb auf den Balkon getragen werden. Vermutlich muss ich meinen großen kleinen Bruder doch einmal wieder an den Ohren ziehen, selbst, wenn sie jetzt so hübsch am Kopf anliegen.” Damit verließ sie die Küche und klapperte etwas lauter als gewöhnlich mit ihren Absätzen. „Otto”, hörte Helga sie noch rufen, „Otto, komm mal her. Ich hoffe, du kannst dein Gedicht inzwischen ganz auswendig!” Helga ging auf Rosemary zu und legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Ist doch alles nicht so schlimm. Siehst du, der Fisch fühlt sich in dem Glas ziemlich wohl, wenn es auf die Dauer auch zu eng für ihn ist. Aber sag einmal – wie hast du das denn angestellt?” „Rudolf”, meinte Rosemary und wiederholte den Namen noch einmal, wobei sie sich bemühte, ihn deutsch auszusprechen. Dann suchte sie allerdings nach Worten. Aus ihrem Gestammel schloss Helga, dass ihr Bruder von hinten an Rosemary herangetreten war und ihr mit beiden Händen die Augen zugehalten hatte; Rosemary, die tief in Gedanken versunken gewesen war, hatte vor Schreck eine hastige Bewegung mit dem Bügeleisen gemacht und das Aquarium dabei von der Fensterbank gestoßen. „Du darfst aber nicht mit ihm schimpfen”, fügte Rosemary noch hinzu und sah Helga von unten herauf an. „Er hat es sicher nicht bös gemeint.” Sie erhob sich, strich ihren Rock glatt und verließ die Küche, um, wie sie Helga zu verstehen gab, 258 259 einen Besen und einen Aufnehmer zu holen, wobei sie stolz darauf zu sein schien, dass sie schon wusste, in welcher der vielen Abstellkammern auf dem Flur das Putzzeug untergebracht war. Während Helga, auf den Knien rutschend, die größeren Scherben vorsichtig aufsammelte, hörte sie, wie Ida die Verbindungstür zum Balkon hinter sich schloss und die Küche wieder betrat. Sie war mit Idas eher gemessenen Schritten so vertraut, dass sie nie auf die Idee gekommen wäre, es könne sich um ihre Mutter oder überhaupt jemand anderen handeln. „Hab’s mir doch gedacht”, sagte Ida, ohne die Stimme zu heben, „genau so hat es geklungen, wie dickes Glas. Schneid dich nicht in die Finger, Helleken, das hätte uns noch gefehlt an so einem Tag; da ist keine Hand zu viel, wie die gnä…, also deine Mutter heute Morgen ganz richtig meinte. Wo steckt er denn, der Lausebengel? Ich will ja nichts sagen; aber eigentlich habe ich nichts anderes erwartet, so, wie er immer um die Rosemarie herumstreicht. Sie macht ihm allerdings auch schöne Augen. Ist nichts dagegen einzuwenden, zwei so nette junge Leute, selbst wenn er noch nicht mit der Schule fertig ist, der Rudolf. Könntest du mir ein wenig helfen beim Auswischen der Gläser, oder hast du etwas anderes zu tun? Nein, zuerst sollten wir einmal die Tische im Zimmer deines Vaters vorbreiten, leer geräumt ist es ja, und die Damasttücher hat … deine Mutter schon herausgelegt. Dann können wir nämlich die Gläser dort aufbauen, und die Lohnkellner brauchen …” Es klingelte an der Haustür. „Ich geh schon”, sagte Helga und stieß im Flur mit Rosemary zusammen, die mit Besen, Handfeger und Schaufel im Halbdunkel stand. Sie lachte kurz auf, schüttelte den Kopf und erklärte ihr rasch, sie könne ruhig die Spuren des Zwischenfalls beseitigen, denn Ida sei gar nicht böse auf sie; der Goldfisch schwimme ja auch sichtbar zufrieden in seinem Gurkenglas herum. Beim Hinuntergehen hörte sie noch, wie Rosemary sich entschuldigte und Ida erwiderte, jetzt solle sie doch zuerst einmal ihren Rock zu Ende bügeln. Durch die Milchglasscheibe erriet Helga, dass da jemand Blumen brachte. Sie vergewisserte sich, dass in dem Silberschälchen auf dem kleinen Tisch schon einige Münzen lagen, und öffnete die Tür. „Wir haben einen Auftrag über Fleurop erhalten”, sagte der junge Mann, verbeugte sich und fuhr fort, er sei doch wohl hier richtig, bei Schultes, und er solle diesen Strauß abliefern, eigentlich erst morgen, aber sein Vorgesetzter meinte, so hätten sie wenigstens Zeit, ihn ordentlich in eine Vase zu stellen. Helga lächelte und nickte. „Da hat Ihr Chef mit Sicherheit Recht. Vielen Dank, und dies ist für Sie.” Der junge Mann machte noch einen Diener, steckte das Geld mit einem anerkennenden Pfiff in die Tasche und sprang die Stufen zur Straße hinunter, während Helga auf dem Rückweg nach oben die mit einer Stecknadel befestigte Karte vom Einwickelpapier entfernte und sich daran erinnerte, dass auf 260 261 der Rückseite die Art des Geschenks zu vermerken wäre, bevor die Karte in einer tiefen Silberschale auf dem Tisch im ersten der drei Salons abgelegt werden sollte. Dort, hatte ihre Mutter bestimmt, würden alle Geschenke ihren Platz finden, und hinterher musste genau festgestellt werden können, bei wem der Vater sich für was zu bedanken hätte. ,Herzlichen Glückwunsch zum 60. Geburtstag, lieber Friedrich’, las Helga, während sie das Papier zusammengeballt in den Mülleimer warf und nach einer weithalsigen Vase suchte. ,Leider ist es uns nicht möglich, Deiner Einladung Folge zu leisten und den Ehrentag in Eurer so sehr geschätzten Gesellschaft zu verbringen. Eva schließt sich mir an. Mit herzlichen Grüßen aus Basel, Dein Ulrich.’ Was Helga zuerst durch den Kopf ging, hatte wenig mit dem Inhalt der Karte zu tun: Niemand hatte bislang daran gedacht, einen Stift neben die besagte Silberschale zu legen, mit dem sie hätte aufschreiben können, dass zu dem Glückwunsch des Ehepaars Stoecklin ein Frühlingsstrauß gehörte, der so wunderbar duftete, dass Luise aus dem Nebenzimmer fragte, wer denn ihren Gebinden so wirkungsvoll Konkurrenz mache. Helga erwiderte nur widerwillig, aber das konnte Luise natürlich nicht sehen, Stoecklins würden morgen nicht kommen, und sie habe pflichtgemäß alles ordentlich notiert. „Stoecklins … Ob sie wohl wieder Ärger mit ihrem Sohn haben? Die älteste Tochter, Carine heißt sie wohl, mit einem c vorn und einem e hinten, soll hingegen recht gut geraten sein und einen Mann geheiratet haben, der passenderweise schon vor der Eheschließung in der Süßwarenbranche tätig war; hast du sie eigentlich einmal kennen gelernt? Sie ist doch wohl auch bei den Fräuleins … – wie war der Name doch noch, Griesbrei?” „Griesbecque”, rief Helga aus dem ersten der drei Salons zu Luise hinüber, immer noch eher unwillig, aber doch mit einem Lachen in der Stimme. „Richtig, Griesbecque. Dieser Jürg soll ja sehr viel Charme besitzen, aber das hilft ihm weniger, wenn er Männern, vor allem wohl auch Polizisten gegenüber steht. Seid ihr euch eigentlich damals in Basel begegnet, oder war er mal wieder außer Hauses? Seine Eltern lassen ja wenig unversucht, ihn auf die rechte Bahn zu bringen, wie ich Vaters gelegentlichen Bemerkungen entnehme.” Zu Helgas Erleichterung läutete es erneut unten an der Haustür. Während sie die Treppe hinunterlief, spürte sie Dankbarkeit ihren Eltern gegenüber, weil sie, wie versprochen, ihren Geschwistern gegenüber nichts über die Geschichte mit Jürg, damals in Cyrano, hatten verlauten lassen, und stand zu ihrer Überraschung Herta Dennersmann gegenüber. „Herta? Guten Morgen. Es freut mich, dich zu sehen.” Ihre ehemalige Klassenkameradin blickte sie freundlich an und lachte dann schallend. „Aus deiner Überraschung schließe ich, dass deine Mutter dir nichts von der Anprobe erzählt hat – das heißt, um eine An- 262 263 Aus dem Büro der Prokuristin drangen laute Stimmen nach außen. Deshalb klopfte Helga kräftig an und betrat den Raum erst, als ,Herein’ gerufen wurde; Herta blieb im Flur stehen. „Ach, du bist es, Helle.” Fräulein Dahm füllte den ausladenden Armstuhl hinter dem Schreibtisch, auf dem wie immer zwei mehr oder weniger überquellende, mit ,Eingang’ und ,Ausgang’ beschriftete Ablagen sowie ziemlich ordentlich gestapelte Aktenordner zu sehen waren, völlig aus. Ihr rundes Gesicht unter dem frisch gewellten, stahlgrauen Haar glühte, und sie atmete deutlich rascher als sonst. In einer Ecke stand Herr Behr und blickte zum Fenster hinaus. „Guten Morgen, oder besser guten Tag; ich bitte die Störung zu entschuldigen.” Helga konnte nicht umhin zu spüren, dass sie in so etwas wie eine heftige Auseinandersetzung hineingeplatzt war, ob- wohl nur der sonst so behäbig wirkenden Prokuristin etwas anzumerken war. So blieb sie in der Türöffnung stehen und fragte lediglich, ob Fräulein Dahm wisse, wo ihre Mutter sich aufhalte; die Verabredung mit der Schneiderin habe sie doch gewiss trotz all des Trubels nicht vergessen. Während Herr Behr Helga nach wie vor den Rücken zudrehte, schüttelte Fräulein Dahm den Kopf und erwiderte, nein, natürlich sei Frau Schulte das nicht entfallen; Marga Dennersmann habe sie indessen vor zehn Minuten abgeholt und sei mit ihr in den Aufenthaltsraum gegangen, wo der Werkschor probe, weil es da wohl etwas zu regeln gebe. Sie werde bestimmt nicht lange auf sich warten lassen; natürlich könnten die beiden Mädchen – „Obwohl die Herta ja jetzt verheiratet ist!”, fügte Fräulein Dahm hinzu und lächelte nun doch – Frau Schulte aber auch folgen und sich einmal anhören, was da morgen zu Ehren des Geburtstagskinds erklingen sollte. „Ich glaube, Pastor Ackermanns Nachfolger, dieser junge Hilfsprediger, wird ganz angetan sein, denn soweit ich weiß, steht Lobet den Herren auf dem Programm, auch Geh aus, mein Herz, und suche Freud’, ein kleines bisschen umgedichtet - ,Sommerszeit’ passt nicht so recht; nur gut, dass ,Frühlingszeit’ genauso viele Silben hat. So” – Fräulein Dahm erhob sich, und Helga fiel ein, was Karl vor vielen Jahren einmal grinsend erklärt hatte: Sie sei so breit wie hoch –, „jetzt muss ich euch bitten … Wir haben noch etwas Wichtiges zu besprechen.” Ihr Lächeln wirkte irgendwie aufgesetzt. 264 265 probe handelt es sich gar nicht, aber ich bringe das Kleid, das sie morgen tragen wird. Fräulein Merten meinte, es sei vielleicht nicht schlecht …, ich meine, falls hier und da noch eine winzige Kleinigkeit zu ändern wäre …” „Wo sie steckt, wüsste ich allerdings nicht zu sagen”, meinte Helga und öffnete die Tür vollständig, sodass Herta mit dem durch ein weißes Tuch geschützten Kleid das Haus betreten konnte. „Es wird das Beste sein, wenn ich Tante … Fräulein Dahm frage; komm mit, du kennst sie ja auch.” Helga runzelte die Stirn, als sie die Tür hinter sich schloss. Nach Streit hatte es eigentlich nicht geklungen, eher so, als ob einer von den beiden, Herr Behr wahrscheinlich, etwas behauptet und Fräulein Dahm dies zurückgewiesen hätte. Um geschäftliche Schwierigkeiten konnte sich die Unterhaltung nicht gedreht haben, denn allen Gesprächen während des Abendessens im Familienkreis hatte Helga entnommen, dass der Umsatz laufend stieg und dem Vertriebsleiter, Herrn Behr eben, immer mehr Reisende unterstanden. „Nun lass mal”, sagte Herta und zog Helga hinter sich her, wobei sie darauf achtete, dass Frau Schultes Kleid nicht unter dem weißen Tuch hervorrutschte. „Gehen wir rüber und hören mal, wie’s klingt, ja? Ein wenig klatschen können wir auch; so lange bist du ja noch gar nicht zurück aus England, und hier hat sich inzwischen eine Menge getan.” Helga fiel ihrer ehemaligen Klassenkameradin fast ins Wort. „Ja, erzähl mal: Was macht Ernst August? Er ist doch jetzt dein Schwager. Mein Vater, er schreibt ja in unserer Familie immer die Briefe, hat mir letztes Jahr vor Weihnachten einen Zeitungsausschnitt nach Gainsborough geschickt, wo von einem schweren Verkehrsunfall auf der Eckeseyer Straße die Rede war, und weil in dem Artikel keine Namen genannt wurden, hat er natürlich erwähnt, dass Ernst August sich unter den vier Wageninsassen befand.” Es war Herta deutlich anzusehen, dass ihr eigentlich etwas anderes auf der Zunge lag, aber sie griff das Thema auf und fasste ziemlich hastig zusammen, woran sie sich erinnerte, während sie sich bemühte, auf dem Weg quer über den Fabrikhof mit ihren hohen Absätzen nicht in den Ritzen zwischen den Pflastersteinen hängen zu bleiben. „Ernst August gehörte ja zu den ersten, die zum Wehrdienst eingezogen wurden, und in der Kaserne hat er die drei Burschen kennen gelernt, die mit ihm im Automobil saßen; frag mich bitte nicht nach der Marke. Auf jeden Fall kamen sie aus Herdecke und hatten es sehr eilig. Übrigens saß Ernst August nicht etwa hinter dem Lenkrad, möchte ich betonen. Sein Kamerad wollte halt zwei PKWs überholen und stieß dabei mit der Straßenbahn zusammen. Der Aufprall war so heftig, dass Ernst August und die beiden anderen Passagiere durch die Frontscheibe geschleudert wurden … Ein glücklicher Zufall wollte es, dass ein Sanitätswagen in der Nähe war, und die Feuerwehr kam auch ziemlich schnell. Alle vier wurden ins Josefshospital gebracht, ja, und jetzt … Der Unfall liegt fast sechs Monate zurück. Ernst August ist noch einmal davongekommen, beide Arme mehrfach gebrochen, die Beine auch, zig Narben von den Schnittwunden im Gesicht, aber Gott sei Dank nichts an der Wirbelsäule … Frech ist er allerdings immer noch! Plates haben ihn anständigerweise wieder eingestellt, obwohl er nur sitzende Tätigkeiten ausüben kann. Und”, fügte Herta nach einer Pause hinzu, mit dem Soldatenleben war’s aus.” „Ich dachte, der Wehrdienst dauerte ohnehin nur ein Jahr”, meinte Helga. „Das hat mir Rudolf jedenfalls erzählt. Aber sie 266 267 ziehen jetzt auch Verheiratete mit Kindern ein; Karl zum Beispiel hat einen Gestellungsbescheid erhalten.” Herta nickte und wollte wohl noch etwas ergänzen, aber in diesem Augenblick wurde die Tür des Aufenthaltsraums geöffnet, und Frau Schulte trat mit Frau Dennersmann heraus. „Herta, das ist aber eine Überraschung!” Während Frau Dennersmann ihre Tochter in die Arme schloss und offensichtlich bemüht war, das Kleid nicht zu zerknittern, wandte sie sich halb zu Frau Schulte um. „Ich werde übrigens Großmutter, gleich zweimal!”, erklärte sie stolz und lachte. „Else schrieb mir, sie sei guter Hoffnung, so hat sie sich wirklich ausgedrückt; da trifft es sich gut, dass sie dem Franz eine Stelle angeboten haben, bei Krupps in Essen, wo er in der Entwicklungsabteilung arbeiten wird. Und jetzt die Herta auch noch! Im Spätsommer soll’s kommen. Aber bislang versteckt sie’s gut, nicht wahr?” „Gar nichts versteck ich”, brummte Herta, „im vierten Monat sieht man doch bei keiner Frau was. Ich wollt es Helle vorhin schon sagen, aber da hat sie sich nach Ernst August erkundigt, und der war schließlich in unserer Klasse.” Wer hat dich, du schöner Wald … tönte es plötzlich sehr laut durch die offen stehende Tür. Helga fuhr ein wenig zusammen, weil sie mit ihren Gedanken gar nicht beim Geburtstag ihres Vaters war. Ernst August mit seiner Frage am ersten Schultag, ob sie denn auch einmal Bömkes mitbringen würde, Herr Reckefuß, der vor einigen Jahren gestorben war, Ilse und natür- lich Herta, dann aber auch Jürg mit seinem ,Bankert’, Ernst Herberts zahllose Briefe … all dies ging ihr blitzartig durch den Kopf, und mitten hinein sagte ihre Mutter gerade, sie hätten sich darauf geeinigt, alle drei Strophen zu singen, auch die mit dem deutschen Panier, das rauschend wallt, obwohl kaum jemand verstünde, was das bedeutete. „Eigentlich hatten sie vor, vier Lieder vorzutragen, aber das wäre zu lang geworden für die Gäste; drei reichen auch. Ich muss gestehen, dass ich nicht damit gerechnet hatte, es würde so gut klingen”, meinte Frau Schulte und legte den Kopf leicht schief. „Die beiden neuen Fahrer haben prächtige Bass-Stimmen, nicht einmal an Tenören mangelt es, und sogar die Soprane kreischen nicht mehr so fürchterlich, seitdem der Chorleiter einige davon dem Alt zugeordnet hat.” Herta grinste etwas verlegen. „Was ist denn ein Panier ? „Ein Banner, eine Fahne”, erwiderte Frau Schulte. „Aber ich habe dich lange genug warten lassen, Herta, gehen wir in die Wohnung und probieren rasch das Kleid an. Wir sehen uns später noch, Marga, wenn ich mit Julius Scherney telefoniert habe.” Während Frau Dennersmann die Stufen zur Laderampe hochstieg und zwischen aufgestapelten Kartons verschwand, erkundigte sich Frau Schulte, ob Herta sich eigentlich nicht selbständig machen wolle. 268 269 „So sehr ich die Merten’sche schätze …”, meinte sie. „Du hast viel bei ihr gelernt, und da du so begabt bist wie dein Bruder, auf einem anderen Gebiet natürlich, stehst du ihr kaum nach; sie bezahlt dich ja auch wohl entsprechend gut. Aber wenn man in seine eigene Tasche wirtschaftet, füllt sie sich schneller.” Inzwischen waren sie in Frau Schultes Zimmer angekommen, das leerer als sonst wirkte, weil Rudolf die Stühle bereits in die Salons hinübergetragen haben musste. Helga blieb in der Nähe der Tür stehen, während Frau Schulte nur ihr Korsett sowie den Unterrock aus altrosa Taft anbehielt und sich von Herta in das Festkleid helfen ließ. Dann drehte sie sich langsam vor dem mannshohen Spiegel auf der Innenseite des weißen Schleiflackschranks; Herta hockte zu ihren Füßen, den Mund voller Stecknadeln. Helga starrte ihre Mutter an. Sonst trug sie fast immer etwas Praktisches, in der Regel dunkle, wadenlange und nicht zu enge Röcke, dazu Blusen aus gemustertem Kattun, im Winter auch einmal aus Flanell oder einem feinen Wollstoff. Wurde es kälter, so griff sie zunächst nach ärmellosen, dann langärmligen Strickjacken, von denen sie immer ein halbes Dutzend besessen hatte, so weit Helga zurückzudenken vermochte, mit Sicherheit eine dunkelrote, eine dunkelblaue und eine aus grauer Angorawolle. Im Sommer bevorzugte sie bunte Baumwollkleider, die sich leicht waschen ließen und nach Möglichkeit nicht schwer zu bügeln waren. Und natürlich verfügte sie über mehrere Ausgehgarnituren für offizielle Anlässe, Kostüme, zu denen immer auch ein Hut gehörte, weitausladende voller künstlicher Blumen oder aus Samt mit einem breiten Rand. Auf der Seite des Kleiderschranks, die nicht geöffnet werden konnte, hingen ganz hinten außerdem drei Abendkleider, von denen eins jedoch nicht mehr passte und die nur selten hervorgeholt wurden. Das Kleid, das Herta für ihre Mutter genäht hatte, war aus beigefarbener, in sich strukturierter Seide mit Ärmeln, die sich von der Schulter zu den Handgelenken hin verjüngten, einem mit Brüsseler Spitzen verdeckten V-Ausschnitt und einem Gürtel, der locker die Hüften umschlang. Hinten würde sich der ziemlich enge Rock bei jedem Schritt ein wenig öffnen. Es stand Frau Schulte ausgezeichnet, und Helga dachte kurz, es sei schade, dass ihre Mutter sich erst gestern noch einmal geweigert hatte, einen Friseur kommen zu lassen, bevor sie ihr dann doch Anerkennung dafür zollte, dass sie erstens nicht jede Mode mitmachte, die der Dauerwellen zum Beispiel, und zweitens nur ausnahmsweise Idas Hilfe in Anspruch nahm, wenn sie nämlich sicher gehen wollte, dass ihr Knoten auch genau in der Mitte des Hinterkopfes saß und so mit Nadeln fest gesteckt war, dass er sich auf keinen Fall lösen würde. „Das mit dem Selbständigmachen hat zwei Seiten, Frau Schulte”, hörte sie Herta sagen. „Sie haben schon Recht: Es springt gewiss mehr für einen dabei heraus. Aber andererseits trägt man auch die ganze Verantwortung, das heißt, man muss 270 271 die Preise kalkulieren und dabei nicht nur die Materialkosten berücksichtigen, sondern auch so etwas wie Miete und Strom mit einrechnen, einmal abgesehen davon, dass man vielleicht zuerst einmal eine Durststrecke durchläuft, ich meine, eine Zeit, in der man noch nicht genügend Kundinnen hat. Die Hagener Damen flechten doch allzu gern in eine Unterhaltung, beim Kaffeeklatsch oder so, die Bemerkung ein, sie ließen bei Josephine Merten arbeiten, stimmt’s?” Während sie sprach, hatte Herta an einer Seite den Saum etwas ausgelassen und bat Frau Schulte jetzt, beide Arme in Schulterhöhe nach vorn zu strecken. „Es wäre ja zu dumm, wenn Sie sich nicht ungehemmt bewegen könnten, wo Sie doch zig Leuten die Hand werden schütteln müssen, und der eine oder andere erwartet bestimmt eine noch herzlichere Begrüßung. Spannt es irgendwo?” Als Frau Schulte den Kopf schüttelte, zog Herta ihr behutsam das Kleid über den Kopf und hockte sich auf das breite Bett, wo sie mit raschen, geschickten Bewegungen den Rock rundum auf die gleiche Länge brachte. „Fürs Erste bleibe ich weiterhin bei Fräulein Merten; das ist eine sichere Beschäftigung, und die brauche ich jetzt, wo … Sie haben es ja mitbekommen: Johann und ich werden eine richtige Familie, und zu viele Umstellungen auf einmal, das ist nicht gut. Aber später einmal … Vielleicht kann ich ja sogar den Salon übernehmen, wenn die Chefin sich zur Ruhe setzt? So, das hätten wir”, meinte Herta abschließend, erhob sich und bat um ein Bügeleisen. Helga konnte ein Kichern nicht unterdrücken, sodass ihre Mutter sie etwas verwundert anschaute. „Ach, das hast du natürlich nicht mitbekommen”, sagte Helga und berichtete, was mit Idas Goldfischglas geschehen war, erwähnte aber Rudolfs Rolle dabei mit keinem Wort. Frau Schulte fragte auch nicht weiter nach, sondern bat Helga, Herta in die Küche zu begleiten; sie selber müsse jetzt dringend telefonieren, denn Julius, der ,dicke Scherney’ – aus ihrer Stimme war deutlich Zuneigung herauszuhören – warte seit mindestens einer Viertelstunde auf ihren Anruf. „Er liefert natürlich das kalte Büffet”, erklärte Helga auf dem Flur. „Heute Morgen haben Mutter und Fräulein Dahm noch einmal eine Art Überschlagsrechnung angestellt, mit wie vielen Personen zu rechnen ist. Außer all denen, die unmittelbar mit dem Betrieb zu tun haben, den Vertretern und den höheren Angestellten, ein paar Leuten aus der Fabrik und den Mitgliedern des Werkschors, die natürlich auch ein Glas auf Vaters Wohl trinken sollen, werden ja unsere nächsten Nachbarn erscheinen, dazu mit Sicherheit die Geschäftsfreunde aus Hagen und solche, die nicht allzu weit weg wohnen, Brandts von der Zwiebackfabrik in Haspe zum Beispiel” – Helga schluckte einmal –, „Vaters Logenbrüder …” „Habe ich nicht irgendwann in der Zeitung gelesen, die Freimaurerbewegung sei verboten worden?”, fiel ihr Herta ins Wort. 272 273 „Ja, aber das bedeutet doch nicht, dass sie sich nicht mehr besuchen dürfen.” Helga dachte dabei vor allem an Herrn Herberts, den Vater ihres ehemaligen Verehrers, der ihr vor zwei Jahren sogar einen Heiratsantrag gemacht hatte; am morgigen Tag würde sie eine Begegnung mit ihm wohl kaum vermeiden können. Deshalb nahm sie sich vor, Luise zu fragen, was aus Ernst Herberts in der Zwischenzeit geworden sei. „Vaters Logenbrüder also, dann der Direktor der Höheren Handelsschule, weil Vater da im Beirat sitzt, also jedenfalls eine nicht unwichtige Rolle spielt, Herren vom Verband der Zuckerwarenhersteller, und jemand von der Stadt hat sich auch angesagt, ich glaube, Oberbürgermeister Vetter.” Dass ebenfalls mit einem Besuch von Alfred Barker zu rechnen war, der auf dem Rückweg von der Leipziger Messe bei seiner deutschen Partnerfirma in Köln Station machte, behielt Helga für sich, zumal Herta bislang keine einzige Frage zu ihrem sechsmonatigen Englandaufenthalt gestellt hatte. Während sie die Küche betraten, meinte Helga nur noch, an die hundert Gäste, wahrscheinlich sogar mehr und überwiegend männlichen Geschlechts, würden wohl im Laufe des Vormittags kommen und gehen, abgesehen von denen, die, wie sie aus Erfahrung wusste, bis in den Nachmittag hinein in den bequemen Armstühlen und Ohrensesseln hängen blieben, zuerst Sekt, dann Wein und schließlich Kaffee trinken, Schnittchen, Süßigkeiten und Kuchen essen und zwischendurch immer wie- der eine Zigarre rauchen würden, die älteren jedenfalls; für die jüngeren hatte Luise flache ägyptische Zigaretten sowie eine runde Sorte namens Juno bereit gestellt und dabei selber eine davon in den Mund gesteckt. Als Ida, von dem Geruch angezogen, Luise mit gerümpfter Nase von der Seite gemustert und gemurmelt hatte, eine deutsche Frau rauche doch nicht, war ihre große Schwester einmal nicht aus der Haut gefahren, sondern hatte eines der vielen Fenster zur Straße geöffnet und leise, aber deutlich gesagt, der Herr Reichskanzler habe in seiner Wiener Künstlerzeit bis zu vierzig Zigaretten am Tag gequalmt, das wisse sie ganz genau; einer der österreichischen Freunde ihres Mannes habe da so seine Informationsquellen. Ausnahmsweise gab Ida sich nicht geschlagen. „Eine deutsche Frau”, betonte sie. Luise hatte genickt und Ida gebeten, doch Otto junior zu ihr zu schicken, falls er ihr über den Weg liefe, bevor sie überprüfte, ob die Schwämmchen in den Zigarrenkisten auch noch genug Feuchtigkeit abgaben. 274 275 In der Küche bahnte Herta sich einen Weg zwischen den Tellerstapeln hindurch, wobei Helga feststellte, dass Ida den größten Teil der Gläser wohl schon auf den drei aneinander gestellten Tischen im Schlafzimmer ihres Vaters aufgebaut haben musste. Wer ihr wohl geholfen hatte, die riesigen Damasttücher darauf auszubreiten? Sie blickte ein wenig schuldbewusst in Idas Richtung, die jetzt damit beschäftigt war, schon vor Tagen noch einmal gewaschene und gestärkte Servietten zu zählen. „Was meinst du, Helle, sollen wir jeweils vierundzwanzig von einer Sorte aufeinander legen? Luises kommen ganz nach unten, wer weiß, ob wir sie überhaupt brauchen, und ich glaube, die Sophie bringt auch noch welche mit. Hoffentlich sind sie alle mit einem Molo…, ich meine, erinnerst du dich, ob Karls mit KS oder SW bestickt sind?” Helga hätte das nicht zu sagen gewusst, erwiderte aber, Sophie werde doch wohl in der Lage sein, ihre eigenen Servietten wiederzuerkennen, ob sie nun mit einem Monogramm versehen waren oder nicht, und begann, die Meißener Teller vorsichtig einzeln in dem mit Moltonlappen ausgelegten und mit sehr heißem Wasser gefüllten Spülbecken abzuwischen und ebenso behutsam auf einer Schicht von Trockentüchern abtropfen zu lassen, als Ida kopfschüttelnd zu ihr herantrat und meinte, Helgas Hände seien so hohe Temperaturen nicht gewöhnt; es wäre doch wohl besser, die Rollen zu tauschen. Inzwischen hatte Herta das beigefarbene Seidenkleid noch einmal von links gebügelt und dabei eine Glasscherbe auf dem Fensterbrett entdeckt. Da Helga die Geschichte mit dem Aquarium ja in ihrer Anwesenheit erzählt hatte, warf sie den Splitter mit ihrer freien Hand in den Mülleimer, bevor sie in der Tür zum Flur noch einmal stehen blieb und nach kurzem Zögern fragte, ob das stimme, was ihre Mutter ihr berichtet hatte, näm- lich: dass die junge Engländerin bei ihrer Ankunft ein Hermelinjäckchen getragen habe. „Ich muss gestehen, dass ich so einen Pelz bisher noch nie aus der Nähe gesehen habe”, fügte sie hinzu. Helga nickte und erklärte Herta, Rosemary habe keine Geschwister und werde deshalb von ihren Eltern sehr verwöhnt, aber sie passe sich doch neuen Situationen ziemlich rasch an, und was ihre Deutschkenntnisse angehe, so mache sie da tagtäglich Fortschritte. „Daran“, Ida richtete sich kurz auf und hielt den Teller, den sie gerade gespült hatte, in der Hand, ohne ihn sofort abzulegen, „ist unser Rudolfchen maßgebend beteiligt.” „Gehe ich recht in der Annahme, dass euer englischer Gast hübsch ist?”, erwiderte Herta darauf und setzte noch hinzu, jetzt müsse sie sich aber wirklich sputen. Ihre Schritte entfernten sich in Richtung auf Frau Schultes Schlafzimmer, kamen rasch wieder näher, und dann steckte Herta den Kopf noch einmal zur Küchentür herein. „Lass mal, Helle, meinen Mantel finde ich auch allein, vom Weg einmal ganz zu schweigen. Ihr müsst sehen, dass ihr fertig werdet. Wenn sich’s einrichten lässt, schaue ich morgen für ein paar Minuten rein; deine Mutter hat’s mir vorgeschlagen. Vielleicht kann ich dann ja den Hermelin … was meinst du?” Sie wartete die Antwort jedoch nicht ab, und wenige Augenblicke später fiel unten die Haustür ins Schloss. Gleichzeitig läutete das Telefon, und da Helga der Überzeugung war, es 276 277 müsse sich um den Anruf von Feinkost Scherney handeln, den ihre Mutter erwartete, trocknete sie weiterhin Teller ab. „Hm”, machte sie nur, als die Klingel verstummte, ohne dass der Hörer abgenommen worden war, meinte aber, wenn die Sache wichtig sei, werde die Person am anderen Ende die Damen von der Telefonzentrale mit Sicherheit noch einmal bemühen. „Ottolein, deine Mutter sucht dich”, sagte Helga genau in dem Augenblick, als Luise von der anderen Seite her die Küche betrat und schon von der Speisekammer aus fragte, ob es denn heute Mittag nichts zu essen gäbe. Ida warf entsetzt einen Blick auf die Uhr, wischte die Hände an ihrer Schürze ab und rannte auf den Balkon hinaus, kehrte sofort mit einer großen Schüssel zurück und wiederholte mehrmals, es werde nicht lange dauern; sie habe den Reibekuchenteig in aller Herrgottsfrühe vorbereitet. Jemand solle bitte rasch den Tisch im Kinderzimmer decken, denn nur dort sei genügend Platz. Helga trug den Stapel sauberer Teller zu den Gläsern hinüber, damit keine Fettspritzer ihre Arbeit zunichte machten, und holte dann das Alltagsgeschirr aus dem Schrank, suchte aus einer Schublade Messer und Gabeln heraus und verschwand im sogenannten Kinderzimmer, wo sogar noch Stühle vorhanden waren, sorgte dafür, dass auch Rübenkraut, Apfelsaft und Selterswasser bereit standen und holte ein paar Scheiben Pumpernickel aus dem 278 Brotkasten. Mit halbem Ohr hörte sie abwechselnd Luises und Ottos Stimmen. So entrinnen jeder Stunde fügsam glückliche Geschäfte. Regen dir… „Segen dir”, brüllte Luise. „Segen! Was hat denn Regen mit einem Geburtstag zu tun?” Otto weinte. Sein Schluchzen drang bis ins Kinderzimmer. „Die ersten beiden Strophen gehen ja noch. Aber wie wir das bis morgen richtig hinbekommen sollen … Manchmal denke ich …” Als Helga gerade eingreifen wollte, vernahm sie Idas Stimme. „Nun mal ganz ehrlich, Luise, ich versteh Bahnhof. Das mit den Körnern, die jemand zählen will, geht ja noch, und der Goethe, der das geschrieben hat, wie du sagst, ist ja bestimmt ein großer deutscher Dichter. Aber unser Ottochen mit seinen neun Jahren, der ist einfach noch zu klein für so was. Auf dem 75. Geburtstag von meinem Opa hat das Päulchen auch einen Vers aufgesagt, der ging so: Gesundheit und Zufriedenheit nebst allem, was dich sonst erfreut, ein langes Leben obendrein 279 soll alles dir bescheret sein. Denkst du nicht, das täte es auch?” In die Stille hinein putzte sich jemand die Nase, dann ertönte Ottos befreites Lachen. Und während die Reibekuchen in der Pfanne spritzten, klingelte noch einmal das Telefon. Diesmal lief Helga sofort in die Garderobe hinüber und nahm den Hörer ab. „Fräulein Schulte? Ich habe hier Helga Meyer am Apparat; sie hat schon einmal versucht, Sie zu erreichen.” Es ging Helga durch den Kopf, der Zeitpunkt sei schlecht gewählt, aber natürlich bat sie die Telefonistin, die unten in der Büroetage mit Kopfhörern vor ihrem Steckbrett saß, sofort die Verbindung herzustellen. „Helga? Helle, ich muss dich unbedingt sehen. Ja ja, ich weiß schon, dein Vater wird morgen sechzig, und ihr habt bestimmt furchtbar viel zu tun. Aber …” Die Stimme der anderen Helga klang durch die Leitung fremd, ein wenig metallisch; doch trotz der ziemlich schlechten Verbindung spürte Helga, dass da etwas nicht in Ordnung war. So dachte sie kurz nach und meinte dann, Helga solle einfach vorbeikommen; sie selber werde ausschließich im Haus zu tun haben, und irgendjemand werde schon wissen, wo sie sich gerade aufhalte. „Was ist denn?”, erkundigte sie sich, ehrlich besorgt. „Das möchte ich am Telefon lieber nicht …” 280 Es hörte sich so an, als ob die andere Helga hinter vorgehaltener Hand spräche und sich nur mit Mühe zusammennähme. Deshalb sagte Helga ganz besonders deutlich, sie erwarte ihre Klassenkameradin und werde schon Zeit für sie finden. Obwohl die Uhr im Kinderzimmer bereits auf halb zwei zeigte, hatten Frau Schulte, Rudolf, Rosemary, Helga, Luise und Otto gerade erst die Stühle um den Tisch gerückt, und Helga hatte der erstaunten Rosemary gezeigt, wie man die Reibekuchen mit Rübenkraut bestrich, und dann auf Rudolfs Teller gewiesen. „Manche Leute legen noch eine Scheibe Pumpernickel darunter; so heißt dieses schwarze, etwas klebrige und ganz dünn geschnittene Brot”, ergänzte sie ihre Erklärung. „Otto, sei so lieb und hol das Schüsselchen mit Apfelmus aus der Speisekammer, ja? So mag ich Reibekuchen nämlich am liebsten.” Rosemary beäugte die flachen, knusprigen Plätzchen aus geriebenen Kartoffeln ungläubig. „Ich habe vorhin deutlich gesehen, wie Ida Salz in die Schüssel mit dem Teig gegeben hat”, meinte sie dann. „Und ihr esst diese Art von Pfannkuchen dann mit Sirup und Apfelkompott?” „Probieren geht über studieren”, sagte Frau Schulte und lächelte. „Nimm doch einmal einen Bissen, vielleicht zuerst am besten pur, dann wirst du sehen, ob du dich damit anfreunden 281 kannst. Die Kalbshaxe mit den Pflaumen und Birnen in der Tunke und den Klößen dazu hat dir doch auch geschmeckt.” „Und ich habe immer gedacht, nur die Inder und die Chinesen kochten süß-sauer”, begann Rosemary zunächst auf Deutsch, fuhr dann aber auf Englisch fort, als Herr Schulte das Zimmer betrat, wobei sie sich vor allem an Helga und Rudolf wandte. „Meine Eltern haben mich einmal mit in ein indisches Restaurant genommen, als wir in London waren; da gab es Hühnercurry, also Fleischstücke in einer ziemlich scharfen gelb-braunen Soße mit Gemüse und Rosinen darin. Obendrauf streut man geraspelte frische Kokosnuss.” Entgegen seiner Gewohnheit hatte Herr Schulte geschwiegen und sich nicht einmal sofort zu den anderen an den Tisch gesetzt, obwohl er doch sonst so großen Wert darauf legte, dass pünktlich gegessen wurde. Er schritt zwischen Tür und Fenster auf und ab und blieb erst stehen, als Rosemarys Worte verklungen waren. „Behr geht”, sagte er nur. Zu Helgas Überraschung fragte ihre Mutter nicht, ob dem Vertriebsleiter von einem Konkurrenten ein höheres Gehalt angeboten worden sei oder ob er sich räumlich verändern wolle; solche Begründungen für das Ausscheiden von Mitarbeitern waren in Gesprächen der Eltern schon mehrfach genannt worden. Aber dann fiel ihr die Szene ein, in die sie vorhin unten im Büro hineingeraten war und für die sie jetzt wohl eine Erklärung erhalten würde. „Er hat alle Papiere beieinander, auch diese Unbedenklichkeitsbescheinung, und es geht nur noch darum, ob Rosenthals ihn begleiten. Der Doktor ringt ja seit Längerem mit sich; ich habe ihn übrigens eben deswegen in seiner Praxis aufgesucht. Er sagt” – Herr Schulte sprach recht leise, aber seine Stimme klang ungewöhnlich scharf –, „dass er sich um seine Patienten wohl keine Sorgen zu machen braucht. Dabei hat er mich einen Blick in seine Kartei werfen lassen: zwanzig, wenn’s hoch kommt dreißig Einträge vielleicht. 1933, gleich nach diesem Boykott im April, haben sich die ersten einen neuen Hausarzt gesucht, und mit den Jahren ist sein Patientenkreis immer mehr geschrumpft.” Frau Schulte nickte. „Verstehen kann ich das schon. Die Kassen, sogar die privaten, erstatten ja seit Jahren keine Konsultationen bei jüdischen Ärzten mehr, und für viele Leute ist das dann eine Geldfrage, selbst wenn sie’s mit der NSDAP nicht im Sinn haben.” Es war Rosemary anzusehen, dass sie angestrengt versuchte, der Unterhaltung zu folgen; dann jedoch warf sie Helga einen hilfesuchenden Blick zu. Rudolf flüsterte ihr ins Ohr, er werde ihr nachher alles erklären, während sein Vater die Hände vor der Brust zusammenpresste. „Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass vieles von dem, was Rosenthal mir da vorhin berichtet hat, in meinem Gedächtnis nicht hängen geblieben ist, als die entsprechenden Gesetze und Verordnungen erlassen wurden. Ich hatte einfach 282 283 vergessen, dass ihm die wissenschaftliche und kollegiale Zusammenarbeit mit Nicht-Juden, sprich, mit Ärzten aus Hagen und Umgebung, die einen Ariernachweis in der Tasche tragen, schon lange verboten ist. Fortbildungsveranstaltungen im Ausland kann er auch nicht mehr besuchen. Aber über einige von den neueren Beschränkungen hatte ich mit ihm gesprochen, als er sich kürzlich Gedanken darüber machte, wer seine Praxis in ein paar Jahren übernehmen könnte: Jüdische Medizinstudenten dürfen ja keine Examina mehr ablegen, wenn sie überhaupt zum Studium zugelassen worden sind, und die Approbation verweigert man ihnen auch. Rosenthal selber … Er darf uns seit letztem Oktober eigentlich nicht mehr behandeln. Die Entscheidung, ob wir uns daran halten wollen, ist uns nur deshalb abgenommen worden, weil kein Mitglied unserer Familie auch nur ein Grippevirus angeschleppt hat.” Erst nach einer längeren Pause sprach Herr Schulte weiter. „Kurzum: Die meisten seiner jüdischen Patienten haben Hagen bereits verlassen – was soll er noch hier?” Helga starrte ihren Vater an, wie er mit beiden Hände die Lehne des Stuhls umklammerte, auf dem ihre Mutter saß. Dr. Rosenthal, dachte sie, doch nicht Dr. Rosenthal, der bei all ihren Kinderkrankheiten und auch der bösen Lungenentzündung vor dreizehn Jahren immer das Richtige zu tun gewusst hatte, damit sie rasch wieder gesund wurde, Dr. Rosenthal, der im Krieg den linken Arm verloren hatte, an dessen Schädel diese seltsame Operation vorgenommen worden war … und der ei- nen Orden für Tapferkeit vor dem Feind erhalten hatte, den er jedoch nie trug. „Ich nehme an, dass sie alle zusammen nach England auswandern werden, in eine Industriestadt namens Birmingham, wo andere Mitglieder der Familie Behr bereits Zuflucht gefunden haben. Noch sind sie ja finanziell so gut gestellt, dass einem Neuanfang dort nichts im Wege steht, obwohl diese Reichsfluchtsteuer ein ziemlich tiefes Loch in ihren Geldbeutel gerissen hat, offiziell fünfundzwanzig Prozent und unter dem Tisch … Unser guter Dr. Rosenthal ist zwar nicht mehr der Jüngste, aber aus anderen Emigranten könnte er vielleicht sogar noch einmal einen Patientenkreis aufbauen.” Rosemary hatte ganz offensichtlich zumindest Bruchstücke von Herrn Schultes Ausführungen verstanden, kräuselte aber die Stirn. „Reichs…? Mark Twain, der von Huckleberry Finn, hat in seinem Buch The Innocents Abroad geschrieben, dass die Deutschen aus lauter kurzen Wörtern furchtbar lange machen können. Was ist denn das?” „Ausnahmsweise keine Erfindung unserer jetzigen Regierung”, erwiderte Luise sofort. „Das hat sich ein früherer Reichskanzler, Heinrich Brüning, schon 1931 einfallen lassen, um der Kapitalflucht vorzubeugen – was das ist, verstehst du?” Rosemary nickte. 