und Islambild der deutschen

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und Islambild der deutschen
Inhaltsverzeichnis (Bd. 2)
Vorwort zum zweiten Band
4.
4.1
4.1.1
4.1.2
4.1.3
4.2
4.2.1
4.2.2
4.2.3
5.
5.1.
5.1.1
5.1.2
5.1.3
5.1.4
5.1.5
5.1.6
5.1.7
5.2
5.2.1
5.2.1.1
5.2.1.2
5.2.1.3
5.2.1.4
5.2.1.5
5.2.1.6
5.2.2
5.2.2.1
5.2.2.2
5.2.2.3
5.2.2.4
5.2.2.5
Forschungsstand und Methode
Forschungsstand zum Nahost- und Islambild in der deutschen
Presse
Empirische Grundlagenforschung
Theoretische Orientierungen
Fächer- und Disziplinenverankerung
Methode
Quantitative und qualitative Inhaltsanalyse: Repräsentativität
versus Singularität
Quantitative Inhaltsanalyse des Nahost- und Islambildes:
Stichprobe, Kategorien, Testverfahren und Kodierung
Qualitative Inhaltsanalyse des Nahost- und Islambildes:
Fallbeispiele, Artikelauswahl und kritische Hermeneutik
Quantitative Inhalts- und Theorieanalyse: das Nahost- und
Islambild in Frankfurter Allgemeine Zeitung, Süddeutsche Zeitung,
Der Spiegel und stern
Einfache Analyse der Faktoren des Nahost- und Islambildes
Häufigkeit und Kontinuität
Sachgebiete
Thematisierung
Ereignisvalenz
Länderverteilung
Handlungsträger
Informationsquellen
Kombinierte Analyse der Faktoren des Nahost- und Islambildes
Sachgebiets- und Themenprofile
Sachgebiete und Ereignisvalenz
Thematisierung und Ereignisvalenz
Sachgebiete und Informationsquellen
Thematisierung und Informationsquellen
Sachgebiete und Handlungsträger
Thematisierung und Handlungsträger
Länderprofile
Länder und Sachgebiete
Länder und Thematisierung
Länder und Ereignisvalenz
Länder und Informationsquellen
Länder und Handlungsträger
9
12
12
12
21
24
28
29
31
39
41
42
43
47
53
59
65
73
84
89
89
90
92
99
102
104
109
114
114
121
125
129
134
5
6.
6.1
6.1.1
6.1.2
6.1.2.1
6.1.2.2
6.2
6.2.1
6.2.2
6.2.2.1
6.2.2.2
6.3
6.3.1
6.3.2
6.3.2.1
6.3.2.2
6.4
6.4.1
6.4.2
6.4.2.1
6.4.2.2
6.4.2.3
6.5
6
Qualitative Inhalts- und Theorieanalyse: das Nahost- und Islambild
in der deutschen überregionalen Presse
Der Nahostkonflikt (1965-82)
Re-Rekonstruktion und Dekonstruktion I: Nahostkonflikt und
Holocaust im Spiegel der Presseberichterstattung
Dekonstruktion II: Ist Nahostberichterstattung „Nahost“Berichterstattung? Innergesellschaftliche Anschlußdiskurse der
Auslandsberichterstattung
Themen-Linkage und Diskursinteraktionen: foreign news abroad
als home news abroad
Die außermediale Öffentlichkeit der home news abroad:
Lobbies oder Lernprozeß?
Die Erdölkrise (1973)
Re-Rekonstruktion und Dekonstruktion I: Die Erdölkrise
in der deutschen Presse: Preisentwicklung, Nationalisierung und
downstream operations
Dekonstruktion II: Das Verhalten der Presse im Gesellschaftssystem und in internationalen Konflikten
Wirtschaftsberichterstattung: Das Mediensystem zwischen
Strömungsvielfalt, Pluralität und umweltgesteuerter Systemstabilisierung
Krisenberichterstattung: die Medien als „eigennützige Co-Parteien“
in internationalen Konflikten
Iranische Revolution (1978/79)
Re-Rekonstruktion und Dekonstruktion I: Das Islambild der
deutschen Presse in der Iranischen Revolution
Dekonstruktion II: Soziopsychologische Grundlagen des Islambildes in der Berichterstattung über die Iranische Revolution
Worst-Case-Annahmen, Spiegelbild-Denken, Antipoden-Denken
und andere soziopsychologische Prozesse der Konstruktion des
Islambildes
Exkurs: Zeitgenössische Schwankungen des Islambildes – eine
Erweiterung der „Orientalismus“-These
Der Fall Salman Rushdie (1989-95)
Re-Rekonstruktion und Dekonstruktion I: Salman Rushdie,
Menschenrechte und Religion in der deutschen Presse, 1989-95
Dekonstruktion II: Transkulturelle Kommunikation im Fall
Salman Rushdie
Menschenrechte und Religion als Gegenstände transkultureller
Vermittlungsleistungen der Presse
Interaktion, Koorientierung und Dialogverhalten der Auslandsberichterstattung
Auslandsberichterstattung und „multikulturelle Gesellschaft“
Die Algerienkrise (1991-95)
144
144
146
162
162
170
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181
194
195
202
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208
224
224
235
240
241
253
254
258
261
265
6.5.1
6.5.2
6.5.2.1
6.5.2.2
Re-Rekonstruktion und Dekonstruktion I: Die algerischen Wahlen
und die Algerienkrise in der deutschen Presse
Dekonstruktion II: Algerienberichterstattung – Öffentlichkeit –
Außenpolitik
Medienagenda und Demokratieentwicklung
Auslandsberichterstattung und deutsche Außenpolitik
Systematische Zusammenfassung
Quellen- und Literaturverzeichnis (Bd. 2)
266
281
282
288
293
313
Anhang
Tabellarischer Anhang
Kodierbogen
Abkürzungsverzeichnis
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis (Bd. 2)
353
393
397
399
7
8
Vorwort zum zweiten Band
Im deutschen Pressebild der Politik, Gesellschaft und Kulturen Nordafrikas und des
Nahen und Mittleren Ostens sind eine Reihe von Themen wie der Nahostkonflikt
oder der islamische Fundamentalismus langfristig eingeführt und weisen niedrige
Nachrichtenschwellen und eine hohe Informationsdichte auf. Zugleich ist seit den
neunziger Jahren eine wachsende Zahl medienkritischer Stimmen in der Wissenschaft wie in den Medien selbst zu vernehmen, die auf die fortdauernde Existenz
eines in hohem Maß traditionsgeprägten Negativbildes der Region verweisen. Kritik
an der Darstellung Nordafrikas und des Vorderen Orients in westeuropäischen Medien wurde im Golfkrieg von 1990/91 ebenso laut wie im jüngsten Bosnienkrieg, und
es war die Europäische Union, die 1991 eine Revision des Negativbildes der islamischen Welt in Massenmedien forderte.1
Die wissenschaftliche Relevanz der Untersuchung des Nahost- und Islambildes
der Presse resultiert aus einem bis dato hochselektiven empirischen und theoretischen Forschungsstand. Insbesondere der interdisziplinäre Charakter der Thematik,
deren Bearbeitung sowohl Medien- als auch Regionenkompetenz bedarf, hat trotz
zunehmender Beachtung des Themas in den neunziger Jahren zu wissenschaftlichen
Defiziten geführt. Zur gesellschaftlichen Relevanz der Thematik ist zu vermerken,
daß eine Reihe deutscher und europäischer Institutionen Probleme der Auslandsberichterstattung und insbesondere die Frage der deutschen und europäischen Medienrezeption des islamischen Raumes aufgegriffen hat, unter anderem die HeinrichBöll-Stiftung, die Friedrich-Ebert-Stiftung, das Presse- und Informationsamt der
Bundesregierung, das Bundespräsidialamt und die Europäische Union.2 Auch wenn
die Medienkritik eine mechanistische Einschätzung von Medienwirkungen vermeiden sollte:3 Leistungen und Defizite des Medienbildes im Orient-Okzident-Kontext
1 Conseil de l'Europe, Doc. 6497.
2 Vgl. u.a. Deutsch-arabischer Mediendialog, 3.-6. November 1997 in Heidelberg, Institut für Auslandsbeziehungen, im Auftrag des Bundespresseamtes, Stuttgart 1997; Deutsch-arabischer Mediendialog 2, 12.-13. Mai 1998 in Amman/Jordanien, Institut für Auslandsbeziehungen, im Auftrag des
Bundespresseamtes, Stuttgart 1998; Deutsch-arabischer Mediendialog 3, 8.-9. Juni 1999 in Rabat/Marokko, Institut für Auslandsbeziehungen, im Auftrag des Bundespresseamtes, Stuttgart 1999;
„Heiliger Krieg“ gegen den Westen. Gewaltbild des Islam in der deutschen Presse, Pressedokumentation: zusammengestellt und eingeleitet von Kai Hafez, Hrsg. Media Watch/Heinrich-BöllStiftung/Dritte-Welt-Journalistennetz, Köln 1996; Deutschland und die Türkei im Spiegel der Medien. Die Verantwortung der Medien in den deutsch-türkischen Beziehungen, Friedrich-EbertStiftung/Edgar Auth, Istanbul 1998; Fòrum Civil Euromed/Barcelona 1995. Towards a New Scenario of Partnership in the Euro-Mediterranen Area, Institut Català de la Mediterrània d’Estudis,
Barcelona 1996, S. 192-206; International Conference „Dialogue of Cultures – The Future of Relations between Western and Islamic Societies“, Berlin Declaration – Agenda for Future Action,
Bellevue Palace, Berlin, 23 April 1999, in: Orient 40 (1999) 1, S. 49.
3 Dieter Roß, Traditionen und Tendenzen der Medienkritik, in: Hartmut Weßler/Christiane Matzen/Otfried Jarren/Uwe Hasebrink (Hrsg.), Perspektiven der Medienkritik: Die gesellschaftliche
Auseinandersetzung mit öffentlicher Kommunikation in der Mediengesellschaft. Dieter Roß zum
60. Geburtstag, Opladen 1997, S. 40-42; vgl. a. Kap. 3.2.4.1.3.
9
stehen in enger Beziehung zur gesellschaftlich-kulturellen Identitätsbildung4 und zur
Erosion oder aber Festigung des Nationalstaates im Prozeß der Globalisierung. Medienbilder sind ein Ferment zur außenpolitischen Ideologiebildung, für die die globalen Konfliktlinien zwischen den Kulturen nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes
bedeutsamer geworden sind.5 Sie sind zudem Bestandteile des internationalen
Kriegs- und Konfliktgeschehens6 und können die Ethnisierung innergesellschaftlicher Konflikte beeinflussen.7
Die vorliegende Untersuchung beschränkt sich auf die Presse, obwohl den elektronischen Massenmedien Fernsehen und Radio eine beträchtliche Wirkung auf die
internationalen Beziehungen zugeschrieben wird8 und obwohl gerade im deutschen
Radiobereich (Deutschlandfunk, Deutschlandradio u.a.) eine eigenständige Berichterstattungskultur gepflegt wird, die der Untersuchung wert wäre. Die überregionale
Presse bleibt dennoch der locus classicus jeglicher Forschung zur deutschen Auslandsberichterstattung, weil diese dort den größten Raum einnimmt und weil das
„langsame“ Medium Presse Meinungsführerimpulse a) an andere Medien einschließlich des Fernsehens und b) an die an Auslandsfragen interessierten gesellschaftlichen
Meinungsführer9 aussendet. Die Annahme einer starken Wirkungspotenz des Fernsehens ist im US-amerikanischen Kontext entstanden, wo die Presse, von wenigen
Ausnahmen abgesehen, im lokalen Nachrichtenumfeld verhaftet ist und die großen
Networks, einschließlich international orientierter Sender wie CNNI, über eine starke Stellung in der Auslandsberichterstattung verfügen. In Deutschland hingegen ist
der internationale Diskurs in hohem Maß auf die überregionale Presse konzentriert,
während er im Fernsehen, abgesehen von bestimmten Krisenzeiten, zur „Restgröße“
(Meckel) wird.10
4 David Morley/Kevin Robins, Spaces of Identity. Global Media, Electronic Landscapes and Cultural
Boundaries, London/New York 1995, S. 133, 137, 154 f.
5 Richard J. Payne, The Clash with Distant Cultures. Values, Interests, and Force in American Foreign Policy, Albany, NY 1995, S. 93-164.
6 Hamid Mowlana, The Role of the Media in the U.S.-Iranian Conflict, in: Andrew Arno/Wimal
Dissanayake (Hrsg.), The News Media in National and International Conflict, Boulder/London
1984, S. 71-99.
7 Christian J. Jäggi, Rassismus: Ein globales Problem, Zürich/Köln 1992, S. 67; Irmgard Pinn, RightWing Movements, Islam, and the Media: The Influence of the Media on Ethnic-Religious Integration in Europe, in: Kai Hafez (Hrsg.), Islam and the West in the Mass Media. Fragmented Images in
a Globalizing World, Cresskill, NJ 2000, S. 89-104.
8 James F. Larson, Global Television, S. 9.
9 David D. Newsom, The Public Dimension of Foreign Policy, Bloomington/Indianapolis 1996,
S. 49.
10 Miriam Meckel, Internationales als Restgröße? Struktur der Auslandsberichterstattung im Fernsehen, in: Klaus Kamps/Miriam Meckel (Hrsg.), Fernsehnachrichten. Prozesse, Strukturen, Funktionen, Opladen 1998, S. 257-274.
10
Kleine Teile der Arbeit sind in ähnlicher Form bereits vorveröffentlicht worden.
Kapitel 6.4 sowie Kapitel 6.5 stellen jeweils stark überarbeitete Versionen früherer
Veröffentlichungen dar.11 Einige Grundzüge der Ergebnisse der quantitativen (Kap.
5) wie der qualitativen Inhaltsanalysen (Kap. 6) sind in zwei in den USA
veröffentlichten Aufsätzen vorgestellt worden.12
11 Kai Hafez, The Algerian Crisis as Portrayed in the German Press: Media Coverage of Political
Islam, in: Communications. The European Journal of Communication Research 21 (1996) 2,
S. 155-182; ders., Salman Rushdie im Kulturkonflikt. Zum Problem der transkulturellen Kommunikation in der deutschen Presseberichterstattung, in: Orient 37 (1996) 1, S. 137-161.
12 Kai Hafez, The Middle East and Islam in Western Media: Towards a Comprehensive Theory of
Foreign Reporting, in: Kai Hafez (Hrsg.) Islam and the West in the Mass Media. Fragmented Images in a Globalizing World, Cresskill, NJ: Hampton Press 2000, S. 27-66; ders., Imbalances of
Middle East Coverage: A Quantitative Analysis of the German Press, in: ebenda, S. 181-197.
11
4.
Forschungsstand und Methode
Auf der Basis der Einführung in Grundfragen der Methodologie und der Theorie
(Bd. 1) erfolgt nunmehr eine kritische Bilanz der aktuellen Forschungsstandes zum
Nahost- und Islambild in deutschen Medien (Kap. 4.1). Danach wird das Forschungsdesign zur Inhaltsanalyse des „Nahost- und Islambildes in der deutschen
überregionalen Presse“ vorgestellt (Kap. 4.2).
4.1
Forschungsstand zum Nahost- und Islambild in der deutschen Presse
Die Erfordernisse interdisziplinärer Forschung, der hohe Arbeitsaufwand empirischer Medienanalysen und die Komplexität theoretischer Herangehensweisen von
Untersuchungen über die Produkte, Entstehungs- und Wirkungsbedingungen der
Auslandsberichterstattung haben dazu beigetragen, daß der bisherige Forschungsstand zur Nah-, Mittelost-, Nordafrika- und Islamberichterstattung deutscher Medien
in hohem Maß defizitär erscheint. Die genannten Aspekte haben sich statt als Stärke
des Forschungsfeldes bisher überwiegend als Hürde erwiesen, wobei der interdisziplinäre Charakter der Forschung in der Praxis dazu geführt hat, daß entsprechende
Untersuchungen in der Regel Nebenprodukte der Spezialwissenschaften geblieben
sind. Medienwissenschaftler haben sich nur sehr selten − etwa nach dem Golfkrieg
von 1991 − mit dem Nahost- und Islambild beschäftigt und insofern keine vertiefte
Kompetenz gegenüber dem Untersuchungsraum entwickelt; Orientwissenschaftler,
die sich mit Mediendarstellungen befaßt haben, verfügen über diese Kompetenz, sind
jedoch in ihrer philologischen, politikwissenschaftlichen oder anderweitig sozialwissenschaftlichen Ausrichtung in der Regel nur bedingt medienkompetent. Der folgende Überblick über den Forschungsstand zum Nahost- und Islambild in deutschen
Medien ist in drei Bereiche gegliedert: empirische Grundlagenforschung (Kap.
4.1.1), theoretische Orientierungen (Kap. 4.1.2) und Fächer- und Disziplinenverankerung (Kap. 4.1.3).
4.1.1 Empirische Grundlagenforschung
Es existiert nur eine geringe Zahl von Inhaltsanalysen zur Sicherung der empirischen
Grundlagen des Nahost- und Islambildes deutscher Massenmedien. Sie konzentrieren
sich auf einzelne Problemkomplexe wie das Orientbild der frühen bundesrepublikanischen Presse, den Nahostkonflikt, den Golfkonflikt, das Religionsbild des Islam
oder auf Länderstudien zur Türkei. Erkennbar sind große Lücken in der empirischen
Sicherung der Darstellung der Länder Nordafrikas und des Nahen und Mittleren
Ostens in deutschen Medien. Die Grundzüge des Regionenbildes, seiner Themenausrichtung, Länderverteilung, seiner Quellen usw., sollen in der vorliegenden Studie in
12
bezug auf die überregionale Presse ermittelt werden. Die Erfassung der Berichterstattung elektronischer Medien muß anderen Untersuchungen vorbehalten bleiben.
Verschiedene Arbeiten haben das Orientbild der deutschen Presse in der Frühphase der Bundesrepublik Deutschland untersucht, insbesondere die Rezeption des
iranischen Shah Mohammed Reza Pahlevi. Richard Blank konzediert ein zweigeteiltes Medienbild, in dem die positive Charakterisierung des Shah und seiner Frauen
Soraya und Farah Diba mit einer negativ-abwertenden Sicht von Politik und Gesellschaft einherging. Der Shah wurde demnach in der deutschen Presse als Gegenbild
zu seiner eigenen orientalisch-islamischen Kultur konstruiert, gegen deren Rückständigkeit und Lethargie er ein modernistisches Credo durchzusetzen versuchte.13 Die
„Sorayapresse“ ist demnach nicht, wie Rainer Geißler vermutet hat, als rein unterhaltendes Genre des politischen Eskapismus zu betrachten,14 sondern sie vermittelte im
Subtext meinungsbildende Elemente.
Das am besten erforschte Gebiet der deutschen Nahost- und Islamberichterstattung neben dem Golfkrieg von 1991 (s.u.) ist der Nahostkonflikt. Kenneth M. Lewans Werk „Der Nahostkrieg in der westdeutschen Presse“ basiert auf einer qualitativen Inhaltsanalyse führender überregionaler Zeitungen über den „Sechstagekrieg“
zwischen Israel und arabischen Staaten 1967.15 Lewan argumentiert, daß aus einer
auf Holocaust-Motiven basierenden Interpretation und der Vorstellung der
Existenzbedrohung Israels eine einmütige Solidarisierung der deutschen Presse mit
Israel resultierte, dessen Präventivangriff auf Ägypten und Syrien als Verteidigungskrieg interpretiert wurde.16
Sami Fayez Khalil Musallam stellt in seiner Untersuchung über die Presseberichterstattung des „Oktoberkrieges“ von 1973 gegenüber 1967 Veränderungen im
deutschen Medienbild fest. Gemäß Musallam führten die anfänglichen Erfolge der
arabischen Armeen zu einer Infragestellung vieler Stereotype des Araberbildes (z.B.
Unfähigkeit zur Organisation), andererseits jedoch war eine Erfolgsabhängigkeit der
Bildkonstruktion zu erkennen, denn ein von Stereotypen geprägtes Medienbild kehrte nach der späteren Niederlage der arabischen Staaten in die Presseberichterstattung
zurück.17 Musallams Ergebnisse können dahingehend interpretiert werden, daß ungewöhnliche Ereigniskonstellationen kurzfristige Schwankungen im Gefüge des
Nationenbildes auslösen können, die jedoch in keinem langfristigen Lernprozeß des
Bildwandels und der Bilddifferenzierung münden müssen.
Eine Untersuchung von Margot Sonnenberg über die Darstellung der Nahostpolitik der israelischen Regierung Menachem Begins 1980/81 weist allerdings auf längerfristige Veränderungen der Berichterstattung, die nicht im soziopsychologischen
13 Soraya, Farah und der Schah. Deutsche Schicksalsberichte vom Pfauenthron, Ausgewählt und
erläutert von Richard Blank, München 1977, S. 199-209.
14 Rainer Geißler, Massenmedien, Basiskommunikation und Demokratie. Ansätze zu einer normativempirischen Theorie, Tübingen 1973, S. 105 f.
15 Kenneth M. Lewan, Der Nahostkrieg in der westdeutschen Presse, Köln 1970.
16 Ebenda, S. 90 ff., 94 ff., 97 ff.
17 Sami Fayez Khalil Musallam, Zum Araberbild in der bundesrepublikanischen Presse am Beispiel
des IV. Nahostkrieges, Diss. Bonn 1976.
13
Gefüge der Nationenbilder von Arabern und Israelis anzusiedeln sind, sondern im
Bereich der politischen Bewertung des Nahostkonflikts.18 Von der überregionalen
deutschen Presse wurde das ägyptisch-israelische Friedensabkommen (1979) in der
Nachfolge der Vereinbarungen von Camp David (1978) überwiegend als Verdienst
des ägyptischen Präsidenten Anwar al-Sadat dargestellt, während der Anteil Begins,
wie Sonnenberg meint, unterschätzt wurde.19 Nach dem Abschluß des Abkommens
wurden demnach auch die Gefahren, die Israel seitens der PLO drohten, in den meisten Zeitungen und Zeitschriften (mit Ausnahme der Welt) geringer eingeschätzt als
zuvor, die Siedlungspolitik Israels wurde wachsend kritisiert und die EGNahostpolitik stärker als zuvor auf die arabischen Staaten ausgerichtet, was, wie
Sonnenberg argumentiert, die „Friedenspolitik“ Israels gefährdete.20
Eine neuere Untersuchung von Astrid Hub ist zeitlich breiter angelegt als die
Vorgängerstudien und fokussiert den Zeitraum von 1956 bis 1982, wobei sie sich
allerdings auf die großen vier kriegerischen Auseinandersetzungen (Suezkrieg 1956,
Sechstagekrieg 1967, Oktoberkrieg 1973 und Libanonkrieg 1982) beschränkt.21 Was
die Bewertung der Außen- und Nahostpolitik Israels betrifft, bestätigt Hub die Ergebnisse von Lewan, Musallam und Sonnenberg, wonach die deutsche Presse 1967
ein durchgehend positives Israelbild zeichnete,22 ab 1973 eine Differenzierung und
partielle pro-arabische Orientierung des Medienbildes erfolgte23 und 1982 nachhaltige Kritik an Israel zum Tragen kam.24 Von Interesse ist Hubs Arbeit insbesondere
deshalb, weil sie den Blick für die Medienperzeption der israelischen Innenpolitik
und politischen Kultur öffnet und hier eine im Verlauf der Jahrzehnte zunehmende
Differenzierung der Informationslage erkennt. Insbesondere die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die Süddeutsche Zeitung und Die Zeit werden als Medien bezeichnet,
in denen Einstellungen und Positionen unterschiedlicher politischer Interessengruppen Eingang finden.25 Weniger positiv allerdings beurteilt sie die Nachrichtenlage
über politische Entscheidungsprozesse, die in vielen Fällen auf Vermutungen beruht.26 Die Ergebnisse von Hub lassen erkennen, daß die deutsche Presse zwar in
wachsendem Maß die artikulierte öffentliche Meinung in Israel erfaßt, jedoch ungeachtet der Tatsache, daß Jerusalem einer von nur wenigen Korrespondentenstandorten des Nahen Ostens ist, kaum über personell oder institutionell gestützte Informationsquellen im Umfeld der israelischen Regierung verfügt, wie dies an anderen
Schauplätzen (etwa in Washington, Paris oder London) zumindest bei den akkreditierten Korrespondenten der Fall ist.
18 Margot Sonnenberg, Die Friedenspolitik des Staates Israel und ihre Darstellung in der überregionalen Presse der Bundesrepublik Deutschland. Von der EG-Deklaration in Venedig, Juni 1980, bis
Ende der ersten Amtsperiode Ministerpräsident Begins am 30. Juni 1981, Diss. Aachen 1982.
19 Sonnenberg, Die Friedenspolitik, S. 406 f.
20 Ebenda, S. 408 f.
21 Astrid Hub, Das Image Israels in deutschen Medien. Zwischen 1956 und 1982, Frankfurt u.a. 1998.
22 Ebenda, S. 122.
23 Ebenda, S. 135.
24 Ebenda, S. 146.
25 Ebenda, S. 33-53, 54-77.
26 Ebenda, S. 78-102.
14
Als Mangel der bisherigen Inhaltsanalysen ist deren weitgehende Konzentration auf
das Kriegsgeschehen unter Ausschluß der Analyse der deutschen Berichterstattung in
Nicht-Kriegszeiten zu konzedieren. Weder ist hinreichend untersucht worden, wie
über das Verhandlungsgeschehen im Nahostkonflikt berichtet wird, obgleich die
Medien als Teil der internationalen Öffentlichkeit für den Verhandlungsverlauf von
Bedeutung sein können, noch wird die gesamte Breite des berichteten Geschehens
− also etwa die Darstellung der regulären Israelpolitik Deutschlands − untersucht
(vgl. Kap. 5.2.2.2 und 6.1).
Die vorhandenen quantitativen und qualitativen Inhaltsanalysen haben zudem
nicht verhindern können, daß die deutsche Berichterstattung über den Nahostkonflikt
Gegenstand von zahlreichen essayistischen Arbeiten geworden ist, die zwar eine
äußerst selektive Quellenbasis, dafür jedoch um so pointiertere, sich häufig diamtral
widersprechende Positionen beinhalten, die erheblich zur Polarisierung des wissenschaftlichen Meinungsbildes beigetragen haben. Hier wird ebenso die Ansicht vertreten, die deutsche Medienberichterstattung sei generell pro-israelisch27 und inhaltlich
in hohem Maß vom Holocaust-Diskurs überlagert,28 wie die Ansicht, das Medienbild
sei seit den achtziger Jahren anti-israelisch29 und insbesondere im linken Printmedienspektrum antizionistisch bis antisemitisch30 orientiert. Eine sinnvolle Hypothesenbildung kann auf der Basis dieser Arbeiten nicht erfolgen, da sie ohne Kenntnisnahme des differenzierenden Forschungsstandes formuliert werden.
Das Bild der Türkei in deutschen Medien ist auf Grund hoher gesellschaftlicher
Relevanz für die deutsche Gesellschaft seit einigen Jahren vermehrt untersucht worden. Das Interesse am Türkeibild deutscher Medien ist weitaus größer als das Interesse der deutschen Presse an der Türkei, die in der deutschen Nachrichtengeographie
lediglich einen gehobenen Mittelplatz einnimmt (Kap. 5.1.5). Gürsel Gür hat in einer
Untersuchung der überregionalen Presse im Zeitraum 1987-95 statt kontinuierlicher
Hintergrundberichterstattung eine lediglich punktuelle Thematisierung der Türkei in
der deutschen Presse ermitteln können, konzentriert vor allem auf die Menschenrechtslage in der Türkei und die Kurdenfrage. Das Thema der Beziehungen zwischen
der EU und der Türkei wird gemäß Gür ungeachtet der großen politischen Bedeutung nur dann aufgegriffen, wenn es vom politischen System auf die Medienagenda
gehoben wird,31 was auf einen geringen Stand der medialen Meinungsbildung im
27 Georg Poschinger, Der Palästina-Konflikt, unsere Medien und wir, Frankfurt 1992; vgl. a. Kai
Hafez, Rezension zu Georg Poschinger, Der Palästina-Konflikt, unsere Medien und wir, Frankfurt
1992, in: Orient 38 (1997) 1, S. 175 f.
28 Peter Zimmermann, Television als Fata Morgana. Die Nahost-Berichterstattung und die Spiegelungen des Antisemitismus-Syndroms, in: Jürgen Felix/Peter Zimmermann (Hrsg.), Medien-Krieg. Zur
Berichterstattung über die Golfkrise, Marburg 1991, S. 7-20.
29 Heiner Lichtenstein, Die deutschen Medien und Israel. Wie sich das „besondere Verhältnis“ in der
Berichterstattung widerspiegelt, in: Tribüne 31 (1992) 123, S. 143-153.
30 Martin W. Kloke, Ressentiment und Heldenmythos. Das „Palästinenserbild“ in der deutschen
Linkspresse, in: Reinhard Renger (Hrsg.), Die deutsche „Linke“ und der Staat Israel, Leipzig 1994,
S. 47-76.
31 Gürsel Gür, Das Türkeibild in der deutschen Presse unter besonderer Berücksichtigung der EUTürkei-Beziehungen. Eine Inhaltsanalyse für den Zeitraum 1987-1995, Frankfurt u.a. 1998, S. 165169.
15
Bereich der deutsch-türkischen bzw. europäisch-türkischen Beziehungen schließen
läßt.
Siegfried Quandt hat bisher als einziger im Bereich des Nahost- und Islambildes
die elektronischen Medien in seine Analyse einbezogen (sieht man von der Kritik
einzelner Auslandskorrespondenten des deutschen Fernsehens ab; s.u.).32 Quandt
ermittelt in seiner an zwei Testmonaten des Jahres 1995 ausgerichteten Kurzanalyse
ausgesuchter Pressemedien und Fernsehanstalten (ARD, ZDF, RTL und Sat 1) eine
starke Stellung der Kurdenfrage in der Türkeiberichterstattung,33 eine Konzentration
auf Politik im Gegensatz zu geringer Beachtung von Kultur und Wirtschaft34 und
eine stark negative Prägung des Bildes der deutsch-türkischen Beziehungen,35 die
zum Teil durch die Verengung der Thematisierung auf Fragen wie den Kurdenkonflikt entsteht.
Orhan Gökces Untersuchung des Bildes der Türken in Deutschland basiert auf
einer breit angelegten Studie von 22 Zeitungen und Zeitschriften, die hinsichtlich der
Darstellung des Besuchs des türkischen Ministerpräsidenten Turgut Özal im Herbst
1984 in der Bundesrepublik Deutschland untersucht werden.36 Konfliktnachrichten
dominieren demnach die Berichterstattung, und Türken erscheinen überwiegend „in
der Verursacherrolle für spezifische gesellschaftliche Probleme“ oder als „Objekte
der Fürsorge“.37 Die Arbeit gehört nur bedingt zum Forschungsstand der vorliegenden Arbeit, da die Untersuchung des Medienbildes orientalischer Minderheiten formal als Teil der Inlandsberichterstattung eingestuft werden muß und hier eine eigenständige Untersuchungsgattung darstellt. Allerdings sind Beiträge mit entsprechenden Rückbezügen auf die Türkei, sogenannte foreign news at home, auch in die
quantitative Analyse der vorliegenden Arbeit eingegangen.38
Ungeachtet der Präsenz, die das Thema „Islam“ in der westlichen öffentlichen
Meinung seit der Iranischen Revolution von 1978/79 hat, existiert nur eine quantitative Inhaltsanalyse über die Islamberichterstattung der deutschen Presse, und zwar
die Arbeit von Detlef Thofern über das Islambild des Nachrichtenmagazins Der
32 Siegfried Quandt, Die Darstellung der Türkei, der Türken und Kurden in deutschen Massenmedien.
Die Berichterstattung der Printmedien und Fernsehsender im März/April 1995, Gießen 1995.
33 Ebenda, S. 11.
34 Ebenda, S. 13.
35 Ebenda, S. 14 f.
36 Orhan Gökce, Das Bild der Türken in der deutschen Presse. Eine Inhaltsanalyse der Berichterstattung zum Besuch des türkischen Ministerpräsidenten Turgut Özal im Herbst 1984 in der Bundesrepublik Deutschland, Gießen 1988.
37 Ebenda, S. 183.
38 Eine der wenigen medienhistorischen Arbeiten im Bereich der Nahost- und Islambildforschung ist
die Untersuchung des Türkeibildes in der Presse der Weimarer Republik von Alexander Refflinghaus. Sie zeigt die damals verbreitete Sympathie mit der Befreiungsbewegung um Kemal Atatürk
auf, die auf dessen Widerstand gegen die im Vertrag von Sèvres 1920 von Sultan Mehmet VI. unterzeichneten Friedensbedingungen sowie auf der Erinnerung an die deutsch-türkische Militärallianz des Ersten Weltkrieges zurückzuführen war. Auch im damaligen Informationssystem konnten
nicht-konforme Nachrichten über die „Armeniergreuel“ nicht gänzlich zurückgehalten werden; die
politische Orientierung der Meinungs- und Parteipresse wurde von diesen Nachrichten jedoch nicht
beeinflußt. Alexander Refflinghaus, Das Türkeibild im Deutschland der Weimarer Zeit, Magisterarbeit Universität Bochum 1993 (ohne Fachbereichsangabe).
16
Spiegel.39 Das Hauptergebnis besteht in der Feststellung, daß die Islamthematik nach
der Iranischen Revolution in den Medien eine erheblich gestiegene Beachtung erfuhr, da hier der Islam als „politischer Islam“ in Erscheinung trat, was gleichzeitig
einer Wahrnehmung des Islam als „rückständig“, „extremistisch“ und „fortschrittsfeindlich“ Vorschub leistete.40 Das Verdienst der Arbeit besteht in einer empirischen
Bestätigung eines Sachverhaltes, der bis dahin lediglich vermutet werden konnte,
wobei Thofern die Erkenntnismöglichkeiten quantitativer und qualitativer Untersuchungen bei weitem nicht ausschöpft. Er beschränkt seine Untersuchung auf ein
einziges Medium, das, wenngleich als Meinungsführer einflußreich, eine Reihe redaktioneller Eigenheiten aufweist, die weder inhaltlich noch formal repräsentativ für
die deutsche überregionale Presse sind. Thofern untersucht zudem allein Beachtungsgrade der Islamthematik und verzichtet auf kombinierte Untersuchungen von
Handlungsträgern, Informationsquellen usw. Die qualitative Inhaltsanalyse schließlich beschränkt sich auf eine lexikalische Wortsuche ohne weiterführende Diskussion
im Kontext orient- oder medienwissenschaftlicher Erkenntnisse.41
Das Medienverhalten in Kriegen ist ein bevorzugtes Untersuchungsobjekt, erkennbar etwa an der großen Aufmerksamkeit, die den Kriegen im ArabischIsraelischen Konflikt zuteil geworden ist. In einem Mißverhältnis zum Interesse an
Kriegen steht im Bereich der Erforschung des Nahost- und Islambildes allerdings die
Tatsache, daß theoretisch orientierte Studien, die – etwa nach den klassischen Kriterien W. Phillips Davisons für mediale Friedensvermittlung (vgl. Kap. 3.2.4.4.2) –
Leistungen und Defizite der Konfliktkommunikation untersuchen, fehlen. Untersuchungen zum Golfkrieg von 1991 haben theoretische Defizite umindest auf zwei
Gebieten zu kompensieren versucht: a) Realität und Virtualität der Nachrichtenübermittlung und b) politische Kontrolle und Desinformation der Medien.
Paul Virilio hat darauf hingewiesen, daß die Medienübertragung in „Echtzeit“
durch die elektronischen Medien (CNN) eine qualitative Veränderung der Krisenkommunikation beinhaltete, da durch das Fehlen eines zeitlichen Abstandes zwischen Nachrichtengeschehen und Informationsempfang den Medien die Zeit zur
kritischen Reflexion fehlte.42 Mehr als dies hat die Wissenschaft der Widerspruch
zwischen Echtzeit-Live-Übertragungen und mangelnder Authentizität des Übertragenen beschäftigt, denn ungeachtet der scheinbaren Informiertheit in Wort und Bild
wurden keine Bilder von den – wie man heute schätzt weit über 100 000 – Opfern
39 Detlef Thofern, Darstellungen des Islams in DER SPIEGEL. Eine inhaltsanalytische Untersuchung
über Themen und Bilder der Berichterstattung von 1950 bis 1989, Hamburg 1998.
40 Ebenda, S. 49-94.
41 Eine empirische Untersuchung von Anne Hoffmann hat sich der publizistischen Kontroverse um die
Trägerin des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 1995, die Orientalistin Annemarie Schimmel, angenommen, die zugleich eine Diskussion über den Fall Salman Rushdie und über den
Zusammenhang zwischen Islam und Menschenrechten war. Anne Hoffmann, Der Islam in den Medien – alte Vorurteile, neues Feindbild? Untersuchung der publizistischen Auseinandersetzung um
die Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels an Annemarie Schimmel 1995, Diplomarbeit im Studiengang Journalistik, Katholische Universität Eichstätt 1998.
42 Paul Virilio, Krieg und Fernsehen, München/Wien 1991.
17
des Krieges übermittelt.43 Der Golfkrieg fiel zeitlich mit der Mediendebatte über den
radikalen Konstruktivismus zusammen und zeigte deutlich die Problematik der Diskussion auf: Wenn die Konstruktion von Medienbildern als Teil einer ohnehin beliebigen Konstruktion der Realität im Zuge jeder Form menschlicher Wahrnehmung
betrachtet wurde, dann mußte sich auch die Ausblendung der Opfer aus den Medienberichten über den Golfkrieg, einschließlich der möglichen kriegsfördernden Wirkung einer solchen Berichterstattung, der Medienkritik entziehen. Die Gegner des
radikalen Konstruktivismus konnten hingegen argumentieren, daß sich durch den
Golfkrieg die Frage nach dem Realitätsgehalt der Medien neu und stärker als jemals
zuvor in der Medienforschung stellte.
Umfangreiche (zumeist soziopsychologisch orientierte; s.u.) Untersuchungen
wurden in diesem Zusammenhang insbesondere zum Gegnerbild deutscher Medien
im Golfkrieg durchgeführt. Gemäß Christina Ohde zeichneten überregionale Zeitungen wie Die Welt, die Süddeutsche Zeitung und die Frankfurter Allgemeine Zeitung
ein Feindbild von Saddam Hussein als Fanatiker und Machtmensch mit starken Ähnlichkeiten zu Adolf Hitler; die Frankfurter Rundschau und die tageszeitung hingegen nahmen eine kritische Distanz gegenüber beiden Kriegsparteien ein und neigten
weniger zur Konstruktion von Feindbildern.44 Wilhelm Kempf und Ute Palmbach
bemerkten Veränderungen im Gegnerbild im Vergleich der Darstellung des ersten
Golfkrieges (des Iran-Irak-Krieges 1980-88) mit dem zweiten Golfkrieg (1991),
wobei beispielsweise die Verfolgung der Kurden durch den irakischen Staat von den
meisten deutschen Pressemedien erst im Zusammenhang mit dem zweiten Krieg und
der Konfrontation des Irak mit der westlichen Allianz Beachtung fand, während die
weitaus größere Zahl kurdischer Opfer im ersten Krieg, als der Irak Bündnispartner
des Westens gegen Iran war, kaum zur Kenntnis genommen wurde.45 Auch die Personalisierung der Konfliktberichterstattung war im zweiten Krieg ausgeprägter als im
ersten.46
43 Peter Ludes/Georg Schütte, Militärische Optik. Die Invasion Kuwaits und der Krieg gegen den Irak
in „Tagesschau“ und „heute“, in: medium 21 (1991) 2, S. 24-26.
44 Christina Ohde, Der Irre von Bagdad. Zur Konstruktion von Feindbildern in überregionalen deutschen Tageszeitungen während der Golfkrise 1990/91, Frankfurt u.a. 1994, S. 221-226; vgl. a. Tyrannen, Aggressoren, Psychopathen. Deutsche Tageszeitungen und ihre Feindbilder, Studiengruppe
InterKom, in: Martin Löffelholz (Hrsg.), Krieg als Medienereignis. Grundlagen und Perspektiven
der Krisenkommunikation, Opladen 1993, S. 109-126. Stark ideologische Züge sind früher bereits
in der Berichterstattung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung über den Afghanistankrieg nachgewiesen worden. Bärbel Röben, Der Ideologiegehalt der Medienrealität. Dargestellt am Beispiel der
Chile- und Afghanistan-Berichterstattung in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (F.A.Z.) und im
„Neuen Deutschland“ (N.D.), Münster 1985.
45 Wilhelm Kempf/Ute Palmbach, Sozial-psychologische Konstruktion massenmedialer Einflußnahme, in: Wilhelm Kempf (Hrsg.), Manipulierte Wirklichkeiten. Medienpsychologische Untersuchungen der bundesdeutschen Presseberichterstattung im Golfkrieg, Münster/Hamburg 1994, S. 28-46;
vgl. a. die Darstellung in Kapitel 5.2.1.6.
46 Ute Palmbach/Wilhelm Kempf, Die Konstruktion des Feindbildes Saddam, in: Wilhelm Kempf
(Hrsg.), Manipulierte Wirklichkeiten. Medienpsychologische Untersuchungen der bundesdeutschen
Presseberichterstattung im Golfkrieg, Münster/Hamburg 1994, S. 58-81.
18
Diese Ergebnisse werfen eine Reihe von Folgefragen auf, die in der vorliegenden
Untersuchung aufgegriffen und im Vergleich mit anderen Fällen der Konfliktberichterstattung beantwortet werden sollen, um zu Schlußfolgerungen mit einem höheren
Verallgemeinerungsgrad zu gelangen. Lassen sich beispielsweise die festgestellten
politisch-weltanschaulichen Richtungsunterschiede als Konstante der Konfliktberichterstattung auch in anderen Bereichen des Nahost- und Islambildes beschreiben,
und läßt sich die Zweiteilung in eine distanziert-kritische linke und linksliberale
Publizistik und eine ideologisch motivierte liberale und konservative Presse in anderen Konfliktsituationen bestätigen? Ist die Befähigung zu einer unabhängigen Krisen-, Konflikt- und Kriegsberichterstattung ein autonomer Entscheidungsprozeß des
einzelnen Mediums als Teil des Mediensystems, und welche Rolle spielt die Interaktion zwischen Medien und politischem System?
