Eisberg aus Pappmaché steuerbord voraus

Transcription

Eisberg aus Pappmaché steuerbord voraus
Reiseblatt
FRANKFU RT ER A L LG EM E I NE Z E I TU NG
Tag der Abrechnung
Vor Hongkongs Skyline treffen sich die
Drachenboote zum alljährlichen
Wettrudern. Seite 2
Wahre Lügen
Was alte finnische Männer sagen,
stimmt. Und dass es eigenwillige
Rentiere gibt, stimmt auch. Seite 3
N R. 8 6 · S E I T E R 1
D O N N E R S TAG , 1 2 . AP R I L 2 0 1 2
Aufbruch nach Pandora
Vom Besuch in Gartenparadiesen bis zu
Expeditionen zu den Heiligtümern des
Himalaja: Bücher für die Reise. Seite 4
Eisberg aus Pappmaché
steuerbord voraus
Abgrund des Todes
Da ist das Meer, da ist das Schiff,
da ist die Katastrophe: Ror Wolf
spricht über Schiffbruch. Seite 6
Ausgerechnet in Pigeon Forge, inmitten der
hügeligen Landschaft von Tennessee, steht ein
Haus, so groß und mächtig wie ein Schiff – und
erzählt die kurze Geschichte der Titanic.
Von Ronald D. Gerste
Für immer gestrandet in Pigeon Forge: Das Titanic Museum im nachgebauten vorderen Teil des Schiffs, das selbst im Maßstab eins zu zwei den gesamten Ort und seine Umgebung überragt.
nen, bedeutet, dass ein Passagier nicht
nur die Nerven hatte, die Kamera nach
der Kollision aus seiner Kabine zu retten,
sondern den Apparat auch noch erfolgreich in einem Rettungsboot unterzubringen? So allerdings war es nicht. Die Aufnahmen vom Leben an Bord, die nun einen ganzen Raum in dem Museum füllen, hat der spätere Jesuit Father Francis
Browne gemacht. Dessen Onkel hatte
ihm mit einer Erster-Klasse-Fahrt ein
großzügiges Geschenk gemacht – allerdings nur für die Strecke von Southampton bis Queenstown in Irland, wo die Titanic – nach einem ähnlichen kurzen Stopp
in Cherbourg – zum letzten Mal anlegte.
der Jahre mit der höchsten Zahl von Einwanderern in den Vereinigten Staaten.
Die „goldene Tür“, von der auf einer Tafel zu Füßen der Freiheitsstatue bis heute
die Rede ist, stand damals sperrangelweit
auf – anders als jetzt, hundert Jahre später, da man im republikanischen Vorwahlkampf den Eindruck gewinnen könnte,
„immigration“ sei ein schmutziges Wort.
Natürlich ist die Entstehung des Schiffs in
der Belfaster Werft Harland and Wolff dokumentiert – wobei der Großteil des erhaltenen Filmmaterials in Pigeon Forge den
Bau des Schwesterschiffes Olympic zeigt,
während der Kameramann die in Bau befindliche Titanic buchstäblich links liegen
ließ. So wird deutlich, dass die Zeitgenossen zunächst weitaus stärker vom einige
Monate älteren Schwesterschiff fasziniert
waren. Erst der Untergang machte den Namen Titanic zum Teil des allgemeinen
Wortschatzes.
Überraschender freilich noch sind die
Fotos vom Leben an Bord während der
nur fünf Tage währenden Reise. Die Rettung solcher Bilder, so muss man mei-
rowne ging von Bord und weiteren theologischen Studien
entgegen. Der Pater, der zeit
seines Lebens ein begeisterter
Fotograf bleiben sollte und
mehr als vierundvierzigtausend Fotos
hinterließ, nahm seine Kamera und die
belichteten Negativstreifen mit nach Ir-
B
Deck für Deck durchs Schiff
Chicago
CH
VEREINIGTE STAATEN
EN
Washington
LA
Nashville
Tennessee
AP
Atlanta
Pigeon Forge
Richmont
Raleigh
Atlantik
Tennessee
Maryville
S
IN
Great-SmokyTA
N
OU
MountainsNorth
KY M
SMO
T
A
GRE
Nationalpark Carolina
Tapoco
Fontana Lake
Fontana
25 km
F.A.Z.-Karte lev.
D
zwei aus Stahl, Stein und Beton nachgebaut. Es ist von einem Wasserbecken umgeben, und ein auf den Bug gerichteter
Wasserstrahl erweckt den Eindruck, als
habe das Schiff gerade Fahrt aufgenommen, den Liegeplatz verlassend, der im
Stil eines Terminals der White Star Line
am Kai von Southampton gestaltet ist,
mit einem alten Ticketbüro als Eingang.
Dass man einen Ort wie Pigeon Forge
in Europa oder gar Deutschland kaum finden wird, liegt nicht nur an dem Schiff.