284 285 „Aber diese Verordnung kam den neuen Machthabern mehr als gelegen, zumal sie genau die Bevölkerungsgruppe trifft, mit der sie’s nicht so haben, um es einmal unverbindlich auszudrücken.” Dann verstummte auch Luise und starrte genau wie Frau Schulte, Helga und Rudolf vor sich hin. Das hatte also Herr Behr, der immer noch unverheiratete, elegante Herr Behr mit seinem Mercedes Kabriolett, Fräulein Dahm vorhin mitgeteilt, und deswegen war sie so erregt gewesen. Früher, erinnerte sich Helga, hatte Ida ihr gegenüber die Vermutung geäußert, Fräulein Dahm ,hätte es auf ihn abgesehen’, wie sie es nannte, eine Vorstellung, die Helga immer weit von sich gewiesen hatte, weil die Prokuristin doch mindestens fünf, wenn nicht zehn Jahre älter sein musste als der Vertriebsleiter; aber dass sie gut miteinander auskamen, daran bestand kein Zweifel. „In Birmingham”, sagte Rosemary plötzlich ein wenig zögernd auf Deutsch in die Stille hinein, „war ich schon einmal. Es ist eigentlich auch nicht viel hässlicher als Eckesey.” Niemand lachte. Rudolf fragte fast gleichzeitig, wen seine Eltern denn zum neuen Hausarzt erkoren hätten, worauf Luise ihren Stuhl so heftig zurückstieß, dass er fast umfiel, und mit beißender Schärfe in der Stimme verkündete, sie würde allzu gern eine ihrer ehemaligen, mittlerweile promovierten Klassenkameradinnen vorschlagen, wenn die nicht auch seit 1935 eine nach der anderen ihre Kassenzulassung verlören – Frauen seien ja nicht fähig, logisch und sachlich zu denken, sondern fänden ihre Erfüllung in einem Dasein als Hausfrau und Mutter. Ihr Vater starrte sie ungläubig an, während Frau Schulte gedankenverloren den Kopf schüttelte und meinte, da würden sie ja am morgigen Tag nicht nur Geburtstag, sondern auch Abschied feiern. 286 287 „Ist Sophie noch nicht da?” Karl warf einen Blick auf den Küchentisch, wo Helga gerade dabei war, winzige Salzfässchen aus Kristall zu füllen und deren silbernen Deckel blank zu putzen. „Tut mir leid, dass ich nicht helfen kann, aber der Betrieb muss weiterlaufen, Geburtstag hin oder her. Sie sind ja wohl eher von der dekorativen Sorte, diese Dinger, zumal sich die Löcher rasch verstopfen.” „Deswegen tun wir ja auch immer ein paar Reiskörner hinein”, meinte Ida etwas spitz. „Vielleicht könnte mir trotzdem jemand Bescheid geben, wenn Sophie …” Es läutete an der Haustür. „Das wird die andere Helga sein”, sagte Helga und sprang auf. „Helga Meyer, dieser bildhübsche Rotschopf mit den grünen Augen?” Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu, allerdings nur mit Ida als Zuhörerin, er sei der Überzeugung gewesen, Meyers hätten Hagen längst verlassen; er interessiere sich freilich auch nur am Rande für Damenoberbekleidung. Dann wartete er, bis er die beiden Helgas auf dem Flur leise sprechen hörte, und ging so langsam auf die Verbindungstür zum Betrieb zu, dass sie ihn trotz des Halbdunkels wahrnehmen mussten. „Lange nicht gesehen”, sagte Karl, und seine Stimme klang betont fröhlich. „Wie geht’s, wie steht’s?” Mit einer raschen Bewegung drehte seine Schwester das Licht an, und Karl verstummte, als er Helga Meyer dicht vor sich erblickte. Wie immer trug sie Hut und Handschuhe, aber sie wirkte so verstört, dass Karl seine Selbstsicherheit als Juniorchef und Familienvater verlor und dann etwas tat, was es Helga warm ums Herz werden ließ: Er zog ein Taschentuch aus seinem weißen Kittel und wischte damit ganz behutsam die Tränen von Helga Meyers Gesicht. Ohne ein Wort öffnete er die Tür und schloss sie so rasch wieder, dass nur sehr kurz das Geratter der Bonbonwickelmaschinen in die Wohnung drang. Helga schoss auf einmal der Gedanke durch den Kopf, dass ihre ehemalige Klassenkameradin gekommen sei, sich zu verabschieden. Überrascht hätte sie das nicht, denn als sie in den ersten Tagen nach ihrer Rückkehr aus England Rosemary die Innenstadt gezeigt hatte, war ihr aufgefallen, dass von den Schildern am Konfektionshaus Lampe jetzt sogar der Zusatz ,vormals Löwenstein’ verschwunden war, und in den Zeitungsanzeigen stand auch nichts mehr von ,rein arisch’ zu lesen. Das, so hatte Luise ihr erklärt, als sie in Begleitung von Rosemary ihr Patenkind Kathrine nach einer Kuchenschlacht im Café Tigges wieder zu Hause abgeliefert hatte, sei von Herrn Dr. Goebbels so verfügt worden. Löwensteins …, hatte Luise noch hinzugefügt, es sei so, als hätte es sie nie gegeben. Dabei habe Hermann Löwenstein im Weltkrieg das Eiserne Kreuz erster Klasse verliehen bekommen und sei später sogar für das Vaterland gestorben. Das Modehaus Meyer war allerdings noch geöffnet, und so hatte sich Helga um das Schicksal der anderen Helga keine Sorgen gemacht; sie würde sich schon melden. „Dass mir ausgerechnet dein Bruder Karl über den Weg läuft …”, murmelte Helga Meyer gerade. Helga runzelte die Stirn und war versucht, den Satz so zu verstehen, wie sie auch Karls Bemerkung vorhin aufgefasst hatte: Die beiden seien einem Flirt nicht abgeneigt. Als sie sich bei der anderen Helga dafür entschuldigt hatte, dass sie ihr nicht einmal einen Stuhl anbieten könne, weil Rudolf alle vorzeigbaren Sitzgelegenheiten in die drei Salons getragen hatte, und die andere Helga traurig, aber doch immerhin schon ohne Tränen in den Augen gemeint hatte, es gebe kaum etwas, das sie weniger störe, wurde sie jedoch eines Besseren belehrt. „Erinnerst du dich noch?”, sagte die andere Helga vor sich hin. „Wie lange das her ist, weiß ich nicht, aber die Szene sehe ich noch so genau vor mir, als ob sie sich heute abspielte. Ilse Fandrey, Hildegard Blankenstein, du und ich waren auf dem Weg in die Innenstadt; ein PKW rauschte an uns vorüber, verlangsamte die Fahrt ein wenig, beschleunigte dann wieder, und 288 289 ihr beiden, Hildegard und du, habt gleichzeitig gesagt, dass in dem Wagen dein Bruder Karl säße mit einem Mädchen namens Sophie, Sophie Winterhoff damals, und du hast erklärt, deine Eltern sähen ihre Verbindung zu Karl nicht gern, weil sie katholisch sei. Weißt du noch?” Helga nickte, ohne auch nur zu ahnen, weshalb ihre Schulfreundin diese Geschichte ausgerechnet jetzt hervorkramte. „Natürlich”, meinte sie deshalb etwas unsicher und versuchte, einen Bezug zur Gegenwart herzustellen. „Was mich persönlich mehr gestört hat, war eigentlich, dass Karl … er wollte ja unbedingt ein Mädchen mit langen, blonden Haaren heiraten, und die hatte ich nun einmal nicht … Du verstehst schon: Ich dachte, ich sei ihm nicht recht. Aber” – sie richtete sich auf und sah die andere Helga an – „Sophie und Karl haben dann doch geheiratet, obwohl meine Eltern sich wohl eine evangelische Schwiegertochter gewünscht hätten, und als das Diezchen geboren und von Pastor Ackermann getauft wurde, haben sie ihre Einstellung doch ziemlich geändert. Meine Mutter kommt mit Sophie sogar ganz gut zurecht … Aber nun sag einmal … Hast du dich …” Die andere Helga saß mit ausgestreckten Beinen auf dem Teppich vor Helgas Bett und verschränkte die Arme vor der Brust, wobei sie zunächst nichts erwiderte, sondern auf ihre Fußspitzen starrte. Als vom Balkon her ein Geräusch zu ihnen hineindrang, aus dem Helga schloss, dass ihr Bruder Rudolf sich nun doch um die Zinnwannen für das Stangeneis geküm- mert hatte, hob die andere Helga den Kopf und lieferte nach und nach die Erklärung für ihren Besuch. „Ernst ist evangelisch, ich bin Jüdin; deswegen musste ich an Karl und Sophie denken, obwohl ...” – die andere Helga sprach etwas lauter, aber schleppend –, „obwohl sich bei ihnen noch eine Lösung finden ließ.” Helga hatte eigentlich nur den ersten Teil des Satzes mitbekommen und fuhr leicht zusammen. Da ihr im Laufe des Vormittags mehrfach durch den Kopf gegangen war, dass sie am nächsten Morgen mit Sicherheit dem Vater von Ernst Herberts würde gegenübertreten müssen, stellte sich bei der Nennung des Namens sofort der Gedanke ein, es handle sich um ihren ehemaligen Verehrer. Während die andere Helga sie abwartend und etwas überrascht anschaute, schob sie die Idee jedoch beiseite: Ernst hießen so viele Männer, von Fräulein Dahms gefallenem Verlobten über einen ihrer Lieblingsschriftsteller, Ernst Wiechert, bis zu dem ermordeten SA-Führer Röhm. „Ach, entschuldige”, sagte die andere Helga dann. „Ich habe dir, glaube ich, nur einmal etwas angedeutet in einem Brief nach England. Weihnachten war ich ja mit meinen Eltern zum Skilaufen auf unserer Hütte in Winterberg; deshalb haben wir uns bei deinem kurzen Besuch zu Hause nicht sehen können. Ernst ist der Sohn eines der bekanntesten Steuerberater von Hagen; wenn ich mich nicht sehr irre, kennt dein Vater seinen Vater aus der Loge – so etwas hat er jedenfalls verlauten lassen. Getroffen haben wir uns, weil ... weil Herr Herberts 290 291 senior sich auf Anhieb bereit erklärt hat, sich um die Angelegenheiten meines Vaters zu kümmern, ohne ... sich herauszureden oder zuerst Ja zu sagen und den Auftrag dann wenig später von seiner Sekretärin ablehnen zu lassen, so nach der Art ,Arbeitsanfall nicht richtig eingeschätzt, tut uns unendlich leid, mit tiefstem Bedauern’. Er hat also seinen Sohn geschickt, um mit meinem Vater und dem Buchhalter die Steuerunterlagen durchzugehen, und wir sind uns im Kontor begegnet; du weißt ja, dass ich im Einkauf tätig bin, oder? So einfach war das.” Während Helga fieberhaft überlegte, ob Ernst Herberts ihrer ehemaligen Klassenkameradin erzählt hätte, wie weit sie selber vor zwei Jahren in seine Zukunftspläne einbezogen worden war, spielte die andere Helga mit ihren Handschuhen herum und meinte schließlich, jetzt wisse sie nicht, was sie tun solle. Nach einer langen Pause fuhr sie fort, Ernst und sie hätten vor zu heiraten. In Deutschland sei das jedoch nicht möglich, wie Helga ja sogar in der Schweiz oder in England zu Ohren gekommen sein werde. Zudem sei Ernst bereits von einigen Kunden seines Vaters auf seine Beziehung zu einer Jüdin angesprochen worden. Herr Herberts senior reagiere auf solche Bemerkungen eher humorvoll, sage zum Beispiel, dahinter stecke wohl pure Eifersucht, denn nicht jeder könne ein so apartes Geschöpf quasi sein Eigen nennen. Aber gestern habe er sie doch beide in sein Büro gebeten und ihnen nahe gelegt, die Situation gründlich zu durchdenken. Wenn es ihnen … ernst sei – die andere Helga lachte ziemlich bitter –, sollten sie sogar in Erwägung ziehen, Deutschland zu verlassen und die Ehe im Ausland zu schließen. „Was soll ich bloß tun?” Seitdem Helga aus den Worten der anderen Helga herausgehört hatte, dass ihr Name von Ernst Herberts nicht erwähnt worden war, spürte sie Erleichterung und gleichzeitig die Bereitschaft, ihrer Schulkameradin zu helfen. „Und deine Eltern – was sagen die dazu?” „Zuerst haben sie die Sache auf die leichte Schulter genommen ... Ein junger Mann mehr, einer weniger ... Dann waren sie recht angetan, bis sie merkten, dass all diese Gesetze nicht nur auf dem Papier stehen. Und jetzt … jetzt überlegen sie hin und her. Ernsts Eltern haben ihnen vor Kurzem ziemlich deutlich zu verstehen gegeben, es sei keine schlechte Idee, das Geschäft hier zu verkaufen, solange man dafür überhaupt noch einen halbwegs angemessenen Preis erzielen könne, und woanders neu anzufangen, in Frankreich zum Beispiel. Aber mein Vater will nicht. Dass die großen Kaufhäuser, Löwenstein zum Beispiel, längst in arische Hände übergegangen sind, stört ihn nicht. Den kleineren, meint er, wird man nichts tun.” Helga dachte angestrengt nach und wog verschiedene Möglichkeiten laut gegeneinander ab. „Ernst und du, ihr könnt natürlich nicht einfach in irgendein Land auswandern, selbst wenn man euch über die Grenze lässt. Mit Geld vermag man da immer noch so ziemlich alle Hindernisse aus dem Weg zu räumen ... insbesondere, wenn man nur 292 293 einen normalen Reisekoffer mitnimmt. Aber Ernst muss doch arbeiten können, ich meine, er hat schließlich Betriebswirtschaft studiert und ist jetzt Steuerberater.” Sie biss sich auf die Lippen, doch die andere Helga schien sich nicht darüber zu wundern, dass ihrem Gegenüber bekannt war, welche Ausbildung Ernst Herberts durchlaufen hatte. „Ihr könntet es in der Schweiz probieren. Oder wie wäre es mit Frankreich, gleich hinter der Grenze, im Elsass zum Beispiel, wo die Bewohner größtenteils Deutsch sprechen oder zumindest verstehen?” Die andere Helga hob den Kopf und lächelte zum ersten Mal. „Ja, das wäre etwas ! Ernst hat gleich an Südafrika gedacht oder auch an Australien. Aber das ... das liegt alles so furchtbar weit weg. Da kennen wir ja niemanden, und selbst, wenn wir beide uns im Englischen ziemlich sicher fühlen ... Wie soll ich’s ausdrücken? Es hat etwas zu tun mit Heimat und Muttersprache. Ich werde gleich einmal bei Ernst vorbeischauen!” Die andere Helga richtete sich auf und atmete einmal tief ein. „Und du”, fragte sie dann fast heiter, „wie geht es dir? Wie war’s in England? Was du dir überhaupt so zusammenreist!” Helga wollte gerade antworten, als die Tür zu ihrem Zimmer aufgestoßen wurde und zwei kleine Jungen hereinstürmten. „Gestatten”, sagte Helga, „Otto Rellinghaus junior, der Sohn meiner Schwester Luise, und Dietrich Schulte, genannte Diezchen, der Sohn von Karl und Sophie. Otto, da bin ich sicher, kann inzwischen sein Gedicht auswendig, und Diezchen braucht noch keins zu lernen; er ist nämlich erst drei Jahre alt. Aber dir, lieber Otto, hat deine Mutter gewiss längst beigebracht, dass man anklopft?” In diesem Augenblick steckte Sophie ihren schwarzen, frisch dauergewellten Bubikopf durch die Öffnung und entschuldigte sich etwas verlegen für das Verhalten der beiden Kinder. „Zu Hause benimmt Diezchen sich viel besser”, meinte sie. „Aber sobald er mit seinem Vetter zusammen ist, gerät er außer Rand und Band. Freut mich, Sie zu sehen – Sie müssen Helga Meyer sein, nicht wahr? Wir verkehren nicht in denselben Kreisen – ich meine, Sie sind ja um so vieles jünger als Karl und ich, aber manchmal fällt Ihr Name doch.” Helga wurde nicht so recht schlau daraus, was Sophie eigentlich zum Ausdruck bringen wollte: Missbilligung, Eifersucht? Da setzte Sophie jedoch schon hinzu, sie sei Rudolf und Rosemary unterwegs begegnet; die beiden ließen ihr ausrichten: Stichwort Aquarium, weiter nichts. Während Helga sich nicht entscheiden konnte, ob sie nun lachen oder sich ärgern sollte, weil Rudolf doch mit Sicherheit weder die Sektflaschen ausgepackt noch Wein aus dem Keller nach oben getragen hatte, erzählte sie die Geschichte mit Idas Goldfisch, der auf dem Bügelbrett gelandet war, noch einmal und bat Sophie dann, sich auf die Suche nach Karl zu machen, der vor einer Stunde 294 295 nach ihr Ausschau gehalten habe. Sie vermute, es habe etwas mit seinem Einberufungsbescheid zu tun. Sobald Sophie den Raum verlassen hatte, holte die andere Helga noch einmal tief Luft, schluckte das, was sie wohl hatte sagen wollen, herunter und erhob sich. „So eine Freundin wie dich ...”, hob sie an, verstummte aber wieder. „Ich würde dich so gern zu unserer Hochzeit einladen, wann und wo auch immer sie stattfindet. Aber wenn ich die Lage richtig einschätze, werden wir jeder für sich Deutschland den Rücken kehren und uns die Trauzeugen von der Straße holen müssen ... Und am einfachsten ginge das Ganze wohl in Gretna Green vonstatten, weißt du, in dieser schottischen Schmiede.” Sie waren beide sehr ernst geworden. Helga dachte kurz, dass sie die andere Helga eigentlich immer für ziemlich oberflächlich gehalten hatte, für einen netten Kerl, wie man so sagte, aber halt jemanden, der sich nie an tiefer gehenden Gesprächen, zum Beispiel an den Diskussionen im Deutschunterricht und an Wortgefechten politischer Art, beteiligt hatte. Es kam ihr so vor, als sei da eine grundgehende Veränderung eingetreten, und diese neue Helga hätte sie gern weiterhin in ihrer Nähe gewusst. Die beiden schlossen sich in die Arme, drückten sich so fest, dass es schmerzte, und plötzlich schluchzte Helga. „Du heißt doch Helga wie ich, Meyer noch dazu – dein Familienname kommt in Deutschland mindestens so häufig vor wie Schulte, und trotzdem ...” Da zupfte Diezchen hinten an ihrem Rock. Die Jungen! Sie mussten sich irgendwo im Zimmer versteckt haben, und natürlich hatte Helga ihre Anwesenheit völlig vergessen. „Nist weinen”, lispelte Diezchen, und Otto murmelte, während er von einem Bein aufs andere trat: Gesundheit und Zufriedenheit und alles, was dich sonst erfreut ... 296 297 „Gut, dass du kommst!”, sagte Ida. „Was habt ihr denn ausgerechnet heute so lange bekakeln müssen? Die gnädige ... ist nämlich eben hier durchgerauscht und hat gefragt, ob wir auch an Kuchenteller gedacht hätten; sie sagte irgendwas von einer Riesengeburtstagstorte, die Café Tigges im Laufe des Vormittags liefern soll. Ob denn jemand so lange bleibt? Nun ja, man kann nie wissen. Bloß gut, dass Scherneys die Kellner mitbringen und noch dazu wen zum Abwaschen!” Helga hatte, schon während sie wieder in die Wohnung hinaufstieg, hin und her überlegt, was sie Ida vom Besuch der anderen Helga erzählen sollte. Aber dann gab sie sich einen Ruck: Früher oder später würde Ida von der Geschichte erfahren, und dass ihr Bruder Erich Mitglied der SA war, hatte auf sie bisher ganz offensichtlich nicht abgefärbt. Als sie ein mit goldberandeten Tellerchen beladenes Tablett vorsichtig auf dem jetzt fast leeren Küchentisch abgesetzt hatte, meinte sie zu Ida, Helga Meyer habe kurz vorbeigeschaut, um ihr mitzuteilen, dass sie sich mit Ernst Herberts verlobt hätte. Ida, die gerade wieder einmal frisches Wasser einlaufen ließ, kehrte Helga zunächst weiterhin den Rücken zu. Nachdem sie den Hahn zugedreht hatte, setzte sie den ersten Tellerstapel behutsam ins Spülbecken. „So, der Herr Berts“, meinte sie dann bedächtig und fügte zu Helgas Überraschung hinzu, das sei ein anständiger Kerl, aber nicht der richtige Mann für sie, das Helleken. „Wenn ich das mal so sagen darf: Ein bisschen langweilig ist er schon. Weißt du noch – der Paule? Wie der unten im Lager pfiff, dass man’s bis hier hoch hörte? Wie er die Mädchen in den Po zwickte? Trotzdem war er treu wie Gold ...” Ida starrte auf die Wand, und Helga wartete geduldig darauf, dass sie weitersprach. „Du brauchst jemanden, der auf dich zugeht, einen Mann ... eher eine Frohnatur, wenn du verstehst, was ich meine. Und der Herr Berts, bei dem ist es genauso. Zwei stille Wasser, dabei kommt nichts raus; aber das Fräulein Meyer ... Ich seh sie noch vor mir, auf deinem Geburtstag damals, wie sie den Mut aufgebracht hat zu fragen, ob sie den Betrieb besichtigen könnte. Hättest du dich das getraut, sei mal ehrlich? Das Fräulein Meyer wird ihn auf Trab bringen, den Herrn Berts.” Währenddessen legte Ida Teller um Teller auf dem immer noch mit Tüchern bedeckten Ablauf des Spülbeckens ab, Helga trocknete sie behutsam und wollte gerade fragen, ob das Kaffeegeschirr auch auf den zusammengerückten Tischen im Zimmer ihres Vaters seinen Platz finden solle, als Ida sehr be- stimmt erklärte, die beiden müssten sich aber beeilen; ihr Opa ... Bevor Helga sich erkundigen konnte, was dem uralten Bauer Effenkamp denn jetzt wieder zu Ohren gekommen sei, betrat Luise mit raschen Schritten die Küche, dicht gefolgt von Frau Schulte. „Wie wär’s mit einer Kaffeepause? Für Sophie mach ich Tee, wie der Arzt es ihr wohl empfohlen hat. Wird morgen schwierig werden für unsere zukünftige Mutter. Die Herren paffen doch fast alle wie die Schlote, und davor soll der Doktor sie besonders gewarnt haben. Hat einer von euch übrigens schon mal was von ,passivem Rauchen’ gehört? Ich ja nicht, aber Otto, genauer: einer von seinen Korpsbrüdern aus Berlin, hat da so einen Artikel gelesen – wissenschaftlich festgestellt und nachgewiesen von Forschern in einem deutschen Labor, an Ratten, glaube ich. Soll äußerst schädlich sein.” Luise hatte den Wasserkessel aufgesetzt, Kanne und Filter vorbereitet und sogar schon Löffelchen auf die Untertassen gelegt. „Wo bloß Otto bleibt? Er wollte mit Kathrine unser gemeinsames Geschenk bei Goldschmieds abholen und das Kind gegen drei Uhr hier abliefern, bevor er zu einer Sitzung weiterfährt. War das übrigens Helga Meyer, die eben das Haus verlassen hat?” Luise zog eine Zigarette aus der flachen Schachtel in ihrer Jackentasche und meinte, hoffentlich habe niemand etwas da- 298 299 gegen, dass sie eine anzünde; sonst werde sie halt kurz auf den Balkon flüchten. „Apropos Schwangerschaft: Ich soll euch alle schön von Else Dennersmann, geborene Landwehr, grüßen. Ihr geht es bestens, einmal abgesehen davon, dass in ihrer Schule montags und freitags das Horst-Wessel-Lied gesungen werden muss … wodurch doch wertvolle Unterrichtszeit verloren geht”, fügte sie ironisch hinzu. „Das ist aber noch gar nichts. Eine Studienfreundin hat ihr berichtet – ach ja, sie ist an einer katholischen Privatschule in Menden tätig und fragt sich jedesmal beim Aufstehen, wie lange noch, denn mit einer bestimmten Art von Religion hält’s unsere Regierung ja nicht so –, kurzum, sie müssen da vor und nach dem Beten ,Heil Hitler’ sagen, was vermutlich der Gesundheit des Geistes zuträglich sein soll. Nach dem, was Rudolf erzählt, wird jetzt ja sehr viel mehr Wert als früher auf die körperliche Ertüchtigung gelegt, sie haben’s in den neuen Lehrplänen mit in corpore sano oder wie das heißt. Eine positive Nebenwirkung hat das natürlich auch: Die Herren Unteroffiziere in den Kasernen sehen dann nicht mehr lauter schlaffe Mehlsäcke vor sich.” Weder Frau Schulte noch Ida gingen auf Luises bissige Äußerungen ein. Nur Helga meinte nach einer Weile, wenn sie es auch selber nicht bedauere, mit Französisch als erster Fremdsprache begonnen zu haben, so habe sie doch nichts dagegen, dass nach ebendiesen neuen Richtlinien Englisch ab Sexta verbindlich sei. Luise blickte ihre jüngere Schwester zu deren Überraschung sehr liebevoll an. „Dir gelingt es, auch in der grauesten Asche einen goldenen Funken zu finden, Helle. Aber meinst du nicht, dass unsere französischen Nachbarn diese Änderung als Affront empfinden? Natürlich ist Englisch eine Weltsprache, und unser Reichskanzler hofiert Großbritannien ja unverhohlen. Es schmerzt ihn gewiss in tiefster Brust, dass er nicht an der Krönung des neuen Königs teilnehmen wird – Georg VI., nicht wahr, obwohl er eigentlich auf den Namen Albert getauft sein soll. Jedenfalls kann ich mir nicht vorstellen, dass die Engländer unser Staatsoberhaupt zu den Feierlichkeiten gebeten haben. Ich werde einmal diesen reizenden ...” Helga war rot geworden. Bei all den Vorbereitungen durchzuckte sie nämlich immer wieder die Vorfreude darauf, am nächsten Tag Alfred Barker gegenüber zu stehen. Erinnerungen stellten sich von selber ein, an sein unbeschwertes Lachen, an die Walzerschritte bei Butlin’s, an die zahllosen Spaziergänge später, bei denen manchmal kaum Worte gewechselt worden waren. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie sich beschützt, nicht bevormundet gefühlt. Vor allem eine Szene würde sie wohl nie vergessen, die sich kurz vor ihrer Rückkehr nach Deutschland abgespielt hatte. Es war ihr unumgänglich erschienen, Alfred wissen zu lassen, dass sie keine Jungfrau mehr sei. Zu ihrer grenzenlosen Erleichterung hatte er mit einem hinreichend ernsten Gesicht erwidert, er selber auch nicht, 300 301 einmal abgesehen davon, dass sein Geburtstag in die ersten Septembertage falle. Keiner der Anwesenden schenkte indessen Helgas veränderter Gesichtsfarbe oder ihrem Schweigen Aufmerksamkeit, denn in diesem Augenblick trippelte Kathrine an der Hand ihres Vaters in die Küche. Beide sahen so aus, als ob sie frören, und Luise runzelte die Stirn, während sie ihre Zigarette ausdrückte. „Guten Tag, Schwiegermutter” – er beugte sich zu Frau Schulte hinunter und deutete einen Handkuss an –, „Helga, Ida. Hier sind zuerst einmal Uhr und Kette. Seid nun so freundlich und gebt Kathrine etwas Warmes zu trinken; eine Tasse Schokolade wäre gut. Und ich bitte euch, Luise für ein paar Minuten zu entschuldigen.” Dabei führte er seine Frau schon aus der Küche hinaus. Während Ida sofort Milch in einem kleinen Topf erwärmte, kniete Helga sich vor ihrem Patenkind auf den Boden und öffnete nacheinander die Mantelknöpfe. „Tante Helga”, fragte Kathrine nach einer Weile, „was ist das, ein Judenlümmel?” In die Stille hinein meinte Ida laut und deutlich: „Hab ich’s doch gesagt!” Idas Goldfisch schwamm zwischen Grünpflanzen in dem neuen Aquarium, das Rosemary und Rudolf in der Stadt besorgt hatten. Der Küchentisch, die ganze Küche wirkte so leer 302 wie an normalen Wochentagen, einmal abgesehen von den Trockentüchern, die Ida für die Spülmädchen aus dem Schrank herausgeholt hatte. Unter dem Vordach auf dem Balkon standen Weinflaschen, nach Herkunftsort und Jahrgang geordnet; neben den Zinnwannen hatte Rudolf dann doch noch den Sekt aufgebaut und versprochen, ihn am nächsten Morgen auf Eis zu legen, sobald die Stangen geliefert worden wären. Im Zimmer von Herrn Schulte blitzten Wein- und Sektgläser sowie ein paar Branntweinschwenker im Licht der Decken- und Stehlampen; Karl würde die Kellner von Feinkost Scherney einweisen und ihnen auch die Silbertabletts zeigen, die sie zum Servieren benutzen sollten. Sophie hatte es übernommen, den Aufbau des Buffets sowie später die Verteilung der Teller und des Bestecks zu überwachen, weil in diesem Raum, so meinte sie jedenfalls, doch bestimmt nicht geraucht werden würde. Das Kaffeegeschirr war letztlich doch auf einem Tischchen im hintersten der drei Salons untergebracht worden, und Ida hatte gemeinsam mit Frau Schulte und Magda Dennersmann eine Lösung für die Frage gefunden, wie so viel Kaffee auf einmal gekocht oder zumindest trinkwarm gehalten werden könnte. Die Zuckerdosen waren gefüllt, Öffner für die Kondensmilch aus einer Schublade herausgesucht und neben die Kännchen gelegt worden, und es war auch beschlossen worden, dass die Kaffeebohnen, echte wohlgemerkt, erst am nächsten Morgen von Ida gemahlen werden würden. 303 Nach einem letzten Rundgang hatte sich Frau Schulte in einen der Sessel fallen lassen und Rudolf gebeten, doch für sie alle schon einmal eine Flasche von dem Henkell Trocken zu öffnen. „Warm wird er ja nicht gerade sein, bei den Temperaturen, die uns dieser April bislang beschert hat”, lachte sie. „Ja, Ida, du trinkst auch ein Glas mit, und wenn du hundertmal darauf bestehst, sogar an einem solchen Tag pünktlich das Abendessen auf den Tisch zu bringen.” Es klingelte noch einmal an der Haustür. Alle außer Rosemary, die dicht neben Rudolf auf einem Schemel mit PetitPoint-Stickerei hockte, blickten erstaunt auf irgendeine Uhr. Die Läden waren um diese Zeit bereits geschlossen; Blumen konnten also nicht mehr geliefert werden. Helga, die mit Kathrine als letzte den Raum betreten hatte, meinte, das erledige sie schon, und sprang die Treppe hinunter, von dem kleinen Mädchen gefolgt. Sie hörte gerade noch, dass oben in der Wohnung das Telefon läutete und ihre Mutter in den Apparat brüllte. Helga öffnete die Tür einen Spalt breit und musterte die uniformierte Frau, die einen Umschlag in der Hand hielt. „Schulte … ich bin doch hier richtig bei Schulte?” Helga nickte. „Telegramm”, sagte die Frau und streckte ihr den Umschlag entgegen, worauf Helga lächelte und der Postbotin eine Münze aus dem Silberschälchen hinter sich reichte. „Das dürfen Sie doch annehmen, oder hätten Sie lieber Süßigkeiten?” „Ich habe drei kleine Kinder”, erwiderte die Frau und warf einen Blick auf Kathrine, die sie neugierig beäugte. Helga lachte und griff in den Korb mit den abgepackten Bonbons. „Die sind für Ihre Kinder, da können sie mit uns feiern. Mein Vater wird morgen sechzig.” Sie bedankte sich noch einmal und schloss die Tür, während die Frau die Münze noch in der Hand drehte. Als Helga und ihr Patenkind die erste Etage erreichten, legte ihre Mutter gerade den Hörer auf und schlug den Rückweg in den Salon ein, den die beiden durch die andere Tür betraten. „Stellt euch vor”, sagte Frau Schulte ein wenig außer Atem, „so eine Überraschung aber auch! Das war doch tatsächlich Eugen Blankenstein aus New York. Er hat das Gespräch schon seit Tagen angemeldet, weil er sicher sein wollte, dass er auch durchkäme. Natürlich hoffte er, Vater persönlich gratulieren zu können. Normalerweise wäre er ja auch um diese Zeit längst zurück, aber ausgerechnet heute ... Sie sitzen ja seit Stunden unten im Büro, Helene Dahm, der Vater und Behr.” Frau Schulte senkte kurz den Kopf und heftete den Blick dann auf Helga, die ganz offensichtlich ihre Aufmerksamkeit den Blasen in ihrem Sektglas zuwendete. „Natürlich soll ich euch alle grüßen, auch von Tante Blankenstein, Hildegard und Fritz.” 304 305 Die Mitteilung, Fritz habe Anfang des Monats geheiratet, brachte sie rasch und leise vor und fügte langsamer hinzu, Hildegard gebe Mitte Mai ihr erstes Konzert als Solistin, mit einem Orchester aus Cleveland; wenn sie es richtig verstanden habe, spielten sie das zweite Violinkonzert von Mendelssohn. „Sie haben sich selbstverständlich erkundigt, was ihr macht”, lächelte sie dann, „und damit es nicht zu teuer wird, habe ich Onkel Eugen rasch erzählt, dass Karl zum zweiten Mal Vater wird und seinen Militärdienst leisten muss, Rudolf bald sein Abitur ablegen wird, Helga sich für eine Ausbildung als Schwesternhelferin angemeldet hat und Luise ... Wo steckt Luise übrigens? Unseren englischen Gast habe ich auch erwähnt und dass es Helga bei den Summers sehr gut gefallen hat.” Helga hielt das Telegramm noch immer in der Hand, legte es aber in die Silberschale mit den Glückwunschkarten, als Luise und Otto Rellinghaus hinter ihr den Raum betraten. Otto junior und Diezchen nahmen wohl unter Sophies Aufsicht im Kinderzimmer ihr Abendessen ein; jedenfalls waren ihre Stimmen durch die offenen Türen zu hören, und Ida hantierte wieder in der Küche. „Kathrine und ich sind vorhin Zeugen eines Zwischenfalls geworden”, sagte Otto Rellinghaus. „Mit welchem Eigenschaftswort ich ihn bezeichnen könnte, überlege ich mir seitdem vergeblich. Ich schildere ihn kurz: Eine Horde von SAMännern zog die Elberfelder Straße hinunter, wo wir ja bei Goldschmieds die Uhr für den Schwiegervater abholen wollten. Ich hielt die Ladentür offen für ein Paar, welches das Geschäft gerade verließ. Genau in dem Augenblick blieb einer der SAMänner stehen, musterte die junge Frau – sie war so blond und blauäugig, wie man es nur sein kann –, spuckte ihrem Begleiter ins Gesicht, brüllte ,Judenlümmel’ und erging sich auch sonst in unflätigen Bemerkungen. Zu meiner Überraschung zog der junge Mann einen Reisepass aus der Tasche und wies sich als Italiener aus.” Otto Rellinghaus schwieg, holte ein Zigarettenetui aus der Tasche und gab, nachdem Frau Schulte genickt hatte, Luise Feuer, bevor er selber einen tiefen Zug nahm. „Zum Ersten”, meinte er dann. „Jeglichen Kommentar erspare ich uns, nicht wahr? Aber ich erlaube mir, noch eine zweite Nachricht hinzuzufügen. Einer meiner ältesten Freunde in München ist festgenommen und auf ... äußerst unsanfte Weise verhört worden, weil er jemandem beim Warten in einer Kinoschlange einen Witz über die vielen Ersatzstoffe erzählt hat, die in letzter Zeit von der Forschung anstelle der Originalprodukte entwickelt worden sind. Einzelheiten tun nichts zur Sache. Aber dass er von einem Unbekannten bei der Geheimen Staatspolizei angezeigt wurde, das gibt uns doch zu denken.” Während Rudolf, so gut er es vermochte, Rosemary die Übersetzung ins Ohr flüsterte und dabei den Arm um sie legte, setzte Frau Schulte zu einer Antwort an. 306 307 „Dass es so kommen würde, hatte ich, um ehrlich zu sein, nicht vorausgesehen. Ich war froh, Otto, dass die Arbeitslosen von den Straßen verschwanden und dass wieder eine Art von Ordnung im Land einzog. Dafür habe ich solche Dinge wie die Devisenknappheit in Kauf genommen. Als die Logen vor zwei Jahren verboten wurden, fand ich das natürlich höchst bedauerlich, weil sie so viel Gutes getan haben, wie du weißt. Aber über all den Fragen, die jeden Tag beantwortet werden müssen, vergesse ich, und bestimmt nicht nur ich, häufig die große Politik. Und außerdem bin ich heilfroh, dass unsere jüdischen Freunde und Bekannten von diesen Gesetzen nicht mehr betroffen werden; ich denke da vor allem an Blankensteins, die zu meinem Leben gehören, solange ich mich zurück erinnern kann. Unser Vertriebsleiter Behr und Dr. Rosenthal, den du ja auch sehr schätzt, werden morgen zum letzten Mal mit uns feiern ...” Die siebenjährige Kathrine hatte eine Zeitlang den Kopf in den Schoß ihrer Patentante gelegt und sich die Haare streicheln lassen. Dann war sie aufgestanden und durch alle drei Salons gegangen, neugierig, wie sie wieder war, seitdem sie sich beruhigt hatte. Jetzt baute sie sich vor Helga auf. „Du, das Telegramm vorhin, das ist gar nicht für den Opa. Da steht ganz deutlich ,Fräulein Helga Schulte’ drauf.” Helga schnitt ein ungläubiges Gesicht und folgte Kathrine, die vor ihr herhüpfte. Dabei bekam sie noch mit, dass ihre Mutter etwas von ,unsagbarem Schaden für die Volkswirtschaft’ sagte und Otto Rellinghaus erwiderte, so sei das halt – sogar anständige Menschen dächten nur praktisch, sorgten sich lediglich um die Juden, Kommunisten und Mitglieder der Bekennenden Kirche, die sie persönlich kannten; der theoretische Überbau, wie er sich ausdrückte, kümmere sie dabei herzlich wenig oder gar nicht. Während Kathrine ihr triumphierend das Telegramm entgegenhielt, schwoll die Lautstärke im Hintergrund immer stärker an. Helga schlitzte den Umschlag mit dem Brieföffner auf, den sie vor einigen Stunden selbst neben die Silberschale gelegt hatte, und las, was in langen Streifen auf das Formular geklebt worden war. Alfred Barker würde am Geburtstag ihres Vaters nicht teilnehmen können. Seine Mutter, von der sie bei ihrem ersten Besuch sehr zurückhaltend und skeptisch empfangen worden war, die sie aber mit jedem Male freundlicher und schließlich mit Wärme und Herzlichkeit begrüßt hatte, habe einen Schlaganfall erlitten, und er sei mit dem ersten Flugzeug nach London zurückgekehrt. Wie leid es ihm tue, sie nicht zu sehen, brauche er wohl nicht zu betonen. Die letzten beiden Sätze las Helga immer wieder. Sie waren in deutscher Sprache abgefasst. 308 309 Ich wollte Dich unbedingt wiedersehen; ich will Dich unbedingt wiedersehen. Die Zeitform ist nicht die gleiche, aber meine Hoffnung ist groß. Sie hob den Kopf und sah ihren Vater vor sich stehen. „Ach, Helleken”, sagte er mit hängenden Armen. 