Politischer Einfluß und militärische Desinformation der Medien bilden den zweiten Schwerpunkt der vorhandenen Untersuchungen über den Golfkrieg, wobei allerdings größere empirische Studien über die Entstehung von Informationen, die Arbeit
staatlicher Öffentlichkeitsarbeit, den Weitertransport der Information durch die
Nachrichtenagenturen bis hin zur Darstellung in den Medien fehlen. Hansjürgen
Koschwitz hat in bezug auf die amerikanische Öffentlichkeitsarbeit aufzeigen können, daß dort in den frühen Phasen der Golfkrise keine einheitliche Linie verfolgt
wurde und daß der zum Teil gestörte Informationsaustausch zwischen politischem
System und Medien dazu beitrug, daß die amerikanische Abschreckungspolitik versagte.47 Größere Aufmerksamkeit erzielte in der Wissenschaft die Phase des Krieges
selbst, in der Nachrichten insbesondere vom Informationspool der Allierten in Dhahran (Saudi-Arabien) in hohem Maß gesteuert wurden.48
Neben den größeren empirischen Untersuchungen sind Beiträge zu unterschiedlichen Themen veröffentlicht worden, die sich zwar auf eine hochselektive Quellenbasis stützen, dennoch der Hypothesenbildung dienlich sein können:
• Bild der Frauen im Islam: Während die wissenschaftliche Beschäftigung mit der
Auslandsberichterstattung im allgemeinen noch zu wenig spezialisiert ist, um die
Darstellung einzelner Gesellschaftsgruppen zu thematisieren (und darüber hinaus
zahlreiche Organisationen und Gruppen in deutschen Medien nur marginal in Erscheinung treten; vgl. Kap. 5.2.2.5), sind Frauen in der islamischen Welt von dieser Regel ausgenommen. Arzu Toker, Saba Amanuel, Irmgard Pinn und Marlies
Wehner argumentieren, daß türkisch-muslimische Einwanderinnen wie auch
Frauen in der islamischen Welt in deutschen Medien überwiegend als Opfer und
Objekt der Unterdrückung religiös-patriarchalischer Gesellschaftsnormen betrachtet werden.49 Dies ist insofern problematisch, als zwar sowohl das orthodoxe
47 Hansjürgen Koschwitz, Das Versagen der Abschreckung im Golfkonflikt – ein Lehrstück in
„öffentlicher Diplomatie“, in: Publizistik 37 (1992) 3, S. 331-345.
48 Heimo Schwilk, Was man uns verschwieg. Der Golfkrieg in der Zensur, Frankfurt/Berlin 1991.
49 Arzu Toker, Italienische Sexbomben, türkische Kopftuchfrauen und andere Exotinnen: Migrantinnen im deutschen Fernsehen, in: Bärbel Röben/Cornelia Wilß (Hrsg.), Verwaschen und verschwommen: Fremde Frauenwelten in den Medien/Dritte-Welt-JournalistInnen-Netz, Frankfurt
1996, S. 29-46; Saba Amanuel, Frauenfeind Islam? Wie die Frauenzeitschrift Brigitte an Klischees
19
islamische Recht, samt seiner Einflüsse auf das öffentliche Recht, als auch das informelle Frauenbild der sunnitischen wie schiitischen Orthodoxie eine Ungleichstellung von Mann und Frau in vielen Bereichen festschreiben, solche Auslegungen jedoch nicht in allen muslimischen Staaten gleichermaßen gegeben sind.
Frauen sind zudem selbst aktive Konservative oder islamische Fundamentalistinnen, oder aber sie sind emanzipatorisch orientiert, so daß eine Sichtweise von
Frauen als passiven Objekten der Unterdrückung ihrer sozialen Stellung nicht
entspricht.
• Rassismus in den Medien: Ein eigenständiger Forschungsgegenstand ist das Medienbild orientalischer und/oder islamischer Minderheiten in Deutschland (s.o.
Gökce). In verschiedenen Beiträgen ist deutschen Medien eine Tendenz zu antiislamischem Rassismus (bzw. Kulturalismus oder „Kultur-Rassismus“), also eine
ablehnende oder feindliche Haltung gegenüber Muslimen auf Grund ihrer Zugehörigkeit zum Islam und eine Behinderung des Dialogs zwischen Muslimen und
Nicht-Muslimen in Deutschland attestiert worden.50 Es fehlen bisher allerdings
größere empirische Untersuchungen über die Darstellung ethnisch-religiöser
Minderheiten, in denen mögliche unterschiedliche Wahrnehmungen der Ausländer (als Muslime, Türken, Italiener usw.) erfaßt werden.51
• Länderbilder der Presse: Neben den bereits erwähnten umfangreicheren Studien
über die Israel- oder Afghanistan-Berichterstattung der deutschen Presse liegen
kleinere Untersuchungen auch über das Algerienbild vor. Boukhari Hammana hat
die These formuliert, die deutsche Presse sei während des algerischen Bürgerkriegs (1958-64) überwiegend indifferent gegenüber dem algerischen Befreiungskampf und transparent für propagandistische Nachrichtendarstellungen
Frankreichs gewesen.52 Hammanas Bemerkungen weisen auf den Komplex der
Informationsquellen der deutschen Berichterstattung über Nordafrika und den
Nahen und Mittleren Osten, der bisher noch nicht untersucht worden ist. Hinsichtlich des Algerienbildes der Gegenwart ist von Kamal El Korso eine man-
weiterstrickt, in: ebenda, S. 95-108; Irmgard Pinn/Marlies Wehner, Das Bild der islamischen Frau
in westlichen Medien, in: Der Diskurs des Rassismus. Ergebnisse des DISS-Kolloquiums November
1991, Themenheft der Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie (OBST), 46 (1992) 3, S. 179-193.
50 Iman Attia, Antiislamischer Rassismus, Stereotype − Erfahrungen − Machtverhältnisse, in: Siegfried Jäger (Hrsg.), Aus der Werkstatt: Anti-rassistische Praxen. Konzepte − Erfahrungen − Forschung, Duisburg 1994, S. 210-228; Irmgard Pinn, Muslimische Migranten und Migrantinnen in
deutschen Medien, in: Gabriele Cleve/Ina Ruth/Ernst Schulte-Holtey/Frank Wichert (Hrsg.), Wissenschaft-Macht-Politik. Interventionen in aktuelle gesellschaftliche Diskurse, Münster 1997,
S. 215-234; dies., Right-Wing Movements; Riza Baran, Feindbild Islam. Wie Medien und Politik
am selben Bild stricken, in: Die Brücke 96 (1997) 4, S. 35-37.
51 Kai Hafez, Antisemitismus, Philosemitismus und Islamfeindlichkeit: ein Vergleich ethnischreligiöser Medienbilder, in: Christoph Butterwegge/Gudrun Hentges/Fatma Sarigöz (Hrsg.), Medien
und multikulturelle Gesellschaft, Opladen 1999, S. 122-135.
52 Boukhari Hammana, L’opinion publique ouest-allemande face à la Révolution Algérienne, in:
Politiques internationales et relations bilatérales. Actes du Colloque algéro-allemand organisé par le
Centre National d’Etudes Historiques et Deutsches Orient-Institut du 8 au 10 février 1988 à Haus
Rissen, Hamburg, Hrsg. Deutsches Orient-Institut/Ursel Clausen, Hamburg 1989, S. 16-25.
20
gelnde Balance der Themenhaushalte und eine Beschränkung der Berichterstattung auf wenige politische Ereignisse konzediert worden.53
4.1.2 Theoretische Orientierungen
Bei der wissenschaftlichen Erörterung des Nahost- und Islambildes in deutschen
Medien sind eine Reihe theoretischer Orientierungen erkennbar, die gleichwohl
lediglich einen kleinen Teil des nutzbaren theoretischen Instrumentariums im Bereich der Auslandsberichterstattung darstellen. Auffällig ist das weitgehende Fehlen
von kombinierten Ansätzen zu Strukturen, Ursachen und Wirkungen von Medieninhalten und eine nahezu vollständige Konzentration auf strukturelle Textanalysen,
wobei in Medientexten bestimmte Formationen nachgewiesen werden (Feindbilder,
Stereotype, Symbole usw.), deren Entstehungsprozesse jedoch nicht oder nur im
Ansatz theoretisch gedeutet werden, so daß die Frage der Bedingungen, unter denen
bestimmte Textformationen des Nahost- und Islambildes zustande kommen, unbeantwortet bleibt. Soziopsychologische Annahmen über eine gesellschaftliche Determiniertheit von Stereotypen und Feindbildern sind kein Ersatz für eine Entstehungstheorie der medialen Konstruktion von Auslandsbildern. Die bisherigen Untersuchungen lassen sich überwiegend auf der Ebene der Strukturanalyse von Medienbildern und -diskursen (Kap. 3.2.1) nutzen:
• soziopsychologisch orientierte Untersuchungen: In dem von Verena Klemm und
Karin Hörner herausgegebenen Sammelband zur Kritik der Arbeit des Fernsehjournalisten Peter Scholl-Latour werden Stereotypen- und Feindbildansätze in
konzentrierter Form angewandt. Das Islambild Scholl-Latours ist demnach etwa
ein Spiegelbild des gesellschaftlichen Selbstbildes vom „aufgeklärten“ Westen;
die Stigmatisierung des Gegenüber dient der Projektion rassistischer Vorurteile;
die Feindbildkonstruktion erfolgt in der Nachfolge des Ost-West-Konflikts.54
Andrea Lueg hat darauf hingewiesen, daß die Vorstellung von Gewaltsamkeit, Irrationalität und Fanatismus des Islam und der Überlegenheit des Westens das
„Feindbild Islam“ als integralen Bestandteil des strukturähnlichen Feindbildes
„Dritte Welt“ ausweist.55 Auch der Schwerpunkt des Tübinger Medienprojekts
„Der Islam in den Medien“56 liegt im Bereich der Soziopsychologie und Feind53 Kamal El Korso, L’Algérie et la presse allemande − une vue ou une image?, in: Imagologie/Interculturalité et Didactique 1/1998, S. 15-27.
54 Vgl. u.a. Karin Hörner, Der Begriff Feindbild: Ursachen und Abwehr, in: Verena Klemm/Karin
Hörner (Hrsg.), Das Schwert des „Experten“. Peter Scholl-Latours verzerrtes Araber- und Islambild,
Mit einem Vorwort von Heinz Halm, Heidelberg 1993, S. 34-43; Kappert, Peter Scholl-Latour und
das „Reich des Bösen“, S. 129-142.
55 Andrea Lueg, Das Feindbild Islam in der westlichen Öffentlichkeit, in: Jochen Hippler/Andrea Lueg
(Hrsg.), Feindbild Islam, Hamburg 1993, S. 14-43.
56 Der Islam in den Medien, Hrsg. Medienprojekt Tübinger Religionswissenschaft, Gütersloh 1994;
vgl. a. die Kurzdarstellung vieler Ergebnisse der Tübinger Studie: Silvia Kuske, Von Tausendundeiner Nacht zu Tausendundeiner Angst: der Islam in den Medien, in: Christoph Jahr/Uwe
Mai/Kathrin Rotter (Hrsg.), Feindbilder in der deutschen Geschichte. Studien zur Vorurteilsge-
21
bildforschung.57 Die vergleichende Metaphernanalyse von Jutta Bernard, Claudia
Gronauer und Natalie Kuczera hat gezeigt, daß trotz bestehender Gemeinsamkeiten zwischen Wahrnehmungen des Islam und Wahrnehmungsmustern des OstWest-Konflikts (Naturkatastrophen-Metaphern, Geschichtsmetaphern usw.) zwischen den Bildgattungen eine Umordnung von Technik- und rassistischen Metaphern stattfindet.58
Eine differenzierte soziopsychologische Untersuchung ist das Resultat
der – insgesamt seltenen – Beschäftigung der Fachwissenschaft mit der Nah- und
Mittelostregion, in Form der Projektgruppe Friedensforschung der Soziopsychologie der Universität Konstanz anläßlich des Golfkriegs von 1991. In den untersuchten Pressetexten, so Wilhelm Kempf und Michael Reimann, waren neben
Feindbildern auch neutrale Beschreibungen der irakischen Führung und Saddam
Husseins nachweisbar, was von den Autoren als Vorwegnahme von Gegenargumenten im Rahmen eines nachhaltig propagandistisch beeinflußten Medienbildes
gedeutet wird. Neben dem Gegnerbild spielt zudem das Selbstbild der Anti-IrakAllianz, insbesondere von sogenannten „wertvollen Opfern“ (worthy victims; z.B.
abgeschossene alliierte Soldaten) eine größere Rolle als in der Gegnerbildforschung zuweilen angenommen worden ist.59 In dem Überhang von Feindbilduntersuchungen zum Golfkrieg spiegelt sich die Annahme und Erkenntnis wider,
daß dem „Feindbild in einer Kriegssituation mehr Aufmerksamkeit als dem
Freundbild geschenkt wird.“60
• diskurstheoretisch orientierte Untersuchungen: Diskurstheoretisch orientierte
Arbeiten haben sich auf die Herausarbeitung von sogenannten „Kollektivsymbolen“ konzentriert, etwa „Feuer“ als Metapher für die Re-Islamisierung und „Feuerwehr“ als Bezeichnung für die hochtechnologisch gerüstete Armee der Golfkriegsallianz. Ute Gerhard und Jürgen Link gehen davon aus, daß erst durch solche Kollektivsymbole eine mediengerechte Darstellung politischer Aussagen erfolgt.61 Als Fundgrube für eine derartige Verwendung von Sprachsymbolik in den
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58
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60
61
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schichte im 19. und 20. Jahrhundert, Berlin 1994, S. 251-279; vgl. a. Kai Hafez, Rezension zu: Der
Islam in den Medien, Hrsg. Medienprojekt Tübinger Religionswissenschaft, Gütersloh 1994, in:
Orient 37 (1996) 2, S. 343-344.
Hubert Mohr, Gesellschaftliche Bildproduktion und Religion I. Fremdzeichenrepertoire und Symbolkonflikte, in: Der Islam in den Medien, Hrsg. Medienprojekt Tübinger Religionswissenschaft,
Gütersloh 1994, S. 30-46; Silvia Kurre, Gesellschaftliche Bildproduktion und Religion II. Wirkungszusammenhänge sozialer Vorstellungsbilder, in: ebenda, S. 47-61.
Jutta Bernard/Claudia Gronauer/Natalie Kuczera, Auf der Suche nach einem neuen Feindbild. Eine
vergleichende Metaphernanalyse zu Kommunismus und Islam, in: ebenda, S. 198-207.
Wilhelm Kempf/Michael Reimann, Die Berichterstattung über alliierte Kriegsgefangene, in: Wilhelm Kempf (Hrsg.), Manipulierte Wirklichkeiten. Medienpsychologische Untersuchungen der
bundesdeutschen Presseberichterstattung im Golfkrieg, Münster/Hamburg 1994, S. 82-101.
Tyrannen, Aggressoren, Psychopathen (Studiengruppe InterKom), S. 126.
Ute Gerhard/Jürgen Link, Der Orient im Mediendiskurs − aktuelle Feindbilder und Kollektivsymbolik, in: Michael Lüders (Hrsg.), Der Islam im Aufbruch? Perspektiven der arabischen Welt, München/Zürich 1993 (2. Aufl.), S. 277-297; vgl. a. Thomas Kliche/Suzanne Adam/Helge Jannink,
„Bedroht uns der Islam?“ Die Konstruktion eines „postmodernen“ Feindbildes am Beispiel Algerien
Medien erwiesen sich ebenfalls die Arbeiten von Peter Scholl-Latour, deren Metaphorik als Beleg für den Kulturalismus62 oder eine Form des Fundamentalismus63 des Autors gewertet wird. Die „Hamburger“ Strömung der soziopsychologischen Islambildanalyse und die „Duisburg-Dortmunder“ diskurstheoretisch gestützte Kritik der Islamberichterstattung operieren mit unterschiedlichen Begrifflichkeiten, ohne sich deshalb in jedem Fall substantiell voneinander zu unterscheiden.64
• psychoanalytisch orientierte Untersuchungen: Eine kleinere Zahl von Untersuchungen hat sich mit dem Nahost- und Islambild der deutschen Medien und Öffentlichkeit aus psychoanalytischer Perspektive beschäftigt. Hier werden Medientexte daraufhin untersucht, ob sie Hinweise auf traumatisierende „Kindheitserlebnisse“ aufweisen, d.h. im übertragenen Sinn Hinweise auf kulturelle und sozial
geteilte historische Erlebnisse, die die inhaltliche Ausgestaltung der Auslandsberichterstattung beeinflussen. Das Auslandsbild der Medien kann dann als Reaktion auf im kollektiven Unterbewußten oder im sozialen Gedächtnis gespeicherte
und abrufbare Ängste („Es“) oder Schuldgefühle („Über-Ich“) gedeutet werden;
die Medien selbst sind Artikulationsforen der unbewußten Handlungsmatrix einer
Gesellschaft, die im Kontakt mit anderen Völkern, Ethnien, Nationen, Religionen
oder Staaten entstanden ist bzw. durch mit diesen Bezugsgrößen in Verbindung
stehende Symbole ausgelöst wird. In den siebziger Jahren wurde insbesondere
der Zusammenhang zwischen deutscher Berichterstattung über den Nahostkonflikt und deutscher Holocaust-Vergangenheit psychoanalytisch gedeutet (Friedemann Büttner)65 (vgl. a. Kap. 6.1.2.1); in jüngerer Zeit stehen „ethnopsychoanalytische“ Deutungen des Islambildes im Vordergrund, wobei die Frage gestellt wird, inwieweit historische staatliche und kulturelle Begegnungen mit der
islamischen Welt („die Türken vor Wien“) in die Islamdarstellung einfließen.66
• Medienwirkungsforschung: Eine Ausnahme theorieförmiger Untersuchung
stammt von Hans Mathias Kepplinger und Mathias Roth. Die Autoren haben anläßlich der Erdölkrisen von 1973 und von 1978/79 die deutsche Presseberichterstattung mit der demographisch erfaßten öffentlichen Meinung verglichen und
dabei insbesondere die Wirkung der Auslandsberichterstattung auf gesellschaftli-
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65
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in zwei exemplarischen Diskursanalysen, Hamburger Forschungsberichte aus dem Arbeitsbereich
Sozialpsychologie, Psychologisches Institut I der Universität Hamburg 19/1997.
Georg Auernheimer, Die unausweichliche welthistorische Konfrontation. Peter Scholl-Latours
Fernsehserie „Das Schwert des Islam“, in: Siegfried Jäger/Jürgen Link (Hrsg.), Die vierte Gewalt.
Rassismus und die Medien, Duisburg 1993, S. 267-284.
Thomas Höhne, Der Fremde ist kein Feind – er ist nur anders. Zu Islam, Diskurs und den Ansichten
des Fundamentalisten Peter Scholl-Latour, in: kultuRRevolution 31 (1995) 4, S. 74-79.
Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang etwa, daß der Beitrag von Auernheimer (s.o.) auch in
dem Sammelband „Das Schwert des ‘Experten’„ von Klemm und Hörner abgedruckt worden ist.
Friedemann Büttner, German Perceptions of the Middle East Conflict: Images and Identifications
during the 1967 War, in: Journal of Palestine Studies 6 (1977) 2, S. 66-81.
Peter A. Menzel, Psychoanalytisch-tiefenhermeneutische Analyse kultureller Objektivationen am
Beispiel des Dokumentarfilms „Den Gottlosen die Hölle. Der Islam im zerfallenden Sowjetreich“,
in: Der Islam in den Medien, Hrsg. Medienprojekt Tübinger Religionswissenschaft, Gütersloh 1994,
S. 95-110.
23
che Handlungen untersucht.67 Folgt man den Autoren, so war die Wirkung der
Berichterstattung 1973 größer als die ökonomischen Wirkfaktoren selbst, denn
ungeachtet der Tatsache, daß eine Ölverknappung in der Bundesrepublik
Deutschland real nicht stattfand, erzeugten Medien ein subjektives Krisenbefinden, das seinerseits „Hamsterkäufe“ begünstigte und auf diese Weise einer realen
„Ölkrise“ Vorschub leistete. Die Studien von Kepplinger und Roth verweisen auf
integrierte Medienbild-Öffentlichkeits-Studien als eine weitgehende Leerstelle
der Forschung.68
4.1.3 Fächer- und Disziplinenverankerung
Was die Fächer- und Disziplinenverankerung der Forschung betrifft, haben insbesondere die Arbeiten von Gernot Rotter, Verena Klemm und Karin Hörner das Vordringen der Medienkritik in die Orientwissenschaft signalisiert. Ausgelöst durch
Heinz Halm, den Tübinger Professor der Islamwissenschaft, der zunächst in einem
Zeitungsartikel während des Golfkriegs von 1991 und anschließend in einer FernsehTalkshow insbesondere Gerhard Konzelmann und Peter Scholl-Latour des Sensationsjournalismus bezichtigte,69 und durch den Plagiatsprozeß Gernot Rotters gegen
Konzelmann70 entstanden sowohl bei der Hamburger Islamwissenschaft als auch bei
der Tübinger Religionswissenschaft (s.u.) medienkritische Sammlungsbewegungen
von Lehrkräften und Studenten. Im Vordergrund stand eine Kritik der Arbeit einzel67 Hans Mathias Kepplinger/Herbert Roth, Creating the Crisis: German Mass Media and Oil Supply in
1973-74, in: Public Opinion Quarterly 43 (1979) 2, S. 285-296; Hans Mathias Kepplinger, German
Media and Oil Supply in 1978 and 1979, in: Nelson Smith/Leonard J. Theberge (Hrsg.), Energy
Coverage – Media Panic. An International Perspective, New York/London 1983, S. 22-49. Zu den
Untersuchungen von Kepplinger und Roth vgl. a. Kap. 6.2.2.1.
68 Bisher existieren kaum demographische Daten zur öffentlichen Rezeption des Islam. In einer nichtrepräsentativen Umfrage zeigte die Mehrzahl der Befragten negative Einstellungen zum Islam (KarlPeter Gietz/Claudia Haydt/Natalie Kuczera, Das Bild des Islam auf der Straße. Versuch einer Rezeptionsanalyse, in: Der Islam in den Medien, Hrsg. Medienprojekt Tübinger Religionswissenschaft, Gütersloh 1994, S. 170-183; vgl. a. Kap. 5.2.1.2). Eine Studie von Wilhelm Kempf und Michael Reimann zur Auswirkung von Medienkonsum während des Golfkriegs von 1991 kommt zu
dem Schluß, die Medien hätten zur Demoralisierung der Anti-Kriegsbewegung beigetragen, deren
Zenit bei Ausbruch des Krieges bereits überschritten war. Die Autoren liefern jedoch letztlich keinen Beweis für ihre These, neben der allgemeinen Enttäuschung über das Nichterreichen der Friedensziele seien es die Medien gewesen, die die Friedensbewegung zum Abklingen gebracht hätten,
da sie eine Glaubwürdigkeitskrise und Einstellungsänderungen in der Friedensbewegung bewirkt
hätten. Gerade dieser Einstellungswandel wird aber lediglich vermutet und durch die Untersuchung
nicht ermittelt, da hier nur nach dem Medienkonsum während des Krieges, nicht aber nach Meinungsänderungen gefragt worden ist. Wilhelm Kempf/Michael Reimann, Informationsbedürfnis und
Mediengebrauch während des Golfkrieges, in: Wilhelm Kempf (Hrsg.), Manipulierte Wirklichkeiten. Medienpsychologische Untersuchungen der bundesdeutschen Presseberichterstattung im Golfkrieg, Münster/Hamburg 1994, S. 47-57.
69 Heinz Halm, Die Panikmacher. Wie im Westen der Islam zum neuen Feindbild aufgebaut wird, SZ
16/17.2.1991.
70 Gernot Rotter, Allahs Plagiator. Die publizistischen Raubzüge des „Nahostexperten“ Gerhard
Konzelmann, Heidelberg 1992.
24
ner Auslandskorrespondenten, die sich zu einer generellen Kritik des Nahost- und
Islambildes deutscher Massenmedien entwickelte, da diese Journalisten jahrzehntelang eine zentrale Meinungsführerrolle in Journalismus und Öffentlichkeit innehatten.71 Ein wesentlicher Aspekt dieser Rolle bestand in ihrem gleichzeitigen Wirken
auf verschiedenen Medienmärkten, im Fernsehen ebenso wie auf dem Buchmarkt,
wodurch synergetisch Bedarfsstrukturen beim Publikum erzeugt wurden und den
Journalisten ein über ihre Profession hinausreichender informeller „Expertenstatus“
zukam.72
Für die gegenwartsbezogene Orient- und Islamwissenschaft von Bedeutung war,
daß in dieser Medienkritik zwei Entwicklungsstränge zusammentrafen, die im Umfeld der Iranischen Revolution von 1978/79 gemeinsam entstanden waren, sich allerdings in den achtziger Jahren weitgehend isoliert entwickelt hatten: die Debatte in
den Medien und in der Wissenschaft über den islamischen Fundamentalismus. Während im Wissenschaftsdiskurs die Frage, ob eine wie immer geartete Verbindung von
Politik und religiösem Denken und Symbolen als Ausdruck einer gesellschaftlichen
Stagnation und Rückentwicklung oder aber als Katalysator für den endgültigen
Durchbruch der Moderne zu deuten war, nicht einheitlich beantwortet wurde, wurde
– so die These derer, die von der Existenz eines „Feindbildes Islam“ in den Medien
sprachen – in weiten Teilen der allgemeinen Medien und der breiten Öffentlichkeit
der Islam nahezu ausschließlich als Residuum einer traditionalistischen Defensivkultur dargestellt, die sich gegen die westlich vorgeprägte Säkularität des Staates und
gegen die Moderne richtete.73
Daß sich dieses Spannungsverhältnis zwischen Medien und Wissenschaft erst mit
13 Jahren Verspätung – während des Golfkrieges von 1991 statt bereits bei Ausbruch
der Iranischen Revolution 1978 – entlud, ist insofern ein interessantes Phänomen der
Forschungsentwicklung, als etwa im Fall des Nahostkonflikts Medienkritik jeweils
unmittelbar nach entsprechenden auslösenden Ereignissen zum Tragen kam (vgl. die
Arbeiten von Lewan, Musallam und Sonnenberg). Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Islambild deutscher Medien vor dem Golfkrieg war hingegen sporadisch und wurde getragen von einzelnen Autoren74 oder Veranstaltungen.75 Für die
71 Verena Klemm/Karin Hörner (Hrsg.), Das Schwert des „Experten“. Peter Scholl-Latours verzerrtes
Araber- und Islambild, Mit einem Vorwort von Heinz Halm, Heidelberg 1993; Kreuzer, Der elektronische Orientalismus, S. 219-240.
72 Kai Hafez/Karin Hörner/Verena Klemm, The Rise and Decline of Opinion Leaders: The Changing
Image of the Middle East and Islam in German Mass Media, in: Kai Hafez (Hrsg.), Islam and the
West in Mass Media. Fragmented Images in a Globalizing World, Cresskill, NJ 2000, S. 273-287.
73 Dorothee Bölke, Drei Mann in einem Boot: Der islamische Fundamentalismus bei Peter SchollLatour, Gerhard Konzelmann und Bassam Tibi, in: Verena Klemm/Karin Hörner (Hrsg.), Das
Schwert des „Experten“. Peter Scholl-Latours verzerrtes Araber- und Islambild, Mit einem Vorwort
von Heinz Halm, Heidelberg 1993, S. 200-228.
74 Erdmute Heller, Das Araberbild im Lichte der Berichterstattung deutscher Massenmedien, in: Karl
Laiser/Udo Steinbach (Hrsg.), Deutsch-arabische Beziehungen. Bestimmungsfaktoren und Probleme einer Neuorientierung, München/Wien 1981, S. 220-232; dies., Das Iran-Bild deutscher Illustrierten, z.B. „stern“, „Bunte“, „Quick“, in: medium 11 (1981) 7, S. 27-31; Heinrich von Nussbaum, Der Augenzeuge als Vollzugsorgan. Die iranische Revolution: ein elektronisch gesteuertes
25
Verzögerung in der Entwicklung wissenschaftlicher Medienkritik waren mehrere
Faktoren ausschlaggebend:
• Golfkrieg: Der Golfkrieg von 1991 war der erste Krieg mit westlicher Beteiligung nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, in dem kulturell und religiös gestützte Ideologien eine wichtige Rolle spielten. Trotz aller funktionaler Äquivalenzen zwischen Wahrnehmungsmustern des „Kommunismus“ und des Islam
fand hier sichtbar eine Problemverlagerung im Bereich der politischen Perzeption
statt. Der Golfkrieg wurde hierdurch nicht nur Auslöser einer in alle Bereiche der
Sozialwissenschaften hineinreichenden Kritik an der Kriegsberichterstattung der
Medien, sondern insbesondere in den teils den Sozialwissenschaften, teils den
Sprach- und Kulturwissenschaften zuzurechnenden Regionalwissenschaften Asiens, Afrikas und Lateinamerikas entstand eine neue Kultur der Medienkritik an
der Darstellung der außereuropäischen Welt. Die Medien wurden erstmals zum
Forschungsgegenstand erhoben, während ihre Leistungen zuvor überwiegend in
kleinen Wissenschaftsformen (Rezensionen usw.) thematisiert worden waren.
• Orientalismus-Kritik: Der Kritik der Wissenschaft an Medienberichterstattung
ging ein Jahrzehnt der kritischen Auseinandersetzung der Wissenschaft mit den
eigenen analytischen Grundlagen der Orientanalyse voraus, die von Edward
Saids 1978 erstmals veröffentlichtem Werk „Orientalism“ ausgelöst worden
war.76 Vereinfacht formuliert, mußte dem Versuch einer „Entkolonialisierung“
der Medien eine Phase des Versuchs einer „Entkolonialisierung“ der Wissenschaft vorausgehen,77 denn die Argumente gegen die Konstruktion des ausschließlich von Rückständigkeit, Gewalttätigkeit usw. geprägten Islambildes in
Wissenschaft und Medien waren im wesentlichen identisch (zumindest, solange
die Orientwissenschaft überwiegend eine Textkritik der Medien betrieb und nicht
zu den Entstehungsbedingungen der Textkonstruktion innerhalb und außerhalb
des Mediensystems vordrang; s.o.). Insofern leistet die Entwicklung der wissenschaftlichen Kritik des Nahost- und Islambildes der Medien keinem generellen
Antagonismus Medien/Wissenschaft Vorschub, sondern sie ist ein dynamischer
Prozeß der Vermittlung zwischen wissenschaftsinterner Kritik und wissenschaftlicher Medienkritik. Dies wird auch in der in den neunziger Jahren gewachsenen
Intra-Medienkritik deutlich, d.h. in medienkritischen Beiträgen in der Presse, die
von Wissenschaftlern, selbstkritischen Journalisten und unterstützenden Institutionen (z.B. der Gruppe Media-Watch der Heinrich-Böll-Stiftung in Zusammen-
Ornament der Masse, in: medium 10 (1980) 3, S. 21-23; Hadayatullah Hübsch, Die tödliche Gefahr
und wie man sie schafft, in: medium 10 (1980) 5, S. 5-8.
75 Der Islam in den Medien. Ein Symposium der Deutschen Welle, Köln 1991.
76 Edward W. Said, Orientalism, New York 1995 (Orig. 1978).
77 Vgl. auch die entsprechenden Hinweise des verstorbenen Professors der Islamwissenschaft, Albrecht Noth, anläßlich eines medienkritischen Symposiums der Deutschen Welle: Der Islam in den
Medien, S. 103-105.
26
arbeit mit dem Dritte-Welt-JournalistInnen-Netz oder dem Asienhaus in Essen)
formuliert worden sind.78
• Sozial- und kulturwissenschaftliche Fächerausrichtung: Die deutsche Orient-,
Nahost- und Islamforschung war lange Zeit vor allem philologisch und historisch
ausgerichtet und hat sich erst in den letzten Jahrzehnten den Sozialwissenschaften
wie dem Gegenwartsbezug geöffnet, was nicht allein durch die regionale Ausrichtung eines Teils der sozialwissenschaftlichen Lehrstühle und Forschungsprojekte, sondern auch durch Einbeziehung sozial- und kulturwissenschaftlicher
Elemente an den Fachbereichen für Orientalistik, Arabistik und Islamwissenschaft deutlich wird.79 Die Erforschung der zeitgenössischen Massenmedien
– sowohl hinsichtlich des Nahost- und Islambildes deutscher und westlicher Medien als auch hinsichtlich der Medienentwicklung in der islamischen Welt
– konnte erst im Zuge der multidisziplinären Öffnung der Nahostforschung gelingen. Darüber hinaus mußte die Konzentration der frühen gegenwartsbezogenen
Forschung in den siebziger und achtziger Jahren auf die sogenannten „harten“
Bereiche der Politikwissenschaft (Erforschung von Kriegen und Konflikten im
Nahen und Mittleren Osten sowie in Nordafrika, Entwicklung postkolonialer politischer Systeme, Ressourcen- und Wirtschaftskonflikte usw.) überwunden werden. Das sozialwissenschaftliche Repertoire erweitert sich langsam in Richtung
auf ein Medien-, Kommunikations- und Perzeptionsfragen integrierendes Wissenschaftsverständnis. Auch wenn die Textorientierung der bisherigen Medienforschung deutlich auf die philologischen Ursprünge der deutschen Orientforschung zurückweist, ordnen neuere Bestandsaufnahmen der Wissenschaftslandschaft die Medienforschung in den Bereich „Medien und Politik“ ein, was anzeigt, daß die Entwicklung sich langsam von der Sprach- und Kulturwissenschaft
auf die Politik- und Kommunikationswissenschaft ausweitet.80 In Zukunft werden
neue Fachsynthesen erforderlich sein, um den methodischen und theoretischen
Ansprüchen an die Erforschung des Nahost- und Islambildes deutscher Medien
zu genügen.81 Ein Vergleich mit der Wissenschaftslandschaft der USA, oder auch
78 Alexandra Senfft, Oh Gott, Scholl-Latour!, taz 19.6.1993; Sieg an der Propagandafront, Wochenpost 29.7.1993; Udo Steinbach, Der Koran kennt keine Schlagzeilen, SZ 24.4.1993; Boris Schumatsky, Wie Feindbilder entstehen, taz 17.9.1996; Das Schwert des Experten, in: Publizistik &
Kunst 4/1992; Joachim-Fritz Vannahme, Eine Art Angstlust beim Leser, DZ 23.7.1993; Kreuzzug
der Klichees gegen den Islam, Mit Kai Hafez sprach Urs Gehriger, Tages-Anzeiger 21.4.1999; „Heiliger Krieg“ gegen den Westen. Das Gewaltbild des Islam (Media Watch u.a.).
79 Vgl. die Darstellungen in: Hafez, Orientwissenschaft in der DDR, S. 121 ff.; ders./Gerhard Höpp,
Gegenwartsbezogene Orientwissenschaft in der DDR und in den neuen Bundesländern: Kontinuität
oder Neubeginn?, in: Wolf-Hagen Krauth/Ralf Wolz (Hrsg.), Wissenschaft und Wiedervereinigung.
Asien- und Afrikawissenschaften im Umbruch, Berlin 1998, S. 95-163.
80 Kultur- und sozialwissenschaftliche Forschung über die muslimische Welt in der Bundesrepublik
Deutschland, Hrsg. Arbeitskreis Moderne und Islam, Berlin/Deutsches Orient-Institut, Hamburg,
Redaktion Ekkehard Rudolph, Hamburg 1999, S. 101.
81 Kai Hafez, Der Islam in den Medien und die Paradigmen der Medienkritik. Anmerkungen zur
gesellschaftlichen Wirkung der Orientwissenschaft, in: Gerhard Höpp/Thomas Scheffler (Hrsg.),
Gegenseitige Wahrnehmungen – Orient und Okzident seit dem 18. Jahrhundert, T. 2, Themenheft
der Zeitschrift asien, afrika, lateinamerika 25 (1997) 3, S. 383-392.
27
mit der Israels, zeigt, daß sich hier bereits seit längerem ein breiter Fächerkanon
von der Sprach- und Literatur- über die Medien- bis zur Politikwissenschaft mit
der Frage der Darstellung der islamischen Welt und des Nahen Ostens beschäftigt.82 In diese Richtung zielt der in der vorliegenden Arbeit dargelegte Ansatz
eines sozial- und kulturwissenschaftlichen Rekonstruktivismus (Kap. 2). Eine
Unterordnung der Medienforschung unter ein einziges Fach wie die Religionswissenschaft wie im Fall des Tübinger Medienprojektes oder unter die „Religions- und Kirchensoziologie“ wie bei Thofern83 ist aus Sicht dieses Wissenschaftsansatzes nicht mehr möglich, da zwar der Gegenstand des Medienbildes
entsprechend definiert werden kann (Islam als Religion im Spiegel der Medien),
die medientheoretische Suche nach den Entstehungsbedingungen des Medienbildes jedoch nicht zu leisten ist.
4.2.
Methode
Nach der Darlegung der Theorie und Methodologie (Bd. 1; Kap. 2 u. 3) ist die Frage
zu klären, mit welchen empirischen Methoden Daten und Erkenntnisse zur Anwendung der Theorie auf das Nahost- und Islambild in der überregionalen deutschen
Presse gewonnen werden können. Im folgenden werden das Verhältnis von quantitativer und qualitativer Inhaltsanalyse, die einzelnen Verfahrensschritte der Untersuchung und die Bindung von Theorie und Empirie bestimmt (Kap. 4.2.1-4.2.3). Das
Verfahren zur Untersuchung des Nahost- und Islambildes der deutschen Presse basiert auf dem eingangs (Bd. 1; Kap. 2) dargelegten sozial- und kulturwissenschaftlichen Ansatz zur Erforschung internationaler und interkultureller Darstellungsprozesse in Massenmedien, der Inhaltsanalyse, Gegenstandsqualifikation und Theorieorientierung verbindet (Kap. 2).
82 Vgl. u.a.: Edward Said, Covering Islam. How the Media and the Experts Determine how We See the
Rest of the World, New York 1981; W. Lance Bennett/David L. Paletz (Hrsg.), Taken by Storm.
The Media, Public Opinion, and U.S. Foreign Policy in the Gulf War, Chicago/London 1991;
Wolfsfeld, Media and Political Conflict; Yahya R. Kamalipour (Hrsg.), The U.S. Media and the
Middle East. Image and Perception, Westport/London 1995; Ze’ev Chafets, Double Vision. How
the Press Distorts America’s View of the Middle East, New York 1985; William C. Adams (Hrsg.),
Television Coverage of the Middle East, Norwood 1981; The Arab Image in Western Mass Media,
The 1979 International Press Seminar, London 1979; Talib Younis, Western Media and the ArabIsraeli Conflict: an Overview, in: Orient 37 (1996) 3, S. 483-493; Janice Monti Belkaoui, Images of
Arabs and Israelis in the Prestige Press, 1966-74, in: Journalism Quarterly 55 (1978) 4, S. 732-738;
Kai Hafez, Islam und Modernität in der Washington Post zur Zeit der Iranischen Revolution
1978/79, in: asien, afrika, lateinamerika 21 (1993) 4, S. 373-381; William C. Spragens/Carole Ann
Terwood, Camp David and the Networks: Reflections on Coverage of the 1978 Summit, in: William
C. Adams (Hrsg.), Television Coverage of International Affairs, Norwood 1982, S. 117-127; John
R. MacArthur, Second Front. Censorship and Propaganda in the Gulf War, New York 1992.
83 Thofern, Darstellungen des Islams, S. 1, 5-9.
28
4.2.1 Quantitative und qualitative Inhaltsanalyse: Repräsentativität versus Singularität
Eines der zentralen methodischen Probleme ist die Frage nach der Art der Durchführung von Inhaltsanalysen der Presse. Die Entscheidung fiel im vorliegenden Fall
zugunsten einer Kombination aus quantitativen und qualitativen Verfahren, da beide
Vorgehensweisen spezifische Vorzüge besitzen,84 die sich mit den Kernbegriffen
„Repräsentativität“ und „Singularität“ beschreiben lassen und die zusammen und
integriert verwendet die empirischen Grundlagen zur theoretischen Diskussion des
Nahost- und Islambildes schaffen können.
Die quantitative Inhaltsanalyse strebt nach generalisierbaren Ergebnissen und
versucht daher, große Materialmengen zu erfassen, zu messen und systematisch zu
interpretieren. Die qualitative Inhaltsanalyse hingegen orientiert sich am singulären
Phänomen. Während die quantitative Analyse durch vordefinierte Kriterien und
standardisierte Kodierungen die in quantitativer Hinsicht (Häufigkeit, Umfang usw.)
bedeutsamsten Merkmale der Medienberichterstattung untersucht, beansprucht die
qualitative Forschung, durch die inhaltliche Auseinandersetzung mit Textaussagen
begründetere Urteile auf Nominalskalenniveau (ein Text offeriert eine bestimmte
Bedeutung oder nicht) zu ermöglichen als die in erster Linie für Ordinalskalen (größer/kleiner, häufiger/seltener) zuständige quantitative Analyse.85 Philipp Mayring hat
darauf hingewiesen, daß zwar jede quantitative Untersuchung auf qualitativen Voraussetzungen basiert, denn jeder Meßvorgang geht von inhaltlichen Annahmen und
Kategorienbildungen aus, die nach dem Nominalskalenverfahren gebildet werden
(schon aus diesem Grund ist die Integration beider Verfahrensrichtungen sinnvoll),
daß jedoch gerade die als rein quantitativ eingestuften Untersuchungen oft aufwendige Messungen von Hypothesen und Kategorien sind, die „am Gegenstand vorbeilaufen“,86 da zu wenig Wert auf qualitative Bestimmungen gelegt wird. Als Beispiel
zur Stützung dieser Annahme von Mayring läßt sich anführen, daß die Bestimmung
eines Nachrichtenfaktors wie „kulturelle Nähe“ eine weitaus differenziertere Diskussion erfordert als sie in der Nachrichtenwertforschung üblich ist. Der Anteil der
christlichen Bevölkerung eines Untersuchungslandes und die Zahl der Buchtitel, die
jährlich ins Deutsche übersetzt werden, sind gebräuchliche Indikatoren der quantitativen Analyse,87 die gleichwohl nicht hinreichend sind, denn die Annahme, daß kulturelle Differenz zwischen Verbänden unterschiedlicher Religionszugehörigkeit
immer größer sein muß als zwischen Gemeinschaften gleicher Religionszugehörigkeit, ist in der Kulturwissenschaft sehr umstritten.88 Ist die kulturelle Differenz zwi84 Vgl. Michael Charlton/Klaus Neumann, Der Methodenstreit in der Medienforschung: Quantitative
oder qualitative Verfahren?, in: Rainer Bohn/Eggo Müller/Rainer Ruppert (Hrsg.), Ansichten einer
künftigen Medienwissenschaft, Berlin 1988, S. 91-107; Holger Rust, Methoden und Probleme der
Inhaltsanalyse. Eine Einführung, Tübingen 1981, S. 187-203.