Das Städtchen, dessen Bergkulisse mit
dem allmorgendlichen Frühnebel deutlich macht, warum die weißen Entdecker
sie als „Smoky Mountains“ bezeichnet haben, erstreckt sich über sechs, sieben Kilometer entlang des Highways und ist vollgestopft mit Attraktionen, die einen – sagen wir es freundlich – abenteuerlustigen,
nach simplen Entspannungen strebenden
Geschmack ansprechen: ein riesiger Freizeitpark voller phantasievoll gestalteter
Minigolfplätze, Go-Kart-Bahnen oder Anlagen wie dem disneyesken MagiQuest.
Vor den Toren des Städtchens liegt außerdem Dollyland, benannt nach der Countrysängerin Dolly Parton. Country-Music-Hallen und Dinner-Theater runden
das Bild gemeinsam mit einer breiten Palette überwiegend erschwinglicher Hotels
und Restaurants ab. Der Ort, der nächtens mit seinem Lichtermeer wie eine saubere Variante von Las Vegas wirkt, verärgert sein Publikum nirgendwo mit überzogenen Preisen.
Da geht man denn auch gleich mit bangen Erwartungen auf die Titanic. Doch
die Befürchtungen verfliegen schon in
dem Moment, da man sein Ticket bekommen hat, ausgestellt auf den Namen eines
der Passagiere oder Besatzungsmitglieder, die einem nun für die Dauer des Besuchs gleichsam als Alter Ego an die Seite
gestellt werden. Nicht nur ist die Ausstattung des Museums opulent, auch der didaktische Anspruch wird erfüllt und das
Ganze ist einfach: würdig.
Die einzelnen Segmente des Schiffs decken alle Phasen der kurzen Geschichte
der echten Titanic ab und ordnen sie dem
historischen Kontext zu. 1912 war eines
PA
ie Carpathia war eilends herangedampft, um die Schiffbrüchigen zu retten. Aber als die
Mannschaft zwischen den
Rettungsbooten eine Reisekiste im Meer dümpeln sah, wurde kurzerhand auch sie an Bord gehievt. Es stand
kein Name darauf, und im Hafen von New
York, wo sich drei Tage nach dem Untergang der Titanic die Geretteten versammelten, hat nie jemand danach gefragt.
Von ihrer Art her, mutmaßten die Herren
der Hafenbehörde, gehörte sie einem Passagier der dritten Klasse – also jenem Teil
des Schiffes, in dem die Überlebenschancen für einen Mann in der Nacht vom 14.
auf den 15. April 1912 am kleinsten gewesen sind.
Fast hundert Jahre hat es gedauert, bis
das herrenlose Gepäckstück eine endgültige Heimstatt fand: in Pigeon Forge, im
Titanic Museum. In fahles, mondähnliches Scheinwerferlicht getaucht, soll die
Kiste dem Besucher schon im ersten
Raum des Hauses, neben eine riesige Karte des Nordatlantiks gestellt, die menschliche Dimension der Katastrophe verdeutlichen – ein Moment von Hoffnung
und Scheitern hinter all den nackten
Zahlen und hinter dem Mythos des wohl
bekanntesten Schiffsuntergangs der Geschichte. Der Besitzer hat einst seine
karge Habe der Kiste anvertraut – und
mit ihr seinen Glauben an ein neues Leben. Wer immer der Reisende war, seine
Vision nahm er mit in sein nasses Grab.
Die Reisekiste und andere Gegenstände des Schiffs, der Passagiere oder auch
nur ihrer Epoche fanden den Weg zu einem Ort, der denkbar weit entfernt von
den Ufern des Atlantiks liegt. Das Titanic Museum steht an den Ausläufern der
Great Smoky Mountains, in der hügeligen Landschaft Tennessees. Museum allerdings ist ein zu schnöder Begriff für
das Bauwerk, das 2010 eröffnet wurde,
und niemand nennt es wirklich so. Vielmehr sagen alle ganz einfach: „The Titanic“. Deren Silhouette ist das Gebäude
nachempfunden. Die vordere Hälfte des
Schiffs, bis kurz hinter den zweiten
Schornstein, wurde im Maßstab eins zu
쐽 Titanic Museum: 2134 Parkway, Pigeon Forge, Tennessee
37863. Kostenlose Telefonnummer in den Vereinigen Statten:
1 / 800 / 381-76 70. Geöffnet
täglich von 9 bis 19 Uhr. Eintritt für Erwachsene 22 Dollar,
Kinder 11 Dollar. Information
unter: www.titanicpigeonforge.com. Während der Hauptreisezeit wird eine Online-Reservierung empfohlen.
쐽 Informationen über Pigeon
Forge und Tennessee: Tennessee Tourism, Horstheider Weg
106a, 33613 Bielefeld, Telefon:
05 21 / 9 86 04 15. Im Internet:
www.tennessee.de
land, wo man sie 1986 im Archiv der Jesuiten in Dublin fand. Unter all den Aufnahmen schlägt eine den Besucher ganz
besonders in Bann: die eines Kindes auf
dem Oberdeck – das einzige Foto eines
Kindes auf der Titanic überhaupt.