310 12. Kapitel: Herbst 1938 Helga war so aufgeregt, dass sie bereits um halb acht fertig angezogen in ihrem Zimmer hin und her ging. Sie hätte den Wecker nicht auf viertel vor sieben stellen sollen, vor allem deshalb nicht, weil sie schon am Vorabend ihre Uniform mitsamt dem sorgfältig gestärkten und gebügelten Häubchen zurecht gelegt hatte. Ihre Schuhe blitzten im Licht der Deckenlampe, ihre Strümpfe wiesen keine Löcher auf und waren nicht einmal an unsichtbaren Stellen gestopft. Sie blieb am Fenster stehen und sah ins Dunkel hinaus. Nach der feierlichen Vereidigung vor dem Hagener Rathaus im September würde sie heute, am 10. November, eine richtige Prüfung ablegen und nachweisen müssen, dass sie all die Dinge beherrschte, die von einer Schwesternhelferin erwartet wurden. Da sie bereits vor fünf Jahren im Luisenhof Unterricht in Erster Hilfe erhalten und ihre Kenntnisse seitdem immer wieder aufgefrischt hatte, konnte sie sozusagen im Schlaf alle Arten von Verbänden anlegen, Brand-, Schürf- und Schnittwunden sachgerecht desinfizieren, und sie verstand sich auch darauf, gebrochene Glieder selbst unter ungewöhnlichen Bedingungen zu schienen, zum Beispiel mit Hilfe eines Lineals oder einer Holzplanke. Falls kein Dreieckstuch zur Verfügung stand, ließ sich aus einem in Streifen gerissenen alten Laken eine Trageschlinge herstellen, und ein Mantel mit fest angenähten Knöpfen eignete sich, wie sie bei Übungen mehrfach 311 ausprobiert hatten, durchaus als Bahre für den liegenden Transport von Verletzten. Einen Augenblick lang vergaß Helga, dass sie in ungefähr zwei Stunden der Prüfungskommission ihre praktischen und theoretischen Kenntnisse würde beweisen müssen, und erinnerte sich daran, wie ihnen der Ausbildungssanitäter – es handelte sich um Erste Hilfe am Unfallort – diese Behelfslösung vorgeführt hatte. Er kniete in seiner DRK-Uniform neben Annemie, der rundlichsten aller Teilnehmerinnen des Kurses, die sich freiwillig als Versuchskaninchen zur Verfügung gestellt hatte und zwar bewegungslos, aber mit funkelnden Augen und vergnügt grinsend auf dem Boden lag, und blickte sie alle der Reihe nach an. ,Stellt euch vor, dass die Annemie bei einem Zusammenstoß aus dem Wagen geschleudert wurde. Sie ist bei vollem Bewusstsein, ihr redet ihr natürlich gut zu und beruhigt sie, habt euch auch versichert, dass sie keine Gehirnerschütterung erlitten hat – wie macht man das?’, unterbrach er sich und zeigte mit dem Finger auf Helga. Wie aus der Pistole geschossen erfolgte ihre Antwort: Natürlich könne man in diesem Fall das Opfer nicht auf einem Strich gehen lassen, um herauszufinden, ob der Gleichgewichtssinn gestört sei; man müsse vielmehr zum Beispiel drei Finger hoch halten und sich vergewissern, dass die Person auch deutlich drei sehe. Weitere Anzeichen könnten starke Kopfschmerzen und Erbrechen sein; falls man eine Taschenlampe zur Hand habe, solle man nicht vergessen zu prüfen, ob sich beide Pupillen bei Lichtein- fall auch ordnungsgemäß verengten. Der Ausbildungssanitäter nickte und erkundigte sich dann, auf welche Weise man sicher gehen könne, dass keine Rückgratverletzung vorliege. Man müsse die Extremitäten, also Füße und Hände, abtasten, besser noch: hineinkneifen, erwiderte Helga, und wenn das Unfallopfer nichts spüre, liege die Vermutung nahe, dass die Reize nicht durch das Rückenmark ans Gehirn weitergeleitet würden. In dem Fall müsse selbstverständlich sofort ein Arzt die Versorgung übernehmen. Der Sanitäter nickte zufrieden und meinte, dann könnten sie die Verletzte ja jetzt zum Krankenwagen tragen. Eine Bahre stehe ihnen aber nicht zur Verfügung. Elli Weiser meldete sich und meinte, man solle einen der Schaulustigen – daran mangele es ja in der Regel nie – um seinen Mantel bitten, diesen von oben bis unten zuknöpfen und dann auf beiden Seiten Stöcke hindurchschieben; im Wald gebe es immer welche, oder man könne aus einem Haus in der Nähe zwei Besen holen, je nach Gewicht des Opfers vielleicht auch vier. Der Sanitäter stimmte freundlich zu, und die Mädchen machten sich daran, Annemie auf eine solche Bahre, bestehend aus einem dicken weißen Leinenkittel und zwei kurzen Fahnenstangen, zu hieven, als es laut krachte. Nach anfänglichem, betretenem Schweigen brachen alle in Lachen aus, und der Sanitäter bemühte sich vergeblich, Ernst zu bewahren. ,Worauf muss also un-be-dingt geachtet werden?’, brachte er schließlich hervor. ,Dass alle Knöpfe des Mantels fest angenäht sind’, kicherte Elli. 312 313 Helga malte sich aus, wie die Mitglieder ihrer Gruppe und die Prüfungskommission sich dann in eines der Krankenzimmer begeben und ihnen auftragen würden, jeweils zu zweit einen Patienten zu waschen, das Nachthemd zu wechseln und dabei darauf zu achten, ob er sich wund gelegen hatte. Als besonders schwierig empfunden hatte sie es, das Bettzeug auszutauschen, aber das war nicht nur ihr so gegangen, und so hatten die Mädchen zusätzlich Zeit darauf verwandt, jeden Handgriff so lange zu üben, bis sie ihn auch im Zustand großer Müdigkeit mit absoluter Sicherheit auszuführen vermochten. Aus der Küche hörte sie das Pfeifen des Wasserkessels. Natürlich war auch Ida längst aufgestanden, hatte das Frühstück für Herrn Schulte zubereitet und vermutlich bereits damit begonnen, die schmutzige Wäsche nach Farben zu sortieren oder in der Speisekammer die Zutaten fürs Mittagessen zusammenzusuchen. Helga strich mit der Hand einmal über das Deckblatt des zuoberst auf ihrem Schreibtisch liegenden Schnellhefters und trat gedankenverloren wieder ans Fenster. Die beiden Gebäudeflügel waren hell erleuchtet, denn natürlich hatten die Maschinen wie an jedem Werktag um sieben Uhr zu rattern begonnen. Auf dem Fabrikhof war niemand zu sehen. Durch die Scheibe drangen nur die Stimmen des Lagerverwalters und eines der Fahrer zu Helga hoch; Paule Beckmanns Nachfolger, Herr Grave, ging mit einer Liste an dem Lastwagen entlang, der gerade beladen wurde, und las laut die Anzahl der Kartons sowie die Bezeichnungen der darin verpackten Ware vor, während der Chauffeur offensichtlich Fragen zu einigen der zu beliefernden Kunden stellte. ,Fröndenberg, liegt das näher an Unna oder an Iserlohn ?’ – ,Die bestellen aber wohl Hustenbonbons auf Vorrat. Na ja, Salmiakgeist macht auch die Nase frei, und jetzt im November …’ ,Was tun Sie, wenn jemand vor Ihren Augen ohnmächtig wird?’, ging es Helga dabei durch den Kopf, und sie verzog das Gesicht wieder zu einem Lächeln. Die Lehrschwester im Allgemeinen Krankenhaus hatte in einer der ersten Unterrichtsstunden Goethes Faust zitiert und gemeint, mit einem Eimer kalten Wassers werde man wohl höchstens im Sommer jemanden aus seiner Bewusstlosigkeit wecken; zu anderen Jahreszeiten sei halt das oft zitierte Fläschchen der Nachbarin durchaus angebracht, selbst, wenn es nur Kölnisch Wasser enthalte und kein Riechsalz. Auch von Stürzen aufgrund epileptischer Anfälle war die Rede gewesen, und … Das, woran Helga sich jetzt erinnerte, hätte sie am liebsten von sich fort geschoben wie alles, was Unbehagen in ihr hervorrief, obwohl sie nicht einmal hätte sagen können, was sie daran störte. Von Epilepsie, zu Deutsch Fallsucht, war nämlich auch an einem der Samariterabende die Rede gewesen, an denen sie wie alle ihre Kameradinnen teilnehmen musste. Es war dabei um Pflege des Erbguts gegangen, und die vortragende Ärztin hatte abfällige Bemerkungen über die Bodelschwingh’schen Anstalten bei Bielefeld in ihre Ausführungen eingeflochten. Auch von Sterilisierung hatte sie gesprochen, bevor sie schilderte, wie dieser Eingriff an Männern 314 315 und Frauen vorgenommen wurde. Helga hatte nur einmal den Kopf gehoben und bemerkt, dass sie durchaus nicht als Einzige den Blick gesenkt hielt. Über Sterilisierung konnte sie ebenfalls befragt werden. Helga rief sich indessen, diesmal ohne jeden Beigeschmack, die zweite Bedeutung des Begriffs ins Gedächtnis, Keimfreiheit nämlich: Alle bei der Krankenbehandlung verwendeten Geräte, nicht nur chirurgische Instrumente, sondern zum Beispiel auch Pinzetten zum Entfernen von Splittern und Stacheln, mussten ausgekocht werden, und das Verbandsmaterial durfte natürlich nicht mit Schmutz in Berührung kommen. Es war vorgeschrieben, sich gründlich die Hände zu waschen, bevor man eine offene Wunde versorgte, und gebrauchte Pflaster durften nirgends abgelegt werden, sondern wanderten gleich in den Mülleimer. Damit wurde Sepsis verhindert - ,Sepsen in der Mehrzahl, meine Damen!’ –, und der Übertragung von Krankheitserregern durch Berührung im Rahmen des Möglichen vorgebeugt. Eine weitere Erinnerung stellte sich ein, die nicht nur für Helga, sondern auch für die anderen Teilnehmerinnen des betreffenden Samariterabends zu den unangenehmsten überhaupt zählte: Frau Dr. Freeses Vortrag über Geschlechtskrankheiten. Zwar hatte Annemie unmittelbar anschließend versucht, sie aufzuheitern, indem sie zur Melodie von ,Steuermann, halt die Wacht’ aus dem Fliegenden Holländer ,Wassermann po-sitiv’ sang, aber viel Erfolg hatte sie damit nicht gehabt. Gonorrhoe, zu Deutsch Tripper, weicher Schanker, Syphilis, auch Lues genannt – diese Begriffe waren ihnen natürlich alle schon einmal zu Ohren gekommen, und den meisten fiel wieder ein, dass sie den einen oder anderen bereits auf dem Pausenhof ihrer jeweiligen Volksschule gehört hatten, wenn sie an Gruppen von Jungen vorbei liefen, die aufschneiderisch und wild aufeinander einschrien, jedoch sofort verstummten, wenn der Aufsicht führende Lehrer sich auf sie zu bewegte. Helga war bislang immer der Meinung gewesen, Geschlechtskrankheiten kämen nur bei Matrosen vor, die sich in Bordellen bei Freudenmädchen ansteckten, weit weg in Hafenstädten wie Hamburg oder Rostock, aber Frau Dr. Freese hatte den Kreis der Gefährdeten ausdrücklich auf alle Männer ausgeweitet, die häufig den Partner wechselten. Während die Ärztin genauer auf die einzelnen Geschlechtskrankheiten einging, die Symptome beschrieb und auch die Behandlungsmöglichkeiten erklärte, war Helga längst nicht mehr bei der Sache, obwohl sie auf ihrem Block Ehrlich, Neosalvarsan und Halsband der Venus sowie verläuft in vier Stadien und führt unbehandelt zum Tode notiert hatte. Sie dachte nämlich an Jürg, an die Mädchen, denen er nach Aussage seiner eigenen Eltern die Ehe versprochen hatte, und die anderen, die nicht bei Stoecklins vorstellig geworden waren, die es aber mit Sicherheit gegeben hatte und zu denen sie selber auch zählte. Als Frau Dr. Freese erläutert hatte, dass sich mit Hilfe eines Kondoms aus Latex – ,Schon Casanova soll sich eines solchen English overcoat, damals vermutlich allerdings aus 316 317 Schafsdarm, bedient haben’, hatte sie lächelnd hinzugefügt – bei richtiger Verwendung die Übertragung von Geschlechtskrankheiten vermeiden lasse, war sie sehr unruhig geworden und hatte dem Vortrag nur noch wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Wieder war es Annemie gewesen, die auf dem Rückweg nach Hause, nachdem sie sich umgeschaut hatte, leise kicherte und meinte, die gute Frau Doktor hätte ihnen aber doch so einiges unterschlagen. Ihr Vater habe ihr nämlich – also eigentlich nicht ihr, sondern ihrem großen Bruder mit seinen mittlerweile vier Kindern – einmal anvertraut, schon im Weltkrieg seien die deutschen Soldaten und wohl auch Engländer und Franzosen, nicht jedoch die Amerikaner, mit Gummikondomen versorgt worden, obwohl einer ihrer Landsleute das erste Modell entwickelt hätte. Das mit den Matrosen treffe also nur teilweise zu. Und außerdem – Annemie flüsterte nur noch – ließen sich mit einem Kondom ungewollte Schwangerschaften verhüten. Darauf habe Frau Dr. Freese nicht hingewiesen, was durchaus verständlich sei, weil der Führer doch Kinder liebe und alles tue, um die Geburtenziffer anzuheben; aber ihre Schwägerin hätte bereits das Mutterkreuz in Bronze verliehen bekommen, und irgendwann wollten die beiden auch einmal aus den Windeln heraus. Sie sei sich allerdings nicht sicher, ob Kondome überhaupt käuflich erworben werden könnten, und ihren Bruder zu fragen … dazu fehle ihr nun doch der Mut. Sie waren alle ziemlich verlegen gewesen und hatten befreit gelacht, als Elli Weiser erzählte, ihre ältere Schwester sei kürzlich auch mit dem Mutterkreuz ausgezeichnet worden und freue sich, dass ihr jetzt in der Straßenbahn immer ein Sitzplatz angeboten werde; weniger komisch finde sie diese ständige Grüßerei, denn die Schirach’schen Knirpse seien ja verpflichtet, jedesmal ,Heil Hitler’ zu brüllen, wenn sie ihr unterwegs begegneten. 318 319 Jemand klopfte einmal kräftig an ihre Zimmertür. Helga fuhr zusammen, wandte sich erschrocken um und stieß dabei so heftig an ihren Schreibtisch, dass der obenauf liegende Leitz-Ordner mit einem Krach zu Boden fiel und noch einige weitere Papiere mit sich riss. „Tut mir leid, Helle”, sagte Ida und blieb stehen, „ich wollte dir nur die Post bringen. Ich glaube, es ist eine Karte von Rudolf dabei; er will dir sicher Glück wünschen.” Sie streckte Helga die besagte Karte sowie drei Briefe entgegen und meinte dann noch, in spätestens einer Viertelstunde müsse sie sich aber auf den Weg machen. „Dir ist das vielleicht entgangen, aber dein Vater hat vorhin ein paar von den Mädchen zur Rede gestellt, weil sie zu spät zur Arbeit erschienen sind. Einer der Fahrer hat auch von unterwegs Bescheid sagen lassen, dass er mit seiner Auslieferungsrunde schon jetzt in Verzug geraten ist. Sie sollen die Synagoge in der Potthofstraße in Brand gesetzt haben, und da, wo Juden wohnen, haben sie die Scheiben eingeschlagen, Schaufenster wohl auch.” Helga starrte Ida an. „Wer: ,sie’?”, fragte sie dann. Ida zuckte die Schultern. „So genau wusste das auch keiner. Ich muss sowieso Stopfgarn besorgen, da werde ich mich mal erkundigen. Also geh nicht zu spät los.” Während Ida mit leicht schleppenden Schritten verschwand, ohne die Tür hinter sich zu schließen, drehte Helga verwirrt die Postkarte zwischen den Händen. Sie war in Bad Godesberg abgestempelt, wo ihr jüngster Bruder hoffentlich im Frühjahr 1939 die Abiturprüfung bestehen würde. Wenn er für ein Wochenende nach Hause kam, eigentlich immer müde, aber recht vergnügt, gingen sie oft gemeinsam ins Kino und schauten den neusten Film mit Luis Trenker, Heinz Rühmann oder auch amerikanische wie Saratoga an. Helga vermisste Rudolf sehr, denn über manche Dinge sprach sie eigentlich nur mit ihm, und er hatte ihr immer zu verstehen gegeben, dass sie ihm von seinen Geschwistern am nächsten stünde. Aber seit ihre Eltern für sie letztlich doch überraschend beschlossen hatten, ihn im April 1937 zu Beginn der Unterprima ins Godesberger Pädagogium zu stecken, weil seine schulischen Leistungen stark zu wünschen übrig ließen, und um gleichzeitig dem, was ihre Mutter ,die Geschichte’ nannte, ein Ende zu setzen, hatte sich die alte Vertrautheit nicht so recht wieder einstellen wollen. Als Helga von der Hochzeit ihrer ehemaligen Mitmaid Brigitte von Albertyll in der Mark Brandenburg nach Eckesey zurückgekehrt war, hatte sie die völlig verstörte Rosemary trösten müssen, die weinend in immer anderen Worten erklärt hatte, sie wolle nach Hause. Andererseits war sie in Helgas kurzer Abwesenheit aber doch zu dem Schluss gekommen, dass sie ihren Eltern eigentlich nicht so gern den Grund für ihren Wunsch mitteilen würde. Helga hatte so manchen Abend lang auf dem Bettrand gesessen und sich angehört, wie sehr Rosemary Rudolf liebte und er sie auch, dass sie sich doch nur ein wenig geküsst und gestreichelt hätten und dass sie beide es als ungerecht empfänden, nicht mehr zusammen sein zu dürfen. Rudolf hatte, so berichtete Sophie, mehrere handfeste Auseinandersetzungen mit den Eltern geführt und ihnen immerhin das Versprechen abgerungen, nach dem Abitur werde man weiter sehen. Ida hatte Rudolfs Karte natürlich gelesen: Er drücke ihr ganz tüchtig die Daumen, genauer gesagt nur den linken, denn mit der rechten Hand kritzele er pausenlos hoffentlich richtige Lösungen in sein Mathematikheft. Auf einem der Briefumschläge erkannte sie Rosemarys Handschrift, der zweite kam von Hildegard, war aber in Detroit abgestempelt, und der letzte enthielt vielleicht die Erklärung dafür, warum Felicity Blake, ihre Zimmergenossin aus Lausanne, die für den Herbst nicht nur geplante, sondern bereits gebuchte Besuchsreise von einem Tag auf den anderen abgesagt hatte. Natürlich hätte Helga die Umschläge am liebsten gleich geöffnet. Nach einem Blick auf die Uhr schlüpfte sie jedoch in ihren Wintermantel, hängte sich ihre Tasche über die Schulter und beschloss, die Briefe nicht mitzunehmen, sondern 320 321 Sie sah schon von Weitem, dass Elli in einem Schnellhefter blätterte. „Ach, gut, dass du kommst! Ich wollte gerade nachschauen, wie das mit den verschiedenen Arten von Blasen war. Durch welche darf man mit einer keimfreien Nadel einen ebenso keimfreien Faden ziehen, damit die Lymphflüssigkeit ausläuft – bei Brandblasen ist das nicht zulässig, oder? Und kannst du mir sagen, wie bei Verbrennungen … ich meine, bei wie viel Prozent der Körperoberfläche Lebensgefahr besteht?” In diesem Augenblick hielt die Elektrische vor ihnen, sie stiegen ein und bahnten sich einen Weg bis in eine Ecke, wo Helga leise Ellis Fragen beantwortete und sich bei ihrer Kameradin anschließend vergewisserte, dass sie selber das Richtige tun würde, wenn einer der Prüfer ihr auftrüge, ein Kind vor dem Ersticken zu bewahren, das eine Murmel verschluckt hatte. „Größere beugen sich im rechten Winkel nach vorn, und dann schlägt man einmal kräftig zwischen die Schulterblätter. In der Regel husten sie dann den Gegenstand, diesen Knicker, aber auch eine weiße Bohne oder ein Bonbon, von selber her- aus. Säuglinge und Kleinkinder fasst man an den Fußgelenken und hält sie mit dem Kopf nach unten. Ist das richtig?” Elli nickte zustimmend. „Wenn ich doch nicht so aufgeregt wäre”, meinte sie dann. „Mir zittern jetzt schon die Hände, und wie ich mich kenne, werde ich jede, aber auch jede Frage beantworten können, die sie an eine von euch richten. Bloß, wenn ich selber an der Reihe bin …” Ihre Worte gingen im Läuten der Straßenbahnglocke unter. Der Zugführer betätigte sie mehrmals, bevor er die Elektrische quietschend zum Stehen brachte. Einige Leute erhoben sich, falteten rasch ihre Zeitungen zusammen und wollten aussteigen, aber der Schaffner rief, die Haltestelle liege weiter vorn. Hindernisse auf den Schienen stünden einer Weiterfahrt im Wege; er werde einmal nachsehen, was da los sei. Wie die Frau neben ihr wischte Helga mit ihrem Ärmel die leicht beschlagene Scheibe frei. Draußen war es völlig hell, aber trotzdem konnte sie nicht genau erkennen, was sich alles auf dem Bürgersteig und auf dem Kopfsteinpflaster angesammelt hatte. „Da muss ein Möbelwagen umgekippt sein”, meinte sie zu Elli. „Guck mal, drei Stühle, ein Tisch, ein Teppich … oder sie haben vergessen, die hintere Tür zu verriegeln, und das Umzugsgut nicht mit diesen breiten Bändern fest gebunden.” Elli schüttelte ungläubig, aber auch empört den Kopf und wollte gerade etwas erwidern, als sie und die Frau neben ihnen 322 323 sie später in Ruhe zu lesen. Zuletzt griff sie vorsichtig nach dem weißen Häubchen, das sie erst im Krankenhaus aufsetzen wollte. Besser zu früh als zu spät, pflegte ihr Vater zu sagen, und außerdem hatte sie sich um halb neun mit Elli Weiser an der Straßenbahnhaltestelle verabredet. gleichzeitig einen Telefonapparat entdeckten, der mitsamt einem Stück Kabel im Rinnstein lag. Im selben Augenblick flog aus einem Fenster im ersten Stock des Hauses rechts von ihnen ein metallener Gegenstand und landete mit einem hellen Klang auf dem Boden, während ein mindestens ein Meter neunzig großer Mann in SA-Uniform einen Jungen, der sechzehn oder siebzehn Jahre alt sein mochte, mit Fausthieben in ihr Blickfeld trieb. „Los”, hörten sie durch die offen stehende Wagentür, „los, mach schon. Wenn du’s nicht tust, tu ich’s, aber es ist ja euer Leuchter, deshalb darfst du ihn auch zertreten.” Der Junge versuchte, über den Leuchter zu springen. Auf der anderen Seite musste aber wohl auch jemand stehen, denn er wurde heftig zurückgestoßen, stürzte zu Boden und schlug mit dem Hinterkopf auf den rund geschmiedeten Fuß des Leuchters. Lautes Gelächter drang an die Ohren der Fahrgäste, von denen mehrere sich anschickten, nun doch auszusteigen. „Gut gemacht, Kleiner. Hast dich selbst k.o. geschlagen. Ich zähl mal bis acht, und wenn du dann nicht von selber dein gemütliches Bett verlässt, greifen wir dir unter die Arme, nicht wahr, Kameraden? Dein Bruder da oben liefert nämlich laufend Nachschub, ein bisschen was zu lesen zum Beispiel. Aber was haben wir denn da? So schreibt man doch in deutschen Landen nicht. Wo bist du denn zur Schule …” – er hielt ein Buch hoch in die Luft und ließ die SA-Männer sowie einige der Fahrgäste, die im Halbkreis um den reglos am Boden liegenden Jungen herumstanden, einen Blick auf die Titelseite werfen. „Sieh mal einer an, da kommt ja auch schon der dazugehörige Schrank! Kräfte hat er, dein Bruder, das muss man ihm lassen. Achtung, bestes Brennmaterial für den nahenden Winter… Los, du Faulpelz, erheb dich mal und mach Kleinholz draus.” Der riesige SA-Mann versetzte ihm einen kräftigen Tritt mit seinem schweren Stiefel, und in der Tat machte der Junge Anstalten aufzustehen. Er taumelte ein wenig, fuhr sich mit der Hand über den Hinterkopf und wischte sie dann an seiner Hose ab. Helga folgte dem Geschehen ebenso wie Elli und die Frau neben ihnen schweigend und ohne irgendetwas zu begreifen. Etwa fünf Minuten mussten vergangen sein, vielleicht auch mehr, und erst jetzt bemerkte sie, dass der Junge lediglich ein Hemd trug, obwohl sich der Atem des SA-Mannes bei jedem Wort weiß von der Hauswand abhob. Die Tür eines Kraftwagens wurde geöffnet und schwungvoll wieder zugeworfen, ein weiteres Mitglied des Kommandos trat zu dem Jungen und reichte ihm eine Axt. „So nett sind wir”, sagte er grinsend, „wir denken an alles. Jetzt mach mal flott, die paar Möbel wirst du doch in null Komma nichts … hopp hopp.” Er blieb neben dem Jungen stehen und sah zu, wie dieser seinen Anweisungen tatsächlich Folge leistete. 324 325 „Na also, feixte der zweite Uniformierte, „ich dachte schon, du verstündest kein Deutsch, aber wir müssen es letzten Monat wirklich fertig gebracht haben, alle Polacken dahin zurück zu befördern, wohin sie gehören, obwohl sie dort auch keiner haben will. Herschel heißt du also nicht, oder? Aber Grynszpan, das wäre doch drin, wie Grün und Span, so jung und schon ein Mörder. Noch dazu vergreift man sich an einem Legationssekretär, was das auch immer ist, ein hohes Tier auf jeden Fall; feige ist man, furchtbar feige, traut sich nicht, so eine Schandtat auf deutschem Grund und Boden zu begehen, weil da alles seine Ordnung hat. Geschnappt haben sie ihn selbstverständlich doch.” Alle SA-Männer und einige der Umstehenden lachten, schlugen sich sogar auf die Schenkel, aber durch die frei gewischte Stelle auf der Scheibe sah Helga auch, dass andere den Kopf schüttelten. Eine Frauenstimme übertönte den Lärm: Diese Familie – sie trage wie viele jüdische Hagener Bürger den Namen Löwenstein – wohne schon länger in dieser Straße als so mancher von der SA, verkündete sie laut. Weder die beiden Jungen noch die Eltern hätten Dreck irgendwelcher Art am Stecken, was man … „Wer will noch mal, wer hat noch nicht?” In die entstandene Stille brüllte der baumlange SA-Mann seine Frage hinein, ließ seinen Blick rasch vom einen zum anderen springen und wandte sich unmittelbar darauf wieder dem Jungen zu. „Also, Bürschchen, spute dich mal, die Leute da in der Straßenbahn wollen zur Arbeit! Mit der Elektrischen fahren keine Schmarotzer und Parasiten, sondern Volksgenossen. He, du da oben, komm mal runter und leg mit Hand an …” Während die Frau – Helga und Elli bemühten sich vergeblich, sie in der Menschenansammlung draußen auszumachen – sehr deutlich gesprochen hatte, war von dem, was der alle anderen überragende SA-Mann gesagt hatte, manches im Inneren der Elektrischen nicht genau zu verstehen gewesen. Doch jetzt fiel es Helga wie Schuppen von den Augen: Schmarotzer, Parasiten, Löwenstein, Herschel Grynszpan … und bei dem Leuchter mitten auf der Fahrbahn handelte es sich um eine Menora, wie sie bei Blankensteins gelernt hatte. Ida, ging ihr blitzartig durch den Kopf, hatte vorhin von zerschlagenen Fensterscheiben gesprochen und davon, dass die Synagoge in Brand gesteckt worden war. All dies musste etwas mit dem Anschlag auf diesen Diplomaten in Paris zu tun haben, über den alle Hagener Zeitungen in den letzten beiden Tagen ausführlich berichtet hatten. Die Schlagzeilen waren ihr natürlich in die Augen gesprungen, aber die Artikel hatte sie nicht gelesen, da sie jede wache Minute auf die Wiederholung des Prüfungsstoffes verwendet hatte. Helga zupfte Elli am Ärmel. „Komm, wir gehen”, flüsterte sie. „Ich habe Angst. Zu Fuß schaffen wir’s leicht; es ist ja nicht einmal halb zehn.” 326 327 Elli wandte sich kurz zu ihr um und nickte kaum merklich. Dann schlängelten sie sich hintereinander durch die Fahrgäste, von denen nur noch ein alter Mann mit Krücken und eine hochschwangere Frau ihre Sitzplätze nicht verlassen hatten. Bevor sie vom Trittbrett auf die Strasse hinabstiegen, erfasste Helga mit einem Blick die ganze Szene: rechts das Gebäude mit den eingeworfenen Fensterscheiben in der ersten Etage, die weit geöffnete Haustür, die zerhackten Mahagoni-Möbel, einige unversehrte Regalbretter, Matratzen und Bettfedern, die im kalten Wind aus mehreren aufgeschnittenen Kopfkissen stoben, Silberbesteck, das gerade von mehreren SA-Männern aufgesammelt und zu dem Wagen getragen wurde, mit dem sie gekommen sein mussten – vor allem jedoch die Menora, die noch unversehrt auf dem Kopfsteinpflaster lag, und die beiden Jungen, der eben erst von oben herabbefohlene ein oder zwei Jahre älter als sein Bruder. Weshalb sie auf den hoch gewachsenen SA-Mann zugegangen war, hätte Helga nicht zu sagen gewusst, und dass sie ihr frisch gestärktes Häubchen aufgesetzt hatte, vergaß sie schon, als sie die Hände sinken ließ. „Wir sind Schwesternhelferinnen und als solche in Erster Hilfe ausgebildet”, sagte sie mit fester Stimme. „In Ihrem Wagen führen Sie doch gewiss einen Verbandskasten mit. Die Kopfwunde des jungen Mannes dort sollte unbedingt desinfiziert und mit einem Pflaster versehen werden, und wir würden auch empfehlen, ihn gegen Wundstarrkrampf behandeln zu las- sen, falls bei ihm keine Schutzimpfung vorgenommen worden sein sollte. Er ist ja mit dem Schmutz in Berührung gekommen, der sich selbst auf einer regelmäßig gereinigten Straßenoberfläche ansammelt.” Während sie spürte, dass Fahrgäste und Nachbarn sie verlegen oder überrascht, aber auch entrüstet mit einem kurzen Blick streiften und einer der SA-Männer sie ungläubig anstarrte, brach ihr Gegenüber in dröhnendes Gelächter aus und schwenkte seine Mütze durch die Luft. „BdM, ich sag’s ja immer, Glaube und Schönheit oder wie sich das schimpft, auf die sollte man nichts kommen lassen. Deine Hilfsbereitschaft in allen Ehren, aber der hier … sein Blut soll ruhig rinnen, glaub’s mir. Für den ist unser Verbandszeug zu schade.” Dann er lachte noch einmal so, wie Helga noch nie jemanden hatte lachen hören. Sie wandte sich zu Elli um, und gemeinsam durchquerten sie den Kreis der Umstehenden, hinter denen mittlerweile drei Straßenbahnen darauf warteten, ihre Fahrt fortsetzen zu können. 328 329 Selbst Annemie, die doch sonst nicht auf den Mund gefallen war, zog in der Garderobe schweigend ihren dicken Wintermantel aus und wartete, bis ihr Elli den Platz vor dem Spiegel überließ, damit sie sich ihr Häubchen aufsetzen konnte. Annemie hatte es vorsichtig aus einer Papiertüte gezogen und war bis zu den Ohren errötet, hatte wohl auch beabsichtigt, eine Er- klärung abzugeben, aber mehr als ,Meine Großmutter meinte …’ brachte sie nicht heraus. Fast alle Prüflinge waren vor Elli und Helga eingetroffen und hatten mitbekommen, wie Helga plötzlich stehen blieb, die Hand vor den Mund hob und ihren Weg erst fortsetzte, als Elli ihr mit einer Geste zu verstehen gab, sie habe das Häubchen bereits in ihrem Haar festgesteckt. Keine von ihnen hatte sich erkundigt, ob ihre Kameradin denn nicht befürchte, mit ihrer nicht mehr ganz blütenfrischen Kopfbedeckung einer eingehenden Musterung nicht standhalten zu können. Entgegen aller Gewohnheit waren keine spöttischen oder komischen Bemerkungen hin und her geflogen. Natürlich waren die Mädchen aufgeregt, aber sie hatten auch gespürt, dass Helga und Elli etwas erlebt hatten, das sich nicht ohne weiteres in Worte fassen ließ. So waren sie seltsamerweise eher erleichtert, als eine der Lehrschwestern die Tür der Garderobe öffnete und sie bat, ihr zu folgen. Wenige Minuten später standen sie im Halbkreis mehreren Personen in weißen Kitteln gegenüber, die ihnen völlig unbekannt waren. Eine davon, ein schlanker, grauhaariger Mann, der sich auffallend gerade hielt, verschränkte seine Hände ineinander und ließ mit ernstem Gesicht seine Augen von einer zur anderen wandern, bevor er sich als Professor Martins vorstellte. Auch die Schwestern rechts und links von ihm lächelten nicht. Trotzdem wurde Helga ruhig, und sie war auf einmal sicher, dass nichts sie würde ablenken können. Nach- dem sie einmal tief durchgeatmet hatte, hörte sie nur noch aufmerksam zu. „Ihre Prüfung zur Schwesternhelferin”, sagte Professor Martins gerade, „fällt auf einen Tag, der in den Jahrbüchern der Geschichte verzeichnet bleiben wird. Es ist Ihnen natürlich bekannt, dass am 7. November ein deutsch-polnischer Jude einen Anschlag auf das Leben des Legationssekretärs an der Botschaft des Deutschen Reiches in Paris verübt hat. Gestern, am Nachmittag des 9. November, erlag Ernst vom Rath seinen Verletzungen. Unmittelbar nach dem Bekanntwerden seines Ablebens entlud sich der Volkszorn über die Juden, ob er sich nun gegen ihre Wohnungen, ihre Geschäfte oder ihre Synagogen wandte. Auch in Hagen werden Sie auf Spuren gestoßen sein. Die zuständigen Instanzen haben aber bereits verfügt, dass diese von den Betroffenen selber sofort zu beseitigen sind, und es ist zu hoffen, dass rasch wieder Ruhe und Ordnung herrschen. Wie wir mit Freude feststellen konnten, haben diese Vorkommnisse Sie nicht daran gehindert, pünktlich zur Prüfung zu erscheinen, und deshalb wollen wir jetzt damit beginnen. Es bietet sich wohl an, dass eine von Ihnen zunächst ihre Kenntnisse bezüglich der Reinhaltung des Erbguts vorträgt.” 330 331 Als die Mädchen durch den Vordereingang des Allgemeinen Krankenhauses ins Freie traten, war alle Spannung von ihnen gewichen, denn sowohl Professor Martins als auch die übrigen Mitglieder der Kommission hatten jeder von ihnen die Hand geschüttelt, dabei ein breites Lächeln aufgesetzt und Glückwünsche ausgesprochen. Nachdem sie den Lehrschwestern für ihre erfolgsträchtige Arbeit gedankt und mit einem Augenzwinkern zu so tüchtigen, ,appetitlich’ anzuschauenden Schülerinnen gratuliert hatten, waren sie im Büro des Direktors verschwunden. Daraufhin hatten die Mädchen sich umarmt, in ihrem Überschwang auch die Lehrschwestern mit in ihren Freudentanz einbezogen und waren dann singend den Flur hinuntergehüpft, wobei sie kurz in das eine oder andere Krankenzimmer geschaut hatten, um ,ihren’ Patienten mitzuteilen, dass sie alle, wirklich alle die Prüfung bestanden hatten. Dann standen die Mädchen draußen auf der Treppe, traten von einem Bein aufs andere und klappten ihre Kragen hoch. Die Fröhlichkeit war mit einem Schlag verflogen, und von dem gelösten Durcheinander der Stimmen blieb nichts übrig. „Es ist halt immer noch … November”, sagte Helga schließlich. Im gleichen Augenblick hielt ein DKW etwas älteren Datums vor ihnen am Straßenrand, die Scheibe wurde heruntergekurbelt, und der junge Mann am Steuer winkte ihnen zu. „Na endlich”, rief Annemie und strahlte auf einmal, „ich dachte schon, du kommst nicht mehr. Darf ich vorstellen: mein Verlobter. Können wir jemanden unterwegs absetzen? Und vergesst nicht: heute Abend um acht im Krankenhaus, diesmal zum Feiern und in Zivil. Wer vergessen hat, was er mitbringen soll, kann mich anrufen, aber nicht zu spät – ich muss mich schön machen, so schön wie’s geht halt. Es bleibt doch dabei, dass deine Eltern uns Klümpkes spenden, nicht wahr, Helga?” Annemie wartete die Antwort nicht ab, denn zweifelsohne stellte das Automobil ihres Verlobten ein Verkehrshindernis dar, und so schob sie rasch zwei ihrer Kameradinnen auf die Hinterbank, sprang selbst auf den Beifahrersitz und machte gleichzeitig eine beschwichtigende Geste zu den beiden Wagen hin, deren Hupen schon einmal ausdauernd betätigt worden waren. Aufs Anfahren schien sich Annemies Verlobter nicht so recht zu verstehen, denn der reichlich verschrammte DKW sprang nach vorn, bevor er zwischen den Häusern verschwand. „Fünf Mark die Woche musst du sparen, willst du im eigenen Wagen fahren”, sagte ein Mann, der sich anschickte, eine alte Frau im Rollstuhl über die Straße zu schieben; der Spott in seiner Stimme war nicht zu überhören. „Wir hätten aber lieber einen schönen neuen als so eine alte Kutsche, nicht wahr, Oma, einen von denen, die auch für unsereins erschwinglich sind. Richtig, bei Porsche entwickeln sie die im Auftrag des Führers.” Keines der Mädchen lachte. Offensichtlich betrachteten sie Annemies Verschwinden als Zeichen zum Aufbruch, und so verabschiedete man sich noch einmal. Jeder von ihnen schien die Frage auf den Lippen zu liegen, was Helga und Elli auf dem Hinweg zum Krankenhaus erlebt hatten, aber keine stellte sie. Vielmehr schüttelten die frischgebackenen Schwesternhelferinnen den beiden unge- 332 333 wöhnlich lange die Hand, ohne etwas zu sagen, anstatt ihnen, wie sonst üblich, einen leichten Klaps auf die Schulter zu versetzen und noch einmal ,Bis heute Abend dann’ zu rufen. Aus Gewohnheit schlugen Elli und Helga den Weg zur Straßenbahnhaltestelle an der Volme ein. Sie gingen stumm nebeneinander her, bis Elli leise erklärte, sie habe Helga heute Morgen sehr bewundert. „Den Mut hätte ich nicht gehabt”, fügte sie hinzu. „Dieser Sturmführer mit seinem makellosen Gebiss … ich meine, ist dir aufgefallen, wie weiß seine Zähne waren? Ich musste immerzu an ein Tier denken, das sein Opfer reißt, aber nicht” – sie suchte nach Worten–, „nicht, weil es unbedingt Nahrung für sich und seine Jungen braucht, sondern zum Vergnügen. Er strotzte vor Selbstbewusstsein, so wie jemand, dem keiner etwas anhaben kann. Die anderen … richtig schlimm waren sie nicht, außer dem, der den kleinen Juden so heftig gestoßen hat, dass er mit dem Hinterkopf auf diesen Leuchter gefallen ist. Zwei von der Truppe haben geklaut, hast du das gemerkt? Silberbesteck haben sie einkassiert und einen Fotoapparat – ich glaube, es war eine Leica in einem ganz stabilen Lederetui; die gehen ja nicht so leicht kaputt. Aber reich waren diese Juden bestimmt nicht.” Helga blickte Elli von der Seite an. „Mutig bin ich eigentlich überhaupt nicht. Ich hab dir doch gesagt, wir sollten aussteigen, weil ich Angst bekommen hatte. 334 SA-Männern gehe ich seit ewigen Zeiten aus dem Weg, nicht nur ich, auch meine ehemalige Klassenkameradin Herta und viele andere. Wenn die einen über den Durst getrunken haben oder zu mehreren auftreten … einer allein, das geht – der braucht sich ja vor niemandem aufzuspielen. Aber wir haben uns doch verpflichtet, Kranken und Verwundeten zu helfen!” Sie blieb stehen. „Als ich dann noch vom Trittbrett aus die Menora sah – falls du das nicht weißt: So heißt der siebenarmige Leuchter, den der Junge zertreten sollte –, als ich die Menora sah, fiel mir meine Freundin Hildegard ein. Bei ihr zu Hause stand auch eine, und sie haben sie mitgenommen, als sie nach New York auswanderten, Anfang 1934 schon. Bis zu ihrer Abreise hatten wir so gut wie alles in unserem Leben geteilt.” Bevor Helga weitersprechen konnte, meinte Elli nachdenklich, sie kenne gar keine Juden, aber so wie die in ihrem Lehrbuch hätten die beiden Jungen heute Vormittag keinesfalls ausgesehen. Sie habe sich übrigens an der Straßenecke noch einmal umgedreht; zwei der SA-Männer hätten schon wieder hinten in ihrem Wagen gesessen und der dritte habe bereits den Motor warm laufen lassen; aus dem Auspuff seien nämlich Dampfwolken gestiegen. Der Sturmführer habe bloß noch mit einem Mann in Zivil geredet. „Höchstwahrscheinlich sind sie kurz nach uns weggefahren, und niemand hat ernsthaft Schaden erlitten”, fügte sie ab- 335 schließend hinzu, und es hörte sich so an, als sei eine Last von ihr genommen. „Was hast du denn?”, erkundigte sie sich wenig später, als Helga kurz vor der Haltestelle stehen blieb und die Augen zu einem Spalt zusammenkniff. „Kennst du Frau Meyer?” Elli kicherte. „Du hast aber heute schon schlauere Dinge von dir gegeben. Natürlich kenne ich Frau Meyer – fragt sich nur welche: die aus meinem Haus – schreibt sich mit e i; die von nebenan, ditto, oder die Mutter mit sechs Kindern, a y diesmal. Meier heißt doch so ungefähr halb Deutschland!” Helga murmelte, sie meine die vom Damenoberbekleidungsgeschäft in der Innenstadt, schüttelte ratlos den Kopf und ging weiter auf die Haltestelle zu. Die Frau, die eine starke Ähnlichkeit mit der Mutter ihrer ehemaligen Klassenkameradin Helga aufwies, benahm sich wirklich seltsam: Sie machte ein paar Schritte in ihre Richtung, hielt inne, warf einen Blick hinter sich, drehte sich dann um und schlug den Rückweg ein, blieb aber nach wenigen Metern erneut stehen. Trotz der Kälte hatte sie ihren Mantel nicht zugeknöpft, und Helga fiel auf, dass sie nicht nur keinen Hut trug, sondern sich auch nicht frisiert zu haben schien. Die Frau Meyer, die Helga bei ihren wenigen Besuchen in deren Villa am Volmeufer stets nur flüchtig zu Gesicht bekommen hatte, weil immer ein Dienstmädchen mit spitzenbesetztem Häubchen und brettsteif gestärkter Schürze sowohl die Tür geöffnet als auch die Freundinnen bewirtet hatte, war ihr als die Eleganz in Person erschienen, hochnäsig und kühl, aber unbestritten geschmackvoll gekleidet. So wartete Helga, bis die Frau schließlich auch die Straßenbahnhaltestelle erreicht hatte, und sprach sie dann an. „Frau Meyer? Sind Sie die Mutter von Helga Meyer? Verzeihen Sie, dass ich …” Durch die Seitenscheibe der Elektrischen, die in diesem Augenblick vor ihnen bremste, glaubte sie Frau Landwehr zu erkennen, winkte ihr einmal zu und schob Elli auf das Trittbrett zu. „Steig ein”, sagte sie leise, „wir sehen uns heute Abend, und mach’s gut.” Elli schien nicht so recht zu wissen, ob sie ihre Kameradin tatsächlich mit dieser eindeutig verstörten Person allein lassen sollte, aber Helga nickte ihr zu und sagte noch, sie möge die Schaffnerin von ihr grüßen, das sei ihre Nachbarin, Landwehr mit Namen. Sichtbar erleichtert verschwand Elli im Wageninnern und rief Helga durch die sich schließende Tür noch zu, dann werde sie der Schaffnerin aber auch von der glänzend bestandenen Prüfung berichten. 