85 Philipp Mayring, Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken, Weinheim 1997 (6.,
durchges. Aufl.), S. 17.
86 Ebenda, S. 19.
87 Schulz, Die Konstruktion, S. 42.
88 Vgl. die Diskussion über kulturelle Differenz und Essentialismus in Kap. 3.1.1 und 3.2.4.5.1.
29
schen muslimischen Kosovo-Albanern und Deutschen größer als zwischen christlichen Kongolesen und Deutschen? Steht die Türkei der europäischen Geschichte und
Kultur nicht „näher“ als das überwiegend christlich geprägte, aber für Europa historisch weniger bedeutsame Armenien, und ist die Zahl der Übersetzungen aus dem
Deutschen in Iran als Teil der islamischen Welt nicht weitaus größer als in vielen
christlich geprägten Ländern?
Ein weiteres Argument für die Einbeziehung qualitativer Verfahren der Inhaltsanalyse ist, daß die Erfassung der nominalskalierten „Qualität“ bedeutsamer sein
kann als die Bestimmung von „Quantitäten“, weil singuläre Texte oder Textelemente
(der Medien) gesellschaftlich wirkungs- und bedeutungsvoller sein können als Mengenphänomene. Walter Sturm, Roland Angerer und Hans Bachinger gehen sogar so
weit zu behaupten, daß „ein einzelnes Wort mehr gesellschaftlichen Gehalt in sich
tragen (kann), als der Rest des ‘Materials’.“89 Einer der treffendsten Belege für die
Richtigkeit dieser Annahme kann aus dem Bereich der Nahost- und Islambildforschung selbst entlehnt werden. Wie im Verlauf der vorliegenden Arbeit zu zeigen
sein wird, erreicht das Thema „Islam“ in quantitativer Hinsicht lediglich mittlere
Beachtungswerte und rangiert weit hinter den großen Konflikten wie dem Nahostkonflikt (vgl. Kap. 5.1.3). Dennoch gibt es eine Reihe von Hinweisen darauf, daß der
Islam möglicherweise prägender für das deutsche Bild Nordafrikas und des Nahen
und Mittleren Ostens in den achtziger und neunziger Jahren gewesen ist als weitaus
häufiger und kontinuierlicher thematisierte Fragen der regionalen und internationalen
Politik. Hierauf weisen etwa die rapide Entwicklung des Islamthemas auf dem
Buchmarkt oder die in den neunziger Jahren zunehmende Zahl von Islamkonferenzen in Deutschland sowie die Tatsache hin, daß der Islam nahezu der einzige orientrelevante Aspekt ist, der von der deutschen Demoskopie aufgegriffen worden ist.90
Es ist diese anhand zahlreicher Indikatoren belegbare Relevanz des Themas, die eine
vertiefende, qualitative und fallanalytische Beschäftigung mit einem Phänomen
„mittlerer Menge“ begründet.
Insgesamt erscheint es sinnvoll, die Vorzüge beider inhaltsanalytischer Verfahren
zu kombinieren: die empirische Messung einer begrenzten Zahl prädefinierter Nachrichtenfaktoren im Rahmen einer langzeitig und großförmig angelegten quantitativen
Analyse (Kap. 4.2.2) und die fallorientierte kritisch-hermeneutisch orientierte Inhaltsanalyse singulärer Medieninhalte (Kap. 4.2.3).
89 Sturm/Angerer/Bachinger, Lateinamerika in der Tagespresse, S. 47.
90 Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie 1984-1992, S. 219. Vgl. a. Kap. 5.2.1.2.
30
4.2.2 Quantitative Inhaltsanalyse des Nahost- und Islambildes:
Stichprobe, Kategorien, Testverfahren und Kodierung
Um dem Anspruch zu genügen, im Rahmen quantitativer Untersuchungen generalisierbare und repräsentative Aussagen über das Nahost- und Islambild der Presse
treffen zu können, mußten eine Reihe von Parametern bestimmt werden:
•
•
•
•
•
Auswahl der Zeitungen und Zeitschriften
Untersuchungszeitraum
Stichprobenanlage
Kodierungskategorien
Reliabilität (Pre-Test und Test-Test).
Die Auswahl der Medien ist von Bedeutung, um wesentliche Voraussetzungen für
die Validität einer Untersuchung zu schaffen: Wird durch die Untersuchung gemessen, was zu messen beabsichtigt ist: die Berichterstattung der überregionalen deutschen Presse? Eine flächendeckende Untersuchung nach der Art publizistischer
Stichproben war auf Grund der Wahl des langen Untersuchungszeitraums (s.u.) nicht
möglich. Nur wenige Medien konnten ausgewählt werden, diese sollten jedoch aussagekräftig für die deutsche überregionale Presse sein. Die Wahl der Süddeutschen
Zeitung, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, des Spiegel und des stern erfolgte vor
dem Hintergrund folgender Kriterien:
• Tages-/Wochenzeitungen: Eine Prämisse der Inhaltsanalyse lautet, daß Tagesund Wochenzeitungen untersucht werden müssen, da beide Gattungen unterschiedliche Inhaltsprofile aufweisen. Tageszeitungen üben zum Teil eine politisch-gesellschaftliche „Protokollfunktion“ aus, indem sie durch unterschiedliche
berichtende Darstellungsformen von der Kurzmeldung über den Bericht bis zu
Reportage, Feature und Kommentar und vom Agenturbericht bis zur journalistischen Eigenleistung Ereignisse und Entwicklungen in einem weitaus breiteren
Nachrichtenstrom verarbeiten als Wochenzeitungen, die inhaltliche Schwerpunkte setzen und diese in analyse- und meinungsorientierter Weise vertiefen.
• Auflagenhöhe: Die Süddeutsche Zeitung ist seit einigen Jahren der Marktführer
unter den Tageszeitungen, dicht gefolgt von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Die Auflagen beider Medien sind signifikant höher als die anderer Zeitungen wie der Frankfurter Rundschau, der tageszeitung und der Welt, die daher in
der vorliegenden Untersuchung lediglich im Rahmen der qualitativen Fallstudien
berücksichtigt werden. Der Spiegel und stern sind die auflagenstärksten Nachrichtenmagazine bzw. Illustrierten.91
91 Die Marktforschungsabteilung der Süddeutschen Zeitung weist im zweiten Quartal 1999 die
Süddeutsche Zeitung mit einer Auflage von 401 574 und die Frankfurter Allgemeine Zeitung mit
392 694 aus (http://www.sueddeutsche.de/anzeigen/pdf/auflagen.pdf (23.9.1999)). Der Spiegel wies
im Jahresdurchschnitt 1998 eine Auflage von 1 049 757 Exemplaren auf (http://www.spiegel.de/
gruppe/unternehmen/0,1518,DER+SPIEGEL+-+Auflage,00.html (23.9.1999)); der stern 1 138 403
Exemplare (www.co.guj.de/titel/stern/ (23.9.1999)).
31
• Meinungsspektrum: Die ausgewählten Medien repräsentieren unterschiedliche
Teile des politischen Meinungsspektrums, auch wenn im Rechts-Links-Schema
alle Medien „rechts und links der Mitte“ einzustufen sind. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung gehört zur konservativen politisch-weltanschaulichen Grundströmung, ist jedoch nicht rechtskonservativ wie Die Welt; die Süddeutsche Zeitung, stern und Der Spiegel gelten als (links-)liberal, sind jedoch in der Regel
weniger linksorientiert als die linksliberale Frankfurter Rundschau oder die
links-alternative tageszeitung. Eine andere Medienauswahl kam wegen der Beschränkung auf vier Medien, die durch den Untersuchungszeitraum (s.u.) arbeitsökonomisch vorgegeben war, und auf je zwei Tages-/Wochenzeitungen nicht in
Betracht, da jede andere Kombination (Mitte/links, Mitte/rechts, rechts/links)
entweder die auflagenstarken Blätter der politischen Mitte ausgeblendet oder
aber eine der beiden politischen Grundströmungen bevorteilt hätte. Im Rahmen
der qualitativen Falluntersuchungen wurden die genannten Medien des rechtskonservativen und linken Spektrums dann jedoch berücksichtigt.
• Innerjournalistische Meinungsführer: Die gewählten überregionalen Pressemedien sind die führenden innerjournalistischen Meinungsführer der Bundesrepublik
Deutschland, zumindest in der Gegenwart. Der Spiegel wird von 66,7 Prozent
der Journalisten als Orientierungsmedium anerkannt, die Süddeutsche Zeitung
von 46,6 Prozent, der Stern von 37,1 Prozent und die Frankfurter Allgemeine
Zeitung von 36,2 Prozent.92 Hier zeigt sich die Ausstrahlung der vier untersuchten Medien auf andere Medien, die einem innermedialen Streu- und Multiplikationseffekt ihrer thematischen und Meinungsvorgaben in weiten Teilen der Medienlandschaft gleichkommt.
• Informations- und Unterhaltungspresse: Die vier untersuchten Medien verkörpern eine Mischung aus Informations- und Unterhaltungsgenres, wobei insbesondere die beiden Zeitschriften in unterschiedlichen Graden eine InfotainmentFunktion ausüben. Tageszeitungen, Magazine und Illustrierte werden von unterschiedlichen Publika und mit unterschiedlichen Nutzungsgewohnheiten gelesen
und werden im Sample kombiniert, um die Spannbreite gesellschaftlicher Nutzungs- und medialer Wirkungsmöglichkeiten der Nahost- und Islamberichterstattung zu ergründen. Eine andere Illustrierte als stern auszuwählen oder die Zeitschrift durch das Boulevardmedium Bild zu ersetzen, ist erprobt worden, hat sich
jedoch im Zusammenhang mit einer breit und großförmig angelegten Untersuchung als unpraktikabel erwiesen, da andere Illustrierte oder Bild keine systematische Auslandsberichterstattung betreiben und an vielen Stichtagen keine Nachrichten über das Untersuchungsgebiet verifiziert werden konnten. Insbesondere
Bild läßt sich sinnvoll vor allem im Rahmen zeitlich begrenzter Fallstudien untersuchen (vgl. Kap. 4.2.3).
Der Untersuchungszeitraum wurde sehr breit angelegt, mit dem Ziel, die Berichterstattung der Medien über die gesamte Zeit der bundesrepublikanischen Geschichte
92 Weischenberg/Löffelholz/Scholl, Merkmale und Einstellungen, S. 163.
32
zu erfassen. Im Zusammenhang mit der Forschungsstandsdiskussion (Kap. 4.1) ist
bereits erörtert worden, daß der punktuelle Zugriff der meisten bisherigen Untersuchungen durch die Einschränkung der Samples auf wenige Tage, Wochen oder Monate oder die Konzentration auf bestimmte Ereignisformen wie Kriege (etwa im
Bereich des Nahostkonflikts) zu sehr selektiven, zum Teil diametral widersprüchlichen Erkenntnissen geführt hat, da mittel- und langfristige Entwicklungen im Medienbild nicht erfaßt werden konnten. Die vorliegende Untersuchung konzentriert sich
auf das Medienbild im Kontext zeitgenössischer Transformationen der Auslandsberichterstattung, auf ihre Konstanten und Varianten. Jeweils das erste vollständige
Erscheinungsjahr der Zeitungen und Zeitschriften wurde als Anfangsjahr der Untersuchung gewählt, d.h. 1946 bei der Süddeutschen Zeitung, 1947 beim Spiegel und
1949 beim stern. Da die Untersuchung im Jahr 1995 begonnen wurde, war das Jahr
1994 das Schlußjahr der Untersuchung. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung ist zwar
1949 gegründet worden, jedoch erst ab 1955 am Standort der Kodierung (Staatsund Universitätsbibliothek Carl von Ossietzky, Hamburg) verfügbar gewesen und
daher auch nur im Zeitraum 1955-94 ausgewertet worden. Da zu Vergleichszwecken
die Auswertungen zeitgleich erfolgen mußten, sind alle Daten ab den für die Medien
genannten Jahrgängen kodiert worden, die meisten Abfragen, Interpretationen und
graphischen Darstellungen beziehen sich jedoch auf den Hauptuntersuchungszeitraum 1955-1994.
Die Stichprobe wurde nach Zufallskriterien gebildet (random sample) und stellt
eine Kombination aus Klumpenauswahl (cluster sample; Auswahl jeweils einer ganzen Zeitungs-/ Zeitschriftenausgabe) und systematischer Auswahl (bei Tageszeitungen jede zehnte und bei Wochenzeitungen jede vierte Ausgabe) dar. Grundeinheit
der Untersuchung ist jede journalistische Darstellungsform über 20 Zeilen Umfang,
d.h. Kurzmeldungen wurden nicht in das Sample aufgenommen, da dies zu einer
erheblichen Ausweitung der Stichprobe geführt hätte. Der Untersuchung zugrunde
gelegt wurden die Bundesausgaben der Tageszeitungen ohne Lokalteile; das Sportressort blieb ebenfalls unberücksichtigt, da die Zahl der erwarteten Artikelfunde in
keinem Verhältnis zum Bearbeitungsaufwand gestanden hätte. Das Sample bilden
insgesamt die vier ausgewählten Medien in den oben angegebenen Zeiträumen; die
Stichprobengröße beträgt bei insgesamt 4404 untersuchten Ausgaben93 n = 11 518
Artikel.94
Neben der Frage, inwieweit die ausgewählten Medien wesentliche Teile der überregionalen Presselandschaft repräsentieren, ist zu klären, inwieweit die gewählte
Stichprobe repräsentativ für die gewählten Medien ist (externe Validität, im Gegensatz zur internen Validität etwa bei der semantisch-qualitativen Kategorienbildung;
vgl. Kap. 4.2.1 und s.u.). Eine gültige Antwort kann es nicht geben, da nach Klaus
Merten „eine Validierung durch andere Instrumente jeweils die Validität dieser Instrumente voraussetzt.“95 Da jedoch das Profil des Nahost- und Islambildes der un93 Addition von GS1-Werten in den Tabellen A 5.1-A 5.4.
94 Addition von GS2-Werten in den Tabellen A 5.1-A 5.4; vgl. a. die Darstellung in Kap 5.1.1.
95 Klaus Merten, Inhaltsanalyse. Einführung in Theorie, Methode und Praxis, Opladen 1983, S. 311.
33
tersuchten Medien bisher durch keine Vollerhebung oder noch großförmigere als die
vorliegende Untersuchung erforscht worden ist, kann die Gültigkeit des Samples von
keiner „höheren Warte“ beurteilt werden. Da eine rückwärtige elektronische Aufbereitung vergangener Jahrgänge auf CD-Rom von den untersuchten Medieninstitutionen nicht betrieben wird, ist ein Vergleich mit Vollerhebungsdaten ebenfalls nicht
möglich. Lediglich die Plausibilität der Ergebnisse läßt sich beurteilen, etwa wenn,
wie in der Regel in der vorliegenden Untersuchung der Fall, verschiedene Kodierer
bei der unabhängigen Kodierung ähnlicher Medien (z.B. SZ und F.A.Z.) zu ähnlichen Ergebnissen gelangt sind und wenn die Ergebnisse Parallelen zu analogen Untersuchungen über andere Weltregionen (z.B. das Lateinamerikabild der deutschen
Presse) aufweisen.
Die Erhebung der Daten erfolgte nach empirisch und theoretisch sinnvollen Ordnungsgesichtspunkten. Das verwendete Kategoriensystem ist von geringer Komplexität und hoher Eindeutigkeit, um den Kodierern den qualitativen Zuordnungsvorgang zu erleichtern, das große Sample bewältigen zu können und die Reliabilität der
96
Inhaltsanalyse (s.u.) zu erhöhen:
• Artikelhäufigkeit und -kontinuität: Ermittelt wurde die Häufigkeit und Kontinuität der Publikation von Artikeln mit Bezug zu den Ländern Nordafrikas sowie
des Nahen und Mittleren Ostens. Auf die in der Medienwissenschaft ebenfalls
verbreitete Ermittlung des Umfangs der Berichterstattung durch die Platzabmessungen wurde verzichtet, da nicht mit Sicherheit festgestellt werden kann, ob
zwischen Umfang und Beachtung eines Artikels eine positive Korrelation besteht, zumal längere journalistische Darstellungsformen zum Teil weniger rezipiert werden als kürzere.
• Sachgebiete: Artikel wurden abhängig vom Gegenstand der Erörterung, der sich
in der Regel aus Überschriften (Hauptzeile oder, im Fall einer unterhaltungsorientierten Hauptzeile, Dach- oder Unterzeilen) ersehen läßt, folgenden Sachgebieten zugeordnet: „Politik“, „Ökonomie“, „Soziales/Umwelt“, „Religion“, „Kultur/Wissenschaft“, „Unterhaltung“, „Tourismus“, „Sonstiges.“ Auf ein differenziertes Kategoriensystem (z.B. für Politik: internationale Politik, Außenpolitik,
Innenpolitik, Wirtschaftspolitik, Militärpolitik) wurde verzichtet, um den Kodierern komplexe inhaltliche Entscheidungen zu ersparen, die die Interkoderreliabilität (s.u.) verringert hätten.
• Dauerthemen: In der bisherigen Forschung über das Nahost- und Islambild deutscher Medien dominieren Untersuchungen zu einer Reihe zentraler Themen und
Themenkomplexe wie dem Nahostkonflikt, den deutsch-türkischen Beziehungen
oder dem Islam, da sie die regionale und die internationale Politik nach dem
Zweiten Weltkrieg in hohem Maß geprägt haben und ihre mediale Behandlung
daher von besonderem Interesse ist (Kap. 4.1). In der vorliegenden Untersuchung
96 Daniel Riffe, Stephen Lacy und Fred Fico merken in diesem Zusammenhang an: „(T)he more
conceptually complex the categories and subcategories, the harder it will be to achieve acceptable
reliability (...).“ Daniel Riffe/Stephen Lacy/Frederick G. Fico, Analyzing Media Messages. Using
Quantitative Content Analysis in Research, Mahwah/London 1998, S. 107.
34
sind Häufigkeit und zeitliche Verteilung der Themen und Themenkomplexe
„Arabisch-Israelischer Konflikt“, „andere Großkonflikte“97, „Islam“, „Erdöl“,
„deutsch-orientalische Beziehungen“, „arabischer Nationalismus/Pan-Arabismus“, „orientalische Prominenz“, „altorientalische Geschichte“ und „Sonstiges“
ermittelt worden, um die bisher selektive empirische Basis im Längsschnitt der
bundesrepublikanischen Geschichte zu fundieren.
• Ereignisvalenz: Die untersuchten Beiträge wurden Ereignistypen zugeordnet, die
sich durch eine positive, neutrale oder negative Valenz beschreiben ließen, da sie
entweder besondere Erfolge, reguläre gesellschaftliche Abläufe oder Gewaltbzw. Konfliktgeschehen betrafen. Gewaltfreie Konflikte wurden dabei als eine
eigenständige Kategorie „negativ-neutraler“ Handlungen eingestuft, da sie neben
der Störung des Gesellschaftsfriedens auch Impulse für die gesellschaftliche
Entwicklung geben können und daher einen Doppelcharakter besitzen. Von den
Kodierern ist keine Einschätzung einer sprachlich-inhaltlichen „Tendenz“ eines
Beitrages erwartet worden, da dies zu geringer Reliabilität und hoher Beliebigkeit der Untersuchung geführt hätte, sondern es erfolgte eine Zuordnung des
Hauptereignisses bzw. -themas eines Beitrags zu definierten Wortfeldern („positiv“: Erfindungen, Entdeckungen, Erfolge usw.; „negativ“: Anschlag, Ausnahmezustand usw.; „negativ-neutral“: Affäre, Betrug usw.; „neutral“: reguläre Handlungsabläufe wie Konferenzen, Staatsbesuche, Wahlen; vgl. die Wortfelder in
Kap. 5.1.4). Ein Bericht über eine islamische Pilgerfahrt wurde auch dann als
„neutral“ eingestuft, wenn er negative affektiv-sprachliche Wertungen enthielt; er
galt hingegen als „negativ“, wenn ein Attentat während der Pilgerfahrt das thematisierte Hauptereignis darstellte.
• Länder: In das Sample aufgenommen wurden Beiträge mit primärem Bezug zu
folgenden Staaten Nordafrikas und des Nahen und Mittleren Ostens:98 Ägypten,
Afghanistan, Algerien, Bahrain, Djibouti, Irak, Iran, Israel (Kernstaat),99 IsraelPalästina,100 Jemen, Jordanien, Kuwait, Libanon, Libyen, Marokko, Mauretanien,
Oman, Pakistan, Qatar, Saudi-Arabien, Sudan, Syrien, Tunesien, Türkei, Vereinigte Arabische Emirate (VAE), Zypern. Dabei wurden maximal die ersten fünf
Ländernennungen eines Artikels registriert. Mehrfachnennungen wurden erfaßt,
da in der Regel das erstgenannte Land (Überschrift) im Zentrum des Interesses
steht, im weiteren Verlauf des Beitrags erwähnte Staaten gleichwohl ebenfalls als
in Beziehung zum Thema stehend betrachtet werden und sekundäre Beachtung
erfahren. Die Untersuchung wird zeigen, daß eine Reihe von Staaten typische
97 Suezkrise 1955/56, Algerienkrieg 1958-64, Libanonkrise 1958, Zypernkonflikt, libanesischer
Bürgerkrieg 1975-90, Afghanistankonflikt 1979-90, Iran-Irak-Krieg 1980-88, Golfkrise/-krieg
1990/91.
98 Der Länderkatalog entspricht dem Betätigungsfeld des Deutschen Orient-Instituts, Hamburg.
99 Zugeordnet worden sind alle Beiträge, die allein das Territorium Israels als Kernstaat in seinen
Grenzen gemäß des Vorkriegszustandes von 1967 betreffen und die nicht mit der palästinensischen
Bevölkerung Israels in Verbindung stehen.
100 Zugeordnet worden sind alle Beiträge, die das ehemalige Mandatsgebiet Palästina bzw. den Staat
Israel einschließlich der im Krieg von 1967 annektierten oder besetzten Gebiete bzw. die Palästinenser in Israel betreffen.
35
„Zweitländer“ sind, deren interne Entwicklung selten in der deutschen Presse
thematisiert wird, obwohl sie häufig mit Bezug auf übergreifende regionale Fragen medial präsent sind (z.B. Jordanien und Syrien in bezug auf den Nahostkonflikt).
• Handlungsträger: Die maximal fünf ersten Handlungsträger (Akteure) eines
Beitrages wurden folgenden Kategorien zugeordnet: „offizielle Staatsvertreter“
(Legislative, Exekutive und Judikative, einschließlich Polizei und Militär); „gesellschaftliche Organisationen“ (Gruppen mit formalisierter Organisationsstruktur
und -programm); „nichtorganisierte Gruppen“ (spontane Gruppenbildungen und
analytische Gruppenkategorien, z.B. „die Studenten“ oder „die Bevölkerung“);
„regionale Organisationen“; „internationale Organisationen“; „prominente Persönlichkeiten“; „andere Handlungsträger“. Bei Staatsvertretern, Organisationen,
Gruppen und Persönlichkeiten wurden zudem Unterkategorien für deren regionale Zugehörigkeit gebildet: „Nordafrika/Nah- und Mittelost“ (z.B. Parteien eines
Untersuchungslandes); „West“ (z.B. europäische oder nordamerikanische Regierungsvertreter); „Ost“ (z.B. Regierungen der ehemaligen Staaten des Warschauer
Pakts bzw. Osteuropas außerhalb der Europäischen Union); „Sonstige“ (überwiegend andere Staaten Asiens, Afrikas und Lateinamerikas).
• Informationsquellen: Bei der Ermittlung der Informationsquellen der Artikel
wurde zwischen „Nachrichtenagenturen“ (AP, AFP, Reuters, UPI, dpa, andere
Agenturen) und journalistischer Eigenleistung („Korrespondent in der Region“;
„externe(r) Redaktion/Korrespondent“, z.B. Madrid als Standort der MaghrebBerichterstattung; „Zentralredaktion“) unterschieden. Die Differenzierung zwischen Agentur- und Eigenleistung blendet sekundäre Gatekeeping-Effekte nicht
aus (vgl. Kap. 3.2.3.4 und 5.1.7). Den Zentralredaktionen wurde von den Kodierern neben den festen Redaktionsmitarbeitern auch freie Mitarbeiter zugeordnet;
freie Autoren hingegen, die als nicht zur Redaktion gehörig ausgewiesen wurden
(z.B. Wissenschaftler), wurden nicht erfaßt.
Die Rekonstruktion der kodierten Daten durch den wissenschaftlichen Bearbeiter
erfolgte in jeder der genannten Ordnungskategorien auf der Basis verschiedener
quantitativer Operationen, wie beispielsweise:101
• Häufigkeitsmessung
• Kontinuitätsmessung (chronologische Darstellung von Häufigkeiten)
• kumulative und vergleichende Häufigkeitsmessung (alle Medien oder differenziert nach Einzelmedien)
• Messung von Häufigkeitskorrelationen.
Neben einfachen Häufigkeiten sind auch die Korrelation von Häufigkeiten untersucht worden, d.h. das gemeinsame Auftreten verschiedener Merkmale in Beiträgen,
das auf einen Zusammenhang zwischen den Faktoren hinweist. Wenn beispielsweise
101 Auch qualitative Operationen wurden durchgeführt, etwa die Aufschlüsselung und Einzelfallansicht
von kodierten Datensätzen, um etwa die von den Kodierern vermerkten Namen von Handlungsträgern zu ermitteln.
36
der thematische Hauptbezug eines Beitrages der politische Islam ist und der Charakter des Ereignisses, etwa einer Konferenz, neutral, dann erfolgt auch die Thematisierung des Islam in einem Ereigniszusammenhang, der durch reguläre Handlungsabläufe und Normalität gekennzeichnet ist (was negative sprachliche Wertungen, Frames, Diskurse usw. nicht ausschließt, die im Rahmen qualitativer Studien zu ermitteln sind). Wenn das Oberthema eines Beitrages der Islam ist und als Referenzort
Ägypten erfaßt wird, dann ist es der politische Islam in Ägypten, der Aufmerksamkeit erzeugt, und es ist eine Aufgabe der Messung korrelierter Häufigkeiten festzustellen, ob auch der Islam im Sudan für die deutsche Presse von Interesse ist. Die
Untersuchung korrelierter Häufigkeiten stellt eine beträchtliche Erweiterung der
Analysemöglichkeiten mit Hilfe quantitativer Verfahren dar, überschreitet den wenig
komplexen Horizont einer einfachen Abfrage von Grundkategorien wie Themen,
Sachgebieten usw. und erzeugt ein empirisches Fundament, das Raum für differenzierte theoretische Erklärungen bietet. Für die in der vorliegenden Arbeit beabsichtigte Weiterentwicklung der Theorie der Auslandsberichterstattung und deren Anwendung auf Medieninhalte sind Korrelationsanalysen eine notwendige Voraussetzung.102
In einem Pre-Test der quantitativen Inhaltsanalyse wurde die Konsistenz der Kategoriendefinition getestet, wobei im Austausch mit den Kodierern mögliche Mehrdeutigkeiten des Versuchsdesigns ausgeräumt werden sollten. Ein Testlauf mit einer
differenzierteren Sachgebietseinteilung bestätigte, daß das Maß an Übereinstimmung
mit zunehmender Komplexität abnahm, weshalb die ursprüngliche Aufteilung beibehalten wurde. Da Beiträge über den Islam häufig sowohl dem Sachgebiet „Politik“
als auch der „Religion“ zugeordnet werden konnten, wurde entschieden, der Rubrik
„Religion“ lediglich Texte zuzuweisen, die sich im engeren Sinn mit Fragen des
Kultus (z.B. Pilgerfahrt), der religiösen Lehre, Überlieferung usw. beschäftigten,
während Beiträge mit gesellschaftlichem Gegenwartsbezug einer der anderen Kategorien „Politik“, „Ökonomie“, „Soziales/Umwelt“ usw. zuzuweisen waren; im Gegensatz zur Themenkategorie „Islam“, der Islamfragen im weitesten Sinn (einschließlich etwa des politischen Islam) zugeordnet wurden. Die offenen Wortfelder
der Kategorie Ereignisvalenz wurden im Zuge des Pre-Tests weiter differenziert. In
Zweifelsfällen der Kategorisierung – z.B. ein Bericht über eine Parlamentsdebatte
(neutral), die den Golfkrieg (negativ) zum Gegenstand hatte – sollte die neutrale
Kategorie gewählt werden. Nachdem ursprünglich unklar blieb, wie Mischkategorien
der In- und Auslandsberichterstattung – z.B. Beiträge über Einwanderer in Deutschland – im Sample zu berücksichtigen waren, wurde vereinbart, daß der Charakter von
102 Während Merkmalskorrelationen im allgemeinen klar erkennbar waren, erwies sich die Erfassung
der Korrelationen mehrfach kodierter Merkmale (Handlungsträger und Länder) als problematisch.
Bei mehreren Akteuren und mehreren Ländernennungen in einem Beitrag können errechnete Daten
nicht ersichtlich machen, welcher Handlungsträger welchem Land zugeordnet ist (Dies ist allenfalls
in der Einzelfallsaufschlüsselung der kodierten Daten auf der Basis zusätzlich von den Kodierern
gemachter Anmerkungen zum Text möglich, wobei die Namen und Funktionen der Handlungsträger gespeichert wurden). Aus diesem Grund wurde das Sample für diese spezifische Abfrage korrelierter Häufigkeiten auf Artikel mit nur einer Ländernennung reduziert, um die Eindeutigkeit der
Korrelation wiederherzustellen (Kap. 5.2.2.5).
37
foreign news at home bzw. home news abroad nur dort gegeben war, wo ein erkennbarer Bezug zu einem Untersuchungsland bestand, d.h. entscheidend war nicht der
„ethnische“, sondern der Staatsbezug.103
Ungeachtet der erforderlichen Abstimmungen hat sich das Kategoriensystem
grundsätzlich bewährt und ist auf einen Kodierbogen übertragen worden (Anhang).
Die Datenerfassung erfolgte in einem Zeitraum von 18 Monaten durch zwei Kodierer. Um die generelle Unabhängigkeit der Kodierung zu sichern, wurde darauf geachtet, daß die wissenschaftliche Bearbeitung und die Kodierung durch getrennte
Personen erfolgt; die Kodierer waren mit den generellen Fragestellungen, Erkenntnisinteressen und Hypothesen der Untersuchung nicht vertraut und verrichteten ihre
Arbeit räumlich und zeitlich getrennt von der wissenschaftlichen Bearbeitung. Um
systematische Abweichungen zu vermeiden, die bei längeren Kodierungsprozessen
häufig auftreten, wurden allerdings zwischenzeitig punktuell weitere Abstimmungen
über Kategoriendefinition, ihre Anwendung auf Einzelfälle und die Generalisierung
dieser Erfahrungen vorgenommen. Die Kodierung erfolgte auf dem Datenverarbeitungsprogramm dBaseIV. Die Nutzung anderer Anwendungen hätte eine längere
Schulung erforderlich gemacht, zumal dBaseIV bereits in anderen Wissenschaftsprojekten eingesetzt worden war und eine Umstellung zu technischen Irritationen hätte
führen können, die sich negativ auf die Kodierung hätten auswirken können.
Im Zuge eines Test-Tests wurde die Reliabilität der Untersuchung ermittelt, die
Frage also, inwieweit dasselbe Untersuchungsdesign bei wiederholter Durchführung
durch andere Personen zu den gleichen Ergebnissen führen würde. Über die Größe
der erforderlichen Testmenge gibt es sehr unterschiedliche Auffassungen.104 Auf
Grund der ungewöhnlichen Größe des Samples der vorliegenden Untersuchung
konnte nur 100 Artikel, etwa ein 1 Prozent des Samples, getestet werden. Für die
Verläßlichkeit der Übereinstimmung ergab sich folgende Berechnung:105
V2 =
2× M
= 0,9
N1 + N 2
Mit Hilfe der erweiterten Verläßlichkeitsformel nach Scott106 wurde der PiKoeffizient ermittelt:
103 Vgl. in ähnlicher Weise: Robert L. Stevenson, Research Methodology, in: ders./Donald Lewis Shaw
(Hrsg.), Foreign News and the New World Information Order, Ames 1984, S. 25.
104 Zum Test-Test-Verfahren vgl. Riffe/Lacy/Fico, Analyzing Media, S. 122 ff.; Rust, Methoden und
Probleme, S. 172 ff.; Werner Früh, Inhaltsanalyse. Theorie und Praxis, München 1981, S. 180-188.
105 M ist die Zahl der Kodierungsentscheidungen, in denen zwei Kodierer übereinstimmen; N1 ist die
Gesamtzahl der Kodierungsentscheidungen von Kodierer 1; N2 ist die Gesamtzahl der Kodierungsentscheidungen von Kodierer 2.
106 EV ist die als Wahrscheinlichkeitswert bestimmte „erwartete Verläßlichkeit“ bzw. „erwartete
Übereinstimmung“.
38
Pi =
%V2 − % EV
= 0,89
1 − % EV
Da Pi-Koeffizienten zwischen 0,9 und 0,8 allgemein als gut betrachtet werden,107 ist
die Interkoderreliabilität der vorliegenden Untersuchung als sehr zufriedenstellend
einzustufen. Die Einfachheit und Klarheit der Kategorienbildung sowie Einarbeitung, Pre-Test und kontinuierliche Projektbegleitung haben sich hier positiv niedergeschlagen. Im Verlauf der quantitativen Inhaltsanalyse (Kap. 5) werden Vergleiche
zu ähnlichen Studien (z.B. zum Lateinamerikabild) zum Teil gravierende strukturelle
Übereinstimmungen im Medienbild aufzeigen, was zwar nicht als zusätzlicher Reliabilitätsausweis betrachtet werden kann (es wurden unterschiedliche Dinge gemessen), angesichts der in anderen Studien nachgewiesenen zahlreichen Gemeinsamkeiten der Asien-, Afrika- und Lateinamerikaberichterstattung deutscher Medien jedoch
die Verläßlichkeit der Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung plausibel erscheinen läßt.
4.2.3 Qualitative Inhaltsanalyse des Nahost- und Islambildes:
Fallbeispiele, Artikelauswahl und kritische Hermeneutik
Entsprechend dem oben dargelegten Verständnis der Vorzüge und Nachteile qualitativer und quantitativer empirischer Verfahren, ist es das Ziel der qualitativen Inhaltsanalyse, bestimmte singuläre Textmerkmale der Auslandsberichterstattung − d.h.
inhaltliche und sprachliche Merkmale von einzelnen Texten und Diskursen − auf ihre
Strukturen, Entstehungsbedingungen und Wirkungspotentiale zu untersuchen.
Die Medienauswahl konnte gegenüber der quantitativen Untersuchung durch
Einbeziehung anderer überregionaler Medien erweitert werden. Untersucht wurden
zusätzlich Bild, die tageszeitung, Die Welt, Die Zeit, Frankfurter Rundschau und
Welt am Sonntag. Einzelne Beiträge wurden auch aus folgenden Medien berücksichtigt: Handelsblatt, Hamburger Abendblatt, Der Volkswirt, Tagesspiegel, Sozialistische Presse-Korrespondenz, Quick, Rheinischer Merkur, Die Woche, konkret, Deutsche Zeitung, Die Neue Zeitung, Wochenpost, Wirtschaftswoche, Focus, Nachrichten
für den Außenhandel und Neues Deutschland.
Bei der Auswahl der Artikel wurde nach dem Prinzip der „bewußten Auswahl“108
verfahren. Begrenzt auf einige Medien und wenige Monate wurden zudem Vollerhebungen durchgeführt. Die primäre Eingrenzung der Inhaltsanalyse erfolgte durch die
Definition von Fallbeispielen, die als politisch und zeithistorisch bedeutsam eingestuft werden, da sie zentrale Themenstellungen des Nahost- und Islambildes der
Medien darstellen:
• deutsch-israelisch-arabische Beziehungen (1965-82)
107 Riffe/Lacy/Fico, Analyzing Media, S. 131.
108 Merten, Inhaltsanalyse, S. 284 ff.
39
•
•
•
•
Erdölkrise (1973)
Re-Islamisierung/Iranische Revolution (1978/79)
Rushdie-Affäre (1989-95)
Algerienkrise (1991-95)
Während die Auswahl der Texte allgemein auf der Basis der Materialien der Pressedokumentation des HWWA-Institut für Wirtschaftsforschung erfolgte, wurde die
Untersuchung durch Vollerhebungen der Hauptuntersuchungsmedien Süddeutsche
Zeitung, Frankfurter Allgemeine Zeitung, stern und Der Spiegel in folgenden Zeiträumen ergänzt:
•
•
•
•
•
•
•
•
1965: deutsch-israelische Waffengeschäfte (Februar, März und Mai)
1971: Israel-Besuch von Walter Scheel (Juli)
1973: Israel-Besuch von Willy Brandt (Juni)
1973: Erdölkrise (Oktober, November und Dezember)
1977: Besuch von Anwar al-Sadat in Jerusalem (November)
1979: deutsch-israelische Kontroversen (August und September)
1982: israelische Invasion im Libanon (Juni und Juli)
1991/92: algerische Wahlen (Dezember und Januar).
Im Unterschied zur quantitativen Inhaltsanalyse werden die Texte nicht aus der Perspektive vordefinierter Kategorien untersucht, sondern die Aussagen eines Textes
oder Textteiles werden in einem dem Wesen nach qualitativen Prozeß interpretierend
rekonstruiert. Sinn und Bedeutung einschließlich alternativer Bedeutungsmöglichkeiten werden erörtert; Eigenheiten von Texten und Parallelen zwischen Texten sowie
zwischen Medien werden herausgearbeitet; Veränderungen des Medienbildes im
Zeitverlauf werden gewürdigt; singuläre oder sich wiederholende sprachliche Merkmale werden ermittelt. Das Verfahren ist dem Ursprung nach hermeneutisch ausgerichtet, insofern als der Versuch unternommen wird, Textaussagen zu rekonstruieren.
Die hermeneutische Inhaltsanalyse versteht sich allerdings lediglich als Vorarbeit
eines objektivierenden, d.h. über die Rekonstruktion des subjektiven Textsinns hinausweisenden Verfahrens. Rekonstruierte Textinterpretationen, seien sie qualitativ
oder quantitativ entstanden, werden in weiteren Verfahrensschritten mit objektivierenden Modellen des Darstellungsobjekts (z.B. der Politik des Nahen Ostens) wie
des Darstellungssubjekts (der Medien) konfrontiert und kritisch dekonstruiert. Die
Hermeneutik ist daher kein methodisches Endziel, sondern Zwischenschritt einer
kritischen Hermeneutik (auch objektive Hermeneutik genannt), die sowohl Subjektund Objektperspektiven einnimmt, und sie ist in letzter Instanz nicht als hermeneutisches Verfahren zu bezeichnen, da nicht das Textverstehen im Vordergrund steht,
sondern das Textverstehen Mittel zum Zweck der funktionalen (theoretischen) Analyse des Mediensystems und der Auslandsberichterstattung ist.
40
5.
Quantitative Inhalts- und Theorieanalyse: das
Nahost- und Islambild in Frankfurter Allgemeine
Zeitung, Süddeutsche Zeitung, Der Spiegel und
stern
Den Schwerpunkt der Inhaltsanalyse bildet die Beschreibung der Konstruktion des
Nahost- und Islambildes in den vier untersuchten Zeitungen (F.A.Z., SZ, Spiegel,
stern) anhand von quantitativen Daten. Das Ziel ist eine empirisch gesicherte Analyse des Medienbildes, wie es im Konzept des „Auslandsbildes“ theoretisch beschrieben worden ist (Kap. 3.1.2). Bei der Erforschung des Auslandsbildes geht es nicht
um die Untersuchung begrenzter kognitiver Bildstrukturen wie Feindbilder und Nationenstereotype, sondern um die Analyse des gesamten Nachrichtenstroms unter
Einbeziehung seiner nicht-stereotypen Informationsbestandteile. Die nachfolgend
untersuchten Sachgebiets-, Themen-, Handlungsträgerstrukturen usw. sind Teilaspekte einer möglichen Charakterisierung des Nachrichtenstroms, der von den untersuchten Medien an die Konsumenten zur kommunikativen Weiterverarbeitung
überlassen wird.
Die Analyse erfolgt in mehreren Schritten:
• einer einfachen Analyse der Häufigkeit/Kontinuität, Sachgebiets- und Themenverteilung,
Ereignisvalenzen,
Länderverteilung,
Handlungsträger
und
Informationsquellen der Berichterstattung über Nordafrika, Nah- und Mittelost;
hierbei werden die kodierten Daten zu jedem Merkmal isoliert ermittelt und
bearbeitet;
• und einer kombinierten Analyse, wobei Zusammenhänge zwischen jeweils zwei
Merkmalen (z.B. Themen- und Handlungsträgerstruktur oder Themen- und Informationsquellen) untersucht und die in der einfachen Analyse gewonnenen Erkenntnisse durch die Interpretation der Merkmalskorrelationen sukzessive differenziert werden; auf Grund der zahlreichen Kombinationsmöglichkeiten wird eine Begrenzung auf je zwei Merkmale und eine Auswahl unter den Schwerpunkten „Sachgebiets- und Themenprofile“ sowie „Länderprofile“ vorgenommen.