Es zeigt den sechsjährigen Robert
Doyle Spedden, dessen Mutter Daisy später das wohl bekannteste Kinderbuch
über die Katastrophe schrieb: „Polar, the
Titanic Bear“ – inspiriert durch das Lieblingsspielzeug des Jungen, einen Eisbären aus dem Hause Steiff. Der kleine Robert überlebte den Untergang des
Schiffs, ging aber prompt auf andere Weise einem tragischen Schicksal entgegen:
nur drei Jahre später, 1915, wurde er von
einem Lieferwagen überfahren und so
der erste durch ein Automobil ums Leben gekommene Verkehrstote in der Geschichte des Bundesstaats Maine.
Unter den im Museum nachgebauten
Räumen der Titanic beeindruckt vor allem eine im üppigen Stil der edwardianischen Epoche eingerichtete Suite der Ersten Klasse sowie der Grand Staircase, die
große Treppe unter der lichtdurchfluteten Glaskuppel. Auch hier stößt man auf
ein wenig bekanntes Detail: der Fußboden des prachtvollen Aufgangs, in
Pigeon Forge ebenfalls im Maßstab eins
zu zwei rekonstruiert (und bei Brautpaaren aus der Region beliebt für deren
Hochzeitsfotos), bestand aus einem damals teuren, für Exklusivität und Lebensstil bürgenden Material: dem gerade erfundenen Linoleum.
Der Grand Staircase der Titanic spielt
eine zentrale und auch finale Rolle in
James Camerons Verfilmung der Katastrophe. Hier steht Rose in der Traumsequenz der Schlussszene noch einmal Jack
Dawson gegenüber. Dem Film hat das
Museum im Jubiläumsjahr eine Sonderausstellung gewidmet. Neben zahlreichen Dokumenten und Videos zu den
Dreharbeiten sind vor allem die Kostüme
der Komparsen und Darsteller zu sehen.
Etwa die Kleider und Hüte, die Kate
Winslet getragen hat, darunter auch ihr
sogenanntes „sinking dress“. Die Mode
der Epoche wird noch an anderer Stelle
Foto Ronald D. Gerste
gewürdigt. Zu den First-Class-Passagieren gehörte die Modeschöpferin Lucy
„Lucille“ Lady Duff-Gordon. Sie hatte
mehrere Skizzen von Entwürfen bei sich
– eine von ihnen zeigt ein Abendkleid,
das 1912 nicht über das Stadium des Konzeptes hinauskam. Für das Museum in Pigeon Forge hat man es zum ersten Mal geschneidert.
Dann geht es auf die Brücke. Der Lärmpegel der Besucher nimmt deutlich ab.
Halbdunkel und unheimlich ist der Kommandobereich von Captain Smith, durch
die Scheiben sieht man die Sterne einer
klaren Nacht. Und etwas Undeutliches,
Verwaschenes, Drohendes am Horizont.
Über den Lautsprecher ertönt: „Iceberg,
right ahead!“ Man öffnet die Tür zur
Rechten, der Seite der Gefahr, und betritt
das Deck – einen Raum, der fast auf null
Grad abgekühlt ist. Über die Reling, unter dem Eisberg aus Pappmaché, kann
man die Hände in eiskaltes Wasser tauchen. Da spätestens wird überdeutlich:
Wer keinen Platz im Rettungsboot fand,
hatte keine Überlebenschance in den
vier Stunden, die die Carpathia bis zur
Unglücksstelle brauchte.
Der letzte Raum gleicht einer Ehrenhalle. Auf dezent beleuchteten Tafeln sind,
nach Klassen und Crew sortiert, die Namen all jener aufgeführt, die auf dieser Reise an Bord gewesen sind. Ist das Alter Ego
des Besuchers unter den Opfern oder den
Geretteten? Und trug es vielleicht eine
Schwimmweste, wie sie hier am Schluss
der Ausstellung zu sehen ist? Von diesem
Stück weiß man sogar, wessen Leben sie
gerettet hat: Madeleine Astor hat sie getragen, die nur achtzehn Jahre alte Ehefrau
von John Jacob Astor IV, dem reichsten
Passagier an Bord der Titanic. Astor selbst
blieb zurück, nachdem ihm der Zweite Offizier, Charles Lightoller, erklärt hatte,
dass der Platz in den Rettungsbooten zunächst Frauen und Kindern vorbehalten
sei – und ihn selbst dann nicht ins Lifeboat
Four einstiegen ließ, als Astor ihn auf die
„delicate condition“ seiner Frau hinwies.
Vier Monate nach dem Untergang des
Schiffs brachte die Witwe in New York einen Jungen zur Welt.