336 337 Helga hatte sich nach einigem Zögern dazu entschlossen, Frau Meyer den Weg zu versperren. „Sie kennen mich doch, Helga Schulte aus Eckesey”, wiederholte sie, „ich bin die Freundin Ihrer Tochter Helga, die mit ihrem Mann in Frankreich wohnt. Wir haben gemeinsam das Lyzeum und auch noch die Obersekunda des Oberlyzeums besucht. Die Verbindung zwischen uns ist nie abgebrochen. Letzte Woche noch habe ich einen Brief …” Frau Meyer legte einen Finger auf die Lippen. „Pst”, flüsterte sie, „sprechen Sie doch nicht so laut!” Dabei blickte sie sich um. Die Straße war menschenleer, und die nächste Elektrische würde frühestens in einer Viertelstunde auftauchen. „Sie frieren ja”, sagte Helga. „Kommen Sie, ich bringe Sie nach Haus. In fünf Minuten sitzen Sie in Ihrem warmen Salon, und eins der Dienstmädchen bringt Ihnen eine Tasse heißen Tee.” Sie griff nach Frau Meyers Arm und geleitete sie zur Villa hin. Zu Helgas Überraschung standen sowohl das kleine Gartentor als auch das hohe Eisengitter, hinter dem ein gepflasterter Weg zur Garage führte, sperrangelweit offen. Nach anfänglichem Zögern setzte sie trotzdem einen Fuß auf die erste der Platten, die in regelmäßigen Abständen über den sommers wie winters kurz geschorenen Rasen bis zur Vordertreppe hin verlegt waren, blieb dann jedoch betroffen stehen: Von dem Gras war kaum etwas übrig geblieben, viele verschiedene Reifen hatten sich kreuz und quer hineingegraben und auch die mit Astern bepflanzte Blumenrabatte längs der Auffahrt niedergewalzt. Von den Sträuchern mit den weißen Beeren, die sie als Zehnjährige mit viel Gelächter knallend zwischen den Fingern zerdrückt hatten, stand nur noch einer, und als Helga ihren Blick auf die Blutbuche richtete, die ihre fast kahlen Äste über Teile des Wintergartens breitete, stellte sie fest, dass der Boden darunter, auf dem ,einfach nichts wachsen wollte’, wie Helga Meyer immer ihren Vater zitiert hatte, mit Glasscherben gespickt war. Auf der breiten Treppe, die zur Haustür hinaufführte, schob Helga mit der Schuhspitze eine zersplitterte Flasche sowie den Sockel einer Glühbirne zur Seite, schaute zum Vordach empor und zog Frau Meyer rasch zurück, weil sie befürchtete, das trotz seiner Dicke gesprungene Glas könne sich jeden Moment aus den stark verbogenen Metallstreben über ihren Köpfen lösen. Aus dem Fenster neben der Haustür flatterten ihnen weiße Voilegardinen entgegen, obwohl der Rahmen von innen verriegelt war, und plötzlich hörte Helga, wie Frau Meyer äußerst bestimmt erklärte, da müsse sofort der Glaser gerufen werden, die Hunde würden sich doch sonst die Pfoten zerschneiden. Helga war fassungslos. Den Gedanken, Frau Meyer könne den Verstand verloren haben, verwarf sie jedoch, als sie beobachtete, wie die Mutter ihrer Freundin nur ganz kurz nach dem Hausschlüssel suchte, dann mit altvertrauter Arroganz erklärte, dafür habe man ja Personal, und, sichtlich darum bemüht, mit ihren hohen Absätzen keine Löcher in unbeschädigte Rasenflecken zu bohren, auf den Lieferanteneingang hinter dem Haus zustrebte. Dort klopfte sie mehrmals kräftig an die Tür 338 339 und wartete, knöpfte endlich ihren Mantel zu und strich mit gespreizten Fingern mehrfach durch ihr gewelltes, dunkles Haar. Als Helga gerade vorschlagen wollte, durch das Fenster mit der zertrümmerten Scheibe vorn einzusteigen und die Tür von innen zu öffnen, bemerkte sie, dass Tränen über Frau Meyers Gesicht liefen und dass sie von Kopf bis Fuß zitterte. Nervenzusammenbruch, dachte sie mechanisch und fragte ganz ruhig, ob Frau Meyer denn sicher sei, dass jemand sich im Haus aufhalte. Es wirke eigentlich eher verlassen. „Doch … ja… weder mir noch Rebekka haben sie etwas getan, nur …”, brachte Frau Meyer stockend, aber verständlich hervor, und noch während sie sprach, öffnete sich die Hintertür einen Spaltbreit. Ein vielleicht achtzehnjähriges Mädchen steckte den Kopf heraus und seufzte erleichtert, sie habe Frau Meyers Stimme erkannt und sei so froh, nicht mehr allein das Haus hüten zu müssen. Sie hätte sich nämlich nicht auf die Straße getraut und gehofft, einer ihrer Brüder würde sie abholen oder … Diesmal wunderte sich Helga schon nicht mehr, als Frau Meyer Rebekka auftrug, das Teetablett vorzubereiten und es dann in den Salon zu tragen. Ihre Stimme klang wieder genau wie sonst. Das junge Mädchen wand etwas verlegen die Hände umeinander und meinte schließlich, im Salon werde es wohl zu kalt sein, wegen der in tausend Stücke zerfallenen Fensterscheibe. Einen anderen Vorschlag zu machen, wagte sie offensichtlich nicht. „Zwei Tassen – nehmen Sie Zitrone oder Milch, Fräulein Schulte? – und ein Schälchen mit Gebäck”, sagte Frau Meyer, als habe sie Rebekkas Einwand nicht gehört. „Und schließ die Verbindungstür zum Musikzimmer. Dann werden wir es uns eben dort gemütlich machen.” Während Rebekka die beiden Mäntel auf Bügel hängte und dann in der Küche verschwand, redete Frau Meyer unentwegt. Sie beklagte sich darüber, dass ihr nicht mehr so viel Personal wie früher zur Verfügung stehe; vor allem die Köchin fehle ihr sehr, aber … Auch einen neuen Gärtner hätten sie noch nicht gefunden. Es sei jammerschade um den Rasen, und außerdem gelte es doch bald Tulpenzwiebeln zu setzen fürs nächste Frühjahr. Ihre Tochter Helga habe sie übrigens telefonisch nicht erreichen können, die Leitung sei wohl gestört. Als Rebekka nach höflichem Anklopfen mit einem Tablett an das runde Intarsientischchen trat, auf dem die Mädchen früher nie ihre Gläser hatten abstellen dürfen, sah Frau Meyer sie tadelnd an. „Warum hast du nicht die silberne Teekanne genommen? Und … nein wirklich, diese Zuckerdose und die Milchkanne hatte ich doch längst ausrangiert! Du musst sie aus dem allerhintersten Schrankwinkel hervorgekramt haben.” Rebekka errötete bis in die Haarwurzeln hinein. „Aber gnädige Frau … Die Männer vorhin …” Dann beugte sie sich vor, setzte das Tablett ab und fügte hinzu, ohne Frau Meyer oder Helga anzusehen, die hätten doch 340 341 auch die Rahmen mit den Fotos und ein paar von den Gemälden im Treppenaufgang mitgenommen. Nur den Schmuck – sie schluckte hörbar – hätten sie nicht gefunden, denn der sei ja gut versteckt. Frau Meyer starrte vor sich hin, fing wieder zu zittern an und zerrte mit den Fingern an einem Spitzentaschentuch herum, bevor sie sich damit so heftig die Tränen von den Wangen wischte, dass ihre sorgsam gefeilten Nägel Kratzspuren hinterließen. Helga blickte zu Frau Meyer hinüber, wandte sich aber an Rebekka und erhob sich. „Ich rufe jetzt sofort Herrn Meyer im Geschäft an. Die Nummer kennen Sie doch gewiss auswendig. Steht das Telefon immer noch vorn in der Diele, rechts neben der Eingangstür?” Das junge Mädchen hatte sich nicht von der Stelle gerührt, begann jedoch mit den Armen in der Luft herumzurudern. „Ja, hat Ihnen Frau Meyer das denn nicht erzählt? Das ist es doch! Sie haben ihn abgeholt, heute Morgen, gerade, als der Chauffeur ihn ins Geschäft bringen wollte. Sie sind mit mehreren Wagen gekommen; ich glaube, da saßen auch schon ein paar Leute drin, die sie ebenfalls festgenommen hatten, gewöhnliche Männer, halt keine Uniformierten. Einer von dem Kommando – hundertprozentig kenn ich mich da nicht aus, aber wahrscheinlich war das ein Offizier von der Staatspolizei –, der ging ja noch, er hat sich ziemlich anständig benommen, weder Hiebe noch Fußtritte ausgeteilt, aber die anderen … mit Samthandschuhen sind die nicht gerade vorgegangen. Aber gesagt hat er nichts, als sie anfingen, die Leuchter und was da sonst an Wertsachen in Reichweite stand, in die Taschen zu stecken. Er hat nur eingegriffen, als einer das Wasser aus einer Kristallvase mit silbernem Henkel einfach in den Flügel goss.” Rebekka ließ die Hände sinken und sah Helga an, als erwarte sie eine Antwort. Dann begannen ihre Zähne zu klappern, sie taumelte und sank in einen Sessel, während Frau Meyer vor sich hin plapperte, ständig wiederholte, sie heiße doch gar nicht Else Sara, sondern lediglich Else und ihr Mann Herbert, mit zweitem Vornamen Karl, nicht Israel; zwischendurch stieß sie immer einmal wieder einen Seufzer aus. Helga versuchte, sich zusammenzureißen, schaute sich hastig um und entdeckte zu ihrer Erleichterung im Musikzimmer selber ein Plaid, mit dem sie die Mutter ihrer Freundin zudeckte. Im Salon, so erinnerte sie sich, war früher ein mit hellgrüner Seide bezogenes Sofa häufig unter einer dicken Molton-Schutzhülle verborgen gewesen; die holte sie jetzt und wickelte Rebekka darin ein. Ohne ein Wort zu sagen, begab sich sich zum Telefon und blätterte mit fliegenden Fingern in dem daneben liegenden handschriftlichen Verzeichnis nach, bis sie mehrere Eintragungen ausfindig gemacht hatte, die vermuten ließen, es handele sich um Mediziner. Als sie den Hörer ans Ohr presste, blieb die Leitung jedoch stumm. Auf dem obersten Blatt des Blocks gleich neben dem Apparat notierte sie mit dem dazu gehörigen Bleistift zur Sicherheit die Namen und Rufnummern aller Personen 342 343 mit Doktortitel, faltete den Zettel zusammen und kehrte ins Musikzimmer zurück. Ein Arzt würde ja wohl darunter sein. „Ihre Leitung ist in der Tat gestört”, erklärte sie Frau Meyer und hockte sich vor ihr auf den Boden. „Ich werde jetzt mit der nächsten Elektrischen nach Hause fahren und von dort aus anrufen. Vielleicht können Sie mir noch rasch sagen, wie Ihr Hausarzt heißt.” Frau Meyer lächelte vor sich hin und spielte mit ihren Fingern. „Dr. Goldmann.” „Aber Frau Meyer, der ist doch vor einem halben Jahr ausgewandert”, wandte Rebekka ein und zog die Moltonhülle fester um sich. „Dr. Goldmann”, wiederholte Frau Meyer und lächelte immer noch. Da Rebekka sich wenigstens soweit gefangen zu haben schien, dass sie Auskunft geben konnte, kniete Helga neben ihrem Sessel nieder und las ihr leise die Liste der Namen vor, die sie vor wenigen Minuten aufgeschrieben hatte. „Versuchen Sie Dr. Ripp … wenn sie den nicht auch … und Frau Dr. Rose, aber die ist eigentlich …” „Hab schon verstanden”, sagte Helga mit betont forscher Stimme. „Wenn du’s … wenn Sie’s schaffen, Rebekka, verhindern Sie, dass Frau Meyer das Haus noch einmal verlässt. Ich schließe jetzt den Lieferanteneingang hinten und auch die Haustür von innen zu, obwohl das wegen der eingeschlagenen Fensterscheibe eigentlich nichts nützt. Da werde ich übrigens rausklettern. Aber wenn von dort kein Licht nach außen fällt, merkt das vielleicht keiner. Die Stehlampe hier in der Ecke schalte ich gleich einmal ein, sonst kriegen Sie ja noch das arme Dier. Ich beeile mich, und verlassen Sie sich darauf: Ich schicke Ihnen einen Arzt, der Frau Meyer eine Beruhigungsspritze gibt. Wenn sich’s irgend einrichten lässt, schaue ich später noch einmal rein; heute Abend um acht feiern wir nämlich …” Helga drehte sich ruckartig um und schlug sich auf den Mund, entsetzt über sich selber. Dann rannte sie von einer Tür zu anderen, drehte die Schlüssel zweimal herum und zog die beiden Voilegardinen neben der Eingangstür durch jeweils eine Stuhllehne, sodass sie nicht nach draußen flattern konnten, bevor sie das Gartentor zuschmetterte. 344 345 „Mein Gott, Helleken”, rief Ida ihr entgegen, „haben wir uns Sorgen um dich gemacht! Wo hast du denn so lange gesteckt? Du … du bist doch nicht etwa durch die Prüfung gefallen?” Ida hatte die Arme in die Hüften gestemmt und war auf den Flur hinausgetreten, als Helga die Treppe heraufgesprungen kam, immer zwei Stufen auf einmal. „Und wie du aussiehst! Du musstest doch hoffentlich nicht den ganzen Weg zurück laufen? Im Kurzwarenladen, wo ich das Stopfgarn gekauft habe, hat eine Frau erzählt, die Elektri- schen kämen kaum durch, vielerorts läge was auf den Gleisen – stimmt das?” Sie folgte Helga mit einem Trockentuch in der Hand bis in die Garderobe. „Wenn die Frau Landwehr Dienstschluss hat, geh ich mal rüber und frag sie; als Schaffnerin muss sie das ja mitgekriegt haben. Die Frau Reiser aus der Eichendorfstraße hat gesagt, sie hätten auch die Fenster der jüdischen Schule eingeworfen, aber da wären schon wieder neue eingesetzt worden. Darauf hat die Frau Müller die Geschichte mit der Handarbeitslehrerin erzählt. Der Herr Abt – ich glaub, der ist seit ewigen Zeiten Rektor – hatte beim Hagener Schulamt eine angefordert, weil die alte wohl ins Ausland gegangen war. Sie haben nur eine arische gefunden, und die hat sich dann geweigert, jüdischen Kinder Häkeln und Stricken beizubringen. Jetzt haben sie wohl eine neue, aber … Nun sag mal, wen musst du denn so dringend anrufen, bevor du auch nur einen Bissen zu dir nimmst? Und übrigens, das Telefonfräulein unten in der Zentrale wollte schon zwei Gespräche aus England für dich durchstellen.” Ida sah Helga missbilligend zu, wie sie die Wählscheibe drehte und sich nach einigen vergeblichen Versuchen einmal über die Augen wischte. „Frau Dr. Rose?”, fragte Helga schließlich und atmete erleichtert auf. „Hier ist Helga Schulte … ja, ganz richtig, aber das tut jetzt nichts … Sie müssen bitte sofort Frau Meyer helfen, ihr Hausarzt ist nicht zu erreichen. Sie hat einen Nerven- zusammenbruch erlitten. Ihr Dienstmädchen hält sich gerade noch über Wasser, aber Sie nehmen besser Medikamente für beide mit … Weil ich sie in der Nähe ihrer Villa auf der Straße getroffen habe, als ich heute Mittag nach meiner Schwesternhelferinnenprüfung im Allgemeinen Krankenhaus an der Volme entlang ging. Ach ja, klopfen Sie an der Hintertür, und wenn niemand öffnet, steigen Sie durch das Fenster rechts von der Außentreppe ein. Bitte machen Sie sich sofort auf den Weg. Ich hab’s der Rebekka versprochen … Nein, das ist nicht ihre Tochter, sondern das Dienstmädchen. Wohnen Sie denn weit weg? … Gut!” Nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte, folgte sie Ida in die Küche und trug aus der Speisekammer etwas Käse, ein Stück Apfelkuchen und einen Rest Möhrensalat zu dem großen Tisch hin, wo Ida inzwischen einen Teller, Besteck und ein Glas bereit gestellt hatte. „Elli Weiser und ich … aber das hast du ja mitbekommen. Herr Meyer ist heute Morgen festgenommen worden, und Frau Meyer braucht ganz dringend ärztliche Hilfe. Im Rahmen unseres Schwesterhelferinnenlehrgangs haben wir natürlich auch … Ich bin jedenfalls sicher, dass sie einen Nervenzusammenbruch erlitten hat, so wie sie sich verhielt.” Ida fragte, ob sie denn geschrien oder sich auf dem Boden gewälzt hätte. Aus ihrer Stimme war keinesfalls Besorgnis, sondern eher Neugierde herauszuhören. 346 347 „Nein, das nicht. Ich muss ehrlich zugeben, dass so etwas mir lieber gewesen wäre; mit einem hysterischen Anfall kann ich fertig werden. Du hast Frau Meyer nie zu Gesicht bekommen, oder?” „Doch”, erwiderte Ida, „einmal, in der Stadt, als ich Frau Müller, die vom Kurzwarengeschäft, auf der Elberfelder Straße, getroffen hab. Die kannte sie nämlich und hat nur gemeint, so was von eingebildet gäb es selten. Aber die Helga, die mochte ich ganz gern.” „Helga, ach du liebe Güte! Ich habe doch versprochen, ihr sofort Bescheid zu geben!” „Nun iss erst einmal zu Ende. Auf die fünf Minuten kommt es auch nicht an, und außerdem – ob sich da so ohne weiteres eine Verbindung herstellen lässt … Dein Vater hat heute seine Mittagessen auch bloß so runtergeschlungen. Ich nehme mal an, dass es überall drunter und drüber geht.” Während Helga kaute und immer wieder mit einem Schluck Saft nachspülte, berichtete Ida, sie habe beim Staubwischen den Volksempfänger im Salon eingeschaltet, aber da sei fast nie Musik gesendet worden, sondern sie hätten kaum etwas anderes als Nachrichten gebracht, einmal auch eine Rede. Mitten in Idas Schilderung hinein wurde mehrfach hintereinander und sehr energisch an der Haustür geläutet. „Immer langsam mit de jungen Pferde”, meinte Ida, „wo brennt’s denn?” Helga meldete von der Garderobe aus ein Gespräch nach Neuf-Brisach im Elsass an, schlug den Rückweg zur Küche ein und rief Ida schon vom Flur aus zu, sie habe Recht gehabt – es sei mit einer Wartezeit von ein bis zwei Stunden zu rechnen. Plötzlich sah sie sich einem Mann in SA-Uniform gegenüber. Sie fuhr zusammen und wich einen Schritt zurück, als Ida fragte, ob sie denn Erich, ihren Bruder Erich, nicht mehr erkenne. Helga schöpfte einmal tief Luft und nahm langsam wieder am Tisch Platz, um die letzten Reste des Apfelkuchens in den Mund zu stecken. Zu Helgas Überraschung war es Erich, der das Schweigen unterbrach und sowohl ruhig als auch höflich erklärte, er sei gekommen, um seine Schwester abzuholen. Er bitte um Verständnis dafür, dass sie wohl frühestens am nächsten Tag ihren Dienst wieder aufnehmen werde. Sein Großvater habe nämlich mit seinem Gespann einen Unfall erlitten, genauer gesagt, die beiden Pferde seien durchgegangen, und dabei sei er aus der Kutsche geschleudert worden. Der Arzt habe mehrere Knochenbrüche festgestellt, aber am meisten Sorge bereite ihm und natürlich seiner Familie doch, dass der Großvater das Bewusstsein noch nicht wieder erlangt habe. Helga entschloss sich, Erich nun doch anzuschauen, und während Ida in ihrer Kammer ein Stockwerk höher das Nötigste zusammensuchte, erkundigte sie sich, wie das denn hätte passieren können – sie kenne niemanden, der besser mit Pferd und Wagen umzugehen verstehe als Opa Effenkamp. 348 349 „Die Synagoge”, erwiderte Erich, „er ist an der Synagoge vorbei gefahren, als die Flammen aus den Fenstern schlugen und die Fensterscheiben wegen der Hitze zersprangen.” Es hätte Helga durchaus interessiert, was den uralten Bauer Effenkamp nach Einbruch der Dunkelheit mit seinem Pferdegespann in die Potthofstraße geführt hatte, aber danach fragen wollte sie nicht, und das, was Erich nun vorbrachte, klang wie auswendig gelernt und hatte ihrer Meinung nach mit dem Unfall seines Großvaters höchstens mittelbar etwas zu tun. Helga nahm sich vor, Ida nach ihrer Rückkehr vom Bauernhof ein wenig auszuhorchen. „Von oben war die Weisung ergangen, Synagogen nur in Brand zu setzen, wenn keine Gefahr für die umliegenden Gebäude bestand. Wohnungen und Geschäfte, die Juden gehören, sollten bloß zerstört, aber nicht geplündert werden. Was da an Übergriffen, auch an Gewalttätigkeit gegenüber Juden stattgefunden hat, war eigentlich untersagt, jedenfalls nicht vorgesehen, aber dem berechtigten Volkszorn Einhalt zu gebieten, dafür reichten die zur Verfügung stehenden Beamten einfach nicht aus, also die Leute von der Ordnungs- oder Sicherheitspolizei, die SS und selbstverständlich wir von der …” Erich unterbrach sich, als Ida in Mantel und Kopftuch mit einer Tasche die Küche wieder betrat. „Weißt du, Erich”, sagte sie und hängte noch rasch das Trockentuch auf, „dass sie heute Morgen den Herrn Meyer vom Damenoberbekleidungsgeschäft festgenommen haben? Er ist nämlich der Vater von Helles Freundin Helga, die wir immer ,die andere Helga’ nennen und die jetzt mit ihrem Mann im Elsass wohnt.” „Da hat sie genau das getan, was die da oben sich zum Ziel gesetzt haben: Deutschland judenfrei zu machen. In Wien gibt es doch eine Zentralstelle für jüdische Auswanderung, und ich hätte gar nichts dagegen, wenn sie hier auch so etwas einrichteten. Da dürfen die Juden selber alles in die Wege leiten, damit sie woanders aufgenommen werden, also sich um die Papiere kümmern und die erforderlichen Bescheinigungen beibringen. Die Amerikaner und ein paar andere Länder verlangen zum Beispiel ein Affidavit …” „Affidavit, was bedeutet das?” Helga wollte eigentlich so wenig Worte wie möglich mit Erich wechseln, um ihm zu zeigen, dass sie die SA verabscheute, aber er schien sich auszukennen. Der Begriff kam nämlich in dem Gedicht vor, das Helga Herberts’ letztem Brief beigefügt war und den sie wegen der Prüfungsvorbereitungen bislang nicht im Lexikon nachgeschlagen hatte. Erich richtete sich gerade auf und erläuterte, ein Affidavit sei eine Art Bürgschaft. Jemand, der bereits in dem aufnehmenden Land ansässig sei, verpflichte sich eidesstattlich, für den Unterhalt der um eine Einwanderungsgenehmigung ersuchenden Person aufzukommen. Er selber, das wolle er noch einmal betonen, habe gegen Juden gar nichts. Über Dr. Rosenthal habe er nur Gutes gehört, nicht zuletzt von Ida, die ja wie der ganze Schulte’sche Haus- 350 351 halt zu seinen Patienten gezählt habe. Blankensteins genössen unter ihren ehemaligen Arbeitern, von denen die meisten längst der Partei und einige der SA beigetreten seien, immer noch einen ausgezeichneten Ruf. Aber er halte es mit dem alten Sprichwort ,Gleich und gleich gesellt sich gern’, und deshalb fände er es gut, wenn sie alle Deutschland verließen. „Dem Herrn Meyer, dem wird wohl nichts passieren”, fügte Erich so sachlich hinzu, als löse er eine Rechenaufgabe. „Sie werden ihn vermutlich ein bisschen einsperren und dann gegen die Zahlung einer bestimmten Summe wieder freilassen, sozusagen eine Strafe für Störung der öffentlichen Ordnung – Scherben auf dem Gehweg und sogar auf der Fahrbahn … etwas in dieser Richtung. Von einer Geldbuße war heute früh bei Dienstantritt die Rede. Aber jetzt hast du hoffentlich alles, Ida. Warum Frauen bloß immer so herumtrödeln!” Helga wusste nicht, was sie sagen sollte. Opa Effenkamp mochte sie gern und hatte ihn, seitdem sie zu den Erwachsenen gehörte, immer um seine Bauernschläue beneidet. Zudem war ihr jemand wie Erich, aus dessen Worten sich weder Hass noch irgendein anderes Gefühl heraushören ließ, eigentlich noch nie begegnet. So begnügte sie sich damit, Ida zu versichern, sie werde ihre Eltern davon verständigen, was geschehen sei, und später ein einfaches Abendessen für die beiden vorbereiten, bevor sie das Haus wieder verlasse. Dann setzte sie noch rasch hinzu, sie werde ein kleines Gebet für Opa Effenkamp spre- chen. Ida solle auf jeden Fall anrufen, falls Schultes etwas für sie tun könnten. In der Tür drehte Ida sich noch einmal um und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Und die Prüfung? Die haben wir ja ganz vergessen!” „Mit Auszeichnung bestanden”, sagte Helga und wartete darauf, endlich allein zu sein. 352 353 Ida hatte natürlich auch in Helgas Zimmer aufgeräumt. Der Leitzordner, der kurz vor ihrem hastigen Aufbruch heute Morgen zu Boden gedonnert war, thronte wieder oben auf dem Stapel, und die drei Briefumschläge lagen gefächert mitten auf dem Schreibtisch. Mit einem Blick auf ihre Armbanduhr stellte Helga fest, dass es halb vier war und ihr genug Zeit blieb, nicht nur in aller Ruhe ihre Post zu lesen, sondern auch ihren Vater zu suchen, der sich irgendwo im Betrieb aufhalten musste, um ihm Bericht zu erstatten. Kurz zog sie in Erwägung, über die Hausleitung in seinem Büro anzuläuten, verwarf jedoch diese Lösung sofort wieder, weil sie befürchtete, genau in dem Augenblick könnte die Telefonistin in der Werkszentrale versuchen, das angemeldete Gespräch mit Helga Herberts durchzustellen. Irgendwann zwischen vier und sechs würde sie die Nachspeise für die Feier heute Abend zubereiten und … ja, ob ihre Mutter an die versprochene Drei-Kilo-Tüte Bonbons gedacht hatte? Wie an jedem zweiten Donnerstagnachmittag traf sie sich nämlich mit den Damen ihres Kränzchens, und vor sie- ben Uhr würde sie nicht wieder in der Schillerstraße eintreffen. Aufbrechen müsste sie selber allerdings erst … Das Telefon läutete, und gleichzeitig fiel eine Etage tiefer die Haustür ins Schloss. Helga hob den Hörer ab. Die freundliche, klare Stimme des Telefonfräuleins kündigte an, sie werde jetzt die Verbindung mit Neuf-Brisach, Frankreich, herstellen, und unmittelbar darauf wiederholte die andere Helga, wobei es in der Muschel einmal mehr, einmal weniger rauschte, ihren Namen. „Helga? Helga Schulte in Hagen-Eckesey? Bist du’s, Helle?” „Wie geht es dir? Wie geht es euch beiden? Deinem letzten Brief entnehme ich, dass ihr dort gut Fuß gefasst habt und dass Ernst in seiner Steuerberatungspraxis mit deiner Hilfe schon über zehn Kunden betreut.” „Genau elf”, meinte die andere Helga und lachte, „aber immerhin. Die meisten gehören übrigens dem gleichen Personenkreis an wie Ernst und ich – du verstehst schon, was ich meine. Aber deswegen rufst du doch nicht an.” Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang plötzlich sehr besorgt, so, als ahne Helga Herberts, was an Nachrichten auf sie zukam. Bevor Helga ihren Entschluss in die Tat umsetzen konnte, ohne jede Beschönigung das, was sie in Erfahrung hatte bringen können, zusammenzufassen, hörte sie die andere Helga leise und deutlich sagen, sie versuche seit sieben Uhr früh vergeblich, sowohl in der Villa als auch im Geschäft jemanden zu erreichen. Nicht nur im Elsass, sondern in ganz Frankreich sei man über die Ereignisse der vergangenen Nacht natürlich unterrichtet. Seit dem Mordanschlag auf den Legationssekretär habe sie kaum ein Auge zugetan, aber da es sich bei dem Attentäter um einen Polen und nicht um einen Deutschen handle, habe sie bis zu den ersten Rundfunkmeldungen gestern Abend eigentlich darauf vertraut, bis nach Hagen werde die Geschichte keine Kreise ziehen. „Dein Vater ist heute Vormittag festgenommen worden, wahrscheinlich von der Staatspolizei. Der befehlshabende Offizier soll sich anständig verhalten haben; verletzt ist dein Vater jedenfalls nicht. Erich Effenkamp, Idas Bruder, meinte dazu, die zuständigen Dienststellen seien angewiesen worden, sie – also vermutlich jüdische Geschäftsleute und Freiberufler – einzusperren und gegen ein entsprechendes Lösegeld ziemlich rasch wieder freizulassen. Erich ist kein typisches Mitglied der SA, und ich hatte den Eindruck, dass er genau das wiedergab, was ihnen bei Dienstantritt vorgelesen worden war, weil er sich auf ein Blitz-Fernschreiben von SS-Gruppenführer Heydrich bezog. Vielleicht hat er alles ja auch nur zufällig mitgehört. Wie dem auch sei – er schien die Sache nicht besonders ernst zu nehmen. Deine Mutter habe ich auf der Straße getroffen und nach Hause begleitet. Sie hat einen Schock erlitten und brauchte dringend ärztliche Hilfe. Frau Dr. Rose … ja, ich weiß, dass sie eigentlich Frauenärztin ist, aber Dr. Goldmann ist ausgewandert, und Dr. Ripp war nicht zu erreichen. Frau Dr. Rose hat 354 355 sich sofort nach meinem Anruf auf den Weg gemacht; glücklicherweise liegt ihre Praxis nicht einmal eine Viertelstunde von eurer Villa entfernt. Rebekka leistet deiner Mutter Gesellschaft, obwohl Frau Dr. Rose sich auch um sie wird kümmern müssen. Nein, viel Schaden haben sie nicht angerichtet; wie gesagt, der Offizier hat sich wohl strikt an die Anweisungen gehalten. Die kleineren der Gemälde im Treppenhaus hätten sie mitgenommen, sagte Rebekka … Nolde? Aber der zählt doch zu den ,entarteten’ Künstlern! Ich kann mir nicht vorstellen, dass … Ja und nochmals ja, Helga – du hast schon Recht mit deiner Bemerkung, dass die SA gestern Abend und heute Nacht aus einer Art Versenkung wieder aufgetaucht ist und dass ihnen wohl die brutalsten Übergriffe zuzuschreiben sind. Aber – hör bitte zu, Helga! – an dem, was Erich Effenkamp eben so ruhig vorgetragen hat, als läse er den Seewetterbericht im Rundfunk, daran zweifle ich nicht. Es klang nicht so, als hätte er es erfunden … Richtig, wir werden ja sehen. Ich halte dich auf dem Laufenden. Bei euch in der Villa haben sie höchstwahrscheinlich die Telefonleitung gekappt … Ach ja, außer den Bildern und etwas Silber haben sie nichts gesucht und gefunden. Hast du verstanden?” Helga legte auf und starrte vor sich hin. „Nur gut, dass ich Kathrine bei Marga Dennersmann im Lager abgegeben habe!”, hörte sie Luise sagen und spürte unmittelbar darauf die Hand ihrer großen Schwester auf ih356 rer Schulter. „Sie hilft – jedenfalls bildet sie sich ein, dass sie sich nützlich erweist –, Gläserware für die Musterkoffer in die Röhrchen mit den Silberpapierstreifen zu schieben. Komm, gehen wir in dein Zimmer. Ich traue Telefonapparaten seit einiger Zeit nicht mehr.” „Dass Gespräche mitgehört und vielleicht sogar aufgezeichnet werden mit Hilfe dieses seltsamen Geräts von AEG, Magnetophon heißt es, glaube ich, hat mir … hat mir Fritz Blankenstein aus Cambridge geschrieben, Cambridge Massachusetts natürlich. Er ist übrigens auch der festen Überzeugung, dass bei uns Briefe, besonders welche aus dem Ausland, über Wasserdampf geöffnet und gelesen werden. Sie geben sich zwar Mühe mit dem Wiederzukleben, aber wenn man den Umschlag ganz genau untersucht, sieht man halt doch, dass sich das Papier an einigen Stellen leicht wellt.” Während Helga sprach, hatte Luise aus dem Fenster geschaut. Jetzt wandte sie sich mit einem Ruck um, und ihr Gesicht wirkte zu Helgas Überraschung beinahe so verstört wie das von Frau Meyer heute Morgen. „Ich wollte dich um etwas bitten. Würdet ihr, also Ida und du, auf Kathrine aufpassen, und können die Kinder notfalls hier schlafen? Otto wird nach seiner HJ-Veranstaltung auch in die Schillerstraße kommen, das heißt, wenn er nicht aus lauter Gewohnheit den Heimweg einschlägt und dann vor unserer verschlossenen Wohnungstür steht.” 357 Sie zog ein silbernes Etui aus ihrer Handtasche, steckte eine Zigarette in die Spitze aus Schildpatt und atmete den Rauch tief ein. „Otto, sein Vater natürlich, ist nämlich von der Gestapo zu einem Verhör abgeholt worden.” „Warum denn das?”, fragte Helga entsetzt. Ganz kurz zog ein Lächeln über Luises Gesicht; dann wurde sie wieder ernst. „Ach, Helle, in letzter Zeit ist es für jemanden wie Otto nicht schwer, gegen das eine oder andere Gesetz zu verstoßen. Sie könnten zum Beispiel auf irgendeine Weise entdeckt haben, dass einige Offiziere sowie hochgestellte Mitarbeiter der Abwehrabteilung im Reichsinnenministerium, unter anderem Canaris und Oster, mit dem Gedanken an einen Putsch gegen Hitler mehr als nur gespielt hatten, bevor durch das Münchner Abkommen der Frieden noch einmal gewahrt wurde. Aus meiner Sicht ist das allerdings nicht sehr wahrscheinlich, weil erstens Canaris und Oster nach wie vor bei der Abwehr tätig sind und zweitens kaum jemandem zu Ohren gekommen sein wird, dass Hitler eigentlich einen tiefen Groll gegen Göring und Mussolini hegt, die ihn daran gehindert haben, einen Krieg zu beginnen.” „Das glaube ich dir nicht”, verkündete Helga überzeugt. „Das Volk ist dem Führer unendlich dankbar dafür, dass der Konflikt dank seines unermüdlichen Einsatzes ohne den Griff nach der Waffe beigelegt werden konnte.” Luise grinste. „Schrieb die deutsche Presse, ja, Helle. Aber hat dich denn niemand, weder einer der Blankensteins noch dein liebenswürdiger englischer Anbeter, wenn auch verschlüsselt darüber aufgeklärt, wie die Sache wirklich gelaufen ist? Kurzum: Jetzt weißt du’s, und ich bitte dich inständig, diese Informationen für dich zu behalten. Aber zurück zu den Gründen, die zu Ottos Verhaftung geführt haben könnten – unwahrscheinliche Möglichkeit Nummer eins: Mit Hans Oster hat Otto des Öfteren Ferngespräche geführt, und ich vermute einmal, dass unsere Nummer auch in dessen Telefonregister verzeichnet ist, ganz einfach deshalb, weil Otto von Hans Osters Vater in Dresden konfirmiert worden ist und weil sie sich von Schulweg kannten, wenn sie auch nicht in dieselbe Klasse gegangen sind. Was die Politik anbetrifft … Dir wird nicht entgangen sein, dass Otto nicht unbedingt die Parteilinie einhält, freilich aus anderen Gründen als Oster, der in Ottos Augen etwas zu konservativ denkt. Aber kritisch dem Regime gegenüber sind sie beide eingestellt.” Helga hatte mit gerunzelter Stirn zugehört und wollte gerade eine Frage stellen, als Luise ihr das Wort abschnitt. „Schon wahrscheinlicherer möglicher Grund Nummer zwei: ein Witz.” „Ein was?” „Ein Witz … oder jedenfalls eine ausgesprochen gelungene Formulierung. Zu den Münchener Verhandlungen über 358 359 das Schicksal der Deutschböhmen, sprich: Sudetendeutschen, zwischen Chamberlain, Daladier, Mussolini und Hitler war Herr Benesch, der Staatspräsident der Tschechoslowakei und damit Hauptbetroffener, nicht geladen, und so zirkulierte der Ausspruch Über uns, ohne uns bald überall. Aber was wahr ist, darf man in deutschen Landen zurzeit nicht unbedingt laut sagen, und vielleicht hat Otto das in einer Kino-Warteschlange seinem Begleiter … Du erinnerst dich doch daran? Am Vortag von Vaters 60. Geburtstag hat er schon von einer Verhaftung aus einem solchen Grund berichtet.” Luise warf einen Blick auf die Uhr und meinte, jetzt könne der Bote aber allmählich eintreffen ; es sei ja schon halb fünf. Dann zuckte sie die Schultern und fügte hinzu, natürlich habe sie sich auch noch nie damit beschäftigt, die Anzahl der Hagener Polizeidienststellen zu zählen. „Bote?”, warf Helga ein, „welcher Bote?” Aber Luise ging auf die Zwischenfrage ihrer Schwester nicht ein. „Des Weiteren würde ich es Otto durchaus zutrauen, dass er gegen dieses Gesetz verstoßen hat, das sie im Zusammenhang der Arisierung von Läden und Betrieben erlassen haben. Es besagt, dass kein Arier als Strohmann für Nicht-Arier Geschäfte abwickeln darf. Unsere jüdischen Bekannten sind, genau wie Blankensteins und die gesamte Familie Rosenthal, längst ins Ausland geflüchtet, aber es kann ja sein, dass einer von Ottos Geschäftsfreunden ihn gebeten hat, ihn zu decken, damit er einen annehmbaren Preis für seinen Betrieb erzielt.” Helga nickte und schien ein wenig stolz darauf zu sein, zu der ziemlich einseitigen Unterhaltung etwas beitragen zu können. „Deswegen war ja ich so erleichtert heute Mittag bei Meyers. Das neue Dienstmädchen, die Rebekka – Arierinnen dürfen nicht mehr bei ihnen arbeiten –, hat mir gegenüber ausdrücklich erwähnt, dass die Männer von der Sicherheitspolizei – oder wer das auch immer war – den Schmuck nicht gefunden haben. Den können Meyers verkaufen, sobald Herr Meyer frei gelassen worden ist, und damit die Reichsfluchtsteuer begleichen; das hoffe ich wenigstens. Ob sie zu Helga ins Elsass übersiedeln dürfen oder ob die Franzosen ihre Grenzen inzwischen auch dicht gemacht haben, weiß ich freilich nicht. Helga hat mir schon letztes Jahr, kurz nach der Heirat mit Ernst Herberts und und als sie dort eine neue Heimat gefunden hatten, so ein Gedicht geschickt … Ich hab es wohl verklüngelt”, fügte sie hinzu und kratzte sich einmal verlegen, fügte dann aber noch hinzu, da sei auch von der Dominikanischen Republik die Rede gewesen. Freilich müsse sie gestehen, dass sie gar nicht wisse, wo dieser Staat liege. „Ach, es wird um die Konferenz von Evian gehen”, meinte Luise. „Da haben sich auf Einladung von Präsident Roosevelt im Juli die Vertreter von zweiunddreißig Ländern getroffen und sich alle darum gerissen, jüdische Flüchtlinge aufzunehmen … 360 361 Natürlich spaße ich. Außer deiner Dominikanischen Republik hat sich nur Costa Rica bereit erklärt, deutsche Juden, die ihnen selbstverständlich nicht auf der Tasche liegen, sondern diese eher füllen würden, einwandern zu lassen.” Helga schwieg betroffen, bestand dann aber darauf, endlich zu erfahren, unter welchen Umständen ihr Schwager denn festgenommen worden sei. Sie wunderte sich schon die ganze Zeit lang darüber, wie ruhig Luise wirkte, einmal abgesehen davon, dass sie eine Zigarette nach der anderen rauchte. „Sie sind wohl im Betrieb erschienen und haben ihn aufgefordert mitzukommen, ohne ihm Handschellen anzulegen oder sonst Gewalt anzuwenden. Er durfte sogar seinen Mantel anziehen und seinen Hut aufsetzen. Die Chefsekretärin hat sofort jemanden zu uns in die Wohnung geschickt und mich auch wissen lassen, dass sie mit einer Stenotypistin aus dem Polizeihauptquartier befreundet ist, bei der sie gleich einmal Erkundigungen einziehen wollte. Wohlgemerkt: Die Chefsekretärin ist Parteimitglied, irgendetwas Hohes in der NS-Frauenschaft, und einen Orden hat sie auch irgendwann einmal erhalten. Aber auf Otto lässt sie nichts kommen. Sobald sie herausgefunden hat, wohin sie Otto gebracht haben, sendet sie einen Boten hierher, und auf den warte ich jetzt.” Helga gingen so viele Dinge auf einmal durch den Kopf, dass sie gar nicht wusste, womit sie anfangen sollte. So erklärte sie Luise zuerst einmal, Ida sei von ihrem Bruder Erich abgeholt worden und werde frühestens am nächsten Morgen wieder zurückkehren, denn Bauer Effenkamp habe einen schweren Unfall erlitten. Luise nickte, meinte nur, Helga oder ihre Mutter könne ja die beiden Kinder genauso gut versorgen, lehnte sich gegen die Fensterbank und überlegte genau wie Helga eine Stunde früher, was einen so alten Mann dazu getrieben haben mochte, in der Dunkelheit mit einem Pferdegespann seinen Hof zu verlassen und ausgerechnet an der Synagoge vorbei zu fahren. „Um eine solche Frage beantworten zu können, wenn er mit seinem westfälischen Dickschädel überhaupt dazu bereit ist, muss er zunächst einmal das Bewusstsein wiedererlangen”, sagte Helga , bevor Luise erneut die Wortführung übernahm. „Übrigens: Erich hat seiner Schwester und dir vorhin die Wahrheit gesagt. Das kann ich deswegen bestätigen, weil die gerade erwähnte Chefsekretärin Otto vor ein paar Wochen gefragt hat, ob seine jüdischen Freunde und Bekannten bereits alle Deutschland verlassen hätten. Von behördlicher Seite – genauere Angaben wollte sie nicht machen, und das ist ja auch nicht nötig – würden Listen gesunder, vermögender Juden mittleren Alters aufgestellt, und sie hielt es nicht für ausgeschlossen, dass man diese Männer für kurze Zeit in Konzentrationslager stecke, wo Kommunisten und Feinde des Regimes ganz allgemein gefangen gehalten werden. Die Geschichte mit dem Lösegeld hat also durchaus Hand und Fuß. Eins von diesen Lagern liegt ganz in der Nähe von Berlin, ein weiteres, glaube ich, nicht weit von Weimar entfernt. Aber es ist mit Sicherheit 362 363 besser, dass Helga Meyer” – Helga Herberts, verbesserte Luise sich –, „und auch ihre Mutter zumindest ein paar Tage in dem Glauben verbringen können, dass ihr Vater und Ehemann lediglich in einer Ausnüchterungszelle auf einem Hagener Polizeirevier festgehalten wird.” Luise hob den Kopf, als hätte sie ein Geräusch gehört, starrte dann aber auf ihre Füße, während Helga einmal auf ihrem Bett herumrutschte. „Das mit der Münchener Konferenz und dem geplanten Umsturzversuch habe ich nicht verstanden, Luise. Warum hätte denn irgendein Land einen Krieg beginnen sollen, wo doch die Sudetendeutschen genau so begeistert für eine Eingliederung ins Reich gestimmt haben wie die Österreicher vor ihnen? Sie sprechen Deutsch wie wir, und auf der Friedenskonferenz 1919 hat der damalige amerikanische Präsident Wilson das Recht auf Selbstbestimmung der Völker ausdrücklich hervorgehoben.” „Es ist aber ebenso ausdrücklich festgelegt worden, dass Deutschland und Österreich keiner gemeinsamen Regierung unterstehen dürfen”, warf Luise dazwischen, aber Helga fuhr fort, als hätte sie den Einwand nicht gehört. „Die Saarländer durften sich als erste entscheiden; damals war ich noch zu klein, um etwas davon zu verstehen. Aber die Volksabstimmung am 10. April dieses Jahres habe ich selbst miterlebt – erinnerst du dich? Ich hatte Wahldienst als RoteKreuz-Helferin, um die Leute