Das folgende Kapitel orientiert sich an den Strukturtheoremen des medialen Auslandsbildes, also am Strukturkomplex der dargelegten Theoriematrix zur Erforschung internationaler und interkultureller Darstellungsprozesse in Massenmedien
(Kap. 3.2.1). Ursachen- und Wirkungszusammenhänge (Wie entstehen die medialen
Bildstrukturen und welche möglichen Wirkungen haben sie?), die in späteren Fallstudien erörtert werden, spielen bei der Deutung des quantitativen Datenmaterials
eine untergeordnete Rolle.
Die strukturtheoretische Interpretation beinhaltet im Kern Vergleiche der vorliegenden Daten mit den Daten früherer quantitativer Studien über das Bild der außereuropäischen Welt in deutschen Massenmedien. Da quantitative Analysen zum deutschen Nahost- und Islambild überwiegend als integrierte Bestandteile dieser übergeordneten Forschungen vorhanden sind − von einigen in der Forschungsstandsdiskus41
sion vorgestellten Untersuchungen abgesehen (Kap. 4.1.1) −, ist ein direkter Vergleich mit anderen Nahostbildstudien an dieser Stelle der Untersuchung kaum möglich, sondern Vergleiche beziehen sich zumeist auf allgemeine Untersuchungen zur
deutschen Auslandsberichterstattung, zur Dritte-Welt-Berichterstattung oder auf
regionenfremde Untersuchungen (etwa über das Lateinamerikabild). Die theoretische
Thesenbildung ist also teils an identischen, teils an analogen Forschungsgegenständen generiert worden, was zur Folge hat, daß die für den Orient-Kontext fruchtbaren
theoretischen Vergleichsthesen das Abstraktionsniveau der dargelegten Strukturtheoreme des medialen Auslandsbildes („Konfliktorientierung“, „Elitenorientierung“
usw.) bzw. der Nachrichtenfaktorenforschung („kulturelle Nähe“, „Zentralität“ usw.)
erreichen (Kap. 3.2.1.2). Die im überregional-komparativen Forschungskontext
formulierten theoretischen Annahmen werden mit Hilfe der vorliegenden Inhaltsanalyse überprüft, bestätigt oder falsifiziert.
Über Medientheoreme hinaus fließen auch andere politikwissenschaftliche Theoreme ein, die den Ursachen-Wirkungs-Komplex der Medienbilder berühren, etwa
wenn Eliten- oder politische Kulturtheorie zur Deutung der Handlungsträgerkonstellationen in der Presse herangezogen werden. Die gesamte theoretische Dekonstruktion des Nahost- und Islambildes (Dekonstruktion II) basiert zudem darauf, daß das
ermittelte Medienbild − die Medienrealität − durch einen Vergleich mit den alternativen Realitätsbeschreibungen des orientwissenschaftlichen Diskurses kritischhermeneutisch dekonstruiert wird (Dekonstruktion I).
5.1.
Einfache Analyse der Faktoren des Nahost- und Islambildes
Die einfache Analyse von Faktoren des Nahost- und Islambildes untersucht die Bereiche Häufigkeit und Kontinuität (Kap. 5.1.1), Sachgebiete (Kap. 5.1.2), Thematisierung (Kap. 5.1.3), Ereignisvalenz (Kap. 5.1.4), Länderverteilung (Kap. 5.1.5),
Handlungsträger (Kap. 5.1.6) und Informationsquellen (Kap. 5.1.7). Nachdem quantitative Inhaltsanalysen sich bisher auf einzelne Themen (wie den Islam), einzelne
Medien (wie den Spiegel) oder zeitlich eng begrenzte Falluntersuchten (wie den
Golfkrieg von 1991) beschränkt haben (vgl. Kap. 4.1.1), ist es das Ziel dieses ersten
Untersuchungsteils einen breit angelegten Überblick über zentrale Kriterien des
Pressebildes zu schaffen. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Längsschnittuntersuchungen im Hauptuntersuchungszeitraum 1955-94, um weniger kurz- als vielmehr langfristig wirksame Nachrichtenfaktoren zu ermittelt. Chronologische Datenaufschlüsselungen erlauben zum Teil, zeithistorische Schwankungen im Faktorengefüge zu
erkennen; durch getrennte wie kumulierte Daten zu den vier untersuchten Medien
können sowohl blattspezifische als auch presseübergreifende Erkenntnisse gewonnen
werden.
42
5.1.1. Häufigkeit und Kontinuität
Die einfachste Form der Auswertung des gewonnenen Datenmaterials ist die Untersuchung des Umfangs der Berichterstattung sowie ihrer Kontinuität im Untersuchungszeitraum. Im vorliegenden Fall wurde nicht das häufig in der Medieninhaltsanalyse gebrauchte Verfahren des Vermessens der Artikelumfänge angewandt, sondern es wurde die Anzahl der Artikel über Nordafrika und den Nahen und Mittleren
Osten in chronologischer Verteilung ermittelt.
Als Besonderheit der methodischen Vorgehensweise ist anzumerken, daß in den
vierziger und frühen fünfziger Jahren vor allem bei den Wochenzeitungen erhebliche
Lücken bei der Berichterstattung über Nordafrika sowie den Nahen und Mittleren
Osten erkennbar geworden sind. Die Tabellen A 5.1-A 5.4 kennzeichnen die Ausgaben der regulären Strichprobe als „Normalstichprobe“ (NS), wobei NS1 die Anzahl
der Ausgaben, NS2 die Anzahl der Artikel bezeichnet. „Keine Nennung“ (KN) steht
für Ausgaben ohne relevante Berichte. Für die Untersuchung des Umfangs und der
Kontinuität der Berichterstattung ist die Feststellung von Berichterstattungslücken
ein wichtiger Befund. Da sich jedoch für die folgenden inhaltlichen Analyseschritte
die Anzahl der Zeitungs-/Zeitschriftenausgaben erheblich verringert hätte, wurde für
jede KN-Ausgabe im zeitlichen Umfeld willkürlich eine „Zusatzstichprobe“ (ZS1:
Anzahl der Ausgaben; ZS2: Anzahl der Artikel) gezogen und untersucht. Für die
Analyse des Umfangs und der Kontinuität der Berichterstattung wurde die NS, in
allen weiteren Auswertungen die um die ZS erweiterte NS zugrunde gelegt, hier als
„Gesamtstichprobe“ (GS1: Anzahl der Ausgaben, GS2: Anzahl der Artikel) bezeichnet.109
Ein Vergleich der Artikelhäufigkeit im Hauptvergleichszeitraum 1955-94 bei den
gattungsgleichen oder -ähnlichen Medien zeigt, daß auf die Tageszeitungen ein
Durchschnittswert von 3,1 und auf die Wochenzeitungen von 1,5 Artikeln pro Ausgabe entfällt (SZ 3,2; F.A.Z. 2,9; Spiegel 1,7; stern 1,3)110. Zu erkennen ist, daß
diese gattungsgleichen oder -ähnlichen Medien ähnliche journalistische Standards in
bezug auf den Umfang ihrer Berichterstattung aufweisen, so daß auch über lange
Zeiträume nur geringfügige Quantitätsunterschiede erkennbar werden. Die Süddeutsche Zeitung widmet dabei der Region etwas größere Aufmerksamkeit als die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Zwar muß davon ausgegangen werden, daß der Aufstieg
der in München erscheinenden Tageszeitung zum zweitwichtigsten Meinungsführer
nach dem Spiegel in den neunziger Jahren111 in erster Linie der politischen Strömungsausrichtung („liberal“) und inhaltlichen Gestaltung zu verdanken ist, doch
wird auch der große Umfang der Berichterstattung hierzu einen Beitrag geleistet
109 Die leichten Differenzen zwischen NS1 und GS1 (als Ergebnis der Differenzen zwischen KN und
ZS1) resultierten daher, daß entweder auch bei längerem Suchen keine ZS im Umfeld des Stichtages gefunden werden konnte oder daß Kodierer im Laufe ihrer mehrjährigen Arbeit einige ZS zuviel
kodiert haben. Da nur sehr geringfügige Abweichungen erkennbar sind und im Gesamt der wichtigen Vergleichsevaluierung im Hauptvergleichszeitraum 1955-94 der Umfang der GS1 größer ist als
NS1, ist keine Beeinträchtigung der Untersuchung erkennbar.
110 NS2 : NS1.
111 Vgl. die Darstellung in Kapitel 4.2.
43
haben.112 Selbst die Anzahl der Artikel bei der Süddeutschen Zeitung ist allerdings
nicht geeignet, mehr als eine Grundversorgung an Informationen über insgesamt 26
Untersuchungsländer zu sichern. Das rechnerische Mittel von etwa drei Artikeln pro
Land pro Monat113 muß prinzipiell mit den hunderten und tausenden Beiträgen in
Relation gesetzt werden, die im selben Zeitraum in der Inlandsberichterstattung der
Süddeutschen Zeitung die Nachrichtenversorgung über Deutschland sichern.
Die chronologische Verteilung der Umfangsdaten (Abb. 5.1) bietet weitere Interpretationsmöglichkeiten:
• Die Berichterstattung über die Regionen Nordafrika sowie Nah- und Mittelost
unterliegt bei den Tageszeitungen starken konjunkturellen Schwankungen. Großereignisse wie Kriege, Revolutionen und Krisen mit internationaler Dimension
haben die Umfänge der deutschen Presseberichterstattung jeweils signifikant in
die Höhe schnellen lassen und belegen die starke Ereigniszentrierung der Tagespresse. Zu den Höhepunkten der Berichterstattung zählten die Suezkrise (1956),
der Ausbruch des Algerienkrieges (1958), der arabisch-israe-lische „Sechstagekrieg“ (1967), die Erdölkrise (1973), der arabisch-israelische „Oktoberkrieg“
(1973), der ägyptisch-israelische Friedensprozeß von Camp David, die Iranische
Revolution (1978/79) sowie der zweite Golfkrieg (1991).
• Die genannten Ereignisse lassen sich in drei die deutsche Presserezeption dominierende Ereigniskategorien fügen: a) den Nahostkonflikt, b) regionale Krisen
und Kriege mit internationaler Dimension sowie c) den politischen Islam. Auf die
Berichterstattung über die genannten Ereignisse folgte jeweils eine beträchtliche
Verringerung der Berichterstattungshäufigkeit für mehrere aufeinanderfolgende
Jahre, in denen die Region weniger im Blickfeld der Tagespresse war − mit der
markanten Ausnahme der siebziger Jahre allerdings, in denen eine Kumulation
großer Ereignisse ein solches Absinken nur kurzfristig zuließ. Von den Wochenzeitungen weist Der Spiegel ebenfalls starke Reaktionen auf die genannten Großereignisse auf, im Unterschied zum stern der als einziges der untersuchten Medien auf die politischen Großereignisse nicht mit Steigerungen der Berichterstattung reagiert hat, was mit der im Vergleich zum Spiegel relativ geringen Politikund/oder Ereigniszentrierung des Mediums erklärt werden kann (Kap. 5.1.2). Im
Zuge der Evaluierung der quantitativen Daten über Medieninhalte wird sich erweisen, daß zwischen stern und Spiegel im Laufe der Jahrzehnte ein langsamer
Rollenwechsel stattgefunden hat, der mit einer veränderten Sichtweise der Region zu erklären ist. Während noch in den frühen fünfziger Jahren die vom stern
bevorzugten Unterhaltungsthemen mit dem Orient in Verbindung gebracht wurden, hat der nahezu gänzliche Wegfall dieses Berichterstattungssegments nach
1967 der Politikzentrierung der Nahostberichterstattung (u.a. des Spiegels) quantitativ Auftrieb verliehen.
112 Bei den Wochenzeitungen macht sich eine stärkere Berücksichtigung der Untersuchungsregion im
politischen Nachrichtenmagazin Der Spiegel im Vergleich zur Illustrierten stern nur sehr geringfügig bemerkbar.
113 Etwa 3 Artikel pro Tag, 90 pro Monat, dividiert durch 26 Untersuchungsstaaten.
44
45
• Die chronologische Entwicklung läßt weiterhin erkennen, daß die konjunkturellen Schwankungen nur begrenzt als Moment der Diskontinuität der deutschen
Nahostberichterstattung zu interpretieren sind. Vielmehr ist seit Beginn der siebziger Jahre der Umfang der Tageszeitungsberichte auf ein weitaus höheres Niveau gehoben worden als in den Jahrzehnten zuvor, so daß konjunkturelle Häufigkeitsminderungen der Artikelzahlen kompensiert worden sind. Seit 1970 ist es
zu einer relativen Steigerung der Berichtzahlen von mehr als 60 Prozent gekommen. Die durchschnittliche Artikelzahl pro Ausgabe lag bei der Süddeutschen
Zeitung im Zeitraum 1955-69 bei 2,3 und 1970-94 bei 3,8; bei der Frankfurter
Allgemeinen Zeitung lag sie 1955-69 bei 2,1 und 1970-94 bei 3,4. Sowohl die
Spitzenwerte der Tageszeitungsberichte über Großereignisse als auch die Tiefstände bewegen sich seit den siebziger Jahren auf einem derart angehobenen Niveau, daß selbst in Zeiten nachlassenden Interesses in den achtziger und neunziger Jahren soviel berichtet worden ist wie während des „Sechstagekrieges“ von
1967, das als zentrales Medienereignis der Jahrzehnte vor 1970 bezeichnet werden muß. Die Annahme einer in den siebziger Jahren einsetzenden quantitativen
Niveausteigerung deckt sich mit Untersuchungen der Berichterstattung der amerikanischen Fernsehsender ABC, CBS und NBC, wobei eine dauerhafte Steigerung der Nahostberichterstattung seit dem „Oktoberkrieg“ von 1973 attestiert
wird.114 Zur Umfangssteigerung hat, neben einer Steigerung des Interesses an der
Region infolge der Häufung international bedeutsamer Ereignisse in den siebziger Jahren,115 eine allgemeine Umfangssteigerung der Produktion bei den untersuchten Medien beigetragen.116
Der Umfang der Berichterstattung über Nordafrika und den Nahen und Mittleren Ostens hat sich bei den Wochenzeitungen nicht im selben Maß vergrößert
wie bei den Tageszeitungen. Der Spiegel hat mit einer Erhöhung der durchschnittlichen Artikelzahl von 1,2 (1955-69) auf 1,9 Artikeln pro Ausgabe (197094) die Umfangssteigerung der Tageszeitungen nachvollzogen, der stern hingegen mit einer Steigerung von 1,2 auf 1,4 nur marginal reagiert. Beim Spiegel hat
die Umfangserhöhung offensichtlich erst mit zehnjähriger Verzögerung, nämlich
seit der Iranischen Revolution 1978/79, eingesetzt, wobei bei der Wochenzeitung
ähnlich starke Reaktionen auf die genannten Großereignisse zu erkennen sind wie
bei den Tageszeitungen, die nachfolgenden gravierenden Konjunkturabflachungen zeigen jedoch, daß die Tiefstände der achtziger Jahre, anders als bei den Ta114 William Adams/Phillip Heyl, From Cairo to Kabul with the Networks, 1972-1980, in: William C.
Adams (Hrsg.), Television Coverage of the Middle East, Norwood 1981, S. 4 ff.
115 Der Nahe und Mittlere Osten erzielte gemäß Petra Dorsch in der Süddeutschen Zeitung Mitte der
siebziger Jahre etwa soviel Aufmerksamkeit wie das übrige Asien und etwa doppelt soviel wie Afrika, wobei in Dorschs Rechnung sogar die nordafrikanischen arabischen Staaten in die AfrikaBilanz hineingerechnet worden sind. Petra Dorsch, Isolationismus oder Weltoffenheit?, S. 913 ff.
116 Eine Stichprobe der Januar-Ausgaben der Jahre 1965 und 1985 hat ergeben, daß der Seitenumfang
(ohne Beilagen und Anzeigenausgaben) bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung von durchschnittlich etwa 19 Seiten (1965) auf 26 Seiten (1985) und bei der Süddeutschen Zeitung um etwa 24 Seiten (1965) auf 38 Seiten (1985) anstieg, d.h. es erfolgte eine Steigerung von etwa 27 Prozent
(F.A.Z.) bzw. 58 Prozent (SZ).
46
geszeitungen, nur unwesentlich über dem Berichterstattungsniveau vorhergehender Jahrzehnte gelegen haben.
Dieses Ergebnis ist dahingehend zu interpretieren, daß die Untersuchungsregionen
zwar im Fall großer Ereignisse seit den späten siebziger Jahren hohe Nachrichtenwerte auch für ein thematisch orientiertes Magazin wie dem Spiegel besessen hat, so
daß kurzfristige thematische Vertiefungen bei einer begrenzten Zahl von Großereignissen stattfinden (vgl. a. Kap. 5.1.3), die Beschäftigung des Nahostjournalismus mit
mittel- und langfristigen Themen, Entwicklungen und Problemen der Regionen jedoch hinter diesem selektiven Vertiefungsinteresse zurückgeblieben ist. Noch gravierender macht sich dies beim stern bemerkbar, für dessen unterhaltungsorientiertes
Profil Nordafrika sowie der Nahe und Mittlere Osten seit den siebziger Jahren lediglich eine geringfügige Steigerung des Berichterstattungsumfangs gerechtfertigt hat.
Die Daten zeigen, daß die seit den siebziger Jahren wachsende Menge vor allem von
den Tageszeitungen bereitgestellter Informationen mit einer Steigerung von Hintergrundberichterstattung einhergegangen ist, die allerdings in hohem Maß auf das
engere Umfeld von Großereignissen beschränkt geblieben ist, obwohl generell in der
Auslandsberichterstattung von einem im Vergleich zu Inlandsnachrichten höheren
Bedarf des Lesers an Kontextwissen ausgegangen werden muß (Kap. 3.2.1.2, Abb.
3.6). Die Kontextkompetenz des Lesers wird von den Wochenzeitungen weniger
durch ein permanentes journalistisches „Scanning“ wichtiger Entwicklungen, eigenständige Themenfindung und Realisation in Reportagen und Features erweitert, sondern die Bindung der Kontextberichterstattung der Wochenzeitungen an den ereigniszentrierten Nachrichtenbegriff (Aktualität, Neuigkeit, Relevanz) bleibt ganz
überwiegend erhalten. Die etwa im MacBride-Bericht vorgeschlagene Erweiterung
des Nachrichtenverständnisses auf langfristige sozio-ökonomische und politische
Entiwicklungsnachrichten (Kap. 3.2.1.1) ist nicht verifizierbar. Hier ist eine „Schere“
zwischen wachsender kurzfristiger Ereignis- sowie thematisch vertiefender Ereignisberichterstattung auf der einen Seite und stagnierender mittel- und langfristiger Entwicklungsberichterstattung auf der anderen Seite zu erkennen.
5.1.2 Sachgebiete
Als erstes Inhaltskriterium der quantitativen Analyse ist ermittelt worden, welche
Sachgebietsverteilung die evaluierten Presseartikel aufweisen. Die Zuordnung verschafft Aufschluß über die Ressortverteilung der Presseberichterstattung, denn die
kodierten Sachgebiete („Politik“, „Ökonomie“, „Soziales/Umwelt“, „Religion“,
„Kultur/Wissenschaft“, „Unterhaltung“, „Tourismus“) verhalten sich in etwa analog
zu den üblicherweise bestehenden Medienressorts wie Politik, Wirtschaft, Feuilleton
oder Buntes. Erkennbar wird, in welchen Bereichen Informationen aus und über die
Länder Nordafrikas sowie des Nahen und Mittleren Ostens grundsätzlich gesucht,
empfangen und weitergegeben werden. Im Zusammenhang mit dem der vorliegenden
Arbeit zugrunde gelegten Konzept eines gemäßigten Konstruktivismus im Bereich
des „Auslandsbildes“ muß davon ausgegangen werden, daß es dem Journalismus
47
grundsätzlich möglich ist, Realitätsmaßstäbe zu konstruieren, und zwar nicht allein
durch die Anordnung, Gewichtung und Interpretation von Informationsbestandteilen,
sondern bereits im Vorfeld durch den Ausschluß anderer Informationsbereiche. Theoretisch kommt hier insbesondere die grundsätzliche Kritik des MacBride-Berichts
an der „Nichtdarstellung bedeutsamer Entwicklungen und Probleme“ in der Auslandsberichterstattung zum Tragen (Kap. 3.2.1.1).
Abbildung 5.2 weist die Sachgebietsverteilung im primären Vergleichszeitraum
aller Zeitungen und Zeitschriften zwischen 1955-1994 aus. Der auffälligste Befund
der Sachgebietsanalyse besteht in der dominanten Stellung der Politik und des Politikressorts in der Berichterstattung über Nordafrika sowie Nah- und Mittelost. Politische Berichterstattung stellt im Durchschnitt der untersuchten Tageszeitungen etwa
vier Fünftel und im Durschnitt der Wochenzeitungen etwa zwei Drittel der Berichterstattung dar. Daß die Süddeutsche Zeitung (88,5%) im Vergleich zur Frankfurter
Allgemeinen Zeitung (78,1%) einen Extremwert in bezug auf politische Berichterstattung erzielt, ist vor allem mit dem offensichtlich stärkeren Interesse der Frankfurter Allgemeinen Zeitung insbesondere an wirtschaftlichen Fragestellungen zu erklären. Ungeachtet ihrer ebenfalls starken Politikzentrierung weisen die Wochenzeitungen eine stärkere Sachgebietsstreuung auf, wobei der Spiegel vor allem in den Bereichen „Ökonomie“ und „Soziales/Umwelt“, der stern hingegen auf den Gebieten
„Soziales/Umwelt“ und „Unterhaltung“ kleinere Schwergewichte neben der Politik
bildet.
48
49
Für die Politikzentrierung der untersuchten Medien bieten sich zwei komplementäre
Interpretationen an:
• Die ausgeprägte politische Berichterstattung ermöglicht einen starken und daher
potentiell differenzierten Informationsfluß in diesem Bereich. Ungeachtet der
notwendigen Einschränkung, daß auch die von den Tageszeitungen im Zeitraum
1955-94 durchschnittlich publizierten etwa drei Artikel pro Tag keine mit der Informationsdichte der Inlandsberichterstattung vergleichbare Dimension aufweisen, läßt die Artikelmenge potentiell die Möglichkeit erkennen, zumindest kursorisch über einige wesentliche politische Entwicklungen der Region zu informieren. Die politische Auslandsberichterstattung muß als das eigentliche Signum der
Berichterstattung über die Länder Nordafrikas sowie des Nahen und Mittleren
Ostens bezeichnet werden − ein Ergebnis, das der Ansiedlung der Theorie im Bereich des interdisziplinären Forschungsfeldes der internationalen politischen
Kommunikation zusätzliche empirische Berechtigung verleiht (vgl. Einleitung zu
Kap. 3).
• Die Politikzentrierung weist zugleich darauf hin, daß Begriffe wie „Nahost-“
oder „Nordafrikaberichterstattung“, die für die journalistischen Transferleistungen der Presse aus den Ländern Nordafrikas und des Nahen und Mittleren Ostens
im allgemeinen verwandt werden, präziser als „politische Nahost-“ oder „politische Nordafrikaberichterstattung“ gefaßt werden sollten, da das mediale Verständnis von Gesellschaftsabläufen weitgehend auf der Ebene politischer Handlungen, Ereignisse und Akteure verbleibt, während andere Sphären, vor allem soziale Belange, Umweltschutz, Kultur, Kunst, Wissenschaft und Unterhaltung, in
hohem Maß ausgeblendet werden. Auch wenn im theoretischen Vorlauf im Zusammenhang mit dem Agenda-Setting darauf hingewiesen worden ist, daß ungeachtet der relativ großen Wirkung der Auslandsberichterstattung (im Vergleich
zur Inlandsberichterstattung) keine lineare Wirkung der Massenmedien auf den
öffentlichen Themenhaushalt veranschlagt werden kann, schaffen die Medien wesentliche Voraussetzungen für eine politikzentrierte Sichtweise der Regionen.
Das Ergebnis verdeutlicht, daß Berichterstattungsleistungen der Medien weitgehend eingeschränkt auf den politischen Überbau orientalischer Gesellschaften
bleiben.
Ein zusätzliches Problem im Kontext der Perzeptionen unter den Bedingungen geokultureller Distanz (Kap. 3.1.1) besteht darin, daß im Unterschied zur politischen Prägung der deutschen Auslandsberichterstattung die Bevölkerungen in
den Untersuchungsstaaten selbst in der Regel eine abweichende Perspektive auf
ihre Realität insofern einnehmen, als sowohl ihre heimischen (lokalen, nationalen
und regionalen) Medien als auch ihre individuellen Erfahrungen nicht nur durch
die politischen, sondern ebenso durch soziale, kulturelle und unterhaltende Sphären des Alltags geprägt sind. Die latente Kluft zwischen deutschen Medien- und
indigenen Selbstbildern kann zu einem Spannungszustand in der globalen Kommunikation führen, denn die politikzentrierte Fernsicht steht einer durch Alltags-
50
erfahrungen geprägten Nahsicht gegenüber, was die Kommunikationsbasis stark
einschränkt.
Die vorliegenden Ergebnisse der Sachgebietsverteilung weisen starke Ähnlichkeiten
mit Ergebnissen der vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung (BMZ) 1983 veröffentlichten Studie „Dritte Welt und Medienwelt“
auf. Die Studie ermittelt für die überregionale Tagespresse folgende prozentualen
Anteile der Sachgebiete: „Politik“ 54 Prozent; „Ökonomie“ 13 Prozent; „Katastrophen“ 17 Prozent; „Kriege“ 8 Prozent; „Kultur/ Religion“ 1 Prozent; „Wissenschaft/Medizin“ 0 Prozent; „Sonstige“ 7 Prozent.117 Betrachtet man „Krieg“ nicht als
eigenständige Kategorie, da sie abgesehen von einigen Berichten über Kriegsopfer
überwiegend militärisches und diplomatisches Geschehen beinhaltet, und berücksichtigt man ferner, daß zumindest Teile der Berichterstattung über „Katastrophen“
ebenfalls der Politik zuzurechnen wären, so nimmt in dieser Studie das Sachgebiet
„Politik“ einen Umfang von 62 bis 79 Prozent ein. Starke Ähnlichkeit besteht auch
zwischen der vorliegenden Studie und Manfred Wöhlckes Arbeit „Lateinamerika in
der Presse“ aus dem Jahr 1973, wobei folgende Anteile für das Sachgebiet „Politik“
ermittelt worden sind: Der Spiegel 79 Prozent, Le Monde 75 Prozent, Die Welt 69
Prozent, Frankfurter Allgemeine Zeitung 67 Prozent, Neue Zürcher Zeitung 63 Prozent, Neues Deutschland 60 Prozent und Handelsblatt 16 Prozent.118 Ein Vergleich
der vorliegenden Untersuchung mit der Wöhlckes läßt erkennen, daß in beiden Fällen ein nahezu identischer Durchschnittswert für die allgemeinen überregionalen
westdeutschen Medien119 errechnet werden kann, der sich auf 71,7 Prozent Politikanteil in Wöhlckes Studie und auf 73,5 Prozent in der vorliegenden Studie beläuft. Die
Dominanz des Politikressorts ist damit sowohl in der Lateinamerikaberichterstattung
als auch in der Berichterstattung über Nordafrika sowie den Nahen und Mittleren
Osten zu erkennen.
Das Sachgebiet „Soziales/Umwelt“ ist bei den beiden Wochenzeitungen stärker
vertreten als bei den Tageszeitungen. Die Wochenzeitungen sind etwas weniger in
der Politikberichterstattung verhaftet und zeigen im Gesamtverlauf des Untersuchungszeitraums 1955-94 eine leicht ausgewogenere Sachgebietsstreuung, etwa
durch kleine Schwerpunkte in der Sozial- und Wirtschaftsberichterstattung oder auf
dem Gebiet der Unterhaltung, auch wenn im Fortgang der Arbeit zu zeigen sein
wird, daß sich bei der inhaltlichen Gestaltung der Texte der Wochenzeitungen eine
stärkere Negativ- und Polarisierungstendenz als bei den Tageszeitungen erkennen
läßt (z.B. Katastrophenberichterstattung als Signum des Bereichs „Soziales/ Umwelt“; vgl. a. Kap. 5.1.4). „Infotainment“-Ausrichtung und Feature-Journalismus der
Wochenzeitungen begünstigen eine etwas größere Vielfalt der Darstellung
unterschiedlicher Lebensbereiche.
117 Dritte Welt und Medienwelt (BMZ), S. 49.
118 Wöhlcke, Lateinamerika, S. 23-25.
119 Bei Wöhlcke sind dies Frankfurter Allgemeine Zeitung, Die Welt und Der Spiegel.
51
Das Sachgebiet „Unterhaltung“ der Presseberichterstattung erweist sich als eine
komplementäre Komponente zur Entwicklung des Sachgebiets „Politik“, wie der
chronologische Verlauf der Daten der Illustrierten stern (Abb. 5.3) verdeutlicht:
Das Medium, das im Zeitraum 1955-94 mit 15,1 Prozent den höchsten Anteil an
Unterhaltungsbeiträgen von allen untersuchten Medien aufweist, hat diese Berichterstattungstradition seit dem „Sechstagekrieg“ von 1967 nahezu gänzlich abbrechen
lassen. Auch die anderen Medien zeigen eine abnehmende Entwicklung im Laufe der
Jahrzehnte, die gleichwohl weniger deutlich ist, da diese Medien sich zu keiner Zeit
als Unterhaltungsmedien verstanden haben. Zu erkennen ist, daß das orientalische
Unterhaltungsgenre, also vor allem die Berichterstattung über das Privatleben orientalischer Monarchen und Prominenz (Kap. 5.1.3) in den fünfziger und weiten Teilen
der sechziger Jahre weitaus bedeutsamer war als in den nachfolgenden Jahrzehnten,
in denen die Umfangssteigerung der Presseberichterstattung vor allem dem politischen Sektor zugute gekommen ist. Vereinfachend formuliert läßt sich erkennen, daß
mit der Zuspitzung des Nahostkonflikts im „Sechstagekrieg“ (und der in starkem
Maß durch die Holocaust-Vergangenheit geprägten pro-israelischen Orientierung der
deutschen Medien; Kap. 6.1.1) aus dem unterhaltsam-exotischen „Orient“ eine geopolitische Größe, ein „Naher Osten“ (resp. Nordafrika oder Mittlerer Osten) geworden ist. Mit der endgültigen Verlagerung der Berichterstattung vom Unterhaltungszum Politikbereich ist wahrscheinlich auch zu erklären, daß die Illustrierte stern mit
ihrer starken Unterhaltungskomponente die geringste Umfangssteigerung in der
Berichterstattung im Vergleich der Zeiträume 1955-69 und 1970-94 erlebt hat (Kap.
5.1.1).
Eine Auffächerung des Sachgebiets „Kultur/Wissenschaft“ im Vergleichszeitraum 1955-94 ergibt, daß sich der weit überwiegende Teil dieser häufig in den Feuil52
letons versammelten Artikel mit der vorislamischen, antiken, frühchristlich-jüdischen
oder frühorientalischen Geschichte beschäftigt. Islamische oder arabische Kultur,
also die Gegenwartskultur Nordafrikas und des Vorderen Orients, treten in den meisten untersuchten Medien nahezu gar nicht in Erscheinung. Wenn Nordafrika und
der Vordere Orient kulturell überhaupt thematisiert werden, dann als Wiege der
europäischen Zivilisation. Eine Einzeluntersuchung der kodierten Beiträge hat ergeben: Während sich im wesentlichen bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dem
Spiegel und dem stern ein abendländisch-christlich orientiertes Kulturverständnis
zeigt, unterscheidet sich die Süddeutsche Zeitung durch ihre relative Öffnung gegenüber der modernen orientalischen Kultur von den anderen Medien, wobei Themen
wie Filmfestspiele in Kairo, ägyptische Literatur, klassische Musik in Israel oder
türkischer Film aufgegriffen werden.120 Aus theoretischer Sicht muß die starke
abendländisch-christliche Orientierung der anderen Medien als Resultat einer die
orientalischen Gegenwartskulturen ausklammernden kulturellen Nähedefinition betrachtet werden, der sich allein die Kulturberichterstattung der Süddeutschen Zeitung
entzieht, da diese die arabische oder andere nationale orientalische Kulturen in stärkerem Maß einbezieht und somit einen erweiterten multi-, inter- bzw. transkulturellen Nähebegriff pflegt (vgl. Kap. 5.2.2.1). Die in allen Medien ausgeprägte Orientierung zur vorislamischen und vorarabischen orientalischen Kultur kann zudem dem
Nachrichtenfaktor „Überraschung“ zugeordnet werden, da in hohem Maß Ausgrabungen und/oder wissenschaftliche Entdeckungen rezipiert werden.
5.1.3 Thematisierung
Zu den zentralen Hypothesen der empirisch gestützten Nachrichtenwertforschung
gehören die sich widersprechenden Annahmen zur Bedeutung der Thematisierung.
Einerseits gehen Einar Östgaard sowie Johan Galtung und Mari Holmboe Ruge davon aus, daß der Nachrichtenwert eines Ereignisses höher ist, je kürzer die Dauer des
Ereignisses ist.121 Andererseits hat Winfried Schulz widerlegt, daß diese These für
die deutsche Medienberichterstattung im Bereich „internationale Politik“ zutrifft, als
er herausfand, daß „Ereignisse, die in den Rahmen eines langfristig eingeführten
Themas gehören“, besondere Beachtung finden und damit der Nachrichtenfaktor
„Thematisierung“ von herausragender Bedeutung ist: „Kontinuität geht vor Neuigkeit.“122 Letztlich geht es bei diesem Disput um die theoretische Formulierung der
empirischen Bestätigung/Nichtbestätigung der normativen Nachrichtendefinition des
Journalismus, wonach eine Nachricht durch die Abweichung von der Normalität
entsteht (Kap. 3.2.1.1).
120 Verständlich ist daher auch, daß das Thema „alte Geschichte“ in der Süddeutschen Zeitung die
geringste Beachtung aller untersuchten Medien findet (vgl. Kap 5.1.3).
121 Galtung/Ruge: „Events occur, they are sudden, like flashes of lightening, with no build-up and with
no let-down after their occurence − they just occur (...).“ Galtung/Ruge, The Structure, S. 84; vgl. a.
Östgaard, Factors, S. 39 ff.
122 Schulz, Die Konstruktion, S. 86, 88 f.
53
In der vorliegenden Untersuchung (Abb. 5.4) werden etwa zwei Drittel der Berichterstattungskapazität von den im Untersuchungsdesign vorgegebenen lang- oder mittelfristigen Themen bestimmt, insbesondere vom „Arabisch-Israelischen Konflikt“,
von „anderen Konfliktherden“ (sog. „Großkonflikte“) wie der Zypernkrise, dem
Iran-Irak-Krieg oder dem algerischen Bürgerkrieg, vom „Islam“, der „Erdölfrage“,
den „deutsch-orientalischen Beziehungen“, dem „arabischen Nationalismus/PanArabismus“, der „orientalischen Prominenz“ (yellow press soft news) und von der
vorislamischen/-arabischen Geschichte. Nahezu der gesamte Umfang der ermittelten
Themen − dies trifft auch auf die deutsch-orientalischen Beziehungen zu − betrifft
„politische Themen“. Jeder fünfte Artikel in der Stichprobe beschäftigt sich mit dem
Arabisch-Israelischen Konflikt, ein weiteres Fünftel mit anderen Großkonflikten. Ein
letztes Drittel etwa entfällt auf nichtspezifizierte Ereignisse, Themen und Entwicklungen („Sonstiges“).
Dieses letzte Drittel der Berichterstattung über Nordafrika sowie den Nahen und
Mittleren Osten besteht aus anderen Themen, wobei eine beträchtliche Anzahl dieses
Bereichs in kurzfristiger Ereignisberichterstattung bestehen dürfte, die nicht mit
einer Verankerung dazugehöriger Themen auf der Medienagenda korreliert. Die
Tatsache, daß etwa zwei Drittel der Nahostberichterstattung thematisch an einige
„große Themen“ gebunden sind, spricht gegen Östgaards, Galtungs und Ruges These, daß „Neuigkeit“ (kurze Ereignisdauer) und nicht „Thematisierung“ der ausschlaggebende Nachrichtenfaktor in der Auslandsberichterstattung ist. Bei den etwa
zwei Dritteln der lang- und mittelfristigen Themen allerdings ist die Wahrscheinlichkeit der Nachrichtenselektion dadurch überdurchschnittlich hoch, daß diese Themen
bereits auf der öffentlichen Themenagenda etabliert sind und für Ereignisvarianten
innerhalb des Themenblocks die Nachrichtenschwelle relativ niedrig ist. Dies scheint
stärker Schulz’ Theorieannahme der Bedeutsamkeit der „Thematisierung“ als Nachrichtenfaktor zu bestätigen.
Zu einem differenzierten Urteil über Verifizierung und Falsifizierung der Theorie
kann man gleichwohl nur gelangen, wenn man berücksichtigt, daß „Neuigkeit“ und
„Thematisierung“ verschiedene Länder in ganz unterschiedlicher Weise betreffen.
Während der Arabisch-Israelische Konflikt für eine kontinuierliche Berichterstattung
über Israel-Palästina und deren Anrainerstaaten sorgt, fällt ein Land wie Sudan allein
in den Einzugsbereich kurzfristiger Ereignisberichte in der Rubrik „Sonstiges“. Länder, die überwiegend im Rahmen ereigniszentrierter Berichterstattung kurzfristrig
auftreten und keinen Raum zu dauerhafter Thematisierung bieten, leiden häufig unter
überproportionaler Darstellung negativer Ereignisse (Kap. 5.2.2.3). Demnach gibt es
Länder mit und Länder ohne Bezug zu übergreifenden und anhaltenden Themen. Vor
dem Hintergrund dieser Überlegungen scheint es nicht sinnvoll, die Daten als Beleg
für oder gegen eine der vorgestellten Thesen − „Kontinuität vor Neuigkeit“ (Schulz)
bzw. „Neuigkeit vor Kontinuität“ (Östgaard, Galtung und Ruge) − zu verwenden.
54
55
Eine weitere Hypothese des vorangegangenen Kapitels kann überprüft werden, wonach die starke Konzentration auf die politische Berichterstattung auf relativ starke
inhaltliche Diversifizierung in diesem Bereich schließen läßt. Wenn nahezu der gesamte Bereich der zwei Drittel der Berichterstattung umfassenden Dauerthemen
„politische Themen“ sind („Arabisch-Israelischer Konflikt“, „andere Großkonflikte“,
„politischer Islam“, „deutsch-orientalische Beziehungen“, „arabischer Nationalismus“), so wird ein großer Teil der Berichterstattungskapazität über die Länder Nordafrikas und Nah- und Mittelost von einer sehr begrenzten Zahl von Themen, vor
allem im Bereich von Krisen und Konflikten, absorbiert, was im Umkehrschluß
bedeutet, daß nur sehr wenig Raum für thematische Vielfalt bleibt, oder, präziser
formuliert, es bleibt nur wenig Raum für eine größere Zahl lang- und mittelfristiger
Themen im Bereich der politischen Informationen. Die politische Nahost-, Mittelost
und Nordafrikaberichterstattung, um die es in der vorliegenden Analyse auf Grund
des Primats des Sachgebiets „Politik“ überwiegend geht, ist weitaus weniger diversifiziert als in Kapitel 5.1.2 erwartet und wird statt dessen von wenigen Themen dominiert, die das politische Aussagenprofil der untersuchten Medien nachhaltig prägen.
Allerdings besteht zwischen thematischer Diversifizierung und thematischer Kontinuität eine Antinomie, wobei jeder Grad an zunehmender mittel- und langfristiger
„Thematisierung“ Verluste der Themenvielfalt nach sich ziehen muß oder umgekehrt. Eine Lösung dieser Thematisierungs-Diversifizierungs-Antinomie wäre nur im
Rahmen einer quantitativen Ausweitung der Berichterstattung möglich, die nur begrenzt realisierbar ist. Die Grenzen der Vielfalt können daher nur durch bewußte
Einschränkungen bei „großen“ Themen zugunsten „kleiner“ Themen erweitert werden. Hier kann beispielsweise über die Relevanz einer Vielzahl von Nachrichten
über den Nahostkonflikt nachgedacht werden, die in weiten Teilen einer von den
politischen Protagonisten bewußt geführten „öffentlichen Diplomatie“ entspringen,
wobei eine Vielzahl veröffentlichter Positionen ohne sichtbare praktische Konsequenz geblieben ist.123
Bei einer weiteren Differenzierung der Interpretation der empirischen Daten im
Bereich langfristiger politischer Themen ist erkennbar, daß ungeachtet der prominenten Rolle, die „Islam“ und das „Feindbild Islam“ in der jüngeren Medienkritik spielen (Kap. 4.1), das Thema „Islam“ in bezug auf seine Beachtungshäufigkeit in der
deutschen Presse weit weniger bedeutsam ist als der Nahostkonflikt und andere
Großkonflikte. Zugleich ist in Abbildung 5.5 zu erkennen, daß durch die Iranische
Revolution von 1978/79 das Thema „Islam“ einen sprunghaften Aufmerksamkeitszuwachs erzielt hat, der den Stellenwert des Themas über den gesamten Zeitraum der
123 Zur publizistischen Propaganda vgl. die Hinweise zur Koschwitz und Hatem in Kapitel 6.1.1; zur
Relevanz des Nahostkonflikts vgl. Kai Hafez, Rezension zu Gerda Hansen, Palästina auf dem Weg
zur Eigenstaatlichkeit. Literatur und Internetressourcen zur politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung seit Oslo, Hamburg 1999, in: Orient 40 (1999) 2, S. 313.
56
57
achtziger und neunziger Jahre erhöht hat.124 „Islam“ ist daher über den gesamten
Vergleichszeitraum 1955-1994 betrachtet eher ein qualitativ denn ein quantitativ
bedeutsames Thema gewesen. Seit 1978/79 allerdings scheint die neue Qualität des
Themas, das durch Kernbegriffe wie „Re-Islamisierung“, „islamischer Fundamentalismus“ oder „islamische Renaissance“ beschrieben worden ist und das Vordringen
der islamischen Religionsthematik in den politischen Sektor (politischer Islam) und
in die politische Berichterstattung signalisiert, auch ein höheres quantitatives Niveau
langfristig festigen zu können. Gerade in den neunziger Jahren hat die Kumulation
solcher Ereignisse wie der Rushdie-Affäre, der Algerienkrise, der Machtübernahme
und Entmachtung des politischen Islam in der Türkei „Islam“ zu einem festen Bestandteil der medialen Agenda werden lassen.125
Bei den „deutsch-orientalischen Beziehungen“ handelt es sich nicht um ein einheitliches Thema, sondern um einen Themenkomplex, bei dem die deutschorientalischen Beziehungen selten als solche thematisiert werden, sondern versammelt wurden alle Beiträge über Deutschlands staatliche, gesellschaftliche oder private Beziehungen zu Staaten und Gesellschaften Nordafrikas sowie des Nahen und
Mittleren Ostens. Insofern diente die Kategorie „deutsch-orientalische Beziehungen“
der Kodierung als ein übergeordnetes Leitmotiv unterschiedlicher Themen und Ereignisse im deutsch-orientalischen Beziehungsfeld ähnlich der Sammelkategorie „EGFragen“ bei Schulz.126 Eines der markantesten Ergebnisse ist, daß die untersuchten
Pressemedien nahezu ausschließlich sogenannte harte Themen (hard issues) der
politischen oder wirtschaftlichen Beziehungen auf die Medienagenda gesetzt haben,
neben Staatsbesuchen zahlreiche konfliktbelastete Themen wie deutsche Waffenlieferungen in den Vorderen Orient, Deutschlands Rolle im Nahostkonflikt, politische
Spannungen zwischen EG/EU und der Türkei, Geiselnahmen von Deutschen im
Libanon usw.127 Die deutsch-orientalischen Beziehungen sind in der medialen Deutung ganz überwiegend kein Nischenfeld kultureller und wissenschaftlicher Beziehungen, sondern in hohem Maß konfliktbelastet, wie in der späteren kombinierten
Analyse Themen-Ereignisvalenzen (Kap. 5.2.1.2) deutlich werden wird.
Beim Themenfeld „orientalische Prominenz“ handelt es sich hingegen um einen
soft issue-Bereich, und zwar nahezu ausschließlich um Topoi, die das Privatleben
von orientalischen Monarchen wie dem persischen Shah Mohammed Reza Pahlevi
oder dem ägyptischen König Faruk oder anderen Prominenten berühren. Vor allem
im stern, wo dieses Thema auf Grund der starken Unterhaltungsausrichtung des
Blattes am stärksten vertreten gewesen ist (9,3%), zeigt sich allerdings, daß analog
zur Entwicklung des Sachgebiets „Unterhaltung“ (vgl. Abb. 5.3 in Kap. 5.1.2) dieser
Themenstrang seit 1967 nahezu gar nicht mehr in Erscheinung tritt. Seit dieser Zeit
werden relevante Themen vermutlich völlig in spezialisierte yellow press-Medien
124 Vgl. a. Thofern, Darstellungen des Islams, S. 78 ff.
125 Vgl. mit einer ähnlichen Entwicklung die Auswertung des Spiegel-Index in: Hafez, Salman Rushdie
im Kulturkonflikt, S. 141.
126 Vgl. u.a. Schulz, Die Konstruktion, S. 60 f.
127 Vgl. den Themenausriß in Tabelle 5.7 in Kapitel 5.2.2.2.
58
(etwa das Goldene Blatt) verdrängt worden sein, die überwiegend von einer älteren,
mit orientalischen Prominenzthemen aufgewachsenen Generation gelesen werden.
5.1.4 Ereignisvalenz
Ein Ziel der quantitativen Inhaltsanalyse ist es, die Wertigkeit der von der Presse
berichteten Ereignisse und Entwicklungen Nordafrikas sowie des Nahen und Mittleren Ostens zu bestimmen. Eine solche Vorgehensweise geht auf die hypothetische
Annahme der Nachrichtenwertforschung zurück, daß Nachrichten ein hoher Nachrichtenwert zukommt, sofern sie konflikthaftes oder kriminelles Geschehen beinhalten oder sie mit Erfolgs- oder Schadensmeldungen verbunden sind. Den Nachrichtenfaktoren „Konflikt“, „Kriminalität“ und „Schaden“ entspricht dabei eine „negative“ Valenz, Erfolg hingegen eine „positive“;128 alle anderen Ereignisse und Entwicklungen, die sich nicht durch „positive“ oder „negative“ Valenz auszeichnen und die
gleichwohl in der Medienberichterstattung Berücksichtigung finden und überwiegend reguläre und tendenziell wertfreie Ereignistypen darstellen, werden als „neutral“ eingestuft.
Während Schulz davon ausgeht, daß „Aggression und Kontroverse (...) eine (negative) Valenz“ aufweisen,129 d.h. jegliche Form des Konflikts negativ konnotiert ist,
ist in der vorliegenden Untersuchung eine Differenzierung des Konfliktbegriffs vorgenommen worden. Während wenig Uneinigkeit darüber herrschen kann, daß physische Gewaltkonflikte (wie Kriege oder Terror) tatsächlich als negativ eingestuft
werden müssen, können gewaltlose Konflikte auch als Teil regulärer und unvermeidbarer gesellschaftlicher Abläufe betrachtet werden. Eine gesellschaftliche Krise ist,
um ein Beispiel anzuführen, nicht nur ein Moment der Zuspitzung von Konflikten,
sondern oft zugleich ein Wendepunkt des Konfliktgeschehens und damit möglicherweise der Anfang einer Lösung des Konflikts. Kontroversen, Streit und Polemik
können ungeachtet ihrer den Gesellschaftsfrieden bedrohenden Aspekte fortschrittsfördernde und produktive Wirkungen zeitigen. Um dem Doppelcharakter gewaltloser
Konflikte Rechnung zu tragen, ist in der vorliegenden Evaluierung eine Doppelkodierung vorgenommen worden, die es erlaubt, sowohl die Anteile der Gewalt- als
auch der gewaltlosen Konflikte in der Presseberichterstattung zu bestimmen. Erst die
Summe beider Kategorien deckt sich mit Schulz’ Valenzdefinition der Nachrichtenfaktoren „Konflikt“, „Schaden“ und „Kriminalität“.
Nachstehend ein Auszug aus den „positiven“, „negativen“, „neutralen“ und gemischt „negativ-neutralen“ offenen Wortfeldern, die von den Kodierern verwendet
worden sind:
128 Vgl. die Darstellung in Kapitel 3.2.1.2 zum Nachrichtenfaktorenkatalog von Winfried Schulz.
129 Schulz, Ein neues Weltbild, S. 22.
59
• positiv: Aufnahme diplomatischer Beziehungen, Auszeichnung, Befreiung, Erfindung, Entdeckung, Erfolg, Fest, Freiheit, Friedensschluß, Jubelfeier, Kulturaustausch, Kulturfestival, Laudatio (persönlich), Preisverleihung, Sportfest, Wirtschaftsboom
• negativ (Gewaltkonflikte): Anschlag, Ausnahmezustand, Ausschreitung, Attentat,
Aufstand, Besetzung, Bombenanschlag, Bürgerkrieg, Drogen, Erdbeben, Epidemie, Entführung, Extremismus, Flugzeugabsturz, Flugzeugentführung, Folter,
Geiseln, Gewalt, Hinrichtung, Hungersnot, Invasion, Kampf, Katastrophe, Krieg,
Kriminalität, Mord, Massaker, Plünderung, Prostitution, Putsch, Putschversuch,
Rassenunruhen, Rebellion, Selbstmord, Staatsstreich, Straßenschlacht, Terrorismus, Todesurteil, Umweltkatastrophe, Unfall, Unglück, Unruhen, Umsturz,
Verbrechen, Vergewaltigung
• negativ-neutral (gewaltlose Konflikte): Affäre, Betrug, Beleidigung, Bankrott,
Drohung, Druck, Feindlichkeit, Gefahr, Krise, Machtkampf, Polemik, Propaganda, Protest, Regierungskrise, Sanktion, Spannungen, Streit, Wirtschaftskrise, Ultimatum, Versorgungsengpaß
• neutral: Berichte über Ereignis- und Entwicklungstypen, die regulären gesellschaftlichen Handlungen zugeordnet werden können, z.B. Konferenzen, Entwicklungsberichte, Staatsbesuche, Wahlen, einschließlich des Verhandlungsgeschehens im Umfeld von Konflikten sowie regulären Handlungsabläufen im Polizeiund Militärsektor.
Abbildung 5.6 weist aus, daß etwa ein Drittel (im Durchschnitt 33%) der untersuchten Berichterstattung über Nordafrika sowie den Nahen und Mittleren Osten sich mit
gewaltsamen Konflikten beschäftigt; weitere 15 Prozent entfallen auf gewaltlose
Konflikte, 48,9 Prozent130 auf neutrale und 3,1 auf positive Ereignisse und Entwicklungen. Die Berichterstattung ist daher von neutralen und negativen Ereignisvalenzen
geprägt, während positive Valenzen nur marginal in Erscheinung treten.
Welches Gewicht den Ereignisvalenzen zugeordnet wird, ist abhängig von der
zugrunde gelegten Konfliktdefinition. Beschränkt man die Definition der negativen
Ereignisvalenz auf Gewaltkonflikte, so können die 15 Prozent der gewaltlosen Konflikte der neutralen Berichterstattung zugeordnet werden. 63,9 Prozent neutraler
Ereignisse ständen dann 33 Prozent negativer und 3,1 Prozent positiver Ereignisse
gegenüber, wie in Abbildung 5.7 verdeutlicht wird:
130 Ein Anteil von etwa 50 Prozent neutraler Nachrichten hat sich auch in anderen großen Studien zur
Auslandsberichterstattung ergeben. Vgl. Robert L. Stevenson/Richard R. Cole, Paterns of Foreign
News, in: Robert L. Stevenson/Donald Lewis Shaw (Hrsg.), Foreign News and the New World Order, Ames 1984, S. 37-62.
60
61
Die zweite Variante der Valenzzuordnung (Abb. 5.8) zeigt, daß negative Ergeinisvalenzen, die nunmehr alle (gewaltsamen und gewaltlosen) Konflikte beinhalten, etwa
die Hälfte der Berichterstattung (48%) einnehmen:131
Beide Varianten lassen erkennen, daß sich etwa die Hälfte (Variante 2) bis zwei
Drittel (Variante 1) der Medienberichte mit regulären − weit überwiegend politischen −
Abläufen wie Staatsbesuchen, Wahlen, Konferenzen usw. beschäftigen. Diese sind
für die deutschen Medienkonsumenten entweder − im Falle demokratischer oder
demokratieähnlicher Handlungsabläufe in den Ländern − durch die prinzipiell ähnli131 Über gewaltfreie Konflikte in der Presseberichterstattung schreibt Orhan Gökce in seiner Untersuchung des Türkebildes deutschen Medien, sie besäßen „eine starke, die Thematisierung steuernde
Kraft.“ Gökce, Das Bild der Türken, S. 167 f.
62
chen Bedingungen staatlicher Politikabläufe im eigenen Land sowie in den politischen Systemen der europäischen und transatlantischen Bündnisse vertraut, oder
aber sie können als Ausdruck einer spezifischen orientalischen politischen Kultur
(etwa bei Berichten über die Arabische Liga oder Staatsbesuche arabischer Monarchen) interpretiert werden. In jedem Fall widerlegen die Daten die denkbare Hypothese, daß die Nahostberichterstattung überwiegend von negativen Berichten gekennzeichnet ist.
Aus theoretischer Sicht ist die Frage, inwieweit die Nahost- und Islamberichterstattung durch eine „Konfliktperspektive“ gekennzeichnet ist, im wesentlichen eine
Definitionsfrage. Es muß a) der Konfliktbegriff selbst geklärt werden und b) ist zu
bestimmen, ab welchem Grad der medialen Präsenz von Konflikten von einer Überrepräsentanz von Konflikten gesprochen werden soll, wofür verschiedene theoretische Kriterien erarbeitet worden sind (Kap. 3.2.1.2). Geht man vom weiteren Konfliktbegriff der Variante 2 aus, dann erreicht die Berichterstattung über Nordafrika
sowie Nah- und Mittelost die Grenze von 50 Prozent negativer Ereignisvalenzen an
der Berichterstattung, ab der von einer Konfliktperspektive der Medien gesprochen
werden kann. Nach dem engeren Konfliktbegriff der Variante 1 erreicht die Berichterstattung diese Schwelle nicht. Die Ergebnisse lassen sich in jedem Fall in die zwischen etwa 30 und 60 Prozent variierenden Ergebnisse von anderen Studien der
Auslandsberichterstattung einordnen (vgl. Kap. 3.2.1.2, Tab. 3.3) und sie vermitteln
nicht den Eindruck, als seien Nordafrika und der Nahe und Mittlere Osten Zonen
einer im Vergleich zu anderen Teilen von Asien, Afrika und Lateinamerika besonders hohen Negativismusbelastung in der deutschen Presse. Allerdings müssen zwei
Einschränkungen vorgenommen werden: a) weniger auffällig als eine hohe Negativismusrate ist das nahezu gänzliche Fehlen von positiven Ereignisvalenzen in der
deutschen Presse (s.u.); b) im Verlauf der Untersuchung wird zu zeigen sein, daß
einzelne Themen (wie der Islam; Kap. 5.2.1.2) und einzelne Länder (Kap. 5.2.2.3)
weitaus höhere Negativismuswerte aufweisen, so daß sich in diesen Fällen die Annahme der Existenz einer Konfliktperspektive zumindest sektoral erhärten läßt.
„Positive“ Valenzen sind in der Stichprobe kaum nachweisbar gewesen (im
Durchschnitt 3,1% der Beiträge). Positive Ereignisse und Entwicklungen sind
gleichwohl selbst unter den Bedingungen autoritärer Herrschaftsausübung in der
internationalen Berichterstattung erkenn- und vermittelbar: Friedensschlüsse, Befreiungsfeiern, Preisverleihungen usw. So treten beispielsweise wissenschaftliche Denker und Analytiker Nordafrikas oder des Nahen und Mittleren Ostens häufig weniger
durch geistige Profilierung als „positive“ Nachricht in der Presse in Erscheinung,
sondern − wie im Fall Hamid Abu Zaids, Adbolkarim Sorushs oder Faradj Sarkuhis −
erst dann, wenn ihre akute Verfolgung durch die autoritären Systeme eine Einordnung in „negative“ Valenzkategorien erforderlich macht. Aus den vorliegenden Daten läßt sich in Übereinstimmung mit der großen „Foreign News“-Studie der
UNESCO von 1985 folgern, daß das Problem der Überrepräsentation „negativer“
63
Nachrichten möglicherweise weniger gravierend ist als das der Unterrepräsentation
„positiver“.132
Einschränkend muß allerdings hinzugefügt werden, daß der geringe Wert von 3,1
Prozent − anders als die Werte für negative Ereignisvalenzen − unterhalb der Vergleichswerte anderer Studien zu anderen Bereichen der Auslandsberichterstattung
liegt. Schulz kommt in seiner Analyse der Berichterstattung über internationale Politik auf einen Wert von durchschnittlich 26 Prozent.133 Andererseits ist auch ein solch
niedriger Wert wie hier denkbar, wie die Untersuchung des Bildes Österreichs im
Jahr der Waldheim-Affäre 1986 durch Maximilian Gottschlich und Karl Obermair134
oder die Analyse des Türkeibildes durch Siegfried Quandt135 gezeigt haben. Für den
geringen Wert in der vorliegenden Untersuchung bieten sich zwei mögliche Erklärungen an: entweder läßt die Beschaffenheit des medialen Nahostbildes keine Ermittlung höherer Positivwerte zu oder aber die Kodierung vermittels des oben dargelegten Positiv-Wortfeldes erfolgte auf der Basis einer relativ strengen Definition dessen,
was als positives Ereignis zu bezeichnen ist, d.h. es wurde im Sinne von Schulz eine
hohe Intensitätsstufe für die Kodierung gewählt.136 Welche dieser Erklärungen zutrifft, läßt sich nicht entscheiden, da andere Studien ihre Selektionskriterien selten
transparent gemacht haben, so daß ein Vergleich der Kodierungsgrundlagen nicht
möglich ist. Daß eine zu hohe Intensitätsstufe gewählt wurde ist aber unwahrscheinlich, da selbst vergleichsweise alltägliche Dinge wie „Feste“ oder „Lobreden“ als
positive Ereignisse gewertet wurden.
Als ein gesondertes Phänomen ist zu vermerken, daß die Tageszeitungen einen
höheren Anteil an neutraler Berichterstattung aufweisen als die Wochenzeitungen.137
Bei den Tageszeitungen zeigt sich im Vergleich zu den Wochenzeitungen eine stärkere Berücksichtigung von Staatsbesuchen, Wahlen und anderen regulären Ereignissen, was den Tageszeitungen einen höheren Anteil von neutralen Valenzen sichert.
Hier kommt zum Tragen, daß Tageszeitungen eine Art Protokollfunktion vor allem
für offizielle politische Vorgänge innehaben, was ungeachtet der bedeutsamen Rolle
132 Im Abschlußbericht heißt es: „As other research has also indicated, regions of the developing world
make news when undergoing some kind of disturbance that makes them, for a time, at least, a ‘hotspot’ of tension and crisis. News in most media systems seems to be defined as the exceptional
event, making coups and catastrophes newsworthy wherever they occur. It is not so much that the
developing world is singled out for such ‘negative’ attention, but that the developing countries tend
to be reported only in this manner.“ Sreberny-Mohammadi et al. (Hrsg.), Foreign News, S. 52.
133 Schulz, Die Konstruktion, S. 84.
134 Positive Bewertungstendenzen Österreichs in amerikanischen Medien sanken 1986 auf 3 Prozent.
Maximilian Gottschlich/Karl Obermair, Das Image Österreichs in den ausländischen Medien. Theoretische Perspektiven und empirische Ergebnisse kommunikationswissenschaftlicher Imageforschung, in: Völker und Nationen im Spiegel der Medien, Bonn 1989, S. 62.
135 Quandt hat 52 Prozent negative, 40 Prozent neutrale und 7 Prozent positive Berichte ermittelt.
Quandt, Die Darstellung der Türkei, S. 14 f.
136 Schulz, Die Konstruktion, S. 45. Beispielsweise wurden Ereignisse wie die Entlassung eines arabischen Königs aus einem europäischen Krankenhaus in der vorliegenden Evaluierung als „neutral“
eingestuft, sofern kein Hinweis auf den besonderen Erfolg der Behandlung erkennbar wurde.
137 Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt auch Astrid Hub bei der Analyse des Israelbildes. Hub, Das
Image Israels, S. 170.
64
der Zeitungen für die politische Information und Meinungsbildung in anderen Zusammenhängen auch schon als „Hofberichterstattung“ und als ein Residuum der
„Arkanberichterstattung“ früherer Jahrhunderte kritisiert worden ist.138
5.1.5 Länderverteilung
Im Rahmen der quantitativen Inhaltsanalyse ist eine Kodierung der Namensnennungen der Länder der Untersuchungsregion Nordafrika sowie Nah- und Mittelost
durchgeführt worden (Länderliste vgl. Kap. 4.2.2). Dabei wurden maximal die ersten
fünf in einem Artikel genannten Länder registriert. Durch die Mehrfachnennungen ist
die Gesamtzahl der Ländernennungen (Abb. 5.9/Tab. A 5.11) größer als die Stichprobe GS2.
Eine Reihe von Staaten sind in der untersuchten Presse kaum oder wenig repräsentiert. Zu ihnen zählen in erster Linie Staaten der arabischen Halbinsel (Bahrain,
Oman, Qatar und die Vereinigten Arabischen Emirate) sowie die afrikanischen Staaten Mauretanien und Djibouti. Diese Länder können nahezu als „weiße Flecken“ auf
der Medienlandkarte betrachtet werden, was hypothetisch mit der Tatsache in Verbindung gebracht werden kann, daß diese Staaten im territorialen Sinn klein und
bevölkerungsarm sind. Ob ein Land zu einem weißen Fleck wird, scheint hingegen
nicht mit der ökonomischen Potenz oder der Stellung als Erdöllieferant zusammenzuhängen, denn die Golfstaaten Bahrain, Qatar und VAE sind wirtschaftsstark, Mauretanien hingegen gehört zu den „Least Developed Countries“ (LLDC). Die ungleich
stärkere Beachtung Kuwaits ist vor allem mit der irakischen Besatzung 1990 und
dem Golfkrieg 1991 zu erklären, d.h. die Konflikthaftigkeit des Geschehens hat wie
in Fällen anderer Großkonflikte die Präsenz des Landes in der Presse begünstigt.
Allerdings ist, das zeigt das Beispiel der relativ starken Beachtung Libyens, nicht der
Konflikt als solches, sondern das Maß an westlicher Konfliktinvolvierung offensichtlich von übergeordneter Bedeutung, denn von den drei Ländern, die, wenn auch
keine „weißen Flecken“, so doch wenig Beachtung erfahren − Sudan, Tunesien,
Jemen − waren zumindest Sudan und Jemen in lange Bürgerkriege verstrickt, die
gleichwohl ihre Präsenz in der deutschen Presse wenig gesteigert haben.
Im Gegensatz zur geringen Beachtung der genannten Staaten nehmen die Länderkomplexe Israel-Palästina sowie die Staaten Ägypten, Iran und Irak etwa die
Hälfte der deutschen Presseberichterstattung ein. Diese Tatsache ist ein weiterer
Beleg dafür, daß tatsächlich das Vorhandensein eines Gewaltkonflikts mit ausgeprägter internationaler Dimension der wesentliche Faktor für die Steigerung der
Medienpräsenz von Ländern Nordafrikas oder des Nahen und Mittleren Ostens ist.
138 Vgl. Paetzold, Hofberichterstattung.
65
66
Die Daten weisen aus, daß das Interesse an Israels Innenpolitik weitaus geringer ist
als das Interesse an der politischen Entwicklung der Staaten des alten Mandatsgebiets „Palästina“ im Rahmen des Nahostkonflikts. Die mögliche Hypothese, derzufolge Israel auf Grund der häufig als besonders eng empfundenen historischen und
kulturellen Verbindungen („kulturelle Nähe“) die primäre Aufmerksamkeit deutscher
Medien zukommen müßte, muß insofern relativiert werden, als die Beachtung des
Landes in weiten Teilen mit dem Palästinakonflikt zusammenhängt und nach Beendigung des Konflikts stark abnehmen könnte. Höher als Israel rangiert in der deutschen Presse, soweit untersucht, Ägypten, das nach dem Komplex Israel-Palästina
die größte Zahl der Ländernennungen in der Stichprobe auf sich vereint. Hier bestätigt sich der Befund von Schulz, daß der Faktor „Nähe“ − die Tatsache also, daß ein
Ereignis in einem Deutschland kulturell, politisch oder geographisch nahestehenden
Land passiert −, in der internationalen Berichterstattung als einzelner Faktor wenig
wirksam ist.139 Ägypten, ebenso wie Israel-Palästina, belegen allerdings, daß die
Verbindung der Faktoren (internationaler) „Konflikt“ und kulturell-historische „Nähe“ eine ideale Bedingung zur medialen Aufmerksamkeitssteigerung darstellt. Zusätzlich lassen sich beide Länder als politisch und militärisch machtvoll charakterisieren, so daß die Verbindung der Nachrichtenfaktoren „Konflikt“, „Nähe“ und „politische Zentralität“ als eine sehr wirksame Konstellation zur Präsenzsteigerung in
der Presse bezeichnet werden kann.
Dabei ist bemerkenswert, daß − wie die zusätzlich eingefügte Kurve in Abbildung
5.9 ausweist − die Länderbeachtung in der untersuchten überregionalen Presse in
weiten Teilen ähnlich der Länderverteilung im Bereich der Wissenschaft ist. Die
Kurve weist den prozentualen Anteil der Staaten an den Beiträge aus, die in der
Übersee-Dokumentation, Referat Vorderer Orient des Deutschen Übersee-Instituts
in Hamburg aufgenommen worden sind.140 Die Kurvenverläufe von Presse und Wissenschaft sind ähnlich, von Ausnahmen abgesehen. Bei „Israel (Kernstaat)“ und
„Israel-Palästina“ täuscht der Vergleich Unterschiede vor, die in unterschiedlichen
Zuordnungsdefinitionen begründet liegen, so daß die Tatsache, daß die Prozentanteile beider Rubriken zusammen in Medien und Wissenschaft nahezu identisch sind, als
Hauptergebnis des Vergleichs zu benennen ist.141 Relativ deutliche Unterschiede
sind bei Ägypten und Syrien zu erkennen, die in der Wissenschaft geringere, und bei
Pakistan, Sudan und der Türkei, die in der Wissenschaft stärkere Beachtung finden
als in der Presse (s.u.). Ungeachtet der vielfältigen Differenzen zwischen Themensetzungen, inhaltlicher Ausgestaltung und Quellennutzung im Vergleich von Presse
und Wissenschaft besteht in hohem Maß Einigkeit über Schwerpunkte einer in Medien und Wissenschaft einheitlichen „Wissensgeographie“.
139 Schulz, Die Konstruktion, S. 89.
140 Da es sich im vorliegenden Fall um eine informelle Datenabfrage am 15. Dezember 1999 handelt,
die lediglich einem ungefähren Vergleich dient, werden die einzelnen Werte nicht ausgewiesen.
141 Unter der Rubrik „Israel“ werden in der Orient-Dukumentation, anders als in der vorliegenden
Medieninhaltsanalyse, auch Titel mit Bezug zum Nahostkonflikt aufgenommen. Die starken Unterschiede der Daten von Medien und Wissenschaft in den Rubriken „Israel“ und „Israel-Palästina“
sind daher nicht aussagekräftig.
67
In der Reihenfolge der Aufmerksamkeit folgen auf Ägypten und Israel-Palästina Iran
und Irak. Dabei zeigt eine chronologische Aufschlüsselung der Daten (Abb. 5.10),
daß nicht das programmatisch west- und modernisierungsorientierte Iran der SchahÄra große Beachtung in der untersuchten deutschen Presse fand, sondern der Iran
verdankt seine Stellung vorwiegend der Iranischen Revolution und dem Thematisierungsfaktor „Islam“. Im Fall Irans war es also nicht „kulturelle Nähe“, wie im Fall
Israels und Ägyptens, sondern im Gegenteil (die zeitgenössisch nahezu durchgehend
attestierte) kulturelle Gegensätzlichkeit zwischen islamischem Fundamentalismus
und westlicher Kultur, die im Verbund mit der politischen Zentralität und Konflikthaftigkeit Irans die mediale Beachtung steigerte.
Sowohl Iran als auch Irak haben zusätzlich von der hohen Konflikthaftigkeit ihrer
politischen Entwicklung in den beiden Golfkriegen von 1980-88 bzw. 1991 profitiert. Irak ist eines der Länder, dessen chronologische Datenentwicklung (Abb. 5.10)
zeigt, daß es seine herausragende Stellung in der deutschen Presse vor allem einem
zentralen Gewaltkonflikt mit internationaler Dimension, dem Golfkrieg von 1991,
verdankt, sowie neben Israel-Palästina auch für Länder wie Algerien, Zypern und
Libanon, die ohne ihre großen Bürgerkriege weitaus weniger in den deutschen Medien in Erscheinung getreten wären. Ähnliches gilt auch für Jordanien und Syrien, die
im Untersuchungszeitraum zwar keine längeren oder international bedeutsamen
Kriege durchlebt haben, die aber in der Stichprobe als typische Zweit-, Dritt-, Viertoder Fünftnennungen (hier nicht ausgewiesen) auftreten, d.h. auf diese Länder wurde
überwiegend im Kontext des Nahostkonflikts Bezug genommen. Hier ist, ähnlich wie
im Fall Israels und Palästinas, davon auszugehen, daß nach einer etwaigen Beendigung des Nahostkonflikts das deutsche Medieninteresse an diesen Staaten abnehmen
könnte, wenn nicht andere Faktoren wirksam würden.
Die Türkei ist ein interessanter Fall im Hinblick auf strukturelle Unterschiede der
Aufmerksamkeitsverteilung in der Presse. Abbildung 5.10 zeigt, daß ungeachtet der
im Durchschnitt geringeren Beachtung der Türkei im Vergleich zu Iran und dem Irak
letztere Staaten ihre Stellung vor allem Gewaltkonflikten mit ausgeprägter internationaler Dimension, der Iranischen Revolution und den Golfkriegen, verdanken. Die
Aufmerksamkeitsentwicklung der Türkei ist hingegen weitaus kontinuierlicher und
die Beachtung der Türkei hat vor den genannten Konflikten zum Teil vor der Irans
und des Irak gelegen. Es läßt sich folgern, daß die strukturelle Aufmerksamkeit der
untersuchten Tageszeitungen für das Land Türkei als solches größer ist als für die
anderen beiden Länder, auch wenn diese sich durch Gewaltkonflikte gerade in den
achtziger und neunziger Jahren in den Vordergrund drängen konnten. Dies gilt insbesondere im direkten Vergleich Türkei-Irak, während bei Iran zwar Revolutionen
und Kriege hilfreich waren, mit dem „politischen Islam“, wie bereits erwähnt, jedoch
auch ein starker struktureller Aspekt wirksam geworden ist.
68
69
Zu den strukturellen, nicht von sporadischen Gewaltkonflikten abhängigen Faktoren,
die die Beachtung der Türkei potentiell begünstigen könnten, gehören neben der
starken türkischen Minderheit in Deutschland142 auch die relative politische Nähe der
Türkei (EU-Assoziation; NATO-Mitgliedschaft), wobei letztere in der Definition
von Schulz auch „ökonomische Zentralität“, also die ausgedehnten deutschtürkischen Wirtschaftsbeziehungen, beinhaltet.143 Während die weitere Beantwortung der Frage, welche strukturellen Faktoren tatsächlich wirksam werden, späteren
Mehrfachabfragen überlassen bleiben muß (Kap. 5.2.2.1), kann hier bereits festgestellt werden, daß die Wirkung eines strukturellen Merkmals wie das Vorhandensein
ausgedehnter Wirtschaftsbeziehungen zu Deutschland der deutschen Wirtschaftsbeziehungen einem Land zwar eine kontinuierliche Berichterstattung sichern kann, die
gleichwohl auf einem niedrigen oder mittleren Umfangsniveau verbleibt, da der
Einfluß von strukturellen Faktoren der „ökonomischen Zentralität“ in der Regel
hinter dem der Faktoren „Konflikt“ oder „kulturelle Nähe/Distanz“ zurückbleibt. Die
„weißen Flecken“ der Arabischen Halbinsel oder die Stellung Israels-Palästinas oder
Syriens wiesen bereits darauf hin, daß zwischen wirtschaftlicher Bedeutung und
Medienpräsenz keine signifikante Verbindung besteht. Die Bundesrepublik Deutschland pflegt ausgedehnte, wenngleich schwankende Handels- und Wirtschaftsbeziehungen mit Iran, aber die wachsende Beachtung Irans seit 1978/79 zeigt, daß auch in
diesem Fall nicht wirtschaftliche, sondern kulturelle und Konfliktfaktoren ausschlaggebend gewesen sind. Dies gilt auch für die Türkei, denn ungeachtet der Tatsache,
daß die Bundesrepublik mit dem Land in den letzten Jahrzehnten sehr ausgedehnte,
in den neunziger Jahren sogar die ausgedehntesten Handelsbeziehungen von allen
Untersuchungsländern gepflegt hat, liegt der Beachtungsgrad der Türkei in der Presse hinter Ländern wie Israel-Palästina, Ägypten, Iran oder Irak zurück.
Der Zusammenhang zwischen Medienpräsenz und strukturellen Aspekten der politischen und wirtschaftlichen Zentralität läßt sich anhand der regionalen Aufschlüsselung der Ländernennungen (Tab. 5.1) und eines Vergleichs mit wirtschaftlichen,
demographischen und politischen Extra-Media-Daten (Tab. 5.2) erhärten:
142 In der vorliegenden Auswertung sind lediglich Artikel mit einem deutlichen Türkeibezug berücksichtigt worden, d.h. maßgebend war der Begriff „Türkei“, nicht jedoch „Türke/Türkin“. Beiträge
über die Türken in Deutschland ohne Türkeibezug sind nicht kodiert worden. Vgl. Kapitel 4.2.
143 Schulz, Die Konstruktion, S. 41.
70
Die Tabelle zeigt, daß der Schwerpunkt der untersuchten deutschen Presseberichterstattung auf den Staaten des Nahen Ostens liegt, die drei Viertel der Medienberichte
auf sich vereinen, während ein Viertel der Berichte Nordafrika betreffen. Innerhalb
Nordafrikas entfällt auf die vier Maghrebstaaten, den arabischen Staaten des „Westens“ (Algerien, Libyen, Tunesien, Marokko), etwa ebensoviel mediale Aufmerksamkeit wie auf die zwei Nilstaaten Ägypten und Sudan (13,0%). Das Schwergewicht der deutschen Presseberichterstattung liegt jedoch eindeutig auf den MashreqStaaten, den arabischen Staaten des „Ostens“ (Jordanien, Syrien, Libanon, Irak,
„Palästina“), sowie auf Israel, die fast die Hälfte aller Berichte auf sich vereinen. Für
die Arabische Halbinsel (Saudi-Arabien, Bahrain, Kuwait, Qatar, Oman, Vereinigte
Arabische Emirate, Jemen) verbleiben 9,6 Prozent. Für die restlichen Staaten bietet
sich an Stelle der geographischen die organisatorische Einteilung der Economic
Cooperation Organization (ECO) bestehend aus Türkei, Iran, Pakistan, Afghanistan
und Zentralasien an. Auf die ECO-Staaten (ohne Zentralasien) entfallen 19,5 Prozent
der Berichte. Pakistan und die Türkei beispielsweise erzielen in der Wissenschaft
eine höhere Beachtung als in den Medien (Abb. 5.9).
Ein Vergleich mit Extra-Media-Daten (Tab. 5.2) ergibt Hinweise auf die Bedeutung, die strukturelle politisch-ökonomische Faktoren für die Nachrichtenselektion
haben:
Der Vergleich mit den Daten des deutschen Außenhandels vom ersten Halbjahr 1997
zeigt, daß gemessen an der Bedeutung, die bestimmte Regionen für den deutschen
Außenhandel haben, diese Länder/Regionen in den deutschen Medien entweder
adäquat, über- oder unterrepräsentiert sind. Dabei soll nicht normativ gefordert werden, daß eine Balance zwischen den Medien- und den Wirtschaftsdaten herrschen
sollte, sondern die Hypothese ist zu überprüfen, ob sich die deutsche Presseberichterstattung hinsichtlich des Umfangs ihrer Berichterstattung (Ländernennungen) an
wirtschaftlichen Prioritäten der Bundesrepublik Deutschland orientiert.
Ein Vergleich der Anteile von Medienberichten und Handelsumfang läßt erkennen, daß kein solcher Zusammenhang besteht. Die Nilstaaten und der Mashreq sind
im Vergleich zu ihrem Außenhandelsvolumen mit Deutschland überrepräsentiert, der
71
Maghreb und die Arabische Halbinsel leicht und die ECO-Staaten stark unterrepräsentiert.144 Dies widerlegt Karl Erik Rosengrens Annahme, daß mit der Wirtschaftskraft eines Landes dessen Chance wächst, in der Presse beachtet zu werden: „Economic variables such as export and import values seem to be good predictors of
newspaper coverage.“145
Die vorliegenden Daten weisen ebenso wie die Untersuchung von Schulz146 und
die Studie Elmar Unlands über die Dritte-Welt-Berichterstattung der Frankfurter
Rundschau147 aus, daß das ökonomische Potential eines Landes nicht der determinierende Faktor dafür ist, daß mit dem Land in Verbindung stehende Ereignisse und
Entwicklungen Beachtung in den deutschen Medien finden. Studien über die amerikanische Auslandsberichterstattung, die von einer ähnlich großen Bedeutung von
politischer und ökonomischer Zentralität eines Landes für die Medienbeachtung
ausgehen,148 müssen entweder dahingehend interpretiert werden, daß zwischen der
deutschen und der amerikanischen Medienkultur gravierende Unterschiede bestehen,
oder sie bedürfen einer methodischen Differenzierung. Im Fortgang der Untersuchung wird allerdings zu zeigen sein, daß ökonomische Zentralität eine stärker wirtschaftsorientierte Form der Berichterstattung fördert, d.h. weniger der Umfang der
Beachtung eines Landes, sondern vielmehr die Art der Beachtung wird durch die
ökonomische Zentralität stark beeinflußt (Kap. 5.2.2.1).
Ein Vergleich der Medienwerte mit den Bevölkerungszahlen basiert auf der möglichen Hypothese, daß über bevölkerungsreiche Länder prinzipiell mehr berichtet
wird, da die Ereignis- und Geschehensdichte höher ist als in bevölkerungsarmen
Ländern. Der Vergleich weist aus, daß das Verhältnis zwischen dem Bevölkerungsanteil in den Regionen Nordafrikas sowie Nah- und Mittelost und die Aufmerksamkeit in der deutschen Presse beim Maghreb, den Nilstaaten und der Arabischen Halbinsel in etwa übereinstimmt, daß jedoch zwischen Mashreq und ECO-Staaten eine
massive Verschiebung dergestalt erkennbar ist, daß der relativ bevölkerungsarme
Mashreq relativ hohe Aufmerksamkeitswerte in den Medien erzielt, während die
bevölkerungsreichen ECO-Staaten erneut stark unterrepräsentiert sind. Die Annahme, der Umfang der Berichterstattung könne sich nach der Bevölkerungsgröße richten, wird also widerlegt.
144 Die Tatsache, daß die Außenhandelsdaten sich auf das Jahr 1997 beschränken, während die
Mediendaten den Gesamtzeitraum 1955-94 betreffen, beeinflußt den Vergleich nicht gravierend.
Andere Jahrgänge haben ein ähnliches Bild der deutschen Außenhandelsbeziehungen mit der
Region vermittelt, wobei Iran vor der Iranischen Revolution von 1978/79 eine führende Rolle
innehatte, danach zeitweise der Irak, Länder wie Saudi-Arabien und die VAE und schließlich in den
neunziger Jahren die Türkei.
145 Karl Erik Rosengren, International News: Methods, Data and Theory, in: Journal of Peace Research
11/1974, S. 154.
146 Schulz, Die Konstruktion, S. 87
147 Elmar Unland, Die Dritte-Welt-Berichterstattung der Frankfurter Rundschau von 1950 bis 1984.
Eine statistische Längsschnittanalyse, Münster 1986.
148 Pamela Shoemaker/Lucig H. Danielian/Nancy Brendlinger, Deviant Acts, Risky Business and U.S.
Interests: The Newsworthiness of World Events, in: Journalism Quarterly 68 (1991) 4, S. 793 f.
72
Hinter den Angaben für staatliche Einheiten verbirgt sich die Hypothese, daß die
reine Existenz eines Staates − ausgestattet mit Herrschern, Regierungen und politischen Institutionen − die Präsenz in den deutschen Medien eher zu fördern geeignet
ist als die nicht aktiv politisch in Erscheinung tretenden „schweigenden Mehrheiten“
von Landesbevölkerungen. Tatsächlich kann es kaum verwundern, daß von allen
Vergleichsdaten der Anteil „staatlicher Einheiten“ am ehesten mit der Medienaufmerksamkeit in Verbindung steht. Die Werte der ECO-Staaten sind kompatibel, der
Maghreb ist gemessen an der Zahl seiner Staaten leicht unter-, die Nilstaaten sind
leicht überrepräsentiert. Zwar liegt die Medienkonzentration auf dem Mashreq-Raum
erneut über dem Anteil der dortigen staatlichen Einheiten an der Gesamtzahl politischer Einheiten in Nordafrika sowie dem Nahen und Mittleren Osten, jedoch sind die
beiden Werte (Medienberichte 44,6%; staatliche Einheiten 23,1%) näher beeinander
als die der Außenhandelsvolumina oder Bevölkerungszahlen.
Insgesamt scheint die Medienbeachtung der Länder Nordafrikas und des Nahen
und Mittleren Ostens durch die Konflikthaftigkeit des Geschehens, die Existenz
international relevanter Konflikte, kulturelle Nähe/Distanz, die Existenz politischer
Einheiten und den Differenzierungsgrad politischer Kulturen bedingt zu sein, weniger jedoch von Faktoren wie dem deutschen Außenhandelsinteresse oder der demographischen Stellung eines Landes. Damit zeigt sich, daß eine Mischung aus westlichen außenpolitischen Prioritäten, die auch am Beispiel des US-Fernsehens bereits
nachgeweisen worden sind,149 und konsumentenorientierten Kriterien die journalistische Selektion prägen. Jene Bereiche des prioritären außenpolitischen Handelns
dominieren, die wie der Nahostkonflikt kulturelle und Konfliktfaktoren verbinden
und daher für Politik und Publikum gleichermaßen interessant scheinen. Weder andere Länderbereiche, die für die westliche Außenpolitik zum Teil noch wichtiger
sind (z.B. Arabische Halbinsel), noch Länder, die außenpolitisch weniger bedeutsam
sind (z.B. Sudan), auch wenn hier für die Bevölkerungen in den Ländern selbst zum
Teil gravierende Entwicklungen vonstatten gehen, setzen sich in den Medien durch,
auch wenn derartige Entwicklungen zumindest für einen kleinen meinungsführenden
Teil der Leserschaft bedeutsam wären und die mediale Öffentlichkeit die entwicklungspolitische Zusammenarbeit beeinflussen könnte.150
5.1.6 Handlungsträger
Das Anliegen der Analyse der Handlungsträger ist es, herauszufinden, welche Akteure aus dem Raum Nordafrika sowie Nah- und Mittelost im Zentrum der deutschen
Presseberichterstattung stehen und welche Kräfte nur wenig oder marginal in Erscheinung treten. Als theorieleitende Hypothese kann hier zum einen die Annahme
einer starken „Eliten“- bzw. „Personenorientierung“ auf Kosten breiter Bevölkerungsschichten, sozialer Bewegungen und Gruppen dienen (Kap. 3.2.1.2). Desweiteren ist die These zu überprüfen, daß sich das berichtete Geschehen gerade und vor
149 Larson, Global Television, S. 35.
150 Colm Foy/Henny Helmich (Hrsg.), Public Support for International Development, Paris 1996.
73
allem in der internationalen Berichterstattung überwiegend als Handeln der Exekutive darstellt.151
Die hier verwendeten Akteurskategorien sind im wesentlichen identisch mit denen von Schulz. Unter die Rubrik „offizielle Staatsvertreter“ werden Akteure aus den
Bereichen der Exekutive, der Legislative oder Judikative geordnet; „gesellschaftliche
Organsiationen“ sind organisierte Gesellschaftsgruppen, die sich formal durch eine
feste Programmatik und Organisationsstruktur ausweisen, also unter anderem Parteien, Gewerkschaften und Verbände; bei „nichtorganisierten Gruppen“ handelt es sich
um öffentlich in Erscheinung tretende Privatpersonen, die zwar in einem nichtformalisierten Zusammenhang stehen, also etwa eine disperse „Bevölkerung“, „Demonstranten“ oder „Jugendliche“. Letztere Kategorie verkörpert einen denkbar weiten Gruppen- und Akteursbegriff, zumal Kollektivbegriffe wie „Bevölkerung“ in der
Regel als passive Handlungsträger auftreten (z.B. „die Bevölkerung“ leidet unter
Repressionen oder Preissteigerungen). Im Unterschied zur Kategorisierung von
Schulz werden „prominente Persönlichkeiten“ im Kontext nichtorganisierter oder
staatstragender Gesellschaftskräfte gesondert untersucht. Da eine Unterscheidung
zwischen Interessenverbänden und politischen Organisationen, wie sie Schulz vornimmt, nicht ohne weiteres auf den Organisationskontext Nordafrikas und des Nahen
oder Mittleren Ostens übertragen werden kann, da hier abweichende soziale und
politische Organisationsformen denkbar sind (gerade im Bereich der islamischen und
islamistischen Organisationen, die häufig zugleich religiöse und politische Interessenvertretungen sind), wird statt dessen die Rolle „regionaler Organisationen“, wie
der Arabischen Liga, und „internationaler Organisationen“, wie den Vereinten Nationen und ihrer Unterorganisationen, untersucht.