zu betreuen, die im Rollstuhl gebracht wurden, auch die Kriegsversehrten mit Krücken und Prothesen – ihnen Sitzgelegenheiten anzubieten zum Beispiel oder auch etwas zu trinken, das war uns eine Ehre.” Helga unterbrach sich kurz, um Luise zu fragen, ob der Bote gleich klingeln oder vorher anrufen würde. Luises Stimme klang fast ein wenig mitleidig, als sie ihre Schwester daran erinnerte, was Fritz ihr geschrieben hatte. „Feind hört mit”, sagte sie leise und nicht ohne Ironie, „fragt sich nur, wer der Feind ist. Aber es wundert mich eigentlich kaum, dass du die Ereignisse der letzten Monate nur von der positiven Seite siehst. Erinnerst du dich an diese Wochenschau, die sie ungefähr zehn Tage nach dem Anschluss gezeigt haben, welchselbiger wohlgemerkt schon im März, also vor der Volksabstimmung stattgefunden hat – mit welchem Film lief sie noch ? Otto, Rudolf, du und ich haben ihn gemeinsam angesehen … ach ja, Verklungene Melodie mit Brigitte Horney und Willy Birgel. Da wurde gezeigt, wie die Österreicher ihre Häuser mit grünen Zweigen und Fahnen geschmückt hatten und in jedem Schaufenster ein Bild des Führers ausgestellt war. Sogar die Flotte der oft zitierten Donaudampfschifffahrtsgesellschaft hatten sie festlich dekoriert. Anstatt wie sonst Werbesprüche schrieben Flugzeuge Ja an den Himmel, und eine von den Zündholzschachteln, auf der genau gezeigt wurde, wo man sein Kreuz zu setzen hatte, liegt bei uns zu Hause bestimmt noch in irgendeiner Schublade. Wie du so zutreffend sagst” – Luises Stimme klang plötzlich wieder recht scharf –, „haben alle zuständigen Stellen nichts, aber auch gar nichts unterlassen, um 364 365 den Wahlausgang sicher zu stellen. Alle, die ihrer Glieder nicht mächtig waren, wurden von den wohlerzogenen jungen Männern des NSKK per Kraftwagen abgeholt und wieder bis zur Wohnungstür zurückbegleitet. Die flinken Bürschlein von der HJ spannten sie zum Wahlmahndienst ein; sie durften Bürger, die es verabsäumt hatten, ihre Pflicht zu erfüllen, per Zettel auffordern, dies sofort nachzuholen, denn natürlich wussten sie genau, wieviele Personen in jedem Wohnblock ihr Stimmrecht wahrzunehmen hatten. Freilich war in Rundfunkberichten ausländischer Sender zu hören, dass es vielerorts nicht für nötig erachtet wurde, den Umweg über die Urne zu nehmen; da durfte man, um Zeit zu sparen, seinen Stimmzettel gleich dem Aufsicht führenden Vorsteher des Wahllokals in die Hand drücken. Und abends haben sie es doch wirklich gewagt, das Niederländische Dankgebet zu singen. Worauf sich das wohl bezog, Im Streite zur Seite ist Gott uns gestanden. Er wollte, es sollte das Recht siegreich sein oder Er lässt von den Schlechten die Guten nicht knechten?” Helga starrte Luise an und erwiderte vorsichtig, nach alldem, was sie in der vergangenen Stunde erfahren habe, getraue sie sich nicht auszuschließen, dass Unregelmäßigkeiten hier und da vorgekommen seien. Aber im Allgemeinen habe doch alles seinen rechten Lauf genommen – da, wo sie als RoteKreuz-Helferin eingesetzt gewesen sei, mit absoluter Sicherheit. „Eigentlich hätte der Führer diese Volksabstimmung doch gar nicht durchzuführen brauchen”, meinte sie, und aus ihrer Stimme klang eine gewisse Verärgerung. „Wenn man in einer Wochenschau auch nur das zeigen kann, was einem sozusagen in den Kram passt, winkende Menschen mit strahlenden Gesichtern zum Beispiel, so haben die Zeitungen doch die Erklärungen dieses Kardinals – Innitzer heißt er, glaube ich – nicht erfunden. Ich erinnere mich auch noch genau daran, wie Schauspieler vom Burgtheater den Anschluss begrüßten, welche von den Hörbigers und Paula Wessely ebenfalls. Heim ins Reich, das war in aller Munde. Hitler hat die Volksabstimmung ja auch nur angesetzt, weil er ein besserer Demokrat ist als viele seiner Kritiker; das hat er in einer Rede in Königsberg selber gesagt.” Luise musterte ihre Schwester nachdenklich. „Bist du eigentlich der Partei beigetreten?” „Nein”, erwiderte Helga. „Das werde ich rausschieben, so lange es geht. Sie haben meine beste Freundin vertrieben und den Mann … den Mann, mit dem ich jetzt längst verheiratet wäre; Dr. Rosenthal auch, der mir vielleicht das Leben gerettet hat damals, als ich diese schwere Lungenentzündung hatte, ebenso Issers und die Juden in der Eckeseyer Straße, in deren Ladenlokal der Stiefvater von Ilse Fandrey sein Herrenausstattungsgeschäft einrichten konnte, weil sie gleich nach dem Boykott im April 1933 Deutschland verlassen haben. Helga Meyer war die letzte, die mir richtig nahe stand, aber das, was ich heu- 366 367 te miterlebt habe …” Helga wusste nicht recht, ob sie Luise die Szene mit den beiden Jungen und den SA-Männern schildern sollte. „Und jetzt noch die Verhaftung von Otto.” „All das andere, diese Marschiererei und die Fahnen überall, das stört dich nicht?”, fragte Luise. „Ist es dir gleichgültig, dass seit der Machtergreifung unser Leben von vorn bis hinten, von morgens bis abends nach Plan abläuft? – wohlgemerkt nicht nach einem, den wir selber erstellt hätten.” Luise warf wieder einmal einen Blick auf ihre Armbanduhr und seufzte. „Jetzt könnte er wirklich kommen, dieser Bote! Aber wenn ich das, was du mir von Herrn Meyer erzählt hast, mit dem zusammenrechne, was Rundfunk und Tageszeitungen an Nachrichten über die Nacht vom 9. auf den 10. November verbreiten, muss auf den Polizeidienststellen ja so einiges los sein. Außerdem verfügt die Gestapo, soweit ich weiß, über ihre eigenen Räumlichkeiten, hübsch abgeschieden und mit Sicherheit schalldicht. So etwas nimmst du auch einfach hin – die Existenz einer Polizei, die sich selbst als geheim bezeichnet?” Während Luise sich immer mehr ereiferte, versuchte Helga, ihre Gedanken zu ordnen. „Nicht richtig finde ich zum Beispiel, dass sie Menschen von zu Hause oder von ihrem Arbeitsplatz abholen, einfach, weil sie zum Beispiel Kommunisten sind oder nicht Reichsbischof Müllers Deutschen Christen beitreten wollen. Du erinnerst dich gewiss daran, dass sie 1934 oder ‘35 Pastor Ackermann verhaf- tet und nicht sehr lange danach wieder freigelassen haben. Als er in den Ruhestand versetzt wurde und die Gemeinde zu seiner Verabschiedung eine Feier veranstaltete, hat Vater ihn in meinem Beisein nach dem Grund dafür gefragt. Nachdem Pastor Ackermann sich so umgeschaut hatte, wie viele Leute sich das angewöhnt haben, hat er nur erwidert, er sei noch einmal davon gekommen. Aber sein Nachfolger, der werde wohl das Maul nicht so weit aufreißen wie er. Von Gewissenskonflikten hat er etwas gesagt und vom Löwenmut der ersten Christen.” „Verflixt”, meinte Luise und zerdrückte die leere Packung zwischen den Fingern, „jetzt sind mir doch tatsächlich die Zigaretten ausgegangen! Glaubst du, dass Mutter in irgendeiner Schublade welche für Gäste versteckt hat?” Helga lachte, ohne dass ihr eigentlich danach zumute war, erhob sich und sagte, sie könnten es ja einmal in den drei Salons versuchen. Auf dem Weg dorthin erklärte sie Luise noch, kaum jemand in ihrer Umgebung scheine etwas gegen diese ständige Geschäftigkeit einzuwenden zu haben. Man stehe morgens auf, gehe seiner Arbeit nach und wisse ganz genau, dass man einoder zweimal pro Woche fürs Winterhilfswerk sammeln, an den Treffen der Frauenschaft teilnehmen oder mit irgendeinem der zahllosen anderen Verbände etwas in der Regel Sinnvolles auf die Beine stellen werde. Langweilig sei ja außer den Vorträgen im Grunde nichts, und selbst bei solchen Veranstaltungen könne man ab und zu etwas lernen. Kurzum: Die jungen Leute seien, wie sie Hern Grave vom Versand kürzlich hatte sagen 368 369 hören, von der Straße weg, man rede miteinander, und niemand beklage sich mehr darüber, er sei ja so furchtbar allein. Abschließend stellte Helga nun doch noch die Frage, die ihr seit mindestens einer halben Stunde auf der Zunge lag. „Wenn du so viel gegen diese Vereinsmeierei einzuwenden hast, wieso schickst du eigentlich Otto junior zur HJ? Da ist er doch ...” Die beiden hatten gerade begonnen, die Schubladen der Beistelltischchen und Kommoden herauszuziehen, als das Telefon in der Garderobe läutete. Luise nickte Helga zu. „Melde dich ganz normal. Wenn’s für mich ist, merk dir genau, was er sagt. Es ist besser, wenn niemand weiß, dass ich mich hier aufhalte.” Helgas Herz klopfte stark, als sie den Hörer ans Ohr drückte. Sie hatte sich sich so sehr darauf eingestellt, eine unbekannte Männerstimme zu vernehmen, dass sie nur stotternd auf die Mitteilung der Werkstelefonistin reagierte, sie werde – dritter Versuch an diesem Donnerstag – nun doch noch vor Dienstschluss das Gespräch aus England durchstellen können. Rosemary, ging es Helga blitzschnell durch den Kopf, und sie dachte an den Brief, der seit heute Morgen ungeöffnet auf ihrem Schreibtisch lag. Deshalb fuhr sie richtiggehend zusammen, als aus der Muschel Alfred Barkers Stimme durch das Rauschen dröhnte. „Thank God, Helga darling, ich hatte schon befürchtet, dir sei etwas zugestoßen. Ist bei euch alles in Ordnung? Die BBC sendet einen Bericht nach dem anderen über die Vorkommnisse der letzten Nacht ...” Die Leitung war fast eine halbe Minute so gestört, dass Helga nicht einmal erraten konnte, was Alfred ihr mitzuteilen versuchte. Als das Knattern und Pfeifen aussetzte, redete er so schnell, dass sich seine Worte fast überstürzten. „Du musst da raus. Wir haben ja auf der letzten Messe in Leipzig und auch während meiner Aufenthalte bei unserem gemeinsamen Geschäftsfreund Thees in Köln schon darüber gesprochen, auf welche Weise das geschehen könnte. Die Times kann meinethalben den Anschluss Österreichs mit dem gleichsetzen, was vor zweihundert Jahren den Schotten passiert ist. Aber jetzt wachsen meine Sorgen um dich ins Unendliche. Am liebsten würde ich kommen und dich sofort zu mir holen, aber” – Helga fühlte, wie sich etwas von ihrer Spannung löste, als Alfred Barker jetzt einmal warm lachte – „wo kein Krieg herrscht, herrscht Papierkrieg. Thees meinte, es werde nach den gestrigen Ereignissen mit Sicherheit immer schwieriger werden, die zur Ausreise nötigen Unterlagen zusammen zu bekommen, selbst wenn in unserem Fall die finanzielle Seite als geregelt betrachtet werden kann. Er wird bei deinen Eltern ...” Es knackte mehrfach in der Leitung, bevor die Verbindung vollends abbrach. Helga starrte Luise an und brachte kein Wort heraus. „Ich will nichts Dummes sagen – dumm wäre es schon allein deshalb, weil Fantasie nicht gerade zu meinen Stärken 370 371 zählt. Das war dieser nette Engländer von der Fabrik, die Wickelmaschinen herstellt, nicht wahr? ,Thees’ habe ich auch verstanden, ihm und seiner Frau sind Otto und ich einmal ...” Diesmal ging die Türglocke unten. Luise griff nach ihrem Mantel, streckte Helga grinsend eine Schachtel Zigaretten entgegen, die sie in einer der Kommoden oder Schrankfächer der Salons entdeckt haben musste, wurde wieder ernst und stieg vor ihrer Schwester die Treppe hinunter. „Erinnerst du dich noch an das, was ich dir auf der Fahrt nach Bremerhaven geraten habe, als wir die Eltern abholten und Rudolf den Schlaf des Gerechten schlief? Vergiss es nicht. Mit dem erhobenen Zeigefinger hab ich’s nicht; das steht mir ja auch wahrhaftig nicht zu. Lass dir alles gut durch den Kopf gehen. Und sprich ein kleines Gebet für uns, geh zu den Katholen rüber und zünd ein Kerze an vor der heiligen Rita. Ja, du hast mich richtig verstanden. Sie ist zuständig für schwierige bis hoffnungslose Fälle”, fügte Luise noch hinzu, löschte das Licht im Treppenhaus und überließ es Helga, die Haustür zu öffnen. „Fräulein Schulte? Ich habe eine Nachricht zu überbringen. Sie lautet: Um Punkt sechs im Café Rüggeberg. Dann wünsche ich Ihnen einen schönen Abend.” Bevor Helga auch nur irgendetwas erwidern oder fragen konnte, hatte der junge Mann sich auf sein Fahrrad geschwungen und war in der Dämmerung verschwunden. Luise schlüpfte in ihren Mantel, umarmte Helga einmal und meinte, hoffentlich erwische sie gleich eine Elektrische, denn pünktlich wolle sie unbedingt sein. Dann lachte sie. „Die Amerikaner nennen so etwas blind date, glaube ich – mit wem ich da verabredet bin, kann ich nicht einmal raten: vielleicht schon mit Otto, aber das ist unwahrscheinlich. Wenn sie ihn freigelassen hätten, wäre er gewiss gleich nach Hause gegangen oder hätte mich hier gesucht. Aber lassen wir das. Ich ruf dich auf jeden Fall an, vielleicht noch aus dem Café.” „Ja, tu das bitte. Eigentlich müsste ich um acht im Krankenhaus mit den anderen Schwesternhelferinnen die bestandene Prüfung feiern, aber danach steht mir der Sinn jetzt wirklich nicht: zuerst der Zwischenfall heute Morgen, dann die Geschichte mit Frau Meyer ...” Luise war eindeutig auf dem Sprung, blickte ihre Schwester aber trotzdem fragend an. Helga schüttelte den Kopf. „Das erzähl ich dir ein andermal. Fahr los, viel Glück.” Luise wandte sich noch einmal um und umfasste Helgas Schultern mit beiden Händen. „Natürlich gehst du zu der Feier. Wir schicken Otto doch auch in die HJ. Sei da mutig, wo es sich lohnt. Und jetzt befreie bitte die Damen in der Musterabteilung von Kathrine.” Helga ließ die Arme sinken und blickte Luise nach, bevor sie den Weg zu Frau Dennersmann einschlug. 372 373 Mit ihrer Nichte an der Hand hatte Helga sich auf die Suche nach ihrem Vater gemacht und ihn, nachdem Fräulein Dahm ihr empfohlen hatte, doch einmal in der Bonbonkocherei nachzusehen, dort auch gefunden. Er war in ein Gespräch mit dem Meister vertieft, ging aber trotzdem leicht in die Hocke, um Kathrine in die Arme zu schließen. „Hage und ich haben noch einige wichtige Fragen zu klären, min Deernken”, sagte er und richtete sich ein wenig mühsam wieder auf. „Wir sind nämlich dabei, eine neue Sorte zu entwickeln, von der ich sicher bin, dass du sie auch mögen, wirst, Kaubonbons mit Pfefferminzgeschmack für den Sommer, denn Husten hat da ja im allgemeinen keiner, oder was meinst du, Kathrine? Geh du mal schön mit Tante Helga in die Küche und lass dir eine Tasse Schokolade kochen.” Herr Schulte erkundigte sich noch, wie die Prüfung am Vormittag gelaufen sei, und nickte zufrieden, als er das Ergebnis erfuhr. Doch Helga sah ihm deutlich an, dass seine Gedanken weiterhin um Essenzen sowie das ideale Verhältnis der einzelnen Zutaten dieses neuen Kaubonbons kreisten. Deshalb zog sie Kathrine zu sich her und schickte sich an, den Rückweg einzuschlagen. „Ida ist vorhin von ihrem Bruder Erich abgeholt worden und wird frühestens morgen wiederkommen. Ihr Großvater hat einen schweren Unfall erlitten und sich so einiges gebrochen. Am meisten Sorgen bereitet es dem Arzt wohl, dass Bauer Effenkamp seit gestern Abend immer noch nicht das Bewusstsein wiedererlangt hat”, erklärte Helga. „Du musst also vielleicht morgen mit meinen Kochkünsten vorlieb nehmen ...” Herr Schulte schien diesen Zusatz komisch zu finden, denn er verzog sein Gesicht zu einem breiten Lächeln. „Seitdem du vom Luisenhof zurückgekehrt bist, kann ich mich da wirklich nicht beklagen. Du verstehst dich ja sogar darauf, aus einer von Rudolf fast völlig ausgeräuberten Sonntagabend-Speisekammer noch eine köstliche Mahlzeit zu zaubern, wenn du dich auch zu Anfang in den Mengen ... sagen wir einmal: ein klitzekleines bisschen ... verschätzt hast.” Er wurde wieder ernst und meinte, jetzt müsse er aber wirklich die noch ausstehenden Punkte mit Hage klären, sonst kämen sie ja ewig nicht weiter. 374 375 „Schon fünf Uhr”, sagte Helga zu Kathrine, „da müssen wir endlich daran gehen, die Süßspeise zuzubereiten. Willst du mir helfen?” Das kleine Mädchen nickte begeistert und erkundigte sich, für welches Rezept sich ihre Tante denn entschieden hätte. „Trifle, das kennst du schon, glaube ich. Die Mutter von Rosemary Summers hat mir gezeigt, wie das gemacht wird. Erinnerst du dich an das englische Mädchen mit den dunklen Locken und der Hermelinjacke, oder warst du da noch zu klein?” Kathrine erwiderte nichts und hatte ganz offensichtlich nur bis zum Ende des ersten Satzes zugehört. So bat Helga sie, die Milch vom Balkon zu holen. „Zucker, Mondamin, ein wenig Vanillin und ein Ei”, erklärte sie dann, „zuerst kochen wir einen Vanillepudding. Den lassen wir abkühlen; das wird schnell gehen, so kalt, wie es draußen ist! Den Boden dieser Glasschale tapezieren wir mit einem Rest Biskuit. Halt – steig mal auf den Hocker und reich mir noch ein Kümpchen, für Otto und dich. Übrig bleiben wird nämlich im Krankenhaus bestimmt nichts. Ach ja, der Wackelpeter! Sei so nett und such mal das Schüsselchen mit dem Obstsalat in der Speisekammer; du darfst jetzt mit ein paar Löffeln des Safts den Boden tränken – schön vorsichtig, nicht zu viel! Und jetzt schneiden wir die Apfel- und Birnenschnitze und auch die eingemachten Zwetschgen in ganz kleine Würfel. Den Wackelpeter hätte ich natürlich schon früher zubereiten sollen … Aber wenn wir Glück haben, wird er in anderthalb Stunden wenigstens so hart, dass der Vanillepudding nicht einsinkt, wenn wir ihn kurz vor sieben daraufschichten. Dann brauchen wir alles nur noch mit Schlagsahne aus der Spritztüte und bunten Zuckerstreuseln zu verzieren, und fertig!” Helga trug die große, Kathrine die kleine Schüssel zum Fliegenschrank auf dem Balkon, wobei das Mädchen zu kichern begann. „Ich finde, dass wir aussehen wie die heiligen zwei Könige.” Ihre Patentante prustete einmal amüsiert durch die Nase und meinte, wenn sie jetzt noch rasch gemeinsam den Abendbrottisch für Oma, Opa, Otto und Kathrine selbst deckten, wären sie mit der Arbeit fertig und könnten Mensch ärgere dich nicht oder Mühle spielen. Kathrine schüttelte den Kopf. „Bei Mühle schlägst du mich, und zu zweit macht Mensch ärgere dich nicht keinen Spaß. Können wir nicht Fotoalben angucken? Wenn du willst, Tante Helga, helfe ich dir sogar beim Einkleben. Letzte Woche hast du doch gesagt, in deiner Schreibtischschublade lägen mindestens fünf Tüten; du kämest einfach zu nichts.” Helga strich Kathrine einmal über den Kopf und lächelte, während sie gemeinsam den Weg zu ihrem Zimmer einschlugen. „Das sagen Erwachsene oft; in Wirklichkeit verstehen sie es nur nicht, ihre Zeit richtig einzuteilen.” Sie zog die Umschläge mit den Fotos heraus, griff nach einem halbvollen Album in dem Regal neben ihrem Bett und entdeckte fast ohne Suchen den Topf mit der weißen Klebepaste. „Zunächst müssen wir sie einmal sortieren. Auf jeder Tüte steht, bei welcher Gelegenheit die Aufnahmen entstanden sind. Die ersten wurden, glaube ich, im Sommer 1937 gemacht, und die letzten stammen von der Kirmes im September dieses Jahres – es sind auch welche von Otto und dir dabei. Ich überfliege nur rasch die Briefe, die seit heute Morgen auf meinem Schreibtisch liegen, ja?” Kathrine hatte sich bereits im Schneidersitz auf den Teppich mitten im Zimmer gehockt und die dicken Tüten zu sich heran- 376 377 gezogen, warf aber noch einen Blick auf den obersten der drei Umschläge in Helgas Hand. „Darf ich die Marke haben? So eine hast du mir schon einmal geschenkt, aber ich kann sie gut zum Tauschen gebrauchen.” Helga nickte und meinte, die beiden anderen Briefe kämen sogar aus den Vereinigten Staaten, seien also bestimmt mit noch selteneren Marken frankiert, bevor sie zwei mit Rosemarys fast nur aus u-förmigen Buchstaben bestehender Schrift gefüllte Bögen entzifferte. Da sie darin mehr Übung erworben hatte als zum Beispiel Rudolf, der sie schon öfters etwas widerwillig, aber notgedrungen um Hilfe gebeten hatte, wusste sie zwei Minuten später, dass Rosemary einen jungen Mann namens James P. Saunders kennengelernt hatte, Inhaber eines in Oxford erworbenen honours degree in englischer Literatur, der Golf und Tennis spielte und in mindestens jedem zweiten Satz mit einem neuen schmeichelhaften Eigenschaftswort geschildert wurde. Er stamme aus York, habe jedoch glücklicherweise den dort üblichen furchtbar hässlichen Dialekt nicht angenommen, sei von ihren Eltern wohlwollend empfangen worden und würde Helga mit Sicherheit auch gefallen – er habe leicht gewelltes, hellbraunes Haar, wunderschöne blaue Augen und ein ausgeglichenes Wesen. In einem Postskriptum fügte sie noch kaum lesbar hinzu, natürlich denke sie jeden Tag an Rudolf, und sie hoffe, ihn bald wiederzusehen. Womit James P. Saunders sei- nen Lebensunterhalt verdiente und wie alt er war, erwähnte Rosemary nicht, und Helga fiel ein, dass Alfred Barker in dem Gespräch an der Strandhütte vor etwas mehr als zwei Jahren seine Nichte und deren Freundeskreis als eine ,reichlich verwöhnte Gesellschaft’ bezeichnet hatte. Während Helga nach einem Blick auf Kathrine, die bereits die Fotos aus der ersten Tüte betrachtete, Felicity Blakes Brief öffnete, dachte sie an Alfred Barker, die Tage mit ihm auf der jeweiligen Leipziger Frühjahrsmesse, wo er jede freie Minute mit ihr verbracht hatte, seine Besuche in Hagen, die er bei Geschäftsreisen nach Köln stets einplante, die Stunden auf den Landstraßen zwischen Hagen und Köln im Mercedes ihres Vaters, der sonst immer von einem Chauffeur gefahren wurde, den sie aber benutzen durfte, um Alfred zu Herrn Thees zurückzubringen; nicht zuletzt waren da die Briefe, die eine halbe Schublade füllten, und die Ferngespräche. Alfreds Stimme, sein lautes, vergnügtes Lachen, das nichts, aber auch gar nichts mit dem des SA-Mannes von heute Morgen gemeinsam hatte, klangen ihr noch in den Ohren, als sie mit einem eng beschriebenen Bogen Luftpostpapier unter der Deckenlampe stehen blieb. Wie Helga gehofft hatte, enthielt der Brief die Erklärung dafür, weshalb Felicity und ihre Mutter beschlossen hatten, die geplante Europareise plötzlich abzublasen. Hätte ihre amerikanische Freundin aus Lausanner Zeiten den Grund dafür in ihrem Telegramm angegeben, wäre … ja, was wäre gesche- 378 379 hen? Hätte man es ihr gar nicht erst zugestellt, oder wären kurz darauf diese Herren in Hut und langem Mantel von der Gestapo in der Schillerstraße aufgetaucht? Helga hielt den Umschlag direkt unter die Glühbirne, stellte aber fest, dass er nicht geöffnet worden war, anders als der von Hildegard, wo sie mit den Fingerspitzen nur einmal über die Rückseite hatte zu streichen brauchen. Ich hätte Dich so furchtbar gern wiedergesehen, Helga, und es gibt auch sehr viel zu erzählen, zumal es etwas anderes ist, sich vor seinen Schreibtisch zu hocken und alles sorgsam in Worte zu fassen oder sich gegenüberzusitzen, einfach loszureden und aus dem Gesichtsausdruck, aus der Körperhaltung Dinge herauszulesen, die über Aussprechbares hinausgehen. Meine Mutter und ich sind mit großem Bedauern und nach einer schlaflosen Woche voller Hin und Her den Ratschlägen unserer besten Freunde, letztlich auch unserem eigenen Instinkt gefolgt und haben alle Buchungen annulliert. Wie Du weißt, sind viele meiner Professoren und Dozenten in Wellesley nicht nur europäischer, sondern auch jüdischer Herkunft, was ja bei Psychologen und Psychiatern – Freud, Adler usw. – niemanden überraschen wird. Abgesehen davon sollte in Universitätsstädten ein besserer Informationsstand als zum Beispiel in kleinen Ortschaften des Mittleren Westens vorausgesetzt werden können. Kurzum: Man ist hier der festen Überzeugung, dass in Europa früher oder später ein Krieg ausbrechen wird. So mancher gibt seiner Überraschung darüber Ausdruck, dass die Engländer, die Franzosen und selbst die Russen nicht nur den Anschluss Österreichs, sondern auch die Eingemeindung des Sudetenlands kampflos hingenommen haben. Der eine oder andere behauptete übrigens, der deutsche Reichskanzler arbeite seit einiger Zeit auf einen Krieg hin. Deshalb muss es zunächst bei einem Briefwechsel bleiben, so leid es mir auch tut. Schicke mir doch ein paar neuere Bilder von Dir, darunter eins in Krankenschwesterntracht; die Prüfung hast Du sicher mit Glanz und Gloria bestanden. Und wenn wir alle Glück haben, täuschen sich selbst kluge Leute in ihren düsteren Prophezeiungen und wir stehen uns nächstes Jahr um diese Zeit in Fleisch und Blut gegenüber – vorher wird es auf keinen Fall möglich sein, weil ich mich jetzt in die Arbeit stürzen werde bzw. muss. Ganz herzliche Grüße, Deine Felicity. P. S. Ruhe an der Schweizer Front, hoffe ich? 380 381 „Tante Helga”, hörte sie Kathrine sagen, „ich habe jetzt die Bilder aus der ersten Tüte ein bisschen geordnet. Zuerst kleben wir die aus Winterberg ein, dann die vom Karnevalszug mit dem offenen Lastwagen, wo obendrauf die Mädchen in den blau-weiß-roten Hustenbonbonkostümen stehen und Klümpkes unter die Zuschauer werfen. Guck, das hier bin ich! War das kalt! Dabei hatte Mutti mir doch zwei Pullover und zwei Strumpfhosen angezogen. Am schönsten fand ich die Schleife auf dem Kopf; damit sah man wirklich so aus wie ein eingewickeltes Bonbon.” Helga lächelte und meinte, sie sei gleich mit dem Lesen fertig. „Als nächstes kommen die von der Verheiratung dran”, nickte Kathrine eifrig. „Nein, meine Süße. Die stammen vom Vorjahr, und eigentlich hätten sie vor den Bildern aus Borkum eingeklebt werden müssen. Zuerst Brigittes Hochzeit, dann die vom Skilaufen und vom Rosenmontag 1938, ja?” Hildegards Brief klang besorgt und zugleich ironisch. Dass er von der Person, die ihn geöffnet und doch wohl auch gelesen hatte, an ihre Adresse weitergeleitet worden war, fand Helga im ersten Augenblick nur verwunderlich; dann überlegte sie, ob sie in Zukunft vorsichtiger sein müssten. Von hier gibt es viel zu berichten, aber ich mach’s kurz und schreibe zu Deinem Geburtstag ausführlicher, ja? Fritz und seine Frau haben eine kleine Tochter bekommen. Sie heißt Ruth nach ihren beiden Großmüttern, Helene nach ihrer Mutter und Helga nach Dir. Meine Eltern sind endgültig nach New Jersey umgezogen, wo die neue Firma meines Vaters inzwischen einen ganz ordentlichen Profit abwirft. 382 Ich selber gebe heute Abend ein Konzert in Detroit, Beethovens Violinkonzert, wieder mit dem Symphonieorchester aus Cleveland. Wie sagt man auf Deutsch doch so schön: Glück in der Liebe, Unglück im Spiel. Ich habe eindeutig Glück im (Geigen-) Spiel. Hingegen vermag ich nicht zu glauben, dass die Glückssträhne von Herrn H. anhält. Von zwei guten Dingen lässt sich ohnehin nicht reden. Indessen denke ich, dass es bei drei knallt. Wann wir uns wohl wiedersehen? Manchmal frage ich mich sogar, ob wir uns überhaupt wiedersehen werden. Immer Deine Hildegard. „Bist du traurig, Tante Helga?” Während sie noch überlegte, was sie auf Kathrines Frage antworten sollte, streckte ihr das kleine Mädchen schon mehrere Fotos entgegen. „Da siehst du aber schön aus! So ziehst du dich sonst nie an.” Helga lächelte. „Natürlich nicht, mein Schatz. Die Aufnahmen hat ein Berufsfotograf auf der Hochzeit meiner Freundin Brigitte von Albertyll gemacht. Er ist extra damit beauftragt worden, alle Gäste und natürlich auch das Brautpaar zu knipsen, und deshalb sind die Bilder auch so gut gelungen. Es war zwar ziemlich kühl an dem Tag, aber wenigstens hat die Sonne geschienen, 383 und so brauchten wir keine Mäntel über unseren langen Kleidern zu tragen.” „Wer ist denn der Mann da?” „Er heißt Helmut Röding und wohnt gar nicht so weit weg von uns, in Menden nämlich. An sich ist das erstaunlich, denn die Hochzeit fand in der Mark Brandenburg statt, auf dem Gut von Brigittes Eltern, und das liegt schrecklich weit von Hagen entfernt. Doch Herr Röding und Brigittes Ehemann haben zusammen an der Technischen Universität Berlin studiert und sogar zeitweilig mit noch jemandem – der müsste auch auf mehreren Bildern zu sehen sein – eine Wohnung geteilt.” „Er sieht genauso schick aus wie du, mit seinem Zylinder auf dem Kopf!” Kathrine kicherte und blickte von schräg unten zu Helga hoch. „Ich glaube, der mag dich, so wie er strahlt! Und auf diesem Foto … sieh mal!” „Herr Röding war Brautführer, ich eine der beiden Brautjungfern – so nennt man das. Und diese kleinen Mädchen in den Organdykleidern sind Brigittes Nichten; ihre Aufgabe bestand eigentlich darin, Blumen vor die Füße des Hochzeitspaares zu streuen. Wir mussten uns sehr zusammennehmen, nicht loszulachen, denn die eine war so klein, dass sie nicht verstand, was sie eigentlich tun sollte, und deshalb hat sie die Blüten ihrer Cousine eifrig wieder in ihr Körbchen gesammelt. Zwei Jungen in Samtanzügen, sie waren ungefähr so alt wie du, haben den Schleier getragen.” „Wenn du mal heiratest, Tante Helga, darf ich dann Blumen …” Das Telefon klingelte, Helga rannte in die Garderobe und nahm den Hörer ab. „Fräulein Schulte? Hier ist Frau Dr. Rose. Ich wollte Ihnen nur mitteilen, dass es Ihren beiden Patientinnen von heute Morgen gut geht. Der große Bruder des Dienstmädchens übernachtet im Haus, die Scheiben sind ersetzt worden. Es ist wohl vorgesehen, den Ehemann der Patientin mit anderen Hagenern in ein Lager zu transportieren. Konnten Sie die Tochter erreichen?” Helga schluckte und erwiderte dann, die Verbindung habe hergestellt werden können, und die Ärztin möge bei ihrem nächsten Krankenbesuch anregen, dass sofort die für einen Umzug nötigen Schritte in die Wege geleitet würden. Während sie in ihr Zimmer zurückkehrte, wurde sie von dem Gefühl überrascht, dies alles sei nicht wahr: Luises Mann sei nicht festgenommen worden, niemand habe Herrn Meyer abgeholt, und sie habe geträumt, dass eine Menora aus dem zweiten Stock eines ganz normalen Hagener Wohnhauses auf die Straße geworfen worden sei. Vor allem habe sie die Unterhaltung mit Frau Dr. Rose nicht so geführt, als höre jemand mit und zeichne vielleicht sogar jedes ihrer Worte auf. Das alles konnte gar nicht geschehen sein. Sie hatte doch mit Elli und 384 385 den anderen ihre Prüfung abgelegt und würde in nicht allzu langer Zeit aufbrechen, um das Ergebnis im Krankenhaus zu feiern. Sie waren zum Skilaufen nach Winterberg und für drei Wochen ans Meer gefahren wie in jedem Jahr … Kathrine kam ihr entgegen. „Wo bleibst du denn, Tante Helga? Wenn Otto gleich auftaucht, ist es aus mit der Ruhe, das kann ich dir sagen. Er will dann nur noch erzählen, was sie gemacht haben bei ihrem Heimnachmittag, und ich vermute mal, dass er einen Riesenhunger mitbringt. Lass uns wenigstens die Fotos von der Hochzeit zu Ende einkleben!” Helga griff nach einem der Schwarz-Weiß-Abzüge und reichte ihn ihrem Patenkind. „Hier siehst du mich mit dem Brautstrauß. Nach der Trauung, draußen vor der Kirche, hat Brigitte sich umgedreht und die Blumen nach hinten geworfen. Wer sie auffängt, heiratet als nächste.” Sie nahm zwar wahr, dass Kathrine wieder einmal eine Frage stellte, ging jedoch nicht darauf ein, sondern dachte an Helmut Röding und wunderte sich darüber, dass er so völlig aus ihrem Blickfeld verschwunden war. Dabei hatten sie sich, nachdem die anfängliche Verlegenheit durch Höflichkeitsfloskeln aus dem Wege geräumt worden war, schon auf dem Polterabend und dann den ganzen Hochzeitstag über bestens verstanden. Nie war ihnen der Gesprächsstoff ausgegangen, auch nicht während des ewig langen Mittagsmahls, wo sie beide, Helga mit einigen Luisenhofer Altmaiden, ihr Tischherr Helmut Röding und der Kommilitone aus Berlin, zum Programm zwischen den Gängen beigetragen hatten. Er hatte ihr deutlich zu verstehen gegeben, dass sie ihm sehr gefiel, und nicht an Komplimenten gespart, ohne sich abgegriffener Formulierungen zu bedienen, und sein trockener Humor sowie sein häufig verschmitztes Lächeln waren Helga im Gedächtnis haften geblieben. Besonders an eine Geschichte erinnerte sie sich und beschloss, sie Kathrine zu erzählen. „Herr Röding hat mit Sicherheit auch Dummheiten im Kopf. Beim Essen, das sich über mindestens vier Stunden hinzog, hat er mir geschildert, wie er einmal seinen Eltern und seiner alten Tante einen Streich gespielt hat. Da war er aber schon längst erwachsen. Das Dienstmädchen hatte die Suppe bereits serviert, bevor die besagte Tante, sein Vater und seine Mutter das Speisezimmer betraten, und da hat er rasch auf den einen Teller eine Prise Salz, auf den anderen ein bisschen Zucker gestreut und mit seinem Löffel umgerührt. Kurz darauf sagte sein Vater, die Köchin habe heute aber etwas zu tief ins Salzfass gegriffen, worauf die Tante mit ihrer hohen Stimme erwiderte, im Gegenteil, sie fände die Suppe zu süß. ,Ich weiß gar nicht, was ihr habt’, hätte die Mutter daraufhin bemerkt, ,die Suppe schmeckt doch wie immer.’” Kathrine lachte so heftig, dass ihr die Tränen die Wangen herunterliefen, und meinte, das werde sie unbedingt zu Hause nachmachen, während Helga sich eines Besseren besann – 386 387 „Ach, da seid ihr!” Otto stand in seiner Hitlerjungenuniform breitbeinig vor ihnen, seine Knie leicht blau gefroren, und grinste. „Gibt’s hier was zu essen? Herr Grave hat mich über die Verladerampe reingelassen. Ich soll dir etwas vom Opa ausrichten, selbst wenn ich überhaupt nichts kapiere: ,Bei Café Rüggeberg ist alles in Ordnung.’ Ich denke, ihr geht sonst immer zu Tigges. Opa kommt übrigens auch gleich. Es gab wohl noch etwas mit der flotten Telefonistin zu besprechen. Ich hab genau hingeschaut – nach Schäkern sah das nicht aus, kein Anlass zur Eifersucht für die liebe Oma.” Er schaltete für Helga und seine Schwester die Flurbeleuchtung und dann die Hängelampe in der Küche an, öffnete die Tür zum Balkon und holte eine angebrochene Flasche Apfelsaft aus dem Fliegenschrank. „Was sehen meine trüben Augen? Sollten Tante und Schwester für Neffen und Bruder Otto diese seinem Hunger angemessene Portion einer allerdings fremdländischen Nachspeise zubereitet haben?” Helga und Kathrine bogen sich vor Lachen. „Du bekommst schon etwas ab. Die große Schale nehme ich allerdings gleich mit ins Krankenhaus, wo wir unsere bestandene Schwesternhelferinnenprüfung feiern. Begnüge dich zunächst einmal mit diesem Rest Kartoffelsalat, und dann mach dich nützlich. Während ich den Vanillepudding auf dem Wackelpeter mit den Obststückchen verteile, darfst du die Sahne schlagen und anschließend den Topf ausschlecken. Wasch dir aber doch besser vorher die Hände, ja?” Das Telefon läutete noch einmal, verstummte jedoch, bevor Helga die Garderobe erreicht hatte. Unter ihrer Anleitung legte Kathrine Besteck und Serviettenringe auf ein Tablett, angelte Trinkbecher und zwei Biergläser aus einem der Hängeschränke und äffte immer wieder einmal ihren Bruder nach, der wie erwartet von ihrem Heimnachmittag berichtete. 388 389 ihre achtjährige Nichte würde kein Interesse daran zeigen, dass Helmut Röding ein Diplom als Ingenieur in der Tasche trug, häufig und gern Cello spielte sowie auf dem Gebiet der klassischen Musik höchst bewandert schien, dass sowohl Skifahren als auch Tennis zu den Sportarten zählten, die er regelmäßig ausübte, und dass er nie um ein passendes Zitat von Wilhelm Busch verlegen war. Außerdem hatte er sie trotz seiner erklärten Abneigung gegen Salontänze immer dann aufs Parkett geführt, wenn er nicht gerade die Pflichttänze mit Müttern und Schwestern des Brautpaares absolvierte. Beim allgemeinen Aufbruch hatten sie sich freundlich, sogar herzlich voneinander verabschiedet, und Herr Röding hatte ihr zugesichert, er werde sich melden, zumal sie ja fast Nachbarn seien. Warum also … Helga dachte den Gedanken nicht zu Ende, kam indessen zu dem Schluss, von sich aus werde sie natürlich nichts unternehmen, weder Nachforschungen anstellen noch versuchen, etwa die Anschrift herauszufinden. So etwas konnte nur Luise. „Natürlich haben wir nicht die ganze Zeit über drinnen gehockt, sondern sind mehrere Kilometer gelaufen.” „Mehrere Kilometer? Bei dem Wetter? Von wo bis wo denn?”, erkundigte sich Kathrine ungläubig und fügte noch etwas spöttisch hinzu, mit dem Schätzen habe Otto es nicht so, eher schon mit Schätzen an sich, mit dem Geld in seiner Spardose zum Beispiel. Die beiden machten eine Verfolgungsjagd zur Küchentür hinaus, sodass Helga den trifle ungestört fertigstellen und in Sicherheit bringen konnte. Sie hörte Getrappel und Lachen im Flur, kurz im Treppenhaus, dann wieder in den Salons zur Straße hin und begab sich, nachdem sie auch noch die Platte mit Aufschnitt und Käse angerichtet sowie den Brotkorb gefüllt hatte, in ihr Zimmer, um sich für die Feier umzuziehen. Sie wusch sich rasch, stäubte ein wenig Puder in die Achselhöhlen, schlüpfte in einen wadenlangen, engen Rock und zog ihren schwarzen Lieblingspullover über den Kopf, bevor sie sich im Spiegel betrachtete, ihr Gesicht mit einem feuchten Tuch abwischte und dann leicht einkremte; abschließend legte sie etwas Rouge auf und zog die Lippen dezent nach. Als sie nach der Haarbürste griff, tauchte ihr Vater in der Türöffnung auf. „Hier sind zunächst einmal die Bonbons für heute Abend, Helle. Zur bestandenen Prüfung gratuliere ich dir ganz herzlich” – er schloss sie fest in die Arme –, „und ich hoffe, dass eure Feier heute Abend trotz der Ereignisse harmonisch ver- läuft. Hat Otto dir Luises Botschaft ausgerichtet? Da stand auf einmal so ein junger Mann bei Grave im Lager, sagte sein Sprüchlein auf, wiederholte es zur Sicherheit noch einmal, schwang sich auf sein Rad und ward nicht mehr gesehen. Grave ist gleich rüber in die Telefonzentrale gekommen; ich hatte ihm im Vorübergehen gesagt, heute würden wir wohl alle später Feierabend machen, nicht zuletzt deshalb, weil mehrere von unseren Fahrern unterwegs aufgehalten worden sind.” Helga war mit der Haarbürste in der Hand vor ihrem Vater stehen geblieben. Jetzt nickte er ihr zu und meinte, sie solle sich ruhig fertig herrichten. Er habe ihr zwar etwas Wichtiges mitzuteilen, jedoch schließe das eine das andere nicht aus. Damit setzte er sich auf den Stuhl an ihrem Schreibtisch, mit dem Rücken zur Lampe, aber so weit von der Beleuchtung über dem Spiegel entfernt, dass sein Gesicht im Halbdunkel lag. „Vorhin haben in halbstündigem Abstand Barker aus Gainsborough und sein deutscher Geschäftsfreund Thees angerufen. Die Telefonistin war gerade dabei, das Gespräch aus England in die Wohnung durchzustellen, als ich die Zentrale betrat. Sie meinte, Barker habe schon einmal mit dir gesprochen, nicht lange allerdings; viele Leitungen seien ganz offensichtlich gestört. So war es dann auch. Über den Namen und ein einziges Läuten ging’s nicht hinaus.” Herr Schulte schwieg kurz, lehnte sich vor und faltete die Hände über seinen Knien. 