Die Daten zu den Handlungsträgern (Tab. A 5.13) weisen auf einen großen Anteil an offiziellen Staatsvertretern. Durchschnittlich fast die Hälfte (48,4%)152 der
Akteure sind Staatsvertreter, davon etwa zwei Drittel (30,9%) Repräsentanten der
Berichterstattungsstaaten, ein weiteres Drittel (13,7%) stammt aus westlichen Staaten
(Europa, Nordamerika), während die östliche Staatensphäre (gemeint sind die ehemaligen sozialistischen Staaten des Warschauer Pakts) wie Akteure aus anderen
Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas im Vergleich stark unterrepräsentiert
sind (2,6% bzw. 1,2%). Bei der Aufschlüsselung der Daten zeigt sich, daß es sich bei
den offiziellen Staatsvertretern weit überwiegend um Vertreter der Exekutive, also
um Regierungsmitglieder wie Minister, Ministerpräsidenten oder Präsidenten oder
um Vertreter des monarchischen Prinzips wie Könige handelt, während Akteure der
Legislative oder Judikative im Vergleich nur marginal in Erscheinung treten.
Allerdings läßt die chronologische Datenentwicklung interessante Einblicke zu.
Tabelle 5.3 läßt erkennen, daß im Vergleich der beiden Perioden 1955-79 und 198094 erstere eine weitaus stärkere Berücksichtigung offizieller Staatsvertreter in Nordafrika sowie Nah- und Mittelost (im Verhältnis zu den dortigen gesellschaftlichen
151 Schulz, Die Konstruktion, S. 59.
152 Der Wert liegt unter den insgesamt 77 Prozent, die von Schulz für die Beachtung legislativer,
exekutiver und judikativer Handlungsträger in der internationalen Berichterstattung ermittelt worden sind. Ebenda.
74
Organisationen) ausweist, während in letzerer Periode gesellschaftliche Organisationen in den Ländern im Verhältnis zu den Staatsvertretern vor Ort von allen untersuchten Medien durch Mehrbeachtung aufgewertet worden sind. Die Quotienten der
Tabelle 5.3 stellen das Verhältnis „Staatsvertreter-Nahost“ zu „OrganisationenNahost“ dar. Je größer der Quotient, desto größer ist auch die relative Dominanz der
Staatsvertreter über die gesellschaftlichen Organisationen in der untersuchten Presse,
je kleiner hingegen der Quotient, um so relativ besser repräsentiert sind gesellschaftliche Organisationen im Verhältnis zum Staatsapparat:
Die Daten zu den Staatsvertretern als Akteuren der deutschen Nahostberichterstattung lassen zumindest drei wesentliche Schlußfolgerungen zu:
• Die Berichterstattung basiert in hohem Maß auf Aktivitäten der staatlichen politischen Akteure, während andere gesellschaftliche Akteure und Handlungen innerwie außerhalb der Politik weniger repräsentiert sind.
• In den achtziger und neunziger Jahren macht sich als gegenläufige Tendenz eine
Verschiebung bemerkbar, wonach gesellschaftliche Organisationen aus Nordafrika sowie dem Nahen und Mittleren Osten als Handlungsträger in der deutschen
Presse an Bedeutung gewinnen, der Staat als Akteur der Berichterstattung jedoch
an Bedeutung verliert.
• Die Hypothese einer dominierenden Stellung der Exekutive in der internationalen
Berichterstattung kann uneingeschränkt lediglich für die Jahrzehnte vor 1980 bestätigt werden, während in den folgenden Jahrzehnten bei fortbestehenden Repräsentationsvorteilen des nahöstlichen Staates organisierte Gesellschaftskräfte in
der deutschen Presse einen Aufmerksamkeitszuwachs erzielten.
• Die Presse verfolgt die zwischenstaatlichen Beziehungen zwischen den Staaten
Nordafrikas, des Nahen und Mittleren Ostens und westlichen Staaten bzw. regionale und lokale Aktivitäten mit westlicher Involvierung mit besonderer Aufmerksamkeit, während staatliche Handlungen im Süd-Süd- bzw. Süd-Ost-Kontext ihrer Aufmerksamkeit weitgehend entzogen sind.
In der Gesamtübersicht (Tab. A 5.13) ist erkennbar, daß in allen untersuchten Medien der größte Anteil der Handlungsträger nach den Staatsvertretern auf die gesellschaftlichen Organisationen entfällt (im Durchschnitt 14,1%).153 Bei den Organisa153 Dieser Wert ähnelt in der ungefähren Größenordnung dem von Schulz für Parteien, politische
Organisationen und Interessenverbände ermittelten Wert von 20 Prozent. Schulz, Die Konstruktion,
S. 59.
75
tionen aus den Berichterstattungsregionen selbst handelt es sich in hohem Maße um
militärisch orientierte ethnisch-nationale oder ethnisch-religiöse Milizen (etwa im
Libanon), um nationale oder religiöse Widerstands- und Befreiungsorganisationen
(z.B. PLO), Untergrundkommandos und in geringerem Maß um zivile Organisationen und Institutionen wie Parteien oder Gewerkschaften. Die Beachtung der Welthemisphären unterscheidet sich vom Bereich der offiziellen Staatsvertreter, denn im
Fall der organisierten Gruppen entstammt der weit überwiegende Teil aus den Regionen Nordafrikas oder des Nahen und Mittleren Ostens, während westliche Organisationen (1,4%) ebenso wie östliche (0%) oder sonstige Organisationen (0,1%) gar
nicht auftreten oder nur eine marginale Stellung einnehmen. Bei den westlichen
Organisationen, die in der deutschen Presse als Akteure im Orient vertreten sind,
handelt es sich oft um deutsche und andere westliche Parteienvertreter oder um religiöse Gruppen.
Die Daten lassen sich wie folgt interpretieren:
• Organisierte Kräfte der Weltregionen Nordafrika sowie Nah- und Mittelost verfügen über eine relativ hohe und wie gesehen im Laufe der siebziger und achtziger Jahre zunehmende (Tab. 5.3) Chance, die Dominanz des Staates als Akteur
der deutschen Presseberichterstattung zu durchbrechen.
• Militärische bzw. paramilitärische, um ethnisch-nationale oder religiös-fundamentalistische Zielsetzungen gruppierte Organisationen dominieren dabei in der
Regel gegenüber zivilgesellschaftlich orientierten Organisationen.
• Während auf der Ebene der staatlichen Akteure ein hohes Aufkommen an westlichen Repräsentanten zu erkennen ist und die westlich-orientalischen Aktivitätsfelder im Bereich bi- oder multilateraler Staatenbeziehungen in der Berichterstattung dominieren, werden „internationale Beziehungen“ im weiteren Sinn internationaler zivilgesellschaftlicher Beziehungen, d.h. vor allem die Aktivitäten westlicher Organisationen und NGOs (politischer Stiftungen, Menschenrechtsorganisationen usw.), wenig reflektiert.
Nichtorganisierte Gruppen sind etwa ebenso häufig in der deutschen Presseberichterstattung präsent (14,9%) wie organisierte Gruppierungen. Dabei treten überwiegend
ethnisch-nationale Kollektive in Erscheinung, z.B. die Landesbevölkerung als Ganzes, nationale Minderheiten (wie die Kurden in der Türkei). Soziale Gruppen und
Bewegungen, z.B. „Demonstranten“, „Dorfbewohner“ oder „Jugendliche“ sind weitaus weniger als Akteure in der Berichterstattung vertreten. Westliche Gruppen treten
im Verhältnis zu westlichen Staatsvertretern seltener in Erscheinung (3,0%), werden
jedoch im Gegensatz zu den regionalen Akteursgruppen häufiger durch soziostrukturelle Merkmale gekennzeichnet (z.B. Touristen, Wissenschaftler, Studenten
oder Künstler); östliche (0,2%) oder sonstige (0,5%) Gruppen oder Bewegungen
sind nur marginal vertreten.
Das Datenmaterial zu nichtorganisierten Gruppen läßt sich wie folgt interpretieren:
76
• Bevölkerungen oder nichtorganisierte Teile der Bevölkerungen der Regionen
Nordafrikas und des Nahen und Mittleren Ostens, sofern sie als Akteure in Erscheinung treten, haben dann eine größere Chance, in der untersuchten deutschen
Presse Raum zu finden, wenn sie als ethnisch-nationale Gruppen wirken, während soziale Bewegungen tendenziell dem Augenmerk der Medien entgehen (vgl.
a. Kap. 6.3.1). Diese weitgehende These ist deshalb haltbar, weil es sich bei
nichtorganisierten Gruppen, wie oben ausgeführt, weniger um Akteure als um eine analytische Einheit handelt; d.h. es liegt weithin im Ermessen des Journalisten,
etwa Jugendliche als „Jugendliche“ oder aber als Anhänger einer islamischen
Bewegung auszuweisen.
• Westliche nichtorganisierte Akteursgruppen sind hingegen durch soziale Differenzierungskriterien, insbesondere durch Berufsgruppenbezeichnungen gekennzeichnet.
Neben den großen Akteursbereichen der „offiziellen Staatsvertreter“, „gesellschaftlichen Organisationen“ und „nichtorganisierten Gruppen“ nehmen „regionale“ und
„internationale Organisationen“ in der untersuchten deutschen Presseberichterstattung über Nordafrika sowie den Nahen und Mittleren Osten mit einem Anteil von
insgesamt 5,0 Prozent der Handlungsträger eine untergeordnete Stellung ein. Die
namentliche Aufschlüsselung der regionalen Organisationen (1,9%) hat ergeben, daß
es sich hierbei nahezu ausschließlich um die Arabische Liga, die Organization of
Petrol Exporting Countries (OPEC), den Golfkooperationsrat (GKR) oder um die
westlichen Bündnisse wie die EWG/EG/EU oder die NATO handelt. Bei den internationalen Organisationen (3,2%) ist eine starke Konzentration auf die Vereinten
Nationen zu erkennen sowie auf die Weltbank und den Internationalen Währungsfonds (IWF). Deutlich zu erkennen ist, daß internationale Nichtregierungsorganisationen (NGO) wie amnesty international, die Gesellschaft für Bedrohte Völker oder
Greenpeace nahezu überhaupt nicht vertreten sind. Damit setzt sich im Bereich der
internationalen Organisationen die bereits bei den nationalen gesellschaftlichen Organisationen erkennbare Tendenz einer Bevorzugung staatlicher Organisationen
zuungunsten staatsunabhängiger Organisationen fort.154
Mehr als regionale und internationale Organisationen, jedoch weit weniger als offizielle Staatsvertreter, gesellschaftliche Organisationen und nichtorganisierte Gruppen, sind prominente Persönlichkeiten Handlungsträger der Presseberichterstattung
(5,4%), und zwar neben Personen aus Nordafrika sowie Nah- und Mittelost (3,5%)
auch solche aus dem Westen (1,8%). Bei den lokalen Persönlichkeiten handelt es
sich vor allem um Politiker in ihrer Eigenschaft als Privatpersonen, z.B. wenn in den
ersten Jahrzehnten des Untersuchungszeitraums über das Familienleben orientalischer Monarchen wie den Shah Mohammed Reza Pahlevi von Persien, den ägyptischen König Faruk oder den Führer der Ismailiten-Sekte Agha Khan oder führende
154 Im Bereich der internationalen Organisationen wird zwischen den durch völkerrechtliche Verträge
entstehenden International Governmental Organizations (IGO) und den von gesellschaftlichen Akteuren zur unabhängigen grenzüberschreitenden Kooperation geschaffenen International NonGovernmental Organizations (INGO) unterschieden.
77
Politiker wie Gamal Abd al-Nasser, Anwar al-Sadat oder Menachem Begin berichtet
worden ist. Weitaus seltener wird über Politiker berichtet, die nicht Teil der Staatsmacht sind oder waren, etwa über Oppositionsführer, die nur in Ausnahmefällen in
Erscheinung treten (z.B. PLO-Führer Yassir Arafat, ein potentieller Staatsführer,
oder die Führer der Milizen des libanesischen Bürgerkrieges in Vertretung des während des Bürgerkrieges de facto inexistenten libanesischen Staates). Im Vergleich zu
den prominenten Persönlichkeiten im Umfeld des Staates wird auch nur in seltenen
Fällen über Persönlichkeiten außerhalb des politischen Lebens, z.B. über Künstler
wie Nagib Mahfus, die Sängerin Dalia Lavi oder den Geschäftsmann Adnan Kaschoggi berichtet. Bei den westlichen Persönlichkeiten dominieren ebenfalls Politiker, die als Privatpersonen in Erscheinung treten, etwa in Gestalt ehemaliger Regierungs- oder Staatsführer wie Willi Brandt, James Carter oder Ronald Reagan, wobei
für die untersuchten Pressemedien weniger das Privatleben dieser Personen von
Interesse ist (denn das ist Gegenstand der Berichterstattung über die jeweilige westliche Weltregion, die hier nicht erfaßt wird), sondern im Zentrum stehen die politischen Rollen und die informelle politische Autorität dieser Personen nach dem Ende
ihrer Amtszeit. Sowohl bei den nahöstlichen auch bei den westlichen Persönlichkeiten nehmen historische Figuren wie Paulus, Kleopatra, Lord Cromer, Lawrence von
Arabien oder Friedrich II. einen gewissen Raum ein.
Folgende Schlußfolgerungen sind möglich:
• Einzelpersönlichkeiten treten als Handlungsträger überwiegend dann in Erscheinung, wenn die Person ein hohes Staatsamt bekleidet oder bekleidet hat; Personenberichterstattung ist in weiten Teilen die „Kehrseite“ der Dominanz von
Staats- und Exekutivvertretern als Handlungsträger.
• Ungeachtet der wachsenden Präsenz ethnisch-nationaler und religiöser gesellschaftlicher Organisationen in den achtziger und neunziger Jahren findet der
Trend zur stärkeren Einbeziehung organisierter Gesellschaftskräfte in die Berichterstattung keine Entsprechung in einer Aufwertung von führenden Repräsentanten dieser Organisationen.
• Da von Staat und großen Organisationen unabhängige Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens nur in Ausnahmefällen eine Berücksichtigung als Handlungsträger der Presseberichterstattung erzielen können, scheint es sinnvoll, zwischen
„Person“ und „Persönlichkeit“ dahingehend zu unterscheiden, daß eine ausschließlich auf informeller Autorität und der exponierten Stellung einer Persönlichkeit im Gesellschaftsleben beruhende Medienpräsenz die Ausnahme, die gegenseitige Beeinflussung von Funktions- und Personenmerkmalen in der Berichterstattung hingegen die Regel ist.155
155 Neben den presseübergreifenden Tendenzen der Präsenz von Handlungsträgern in der Berichterstattung existieren auch Unterschiede zwischen den untersuchten Medien. Erstens, „offizielle Staatsvertreter“ treten in den Wochenzeitungen weniger häufig in Erscheinung als in den Tageszeitungen
(Spiegel 43,5% und stern 40,4% im Vergleich zu SZ 58,4% und F.A.Z. 51,4%). Dies ist wahrscheinlich dadurch zu erklären, Tageszeitungen in hohem Maße die Funktion ausüben, von Staatsvertretern dominiertes offizielles politisches Geschehen − nicht zuletzt durch die Weitergabe von
Agenturberichten − zu „protokollieren“, während Wochenzeitungen stärker selektieren und thema-
78
Die Kategorie „andere Handlungsträger“ besteht aus einer heterogenen Sammlung
solcher Akteure, die nicht in eine der anderen Rubriken zu ordnen waren. Dabei ist
vor allem bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung eine große Zahl westlicher, insbesondere deutscher Wirtschaftsvertreter und Geschäftsleute zu erkennen (vgl. a.
Kap. 5.2.1.5). Desweiteren sind bei allen Zeitungen und Zeitschriften Medien und
Journalisten selbst häufig Handlungsträger der Berichterstattung, und zwar treten
beispielsweise deutsche Journalisten als Akteure von Reportagen in Erscheinung,
oder regionale und lokale Medien werden als Informationsquellen genannt.
Die empirischen Ergebnisse verifizieren oder falsifizieren die im Theoriekapitel
dargelegten theoretischen Thesen:
• Staat und Gesellschaft: Die von Winfried Schulz aufgestellte und empirisch
belegte These der Dominanz der Exekutive als Handlungsträger der Auslandsberichterstattung deutscher Medien ist im Fall der Berichterstattung über Nordafrika sowie den Nahen und Mittleren Osten der untersuchten Pressemedien nur bis
in die siebziger Jahre zu bestätigen. Danach veränderte sich das vermittelte Bild
gesellschaftlicher Akteure. Die Annahme, Medien spiegelten ein Bild der offiziellen Politik, während gesellschaftliche Kräfte unterrepräsentiert seien, muß differenziert werden. Auf der einen Seite hat der arabisch-nationale und arabischsozialistische Entwicklungsstaat nach der Niederlage arabischer Staaten gegen Israel im Krieg von 1967 offensichtlich nicht allein seine gesellschaftliche Integrationsfähigkeit und innenpolitische Bindekraft nachhaltig eingebüßt, was sich teils
in einem Legitimationsverlust des Staates, teils in einer zunehmenden Stärke der
organisierten Opposition ausdrückt,156 sondern diese Entwicklung ist auch in der
Berichterstattung westlicher Medien vermittelt worden. Der durch islamische und
andere Oppositionskräfte herausgeforderte Autoritarismus des sich im 20. Jahrhundert entfaltenden orientalischen Nationalstaats hat dazu beigetragen, daß die
in früheren Jahrzehnten erkennbare Dominanz des Staates, der staatlichen Diplomatie und der staatlichen Empfangsprotokolle in der untersuchten deutschen
Medienberichterstattung erheblich eingeschränkt worden ist. Dieser Vorgang
zeichnet das Bild einer Art partiellen „Entmachtung“ des orientalischen Staates
und einer Aufwertung der Gesellschaft in deutschen Medien. Im Fortgang der
Untersuchung wird allerdings zu zeigen sein, daß die untersuchte deutsche Presse
zum Teil dazu neigt, die nationalistische oder religiöse maximalistische Opposi-
tisch fokussieren. Die Daten lassen erkennen, daß in erster Linie nichtorganisierte Gruppen, nicht
aber gesellschaftliche Organisationen von der Akzentverschiebung in der Berichterstattung der Wochenzeitungen profitieren (Spiegel 17,3% und stern 24,6% im Vergleich zu SZ 7,4% und F.A.Z.
10,0%). Zweitens, die Berichterstattung des stern berücksichtigt „prominente Persönlichkeiten“ in
höherem Maß als andere Medien (10,1% im Vergleich zu SZ 1,9%, F.A.Z. 4,3% und Spiegel 5,4%),
was vor allem durch die in den ersten Jahrzehnten ausgeprägte Unterhaltungsberichterstattung und
die Konzentration auf das Privatleben von Monarchen zu erklären ist.
156 Vgl. u.a. Fred Halliday/Hamza Alavi (Hrsg.), State and Ideology in the Middle East and Pakistan,
New York 1988; Hussain Mutalib/Taj ul-Islam Hashmi (Hrsg.), Islam, Muslims and the Modern
State. Case Studies of Muslims in Thirteen Countries, London et al. 1994.
79
tion gegenüber der zivilgesellschaftlich gemäßigten Opposition überzurepräsentieren (Kap. 5.2.2.5).
Hinsichtlich der Repräsentanz von Staat und Gesellschaft im Beziehungsgefüge zwischen dem Westen und Nordafrika sowie Nah- und Mittelost ist bemerkenswert, daß Kräfte der westlichen Zivilgesellschaft gegenüber dem westlichen
Staat stark im Hintertreffen sind, da ihre zahlreichen Beziehungsaktivitäten157 nur
marginal in den Medien in Erscheinung treten. Hier wird deutlich, daß der Nachrichtenfaktor „Ethnozentrismus“ (Auslandsaktivitäten mit inländischer Beteiligung/home news abroad; vgl. Kap. 3.2.1.2) allein nur geringe Wirksamkeit in der
Auslandsberichterstattung besitzt, sofern er nicht mit anderen Faktoren wie
„Konflikt“ oder „politischer Zentralität“ gekoppelt ist. Entwicklungsorientierte
Beziehungsaktivitäten von NGOs sind aber ihrem Charakter nach gerade nicht
auf Konflikte, sondern auf Vertrauensbildung ausgerichtet, was sich als struktureller Nachteil für ihre Beachtung in der Presse erweist.
• Elite und „Masse“: Während eine Bevorteilung staatlicher Akteure in der deutschen Presse nur bedingt festgestellt werden kann, wird eine andere theoretische
Hypothese uneingeschränkt bestätigt. Die Presseberichterstattung über Nordafrika sowie den Nahen und Mittleren Osten wird von Eliten dominiert und ist daher
weitgehend als Elitendiskurs zu betrachten. Anders als im Fall des Vergleichs
Staat/Gesellschaft lassen sich die erfaßten gesellschaftlichen Organisationen nicht
als Antagonisten gesellschaftlicher Eliten begreifen, sondern sie besitzen selbst
Elitenstatus. Zwar ist anzuerkennen, daß gerade die in den letzten Jahrzehnten
von der deutschen Presse verstärkt zur Kenntnis genommenen Organisationen ein
Sammelbecken für Massenbewegungen sind, doch handelt es sich bei den Organisationen um Gegeneliten. Die stark vertretenen politischen Organisationen sind
im Gegensatz zu den autoritären „Machteliten“ des Staates in den meisten Fällen
eine Mischung aus „Werteliten“, die durch ihr Denken und Verhalten die Ideale
eines Gemeinwesens verkörpern oder Legitimationsdefizite des Staates benennen, und „Funktionseliten“, die etwa durch ihre Teilhabe an der Opposition nützliche Funktionen für die Gesellschaft ausüben können.158 Der weitaus größte Teil
der in der deutschen Presseberichterstattung ermittelten Handlungsträger (im
Durchschnitt 73%) läßt sich einer oder mehrerer der vorstehenden Elitenkategorien zuordnen: „offizielle Staatsvertreter“ (48,4%) sind und waren im Untersuchungszeitraum ganz überwiegend Machteliten; „westliche Staatsvertreter“ sind
überwiegend Funktionseliten; „gesellschaftliche Organisationen“ (14,1%) verkörpern Elemente von Wert- wie von Funktionseliten; „regionale“ und „internationale Organisationen“ (1,9%, 3,2%) sind überwiegend als Funktionseliten zu
betrachten; und „prominente Persönlichkeiten“ (5,4%) gehören weitgehend in
den Bereich der Werteliten. Demgegenüber sind die 14,7 Prozent der „nichtorganisierten Gruppen“ dem Gegenpol der Eliten, der „Masse“, zuzurechnen.
157 Vgl. u.a. Heidi Wedel, Wege zur Kulturpartnerschaft. Die deutsch-türkischen Beziehungen − Bestandsaufnahme und Empfehlungen (ifa-dokumente 1/99), Stuttgart 1999.
158 Urs Jaeggi, Die gesellschaftliche Elite, Bern/Stuttgart 1967 (2. Aufl.), S. 97 ff.
80
Die Konzentration auf Eliten ist zum Teil als eine Folge der Politikzentrierung
der Berichterstattung über Nordafrika und den Vorderen Orient zu betrachten;
die Elitenzentrierung kann gleichwohl auch analytische Eigenständigkeit beanspruchen. Für die Unterordnung spricht, daß in repräsentativen politischen Systemen, unabhängig von deren monarchischer, autoritärer oder demokratischer
Ausrichtung, politische Repräsentation oder Partizipation weitgehend politischen
Eliten, insbesondere den Machteliten und bestimmten Gegeneliten überlassen
bleibt. Für die Eigenständigkeit spricht, daß gerade der Charakter der gegenelitären politischen Organisationen als Sammel- und Artikulationsbecken sozialer
Bewegungen anzeigt, daß nichtorganisierte Gruppen und Bewegungen vorhanden
sind, die in der internationalen Berichterstattung prinzipiell stärkere Berücksichtigung finden könnten. Ungeachtet der Tendenz jeglicher Politik- zur Elitenberichterstattung ist die nachdrückliche Verhaftung der untersuchten Medien im
Elitendiskurs zumindest teilweise als Ausdruck eines elitenorientierten Blickwinkels der Entwicklungsländerberichterstattung zu betrachten.
• Person und Gruppe/Organisation: Eine weitere theoretische Annahme über
Strukturmerkmale des medialen Entwicklungsländerbildes wird durch die empirische Untersuchung verifiziert: Personen werden gegenüber Gruppen und Organisationen als Handlungsträger der Berichterstattung begünstigt (Kap. 3.2.1.2).
Zieht man in Betracht, daß es sich bei den „offiziellen Staatsvertretern“ (im
Durchschnitt 48,4%) um Personen handelt und addiert man die Präsenz von Einzelpersönlichkeiten (5,4%), so erhält man einen Anteil an personenzentrierter Berichterstattung von 53,9 Prozent. Damit zeigt sich jedoch auch, daß die Personalisierung ein quantitativ weitaus weniger signifikantes Phänomen darstellt als die
Elitenzentrierung (73,1%). Ungeachtet der Bedeutsamkeit, die einzelne Personen,
etwa Staatsführer wie Ajatollah Khomeini oder der irakische Präsident Saddam
Hussein, in qualitativer Hinsicht für das deutsche Medienbild haben können −
diese Fragen werden im zweiten Hauptteil der Untersuchung erörtert159 −, spielt
aus quantitativer Sicht die Personalisierung der Berichterstattung über Nordafrika
und den Vorderen Orient eine untergeordnete Rolle. Es ist zu bezweifeln, daß
Personen einen größeren Einfluß auf die primär politische Berichterstattung ausüben als Themenvorgaben, Ereignisvalenzen oder als die abstrakten Strukturierungsmerkmale der Berichterstattung im Bereich der Handlungsträger selbst, d.h.
als der Staat, die Organisation oder die Gruppe.
Nicht nur ist die quantitative Verifikation mit 53,9 Prozent kein deutlicher
Hinweis auf Personalisierung als signifikante Größe. Entscheidender ist, daß die
Bindung des bei weitem größten Teils der Personen an (staatliche) Ämter und
Funktionen, die selbst bei prominenten Persönlichkeiten (ehemaligen Regierungschefs usw.) noch erkennbar wird, sowie die damit einhergehende mangelnde Präsenz unabhängiger Persönlichkeiten zeigen, daß nicht die Person, sondern
die dahinterstehende Funktion/das Amt als primäres Selektionskriterium fungiert.
Ohne öffentliches Amt oder zumindest die Bindung an eine Organisation oder ein
159 Vgl. u.a. Kap. 6.1.1 (Sadat) und Kap. 6.3.1 (Khomeini).
81
Unternehmen in der deutschen Presse als Person Berücksichtigung zu finden, hat
sich sowohl für die regionalen als auch für westliche oder andere Akteure in den
untersuchten Medien als äußerst schwierig erwiesen, was bedeutet, daß der Faktor „Persönlichkeit“ im Grunde ein schwaches Selektionskriterium darstellt, das
nahezu ausschließlich in Verbindung mit Macht oder formeller Autorität belangreich wird. Die in der älteren Forschung häufig verwendete Bezeichnung „Personalisierung“ zur systematischen Beschreibung von häufigen Charakteristika des
Bildes der Entwicklungsländer in westlichen Mediensystemen (Kap. 3.2.1.2) ist
insofern ungeeignet, als die vorliegende Untersuchung darauf schließen läßt, daß
− neben dem möglichen qualitativen Einfluß einiger weniger Personen und Psychogramme − die Präsenz von personalen Handlungsträgern ein Derivat des an
die sozialen Einheiten „Staat“, „Organisation“ und „Gruppe“ gebundenen gesellschaftlichen Einflusses und politischer Macht ist. Es ist daher sinnvoll, sich der
definitorischen Unterscheidung von Schulz anzuschließen, wonach nicht die Person als solches, sondern der „persönliche Einfluß“ einer Person ein wichtiger
Nachrichtenfaktor der Auslandsberichterstattung ist.160
• Nord-Süd- und Süd-Süd-Beziehungen: Dominantes Augenmerk legen die untersuchten deutschen Medien auf nahöstliche und westliche, kaum jedoch auf östliche oder andere außereuropäische Handlungsträger. Die starke Berücksichtigung
westlicher Handlungsträger betrifft vor allem die Akteurskategorie „offizielle
Staatsvertreter“ sowie „andere Handlungsträger“ (z.B. westliche Wirtschaftsunternehmen oder Journalisten/Medien als Akteure der Auslandsberichterstattung),
die relative Unterrepräsentiertheit von Akteuren der östlichen Staatenwelt oder
den Ländern Asiens, Afrikas oder Lateinamerikas betrifft alle Kategorien. Die
Daten verifizieren die theoretische Annahme einer ausgeprägten Neigung zur Berichterstattung über sogenannte „Inlandsnachrichten im Ausland“ (home news
abroad), also Nachrichten mit deutscher oder westlicher (fast durchweg staatlicher) Handlungsbeteiligung innerhalb der Berichterstattung über Nordafrika oder
den Nahen und Mittleren Osten. Darüber hinaus ist erkennbar, daß unter der Bedingung, daß die Berücksichtigung von Handlungsträgern als Ausdruck der Medienaufmerksamkeit für bestimmte Weltregionen und Regionen-RegionenBeziehungen interpretiert wird,161 die Süd-Ost- ebenso wie die Süd-SüdBeziehungen der Länder Nordafrikas und des Nahen und Mittleren Ostens weitgehend aus dem Blick der untersuchten Medien geraten.162 Ungeachtet der Tatsa160 Schulz, Die Konstruktion, S. 87.
161 Frühere Studien haben gezeigt, daß zwischen der Beachtung einer Weltregion A in dem Mediensystem einer Weltregion B und der Beachtung, die die Handlungsträger von A im Mediensystem von
B finden, nur geringe prozentuale Abweichungen zu ermitteln sind. Sreberny-Mohammadi et al.
(Hrsg.), Foreign News in the Media, S. 43.
162 Zu den Beziehungen zwischen den hier berücksichtigten Staaten Nordafrikas und des Nahen und
Mittleren Ostens einerseits und anderen Staaten Asiens und Afrikas andererseits vgl. exemplarisch:
Mona Abbaza, Islam in South-East Asia: Varying Impact and Images of the Middle East, in: Hussin
Mutalib/Taj ul-islam Hashmi (Hrsg.), Islam, Muslims and the Modern State. Case Studies of Muslims in thirteen Countries, Houndmills/ London 1996, S. 139-151; Thomas Koszinowski, Die Beziehungen zwischen den arabischen Staaten und Zentralasien, in: Nahost Jahrbuch 1992. Politik,
82
che, daß die Regionen Asien, Afrika und Lateinamerika in den deutschen Medien
präsent sind, werden die zwischen den Regionen bestehenden Beziehungen kaum
wahrgenommen. Die Auslandsberichterstattung betrifft entweder nur bestimmte
Regionen, oder sie bezieht sich auf regionale Nachrichten mit westlichem Bezug
(etwa die stark vertretenen Großkonflikte im Vorderen Orient; Kap. 5.1.3). Die
„Nachrichtengeographie“, ein Begriff der „Foreign News“-Studie der UNESCO
von 1985,163 enthüllt damit eine starke Nordzentrierung (genauer: Westzentrierung). Gemäß Winfried Schulz ist der Nachrichtenfaktor „Ethnozentrismus“ dann
ausgeprägt, wenn ein Ereignis in Deutschland stattfindet (Kap. 3.2.1.2). Dies ist
ebenfalls bei deutscher (oder westlicher) Handlungsbeteiligung außerhalb
Deutschlands (bzw. Europas) der Fall (home news abroad; vgl. Kap. 3.2.4.3).
Das Bewußtsein und Wissen über nicht-westliche Zentrierungen ist in der Nahost- und Islamberichterstattung gering, und es besteht ein erhebliches Defizit an
globalem Orientierungswissen, denn ungeachtet des beschränkten wirtschaftlichen Austauschs zwischen Entwicklungsländern bestehen zahlreiche politische
und andere Beziehungen, die einen erheblichen Teil des internationalen Weltgeschehens ausmachen, und zwar auch nach dem Abebben der Bewegung der
Blockfreien Staaten.164
Im Gegensatz zu Handlungsträgern aus Nordafrika sowie dem Nahen und
Mittleren Osten ist bei der Darstellung westlicher Akteure im Laufe der Jahre
keine Verlagerung vom Staat zu gesellschaftlichen Organisationen erkennbar, da
nationale NGOs weitgehend unberücksichtigt bleiben. Dies bedeutet, daß
ungeachtet des starken Augenmerks für Nord-Süd-Beziehungen diese auf bi- oder
multinationaler Ebene zwischenstaatlicher Handlungen verbleiben, während Gesellschafts-Gesellschafts-Beziehungen wenig Beachtung finden, obwohl diese seit
geraumer Zeit in der internationalen Kooperation einen beträchtlichen und wachsenden Stellenwert einnehmen.165 Das Ergebnis läßt sich unter anderem als Bestätigung für frühere Studien verstehen, die festgestellt haben, daß der Bereich
Wirtschaft und Gesellschaft in Nordafrika und dem Nahen und Mittleren Osten, Hrsg. vom Deutschen Orient-Institut/Thomas Koszinowski/Hanspeter Mattes, Opladen 1993, S. 207-211; Aziz Alkazaz, Die Economic Cooperation Organization (ECO): Strukturen eines neuen Wirtschaftsraumes,
in: Nahost Jahrbuch 1994. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in Nordafrika und dem Nahen und
Mittleren Osten, Hrsg. vom Deutschen Orient-Institut/Thomas Koszinowski/Hanspeter Mattes, Opladen 1995, S. 207-212; Erhard Franz, Eine neue islamische Außenpolitik der Türkei?, in: Nahost
Jahrbuch 1996. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in Nordafrika und dem Nahen und Mittleren
Osten, Hrsg. vom Deutschen Orient-Institut/Thomas Koszinowski/Hanspeter Mattes, Opladen 1997,
S. 203-208; Hanspeter Mattes, Südafrika − neues regionales Aktivitätszentrum der arabischen Staaten und Irans, in: Nord-Süd aktuell 10 (1996) 2, S. 289-299.
163 Sreberny-Mohammadi et al. (Hrsg.), Foreign News in the Media, S. 43; vgl. a. Kap. 5.2.2.
164 Als Beispiel für die Bedeutsamkeit der Beobachtung regionaler Staatenbeziehungen können die
Verwirrungen im Westen über die außenpolitischen Beziehungen der zentralasiatischen Staaten im
Kräftegefüge zwischen Rußland, Iran und Türkei gelten. Rainer Freitag-Wirminghaus, Atheistic
Muslims. Soviet Legacy and Islamic Tradition in Central Asia and the Caucasus, in: Kai Hafez
(Hrsg.), The Islamic World and the West. An Introduction to Political Cultures and International
Relations, Translated by Mary Ann Kenny, Leiden u.a 2000, S. 218.
165 Vgl. Journalistenhandbuch Entwicklungspolitik 1998, Hrsg. vom Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Bonn 1998, S. 254-266.
83
der (westlichen) Entwicklungspolitik − insbesondere die von NGOs getragene
nichtstaatliche Entwicklungszusammenarbeit − in der Auslandsberichterstattung
unterrepräsentiert ist.166 Im Unterschied zu der geringen Repräsentanz deutscher
oder westlicher NGOs zeigt die mediale Beachtung der deutschen Wirtschaft
(s.o. in „andere Handlungsträger“), daß die untersuchten Pressemedien dazu neigen, Wirtschaftskräfte als Akteure der zwischengesellschaftlichen Beziehungen
höher zu bewerten als NGOs.167
5.1.7 Informationsquellen
Im theoretischen Vorlauf ist darauf hingewiesen worden, daß internationale Kommunikation, wie jede Kommunikation, auf einem dreigeteilten Prozeß der Ermittlung, der Verarbeitung und des Empfangs von Nachrichten basiert, und daß der
Schwerpunkt der theoretischen wie empirischen Erforschung internationaler Darstellungsprozesse in der Regel auf den ersten beiden Aspekten liegt. Während alle anderen bisher untersuchten Merkmale der Berichterstattung über Nordafrika sowie Nahund Mittelost den Prozeß der journalistischen Verarbeitung betroffen haben, hängt
die Untersuchung der Informationsquellen der Presse mit den vor- und zwischengeschalteten Prozessen der Informations- und Nachrichtenermittlung zusammen. Die
Informationsquellen als wesentlicher Aspekt des Informationsflusses war einer der
zentralen Diskussionsgegenstände der Debatte über die Neue Weltinformationsordnung (Kap. 3.2.1.1). Westliche Nachrichtenagenturen, vor allem die großen vier
transnationalen Agenturen (Associated Press, Agence France Presse, Reuters, United Press International), standen im Zentrum der Kritik über das Bild der Entwicklungsländer in den Hochindustriestaaten. Die hohe Steuerungskapazität der Informationsgeber des Mediensystems und die relative „Passivität“ der Redaktionen insbesondere gegenüber dem in der Auslandsberichterstattung in hohem Maß genutzten
Material der Nachrichtenagenturen (Kap. 3.2.3.2) bildete die Grundlage für die Kritik.
Die folgenden Daten und Interpretationen beschränken sich auf die beiden Tageszeitungen, da Quellenauszeichnungen in den Magazinen nur sehr unregelmäßig
erfolgen. Es ist in anderen Untersuchungen bereits darauf hingewiesen worden, daß
die empirische Erfassung von Informationsquellen ein besonderes methodisches
Problem darstellt, da Quellen auch in den Tageszeitungen nicht durchweg ausgewiesen werden. Erstens wird die Trennung zwischen Agenturmaterial und redaktioneller
Eigenleistung, aber auch die Trennung der Nachrichtenagenturen untereinander,
durch sogenannte „sekundäre Gatekeeper-Effekte“ erschwert, wobei etwa die nationalen Nachrichtenagenturen oder überregionalen Zeitungen Material der internatio166 Dritte Welt und Medienwelt (BMZ), S. 8; Ian Smilie, Mixed Messages: Public Opinion and Development Assistance in the 1990s, in: Colm Foy/Henny Helmich (Hrsg.), Public Support for International Development, Paris 1996, S. 27-54; Colette Braeckman, Development in the Media, in:
ebenda, S. 124.
167 Zur Darstellung der deutschen Wirtschaft in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vgl. Kap. 5.2.1.5.
84
nalen Agenturen im Prozeß der Auswertung, Zusammenfassung oder Umarbeitung
von Informationen ohne Kennzeichnung weiterverarbeiten.168 Tendenziell muß davon ausgegangen werden, daß in der Auslandsberichterstattung die hypothetische
Informationskette Agenturen ⇒ nationale Agenturen ⇒ Medien die primäre ist, weil
internationale Nachrichtenagenturen die ausgedehntesten Informationsnetze besitzen,
und daß daher eine Grauzone kaschierter Quelleneinflüsse der Nachrichtenagenturen
auf die Auslandsberichterstattung der deutschen Presse nicht erfaßbar ist.169 Zweitens, auch die Trennung zwischen den unterschiedlichen Arten der Eigenleistungen
in bezug auf ihre Informationsquellen hat sich etwa bei der Frankfurter Allgemeinen
Zeitung häufig als unklar erwiesen, beispielsweise wenn namentliche Berichte durch
Ortskennungen außerhalb Frankfurts und Deutschlands gekennzeichnet werden, ohne
daß ersichtlich wird, ob es sich hier um ein Redaktionsmitglied der Heimatredaktion
oder einer externen Redaktion in Nah-/Mittelost bzw. Nordafrika oder außerhalb
dieser Regionen (gleichwohl über die Regionen berichtend, z.B. Korrespondentenbüros in Madrid oder Paris) handelt.