390 391 „Thees aus Köln hatte mehr Glück. Er wollte außerdem mit mir sprechen, sodass die Durchstellerei wegfiel. Er bat mich mit der ihm eigenen Höflichkeit, ihm einen mir genehmen Termin zu nennen – Barker habe ihn nämlich gebeten, als Brautwerber für ihn zu fungieren und bei deiner Mutter und mir um deine Hand anzuhalten. Barker mache sich seit dem Frühjahr Sorgen um dein Wohlergehen; nichts liege ihm mehr am Herzen, als dich bei ihm in Sicherheit zu wissen, denn er befürchte, es werde Krieg geben.” Helga fuhr mit der Bürste immer wieder durch ihr Haar, ohne sich der Geste bewusst zu sein. „Ich sage es einmal ganz unumwunden, Helle: Wir teilen Barkers Analyse der innen- und außenpolitischen Lage voll und ganz. Unsere Besorgnis wird aus mehreren Quellen gespeist. Da wäre zunächst Eugen Blankenstein zu nennen, dem es trotz der Briefzensur immer wieder gelingt, diesen oder jenen Hinweis in unverfänglichen Formulierungen zu verstecken. Meine ehemaligen Logenbrüder treffe ich ja nach wie vor. Indessen ist Otto Rellinghaus mit seinem Netz ehemaliger Korpsstudenten eindeutig am besten unterrichtet – irgendwie bringt er immer in Erfahrung, wo sich gerade was tut. Du hast ja mit Luise gesprochen, nicht wahr?” Ihr Vater beugte sich noch weiter vor, blickte kurz zu Boden und hob dann den Kopf. „Deine Mutter und ich schätzen Barker sehr, nicht nur als langjährigen Geschäftsfreund, sondern auch als Menschen. Er hält mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg, ist ein aufmerksamer Zuhörer und hat uns seit zwei Jahren nicht im Unklaren darüber gelassen, dass seine Absichten ernst sind, was dich anbetrifft. Ich gehe wohl nicht fehl in der Annahme, dass ihr regelmäßig Briefe wechselt, und wenn ich dich auch nie geradeheraus gefragt habe, ob du seine Neigung erwiderst – das ist vielleicht eine Generationssache, aber so etwas liegt mir nicht –, so vermute ich doch, dass es sich so verhält. Weder deine Mutter noch ich würden unter normalen Umständen irgendwelche Einwände erheben, ganz im Gegenteil. Aber die Zeiten sind nicht normal, Helle. Wir werden uns die Sache gründlich durch den Kopf gehen lassen, bevor wir Thees empfangen. Doch ist mir die Vorstellung unerträglich, dich als gebürtige Deutsche in einem englischen Internierungs- oder Konzentrationslager zu wissen. In solchen Einrichtungen haben die Briten um die Jahrhundertwende die Buren unter Verschluss gehalten, und dass in Deutschland unliebsame Personen in Buchenwald oder Sachsenhausen verschwinden, ist dir mit Sicherheit zu Ohren gekommen. Pastor Ackermann hat mir, quasi unter dem Siegel der Verschwiegenheit, damals anvertraut, welche Zustände dort herrschen; wenn man nicht gefoltert wird – Einzelheiten will ich dir ersparen, Helle –, läuft man Gefahr, hungers zu sterben. Wie gesagt” – Herr Schulte schob den Stuhl zurück und erhob sich –, „wir werden uns alles gründlich durch den Kopf gehen lassen. Dass wir dein Bestes wollen, daran darfst du keinen Augenblick zweifeln.” 392 393 Helga stand immer noch vor dem Spiegel, nahm aber erst jetzt wieder ihr Gesicht wahr. Es sah nicht anders aus als vorher. Indessen fiel ihr nicht ein, was sie hätte erwidern können, weil sich ihre Gedanken in alle Richtungen zu verlieren schienen, und so fühlte sie sich zunächst erleichtert, als sie gleichzeitig die energischen Schritte ihrer Mutter und die hellen Stimmen der beiden Kinder auf dem Flur herannahen hörte. Als Frau Schulte im Türrahmen auftauchte, ging ihr Vater auf sie zu; die beiden tauschten nur einen Blick, sagten aber nichts. Otto und Kathrine schlüpften zwischen den Erwachsenen hindurch, und Otto meinte, jetzt müsse ihre Tante sich aber langsam auf den Weg machen, und ob sie denn nicht lieber die kleine Nachtischschüssel zur Feier mitnehmen wolle – sie sei doch leichter zu tragen, und außerdem mache trifle dick. Frau Schulte und Kathrine lachten, Otto drückte den Rücken durch, stolz auf seine witzige Bemerkung, während Herr Schulte Helga beide Hände auf die Schultern legte und ihr noch einmal zunickte, bevor alle vier den Flur hinunter verschwanden. Eine Minute später erschien Kathrine mit einem flachen Korb und der Glasschale darin, über die sie ein sauberes Trockentuch gebreitet hatte, stellte sich auf die Zehenspitzen und drückte ihrer Tante einen Kuss auf die Wange. „Viel Spaß, und bis nachher. Wenn ich noch wach bin, kommst du dann und erzählst mir, wie es war? Du siehst wieder fast so schön aus wie auf den Bildern mit Herrn Röding.” Helga wandte sich ab, schlüpfte in ihren Mantel und streckte die Hand nach dem Korb aus, lächelte Kathrine einmal zu und gab ihr mit einer Geste zu verstehen, dass die Oma mit dem Essen nicht gern warte und sie sich sputen solle. Fast wäre sie auf dem Zettel ausgeglitten, der aus dem Leitz-Ordner herausgefallen sein musste. Sie bückte sich und warf einen Blick darauf. 394 395 Hört, ihr Leute! Purim, das bedeutet Freude, Purim, das bedeutet Kuchenessen und den Haman nicht vergessen. Dieser Spruch aus Kindertagen kann uns heute nichts mehr sagen. Das war gestern, was wird morgen? Heute haben wir andere Sorgen: Visum, Affidavit, Konsulat, Brasilien, Kuba, Dominikanischer Staat, Bolivien, Haiti, Paraguay, Alexandrette, Palästina oder Shanghai, Rhodesien, Australien, Südafrika, die letzte Rettung sind doch die USA. Da möcht’ ich hin, da könnte man lachen, doch keine Verwandtschaft drüben, wie soll man das machen? Da war es ja, das Gedicht, das Helga Herberts ihr im Frühjahr geschickt hatte, mit dem ,Affidavit’ darin, dessen Bedeutung sie seit Erichs Effenkamps Erklärung vorhin verstand, und den Haman-Taschen, diesem dreieckigen Gebäck, das sie bei Blankensteins in jedem Jahr hatte kosten dürfen. Von all den Staaten schienen nur zwei übrig geblieben zu sein, ging es ihr durch den Kopf. Sie wusste immer noch nicht, warum ihr Schwager Otto verhaftet worden war, was Erichs Großvater mit seinem Gespann in die Potthofstraße geführt und warum Helmut Röding sich seit Brigittes Hochzeit nicht mehr gemeldet hatte. Was Alfred Barker anbetraf, vermochte sie keinen klaren Gedanken zu fassen. Aber heute Morgen war sie mit Sicherheit da mutig gewesen, wo es sich lohnte. 396 13. Kapitel: Frühsommer 1939 Helga lehnte sich wohlig zurück, obwohl die Bank in der 2. Klasse nicht besonders bequem war. Mit halb geöffneten Augen schaute sie auf die Landschaft hinaus, die am Fenster vorbeiflog – immer mehr Kiefern mit ihren rotbraunen Stämmen und dunkelgrünen Nadelbüscheln, ab und zu Wiesen, selten Ortschaften, und über allem dieser aquamarin-blaue Himmel, der noch nicht ganz nach Sommer aussah. Immer einmal wieder berührte sie mit den Fingern die Brosche, die sie auf dem linken Aufschlag ihres perlgrauen Kostüms festgeheftet hatte, und lächelte. Auf dem Bahnhof in Berlin hatte sie einige junge und auch ältere Frauen bemerkt, von denen sie vermutete, dass sie ebenfalls nach Bärwalde fuhren, wie sie selber in gut geschnittenen Jackenkleidern und dazu passenden, meist kleinen Hüten. Manche warteten eindeutig auf jemanden, warfen suchende Blicke um sich oder kniffen auch die Augen ein wenig zusammen. Es mochte ja durchaus sein, dass sie sich sehr lange nicht gesehen hatten und daran zweifelten, ob sie ihre ehemaligen Mitmaiden wiedererkennen würden. Vom ersten Jahrgang, 14/15, so hatte Helga von Brigitte erfahren, deren jüngste Schwester Gisela seit Ostern im Luisenhof ihr Maidenjahr ablegte, hätten sich zum Beispiel vier angesagt, von denen eine, Frau von Grothe, geborene von Baerenfeld, für die Altmaiden sprechen würde. Fräulein Dahm, die immer gern den Ausdruck ,alter 397 preußischer Landadel’ im Mund führte, hatte sich nämlich etwas spöttisch danach erkundigt, was denn so an Festreden vorgesehen sei, und auf Helgas Antwort hin nur gemeint, gleich und gleich geselle sich halt immer noch gern; sie als einfaches Fräulein Schulte müsse sich doch wohl freuen, dass sie in einer so illustren Gesellschaft überhaupt erscheinen dürfe. Sie war eine halbe Stunde zu früh auf dem Schlesischen Bahnhof eingetroffen, obwohl sie eine ziemlich kurze Nacht hinter sich hatte. Hagemanns, Otto und Luises Berliner Freunde, denen sie zum ersten Mal auf der Hochzeit von Christine Rellinghaus mit Otto Brauckmann junior begegnet war, hatten sich nicht nur um ein Hotelzimmer für sie gekümmert, sondern sie auch in die Staatsoper Unter den Linden eingeladen und sie gebeten, ein zu dem Anlass passendes langes Kleid einzupacken; auf dem Luisenhof würde sie so etwas natürlich nicht brauchen. Ganz kurz war Helga vorgestern Abend der Gedanke durch den Kopf gegangen, alles abzublasen, bei Hagemanns anzurufen und zu sagen, es sei etwas sehr Wichtiges dazwischen gekommen, sie könne Eckesey zur Zeit nicht verlassen, und gleich anschließend zu versuchen, Brigitte in der Mark Brandenburg zu erreichen, ihr die Neuigkeit mitzuteilen und sie zu bitten, ihre Entschuldigung an alle weiterzugeben. Aber eine Minute später hatte Helga die Idee verworfen: Sie würde ja nur von Freitag bis Montag abwesend sein, und sie freute sich unendlich darauf, nicht nur Brigitte, sondern auch Carla, Lilo und Gaby einmal richtig zu überraschen. Von den neun Altmaiden des Jahrgangs 33/34, die sich zum 25. Jubiläum angemeldet hatten, waren nur Bärbel und sie selber noch nicht verheiratet. Des Weiteren glaubte sie Rosemarys letztem Brief entnommen zu haben, dass ihre englische Freundin ernsthaft mit dem Gedanken spielte, ihren Verehrer James P. Saunders nun doch nicht länger abzuweisen, obwohl sie sich über eine halbe Seite hinweg nach Rudolf erkundigt hatte. Helga schloss die Augen und strich zärtlich über die Brosche. Dann schlug sie die Beine übereinander, summte leise vor sich hin und wippte dazu mit dem Fuß. Ausgerechnet Die verkaufte Braut musste auf dem Programm stehen. Natürlich kannte sie die Oper. Sie hatte Arien daraus im Radio gehört und Ilse sogar einmal zu einer Aufführung in Köln begleitet. Aber die Sänger, die sie damals mit ihrer Freundin bewundert hatte, konnten natürlich Jarmila Novotna und Marcel Wittrisch das Wasser nicht reichen. Ilse … Eines stand fest: Sie vermochte sich nicht zu konzentrieren. Natürlich hatte sie Ilse jedesmal einen Besuch abgestattet, wenn sie Alfred Barker in Köln bei seinem deutschen Geschäftspartner Herrn Thees und dessen Frau getroffen oder ihn auch dorthin im Mercedes ihrer Eltern zurückgefahren hatte. Als Helga ihm unterwegs einmal von ihrer ehemaligen Schulkameradin erzählt hatte, deren Vertrag als Tänzerin im Corps de Ballet gerade wieder einmal verlängert worden war, hatte Al fred vorgeschlagen, sie doch zum Essen einzuladen, und dabei 398 399 war ihm nicht entgangen, dass Ilse an allen Ecken und Enden sparte, angefangen von ihren offensichtlich bereits mehrfach neu besohlten Schuhen bis zu der Art, wie sie die Speisekarte abgesucht und sich dann für das billigste Gericht entschieden hatte. Ilse war erschrocken zusammengefahren, als Alfred daraufhin in Lachen ausgebrochen war und ihr mit der Wärme in der Stimme, die Helga so sehr liebte, erklärt hatte, hier bezahle der gute Onkel aus Gainsborough, und was ihr Herz denn begehre, Sauerkraut mit Eisbein oder Sauerbraten mit Klößen. Seitdem hatte Alfred, wie er selber bei jeder Gelegenheit mit übertrieben englischem Akzent und fröhlich grinsend erklärte, bei Ilse ,einen Stein im Brett’, und deshalb war Helga nicht sonderlich erstaunt gewesen, als ihre Freundin vorhin am Telefon zunächst betroffen geschwiegen und auch dann zunächst nur gefragt hatte, ob Helga denn ganz sicher sei, sich richtig entschieden zu haben. Bei Ilses letztem, etwas längeren Besuch in Eckesey zu Weihnachten 1938 hatte Helga ihr nämlich auf einem gemeinsamen Spaziergang durch den tief verschneiten Höing schluchzend berichtet, wie Herr Thees Anfang Dezember in der Schillerstraße mit seinem großen Horch vorgefahren war und mit ihren Eltern hinter verschlossenen Türen ein langes Gespräch geführt hatte, dem sie nicht beiwohnen durfte. Sie wusste natürlich, dass Alfred von Gainsborough aus Herrn Thees als Brautwerber geschickt hatte, was in England durchaus üblich war, und außerdem hatte ihr Vater selber sie am Abend des 10. November über seine Sicht der Dinge nicht im Unklaren gelassen. Es war auch ihr Vater gewesen, der ihr dann, diesmal in Anwesenheit ihrer Mutter, mitgeteilt hatte, Herr Thees nehme eine abschlägige Antwort mit nach Köln zurück; die Gründe brauche er gewiss nicht zu wiederholen. Helga rutschte einmal auf der Sitzbank herum und öffnete kurz die Augen. Der Zug ruckelte vor sich hin, irgendwie gemütlich und … konkurrenzlos, auf jeden Fall anders als gestern früh im Ruhrgebiet, wo sich viele Schienenstränge kreuzten. Sie erinnerte sich genau daran, wie Ilse ihr Mut gemacht hatte. Die Wangen gerötet von der pfeifenden Kälte, war sie vor Helga stehen geblieben und hatte beinahe gebrüllt, das solle Helga sich nicht gefallen lassen. Zwar ließen sich die Argumente ihres Vaters nicht einfach vom Tisch wischen, aber immerhin sei sie volljährig, und – Ilse hatte den Kopf gesenkt und den Satz nicht sofort weitergeführt–, und außerdem … Sie wage es ja kaum, aber es sei doch wohl richtig, Helga ins Gedächtnis zu rufen, dass ihre Eltern schon einmal … die Geschichte mit diesem Schweizer … Zu Hause hatte Helga dann auch nichts unversucht gelassen, ihre Eltern umzustimmen. Während Karl, der seinen Militärdienst hinter sich gebracht hatte und alles daran setzte, sich so rasch wie möglich wieder an den Tagesrhythmus im Betrieb sowie das Leben mit Sophie und seinen beiden Kindern zu gewöhnen, keine Stellung bezog, erfuhr sie von Rudolf jedesmal lautstarke und unermüdliche Unterstützung, wenn er aus seinem Arbeitsdienstlager in Winterberg für ein sehr kurzes Wochenende nach Hause kam. Auch Luise 400 401 war in der Zeit nach dem Besuch von Herrn Thees bis in den späten Frühling hinein sowohl an ihren Vater als auch an ihre Mutter bei jeder Gelegenheit teils mit den alten, teils mit neuen Argumenten herangetreten, hatte die Lage einmal aus der Sicht ihrer Eltern dargestellt und dann wieder Helgas Standpunkt verteidigt. Bis vorgestern war Helga unverständlich geblieben, warum Luise Anfang Juni plötzlich nicht gerade die Seiten gewechselt, aber sich kaum noch an den Wortgefechten zwischen den beiden Parteien beteiligt hatte. Zunächst stirnrunzelnd, dann enttäuscht hatte Helga Luises spöttische oder auch scharfe Einwürfe vermisst, die zusammen mit Rudolfs spontanen Gefühlskundgebungen jedesmal dazu geführt hatten, dass die Hoffnung in Helga nicht ganz erlosch. Immerhin, hatte ihr Vater bei einer dieser Auseinandersetzungen geseufzt, scheine Helga ja im Gegensatz zu ihrer älteren Schwester auf die Zustimmung ihrer Eltern Wert zu legen, wie übrigens Al fred Barker auch, und ganz offensichtlich ziehe niemand seine berechtigte Sorge um seine Tochter in Zweifel. Onkel Eugen Blankenstein, dachte Helga im Halbschlaf, Onkel Eugen würde mit Sicherheit … Wenn Rudolf nicht in Winterberg seit April unter Anleitung eines Försters in Schonungen winzige Tannen setzte – keine fedrigen Kiefern natürlich wie hier in der Neumark, sondern Pflänzlinge, aus denen einmal die dunklen Wälder des Hochsauerlands empor wachsen sollten – , kleine Bäumchen, die später an anderer Stelle und mit größeren Zwischenräumen ihren endgültigen Standort finden würden, oder aber mit seinen Kameraden vom Arbeitsdienst nicht gerade das Unterholz auslichtete, vielleicht auch Wege baute … Mit ihm würde sie wetten, dass Onkel Eugen einen seiner Lieblingssprüche aus der Tasche ziehen würde, nämlich: ,Die Welt ist doch wirklich klein!’ Dass Christine Rellinghaus Otto Brauckmanns Sohn geheiratet hatte, war ja noch nicht allzu verwunderlich. Immerhin zählten sowohl ihr als auch sein Vater zu den bekannteren Hagener Fabrikanten, und bei irgendeinem Fest lief man sich da früher oder später über den Weg, in der Concordia auf dem Karnevalsball oder bei den Schützen. Aber dass Otto Brauckmann junior wiederum seinen Militärdienst bei der Kavallerie in Münster zusammen mit Helmut Röding abgelegt hatte, mit ebendem Helmut Röding, der als Brautführer auf Brigittes Hochzeit ihr Tischherr gewesen war und von dem sie seitdem nichts mehr gehört hatte, das ließ sich schon eher als Zufall bezeichnen. Höchstens in den Sternen konnte gestanden haben, dass Christine und Otto am 3. Juni sowohl ebendiesen Helmut Röding als auch eine Art von Tante namens Helga zur Erdbeerbowle einladen würden. Apropos Sterne … Helga setzte sich mit einem Ruck gerade auf. Was hatte ihr die Zigeunerin in Butlin’s Holiday Camp noch vor rund drei Jahren aus der Hand gelesen? Als Helga sich schon erheben wollte, hatte die schwarzhaarige Frau mit den sprühenden Augen ihr verraten, ein Mann, dessen Vorname mit einem h beginne und der mit Schmieröl sowie Fräsmilch zu tun habe, werde eine wichtige Rolle in ihrem Leben spielen. 402 403 Wie Rosemary hatte sie allerdings insgeheim bis vor kurzem damit gerechnet, die Wahrsagerin würde mit dem Buchstaben, den sie dann verworfen hatte, Recht behalten: dem a nämlich. Natürlich müsste Alfred Barker davon erfahren. Helga fühlte Unbehagen in sich aufsteigen. Er hatte so lange auf sie gewartet, nichts unversucht gelassen, ihren Vater und ihre Mutter umzustimmen, und Rosemary hatte in jedem ihrer Briefe nicht nur Grüße von ihren Eltern, sondern auch von ihrer Granny Elizabeth, Alfreds Mutter, ausgerichtet, deren anfängliche Ablehnung Helga im Laufe ihres Aufenthalts zu überwinden verstanden hatte. Am anständigsten wäre es, wenn Helga Alfred anriefe und ihm selber die Neuigkeit mitteilte. Aber allein bei der Vorstellung, ein Gespräch nach England anmelden und dann möglicherweise mehrere Stunden warten zu müssen, klopfte ihr Herz so stark, dass sie ihre Stirn gegen die kühle Scheibe presste und die Hände im Schoß verkrampfte. Natürlich hatte sie Alfred nicht vergessen, und bis vor Kurzem hatte sie geglaubt, niemand vermöge in ihrem Herzen mehr Raum einzunehmen als er. Dann atmete sie mehrmals tief durch, und als sie wieder einen klaren Gedanken zu fassen vermochte, beschloss sie, auf jeden Fall nach ihrer Rückkehr mit Luise, vielleicht aber auch schon heute Nacht mit Brigitte nach einer Lösung zu suchen. Brigitte von Leskow, geborene von Albertyll, und sie würden ja wie schon vor sechs Jahren ein Zimmer miteinander teilen. Ob sich wohl viel verändert hatte auf dem Luisenhof ? Wie unkompliziert ihr Leben doch damals gewesen war: ein beruhigend starrer Tagesplan mit Wecken, einem kurzen Geländelauf, Waschen, der Morgenandacht mit dem Verlesen eines Bibelspruchs und ein paar Worten dazu, dem ersten und später einem zweiten Frühstück; wochenweise wechselnde, praktische Arbeit in der Küche, im Garten, auf dem Geflügelhof oder auch in der Nähstube, Mittagessen, Unterricht in wissenschaftlichen Fächern und Abendessen, dazwischen immer einmal eine Radtour an die Oder, Gymnastik und vor allem viel Musik. In Bärwalde, wo jeder jeden kannte, hatten sie kleinere Einkäufe erledigt; größere Städte lagen nicht in der Nähe. Alles war überschaubar gewesen, und kaum etwas hatte diesen Rahmen gesprengt. Gewiss, nicht nur das Grundig-Radio im Wohnzimmer, sondern auch Briefe und gelegentliche Anrufe von Eltern und Freunden hatten Neuigkeiten aus der großen weiten Welt sowie aus Familie und Bekanntenkreis zu ihnen hineingetragen. Aber Helga hatte sich dort so sicher gefühlt wie eigentlich sonst nur zu Hause in ihrer Kleinmädchenzeit, als noch niemand Entscheidungen und Meinungsäußerungen von ihr verlangte. Helga griff wieder einmal nach der Brosche. Sie hätte nicht zu sagen gewusst, warum das Berühren dieses Schmuckstücks nicht nur Freude und Zufriedenheit in ihr hervorrief, sondern sie auch beruhigte. Frau Hagemann hatte sie übrigens sofort darauf angesprochen, als sie ihr am Freitagnachmittag auf dem Lehrter Bahnhof den Koffer aus der Hand genommen und sie 404 405 zunächst einmal kurz in die Arme geschlossen hatte. Sie werde Helga ins Hotel begleiten und sie mit ihrem Mann gegen sieben auch dort abholen. Die bezaubernde Brosche müsse sie aber unbedingt an ihre Abendgarderobe stecken, damit Heinrich, also ihr Herr Gemahl – wie ironisch, aber durchaus nicht lieblos ihre Stimme dabei geklungen hatte! –, sie auch in Augenschein nehmen könne. Als Helga gerade zu einer Erklärung ansetzte, war Frau Hagemann schon dem Kofferträger zum Ausgang gefolgt und hatte sich dabei erkundigt, wie es denn um die Gesundheit von Luise und Otto Rellinghaus bestellt sei, hatte sich einmal zu Helga umgewandt, einen Blick mit ihr getauscht und auch während der Fahrt im Mietwagen nur über das Wetter geredet, zur Kenntnis genommen, dass Otto junior mittlerweile schon das Gymnasium besuchte, wohingegen Helgas Patentochter Kathrine noch zur Volksschule ging, und es begrüßt, dass Christines Mutter offensichtlich von Brauckmanns ebenso herzlich aufgenommen wurde wie Luise. Erst, als sie die Formalitäten im Hotel erledigt und die Tür zu Helgas Zimmer hinter sich geschlossen hatten, war Frau Hagemann ernst geworden. Während Helga den steifen dunkelgrünen Taftrock sowie die weiße Spitzenbluse mit dem Stehkragen auf einen Bügel hängte und ihre Toilettenartikel in dem kleinen Badezimmer verstaute, hatte sie leise, aber sehr deutlich erklärt, sie und ihr Mann seien vor allem äußerst erleichtert darüber, dass Otto Rellinghaus im November 1938 so rasch wieder frei gelassen worden sei und dass seine kurze Inhaftierung doch wohl keine Folgen gezeitigt habe. Sie schließe daraus, er habe endlich eingesehen, dass man vorsichtig sein müsse. Helga hatte sich des Eindrucks nicht erwehren können, dass die feingliedrige, fast weißblonde Frau durch den grobmaschigen Schleier ihres blauen Hütchen hindurch herauszufinden versucht hatte, ob ihr Gegenüber von Luise über die Gründe für die Festnahme unterrichtet worden war. Helga hatte genickt und ihrerseits erklärt, Otto habe die Leute von der Gestapo davon überzeugen können, dass er seit vielen Jahren stiller Teilhaber der Wiener Firma Golde & Funkelstein gewesen sei. Wenn er Ende Februar 1938, unmittelbar vor dem ,Anschluss’, für die Veräußerung des gesamten Betriebs zu einem möglichst günstigen Preis gesorgt und alle dahingehenden Verhandlungen geführt habe, so könne ihm niemand einen Vorwurf daraus machen; er wolle sich zwar nicht dümmer stellen, als er sei, aber über eine hellseherische Begabung verfüge er nun wirklich nicht. Otto selber betone im engsten Kreise immer wieder, er sei noch einmal davongekommen, und wenn er auch weiterhin seinen Überzeugungen gemäß lebe, so geschehe das sozusagen hinter vorgehaltener Hand, weil er vor allem seine Kinder nicht gefährden wolle. Was Luise anbetreffe, so wisse Frau Hagemann ja aus eigener Erfahrung, dass sie bereit sei, mit Otto durch dick und dünn zu gehen, wenngleich selbst ihre furchtlos wirkende Schwester durchaus Kompromisse mit dem System schließe, indem sie sowohl Otto junior als auch Kathrine in die Hitlerjugend schicke. Frau Hagemann hatte ihr aufmerksam 406 407 zugehört und sich dann erhoben, sich verabschiedet und sich mit der Türklinke in der Hand noch einmal zu Helga umgedreht. Wenn man zu deutlich seine Kritik am Regime durchblicken ließe, beraube man sich jeder Möglichkeit, Auswüchsen entgegenzuwirken. Viele in ihrem Bekanntenkreis fühlten sich wie Seiltänzer. Aber – und sie lächelte Helga zu – nicht jeder müsse sich für eine Zirkuslaufbahn entscheiden. Indessen hatte Helga nicht der Sinn danach gestanden, die wenigen Stunden in Berlin damit zuzubringen, sich über Politik Gedanken zu machen, und so war sie denn kurz nach Frau Hagemanns Aufbruch durch die Drehtür des Fürstenhofs hinaus auf die Straße getreten und zuerst mit raschen, dann immer gemächlicheren Schritten an den Schaufenstern entlang gezogen, hatte in einem der Cafés vergnügt einen Eisbecher gegessen und war gegen sechs Uhr ins Hotel zurückgekehrt, weil sie sich natürlich in Ruhe den Reisestaub abwaschen und dann ankleiden wollte. Auch jetzt, während der Zug an diesem Junisamstag seinem Ziel entgegenrollte, schob sie die Erinnerung an Frau Hagemanns letzte Bemerkung in den Hintergrund. Irgendwann im Laufe des Abends bei Christine und Otto Brauckmann hatte Helmut Röding mit einem verschmitzten Grinsen in die Unterhaltung eingeworfen, er sei letztendlich dem Nationalsozialistischen Kraftfahrzeugkorps beigetreten, weil man ja irgendwo Mitglied sein müsse; da ginge es herzlich wenig um Politik und viel um Autos, selbst wenn das NSKK jetzt den Auftrag erhalten habe, Fahrer für die Armee auszu- bilden. Nein, ein Parteibuch trage er nicht in der Tasche; allerdings lasse man Leute, die in seiner Sparte tätig seien, auch vergleichsweise in Ruhe – von königlich könne man ja nicht mehr sprechen. Helga lächelte vor sich hin, weil auf einmal der Bogen zu Onkel Eugen und dem letzten der Zufälle wieder geschlagen war: Die Firma Röding in Menden, Kreis Iserlohn, hatte Ende 1933 oder Anfang 1934 tatsächlich einen großen Teil der Werkzeugmaschinen aus dem Blankenstein’schen Betrieb zu Preisen erworben, die nur geringfügig unterhalb des tatsächlichen Marktwertes lagen. Brauckmanns, so entsann sie sich, hatten wohl die meisten Arbeiter übernommen. Wenn sie die Augen schloss, vermochte sie das Gespräch in ihrem Eckeseyer Salon, dessen Zeuge sie zunächst unbeabsichtigt geworden war, von Anfang bis zu Idas Rückkehr in Wort und Bild abspulen zu lassen. Fritz, dachte sie dann. Von Fritz und auch von Hildegard trafen in unregelmäßigen Abständen Luftpostbriefe in Eckesey ein, die allerdings immer weniger Bemerkungen zu dem enthielten, was sich auf der politischen Bühne abspielte. Deswegen, so vermutete Helga, wurden sie zwar von der Zensur geöffnet, dann aber doch an den Adressaten weitergeleitet. Ab und zu glaubte sie zwischen den Zeilen lesen zu können, dass Fritz sich Sorgen um seinen Freund und Altersgenossen Karl machte, wenn er sich nämlich erkundigte, bei welcher Waffengattung er seinen Militärdienst 408 409 abgeleistet hätte; auch nach Rudolf hatte er einmal gefragt, aber nicht weiter nachgehakt, als Helga ihm berichtete, ihr jüngerer Bruder sei gleich nach dem Abitur zunächst einmal zum Arbeitsdienst verpflichtet worden. Ihre Gedanken schweiften wieder zu der Abendeinladung bei Brauckmanns ab. ,Kavallerie?’, hatte sie ungläubig hervorgebracht, als Helmut Röding ihr augenzwinkernd erzählt hatte, er habe seinen Militärdienst in der Tat gemeinsam mit seinem Freund Otto in einem Kavallerieregiment in Münster absolviert. ,Gibt es das denn noch?’ Sie hatte sich an die langen Gespräche mit ihrem Vater erinnert, an die meist kontrastlosen, weißlich-grauen Aufnahmen aus dem Weltkrieg auch und an das Lied vom Argonnerwald: Da hatten Pferde, Kaltblüter allerdings, die Kanonen gezogen, und berittene Truppen waren wohl durchaus eingesetzt worden. Aber schon damals hatten Taxameter in der Marneschlacht eine wichtige Rolle gespielt, und heute, wo die Vielzahl der Last- und Privatwagen häufig den Verkehr zum Erliegen brachte und man längst Ampeln eingeführt hatte, um den Fluss der Fahrzeuge zu regeln – wozu brauchte man da eine Kavallerie? Helmut Rödings Äußerungen hatte sie entnommen, dass es sich um eine sehr traditionsverbundene Einheit handele, etwas von Elite hatte er gemurmelt und dann lauter hinzugefügt, vielleicht sei er auch zu der Schwadron eingezogen worden, weil sie im Betrieb Beschläge für Pferde herstellten – Zaumzeug, Trensen und Steigbügel. Außerdem, hatte er dann erklärt, produzierten sie Schrauben, Muttern, Karabinerhaken sowie Werkzeuge, und deswegen hätten sie die Maschinen bei der Auflösung des Blankenstein’schen Betriebs auch damals erworben. Hildegards letzter Brief war übrigens nicht geöffnet worden. Ob die Leute von der Zensur immer nur Stichproben machten oder ob sie darüber Buch führten, wer an wen Briefe verfänglichen Inhalts schrieb, wusste Helga natürlich nicht, aber Hildegard hatte, zumindest in den letzten drei Jahren, stets nur in lakonischen Sätzen von ihrer Laufbahn als Geigerin berichtet und Helga über größere und kleine Geschehnisse im Leben ihrer Familie auf dem Laufenden gehalten: den Oberschenkelhalsbruch ihrer Mutter, die ersten Schritte von Fritzens Tochter Ruth Helene Helga und die in ihren Augen erstaunliche Beobachtung, dass ihr Vater in seinem Garten mehrere Apfelbäumchen gepflanzt hatte. Helga war sich allerdings ziemlich sicher, dass die Zensur Hildegards Bemerkung über den kürzlich eingeführten weiblichen Pflichtarbeitsdienst nicht hätte durchgehen lassen. Zwischen ihre üblichen Einzelsätze hatte Hildegard eingeflochten, ihr sei zu Ohren gekommen, dass die Mädchen von der Landhilfe auf jeder Hand einen Stempel trügen: links BdM, was ,Bin da, Mutti’ bedeute, und rechts NSV, ,Nun such Vati’, wobei Helga sich wieder einmal darüber gewundert hatte, dass ihre immerhin schon 1934 ausgewanderte Freundin sogar über die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt und deren Mutter-und-Kind-Hilfswerk Bescheid wusste. Beim Lesen die- 410 411 ses Satzes hatte Helga sich übrigens des Lachens nicht erwehren können, obwohl ihr manchmal noch Tränen in die Augen stiegen, wenn sie Post von ihrer Jugendfreundin erhielt – ein Besuch in den USA schien in immer weitere Ferne zu rücken. Dabei hatte Helga erst vor Kurzem wieder mit dem Gedanken gespielt, ihre Eltern zu fragen, ob sie nicht einen Aufenthalt bei Hildegard mit einem Abstecher zu Felicity Blake, ihrer Zimmergenossin aus Lausanner Zeiten, verbinden könne; an den Devisenbeschränkungen, so meinte sie, würden ihre Pläne sicher nicht scheitern. Aber jetzt … Dabei fielen Helga die Worte von Frau Fandrey wieder ein, die sie vor ein paar Tagen auf der Straße getroffen hatte: Ilse als fest angestellte Tänzerin werde doch hoffentlich das Pflichtjahr nicht ablegen müssen, obwohl sie noch nicht ganz fünfundzwanzig und, ebenso wie Helga, nicht verheiratet sei. Und ein Einsatz in der Landwirtschaft käme natürlich kei-nes-falls in Frage! Solche Überlegungen erübrigten sich seit vorgestern. Vielleicht könnte sie wenigstens der Einladung von Helga Herberts ins Elsass Folge leisten. Sie fühlte sich zwar eigenartig berührt von der Vorstellung, ihrem ehemaligen Verehrer, jetzt Helgas Mann, gegenüberzustehen, aber sie würde ja selbst bald … Zudem schloss sie aus allem, was ihr die andere Helga schrieb oder, sehr selten, fernmündlich berichtete, Ernst habe nie erwähnt, dass sein Heiratsantrag von ihr abschlägig beschieden worden war. Ob Frau Meyer wohl den Schock vom November 1938 überwunden hatte? Helga sah sie vor sich, wie sie im Sessel ihres Musiksalons an der Volmestraße immerzu den Namen eines Arztes vor sich hin sagte, der Deutschland längst verlassen hatte. Herr Meyer war ja, wie Erich Effenkamp richtig vermutet hatte, nur kurz, weniger als einen Monat lang, in einem Konzentrationslager namens Buchenwald gefangen gehalten worden und hatte dann, nach Entrichtung von Reichsfluchtsteuer und Judenvermögensabgabe, Deutschland verlassen können, nicht zuletzt dank der Tatsache, dass sowohl er als auch seine Frau über gültige Pässe verfügten. In einem ihrer Briefe hatte die andere Helga durchblicken lassen, dass ihre Eltern außer etwas Schmuck, den Rebekka geschickt unter Knöpfe und in Schulterpolstern eingenäht sowie in Absätzen versteckt hatte, so gut wie nichts hatten mitnehmen können. Sie betastete die Brosche – zwei mit Diamantsplittern besetzte, ineinander liegende Runde, als Verbindung die rubinbestückten Querverstrebungen und die Perle in der Mitte – aufs Neue. Helmut Röding hatte sie aus dem dunkelblau bezogenen Schächtelchen genommen, ihr beim Anstecken in die Augen geschaut und sich deshalb heftig in den Finger gestochen, sodass sie beide in Lachen ausgebrochen waren. Dass er sich gemerkt hatte, wie sehr ihr das Schmuckstück gefiel, und es sogar gekauft hatte, bevor er ihrer Antwort sicher sein konnte, hatte eigentlich am Donnerstagabend den letzten Ausschlag gegeben. 412 413 Erst, als die Bremsen quietschten und im Nebenabteil ein schwerer Gegenstand krachend auf dem Boden landete, wurde Helga bewusst, dass der Zug in wenigen Augenblicken Küstrin erreichen würde, wo sie umsteigen musste, um dann in Gesellschaft von Carla und Lilo die Fahrt fortzusetzen. Brigitte würde, so hatte sie geschrieben und heute Morgen am Telefon noch einmal bestätigt, mit dem Wagen aus Brandenburg anreisen. Helga sprang auf, hob ihr Köfferchen aus dem Gepäcknetz, warf einen Blick in den Spiegel oberhalb der Sitzbank und zog noch rasch ihre Lippen nach, als die Lokomotive nach einigem Geruckel auch schon endgültig anhielt. Kurz darauf stand Helga auf dem Bahnsteig und schaute sich suchend um. Natürlich hatte sie Recht gehabt mit ihrer Vermutung vorhin in Berlin: Aus mehreren Abteilen hangelten sich Damen, um ihre Absätze besorgt, über die Trittbretter nach unten, wobei sie sich gegenseitig Hilfestellung leisteten. Ob Carla und Lilo wohl schon eingetroffen waren? Verabredet hatten sie sich in der Bahnhofsgaststätte, und Helga dachte, eine Tasse Kaffee könne jetzt nicht schaden. Mit klopfendem Herzen strebte sie auf die Tür zu und warf dabei einen Blick auf die Normaluhr. „Helga! Hier sind wir!” Carla war von ihrem Stuhl am Fenster aufgesprungen und winkte ihr zu, während Lilo, die schon immer zu den ,Stillen im Lande’ gezählt hatte, Helga nur wort- und gestenlos ent414 gegenstrahlte. Mit ein paar weit ausholenden Schritten hatte Carla sie erreicht, griff nach ihrem Arm und zog sie ins Licht. „Gut siehst du aus, Helga, eigentlich gar nicht nach Indus triestadt und Nachtwachen in Lungenheilstätten! Und was hast du denn da Hübsches? Das kenn ich ja noch gar nicht. Ein Weihnachtsgeschenk?” „Nun lass sie doch zuerst einmal verschnaufen”, warf Lilo sanft ein, reichte Helga die Hand und meinte, der Kaffee sei gar nicht schlecht hier, vermutlich sogar besser als der Tee. Sie sollte aber sofort bestellen, denn der Zug nach Bärwalde fahre in zwanzig Minuten. Während die Kellnerin durch die Küchentür verschwand und kurz danach die Tasse auf dem Tisch zwischen ihnen absetzte, tat Helga zunächst so, als hätte sie Carlas Frage in dem allgemeinen Gemurmel nicht gehört und erkundigte sich, wie es denn ihren beiden Kindern gehe. Carla griff das Thema sofort auf. „Ach, sie sind in dem Alter, wo sie alle und jede Krankheit aufschnappen, Windpocken, Ziegenpeter, Masern … Nur von Keuchhusten sind wir bis jetzt verschont geblieben. Eckbert, er ist mittlerweile drei Jahre alt, steckt sich bei Spielkameraden an, und Renate bleibt natürlich von nichts verschont. Dabei ist sie ein eher zartes Kind, und für eine Zweijährige kann ja manches gefährlich werden, was so ein zäher Bursche wie ihr Bruder ohne weiteres verkraftet.” 415 Carla zog die Stirn in Falten und lehnte sich dann, schelmisch grinsend, zu Lilo hinüber. „Ist dir nichts aufgefallen, Helga? Schau dir unsere Lilo einmal genau an.” „Bist du … bist du guter Hoffnung, ich meine, erwartest du ein Kind?”, fragte Helga, und als Lilo lächelnd nickte, gratulierte sie ihr und wollte noch wissen, wann es denn so weit sein würde. „Habt ihr euch schon einen Namen überlegt?”, fügte sie noch hinzu und beschloss gleichzeitig, Helmut Röding zu fragen, ob er damit einverstanden sei, ihren ersten Sohn … Fritz zu nennen. „Wir bleiben bei dem, was in unserer jeweiligen Familie üblich ist”, erwiderte Lilo und blickte Helga aufmerksam an. „Wird es ein Junge, so lassen wir ihn nach seinen beiden Großvätern taufen, Justus Eberhard; ein Mädchen würde Emilie Clara heißen.” Carla schwieg zunächst, meinte dann noch recht vernehmlich, sie hätten sich für etwas moderne Vornamen entschieden, bevor sie kaum hörbar hinzufügte, aber da gebe es eindeutige Grenzen. Mit der Nibelungensage hielten sie es nicht. Dann rief sie mit Blicken die Kellnerin herbei, bezahlte für alle drei und schüttelte den Kopf, als Helga aus ihrer Tasche ihren Geldbeutel hervorkramte. „Du darfst dich aber gern revanchieren und uns im Zug nach Bärwalde ein paar von den letzten Eckeseyer Köstlichkei- ten anbieten. Ich gehe doch recht in der Annahme, dass du den Maiden, die ihre Zimmer für uns räumen und im Schützenhaus auf Stroh schlafen, eine Tüte Bonbons mitgebracht hast?” Helga lächelte. „Ja, Brigitte hat mir natürlich davon erzählt. Ihre kleine Schwester Gisela legt doch zur Zeit ihr Maidenjahr ab und berichtet ihr alles brühwarm, bis in die kleinsten Einzelheiten.” „Apropos Brigitte”, unterbrach Carla sie und eilte auf die Ausgangstür des Restaurants zu, während Lilo etwas langsamer folgte. „Wann habt ihr euch zum letzten Mal gesehen?”„Auf ihrer Hochzeit im April 1937”, erwiderte Helga. „Wie oft sie mir geschrieben oder auch fernmündlich versprochen hat, dass sie mich in Westfalen besuchen würde, lässt sich nicht einmal an zehn Fingern abzählen. Immer ist etwas dazwischen gekommen, die Krankheit eines Familienmitglieds …” Carla lachte auf. „Sowohl bei den Albertylls als auch bei den Leskows verstehen sie darunter ja die ganze Sippe, bis hin zu Großtanten und Vettern, die sich völlig unverständlicherweise in Bayern niedergelassen haben.” „Wie dem auch sei”, nahm Helga den Faden wieder auf und half Lilo dabei die Stufen zum Abteil hoch. „Und ihr? Habt ihr sie getroffen?” Die Lokomotive stieß ein paar Dampfwolken in den blauen Himmel, ein schriller Pfiff zerriss die Stille, und der kleine Zug setzte sich stoßweise in Bewegung. 416 417 „Na, wenn sich das Wetter nur hält”, meinte Carla und zog die Stirn wieder kraus. „Da hinten sieht es ziemlich grau aus. Aber zurück zum Thema: Lilo und ich haben vorhin schon begonnen, unsere Erinnerungen auszutauschen. Unsere Verbindungen zu den Mitmaiden sind hauptsächlich auf dem Postweg aufrecht erhalten worden, genau wie deine. Zu Gabys Hochzeit bin ich letztes Jahr gefahren, zu Lilos natürlich ebenfalls. Du warst doch auch eingeladen – warum hast du abgesagt?” Lilo kam Helga zuvor. „Aber Carla, hast du denn vergessen, dass Helga eine richtiggehende Ausbildung zur Schwesternhelferin absolviert hat? Da kann man nicht so einfach mal ein paar Tage fehlen und mehr als halb Deutschland durchqueren.” Helga nickte. „Als Brigitte heiratete, hatte der Kurs noch nicht angefangen.” Plötzlich schwiegen alle drei. Carla senkte den Kopf und drehte an ihrem Ehering, Lilo faltete die Hände in ihrem Schoß. „Bärbel hat sich auch angemeldet”, meinte Carla schließlich, verstummte noch einmal für einen Augenblick und sagte dann, Helga habe ihre Frage nach dem Schmuckstück noch nicht beantwortet. Womit sollte sie anfangen? Schließlich antwortete Helga, demnächst werde Bärbel wohl die einzige Junggesellin in ihrem Kreise sein; ,Jungfer’, das klinge so altmodisch. Lilo und Carla verstanden nicht sofort, was sie mit dieser Feststellung zum Ausdruck bringen wollte, aber dann griff Carla nach Helgas linker Hand. „Nein” – Helga lächelte –, „zu einem Ring hat die Zeit nicht gereicht. Wir sind uns erst am Donnerstagabend einig geworden, und wie ihr wisst, ging mein Zug nach Berlin am nächsten Morgen ziemlich früh.” „Und das hast du uns nicht gleich gesagt?”, brüllte Carla und tanzte ausgesprochen undamenhaft um Helga herum. „Eine halbe Stunde lang hast du uns im Dunkeln gelassen! Da erkundigt sich dieses Mädchen nach meinen Kindern, anstatt gleich mit einer so interessanten Neuigkeit herauszurücken!” Lilo blickte versonnen vor sich hin und versuchte mehrfach, auch einmal zu Worte zu kommen. Schließlich fragte sie in eine Atempause Carlas hinein, wer denn der Glückliche sei. Einen guten Geschmack besitze er auf jeden Fall, denn sie vermute doch wohl richtig, dass er Helga die wunderhübsche Brosche verehrt habe. „Brigitte kennt ihn”, hob Helga an, während sowohl Carla als auch Lilo die Augen nicht von ihr ließen. „Genauer gesagt: Wir haben uns sogar auf ihrer Hochzeit kennen gelernt. Helmut Röding, so heißt er, war nämlich damals mein Tischherr. Eingeladen war er, weil er mit Hartmut, Brigittes Mann, gemeinsam studiert und eine Wohnung geteilt hat – in Berlin.” „Aber die Hochzeit liegt doch mehr als zwei Jahre zurück”, unterbrach Carla sie. „Es gibt ja durchaus Spätzünder …” 418 419 Diesmal fiel ihr Lilo ins Wort. Sehr bestimmt bestand sie darauf, Helga in Ruhe erzählen zu lassen. „Wir hatten uns wirklich gut unterhalten”, fuhr Helga also fort, „und mir zuliebe hatte er sogar seine Abneigung gegen das Tanzen überwunden. Am nächsten Tag, beim allgemeinen Aufbruch, tauschten wir dann unsere Adressen aus, und Herr Röding – entschuldigt, aber ich muss mich erst noch daran gewöhnen, von ,meinem Verlobten’ oder einfach ,Helmut’ zu sprechen –, also … Helmut drückte mir immerzu fest beide Hände und wiederholte mehrfach, er werde mir schreiben. Deswegen war ich zuerst enttäuscht, als kein Brief eintraf, nicht einmal eine Karte. Ich muss allerdings gestehen, dass mit der Zeit …” Helga zögerte. Sie wusste nicht so recht, ob sie Alfred Barker und die Rolle, die er in ihrem Leben gespielt hatte, erwähnen sollte. Indessen nahm Carla ihr die Entscheidung ab. „Aus den Augen, aus dem Sinn”, meinte sie. „Aber sag einmal: Auf die Idee, dass du ihm hättest schreiben können, bist du wohl gar nicht gekommen?” Lilo schüttelte den Kopf. „Du kennst doch unsere Helga. So etwas entspricht ihrem Wesen gar nicht. Ich selber ziehe es ebenfalls vor, dass der Mann den ersten Schritt tut.” „Ja, und dann haben wir uns Anfang Juni wiedergetroffen, vor rund vierzehn Tagen erst. Meine große Schwester Luise ist mit einem Mann verheiratet, der aus erster Ehe eine Tochter namens Christine hat. Diese Christine hat im Februar 1938 einen Hagener Fabrikanten geheiratet; Otto Brauckmann heißt er. Brauckmanns wiederum haben am 3. Juni Freunde zu einer Erdbeerbowle eingeladen, und unter den Gästen war Helmut Röding, der gleichzeitig mit Otto seinen Militärdienst in Münster abgelegt hat.” Carla starrte Helga mit halb geöffnetem Mund an. „Plötzlich standet ihr euch also gegenüber. Ja, und dann?” „Ich bin rot geworden”, murmelte Helga. „Helmut Röding wusste auch nicht, wie er sich verhalten sollte. Er dachte nämlich, ich wolle ihm aus dem Weg gehen.” „Warum denn das?” Jetzt war sogar Lilo überrascht. „Christine und ihr Mann konnten ja nicht ahnen, dass wir uns schon einmal getroffen hatten und … ziemlich gut miteinander ausgekommen waren. Deshalb wunderten sie sich nicht besonders über unsere Verlegenheit, und außerdem trafen mehrere Gäste gleichzeitig ein, sodass sie sich nicht weiter um uns kümmerten. Helmut Rö… Helmut holte ein Glas Bowle für mich, drehte seins so lange in der Hand herum, bis ich schon versucht war, ihm zu sagen, bald wäre Erdbeersuppe daraus geworden, und erkundigte sich schließlich, ob ich denn seine Karte und vor allem seinen Brief nicht erhalten hätte. Als ich verneinte, erklärte er, er habe mir aus Münster geschrieben und viel später aus Sumatra. Nun gut, dass eine Postkarte vom anderen Ende der Welt verloren geht, das wollte ich ja noch glauben – aber ein Brief aus Münster in Westfalen? Trotzdem muss 420 421 es so gewesen sein; nicht nur ein, sondern zwei Zufälle … Auf jeden Fall hat Helmut seine ganze Überzeugungskunst anwenden müssen. Dabei ist er sonst eher zurückhaltend.” Lilo fragte, was denn in dem Brief gestanden hätte. „Das ist es ja!”, rief Helga. „Er wollte mich unbedingt wiedersehen und schlug vor, mich zu einem Konzert in Münster einzuladen, mit Furtwängler als Dirigent und Wilhelm Kempff am Flügel. Ihr erinnert euch doch sicher, wie oft ich euch von Furt – so nannte ich ihn immer – vorgeschwärmt habe. Helmut wollte mich in Hagen abholen und auch wieder nach Hause begleiten. Auf Brigittes Hochzeit hatten wir uns lange über Musik unterhalten und sogar ein wenig gestritten – Helmut spielt nämlich Cello und macht regelmäßig Kammermusik, während ich ja für Brahms und große Orchester schwärme, aber nicht ausschließlich. Deshalb hatte er überhaupt nicht daran gezweifelt, dass ich begeistert zusagen würde, und auch schon zwei Karten gekauft, ziemlich teure, damit wir auch wirklich gute Plätze hätten. Bei Brauckmanns hat er mir gestanden, wie enttäuscht er war, als eine Woche verstrich und keine Antwort eintraf. Anrufen wollte er nicht, weil er zu der Überzeugung gelangt war, er hätte sich falsche Hoffnungen gemacht; natürlich hat er auch seinen Stolz. Auf den Gedanken, der Brief sei verloren gegangen, ist er nicht gekommen. So häufig geschieht das ja nicht – noch dazu bei einem so harmlosen Inhalt!” „Was hat er denn mit der Eintrittskarte gemacht, die für dich bestimmt war?”, wollte Carla wissen. „Er hat Otto Brauckmann mitgenommen, der klassischer Musik allerdings nicht viel Geschmack abgewinnen kann.” Helga hatte den Eindruck, dass ihre beiden Mitfahrerinnen ihren Gedanken nachhingen, doch dann meinte Lilo leise, ohne diesem Otto zu nahe treten zu wollen, müsse sie doch sagen, da habe man Perlen vor die Säue geworfen. Aber was es denn nun mit der ebenfalls verloren gegangenen Postkarte aus Sumatra auf sich habe? „Da muss ich ein kleines bisschen weiter ausholen”, erwiderte Helga, rutschte einmal auf der Bank hin und her und zog ihren Rock gerade. „Dass Helmut mit Hartmut von Les kow in Berlin studiert hat, erwähnte ich schon, nicht wahr? Gleich nach seiner Diplomprüfung – er ist übrigens Ingenieur mit Maschinenbau als Hauptfach – hat er seinen Militärdienst abgeleistet und ist dann mit der Höchst, einem kombinierten Fracht- und Personendampfer, als Schiffsingenieur zur Insulinde gefahren, in den Malaiischen Archipel, wenn euch das mehr sagt. Sein Vater bestand nämlich darauf, dass er sich den Wind um die Nase wehen ließ, bevor er im Betrieb eine leitende Stelle antrat. So ist Helmut nicht nur während des Studiums in Amerika gewesen, sondern hat nach dem Examen praktische Erfahrungen auf See erworben.” Helga lachte, erhob sich und kramte mit einigen Verrenkungen mehrere Tüten Bonbons und eine flache Schachtel aus ihrem Köfferchen oben im Gepäcknetz zwischen den Kleidungsstücken hervor. 422 423 „Diese haben mein Vater und mein großer Bruder Karl als Sommerware entwickelt”, erläuterte sie und warf ein paar von den weiß gewickelten Pfefferminzkaubonbons mit dem roten Schriftzug auf den freien Platz an der Abteiltür. „Aber vielleicht zieht ihr ja diese vor – die altvertrauten Sahnekaramellen, die wir schon seit ewigen Zeiten herstellen und die sich immer noch hervorragend verkaufen. Lilo, du mochtest die Lakritztaler gern, oder? Seit seiner Geschäftsreise durch die Oststaaten der USA trägt sich mein Vater übrigens mit dem Gedanken, das Sortiment zu verkleinern, aber verwirklicht hat er seinen Vorsatz bislang noch nicht. Jedes Mal, wenn er vorschlägt, dieses oder jenes Bonbon aus dem Angebot zu streichen, brüllt jemand im Betrieb oder einer von den Reisenden, das könne er doch nicht tun.” Lilo griff nach einer der Geleefrüchte, die Helga mit wesentlich mehr Behutsamkeit vor ihnen aufgestellt hatte. „Lakritz darf ich nicht essen. Mein Arzt vertritt die Ansicht, während der Schwangerschaft solle man Salzhaltiges meiden, und eure Negertaler gehören wohl dazu. Aber erzähl weiter. Sonst erreichen wir Bärwalde, bevor wir genau Bescheid wissen, und von vier Uhr an wird’s ja aus sein mit dem gemütlichen Plaudern.” „Wenn ich es richtig verstanden habe, hat Helmut auf der Höchst eine ganze Menge gelernt”, fuhr Helga also fort und nahm wieder Platz. Sie lachte noch einmal. „Und ich habe beim Zuhören etwas Wichtiges in Erfahrung gebracht: dass er nämlich über einen ausgeprägten Sinn für Humor verfügt. So erzählte er, immer noch an dem besagten Erdbeerbowlenabend vor zwei Wochen, dass sie natürlich auch in Stürme geraten seien. Da habe das Schiff so geschaukelt, dass die Gäste am Kapitänstisch einer nach dem anderen aufgestanden seien und sich kreidebleich in ihre Kabinen gerettet hätten. Die köstlichen Speisen, die der Koch für die Passagiere zubereitet hatte, seien unberührt in die Kombüse zurückgetragen worden … wo die seefeste Besatzung alles leicht Verderbliche mit Genuss verzehrt habe, er selber natürlich auch.” Lilo leckte den Zucker von einer weiteren Geleefrucht ab und biss dann hinein. „Auf jeden Fall hat er etwas von der Welt gesehen … Dass auf dem Weg um die halbe Erde eine Postkarte verloren geht, kann ich mir gut vorstellen. Etwas allzu Bedeutungsvolles wird ja ohnehin nicht darauf gestanden haben, wo doch jeder bis hin zum Postboten den Text lesen kann”, fügte sie noch hinzu. „Richtig”, stimmte Carla eifrig zu. „Aber Helga hätte doch das Lebenszeichen erhalten, auf das sie anfangs gewartet hat, und außerdem hätte sie dann endlich eine Erklärung dafür erhalten, warum sich der junge Mann nicht meldete. Du dachtest doch, er sei die ganze Zeit über im väterlichen Betrieb tätig gewesen. Wie weit ist eigentlich sein Heimatort von Hagen entfernt? Die Leskows …” 424 425 „Nein, er wohnt nicht in Brandenburg – sonst hätte er vermutlich seinen Militärdienst … Kurzum, er stammt aus Menden im Kreis Iserlohn. Diese kleine Stadt liegt rund dreißig Kilometer von Hagen entfernt.” Carla klatschte in die Hände, Lilo schüttelte ungläubig den Kopf, und Helga rechnete eigentlich damit, eine von beiden werde jetzt Onkel Blankensteins Lieblingsspruch zitieren. Aber Carla erkundigte sich nach einer Pause nur, ob Helmut Röding schon bei ihren Eltern um ihre Hand angehalten habe, während Lilo gleichzeitig wissen wollte, wie es denn nach der besagten Erdbeerbowle weitergegangen sei. Helga gestand sich ein, dass sie es sehr genoss, im Mittelpunkt zu stehen, und lächelte. „Die Abendeinladung bei Brauckmanns hat sich bis in die frühen Morgenstunden hingezogen. Meine Schwester Luise und ihr Mann schlugen so gegen sechs vor, dass die Gäste, die den Weg nach Hause noch nicht gefunden hatten, mit zu ihnen zum Frühstück kämen – sie wohnen nämlich sozusagen um die Ecke. Die Bäckereien hatten ja schon geöffnet, und so gab’s frische Brötchen, einen ganz ordentlichen Kaffee und hausgemachte Marmelade …” „Aber natürlich Margarine”, warf Carla ein wenig besserwisserisch ein, „bloß auf dem Lande bekommt man nach wie vor Butter.” Helga wollte zunächst erwidern, solchen Nebensächlichkeiten hätten weder sie noch Helmut Röding auch nur die geringste Bedeutung beigemessen, aber dann schluckte sie die Bemer- kung herunter und berichtete, es sei furchtbar nett gewesen, und sogar Luise habe durch ihre übliche spöttische Haltung immerhin eine Andeutung von Herzlichkeit hindurchscheinen lassen. Dann habe Helmut Röding aber doch aufbrechen müssen – die Arbeit rufe sogar den Sohn des Chefs, habe er gemurmelt und dabei eine alberne Art von Heiterkeit erregt, denn nüchtern sei natürlich keiner von ihnen gewesen; selbst der starke Kaffee habe da nicht vollständig Abhilfe schaffen können. Er habe sie in seinem Wagen bis vor die Haustür gefahren und ihr beim Abschied erklärt, leider müsse er für ein paar Tage nach Thüringen fahren, wo sie in einem kleinen Ort namens Immelborn einen Zweigbetrieb besäßen. Aber gleich nach seiner Rückkehr wolle er ihren Eltern einen Besuch abstatten, wenn das in ihrem Sinne sei. Lilo und Carla, das spürte Helga deutlich, hingen an ihren Lippen. „Und dann?”, fragten beide gleichzeitig. Helga erinnerte sich, wie verwirrt sie gewesen war, hin- und hergerissen eigentlich zwischen Zustimmung und Unsicherheit, Gedanken an Alfred und andererseits dem Gefühl, Helmut Röding entspreche dem Bild, das Ida irgendwann einmal von dem Mann entworfen hatte, der ihrer Meinung nach am besten zu Helga passen würde: gescheit, humorvoll und tatkräftig, halt jemand, der Entscheidungen zu treffen vermochte. „Nun ja”, meinte sie etwas verlegen, „den Rest könnt ihr euch doch denken. Sonst hätte er mir doch am Donnerstag- 426 427 abend die Brosche nicht geschenkt, als Vorschuss auf den Verlobungsring, wie er das selbst nannte.” „Meine Frage ist damit aber noch nicht beantwortet”, sagte Carla. „Hat er nun bei deinen Eltern um deine Hand angehalten?” „Offiziell noch nicht”, erwiderte Helga, „vom zeitlichen Ablauf war das nicht möglich. Er hat ihnen jedoch einen Besuch abgestattet, mit Voranmeldung, Visitenkarte und so weiter. Noch von Thüringen aus hat er meinen Vater angerufen, und am 11. Juni ist er dann erschienen. Mir war fast schlecht vor Aufregung. Wenn man so eine Situation zum ersten Mal erlebt … Jedenfalls ist alles gut abgelaufen, und meine Eltern schienen ganz angetan von Helmut zu sein. Direkte Fragen haben sie eigentlich nicht gestellt. Ich habe mich sogar ein bisschen darüber gewundert, wie geschickt sie herausbekommen haben, dass er evangelisch ist – das ist ihnen nämlich ausgesprochen wichtig.” Helga verzog das Gesicht zu einem Grinsen. „Mein Vater fing so an: Menden liege doch im ehemaligen Erzbistum Köln. Damit unterstellte er natürlich, alle Leute dort seien katholisch. Das durchschaute Helmut aber sofort, wie er mir am nächsten Tag verschmitzt erklärte, denn er hielt genau die richtige Antwort parat: dass sein Vater aus Iserlohn zugewandert sei; die Stadt gehöre zur evangelischen Grafschaft Mark. Seine Familie habe den Betrieb in Menden gegründet, weil dort hinreichend viele Arbeitskräfte vorhanden seien.” „Da hast du Glück gehabt”, sagte Lilo langsam und nickte. „Hat Gaby dir geschrieben, Helga, was sie durchmachen musste, bevor sie ihren Herbert ehelichen durfte? Von ,dürfen’ konnte ja eigentlich keine Rede sein, nicht wahr, Carla? Bis zum letzten Augenblick haben sich ihre Eltern gegen die Heirat gesträubt, und erst, als Gaby und Herbert sich schon vor dem Standesbeamten das Ja-Wort gaben, öffnete sich die Tür des Saales im Rathaus einen Spaltbreit, um wenigstens Gabys Mutter durchzulassen. Auf eine kirchliche Hochzeit haben sie ganz verzichtet, zum absoluten Entsetzen auch der Eltern des Bräutigams. Die Feier war dann aber trotzdem ein voller Erfolg, unter anderem, weil wir Altmaiden tüchtig zum Programm beigetragen haben. So ein Zirkus! Falls sie ihre Kinder taufen lassen, geht wahrscheinlich alles von vorne los!” Die Frage hatten Franz und Else Dennersmann sich nicht gestellt – Sophie, Karls ursprünglich katholische Frau, hatte deren Tochter Gudrun, die jetzt zwei Jahre alt sein musste, über das Taufbecken einer evangelischen Kirche in Essen gehalten. Bei Franzens Schwester, ihrer ehemaligen Klassenkameradin Herta, war die Entscheidung dagegen ausgefallen, nach Aussage der Großmutter Marga deshalb, weil Pfarrer Ackermann in den Ruhestand getreten war und das junge Ehepaar Albers mit dem Hilfsprediger nichts anfangen konnte, wie Herta ihr kürzlich versichert hatte. Johann Albers spielte allerdings inzwischen als Luftschutzhauswart in der Ortsabteilung der Partei eine gewisse Rolle, und vielleicht … 428 429 Helga schaute aus dem Fenster und beugte sich vor, um die restlichen Bonbons von dem freien Sitzplatz wieder einzusammeln. „Wenn mich nicht alles täuscht, sind wir bald da. Kommt euch dieses Wäldchen nicht auch bekannt vor?”, fragte sie, hörte aber bei der Antwort gar nicht zu. Ihre Gedanken wanderten hin und her zwischen Brigitte, der sie in nicht allzu langer Zeit gegenüber stehen würde, und dem Vortrag im Frauenwerk, zu dem sie sich zwei Tage nach dem Wiedersehen mit Helmut Röding pflichtbewusst, wenn auch immer noch etwas unausgeschlafen, hinbegeben hatte. Ausgerechnet um das ,britische Weltreich und sein Gefüge’ war es da gegangen, und sie hatte sich bemüht, meist erfolglos übrigens, dem Vortrag Aufmerksamkeit zu schenken – immer wieder, wenn von London die Rede war oder das Wort ,England’ fiel, hatte sie Alfreds Gesicht vor sich gesehen und sein Lachen vernommen. Zu allem Überfluss war ihr Blick nach ihrer Rückkehr in die Schillerstraße auch noch an dem Becher haften geblieben – Rosemary sprach immer von mug –, den Alfred ihr bei einem Besuch in Hagen mitgebracht hatte, einem Andenken von der Krönung Georgs VI. im Mai 1937. Sogar Ida, die noch einmal aus ihrer Kammer in die Küche hinabgestiegen war, weil sie ein Geräusch gehört hatte und Helgas Eltern bei dem Ehepaar Herberts senior eingeladen waren, war aufgefallen, dass etwas geschehen sein musste. Nach anfänglichem Zögern hatte sie Ida von dem überraschenden Wiedersehen mit dem jungen Mann erzählt, der auf der Hochzeit ihrer Freundin Brigitte in der Mark Brandenburg ihr Tischherr gewesen war. Ida hatte zunächst nur genickt, vor sich hin gebrummt und dann verständlicher geäußert, das würde die Sache ja vereinfachen. Helga hatte sofort verstanden, was Ida damit sagen wollte, zumal sie mehrfach hatte durchblicken lassen, es sei für sie nicht schön, mit all diesen Engländern – damit meinte sie Rosemary und Alfred – nicht so richtig reden zu können, selbst wenn die sich ein Bein ausrissen und auf Deutsch radebrechten. Ida hatte, beruhigt, dass sie nicht auf einen Einbrecher gestoßen war, den Weg nach oben wieder angetreten und beim Verlassen der Küche etwas von Paule Beckmann und ihrem Opa gemurmelt, die das ja nun alles nicht mehr miterleben würden. Seit dem Tode ihres Großvater schien es Ida noch schwerer als früher zu fallen, ihre Füße zu heben. Ob sie tatsächlich ein ganzes Jahr lang Trauer tragen würde, überlegte Helga, oder ob sie wenigstens zu ihrer Hochzeit … Nur das Päulchen, mittlerweile ein richtiger Paul und elf Jahre alt wie ihr Neffe Otto, vermochte ein Lächeln auf Idas Gesicht zu zaubern. Ihren Äußerungen war zu entnehmen, dass sie sich in ihrem Kopf eine Erklärung dafür zurecht gelegt hatte, was der uralte Mann mit seinem Pferdegespann am 9. November ausgerechnet in der Potthofstraße zu suchen – oder besser: wen er gesucht – hatte, seinen Enkel Erich nämlich, um wie immer zu verhindern, ihn in das verwickelt zu sehen, was ihr Opa in dem Satz Dat cheit nich lang chut zusammenzufassen pflegte. Sie lastete den Un- 430 431 fall deshalb Erich an und ging ihm sogar bei Besuchen auf dem Bauernhof nach Möglichkeit aus dem Weg. Dabei war Erich ihr einziger … „Wir sind da!” Helga schrak ein wenig zusammen. In der Tat hatte der Zug seine Fahrt verlangsamt; Carla war auf die Bank gestiegen und wartete offensichtlich darauf, dass Helga ihr die drei kleinen Koffer abnahm. „Wie weit weiß Brigitte eigentlich Bescheid?”, erkundigte sie sich und grinste von einem Ohr zum anderen. „Da sie deine Busenfreundin ist, vermute ich einmal, dass wir sie kaum überraschen können?” Während sie einen Blick in den kleinen Spiegel oberhalb der Sitze warf und ihren Hut zurechtrückte, erwiderte Helga, Brigitte sei keinesfalls auf dem Laufenden. Sie habe zwar in einem Brief auf Helmut Röding angespielt – natürlich, sie entsann sich genau: In dem dicken Umschlag mit den Hochzeitsfotos hatte er gesteckt – und außerdem darauf hingewiesen, dass Helga ja ihren Brautstrauß gefangen habe, aber im Weiteren hatte sie eigentlich immer nur berichtet, wie sie und Hartmut nach und nach auf dem Leskow’schen Gut Fuß fassten. In der letzten Zeit – das behielt Helga indessen für sich – hatte sie jedes Mal durchblicken lassen, wie sehr sie sich ein Kind wünschte; sie ziehe sogar in Erwägung, eine Kur in einem von diesen Bädern im Sudetenland zu machen. Carla trippelte ungeduldig auf der Stelle, Lilo lächelte vor sich hin. „Vielleicht holt sie uns ja ab mit ihrem Wagen”, meinte Carla. „Ich habe ihr unsere Ankunftszeit fernmündlich durchgegeben. Sie hat ihre Zusage allerdings davon abhängig gemacht, wie gut sie durchkommt. Für Lilo wäre es bestimmt angenehm …” „Nun übertreib mal nicht”, wandte Lilo ein. „Erstens bin ich erst im fünften Monat schwanger, und zweitens haben sie vom Luisenhof doch sicher jemanden geschickt, der wie früher das Gepäck auf seinem Karren bis vor die Haustür befördert. Noch regnet es ja nicht, obwohl … und es wird mir ausgesprochen gut tun, ein wenig zu Fuß zu gehen. Ob es noch immer nach Kiefernnadel und Landwirtschaft riecht? Ihr dürft nicht vergessen, dass ich seit Jahren in einer Großstadt wohne.” Helga stimmte Lilo zu und meinte lachend, ein wohlwollender Mensch habe im Zusammenhang mit dem Hagener Stadtteil Eckesey von ,trostloser Hässlichkeit’ gesprochen – ob sie als Stuttgarterin da mithalten könne? 432 433 All die Frauen, die mit Helga gemeinsam in Küstrin umgestiegen waren, sowie noch einige weitere Reisende weiblichen Geschlechts ergossen sich aus den Abteilen auf den Bahnsteig, blieben in kleinen Gruppen stehen und schauten sich suchend um. In der Tat erboten sich mehrere kurz behoste Jungen, die Koffer zum Luisenhof zu transportieren, und so bewegte sich bald ein Zug überwiegend hell gekleideter, sich mehr oder minder lebhaft unterhaltender Damen die Landstraße entlang auf den Luisenhof zu. Carla war mit einem Freudenschrei auf Frieke, Mieze und Gaby zugestürmt, die den Zug nach Bärwalde beim Umsteigen in Küstrin fast verpasst hatten deshalb in ein Abteil mit Altmaiden eines anderen Jahrganges geklettert waren. Zu sechst, mit schwingenden Handtaschen, gingen sie nebeneinander her, musterten sich immer wieder von der Seite und redeten häufig alle durcheinander. Bärbel und Anneliese kämen zusammen mit dem Wagen, teilte Gaby ihnen mit und gesellte sich dann zu Helga, die noch einmal ihrem Bedauern darüber zum Ausdruck brachte, dass sie nicht an Gabys Hochzeit hatte teilnehmen können. Kurz darauf waren sie in eine Unterhaltung über standesamtliche Trauungen vertieft. Wenn Helga Gaby richtig verstanden hatte, musste man der Partei beitreten, bevor das Aufgebot ausgehängt wurde. Aber vielleicht hatte sie sich auch verhört, denn Carla brüllte auf einmal, man sehe ja das Haus vor lauter Bäumen nicht mehr, und alle wandten ihre Aufmerksamkeit dem zu, was sich da vor ihren Augen abzeichnete. In der Tat waren die Kastanien entlang der Auffahrt ein gutes Stück in die Höhe geschossen. Die weitausladenden Äste verdeckten alles bis auf die Bögen der Eingangsterrasse und die drei hohen Fenster des mittleren Gebäudes, das sich hell von den Schieferziegeln des Daches abhob. Rechts und links davon blinkten die Scheiben der Maidenzimmer in der Sonne, und das Rot von Geranien leuchtete durch die Blätter. Ein hellblau gekleidetes Mädchen mit steif gestärkter weißer Schürze lief ihnen entgegen und wies sie ziemlich aufgeregt darauf hin, dass die offizielle Begrüßung erst in einer halben Stunde stattfinden würde, bat sie jedoch ins Haus, wo einige weitere Jungmaiden ihre Köpfe über eine Liste beugten, darauf nach den Namen suchten, die ihnen genannt worden waren, und dann mit den Gästen in einem der Flure verschwanden. Helga winkte Carla, Lilo und Gaby zu, bevor sie selber die Tür hinter sich schloss. Sie würde ja, genau wie früher, mit Brigitte ein Zimmer teilen. Wie still es in diesem Raum war! Vom Hof und vom Flur drangen die Geräusche nur gedämpft herein: Schritte, Stimmen, Gelächter auch; wenn sie die Ohren spitzte, vermochte sie Hühner gackern, Kühe muhen zu hören, und genau wie früher wurde irgendwo gesungen, Freude, schöner Götterfunken – da probte gewiss der Chor für die Feier am morgigen Sonntag. Gisela, Brigittes jüngste Schwester, hatte versprochen, ihnen nachher Einzelheiten des Programms zu verraten. Rasch packte Helga das aus ihrem Koffer aus, was sie hier brauchen würde, füllte Wasser aus dem Krug in die Waschschüssel und säuberte sich vom Staub der Landstraße, bürstete ihr ohrlang geschnittenes, leicht gewelltes Haar und setzte den kleinen Hut wieder auf, wischte auch ihre Schuhe blank und trat dann ans Fenster. Jemand klopfte ziemlich forsch, öffnete die Tür einen Spalt breit. 434 435 „Danke, hier ist’s richtig”, vernahm Helga, und da standen auch schon Anneliese und Bärbel vor ihr. „Wie geht’s, wie steht’s? Wir sind bereits vor einer Stunde eingetroffen. Eigentlich hätten wir ja brav warten sollen, aber dank unserer Beziehungen – du weißt ja, Gisela von Albertyll – haben sie uns schon reingelassen. Nur bestehen sie darauf, dass wir uns gleich in die offizielle Autoparade einreihen. Geparkt wird übrigens auf unserem alten Wäschebleichplatz. Erinnerst du dich, wie oft wir da die fast trockenen Laken vor dem Regen gerettet haben? Da, wo ich jetzt wohne, ist es allerdings mit dem Bleichen nichts – was bei uns so alles an Russ in der Luft herumtreibt …” Helga war Anneliese eigentlich dankbar dafür, dass sie so pausenlos redete und damit auch ihre Verlegenheit überspielte. Bärbel hingegen hatte sich mit verschränkten Armen an die Wand gleich neben der Tür gelehnt und lächelte nur. Irgendwie, fand Helga, sah sie streng aus, ein wenig wie Fräulein van Semmern, obwohl sie nicht dunkler gekleidet war als die anderen. „Komm mit”, meinte Anneliese. „Wir gehen besser hinten raus, denn unten bauen sich die Honoratioren schon auf. Fräulein von Bescherer hat eine strategische Position links auf der obersten Stufe der Treppe zur Terrasse bezogen. Willst du mit uns im Wagen fahren oder reihst du dich lieber in die Warteschlange der Infanteristen ein?” Helga lachte vergnügt, wurde dann aber nachdenklich und ging mit den beiden den blitzblank gebohnerten Flur hinunter. „Ich versuche gerade herauszufinden, ob ich in den Jahren zwischen der Abschlussfeier 1934 und heute einer Frau einen Handkuss gegeben habe”, sagte sie mit gekrauster Stirn. Bärbel blickte sie von der Seite an, schwieg aber, während Anneliese kurz stehen blieb. „Ach natürlich, das hab ich ja ganz vergessen! Gut, dass du mich daran erinnerst. Wird gemacht, gnä’ Frau! Also: Wie ist’s mit meiner Staatskutsche?” Helga schüttelte den Kopf. „Bis gleich dann”, rief Anneliese und strebte schon mit Bärbel dem Wäschebleichplatz zu. 436 437 Als Helga um das Gebäude herumgegangen war und die Auffahrt wieder überblicken konnte, rollten gerade die ersten Wagen durch ein Spalier von Maiden auf die Terrasse zu, bevor sie dann abbogen. Auf der Treppe hatte sich bereits eine Ansammlung von Frauen gebildet, aus der sich jeweils eine löste und zumeist vor der Dame in der Mitte in einen Hofknicks versank. Helga blieb jedoch ein wenig abseits stehen und suchte in den Grüppchen, die sich vom Parkplatz her auf die Terrasse zubewegten, nach Brigitte. Genau in dem Augenblick, als sie ihre Freundin entdeckt hatte, traten Gaby, Carla und Lilo von hinten an sie heran, und zu viert rannten sie, unbeachtet ihrer Absätze, Brigitte entgegen. Sie fielen sich in die Arme und redeten alle durcheinander. Dann bewegten sie sich auf die Treppe zu und reihten sich in die Schlange ein, die sich langsam zur obersten Stufe zog. Ihre alte Oberin wechselte mit jeder Altmaid ein paar Worte. Helga fragte sich, ob sich Fräulein von Bescherer wirklich an jede von ihnen erinnerte, aber da stand sie ihr auch schon gegenüber, machte einen Hofknicks, streifte die runzlige Hand mit den Lippen und murmelte ihren Namen. „Die Süßwarenfabrikantentochter aus Westfalen”, hörte sie, „eifrig, ehrlich, ernst, nicht wahr, Helga?” Von hinten drängten die Wartenden, Helga tauschte ein Lächeln mit der Dame im bodenlangen, dezent gemusterten Kleid und überließ ihren Platz Brigitte, bevor sie sich kurz darauf in einer Ecke der Terrasse zusammenfanden und Gisela von Albertyll zu ihnen herantrat, um sie zu einem ,fliegenden Tee’ zu bitten. „Fliegender Tee”, lachte Gaby, „ich hatte vergessen, dass man ,Selbstbedienung’ hier so nennt.” Mit Tassen in der einen Hand und einem Stück Gebäck in der anderen suchten sie ein ruhige Ecke, als Carla sich vor Brigitte aufbaute. „Nun rat mal, was es Neues gibt!”, sagte sie so laut, dass sich einige der Altmaiden anderer Jahrgänge umdrehten und Lilo eine beschwichtigende Geste machte. Brigitte ließ ihre Augen von einer zur anderen wandern. „Bärbel hat eine feste Anstellung erhalten”, meinte sie zuerst. Bärbel, die ihr genau gegenüber stand, nickte und deutete ein Lächeln an. „Seit Anfang des Schuljahres unterrichte ich in der Landfrauenschule Wittgenstein, mit Hauptfach Geflügelzucht.” Die anderen beeilten sich, ihr zu gratulieren, aber Carla wandte sich Brigitte wieder zu. „Noch etwas.” Helga, die unmittelbar neben ihrer Freundin stand, fühlte deren Blicke auf sich ruhen. „Sie hat sich vorgestern verlobt”, platzte Carla heraus. „Mit wem wohl?” Brigitte dachte nach. Dann hellte sich ihr Gesicht auf. „Mit … mit Helmut Röding?” „Du bist doch wirklich ein schlaues Kind”, meinte Carla zufrieden. „Wie hast du das rausbekommen?” In diesem Augenblick übertönte die energische Stimme von Fräulein van Semmern die allgemeine Unterhaltung. Entdecken konnte Helga sie nicht, aber ihre Ansage war nicht zu überhören. Auch sie wolle es nicht versäumen, alle Gäste herzlich willkommen zu heißen und sie dazu anzuhalten, sich ordentlich für das Programm zu stärken, das für diesen Samstag angesetzt sei: gleich anschließend die Besichtigung des Luisenhofs – insbesondere die älteren Jahrgänge sollten sich da auf mannigfaltige Veränderungen gefasst machen –, später 438 439 das gemeinsame Abendessen mit ein paar musischen Einlagen, vorbereitet von zwei Ehemaligen sowie den Jungmaiden, und dann natürlich Bettruhe; der morgige Tag werde so gut ausgefüllt sein, dass es nicht schaden könne, die Lichter ziemlich früh zu löschen. Brigitte und Helga sahen sich an. „Dann möchte ich aber doch vorher rasch mein Gepäck aufs Zimmer bringen”, meinte Brigitte, „und eine Katzenwäsche könnte auch nicht schaden.” Carla grinste. „Nun geht schon; wir haben verstanden. Außerdem brauchen Lilo und ich dann die ganze Geschichte nicht noch einmal …” Das Stimmengewirr wurde zu Gemurmel, während die beiden Freundinnen sich in ihr gemeinsames Zimmer begaben. „Stimmt es wirklich”, fragte Helga und schloss die Tür hinter sich, „dass die Jungmaiden auf Stroh schlafen und sich in der Waschküche und im Plättraum ankleiden müssen, unseretwegen?” Brigitte nickte. „Meine Schwester findet das aber gar nicht schlimm. Sie hat mir gleich bei meiner Ankunft begeistert erzählt, wie viel Spaß sie heute Nacht gehabt haben. Übrigens ist dies ihr Zimmer; sie teilt es mit einem Mädchen namens Irmgard aus dem Hannoverschen.” 440 Helga fiel ihr fast ins Wort. „Wie bist du denn gleich darauf gekommen, dass es sich um Helmut Röding handelt? Du hättest doch genau so gut auf … auf Alfred Barker tippen können. Wenn ich’s mir recht überlege, müssen meine Briefe voll von ihm gewesen sein. Er ist ja auch wirklich …” Sie hielt inne und wandte sich Brigitte zu. „Ich bin so froh, dass du da bist! Du musst mir einfach helfen. Zum Schluss ist alles ja so schnell gegangen, ich meine, zwischen dem 3. Juni und vorgestern, und jetzt weiß ich einfach nicht, wie ich Alfred mitteilen soll, dass ich…” Brigitte trocknete sich die Hände ab und lächelte Helga an. „Lass mir ein wenig Zeit, ja? Zwei Köpfe finden mehr als einer. Uns wird schon etwas einfallen.” Dann überzog ein breites Grinsen ihr Gesicht. „Um an Helmut Röding zu denken, brauchte ich in diesem ganz besonderen Fall weder Sherlock Holmes zu sein noch über hellseherische Kräfte zu verfügen. Du hast ihm doch am 14., bei eurem ersten Abendessen zu zweit, erzählt, dass du in die Neumark fährst und mich dort treffen wirst, nicht wahr? Am nächsten Morgen in aller Herrgottsfrühe klingelte bei uns das Telefon, und Hartmut hat mir beim Frühstück berichtet, da stünde eine Verlobung ins Haus. Natürlich haben wir uns gefreut und waren sogar ein bisschen stolz: Immerhin seid ihr euch ja auf unserer Hochzeit zum ersten Mal begegnet.” 441 Brigitte hatte sich mittlerweile frisiert und schien zu überlegen, ob sie ihr Hütchen wieder aufsetzen sollte. „Übrigens habe ich nicht ganz verstanden, weshalb Hartmut deine Schwester Luise erwähnte. Er brachte nämlich vor Lachen keinen anständigen Satz mehr heraus, und ich wollte nicht warten, bis er sich wieder fing; es gab ja so viel zu erledigen vor meiner Abfahrt!” Helga überlegte kurz. „Ich glaube zu wissen, was da so komisch war. Ziemlich spät, es war so gegen halb elf, haben wir noch bei Rellinghausens vorbeigeschaut. Das hatte meine Schwester selbst vorgeschlagen, als ich ihr erzählte, ich sei von Helmut auf die Hohensyburg zum Essen eingeladen worden. Sie hat sogar eine Flasche Sekt mit uns geleert. Ja, und als ich sie daran erinnerte, dass ich am übernächsten Morgen nach einer Stippvisite bei ihren Berliner Freunden nach Bärwalde führe, kicherte sie und meinte, dagegen habe sie gar nichts, denn es schmeichle ihrer Eitelkeit sehr, dass eine richtige Landfrauenschule nach ihr benannt sei.” „Ach so”, meinte Brigitte mit einem Anklang von Spott in der Stimme. „Wie ich dich kenne, wirst du das gleich richtiggestellt haben … ein kleiner Hinweis auf die Preußenkönigin Luise, oder etwa nicht?” Helga schüttelte ein wenig empört den Kopf und wollte noch hinzufügen, zum Abschied habe Luise dann auf Helmut gezeigt und betont deutlich ,deshalb’ gesagt; auf die Weise sei ihr selber endlich klar geworden, warum Luise seit der Erdbeerbowle nicht mehr versucht habe, ihren Eltern die Zustimmung zu einer Ehe mit Alfred Barker abzuringen. Doch erkundigte sich Brigitte sofort übergangslos, ob sie denn Helmuts Familie schon einen Besuch abgestattet habe. „Nein, das steht mir noch bevor, und ich muss ehrlich sagen, dass mir allein schon bei dem Gedanken ein wenig schwummerig zumute ist. Helmut hat mir seine Eltern geschildert, und wenn er auch keine Aufnahmen mitgebracht hatte, so kann ich sie mir doch einigermaßen gut vorstellen. Sein Vater heißt Gustav Adolf, nach dem Schwedenkönig, seine Mutter Emilie. Aus Helmuts Worten schließe ich, dass es bei Rödings sehr viel förmlicher zugeht als bei uns. Sie haben nicht nur mehrere Dienstmädchen, sondern auch einen Gärtner. Außerdem wohnen eine verwitwete und eine unverheiratete Schwester des Vaters bei ihnen. Das Haus – Helmut spricht immer von der Villa – muss riesig sein, und es liegt an der Röding-Allee. Um ehrlich zu sein, macht mir das Angst – ich meine, sogar eine Straße ist nach der Familie benannt.” Brigitte hatte inzwischen das Fenster geöffnet und wandte sich zu Helga um. „Lass uns gehen. Unten sammeln sich die anderen schon zur Führung, und ich bin wirklich gespannt darauf, was sich da so alles verändert hat. Gisela deutete Weihnachten an, sie hätten jetzt drei Pferde und sechshundert Legehennen. Stell dir vor: sechshundert!” 