Aus letzterem Grund werden in einem ersten Evaluierungsschritt beider Tageszeitungen lediglich Daten zu den wichtigen Nachrichtenagenturen der Sammelkategorie „journalistische Eigenleistung“ gegenübergestellt (Tab. 5.4), bevor in einem
zweiten Schritt eine differenzierte Analyse allein für die Süddeutsche Zeitung dargelegt wird, deren Auszeichnungspolitik transparenter und stringenter ist als die der
Frankfurter Allgemeinen Zeitung:
Die Daten verdeutlichen, daß bei der Süddeutschen Zeitung und der Frankfurter
Allgemeinen Zeitung eine sehr unterschiedliche Gewichtung von Nachrichtenagenturen und eigenständiger Informationsbeschaffung vorgenommen wird. Während sich
die Süddeutsche Zeitung bei ihrer Berichterstattung über Nordafrika sowie den Nahen und Mittleren Osten überwiegend auf Agenturquellen stützt (52,1%), ist dies bei
der Frankfurter Allgemeinen Zeitung weitaus weniger der Fall (22,2%), denn letztere
bezeichnet drei Viertel ihrer Berichterstattung (77,8%) als journalistische Eigenleistung. Die Werte für die Nachrichtenagenturen decken sich in beiden Fällen mit
Werten, die in Untersuchungen über das Medienbild der Entwicklungsländer ermit168 Was allerdings nicht bedeutet, daß nicht auch umgekehrt sekundäre Gatekeeping-Effekte insofern
stattfinden, als sich auch internationale Agenturen der nationalen Agenturen und anderer nationaler
oder lokaler Medien bedienen.
169 Sreberny-Mohammadi et al. (Hrsg.), Foreign News in the Media, S. 50.
85
telt worden sind, wobei der Anteil von etwa 50 Prozent wie bei der Süddeutschen
Zeitung der konsolidiertere Wert ist. Die Studie „Dritte Welt und Medienwelt“ des
Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung hat einen
Wert von 53 Prozent als Agenturanteil der Quellen überregionaler Tageszeitungen
ermittelt;170 gemäß der „Foreign News“-Studie der UNESCO beläuft sich der Anteil
der Nachrichtenagenturen in der Auslandsberichterstattung deutscher Medien auf 56
Prozent.171
Der Anteil journalistischer Eigenleistungen, zu denen in dieser Untersuchung alle
namentlich, mit Namenskürzel oder als Eigenbericht gekennzeichneten Beiträge
gezählt worden sind, ist vor allem im Fall der Frankfurter Allgemeinen Zeitung höher als die Werte anderer Medien. Vergleichsuntersuchungen weisen eine durchschnittliche Eigenleistung der Berichterstattung über die Entwicklungsländer von 23
Prozent aus, wobei dieser Wert nicht zuletzt deshalb besonders niedrig sein dürfte,
als auch regionale Tageszeitungen und Boulevardmedien berücksichtigt werden, die
über nur geringe Kapazitäten im Bereich der Auslandsberichterstattung verfügen.172
Lediglich im Fall der aus deutscher Sicht räumlich näheren Italienberichterstattung
werden auch in anderen Untersuchungen Werte von 50,2 Prozent für die Frankfurter
Allgemeine Zeitung und 60,7 Prozent für die Süddeutsche Zeitung verzeichnet.173
Vor allem der hohe Eigenleistungsanteil der Frankfurter Allgemeinen Zeitung bei
der Berichterstattung über Nordafrika und den Nahen und Mittleren Osten, der in
ähnlicher Weise auch in der Berichterstattung über Lateinamerika vorherrscht,174 ist
nur mit dem ausgedehnten Korrespondentennetz der Zeitungen zu erklären. Die
obengenannten methodischen Bedenken hinsichtlich der Auszeichnungsgepflogenheiten und den sekundären Gatekeepingeffekten sind gleichwohl nicht letztlich auszuräumen.
Dies ist zumal deshalb der Fall, da trotz dieser Unterschiede bei den Informationsquellen der Tageszeitungen die bisherige quantitative Inhaltsanalyse (Umfang,
Sachgebiete, Thematisierung, Ereignisvalenz, Länderverteilung, Handlungsträger)
für beide Zeitungen oft nahezu identische und durchweg sehr ähnliche Daten ermitteln konnte. Dies bedeutet, daß unabhängig von den Informationsquellen − Korrespondenten, Nachrichtenagenturen usw. − im wesentlichen ein gemeinsamer Standard der Nahostberichterstattung der Tageszeitungen in bezug auf die wesentlichen
Eckwerte der Nahostberichterstattung herrscht, d.h. es besteht eine übergreifende
Perzeptions- und Selektionsroutine, die zum Beispiel zu einem sehr ähnlich hohen
Anteil von Nachrichten über den Nahostkonflikt führt. Hier bestätigt sich wiederum
die theoretische Annahme einer die inhaltliche Struktur (Sachgebiete, Themen usw.)
in hohem Maße beeinflussenden und vereinheitlichenden Stellung des Informationsgebers, in diesem Fall der Nachrichtenagenturen. Die Daten sind ein Indiz dafür, daß
nachgeordnete Teile der Informationskette − Zeitungsredaktionen, Korrespondenten
170
171
172
173
174
86
Dritte Welt und Medienwelt (BMZ), S. 153.
Sreberny-Mohammadi et al. (Hrsg.), Foreign News in the Media, S. 49.
Dritte Welt und Medienwelt (BMZ), S. 153.
Pütz, Das Italienbild, S. 126.
Roemeling-Kruthaup, Politik, Wirtschaft und Geschichte, S. 50.
usw. − dem ordnenden Einfluß der Agenturen tatsächlich, wie Alfred C. Lugert annimmt, tendenziell passiv gegenüberstehen (Kap. 3.2.3.2), wobei die trotz Eigenleistung bestehende strukturelle Ähnlichkeit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit
anderen Medien entweder auf sekundäres Gatekeeping (versteckte Nutzung von
Nachrichtenagenturen in den als Eigenleistung ausgewiesenen Berichterstattungsteilen) oder auf eine starke Orientierung an journalistischen Meinungsführern hinweist.
Die Grobstruktur der Berichterstattung (Umfang, Sachgebiete usw.) weist jedenfalls
nur sehr wenige Eigenheiten auf, die mit Sicherheit als Eigenleistungen zu deuten
sind.
Zur weiteren Differenzierung journalistischer Eigenleistungen bieten sich allein
die in den letzten Jahrzehnten gut ausgezeichneten Beiträge der Süddeutschen Zeitung an (Tab. 5.5):
In Tabelle 5.5 wird deutlich, daß der Anteil der Nachrichtenagenturen an den Informationsquellen (58,5%) in den Jahren 1970-94 im Vergleich zum gesamten Untersuchungszeitraum 1955-1994 sogar noch leicht gestiegen ist. Etwa ein Fünftel aller
Berichte (21,0%) werden von Korrespondenten aus Nordafrika und dem Nahen und
Mittleren Osten gestellt. Die Münchener Heimredaktion der Süddeutschen Zeitung
dient in 14,2 Prozent der Fälle als Informationsquelle; externe Redaktionen (wie das
Pariser oder andere Korrespondentenbüros) steuern weitere 6,3 Prozent hinzu. Das
im theoretischen Vorlauf beschriebene inhaltliche Wirkungspotential der Auslandskorrespondenten, das etwa aus dem Spannungsfeld von Vorgaben der Zentralredaktion bzw. des Verlages einerseits und der Aufnahme von Meinungsführerimpulsen
im Orient andererseits entstehen kann und im Rahmen der geistigen Vielfalt der
Presselandschaft normativ angestrebt wird (Kap. 3.2.3.4), bleibt bei der Süddeutschen Zeitung auf ein Fünftel (21,0%) bis ein Viertel (plus 6,3%) beschränkt, stellt
damit jedoch noch immer eine beträchtliche Größe dar, die bei kleineren Zeitungen
nicht erreicht wird.
In einem weiteren Analyseschritt ist der relative Anteil der wichtigsten Nachrichtenagenturen untersucht worden (Tab. 5.6):
87
Die Daten − im Unterschied zu Tab. 5.5 handelt es sich hier um die Anzahl der Quellennennungen − lassen erkennen, daß ungeachtet der ungleichen Rollenverteilung
von Nachrichtenagenturen und journalistischen Eigenleistungen bei den beiden Tageszeitungen die relative Bedeutung einzelner Nachrichtenagenturen weitgehend
identisch ist. Informationen der großen internationalen Agenturen (AP, AFP, Reuters, UPI) stellen bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zusammen 70,3 Prozent
und bei der Süddeutschen Zeitung 62,8 Prozent des Agenturmaterials. In der Reihenfolge der Bedeutung der großen westlichen Agenturen rangiert die amerikanische AP
bei beiden Zeitungen mit etwa einem Drittel aller Agenturquellen an erster Stelle,
gefolgt von der britischen Reuters, der französischen AFP und der in den neunziger
Jahren von saudi-arabischem Kapital finanzierten und seither nicht mehr zu den
großen internationalen Agenturen zählenden UPI. Hierbei muß berücksichtigt werden, daß der deutsche Dienst von AP seit 1946 existiert, während Reuters erst 1971
einen deutschen Dienst einrichtete und UPI den ihren zeitgleich einstellte175 (fremdsprachige Nachrichtenagenturdienste werden vorwiegend von den Agenturen selbst
genutzt, d.h. von den deutschen Diensten der internationalen Agenturen oder von den
nationalen Agenturen, die diese für den deutschen Markt auswerten).176 Der wesentliche Unterschied besteht in der etwas stärkeren Stellung von AFP bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und einem stärkeren alternativen Zugriff auf den Deutschen
Depeschen Dienst (ddp) (in „andere Agenturen“) bei der Süddeutschen Zeitung.
Etwa ein Viertel der Nachrichten stützt sich auf Angaben der größten nationalen
Nachrichtenagentur dpa, die allerdings in Bezug auf Nachrichten aus Nordafrika und
Nah-/Mittelost im historischen Längsschnitt 1955-94 ihre allgemeine Führungsstellung in der deutschen Presse verliert. Verrechnet man die Werte der vorstehenden
Tabelle mit denen zum Anteil der Agenturen am Gesamt der Informationsquellen der
jeweiligen Zeitung (Tab. 5.4), so beträgt der Anteil der vier großen internationalen
175 Winfried Schulz, Nachricht, in: Elisabeth Noelle-Neumann/Winfried Schulz/Jürgen Wilke (Hrsg.),
Fischer Lexikon Publizistik-Massenkommunikation, Frankfurt 1994, S. 325.
176 Bericht der Bundesregierung über die Lage der Medien in der Bundesrepublik Deutschland/Medienbericht ’94, Drucksache 12/8587 des Deutschen Bundestages, 12. Wahlperiode, vom
20. Oktober 1994, Hrsg. vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Bonn 1994,
S. 188.
88
Agenturen an der Berichterstattung über Nordafrika und den Nahen und Mittleren
Osten bei der Süddeutschen Zeitung 32,7 Prozent und bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung 16,0 Prozent.177
Die Daten weisen aus, daß die vier großen internationalen Nachrichtenagenturen
zwar eine starke Stellung im Vergleich zu anderen Agenturen innehaben, eine monopolistische Position, wie sie in der Debatte um die Neue Weltinformationsordnung
oft konzeptionell vorausgesetzt worden ist, läßt sich jedoch nicht erkennen. Die
Bindung der deutschen Tageszeitungen an die Nachrichtenagenturen der ehemaligen
nordafrikanischen und vorderorientalischen Kolonialmächte bei der Informationsbeschaffung ist zwar erkennbar, ist jedoch im allgemeinen nicht als ein Zustand der
informationellen Abhängigkeit zu beschreiben.
5.2
Kombinierte Analyse der Faktoren des Nahost- und
Islambildes
In der folgenden kombinierten Analyse soll ermittelt werden, welche Zusammenhänge zwischen einzelnen Faktoren des Nahost- und Islambildes bestehen, um die Bedingungen ihres Auftretens genauer bestimmen zu können. Die Frage ist also beispielsweise nicht mehr nur, wie häufig ein bestimmtes Land in der Presse in Erscheinung tritt, sondern auch im Zusammenhang mit welchen Themen dies der Fall ist,
welche Akteure in Berichterstattung über die Länder dominieren und durch welche
Informationsquellen jeweils informiert wird?
Die Unterteilung des Kapitels in zwei Teilkapitel „Sachgebiets- und Themenprofile“ und „Länderprofile“ entspringt der arbeitsökonomischen Notwendigkeit der
Eingrenzung kombinatorischer Möglichkeiten der Faktorenpaarung, wobei Sachgebiete und Themen leichte Priorität erhielten, obgleich nahezu ebenso viel über das
Informations-, Akteurs- und Valenzprofil der Presse in Erfahrung gebracht wird.
5.2.1 Sachgebiets- und Themenprofile
Im ersten Schritt der kombinierten Untersuchung werden Zusammenhänge von jeweils zwei Merkmalen untersucht, wobei das erste Merkmal immer aus den Sachgebieten oder Themen der Berichterstattung besteht, während es sich bei dem zweiten
Merkmal jeweils um Ereignisvalenzen, Handlungsträger und Informationsquellen
handelt. Man gelangt zu einer reziproken Vertiefung der Erkenntnisse über die quantitativ untersuchten Merkmale. Im Vordergrund stehen etwa folgende Fragen: Welche Sachgebiete oder Themen werden durch positive, negative oder neutrale Ereignisdarstellungen gekennzeichnet? Sind einzelne Sachgebiete oder Themen stärker
durch negative und positive Valenzen gekennzeichnet als andere und lassen sich
177 Beispielrechnung: 32,7 Prozent bei der SZ entspricht 62,8 Prozent (relativer Anteil der großen vier
Agenturen) von 52,1 Prozent (Anteil der Agenturquellen an den gesamten Informationsquellen).
89
hierdurch Aussagen über die Werteinschätzung bestimmter Sachfragen in der deutschen Presse treffen? Welche Quellen liegen der politischen, ökonomischen usw.
Berichterstattung über Nordafrika und den Nahen und Mittleren Osten und einzelnen
Themen wie dem „Nahostkonflikt“ oder dem „Islam“ zu Grunde, und welche informationellen Voraussetzungen bestanden in bestimmten zeithistorisch und für das
deutsche Öffentlichkeitsbild bedeutsamen Momenten? Inwieweit sind die unterschiedlichen Präferenzen für bestimmte Akteursgruppen − Staat, Eliten oder Personen − zugleich inhaltliche Vorprägungen der Auslandsberichterstattung?
5.2.1.1 Sachgebiete und Ereignisvalenz
Im Rahmen der einfachen Faktorenanalyse ist deutlich geworden, daß die Berichterstattung über Nordafrika sowie den Nahen und Mittleren Osten sich auf politische
Vorgänge konzentriert, während andere Sachgebiete und Presseressorts in hohem
Maß ausgeblendet werden. Zudem ist ermittelt worden, daß vorwiegend über neutrale und − abhängig von der Konfliktdefinition in größerem oder geringerem Umfang −
über negative Ereignisse berichtet wird, während positive Handlungen nur marginal
in Erscheinung treten. In der folgenden kombinierten Abfrage wird ersichtlich, daß
ein enger Zusammenhang zwischen der Politikzentrierung und dieser spezifischen
Ausprägung der Ereignisvalenzen besteht (Abb. 5.11).
Das politische Ressort weist höhere Negativwerte auf als die meisten anderen
Ressorts (im Durchschnitt: negativ 38,3%; neutral 43,7%; positiv 1,7%; negativneutral 16,4%).178 Der Vergleich mit den durchschnittlichen Valenzwerten aller
Sachgebiete (vgl. Kap. 5.1.4, Abb. 5.7 und 5.8) läßt erkennen, daß das politische
Sachgebiet überdurchschnittlich stark durch Negativvalenzen belastet ist. Eine ähnliche durchschnittliche Wertigkeitsverteilung weist lediglich der Bereich „Soziales/Umwelt“ auf (im Durchschnitt: negativ 41,3%; neutral 42,6%; positiv 3,0%;
negativ-neutral 13,2%). Die Aufschlüsselung nach den einzelnen Medien (Tab. A
5.14) läßt erkennen, daß „Politik“ und „Soziales/Umwelt“ in allen Medien die höchsten Negativwerte aufweisen, daß die Negativwerte jedoch bei den Wochenmedien
Der Spiegel und stern höher liegen als bei den Tageszeitungen, was die bereits beschriebene Polarisierungstendenz bei den Wochenzeitungen bestätigt.
178 Höhere Werte sind nur noch in der Kategorie „Sonstiges“ erkennbar, wobei hier etwa kriminelle
Handlungen verzeichnet worden sind.
90
91
Andere Sachgebiete weisen Valenzverteilungen auf, die erheblich von denen in den
Bereichen „Politik“ und „Soziales/Umwelt“ abweichen. Die Berichterstattung in den
Sachgebieten „Ökonomie“, „Religion“ (nur Kultus), „Kultur/Wissenschaft“, „Unterhaltung“ und „Tourismus“ läßt sich ganz überwiegend als Berichterstattung über
„neutrale“ Ereignisse beschreiben, mit der Einschränkung, daß vor allem in der Wirtschaftsberichterstattung Konflikte ohne physische Gewalt (also z.B. Handelssanktionen oder -kriege) relativ stark registriert werden (im Durchschnitt der Medien
23,5%). Das positive Sachgebiet par excellence ist der Bereich „Kultur/Wissenschaft“ (im Durchschnitt der Medien 31,0%), da hier das Definitionskriterium „Erfolg“ (etwa bei kulturhistorischen Entdeckungen) am stärksten zum Tragen kommt.
„Unterhaltung“ ist im Vergleich durch etwas stärkere Negativwerte belastet (im
Durchschnitt der Medien: negativ 8% und 5,9% negativ-neutral), da der Unterhaltungssektor Konfliktelemente nicht ausschließt (Schadenfreude, schwarzer Humor
usw.).
Die kombinierte Medienanalyse Sachgebiete/Ereignisvalenz weist auf den Zusammenhang zwischen journalistischen Orientierungen, die bisher isoliert betrachtet
worden sind. Politik- und Konfliktorientierung beispielsweise stabilisieren sich gegenseitig, d.h. daß die Politikzentrierung der Presseberichterstattung stützt die Tendenz zur Konfliktorientierung der Medien wie umgekehrt eine vorhandene Konfliktorientierung die Politikberichterstattung begünstigt. Andererseits ist auch ein Zusammenhang von Kultur- und Positivorientierung zu erkennen. Die Ausprägung von
Ereignisvalenzen − und damit ein wichtiger Faktor dafür, ob eine Region in den
Medien eine negativeres oder positiveres Erscheinungsbild hinterläßt − hängt also in
hohem Maß von der Sachgebietsorientierung ab, was nicht nur daher rühren kann,
daß das politische Ressort in seiner Arbeit stärker mit Fragen physischer Gewalt
(„negativ“) konfrontiert wird als das Feuilleton, sondern auch daher, daß Politikberichterstattung im Bereich Nordafrika und Nah-/Mittelost sich stärker auf politische
Konflikte als auf die politische Kultur konzentriert.
5.2.1.2 Thematisierung und Ereignisvalenz
Die Analyse des Verhältnisses zwischen einzelnen Themen der Berichterstattung und
der diesen Themen zugeordneten Ereignisvalenz ist geeignet, die vorstehende Untersuchung der Beziehung Sachgebiet-Ereignisvalenz zu differenzieren. Ermittelt wird,
welche Themen, insbesondere im politischen Ressort, mit positiven, neutralen oder
negativen Wertungstendenzen behaftet sind; eine erste wichtige Inhaltstendenz für
die später im Rahmen der qualitativen Inhaltsanalyse untersuchten Themen.
Abbildung 5.12 weist aus, daß der Bereich der Großkonflikte, der etwa zwei
Fünftel aller Berichte über Nordafrika und den Nahen und Mittleren Osten in den
untersuchten Medien ausmacht, kein einheitlicher Valenzbereich ist. Sowohl die
Durchschnittswerte als auch die individuellen Medienwerte lassen erkennen, daß im
Fall des Nahostkonflikts der Anteil an neutraler Berichterstattung höher ist als bei
den „anderen Konfliktherden“ (also etwa der Suezkrise, dem Algerienkrieg oder dem
92
93
Zypernkonflikt), wo die Konzentration auf Gewaltereignisse größer ist als beim
Nahostkonflikt. Da der Nahostkonflikt jedoch wie die anderen Konflikte im Laufe
der Jahre und Jahrzehnte ebenso durch Kriege und Gewalttaten wie durch einen
stetigen Wechsel von akuten Kriegsphasen (high-intensity conflict) und Konfliktphasen geringerer Gewaltintensität (low-intensity conflict) geprägt worden ist, muß die
Ungleichbehandlung statt auf den Berichterstattungsgegenstand vielmehr auf die Art
der Darstellung durch die Medien zurückgeführt werden. Verschiedene Typen der
Darstellung von Großkonflikten müssen unterschieden werden: ein verhandlungsorientierter Berichterstattungsstil wie beim Nahostkonflikt und ein stärker gewaltorientierter Berichterstattungsstil bei anderen Konfliktherden.
Als mögliche Erklärung bietet sich an, daß die Thematisierungsdauer und
-kontinuität unterschiedlich ausgeprägt ist. Während die meisten Gewaltkonflikte
erst mit dem Ausbruch akuter Gewalt in die Medien gelangen und nach Beendigung
der Gewalt nur noch selten in den Medien präsent sind, so daß das in der Regel im
Umfeld der Gewalt virulente diplomatische Verhandlungsgeschehen weitaus weniger
reflektiert wird als das Gewaltgeschehen, ist dies beim Nahostkonflikt nicht der Fall.
Der verhandlungsorientierte Berichterstattungsstil im Fall des Nahostkonflikts besitzt
eine Sonderstellung. Die im Vergleich zu anderen Konflikten niedrigen Negativwerte
ergeben sich, weil die Presse sich nicht allein auf Gewaltakte konzentriert, sondern
auch auf kleinere diplomatische und politische Entwicklungen reagiert und dadurch
eine ganzheitliche, alle Phasen des Konflikts begleitende Berichterstattung pflegt.
Während andere Konfliktherde „vandalisiert“ werden, wird der Nahostkonflikt „diplomatisiert“. Aus theoretischer Sicht bedeutet dies: die Presse ist beim üblicherweise vorherrschenden gewaltorientierten Berichterstattungsstil über Regionalkonflikte
nicht geneigt, a) heraufziehende Konflikte oder Konfliktbedingungen im Sinne eines
journalistischen „Frühwarnsystems“ (Davison) zu thematisieren und b) sich langfristig etablierenden Konflikten kontinuierlich zu widmen (Kap. 3.2.4.4.2). James F.
Larsons Annahme, der Charakter internationalen diplomatischen Verhandlungsgeschehens ändere sich durch die mediale Präsenz der Verhandlungen, da diese zu
Interventionen der Öffentlichkeit und der Medien in den Verhandlungsablauf führen
könne,179 ist abhängig vom Berichterstattungsstil der Medien. Nur der verhandlungsorientierte Stil bietet die erforderlichen Voraussetzungen für „öffentliche Diplomatie“, da nur hier das Verhandlungsgeschehen systematisch verfolgt wird. Im Bereich
des Nah-/Mittelost- und Nordafrikabildes der deutschen Presse ist dieser Stil ausgeprägt allein beim Nahostkonflikt zu erkennen, während andere Konflikte nur sporadisch Einblicke in Verhandlungsentwicklungen erlauben. Der Nahostkonflikt bietet
daher die günstigsten Möglichkeiten dafür, daß Presse und Öffentlichkeit in Deutschland Positionen und Stimmungen entwickeln, die den Verhandlungsverlauf des arabisch-israelischen Friedensprozesses − etwa über den Umweg der EU-Nahostpolitik
− beeinflussen könnten.
179 Larson, Global Television, S. 5.
94
Die Ungleichgewichtung der Konfliktberichterstattung ist vor allem für diejenigen
Länder von Bedeutung, die in der Presse überwiegend im Zusammenhang mit Konfliktberichten in Erscheinung treten, während andere Aspekte der Landesrealität
kaum wahrgenommen werden (vgl. Kap. 5.2.2.3), da sie im öffentlichen Ansehen der
deutschen Presse mit einer großen Menge von Negativbildern belastet werden. Für
diese Fälle besitzt die Berichterstattung über den Nahostkonflikt eine Vorbildfunktion im Interesse einer ausgewogeneren Krisen- und Konfliktberichterstattung. Zugleich jedoch ist der verhandlungsorientierte Stil der Konfliktberichterstattung unter
den Bedingungen des strukturellen Platzmangels der Auslandsberichterstattung − es
ist festgestellt worden, daß sie letztlich nicht über eine Grundversorgung hinausgeht
(Kap. 5.1.1) − platzraubend; die Darstellung des Nahostkonflikts geht auf Kosten der
Darstellung anderer Konflikte, und der Nahostkonflikt ist in diesem speziellen Sinn
„überberichtet“. Reformüberlegungen der Konfliktberichterstattung müssen daher
zwischen dem Idealtyp einer allumfassenden Berichterstattung und dem Realtyp der
strukturellen Begrenzung vermitteln. Neben einer Ausweitung von Berichterstattungskapazitäten wäre die Verlagerung von Kapazitäten vom Thema „Nahostkonflikt“ zu anderen Konfliktthemen ein probates Mittel des Ausgleichs zwischen gewalt- und verhandlungsorientierten Berichterstattungsstilen.
Die Daten in Abbildung 5.12 weisen aus, daß obwohl „Islam“ gemessen an der
Artikelzahl und dem Anteil am Berichterstattungsvolumen kein dominierendes Thema ist (Kap. 5.1.3), in qualitativer Hinsicht ein ungewöhnlich starker Akzent auf
physischer Gewalt zu erkennen ist. Die Themenstruktur ist überwiegend durch
Aspekte des islamischen Extremismus und/oder Fundamentalismus geprägt, die
Berichterstattung über Gewaltereignisse ist stärker ausgeprägt als bei anderen Themen und wird nur durch den gewaltorientierten Stil der Berichterstattung über Großkonflikte, also letztlich der Berichterstattung über akute Kämpfe und Kriege, übertroffen. Die Durchschnittswerte (Tab. A 5.15) zeigen, daß der Islam neben den hohen Werten bei Berichten über gewaltsame Konflikte (negativ 48,3%) auch einen
relativ hohen Anteil an Berichten über gewaltlose Konflikte (negativ-neutral 12,8%)
aufweist. Zwar treten Negativvalenzen in absoluten Zahlen bei allen Zeitungen häufiger in Zusammenhang mit dem Thema „Nahostkonflikt“ in Erscheinung, weil über
dieses Thema mehr berichtet wird als über den Islam, doch der prozentuale Anteil
der Negativvalenzen ist beim Islam-Thema weitaus höher (im Durchschnitt: Nahostkonflikt 31,4%; Islam 48,3%). Das Thema „Islam“ ist sowohl in der engeren („negativ“) als auch in der weiteren Konfliktdefinition („negativ“ plus „negativ-neutral“)
stärker belastet als beispielsweise der Nahostkonflikt oder die Erdölfrage. Gewaltsamkeit oder Konflikthaftigkeit des Geschehens sind wie bei nahezu keinem anderen
Thema die dominierenden Elemente zur Überwindung der medialen Aufmerksamkeitsschwelle. Dies, obwohl die komparative Konfliktforschung gezeigt hat, daß nur
ein geringer Prozentsatz mit dem Islam in Verbindung steht und die große Mehrheit
von autoritären Herrschaftsbedingungen und postkolonialen Konfliktfaktoren getragen wird.180 Die in der Forschungsstandsdiskussion (Kap. 4.1.1) vorgestellte These
180 Scheffler, West-östliche Angstkulturen, S. 80-87.
95
der Existenz eines „Feindbildes Islam“ in deutschen und westlichen Medien kann in
bezug auf die untersuchten Pressemedien als bestätigt gelten. Die Aktivierung der
Islamberichterstattung durch die Iranische Revolution von 1978/79 hat eine derartige
Konzentration auf Negativereignisse hervorgebracht, daß anstelle einer Berichterstattung über neutrale (oder gar positive) Ereignisse im Zusammenhang mit den
verschiedenen (orthodoxen, modernistischen, volksislamischen, moderat-fundamentalistischen u.a.) Erscheinungsformen des Islam ein selektiver Aufmerksamkeitszuwachs nahezu allein für die (extremistisch)-fundamentalistische Spielart des Islam
erfolgt ist.181 Diese Ereignisselektivität ist ein zentraler Bestandteil eines Feindbildes. In späteren Falluntersuchungen (Kap. 6.3, 6.4 und 6.5) wird zu zeigen sein, daß
die „Qualität“ der starken Negativprägung des Themas Islam über dieses Thema
selbst hinausreicht − man denke an die methodische Prämisse, daß die Qualität eines
Untersuchungsmerkmals größeres Gewicht haben kann als dessen Quantität (Kap.
4.2.1) − und die mediale Einschätzung von politischen Evolutionen und Revolutionen in Nordafrika und Nah- und Mittelost beeinflussen kann.
Die Negativprägung des Islambildes der Medien steht in Einklang mit den in den
neunziger Jahren zunehmenden Angst- und Bedrohungsgefühlen in der deutschen
Öffentlichkeit. Das Institut für Demoskopie Allensbach hat folgende Werte für die
Sorge der Befragten vor einer Bedrohung durch den Islam ermittelt: 1991 20%
(West) und 14% (Ost); 1992 27% (West) und 23% (Ost); 1993 35% (West) und
24% (Ost); und 1995 44% (West) und 31% (Ost).182 Dem islamischen Fundamentalismus entgegenzuwirken, betrachteten 1993 78% der Befragten als wichtig, 1995
waren es 84% − in beiden Fällen lag die Priorität vor Fragen wie der EUOsterweiterung.183 Zwar läßt sich aus dem Negativbild des Islam in der Presse ohne
integrierte Versuchsanordnung (Medien/Medienwirkung) keine zwangsläufige Wirkung auf die Öffentlichkeit ablesen, doch ist ein Wirkungspotential (vgl. Kap. 2) im
Vergleich Medienbild/Demoskopie deutlich zu erkennen.184
Ebenfalls stark konfliktbelastet ist das Thema „Arabischer Nationalismus“ (negativ 21,8%; negativ-neutral 21,7%). Ähnlich wie beim Islam steht bei diesem Thema
die für Feindbildkonstruktionen typische ideologische Komponente stärker im Vordergrund als bei weniger negativ geprägten ökonomischen Themen wie der Erdölfrage (negativ 17,5%; negativ-neutral 15,8%). Ungeachtet der Tatsache, daß die
Erdölkrise von 1973 einen der größten Wirtschaftskonflikte des 20. Jahrhunderts
darstellte, spielen Konflikte − gleich ob gewaltsam oder gewaltfrei − in der ökonomischen Berichterstattung eine geringere Rolle als bei der politischen Berichterstattung. Diese Tendenz deckt sich mit den Ergebnissen der vorstehenden kombinierten
181 Zu Strömungen der politischen Kultur vgl. Kai Hafez (Hrsg.), The Islamic World and the West. An
Introduction to Political Cultures and International Relations, Translated by Mary Ann Kenny, Leiden u.a 2000.
182 Allensbacher Jahrbuch für Demoskopie 1993-1997, Bd. 10, Hrsg. von Elisabeth Noelle-Neumann
und Renate Köcher, München u.a. 1997, S. 62.
183 Ebenda, S. 1096.
184 Zum theoretischen Zusammenhang zwischen medialer Konfliktperspektive und negativem Öffentlichkeitsbild vgl. a. den Hinweis auf die Studie von McNelly und Izcaray in Kapitel 3.2.4.1.3.
96
Analyse Sachgebiete-Ereignisvalenz (Kap. 5.2.1.1). Da zugleich eine hier nicht dokumentierte Aufschlüsselung der Kategorie „negativ-neutral“ ergeben hat, daß gewaltlose Konflikte vor allem die seit der Erdölkrise von 1973 starke Reflexion internationaler Konflikte im Erdölsektor widerspiegeln, ist insgesamt festzustellen, daß
sich die Erdölberichterstattung vor allem durch Berichte über neutrale Routinehandlungen aus den Bereichen der Erdölförderung, -verarbeitung, des Erdölhandels und
-transports auszeichnet, daß jedoch zentrale internationale Ressourcenkonflikte zwischen den orientalischen und westlichen Staaten dabei nicht ausgeblendet werden.
Die These einer „Nichtdarstellung internationaler Strukturprobleme“ in der Auslandsberichterstattung (Kap. 3.2.1.2) muß im Bereich der Erdölberichterstattung
relativiert werden. Das Hauptproblem besteht nicht in der Nichtdarstellung bzw.
-thematisierung, denn die Erdölfrage hat die mediale Aufmerksamkeitsschwelle
durch Langzeitwirkung der Krise von 1973 überwunden. Internationale Konflikte
des Erdölsektors stehen auf der Medienagenda; die nachfolgende kombinierte Analyse Sachgebiete-Handlungsträger (Kap. 5.2.1.5) wird gleichwohl aufzeigen, daß
diese Konflikte häufig nicht als strukturelle Probleme der Nord-Süd-Beziehungen
interpretiert werden, sondern als individuelle Konflikte zwischen Privatunternehmen
und/oder staatlichen bzw. staatskapitalistischen Akteuren. Probleme sind daher im
Bereich des framing, nicht jedoch des agenda-setting zu erkennen.
Ein Vergleich der Valenzwerte der Themen „orientalische Prominenz“ und „altorientalische Geschichte“ bestätigt eine Tendenz, die sich in der kombinierten Analyse Sachgebiete-Ereignisvalenz angedeutet hat. Beide Themen werden überwiegend
mit neutralen Ereignissen in Verbindung gebracht. Ein Unterhaltungsthema wie das
der orientalischen Prominenz, das wie der gesamte Unterhaltungsbereich im Laufe
der Jahrzehnte stark rückläufig gewesen ist, wird im Vergleich zu anderen Themen,
aber auch im Vergleich zu anderen Unterhaltungsthemen sehr positiv rezipiert
(12,8% im Vergleich zu lediglich 9,9% im Durchschnitt des Unterhaltungssegments;
vgl. Kap. 5.2.1.1). Dies gilt mehr noch für den Bereich der altorientalischen Geschichte (als Thema des Sachgebiets „Kultur/Wissenschaft“), der mit einem Durchschnittswert von 37,5 Prozent positiver Berichte weit vor allen anderen Themen
rangiert. In begrenztem Umfang bietet auch der Themenkomplex „deutschorientalische Beziehungen“ Raum für die Hervorhebung positiver Ereignisse (im
Durchschnitt 3,7%).
Insgesamt sind bei der Themen-Valenz-Analyse zum Teil erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen Pressemedien erkennbar. Der Eindruck festigt sich, daß
die Wochenzeitungen stern und Der Spiegel zu einer polarisierenderen Art der Berichterstattung neigen als die Tageszeitungen, indem sie vor allem negative, gelegentlich auch positive Ereignisse stärker beachten als die Tageszeitungen. Diese
Tendenz ist bereits durch die einfache Untersuchung der Ereignisvalenz (Kap. 5.1.4)
sowie durch die kombinierte Abfrage Sachgebiete-Ereignisvalenzen aufgezeigt worden. Die Wochenmedien neigen unter anderem bei folgenden Themen zu einer relativ starken Polarisierung:
97
• Nahostkonflikt und andere Konfliktherde: Die Daten weisen aus, daß über den
Nahostkonflikt gegenüber anderen Gewaltkonflikten bei allen Medien in einer
stärker verhandlungsorientierten Weise berichtet wird, während die anderen Konflikte lediglich punktuell − auf den Höhepunkten gewaltsamer Auseinandersetzungen − in Erscheinung treten. Es zeigt sich allerdings zugleich, daß gewaltbzw. verhandlungsorientierte Berichterstattungsstile nicht nur vom Thema, sondern auch von der Art des Mediums abhängig sind. Gewaltorientierungen sind
sowohl beim „Nahostkonflikt“ (Tab. A 5.15: F.A.Z. 19,5%; SZ 26,9%; Spiegel
43,3%; stern 36,0%) als auch bei „anderen Konflikten“ (F.A.Z. 39,3%; SZ
43,9%; Spiegel 56,2%; stern 67,4%) in den Wochenmedien ausgeprägter als in
den Tageszeitungen, in denen sich das gewaltfreie Konflikt- und Verhandlungsgeschehen stärker niederschlägt. Die Daten weisen aus, daß die Aufmerksamkeit
der Wochenmedien im Rahmen der Konfliktberichterstattung sich stärker auf die
Höhepunkte gewaltsamer Auseinandersetzungen konzentriert als dies bei den Tageszeitungen der Fall ist. Die Zahlenwerte zeigen: Je weniger umfangreich die
Berichterstattung eines Mediums, desto stärker ausgeprägt ist die Konfliktperspektive. Die durchgängig vorhandene Unterscheidung zwischen verhandlungsund gewaltorientierten Berichterstattungsstilen findet also bei den Wochenmedien auf einem allgemein höheren Gewaltniveau statt; währenddessen sind die Tageszeitungen generell eher bereit, andere als die „sensationalistischen“ Gewaltbestandteile von Konflikten zu berücksichtigen (wobei es sich in der Regel weniger
um Leistungen des journalistischen „Frühwarnsystems“ als um die Reflexion des
auf Gewaltkonflikte folgenden oder damit einhergehenden Verhandlungsgeschehens handelt).
• Islam: Die beiden Wochenmedien stern und Der Spiegel bringen „Islam“ weitaus
stärker mit Gewaltereignissen in Verbindung als die Tageszeitungen (Tab. A
5.15: stern 51,4%; Spiegel 64,1%; F.A.Z. 37,4%; SZ 40,3%). Der Spiegel verzeichnet mit 64,1 Prozent den zweithöchsten Negativwert aller untersuchten
Themen (hinter dem Wert des stern von 67,4% für „andere Konflikte“). Angesichts der Tatsache, daß Der Spiegel der wichtigste innerjournalistische Meinungsführer in Deutschland ist,185 geht von der ungewöhnlich starken Konfliktprägung des Islambildes des Spiegel vermutlich ein entsprechend starker Meinungsführerimpuls für die gesamte Medienberichterstattung aus.
• Deutsch-orientalische Beziehungen: Der Anteil an berichteten Gewaltereignissen
im Zusammenhang mit den deutsch-orientalischen Beziehungen liegt beim Spiegel mit 35 Prozent und beim stern mit 32,4 Prozent weitaus höher als bei den Tageszeitungen, was vor allem von den in diesen Medien überdurchschnittlich vertretenen Berichten über tatsächliche oder strukturelle Gewaltaspekte der Beziehungen wie deutsche Waffengeschäfte oder deutsche Geiseln herrührt. Der Eindruck, der in Kapitel 5.1.3 entstanden ist, daß die Wochenblätter sich der
deutsch-orientalischen Beziehungen in besonderem Maß annehmen, muß also
dahingehend präzisiert werden, daß es die Negativaspekte dieser Beziehungen
185 Vgl. die Darstellungen in Kapitel 4.2.
98
sind, für die sich diese Medien besonders interessieren, während positive oder
neutrale vertrauensbildende Momente in den Hintergrund rücken.186
Die Themen-Valenz-Untersuchung hat insgesamt deutlich gemacht, daß die Zuordnung von Ereignisvalenzen, d.h. die durch journalistische Konzentration auf bestimmte Ereignisse vorgeprägte positive, negative oder neutrale Sicht der Regionen
Nordafrikas und des Nahen und Mittleren Ostens, bei unterschiedlichen Themen
verschieden ausgeprägt ist. Es bestätigt sich die Feststellung der Sachgebiets-ValenzAnalyse, daß politische Themenstellungen stärker negativ belastet sind als der Bereich der „Ökonomie“, „Kultur/Wissenschaft“ und „Unterhaltung“, und daß innerhalb des politischen Ressorts das Thema „Islam“ besonders negativ dargestellt wird.
Relativ hohe Neutralwerte verzeichnet hingegen der Nahostkonflikt, die bei den
Tageszeitungen unterhalb des Gesamtdurchschnitts der Negativvalenzen (33,0%)
anzusiedeln sind, da im Gegensatz zu anderen Großkonflikten, deren mediale Vermittlung auf ihren Gewaltkern reduziert wird, in diesem Fall eine kontinuierliche und
umfassende Konfliktberichterstattung zu erkennen ist. Es hat sich zudem gezeigt, daß
die Wochenmedien eine weitaus polarisierendere Berichterstattung betreiben als die
Tageszeitungen, wobei überwiegend gewaltsam-negative, selten positive Ereignisse
als Anlaß zur journalistischen Thematisierung dienen.
5.2.1.3 Sachgebiete und Informationsquellen
Es wurde festgestellt, daß trotz unterschiedlicher Quellenzusammensetzungen der
Süddeutschen Zeitung und der Frankfurter Allgemeine Zeitung beide Zeitungen eine
sehr ähnliche Sachgebietsverteilung ihrer Orientberichterstattung aufweisen. Journalisten orientieren sich in ihrer Eigenleistung also offensichtlich an einer ähnlichen
Sachgebiets- (oder auch Themen-) -verteilung wie bei ihrer Selektion von Agenturmaterial. Wenn − wie bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung − weniger Agenturmaterial verwendet wird, muß ein höherer Eigenanteil sich etwa mit politischen Fragen beschäftigen, um den bei allen Zeitungen ähnlich hohen Anteil des Politikressorts abzudecken. Dennoch ist es wichtig, die genaue Verteilung der Quellen auf die
einzelnen Sach- und später auch auf die Themengebiete zu erfahren, denn die Gestaltung der Medienberichterstattung ist, wie bereits erwähnt, trotz ähnlicher Oberflächenstrukturen (Sachgebiete, Themengestaltung usw.) nicht „quellenunabhängig“.
Die Themengestaltung − interpretatorische Frames wie sprachliche Eigenheiten −
erfolgt trotz einiger grundlegender professioneller Standards nicht einheitlich.
Es ergeben sich folgende Fragen:
186 Im Vergleich dazu handelt es sich bei den 5,8 Prozent positiver Beiträge des Spiegel hauptsächlich
um Erfolgsmeldungen im Zusammenhang mit Israel, während etwa die Frankfurter Allgemeine Zeitung ihre Positivberichte (6,2%) über verschiedene Länder der Nahostregion gestreut haben (z.B.
Lob der deutschen Wirtschaft für die Zahlungsmoral Irans; Erfolgsmeldungen des Tourismus in der
Türkei oder Ägypten; Preisverleihung für Jerusalemer Bürgermeister).
99
• Welcher Quellenunterbau unterliegt den einzelnen Sachgebieten, d.h. wie werden
die recht unterschiedlichen Anteile an Agenturmaterial und Eigenleistung bei der
Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Süddeutschen Zeitung in die Sachgebiete kanalisiert?
• Welche Quellengrundlage weisen insbesondere die wenigen Berichterstattungsfelder auf, die sich als Spezifika der Medien erwiesen haben (z.B. Wirtschaft bei
der Frankfurter Allgemeinen Zeitung oder gegenwartsbezogene Kultur bei der
Süddeutschen Zeitung)?