442 443 Dabei zog sie Helga auf den Flur und meinte nur noch leise, ihr sei vor Lampenfieber fast schlecht geworden, als Hartmut von Leskow sie zum ersten Mal mit auf den Gutshof seiner Familie genommen und bei seinen Eltern eingeführt habe, aber letztlich sei es so schlimm doch nicht gewesen, und man müsse einfach durch. „Im Übrigen”, fügte sie hinzu, drehte sich halb zu Helga hin und grinste, „sind die Männer viel schlechter dran: Es obliegt ihnen doch, um die Hand ihrer Angebeteten anzuhalten. Als Frau braucht man nur zu antworten, wobei ich zu der Überzeugung gelangt bin, dass es einfacher ist, Ja zu sagen als Nein.” Sie lachten beide und schlossen sich der kleinen Gruppe an, die sich um Carla gebildet hatte. Gerade bekamen sie noch mit, wie Gisela den Altmaiden erklärte, im Haus sei ein richtiger Geburtstagstisch für den Luisenhof aufgebaut worden, worauf Carla zufrieden nickte. Sie hatte es ja in die Hand genommen, bei den Schülerinnen des Jahrgangs 33/34 das Geld für die Schüsseln und Soßengießer aus Chromargan einzusammeln, die im Rahmen des Festakts am Sonntag überreicht werden würden. „Ihr habt euch wirklich viel Mühe gegeben”, meinte sie noch anerkennend, als sich der Zug in Bewegung setzte. „Besonders die Girlande aus Kornblumen im Treppenhaus gefällt mir sehr.” Obwohl Helgas Gedanken immer wieder einmal zu den Geschehnissen am Donnerstagabend abwanderten und sie sich vornahm, Brigitte – vielleicht auch Lilo und Carla – später daran teilhaben zu lassen, entging ihr kaum etwas von dem, was vorn an Erklärungen abgegeben wurde. Zwei Zuchtsauen seien angeschafft worden, und sie betreuten auf dem nach den neusten Erkenntnissen der Wissenschaft eingerichteten Geflügelhof in der Tat sechshundert Legehennen. Auch in der Haltung von Gänsen und Enten würden die Schülerinnen unterwiesen. Was den Gartenbau betreffe, so erteile eine Inspektorin den einschlägigen Unterricht: Die Maiden lernten unter anderem, in zwei Gewächshäusern und hundert Frühbeeten Setzlinge heranzuziehen und später im Freien anzupflanzen. Die so erworbenen Kenntnisse wendeten sie auf dem Wirtschaftshof an, wo es sieben Kühe zu melken gelte. Ja, Käse werde nach wie vor auf dem Luisenhof hergestellt, und nicht nur das – auch Butter produzierten sie in der Lehrmolkerei und in der Imkerei gleich den dazu passenden Honig. Die Nähstube sowie die Waschküche und der Plättraum seien ihnen allen ja bekannt. Helga seufzte. „Das Zuschneiden von Wäsche und Kleidung ging ja noch. Für mein Patenkind habe ich damals ein niedliches Hängerchen mit Applikationen zu Weihnachten angefertigt, aus dem sie jetzt natürlich längst herausgewachsen ist. Aber Stopfen und Flicken – das mochte ich wirklich nicht besonders.” 444 445 Während sowohl Carla als auch Brigitte zustimmend nickten, bekam Helga gerade noch mit, dass sich für die älteren Jahrgänge ein aufmerksamer Blick in die Weberei lohne, wo unter anderem Trachtenstoffe entstünden. Solch eine Werkstatt habe es ja zu ihrer Zeit noch nicht gegeben. „Gesponnen wird übrigens auch”, erklärte die Führerin, und alle brachen in Lachen aus. Carla stieß Helga an und meinte leise, wenn sie ganz ehrlich sein solle, so finde sie, das gehe ein wenig zu weit; dermaßen autark brauche man nun doch nicht zu sein, oder? „Im Übrigen vertreten wir jetzt den Standpunkt, alle Arbeiten sollten mit möglichst wenig Kraftaufwand verrichtet werden, weil es ja nun wirklich genug zu tun gibt, nicht nur auf einem Bauernhof, sondern auch in einem normalen Haushalt, wo längst nicht mehr jede von uns über eine Hilfe verfügt. Das bedeutet: Was sich sitzend erledigen lässt, erledige ich nicht stehend – Bügeln zum Beispiel, Gemüse Zubereiten und Kochen. Gestatten Sie mir den Hinweis, dass Letzteres seit längerem auf Kohle-, Gas- und Elektroherden gelehrt wird.” Die Altmaiden bewegten sich in Gruppen von einem Raum zum anderen und standen schließlich wieder vor dem Hauptgebäude. „Findet der theoretische Unterricht bei schönem Wetter wie früher im Garten statt?”, erkundigte sich Lilo bei Gisela, während Helga sie gleichzeitig fragte, ob sie immer noch das gleiche Lehrbuch für Psychologie verwendeten. Brigittes Schwes- ter nickte zunächst und wies auf eine Sitzgruppe, von der nur zwei Stühle nicht hinter einer Hecke verborgen waren, und wandte sich dann etwas ratlos Helga zu, bevor sie den Kopf schüttelte und erwiderte, das Fach werde nicht mehr angeboten; dafür stünden jedoch Rassenkunde, Erbgesundheitspflege und Vererbungslehre auf dem Programm. Ob sie die entsprechenden Textsammlungen einmal sehen wolle? Helga lehnte mit dem Hinweis auf ihre Ausbildung zur Schwesternhelferin ab und lächelte Gisela zu, als ob sie sich entschuldigen müsste. Daraufhin erwiderte das junge Mädchen lebhaft, Kranken- und Säuglingspflege stünden übrigens auch auf ihrem Lehrplan, gesellte sich aber zu den anderen Jungmaiden, als ihre große Schwester auftauchte und Helga am Arm ein wenig beiseite zog. „Mir ist eingefallen, dass Hartmut und ich Helmut Rödings Schwester einmal in Berlin getroffen haben, genauer gesagt: in Potsdam. Sie ist mit einem Architekten verheiratet, einem Regierungsbaurat namens Osdorp oder so ähnlich, der ziemlich schöne Häuser entwirft. Irgendwoher kennen sie Wilhelm Kempff, der jedes Mal bei ihnen wohnt, wenn er in der Gegend ein Konzert gibt, und da wir beide ihn sehr verehren, hat Helmut uns im Anschluss an einen Beethovenabend einfach in seinen Wagen geladen und bei seinen Verwandten eingeschleust. Nach anfänglicher Überraschung waren sie ausgesprochen nett zu uns, und wir haben uns natürlich riesig gefreut, mit diesem weltberühmten Pianisten ein paar Worte wechseln zu können. 446 447 Hat dir Helmut überhaupt schon etwas über seine Geschwister erzählt?” Helga schüttelte den Kopf. „Es ist ja alles so schnell gegangen! Mittwoch das Abendessen mit dem Abstecher zu Luise … Beim Abschied hatten wir nur ausgemacht, dass Helmut gleich nach meiner Rückkehr aus Bärwalde, also übermorgen Abend, bei uns anrufen würde. Am Donnerstagnachmittag musste Helmut nämlich seinen Vater zu einem wichtigen Geschäftsbesuch in Remscheid begleiten, und ich will ehrlich gestehen, dass in meinem Kopf ein absolutes Durcheinander herrschte, nicht zuletzt wegen …” „Na, seid ihr beim letzten Akt angelangt?”, erkundigte sich Carla und gesellte sich mit Lilo und Gaby zu ihnen. „Du wirst doch deinem treuen Publikum nicht das glückliche Ende vorenthalten wollen, liebste Helga?” Während Bärbel und Anneliese mit Mieze und Frieke genau wie viele der anderen Gäste bereits die Stufen zur Terrasse hochstiegen und im Inneren des Gebäudes verschwanden, meinte Brigitte, bis zum Abendessen bleibe noch genug Zeit für eine Fahrt zum Margarethensee, wenn sie jetzt rasch in ihren Wagen sprängen. Sie würde sich zu gern mit mit eigenen Augen vergewissern, dass dort alles beim Alten geblieben sei. Mit dem Fahrrad hätten sie früher ungefähr eine Viertelstunde gebraucht; im Automobil lasse sich die Strecke bestimmt in fünf Minuten zurücklegen. Dann fügte sie noch mit einem leichten Grinsen hinzu, Helga sei gerade dabei, zu schildern, was sich an dem entscheidenden Donnerstag abgespielt habe. Nachdem Lilo vorn neben Brigitte Platz genommen hatte und die drei anderen auf die Hinterbank gerutscht war, holte Helga einmal tief Luft. „Kurzum, ich erledigte am Spätnachmittag in der Stadt einige Besorgungen und versuchte Ordnung in meine Gedanken zu bringen.” Sie legte eine kurze Pause ein und stellte fest, dass alle – außer Brigitte natürlich – an ihren Lippen hingen. „Da stand auf einmal Helmut Röding vor mir. Er hatte gleich nach dem Termin in Remscheid seinen Vater zurück nach Menden gebracht und sich sofort auf den Weg nach Eckesey gemacht, denn … was ich nicht wissen konnte: Die besagte geschäftliche Unterredung war auf auf elf Uhr vorgezogen worden. Bei Schwerte blieb indessen sein Horch stehen: Benzinpanne. Aber er hatte Glück im Unglück. Einer ihrer Werksfahrer kam zufällig vorbei und schleppte ihn bis zur nächsten Tankstelle ab. In der Schillerstraße traf er nur Ida an, die ihm mitteilte, ich hätte die Elektrische in Richtung Hagen Mitte genommen. Nun kann meine Heimatstadt nicht mit Hamburg oder Stuttgart mithalten, aber klein ist sie auch nicht, und einkaufen kann man in vielen Läden. Außerdem hätte es ja durchaus sein können, dass ich auf jemand Bekanntes gestoßen wäre und wir in einem der Cafés etwas zu uns genommen hätten. Ich bin zwar mit solchen Begriffen wie ,Fügung’ und auch …” 448 449 „Nun sag’s schon. Aus deinem Mund klingt’s ja anders”, warf Gaby ein. „Also gut: ,Vorsehung’ … Aber dass wir uns am Donnerstag getroffen haben, könnte man durchaus so nennen.” Helga blickte versonnen nach draußen, und Brigitte bremste schon. Beim Aussteigen rief Carla so laut, dass alle anderen zusammenschreckten, wie das denn nun mit der Brosche gewesen sei. Die habe der junge Mann doch wohl nicht aufs Geratewohl erworben oder etwa sogar zu Hause in der Schublade liegen gehabt, seit ihm eine frühere Angebetete eine Abfuhr erteilt hätte. Während sie auf den See zugingen, erklärte Helga also, am Mittwochabend hätten sie sich vor dem Abendessen auf der Hohensyburg in der Stadt verabredet, weil sie ihrer Mutter angeboten hatte, mehrere Stoffmuster im Modeatelier Josephine Merten für sie abzugeben. Auf dem Weg zu Helmuts Wagen seien sie zuerst vor ein paar Kleidergeschäften und dann vor dem Schaufenster des bekanntesten Hagener Juweliers stehen geblieben und hätten sich über Schmuck unterhalten, die Perlenketten begutachtet und auch ihre Meinung über die dort ausgestellten Ringe und Broschen ausgetauscht. „Ach so!”, meinte Carla. „Den Rest kann ich mir denken. Aber wann … Nein, lass mich raten: Auf seiner Suche nach dir hat er an jenem schicksalsträchtigen Donnerstag einen Sprung in den besagten Laden gemacht und die Brosche gekauft. Da musstest du ja einfach Ja sagen.” Brigitte blieb stehen und wandte sich voll zu Helga hin. „Wenn ich dir in unser aller Namen ganz herzlich gratulieren, so greife ich gewiss niemandem vor.” Carla, Lilo und Gaby umringten Helga, drückten ihr die Hand und schlossen sie in die Arme. „Du lädst uns doch zur Hochzeit ein?”, erkundigte sich Carla noch. Helga nickte, meinte freilich, so tief in die Einzelheiten seien sie sie natürlich noch nicht gegangen, und außerdem hätten da ihre jeweiligen Eltern auch ein Wörtchen mitzureden. Dann machte sie ein paar Schritte auf den See zu, kniete am Ufer nieder und strich mit gespreizten Fingern durch das Wasser. „Jetzt haben wir aber wirklich lange genug von mir geredet. Erzählt ihr einmal was!” Gaby und Lilo lachten laut auf, während Carla und Brigitte sich nur anschauten. „Wir als gestandene Ehefrauen haben kaum so hochinteressante Dinge zu berichten”, erwiderte Gaby. „Ja, als ich mich in deiner Lage befand, da hätte ich eine genauso spannende Geschichte erzählen können, über den Religionskrieg zwischen zwei ehrbaren Familien in den Spätdreißigern des 20. Jahrhunderts! Und Lilo … Aber deine Schwangerschaft scheint völlig problemlos zu verlaufen, oder?” Brigitte legte den Kopf in den Nacken, blickte durch die Kiefernzweige in den Himmel und warf dann einen Blick auf ihre Armbanduhr. 450 451 „Wir müssen”, sagte sie nur, und die fünf jungen Frauen bewegten sich zum Wagen zurück. „Sollten wir uns umziehen?”, wollte Gaby noch wissen. „Ich habe vergessen, nach der Kleiderordnung zu fragen.” Brigitte nahm wieder hinter dem Steuer Platz, bat sie, zu überprüfen, ob alle Türen fest geschlossen seien, und ließ den Motor an. „So genau wird niemand hinsehen. Der wichtige Tag ist doch ohnehin der Sonntag. Wenn ich Gisela richtig verstanden habe, findet zunächst die Morgenfeier statt – das, was zu unserer Zeit gerade noch ,Andacht’ hieß. Meine Schwester meinte freilich, sie laufe noch genauso ab, mit Bibelspruch und ein paar Worten dazu. Aber vorher findet die Fahnenehrung statt – ihr habt ja selber bemerkt, dass an mehreren Stellen geflaggt ist.” „Irgendwo habe ich vorhin gelesen, dass diese heiligen Hallen vor fünfundzwanzig Jahren unter das Motto Zur Ehre Gottes, zum Besten des Vaterlandes, zum Wohle des Volkes gestellt wurden”, sagte Gaby. „Da wird halt mal der eine, mal der andere Teil dieser Devise besonders betont.” Carla runzelte die Stirn. „Der Luisenhof geht selbstverständlich mit der Zeit. Unsere Lehrerinnen sind doch damals auch alle geschlossen der NS Frauenschaft beigetreten, und eine BdM-Gruppe wurde ebenfalls gegründet. Wenn ich das vorhin richtig mitbekommen habe, arbeiten sie mit den politischen Stellen eng zusammen und bilden unter anderem Führerinnen für den Reichsarbeitsdienst aus …” „Jeder sehe, wo er bleibe, und wer steht, dass er nicht falle”, murmelte Brigitte und warf dann vernehmlicher ein, so manches sei eine Überlebensfrage, gleiche einem Balanceakt, wie es Gaby eben so zutreffend formuliert habe. Carla schien nicht hingehört zu haben, denn sie ging auf Brigittes Bemerkung mit keinem Wort ein, sondern meinte nur, als komisch empfände sie es indessen, dass alle Lehrerinnen immerzu vom ,Reichsnährstand’ sprächen, dem sie seit 1934 unterstellt seien. Nicht nur Brigitte grinste. „Früher nannte man so etwas doch einfach ,Landwirtschaftsministerium’, nicht wahr?”, fuhr Carla fort. „Nun gut. Jedenfalls wird wohl der zuständige Regierungspräsident Glückwünsche von oben überbringen, im Rahmen des Festakts morgen Nachmittag, glaube ich.” Brigitte lenkte ihren Wagen wieder auf den Wäschebleichplatz, stellte den Motor aus und scheuchte ihre ehemaligen Mitmaiden vor sich her. „Beim Abendessen setzen wir uns aber alle zusammen in eine Ecke, nicht wahr?”, meinte Lilo noch. „Meine Beziehung zu Mieze und Frieke war damals zwar nicht besonders eng, aber immerhin … Unser Jahrgang ist übrigens wirklich gut vertreten; wir liegen auf Platz 3, hinter 1937/38 und 1935/36!” 452 453 Die Ähnlichkeit im Ton war schon verblüffend, dachte Helga, als Fräulein van Semmern sich von ihrem Platz erhob, kräftig in die Hände klatschte und die Altmaiden bat, kurz den Raum zu verlassen. Mit genau der gleichen Mischung aus Schärfe und Verbindlichkeit hatte die Dame, die von Ilse abwechselnd als Maître de Ballet und ,Dragoner’ bezeichnet worden war, Helga vor Jahren in den Kulissen des Hagener Stadttheaters zu verstehen gegeben, dass mit Schuhen das Betreten eines bestimmten Saales verboten sei. Sie ließ sich einfach von den anderen mitziehen, wobei ihr der Gedanke durch den Kopf ging, manchmal sei es ausgesprochen angenehm, nur Erinnerungen auszutauschen und dabei zu vergessen, auf welch schwierige Fragen es eigentlich möglichst rasch eine Antwort zu finden galt. „Die Raucherinnen unter Ihnen sind doch bitte so freundlich, die Aschenbecher zu benutzen”, hörte Helga, als sie gerade Carlas Angebot einer Zigarette dankend abgelehnt hatte. Eine deutsche Frau rauche ja an sich nicht, meinte Gaby und schnippte die Asche mit einer eleganten Bewegung ab, doch sie habe damit angefangen, als ihre Heiratsabsichten auf immer mehr Widerstand gestoßen seien. Während Frieke, die bei ihrer Hochzeit ein fast abgeschlossenes Medizinstudium abgebrochen hatte, Lilo ihre Frage nach den Auswirkungen des Rauchens auf das ungeborene Kind beantwortete, trat Gisela, die eine frische Schürze vorgebunden hatte, mit geröteten Wangen zu ihnen, stieß einen erleichterten Seufzer aus und meinte, jetzt könne es weitergehen – sie hätten die Reste des Abendessens abgeräumt und die Stühle für das Vorprogramm aufgestellt. Daran könne sie selber leider nicht teilnehmen, denn … „Nun rück schon mit der Sprache raus”, meinte Carla und versetzte dem jungen Mädchen einen Puff in die Seite. „Brigitte hat angedeutet, dass du bei dem Theaterstück morgen Nachmittag eine der Hauptrollen spielst.” Gisela schüttelte etwas verlegen den Kopf. „Oh nein! Ich hüte doch bloß die Gänse. Das ist zwar nicht gerade eine leichte Aufgabe, weil das verflixte Federvieh … sie tun halt lieber, wonach ihnen der Sinn steht, und wenn der Ort der Handlung hinters Haus vom Teich weg verlegt wird, habe ich schon meine Mühe damit, sie beisammen zu halten.” Mieze, von der Helga beim Abendessen erfahren hatte, dass sie an einem der Hamburger Theater für die Requisiten zuständig war, spitzte die Ohren und erkundigte sich, ob sie das richtig mitbekommen habe – während der Aufführung bewegten sich Schauspieler und demzufolge doch wohl auch das Publikum von einem Ort zum anderen? Das sei aber nun wirklich eine originelle Idee! Gisela nickte. „Wer darauf gekommen ist, daran erinnert sich niemand mehr. Wir waren uns nur von vornherein alle einig, dass die Aufführung nicht drinnen stattfinden sollte. Fragt sich nur, ob das so eine gute Entscheidung war!” 454 455 Ein halb vergnügtes, halb besorgtes Grinsen überzog ihr gerötetes Gesicht. „Die meisten von uns haben schon Genickstarre, weil wir andauernd die Wolken zählen. Als ob man damit schönes, also wenigstens trockenes Wetter für morgen heraufbeschwören könnte!” „Die Gänsemagd …”, meinte Mieze versonnen. „Kommt da nicht dieser Spruch vor von Fallada, der du hangest?” „Ich kann mir denken, was Sie wissen möchten”, sagte Gisela eifrig. „Für den Anfang des Stückes nehmen wir natürlich ein richtiges Pferd. Aber dann … In der Tat haben wir uns das Hirn zermartert, wie wir das mit dem abgeschlagenen Kopf hinkriegen. Aber ein paar schlaue Leute haben sich etwas einfallen lassen – seien Sie mir nicht böse: was, das verrate ich nun wirklich nicht!” Irgendwo pfiff jemand auf den Fingern. Gisela entschuldigte sich sofort und erklärte, sie werde drinnen gebraucht und riet ihrer Schwester, sich doch langsam auf die Eingangstür zuzubewegen. Es ginge nämlich gleich weiter, und auf die Weise könnten sie die besten Plätze belegen. Sie selber müsse noch einmal das Servieren für morgen Mittag üben. Auf die erstaunten Blicke hin fügte sie hinzu, bevor sie endgültig um die Haus ecke verschwand, die Jungmaiden würden jeweils zu zweit in einer Art Prozession mit Braten- und Gemüseschüsseln sowie natürlich den Soßengießern an die Tische schreiten und alle Gäste ziemlich gleichzeitig bedienen, damit die Speisen warm blieben, denn – sie legte den Kopf in den Nacken und wies nach oben – es werde im Freien gedeckt. Nach einer Weile hatten alle Gäste und auch die Lehrerinnen sich auf den Stühlen niedergelassen, und das Getuschel, immer wieder einmal unterbrochen von Lachen, verstummte ganz, als eine Altmaid – „Jahrgang 14/15, sie wird morgen auch für uns sprechen”, flüsterte Brigitte – auf dem Schemel am Flügel Platz nahm, während eine weitere sich mit einem Notenheft in der Hand davor aufstellte. Helga hätte nicht zu sagen vermocht, welche Lieder Ingrid Brebeck – den Namen hatte sie noch mitbekommen – vortrug. Kaum waren die ersten Noten erklungen, wanderten ihre Gedanken auch schon ab. Von Berlin aus würde sie auf der Rückfahrt Helmut anrufen und ihm mitteilen, wann ihr Zug in Köln einträfe, denn dort wollte er sie mit dem Wagen abholen. Helga sah sich am Steuer des elterlichen Mercedes’ sitzen, und Alfreds lautes, fröhliches Lachen klang ihr in den Ohren. Wie oft hatte sie die Strecke zwischen Köln und Hagen mit ihm als Beifahrer zurückgelegt! Ob sie den Mut aufbringen würde, Helmut von Alfred zu erzählen? Wenn sie es nicht selbst täte, würde er mit Sicherheit von jemandem auf ihren englischen Verehrer angesprochen werden; Ilse zum Beispiel könnte eine Bemerkung fallen lassen, Rudolf vielleicht auch, im Zusammenhang mit Rosemary. Lilo musste sie aus Versehen angestoßen haben. Helga schenkte ihrer Nachbarin zur Linken ein zerstreutes Lächeln, 456 457 ohne auch nur zu versuchen, der Musik ihre Aufmerksamkeit zuzuwenden. An einem Tag der nächsten Woche würde Helmut sie seinen Eltern vorstellen. Er hatte auch bereits angedeutet, dass Antrittsbesuche bei allen möglichen Verwandten zu machen seien. Die Verlobungsringe würden sie gemeinsam besorgen – es ging Helga zu ihrer eigenen Überraschung durch den Sinn, dass der ihrige vor der Hochzeit gedehnt werden müsste, weil die Finger ihrer Rechten stärker ausgebildet waren als die der Linken. Helmuts sehnige Hände mit den langen, schmalen Fingern hatten übrigens schon bei der ersten Begegnung ihr Gefallen erregt, wie sie sich auch sofort von seinen Bewegungen angezogen gefühlt hatte, nicht zuletzt von seiner Art, sich zu verbeugen. Am Telefon hatte sie Ilse erklärt, daraus lasse sich einerseits auf die Achtung vor den Gepflogenheiten seiner Gesellschaftsschicht, andererseits aber auf eine gewisse Distanz zu den dort üblichen Regeln schließen – so habe sie es jedenfalls empfunden. Kurz gesagt: Es werde ihr in Helmuts Gegenwart immer viel leichter ums Herz. Lebhaftes Klatschen und Bravo-Rufe rissen Helga aus ihren Gedanken. Brigitte neigte sich zu ihr und meinte, Frau Brebeck trete wohl mit Frau von Grothe als Begleiterin auch öffentlich auf, aber ganz sicher sei sie sich nicht. Sie wollte noch etwas ergänzen, als vorn auch schon mit wenigen Handgriffen aus zwei Tischen, einer Stehlampe, drei Stühlen und einem Paravent etwas aufgebaut wurde, das die Anwesenden sofort mehr oder weniger laut als Maidenzimmer bezeichneten. Von hinten rief jemand, da fehlten aber Waschkrug und Schüssel, und alle brachen auf den Einwurf hin, zu ihrer Zeit habe kaum je eine so mustergültige Ordnung geherrscht, in lautes Gelächter aus. Die Unruhe legte sich zunächst, als drei Jungmaiden begannen, Szenen aus Vergangenheit und Gegenwart des Luisenhofs aufzuführen, aber vieles vom gereimten Text ging im Gekicher der Gäste unter, die es trotz einiger strafender Blicke nicht lassen konnten, sich gegenseitig zuzurufen, genauso sei es gewesen. Gisela, die neben dem Stuhl ihrer großen Schwester an der Wand lehnte, verzog unwillig das Gesicht und meinte leise, dabei hätte es solche Mühe bereitet, all das, was gezeigt werden sollte, in Verse zu fassen. Hoffentlich hätten die Bärwalder Bürger am nächsten Tag mehr Glück – es wäre doch jammerschade, wenn diese albernen … Helga, die sich zu ihr umgedreht hatte, sah deutlich, wie das junge Mädchen schluckte. „Kennen wir noch jemanden von den Bärwaldern?”, erkundigte sie sich leise, während um sie herum Stühle gerückt wurden und die ersten Zuschauerinnen sich von ihren Plätzen erhoben. „Ich nehm’s doch an”, erwiderte Gisela schon etwas versöhnlicher. „Der Bäcker kommt, der Metzger, die Frau Klempner, Buchhändler Wegener, Herr Schmidt von der Kurzwarenhandlung und natürlich unser aller Liebling, der Malergeselle; 458 459 der ist viel jünger als die anderen und sieht aus wie … wie vom Film! Helga lächelte nur und nickte. Erst bei diesem Besuch war ihr bewusst geworden, dass die Maiden, sie früher und Giselas Generation kaum anders, ein Jahr in einer fast männerlosen Gesellschaft verbrachten. Den Chor leitete jetzt dieser Herr Götsch, von dem Gisela vorhin geschwärmt hatte, und bei der Besichtigung des Wirtschaftshofs glaubte sie zumindest einen Stallburschen gesehen zu haben. Aber sonst? Wenn sie sich im Zug zwischen Berlin und Küstrin rückblickend das Leben auf dem Luisenhof als frei von ernsten Schwierigkeiten in Erinnerung gerufen hatte, so hing das gewiss auch mit fehlender Reibung zusammen: keine Brüder, keine Väter und vor allem keine jungen Männer, nach denen man sich die Augen ausweinte oder die einem mit unerwünschten Bezeugungen ihrer Zuneigung Entscheidungen abverlangten. Beziehungen, die auf Gegenseitigkeit beruhten, verliefen ja von der Sache her in gesetzteren Bahnen … Auf dem Luisenhof wurde viel gelernt, und sowohl die Leitung als auch die Lehrerschaft legten bei aller Freundlichkeit Wert auf Ordnung und Respekt. Natürlich herrschten nicht immer eitel Glück und Sonnenschein; es hatte durchaus Eifersüchteleien gegeben, und so manches scharfzüngige Wortgefecht war bei der Arbeit und auch auf den Fluren ausgetragen worden. Aber sie hatten doch viel häufiger gelacht. Während es um sie herum immer leerer wurde, stellte sich bei Helga plötzlich das Gefühl ein, die sprichwörtlichen Schuppen fielen ihr von den Augen, und sie fand es ausgesprochen komisch, dass sich ihre Gedanken von hinten aufrollten. ,Ich habe mehr mit Luise gemeinsam als mit Rudolf zum Beispiel. Luise mag hundertmal völlig anders veranlagt sein und deshalb auch nicht das gleiche Verhalten wie ich an den Tag legen; sie hat des Öfteren die Form gesprengt, in die ich mich meist habe pressen lassen. Trotzdem verstehen wir uns sozusagen unterschwellig – das Gespräch über Ernst Herberts auf der Fahrt nach Bremerhaven mit dem schlafenden Rudolf auf der Hinterbank, ihre Bemerkung nach dem Anruf von Al fred im letzten November und jetzt wieder dieses ,deshalb’ sind nur Beispiele dafür. Kurzum: Es muss zwischen Schwestern und Freundinnen, überhaupt zwischen Personen desselben Geschlechts eine Art von Verständnis geben, das ohne Worte auskommt. Ich glaube ja über ein gut ausgebildetes Einfühlungsvermögen zu verfügen, aber sogar bei Rudolf, mit dem ich, seit er sprechen kann, über alles und jedes rede, schieße ich doch des Öfteren gewaltig daneben. Ob mir das bei Helmut …? Hier jedenfalls haben sich Streitigkeiten immer verhältnismäßig leicht schlichten lassen, abseits vom Kampf zwischen den Geschlechtern.’ Offensichlich war niemandem aufgefallen, dass sich Helga noch im Esszimmer aufhielt, denn die Deckenlampen erloschen, während aus dem Treppenhaus Gesang erklang. Durch 460 461 die hohen Glastüren zur Terrasse fielen Reste von Tageslicht herein; so erreichte Helga, ohne irgendwo anzustoßen, den Ausgang zur Halle und lehnte sich dort an die Wand. Die Jungmaiden – ob sie sich noch ein weiteres Mal eine frische Schürze vorgebunden hatten? – standen auf den Stufen und schmetterten so, als hätten sie nicht gerade erst Geschirr gespült und überhaupt seit Pfingsten kaum etwas anderes getan, als dieses Stiftungsfest vorzubereiten, Mozarts Kanon Bona nox! Bist ein rechter Ochs, Ade nun zur guten Nacht und Nun ruhen alle Wälder. Die meisten Gäste hörten einfach zu, einige summten mit, aber fast alle lächelten vor sich hin. Dann bahnten sich die jungen Mädchen in ihren hellblauen Kleidern einen Weg nach draußen und forderten nur mit Gesten die Altmaiden auf, ihnen auf den Platz vor dem Gebäude zu folgen, bevor sie sich an den Händen fassten und mit allen Anwesenden – es waren immerhin rund hundertundfünfzig Gäste angereist – nach einigem Hin und Her einen riesigen Kreis bildeten. Helga entdeckte die Maiden ihres Jahrgangs nur deshalb in der Menge, weil die ohnehin hochgewachsene Carla ihr Halstuch schwenkte und die eher rundliche Brigitte gleichzeitig auf der Stelle hüpfte und ihr zuwinkte. So reihte sie sich zwischen die beiden ein und atmete einmal tief durch. Da stimmte der inzwischen allen bekannte Herr Götsch auch schon Schließt die Runde, reicht die Hände an, und alle fielen ein. Helga und Brigitte warfen sich einen amüsierten Blick zu, weil Anneliese nach wie vor den Ton nicht halten konnte und in sich hinein brummte. Aber dann wurden auch sie ernst, und als die letzten Noten verklangen, herrschte ein paar Minuten lang eine feierliche Stille, bevor Fräulein von Bescherer in das Schweigen hinein verkündete, das heutige Programm sei beendet. Sie empfehle allen, für den morgigen Tag Kräfte zu sammeln und sich auf ihre Zimmer zurückziehen, und wünsche ihnen eine gute Nacht. Bärbel und Anneliese entschuldigten sich sofort – sie seien von der langen Autofahrt müde, und man werde sich ja ohnehin morgen spätestens beim Frühstück wieder treffen. Auch Mieze und Frieke, die schon während des Maidenjahrs immer nebeneinander gesessen und stets einer Arbeitsgruppe angehört hatten, verschwanden einen der Flure hinunter. Lilo erklärte sich bereit, ihre Zimmergenossinnen Gaby und Carla noch einmal auf die Terrasse hinaus zu begleiten, wo sie eine letzte Zigarette rauchen wollten, und nach einem Blicktausch meinte Brigitte, in dem Fall würden Helga und sie sich ebenfalls in ihre Gemächer zurückziehen; es sei doch ein wenig kühl geworden. Kichernd fügte sie noch hinzu, Gisela habe sie ausdrücklich gebeten, den Altmaiden des Jahrgangs 33/34 auszurichten, der Morgenlauf – vor Fahnenehrung und Frühstück wohlgemerkt – stehe auch ihnen offen. Alle lachten, und Lilo wies auf ihren kaum gerundeten Bauch. 462 463 Von Ruhe konnte keine Rede sein. Während Helga und Brigitte sich zum Schlafengehen zurechtmachten, wurden über und neben ihnen Türen behutsam, aber doch hörbar geöffnet oder geschlossen, bestrumpfte Füße huschten den Gang hinunter, und manchmal drang ein etwas lauteres Wort zu ihnen, obwohl die meisten Altmaiden, aus Erfahrung klug geworden, die Fenster wegen der Stechmücken am Ententeich gar nicht erst geöffnet hatten, solange das Licht im Zimmer noch brannte. „Mit Äußerungen zur Politik halten wir uns wohl beide zurück, wenn wir Menschen lange nicht gesehen haben, nicht wahr?”, meinte Brigitte und ließ sich auf ihr Bett fallen. Helga war gerade damit beschäftigt, mit ihrer Nagelbürste den Staub von ihrem Hütchen zu entfernen. „Du hast mir aus der Seele gesprochen mit deinem Zitat vorhin”, erwiderte sie. „Seltsam übrigens: In Berlin hat eine gute Bekannte meiner Schwester Luise fast das gleiche Bild gebraucht wie du – sie sprach nämlich von Seiltänzern. Natürlich hätte die Partei so eine Einrichtung wie den Luisenhof längst geschlossen, wenn … Über zig Ecken habe ich erfahren, dass katholische Privatschulen … Damit will ich sagen, dass sie ohne eine … Anpassung an die Umstände gar nichts mehr von dem verwirklichen könnten, was die Gründerin sich als Ziel gesetzt hatte.” Zögernd fügte Helga noch hinzu, selbst ihre Schwester Luise und deren Mann, die beide ihre kritische Einstellung dem Regime gegenüber anfangs deutlich zum Ausdruck gebracht hätten, vermieden es, ihre Vorbehalte verlauten zu lassen, außer natürlich in Gegenwart von Gleichgesinnten. Ihr Vater, der sich immer noch als Freimaurer betrachte, obwohl die Bewegung ja seit langem verboten sei, mache immer gerade genug mit, um nicht aufzufallen und seinen Betrieb erfolgreich weiterführen zu können. „Und du?”, fragte Brigitte, worauf Helga erwiderte, wenn sie ganz ehrlich sein solle, so müsse sie gestehen, dass ihr so etwas wie praktische Nächstenliebe wichtiger sei als Politik. Brigitte nickte, erhob sich und suchte ihre Zahnbürste aus ihrem Kulturbeutel heraus. „Das geht vielen so.” „Ich tröste mich damit, dass ich anderen helfe”, brach es aus Helga heraus. Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen die Fensterbank und ballte die Hände zu Fäusten. „Ihretwegen ist mein Freund Fritz in Amerika geblieben und hat eine andere geheiratet, ihretwegen haben seine Schwester Hildegard, mit der ich groß geworden bin, und ihre Eltern … aber das weißt du ja längst. Im November ‘38 habe ich dann mit angesehen, wie die Mutter einer jüdischen Schulfreundin beinahe den Verstand verlor, als die Gestapo bei ihnen eingedrang und ihren Mann verhaftete. Glücklicherweise ist er ziemlich rasch wieder freigelassen worden.” „Einige Männer aus meiner weiteren Familie sitzen in Konzentrationslagern, nicht, weil sie Juden sind, sondern aus politischen Gründen. Dem Adel gegenüber, besonders wenn er eine Uniform trägt und der Armee angehört, hegt das Regime ja ausgesprochenes Misstrauen. Aber verschwindet jemand, 464 465 aus welchem Grund auch immer, so stört das die meisten Leute herzlich wenig – man schaut weg und zieht oft sogar Nutzen daraus”, sagte Brigitte und hielt immer noch den Zahnputzbecher in der Hand. Sie spülte sich den Mund aus, trug die Waschschüssel auf den Flur hinaus, entleerte sie in den Ausguss und schloss dann mit dem Fuß die Tür wieder hinter sich. „Was mir einfach nicht aus dem Sinn geht, seit Helmut Rödings Anruf bei uns eigentlich … Entschuldige bitte, dass ich dich so auf den Kopf zu frage: Hast du nur deshalb Ja gesagt, weil deine Eltern sich einer Ehe mit diesem netten Engländer, ich meine natürlich Alfred Barker, widersetzen?” Wenn Helga den Kopf gehoben hätte, wäre ihr nicht verborgen geblieben, dass Brigitte sich im Nachhinein keinesfalls sicher zu sein schien, ob sie solch eine Vermutung hätte äußern sollen. Sie wrang ihren Waschlappen aus, hängte ihn an einen Haken, nahm ihn wieder in die Hand und legte ihn auf den Rand der Schüssel, wobei sie mehrfach verstohlen zu ihrer Freundin hinüber blickte. Aber Helga starrte nur auf ihre Fußspitzen und überlegte, was sie darauf erwidern könnte. „Wir passen so gut zueinander”, meinte sie schließlich. „Gleich bei unserer ersten Begegnung … Bemerkt haben wirst du es nicht; auf deiner Hochzeit hattest du ja andere Dinge im Kopf. Helmut hat mir sofort zu verstehen gegeben – nicht unbedingt mit Worten, das kam erst Anfang Juni –, ich sei die Frau, auf die er immer gewartet habe. Ich sei natürlich nicht die erste – er war ja schließlich fast dreißig Jahre alt im April 1937 –, aber die letzte. Den Altersunterschied zwischen uns finde ich gerade richtig. Wir haben so viel gemeinsam, vom Skilaufen angefangen bis zum Tennisspielen. Der Betrieb seines Vaters stellt zwar Werkzeuge, Schrauben und Pferdegeschirr her, während in unserem Süßwaren produziert werden, aber Fabrik ist Fabrik, denke ich einmal … Was mir am besten gefällt: Helmut weiß so erfreulich genau, was er will. Wenn er sich einmal entschieden hat, setzt er Himmel und Hölle in Bewegung – nein, die Hölle wohl nicht – um sein Ziel zu erreichen.” Brigitte schwieg eine Zeitlang, und als sie wieder zu sprechen anhob, griff sie keine von Helgas Äußerungen auf. „Wenn ich meiner Schwiegermutter begegne oder auch anderen Verwandten und Bekannten, so spüre ich in letzter Zeit, dass ihr Blick immer zuerst meinen Bauch streift. Sie versuchen herauszufinden, ob ich endlich schwanger bin; zu fragen trauen sie sich natürlich nicht.” Helga begrifft sofort, dass ein Zusammenhang zwischen dieser Beobachtung und den Gründen bestand, die sie als Antwort auf Brigittes Frage teils rasch, teils stockend angeführt hatte. Indessen meinte sie, man dürfe sich weder von der Familie noch von Freunden unter Druck setzen lassen. Damit beließ sie es, griff noch einmal nach ihrer Brosche und löste sich vom Fensterbrett. Nach einer Pause fügte sie hinzu, sie habe beschlossen, Alfred von zu Hause aus anzurufen und ihm selber mitzuteilen, dass sie sich verlobt habe. 466 467 „Ich weiß zwar nicht, wie ich die Zeit zwischen dem Anmelden des Gesprächs und der Herstellung der Verbindung überstehen soll – manchmal dauert es ja Stunden –, aber anders geht es nicht. Meine Schwester Luise hat einmal gesagt, in einem anderen Zusammenhang allerdings, man solle sich seinen Mut für wichtige Dinge aufbewahren. Feige will ich nicht sein. Das schulde ich Alfred.” Helga war unter der Deckenlampe stehen geblieben, und vielleicht wirkte deshalb ihr Gesicht so verschattet und blass. Auf jeden Fall trat Brigitte zu ihr heran, schloss sie in die Arme und drückte sie an sich. „Ich mach dir einen Vorschlag”, sagte sie dann und strahlte Helga an. „Um sechs, spätestens sieben Uhr wird das Programm morgen beendet sein. Dann fährst du mit mir im Wagen nach Berlin; ich bin dort am Montagnachmittag zu einer ärztlichen Untersuchung angemeldet. Meine Cousine hat mit Sicherheit noch irgendein Bett für dich frei, und notfalls schläfst du auf einem Sofa. Montag früh rufst du von dort aus bei Alfred Barker an, und ich verspreche dir, dass ich mit dir gemeinsam warte, bis er am Apparat ist. Wenn du darauf bestehst, kannst du meiner Cousine das Gespräch ja bezahlen – so hat es doch Helga Schulte aus Hagen Eckesey bislang immer gehalten, nicht wahr?” Helga atmete tief ein und stieß die Luft dann kräftig aus. Anschließend nickte sie, löschte die Deckenbeleuchtung und trat noch einmal ans Fenster. Gegen den Nachthimmel hoben sich die noch schwärzeren Zweige der Kastanien ab. Im gegenüberliegenden Flügel des Gebäudes brannte hier und da noch Licht. Aber es war still geworden. ,Schließt die Runde, reicht die Hände’, dachte Helga und freute sich ganz unbändig. 468 469 PERSONEN Anna Henriette Schulte ∞ Friedrich Johann Schulte Luise ∞ Otto Rellinghaus Otto Kathrine Karl ∞ Sophie Winterhoff Dietrich (Diez) Gert (Ilse †) Helga ∞ Helmut Röding Rudolf Gustav Adolf Röding ∞ Emilie Röding Christian Albrecht ∞ Helga Gernot Isild Giselher Ottilie ∞ Walther Osdorp Walther Wolfram Wilfried Wernher Gustav Friedrich Wilhelm † Helmut ∞ Helga Schulte 470 DEUTSCHLAND Hagen Eugen Blankenstein Ruth, seine Frau Fritz, sein Sohn Hildegard, seine Tochter Marga Dennersmann Franz, ihr Sohn Herta, ihre Tochter Johann Albers Gudrun Freund von Friedrich Schulte und Fabrikant in Hagen Helgas beste Freundin Leiterin der Musterabteil der Süßwarenfabrik Schulfreundin von Helga Herthas Mann ihre Tochter Frau Fandrey (Brecke) Ilse, ihre Tochter Schulfreundin von Helga Herbert Meyer Helga, seine Tochter Inhaber eines Bekleidungsgeschäfts in Hagen Schulfreundin von Helga Ernst Herberts Ida Effenkamp Erich Bauer Effenkamp ,Päulchen‘ Beckmann Paul Beckmann Helene Dahm Dr. Rosenthal Herr Behr Sohn eines Logenbruders von Friedrich Schulte Dienstmädchen bei Schultes ihr Bruder ihr Großvater Idas Pflegesohn dessen Vater und Leiter der Versandabteilung Prokuristin in der Süßwarenfabrik Hausarzt der Familie Schulte Vertriebsleiter der Firma Schulte Christine Otto Brauckmann Tochter von Otto Rellinghaus aus 1. Ehe ihr Mann und Freund von Helmut Röding 471 Luisenhof Brigitte von Albertyll Gisela, ihre Schwester Carla Lilo Bärbel Gaby Mieze Frieke Anneliese Freundin von Helga, verheiratet mit Hartmut von Leskow Mit-Maiden von Helga ENGLAND Elizabeth Barker Alfred Barker, ihr Sohn Inhaber der Firma Barker Brothers Alice Summers, ihre Tochter Hugh Summers Rosemary Summers Austauschpartnerin von Helga Phyllis Alderson, ihre Tochter Peter, Paul und Mary, ihre Kinder AMERIKA Felicity Blake Freundin aus ,Cyrano‘, Institut in Lausanne Die anderen Personen erscheinen unter ihrem wirklichen Namen. Bei der Süßwarenfabrik handelt es sich um VILLOSA. 472 QUELLEN 1. Kapitel: Weihnachten 1915 Hagen einst und jetzt, Band III: Altenhagen•Eckesey•Vorhalle, hrsg. vom Hagener Heimatbund, Hagen 1977 Hagener Heimatkalender 1964 „Villosa“. Festschrift zum 60. Geschäftsjubiläum 1956 Pastor Herbert Szcukowski, Ev. 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