Das wichtigste Ergebnis der Analyse (Tab. A 5.16) ist, daß der Anteil der Informationsversorgung durch die Nachrichtenagenturen im Sachgebiet „Politik“ größer ist als
auf anderen Gebieten. 56,0 Prozent der mit Quellenhinweisen versehenen Beiträge
des politischen Ressorts der Süddeutschen Zeitung und 24,8 Prozent der Beiträge der
Frankfurter Allgemeinen Zeitung basieren auf Informationsmaterial der Nachrichtenagenturen. Wären Kurzmeldungen bis 20 Zeilen in die Untersuchung aufgenommen worden, läge der Anteil der Agenturen weitaus höher, was bei der Süddeutschen
Zeitung den Anteil der Nachrichtenagenturen an der politischen Informationsbeschaffung über die Staaten des Nordafrikas und des Nahen Ostens auf etwa zwei
Drittel aller Quellen anheben würde. Beide Tageszeitungen informieren sich bei den
Nachrichtenagenturen weitaus weniger über andere Sachgebiete. Diese Quellenbeschaffung basiert hier überwiegend auf journalistischen Eigenleistungen der Tageszeitungen.
Während daher das politische Nachrichtenressort in hohem Maß von der Informationszulieferung der Nachrichtenagenturen geprägt ist, unterliegen vor allem ökonomische, kulturelle und soziale Fragen einer weitaus stärkeren hausinternen Prägung der untersuchten Tageszeitungen. Dadurch kann gefolgert werden, daß inhaltliche Spezifika der nicht-politischen Sachgebiete − etwa die ermittelte starke Prägung
des Wirtschaftsressorts durch westliche/deutsche Handlungsträger bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (Kap. 5.1.6 und Kap. 5.2.1.5) oder die Gegenwartsorientierung des Feuilletons der Süddeutschen Zeitung (Kap. 5.1.2) − „hausgemacht“ und
nicht agenturgeprägt sind.
Als Ursachen für diese Entwicklung kommen in Frage, daß die Nachrichtenagenturen entweder ganz überwiegend politische Nachrichten anbieten oder aber daß die
Zentralredaktionen der Zeitungen keine anderen Nachrichten von den Agenturen
nutzen. Dabei wird eine Kombination beider Faktoren wirksam. Jürgen Wilke und
Dagmar Schmidt haben durch eine Inhaltsanalyse der deutschen Basisdienste ermittelt, daß die Nachrichtenagenturen tatsächlich − mit Ausnahme von dpa − neben der
durchgängig starken Konzentration auf Politik unterschiedliche Ressortspezialisierungen vornehmen, etwa in Form eines größeren Angebots „vermischter“ und „bunter“ Nachrichten bei AP oder eines stärkeren Wirtschaftsakzents bei Reuters.187 Zwar
187 Jürgen Wilke/Dagmar Schmidt, Das Nachrichtenangebot der Agenturen im inhaltlichen Vergleich,
in: Jürgen Wilke (Hrsg.), Nachrichtenagenturen im Wettbewerb. Ursachen − Faktoren − Perspektiven, Konstanz 1997, S. 80 f.; Jürgen Wilke, The Struggle for Control of Domestic News Markets
100
beinhaltet die Untersuchung keine spezifische Aufschlüsselung des Nordafrika und
den Nahen und Mittleren Osten betreffenden Agenturangebots. Sie gibt jedoch einen
Hinweis darauf, daß Agenturen ungeachtet ihrer marktgerechten Spezialisierungen
nicht ausschließlich politische Nachrichten anbieten, so daß Eigenleistungsanteile
von mehr als 90 Prozent in den Sachgebieten „Ökonomie“, „Religion“ oder „Kultur/Wissenschaft“ als Folge einer entsprechenden redaktioneller Nutzungspolitik der
Zeitungen interpretiert werden müssen.
Drei Aspekte der vorstehenden Analyse sind von besonderer Bedeutung:
• Der politische Nachrichtensektor lebt zumindest bei Süddeutschen Zeitung − die
Quellenverteilung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung muß insgesamt als sehr
ungewöhnlich gelten (vgl. Kap. 5.1.7) − von einer hohen Zuflußrate externer Expertise durch Nachrichtenagenturen. Dieser Tatbestand deckt sich mit den Ergebnissen der Studie „Dritte Welt und Medienwelt“ des Bundesministeriums für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, in der das Sachgebiet „Politik“ als „agenturträchtig“ bezeichnet wird.188 Aus theoretischer Sicht bedeutet
dies, daß die Steuerungseinflüsse des Agenturjournalismus im Hinblick auf Themen- und Ereignisagenda im Bereich politischer Berichterstattung am größten
sind. Politische Themen, die von den Agenturen nicht berücksichtigt werden,
können sich langfristig nur schwer auf der Medienagenda etablieren.
• Ebenso mit der genannten Studie189 steht die Beobachtung in Einklang, daß andere als das politische Ressort mehr Raum für persönlich gekennzeichnete Artikel
bieten. Dies bedeutet, daß es vor allem journalistische Eigenleistungen sind, die −
wenn auch nur begrenzt effektiv − der schwachen Ausbildung von Ressortvielfalt
entgegenwirken. Die Eigenleistungen der Mitarbeiter der Tageszeitungen sind die
Garanten eines Minimums an Sachgebietsvielfalt, und die Gestaltung von Berichten findet außerhalb des Politikressorts ganz überwiegend im direkten Kontakt
zwischen Korrespondenten/Autoren mit den Zentralredaktionen statt.
Spezifiziert man die journalistischen Eigenleistungen wie in Tabelle A 5.17 für die
Süddeutsche Zeitung, so wird erkennbar, daß es weniger der Korrespondent und
vielmehr die Zentralredaktion selbst ist, die Sachgebiete außerhalb der „Politik“
durch Eigenprodukte prägt. Alle untersuchten Instanzen der Eigenleistung im Bereich der Auslandsberichterstattung sind primär dem Politikressort zugeordnet. Darüber hinaus ist die Sachgebietsstreuung bei Nahostkorrespondenten ausgeprägter als
bei externen Korrespondenten, was damit zu erklären ist, daß sich letztere nahezu
ausschließlich bei als wichtig erachteten internationalen Fragen in die Nahostberichterstattung einschalten, insbesondere wenn dabei politische Beziehungen zu ehemaligen Kolonialmächten oder zu den Supermächten berührt werden und damit die Korrespondentenbüros in London, Paris, Washington und Moskau legitimiert sind, in die
Orientberichterstattung einzugreifen. Hier erweist sich das im Theoriekapitel vorge(2), in: Oliver Boyd-Barrett/Terhi Rantanen (Hrsg.), The Globalization of News, London u.a. 1998,
S. 56 f.
188 Dritte Welt und Medienwelt (BMZ), S. 154.
189 Ebenda.
101
stellte, dort aber bereits eingeschränkte Bild vom Auslandskorrespondenten als einem selbstgesteuerten Journalisten, der aus normativer Sicht gehalten ist, seinen
priviligierten Quellenzugang und seine Kenntnis verschiedener Meinungsmilieus in
(eine über die Agenturvorgaben hinausgehende) thematische Vielfalt umzusetzen
(Kap. 3.2.3.4), als zumindest teilweise unrealistisch. Auch der Korrespondent in der
Region ist weit überwiegend der politischen Berichterstattung zuzuordnen und legt
nur wenig Gewicht auf wirtschaftliche, kulturell-wissenschaftliche, soziale und andere Fragestellungen, oder entsprechende Beiträge werden nicht von der Zentralredaktion veröffentlicht, was im Gegenzug zu vorauseilenden Anpassungen auf der Seite
der Korrespondenten führen kann. Die theoretisch formulierte Spannweite der Korrespondententätigkeit zwischen strukturellen Freiräumen und Anpassungszwängen
(Kap. 3.2.3.4) konkretisiert sich im Fall der Sachgebietsorientierung des Nahostjournalismus zur Seite der Anpassung. Interessant ist, daß amerikanische Korrespondenten in einer 1979 veröffentlichten Studie mit großer Mehrheit angaben, die Nahostberichterstattattung berücksichtige religiöse, soziale und kulturelle Belange zu
wenig und sei zu krisenorientiert, was zeigt, daß Korrespondenten zum Teil selbst ihr
Handlungspotential als unausgeschöpft betrachten.190 Im relativen Maßstab ist die
Sachgebietsstreuung bei der Zentralredaktion am stärksten ausgeprägt. Während
Korrespondenten das Gebiet „Soziales/Umwelt“ besser abdecken als ihre Kollegen
in den Heimatredaktionen, sind sowohl Wirtschafts- als auch Kultur- und Wissenschaftsexpertise bei letzterer Instanz stärker ausgebildet (Tab. A 5.17).
5.2.1.4 Thematisierung und Informationsquellen
Wenn das politische Ressort der Berichterstattung über Nordafrika sowie den Nahen
und Mittleren Osten „agenturlastig“ ist, so ist zu fragen, welche Nachrichtenagenturen von den Tageszeitungen als Informationsquellen für die einzelnen politischen
Themen herangezogen werden. Die Tabellen A 5.18-A 5.19 weisen aus, wie sich das
Verhältnis zwischen Quellen und Themen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
und in der Süddeutschen Zeitung im Zeitraum 1955-94 gestaltet hat.
Es ist erkennbar, daß die beiden Tageszeitungen in den Konfliktfeldern, die als
nationale oder gar vitale Interessengebiete der amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik eingestuft werden (und zum Teil durch Doktrinen der Außenpolitik wie
die Truman- oder Eisenhower-Doktrin gekennzeichnet gewesen sind), Nachrichten
von Associated Press stärker genutzt haben als in anderen Teilen der Untersuchungsregion. Dies gilt insbesondere für den Nahostkonflikt, Libanon und die Golfregion.
Hier nutzten beide Zeitungen AP stärker als (oder in einem Fall ebenso stark wie)
andere Nachrichtenagenturen. Beim Nahostkonflikt betrug der Anteil von AP am
gesamten Quellenaufkommen der fünf führenden Agenturen im Zeitraum 1955-94
bei der Süddeutschen Zeitung 36,6 Prozent und bei der Frankfurter Allgemeinen
Zeitung 33,6 Prozent. Eine gesonderte Auswertung wurde für den Zeitraum 1971-94
190 Daniel Sreebny, American Correspondents in the Middle East: Perceptions and Problems, in:
Journalism Quarterly 56 (1979) 2, S. 387.
102
durchgeführt, da hier der deutsche Dienst von Reuters eröffnet wurde, während UPI
seinen Dienst einstellte, doch der Quellenateil von AP änderte sich hierdurch nur
unwesentlich, da Reuters die Lücke füllte, die UPI hinterließ. Während des Libanesischen Bürgerkriegs betrug der Quellenanteil von AP 51,8 (SZ) bzw. 37,3 (F.A.Z.)
Prozent und im Iran-Irak Krieg 41,5 (SZ) bzw. 37,2 (F.A.Z.) Prozent.191 Der Informationsvorsprung von AP in den deutschen Tageszeitungen ist geringer oder schlägt
in einen Rückstand auf andere Agenturen um, wenn man die Beiträge zu anderen
Konfliktbereichen untersucht, wo die amerikanische Politik keine vitalen Interessen
verfolgt.
Die folgende Abbildung 5.13 verdeutlicht diese Tatsache, indem sie den Informationsvorsprung bzw. Rückstand von AP in bezug auf die neben AP am stärksten
vertretene Nachrichtenagentur visualisiert. Aus der Differenz beider Werte ergibt
sich ein Quellenvorsprung (Pluswerte) oder ein Quellenrückstand (Minuswerte) von
AP:
Das Ergebnis läßt sich dahingehend interpretieren, daß AP die allgemeine Stellung
als primus inter pares und am stärksten frequentierte Agentur am deutschen Pressemarkt in den prioritären Feldern der amerikanischen Nahost- und Nordafrikapolitik
festigt, während in anderen Feldern diese Position etwa an Reuters oder dpa übergeht. Letzteres kann daher resultieren, daß AP sich hier weniger enagagiert, weil das
191 Der zweite Golfkrieg von 1990/91 stellt einen Sonderfall dar, da durch die konzentrierte militärische Zensur, die Journalistenpoolbildung in Dhahran und die Sonderstellung von CNN die großen
Nachrichtenagenturen, insbesondere AP als primäre Nachrichteninformanten eine geringere Bedeutung besaßen. Vgl. MacArthur, Second Front.
103
eigene Absatzinteresse stark am amerikanischen Markt orientiert ist, während andere
Agenturen bessere Angebot machen.
Die theoretische Hypothese ist allerdings nicht zu bestätigen, daß sich aus der
Primus-Stellung von AP in Bereichen hoher amerikanischer außenpolitischer Aktivität ein Einflußpotential der US-Politik auf die deutsche Konfliktberichterstattung
ergeben könnte, das vor dem Hintergrund nachgewiesener zeitweiliger Einflüsse der
politischen Heimatbasis auf die großen Agenturen kritisch beurteilt werden müßte
(Kap. 3.2.3.2). Der Agenturanteil von AP übersteigt − von Ausnahmen wie dem
Libanesischen Bürgerkrieg in der Franfurter Allgemeinen Zeitung abgesehen − auch
in den zur Debatte stehenden Konfliktbereichen nicht etwa ein Drittel, so daß die
Quellenvielfalt gewahrt bleibt. Die Tatsache, daß die starke US-Orientierung der
Süddeutschen Zeitung im Zusammenhang mit der Irak- und Golfpolitik andernorts
auf Kritik gestoßen ist,192 kann sich lediglich auf die redaktionellen Eigenleistungen
der Zeitung − also etwa die Interpretationen einzelner Redakteure oder die Redaktion
insgesamt − nicht aber auf die Versorgung mit Information durch die Nachrichtenagenturen beziehen. Auch nach der kombinierten Themen-Informations-Analyse
bleibt festzustellen, daß die starke thematische Vorstrukturierung der Berichterstattung durch die Agenturen, für die Hinweise in Kapiteln 5.1.7 und 5.2.1.3 ermittelt
worden sind, das wesenliche Merkmal des Einflusses des Informationsgebers „Agentur“ auf die Presse ist, nicht aber eine ideologische oder interessengeleitete Ausrichtung der Agenturen, die selbst wenn sie existierte durch andere Agenturen kompensiert würde.
Den Themen „Islam“, „Erdöl“ und „Deutsch-orientalische Beziehungen“ liegen
unterschiedliche Informationsquellen zugrunde. Beim Thema Islam sind mit Ausnahme von UPI, die in keiner der Zeitungen nennenswert als Informationslieferant in
Erscheinung tritt (SZ 0%; F.A.Z. 1,9%), die anderen Agenturen an der Quellenbeschaffung beteiligt, was dadurch bedingt ist, daß das „Islam“ erst seit 1978/79 in
größerem Umfang von Medien beachtet wird, UPI aber bereits 1971 seinen deutschen Dienst einstellte. Beim Thema „Erdöl“ lassen sich daher ebenfalls UPI (SZ
6,0%; F.A.Z. 3,7%) − und im Fall der Süddeutschen Zeitung auch AFP (1,2%) − als
wenig genutzte Informationsquellen ausmachen. Die wichtigste Agentur für die
deutsch-orientalischen Beziehungen ist naturgemäß dpa auf Grund ihrer Nähe zum
Thema (SZ 45,6%; F.A.Z. 50,9%), gefolgt von AP (SZ 27,9%; F.A.Z. 26,3%), die
vor den anderen Agenturen rangiert.
5.2.1.5 Sachgebiete und Handlungsträger
Nachdem bisher ermittelt worden ist, auf welcher Quellengrundlage die einzelnen
Sachgebiete der Presseberichterstattung über Nordafrika und den Nahen und Mittle192 Rudolf Augstein, der ehemalige Herausgeber des Spiegel, kritisierte die Süddeutsche Zeitung und
insbesondere den außenpolitischen Redakteur Josef Joffe im Jahr 1998 für seine nachdrückliche
Unterstützung eines amerikanischen militärischen Angriffs auf den Irak. Rudolf Augstein, Wir
Schreibtisch-Krieger, Spiegel 2.3.1998.
104
ren Osten basieren und mit welchen Valenzwerten sie verbunden sind, soll eine
Kombination mit der Untersuchungskategorie „Handlungsträger“ das Sachgebietsprofil abrunden. Die zentrale Frage lautet, ob die Sachgebiete von denselben oder
von unterschiedlichen Akteurskategorien beherrscht werden. Es ist anzunehmen, daß
verschiedene Merkmale der Berichterstattung, die im einfachen Analysedurchgang
als separate Phänomene beobachtet worden sind − etwa die Politikkonzentration und
die Elitenzentrierung der Berichterstattung − letztlich in einem kausalen Zusammenhang dergestalt stehen, daß beispielsweise politische Handlungen auf Grund des
ausgeprägten Repräsentationscharakters von Politik in der Regel staatliche und andere organisierte Eliten begünstigen, während andere Sachgebiete − etwa „Soziales/Umwelt“ − neben staatlichen und anderen Eliten insbesondere soziale Gruppen
und Bewegungen in den Vordergrund rücken. Als Arbeitshypothese kann die Annahme gelten, daß eine Veränderung der Ressortstatik der Berichterstattung über den
Nahen und Mittleren Osten − etwa eine Gewichtsverlagerung vom Politik- zu anderen Ressorts − auch eine Veränderung der elitären Charakteristik medialer Handlungsträger bewirken würde.
Die Tabellen A 5.20-A 5.23 zeigen, daß ein Zusammenhang zwischen Sachgebiet
und Handlungsträger erkennbar ist, der es erforderlich macht, die vorstehende Hypothese zu präzisieren. Zu erkennen ist, daß bei allen untersuchten Tageszeitungen,
Nachrichtenmagazinen und Illustrierten im Sachgebiet „Politik“ Staatsvertreter und
gesellschaftliche Organisationen überdurchschnittlich repräsentiert sind (im Vergleich zu den Durchschnittswerten für die Handlungsträger; vgl. Kap. 5.1.6), während nichtorganisierte Gruppen weniger als durchschnittlich in der Berichterstattung
in Erscheinung treten. Es ist offensichtlich, daß das Politikressort eine elitenorientierte Akteursverteilung begünstigt, die sich wegen des großen Anteils des Ressorts
auf das gesamte Erscheinungsbild der Berichterstattung über Nordafrika und den
Nahen und Mittleren Osten ausgewirkt hat und dessen elitenorientiertes Gepräge
bestimmt.
Im Sachgebiet „Soziales/Umwelt“ ist eine deutlich andere Akteurszusammensetzung als im politischen oder ökonomischen Ressort zu erkennen. Der Schwerpunkt
liegt hier bei allen untersuchten Medien auf den nichtorganisierten Gruppen Nordafrikas sowie des Nahen und Mittleren Ostens (SZ 39,1%; F.A.Z. 38,6%; Spiegel
29,7%; stern 37,3%). Zwar sind in absoluten Zahlen nichtorganisierte Gruppen im
Sachgebiet „Politik“ wegen der hohen Anzahl von Artikeln in diesem Bereich höher
als in anderen Sachgebieten, aber ihr prozentualer Anteil im Sachgebiet „Soziales/Umwelt“ ist in allen Zeitungen weitaus größer als in der politischen Berichterstattung. Einige Beispiele: als Akteure traten ägyptische Frauen, israelische Einwanderer, palästinensische Dorfbewohner, iranische Erdbebenopfer, die marokkanische
Bevölkerung, türkische Flüchtlinge, ägyptische Gastarbeiter, syrische Alawiten,
marokkanische Obdachlose, marokkanische Christen, ägyptische Demonstranten
oder irakische Kinder auf. Erkennbar ist hier, daß bei der Sozial- und Umweltberichterstattung ein vom Politikressort deutlich unterscheidbarer Akzent bei der Zusammensetzung der Akteure gelegt wurde, wobei nicht der Staat oder Organisationen, sondern die Betroffenen sozialer und ökologischer Entwicklungen als dominan105
te Handlungsträger in Erscheinung treten. Lediglich die westlichen Organisationen
(z.B. Caritas, Médecins du Monde, Friedrich-Ebert-Stiftung) weisen im Vergleich
zur allgemein geringen Beachtung in der Presse einen leicht höheren Anteil auf, der
nur von der starken Präsenz der westlichen christlichen Kirchen im Sachgebiet „Religion“ übertroffen wird. Da neben den Organisationen auch der Staat und die zumeist staatlichen regionalen Organisationen stark vertreten sind, ist nicht davon
auszugehen, daß im Bereich „Soziales/Umwelt“ eine politisch affirmative „Opferberichterstattung“ ohne Aufzeigen politischer Hintergründe geleistet würde. Vielmehr
hat die verstärkte Berichterstattung über gesellschaftliche Gruppen und Bewegungen
auf diesem Sachgebiet den Aspekt der „Masse“ als Korrektiv zur elitären Tendenz
der Nahostberichterstattung eingebracht − ein Korrektiv, daß gleichwohl auf Grund
des geringen Anteils am Gesamt der Berichterstattung quantitativ wenig wirksam
wird. Dennoch läßt sich die konditionale Aussage treffen, daß eine Aufwertung des
Sachgebiets „Soziales/Umwelt“ zu einem stärkeren Ausgleich der Elitenberichterstattung durch eine größere Repräsentanz der Bevölkerungen und sozialen Bewegungen beitragen würde. Gerade der Fall der „Re-Islamisierung“ seit den siebziger
Jahren zeigt, daß neben dem Handeln von Eliten und Gegeneliten, von Staaten und
Islamisten, nativistische, kultische und sozio-religiöse Phänomene bestimmend gewesen sind, ohne die Elitenhandeln wirkungslos geblieben wäre.193
Im Sachgebiet „Ökonomie“ ist ein ganz anderer Trend erkennbar. An die Stelle
der Kollektivorientierung bei den Akteuren tritt eine Tendenz zur Individualisierung
(nicht zu verwechseln mit Personalisierung). Im Fall der Ökonomie sind in der größten Kategorie „andere Handlungsträger“ (SZ 31,4%; F.A.Z. 37,3%; Spiegel 39,2%;
stern 21,9%) nahezu ausschließlich Vertreter der Privatwirtschaft vorzufinden. Eine
Aufschlüsselung der Kategorie bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ergibt, daß
etwa die Hälfte der unter dieser Rubrik versammelten Akteure deutsche Unternehmungen sind (z.B. BHF-Bank, Bayerische Vereinsbank, Deutsche Bank, deutsche
Reedereien, Preussag, Imhausen, Iveco), während sich die andere Hälfte zum größten Teil aus westlichen bzw. multilateralen Firmen und zum geringeren Teil aus
nahöstlichen Unternehmen rekrutiert. Die nordafrikanische und nahöstliche Wirtschaft wird auf Grund des großen Anteils von Staatsunternehmungen und der im
Vergleich zum Westen schwachen Ausbildung eines Wirtschafsbürgertums und der
Privatwirtschaft häufiger von offiziellen Staatsvertretern repräsentiert. Handelskammern und Wirtschaftsverbände sind auch in der Ökonomie − wie die NGOs allgemein (Kap. 5.1.6) − nur wenig vertreten, wie die Zahlen unter der Rubrik „gesellschaftliche Organisationen-West“ ausweisen (F.A.Z. 1,3%; SZ 0,6%; stern 2,7%;
Spiegel 0,6%). Die anderen Medien weisen auf quantitativ niedrigerem Niveau eine
ähnliche Akteursverteilung auf. Mit Ausnahme des stern mit seinem relativ hohen
Anteil nichtorganisierter Gruppen in der Wirtschaftsberichterstattung übertrifft die
Zahl der individuellen Handlungsträger bei allen anderen Medien die der nichtorganisierten Gruppen um ein Vielfaches, was den Trend zur Berücksichtigung individu193 Vgl. in Kapitel 6.3.1 die Diskussion des „soziokulturellen Ansatzes“ der Re-Islamisierungsforschung.
106
eller statt kollektiver Akteure belegt. Wirtschaftliche Fragen werden weitaus weniger
als Sozial- und Umweltfragen in ihren volkswirtschaftlichen Dimensionen und Wirkungen auf die Bevölkerungen aufgearbeitet. Die Presseberichterstattung konzentriert sich auf Interessen und Handlungsweisen einzelner Wirtschaftsakteure, sei es
auf die Privatwirtschaft oder den Staat, und läßt damit einen stark betriebswirtschaftlichen Akzent auf Kosten volkswirtschaftlicher Analysen erkennen. Diese Entwicklung ist wahrscheinlich damit zu erklären, daß Beiträge des Sachgebiets „Ökonomie“
überwiegend in den Presseressorts „Wirtschaft“ der untersuchten Medien erscheinen,
d.h. von Redaktionen betreut werden, die traditionell eine sehr kleine Leserschaft
besitzen, die sich bei den überregionalen Medien in hohem Maß aus Wirtschaftskreisen selbst rekrutiert.
Auch regionale Organisationen sind im Sachgebiet „Ökonomie“ stärker vertreten
als im politischen oder in anderen Bereichen (SZ 9,0%; F.A.Z. 9,7%; Spiegel 8,3%;
stern 4,1%). Bei diesen regionalen Organisationen handelt es sich in vielen Fällen
um die EWG/EG, in der überwältigenden Mehrheit jedoch um die OPEC. Die OPEC
ist im Grunde die einzige regionale Wirtschaftsorganisation, die als Ausdruck einer
signifikanten wirtschaftlichen Ordnungspolitik von den untersuchten deutschen Medien wahrgenommen wird, während andere Wirtschaftsorganisationen (wie die
ECO)194 nicht beachtet werden. Der Stellenwert der EWG/EG (heute EU) in der
Berichterstattung über Nordafrika und den Nahen und Mittleren Osten ist größer als
der der regionalen Wirtschaftsorganisationen (außer OPEC), deren Existenz möglicherweise gar nicht bekannt ist oder die als wenig effizient betrachtet werden, und er
ist prozentual höher als im Sachgebiet „Politik“, was den wirtschaftlichen Schwerpunkt der euro-orientalischen Aktivitäten belegt.
Im Sachgebiet „Kultur/Wissenschaft“ ist ebenfalls eine starke Tendenz zu individuellen Handlungsträgern erkennbar, mit dem Unterschied allerdings, daß hier nicht
Unternehmen, sondern Personen in den Vordergrund treten, Individualisierung also
in hohem Maß als Personalisierung in Erscheinung tritt. Eine Aufschlüsselung der
Kategorie „andere Handlungsträger“ (SZ 31,0%; F.A.Z. 63,1%; Spiegel 36,4%; stern
25,5%) hat ergeben, daß hier überwiegend Wissenschaftler (z.B. Archäologen,
Ägyptologen, Orientalisten, Anthropologen, Naturforscher) sowie Künstler (z.B.
Musiker, bildende Künstler, Regisseure, Komponisten) angeführt werden. In der
Kategorie „prominente Einzelpersönlichkeiten“ sind bekannte Wissenschaftler und
Künstler sowie eine große Zahl historischer Gestalten von Goethe bis Kleopatra
versammelt. Da, wie gezeigt, die untersuchten Pressemedien (außer der Süddeutschen Zeitung) bei der Themenwahl ein konservativ-abendländisches Kulturverständnis mit starker Betonung der vorislamisch-antiken Orientgeschichte und geringer Beachtung der zeitgenössischen orientalischen Kultur aufweisen (Kap. 5.1.2 und
5.2.2.1), ist es folgerichtig, wenn eine weitere Aufschlüsselung der Daten zeigt, daß
es sich hierbei oft um westliche Künstler und Wissenschaftler handelt.
194 Die ECO wurde 1985 gegründet und 1992 um die zentralasiatischen Staaten erweitert. Ihre Vorgängerorganisationen reichen zurück bis 1964.
107
Angesichts des starken Akzents auf Aktivitäten unter dem Leitmotiv „der Westen im
Orient“ muß zudem verwundern, daß weder westliche Staatsvertreter (stern 2,1%;
Spiegel 7,3%; SZ 1,6%; F.A.Z. 2,1%) noch westliche gesellschaftliche Organisationen (stern 2,1%; Spiegel 0%; SZ 3,8%; F.A.Z. 0,3%) eine signifikante Rolle in der
Kultur- und Wissenschaftsberichterstattung spielen. Auswärtige staatliche Kulturpolitik und nichtstaatliche Kooperationen (NGOs usw.) im Bereich von Kultur und
Wissenschaft treten als Aspekte der deutsch-orientalischen Beziehungen medial
kaum in Erscheinung, vermutlich weil dem Geschehen keiner der primären Nachrichtenfaktoren (wie „Konflikt“ in der Politik oder „Personalisierung“ bei einzelnen
Künstlern/Wissenschaftlern) zugeordnet werden kann und es zu einer Marginalie der
Medienberichterstattung wird, obwohl eine nachhaltigere Darstellung dieser Realitätsaspekte im Interesse eines vertrauensbildenden Klimas zwischen Westen und
Orient wäre.
Wie ist auf der Basis der vorstehenden Resultate die Eingangshypothese eines
kausalen Zusammenhangs von Sachgebietsverteilung und Elitenprägung der Medienberichterstattung zu beurteilen? Es zeigt sich, daß für die Elitenausrichtung der
Berichterstattung insbesondere die Politikberichterstattung verantwortlich zeichnet,
daß daneben jedoch zwei quantitativ wesentlich schwächere Tendenzen erkennbar
sind. Vor allem im Sachgebiet „Soziales/Umwelt“ wird die vorstehende Hypothese
bestätigt, da hier eine Tendenz zu kollektiven Akteuren und Handlungen besteht, die
den Massenaspekt der Berichterstattung begünstigt (ähnlich auch im Sachgebiet
„Religion“). Die Bereiche „Ökonomie“ und „Kultur/Wissenschaft“ werden in hohem
Maße von individuellen Akteuren getragen, die als Teil weder der „Masse“ noch
staatlicher oder organisierter Eliten in Erscheinung treten, sondern als private Körperschaften (Firmen) oder Personen. Dieser individualistische Akteurstrend läßt sich
nicht als Korrektiv der Elitenberichterstattung einstufen, denn Handlungsträger wie
Unternehmen, Wissenschaftler und Künstler sind als Funktions- oder Werteeliten
einzustufen. Anders als im Bereich „Soziales/Umwelt“ werden in der „Ökonomie“
eben nicht in kollektivierender Form vor allem Auswirkungen wirtschaftlicher Entwicklungen auf die „Masse“ analysiert, sondern im Vordergrund stehen betriebswirtschaftliche Perspektiven. Kultur wird weniger als Volkskultur verstanden denn als
von Werte- und Funktionseliten getragene Hochkultur.
Keine der ermittelten Tendenzen sind unveränderlich. Sie reflektieren vielmehr
das im zeithistorischen Kontext ermittelte Verständnis der Medien hinsichtlich der
Bedeutung bestimmter Akteure in den jeweiligen Sachgebieten. Zwar ist zu bezweifeln, daß sich die politische Berichterstattung unter Umgehung der politischen Eliten
darstellen läßt; gleichwohl ist die Sozial- und Umweltberichterstattung individualisierbar (etwa durch Darstellung individueller Sozialschicksale), und umgekehrt ist
die Wirtschaftsberichterstattung kollektivierbar, etwa durch eine stärkere Fokussierung auf volkswirtschaftliche Analysen. Auf der Basis der derzeitigen Verteilung von
Handlungsträgern auf die unterschiedlichen Sachgebiete ist die zugrundeliegende
Hypothese allerdings dahingehend zu beantworten, daß vorwiegend eine Veränderung der politikzentrierten Ausrichtung in Richtung auf die Sozial- und Umweltberichterstattung dem elitären Gepräge der Pressedarstellungen entgegensteuern könn108
te. Damit ist grundsätzlich bewiesen, daß ein synergetisches Veränderungspotential
im Bereich der Auslandsberichterstattung existiert, wobei spezifische Veränderungen
der Ressortstatik in Richtung einer zunehmenden Sachgebietsvielfalt auch Veränderungen der Akteursstatik in Richtung Ent-Elitarisierung bewirken können.
5.2.1.6 Thematisierung und Handlungsträger
Journalistische Themen lassen sich als Grundeinheiten der Berichterstattung über
sinnhaft verbundene Handlungskomplexe beschreiben, bei denen eine Reihe von
Akteuren bestimmte Handlungsabläufe steuert (resp. von ihnen gesteuert wird). So
ist beispielsweise bei zwischenstaatlichen Konflikten im Rahmen der deutschorientalischen Beziehungen die Involvierung offizieller Staatsvertreter zu erwarten.
Im Rahmen eines wahrnehmungstheoretischen Grundkonzepts jedoch, das von der
„Konstruktion“ von Auslandsbildern im Prozeß der Auslandsberichterstattung ausgeht (Kap. 3.1.1), ist festzustellen, daß Journalisten − gerade im Kontext komplexer
Themen wie der hier untersuchten (Nahostkonflikt, Islam usw.) − nicht einfach festgefügte und „reale“ Akteurskonstellationen abbilden, sondern durch die Repräsentation bzw. Nicht-Repräsentation einzelner Akteure die Komposition der Handlungsträger in der Auslandsberichterstattung festlegen. Da mit den Akteuren Interessen,
Intentionen, Handlungen und interpretierte oder geäußerte Handlungsabsichten verbunden sind, stellt die Entscheidung über die Handlungsträger zugleich einen inhaltlich wirksamen, die Themengestaltung beeinflussenden Prozeß dar. Welche grundlegenden Entscheidungsprozesse erkennbar sind, soll im folgenden anhand einiger
Themenbeispiele erörtert werden.
Da im vorstehenden Kapitel dargestellt worden ist, daß unterschiedliche Sachgebiete mit sehr verschiedenen Akteurszusammensetzungen einhergehen und um die
kombinierte Inhaltsanalyse der Handlungsträger weiterführend zu differenzieren,
beschränkt sich die folgende Analyse auf Themen, die weitgehend einem Sachgebiet
− dem dominierenden Politikressort − zugeordnet werden können. Neben dem Nahostkonflikt werden als Großkonflikte die Suezkrise, der Algerienkrieg, der Iran-IrakKrieg (auch „erster Golfkrieg“ genannt) und die Golfkrise/der Golfkrieg von
1990/91 (zweiter Golfkrieg) ausgewählt. Hinzu kommt der Themenbereich „Islam“.
Lediglich das Thema „Erdöl“ und zum kleineren Teil auch die „deutsch-orientalischen Beziehungen“ sind dem Wirtschaftsressort zuzuordnen.
Die Tabellen A 5.24-A 5.27 erlauben eine Übersicht über die Verteilung der
Handlungsträger. Das Thema „Nahostkonflikt“ weist eine konventionelle, d.h. weitgehend mit den Durchschnittswerten aus Kapitel 5.1.6 in Übereinstimmung befindliche Handlungsträgerverteilung auf. Abweichungen lassen sich bei den Tageszeitungen im Bereich der offiziellen Staatsvertreter aus Nordafrika und Nah- und Mittelost
erkennen, die 10 Prozent und mehr über dem Durchschnittswert der Wochenmedien
liegen, während beim stern gesellschaftliche Organisationen aus Nordafrika und
Nah- und Mittelost um etwa 10 Prozent höher bewertet werden als bei den Tageszeitungen. Der Spiegel nimmt eine mittlere Position mit jeweils um etwa 5 Prozent
109
höheren Werten für die Staatsvertreter und die Organisationen ein. Bei einer genaueren Aufschlüsselung wird erkennbar, daß von der tendenziell höheren Beachtung der
Organisationen gegenüber dem Staat bei den Wochenzeitungen insbesondere die
PLO (in geringerem Maß gefolgt von der islamisch-fundamentalistischen Hamas
(Harakat al-muqawama al-islamiyya/Islamische Widerstandsbewegung) oder jüdischen Organisationen wie der Kach-Bewegung profitiert hat. Der Spiegel war es
beispielsweise, der den Aufstieg der PLO zur international beachteten und anerkannten Vertretung der Palästinenser nach der Niederlage der arabischen Staaten im
„Sechstagekrieg“ von 1967 wiederholt durch eigene Berichte über die Befreiungsorganisation (seit den frühen siebziger Jahren oft als „Terrororganisation“ bezeichnet)
begleitete. Bei den Tageszeitungen machen sich hingegen die enge Bindung der
Berichterstattung an das politische Tagesgeschehen und die starke Präsenz des Staates in Routinehandlungen der internationalen Politik bemerkbar.
Ein weiteres Charakteristikum der Akteursverteilung bei der Konfliktberichterstattung betrifft die im historischen Verlauf markant veränderte Gewichtung westlicher und regionaler Staatsvertreter. Sowohl die Suezkrise von 1956 als auch der
Algerienkrieg (1958-64), zwei der klassischen Beispiele für post-/neokoloniale Gewaltkonflikte zwischen den ehemaligen europäischen Kolonialstaaten und den Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens nach dem Zweiten Weltkrieg, zeigen in
eklatanter Weise die Positionsvorteile der westlichen Handlungsträger − des britischen oder französischen Staates − gegenüber deren regionalen Opponenten − dem
ägyptischen Staat oder dem algerischen Widerstand − in der untersuchten deutschen
Presse. Mit Ausnahme der Behandlung der Suezkrise durch den Spiegel waren die
„offiziellen Staatsvertreter-West“ in der Berichterstattung über die Suezkrise und
den Algerienkrieg weitaus stärker vertreten als „Staatsvertreter-Nordafrika/Nah- und
Mittelost“ oder „gesellschaftliche Organisationen-Nordafrika/Nah- und Mittelost“.
Im Fall der Suezkrise, die vor allem mit den Namen des ägyptischen Präsidenten
Gamal Abd al-Nasser und dem britischen Premierminister Anthony Eden verbunden
ist, waren die westlichen Staatsvertreter bei der Süddeutschen Zeitung, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und dem stern etwa in einem Verhältnis von 2:1 repräsentiert, während die durchschnittliche Verteilung in der Nahostberichterstattung sich
üblicherweise auf etwa 1:2 beläuft und damit eine Dominanz regionaler Staatsvertreter ausweist (Kap. 5.1.6). Die Algerienkrise weist nicht zuletzt deswegen besonders
niedrige Werte für die regionalen Staatsvertreter auf, da auf Grund der Anbindung
Algeriens an das „Mutterland“ Frankreich hier keine mit der ägyptischen Regierung
vergleichbare Landesregierung existierte − bei den registrierten Staatsvertretern aus
Nordafrika und Nah- und Mittelost handelt es sich daher um benachbarte Regierungen wie die des Tunesiers Habib Bourgiba. Eine ausgewogene Berichterstattung
hätte es gleichwohl erforderlich gemacht, daß die „gesellschaftlichen Organisationen
Nordafrika/Nah- und Mittelost“ als Opponenten der westlichen Staaten aufgewertet
worden wären. Dennoch waren westliche Staatsvertreter bis zu einem Verhältnis von
etwa 4:1 (F.A.Z.; Spiegel) repräsentiert. Die Daten weisen insgesamt aus, daß zwei
der klassischen postkolonialen Gewaltkonflikte in der deutschen Presse überwiegend
aus der Perspektive westlicher Handlungen und Politikkonzepte dargestellt wurden,
110
während die ehemals kolonialen Staaten in den deutschen Medien nur sehr begrenzt
als eigenständig handelnde Subjekte, geschweige denn als sogenannte „Gesprächspartner“ des Journalismus in Erscheinung traten. Dies ist ein quantitativer Beleg für
die von Boukhari Hammana geäußerte Ansicht, die westdeutsche Presse habe der
algerischen Position während des Bürgerkrieges weitgehend indifferent gegenübergestand und sei von „kolonialistischer Propaganda“ Frankreichs eingenommen worden.195 Bestätigt wird auch die theoretische Annahme der hochgradigen Transparenz
des Nachrichtensystems für staatliche Öffentlichkeitsarbeit und Propaganda (Kap.
3.2.3.2).
Die Berichterstattung über einen internationalen Konflikt der neunziger Jahre,
den Golfkrieg von 1991, weist allerdings auch aus, daß Repräsentationsnachteile des
nordafrikanischen oder nah- und mittelöstlichen Staates in den deutschen Printmedien in den letzten Jahrzehnten zumindest teilweise nivelliert und sein Zugang zur
Presse erheblich verbessert worden ist. Die prozentualen Anteile der regionalen und
westlichen Staatsvertreter erweisen sich im zweiten Golfkrieg als gegenüber dem
historischen Modell durchweg verbessert. Folgendes Diagramm (Abb. 5.14) zeigt
die Proportionen aus der Sicht des regionalen Staates:
Das Diagramm weist aus, daß der regionale Staat bei allen Tages- und Wochenmedien im Fall des zweiten Golfkrieges stärker vertreten war als während der Suezkrise.
In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und im Spiegel verfügten die regionalen
195 Hammana, L’opinion publique, S. 17 f.
111
Staatsvertreter sogar mit 2,0 bzw. 5,4 Prozent über einen Repräsentanzvorsprung
gegenüber den westlichen Staatsvertretern; in der Süddeutschen Zeitung und im stern
sank der Rückstand zumindest auf 5,9 bzw. 9,1 Prozent. Gefolgert werden muß, daß
im Gegensatz zu den historischen Vorbildern Handlungen und Argumente von nahöstlichen Staaten, die an einem Konflikt mit starker westlicher Involvierung beteiligt
sind, in quantitativer Hinsicht einen stärkeren Zugang zu den Medien finden als in
früheren Jahrzehnten. Zwar ist die quantitative Medienanalyse kein Ausweis für die
Qualität der Charakterisierung der Akteure und ihrer Handlungsweisen, die sich
durch qualitative Analyse bestimmen läßt, aber es kann angenommen werden, daß
das Nachrichtensystem in den neunziger Jahren transparenter für irakische Staatspropaganda geworden ist. Zumindest ist es damit zu einer quantitativen Steigerung
der Informationen über alle involvieren Konfliktparteien gekommen, was im Sinne
der „Vermittlerrolle“ (Kap. 3.2.4.4.2) der Auslandsberichterstattung positiv zu bewerten wäre (auch wenn eine qualitative Einordnung und Kritik staatlichen Handelns
hinzukommen müßte, deren Realisierung auf der Basis quantitativer Ergebnisse nicht
beurteilt werden kann). Zusammenfassend läßt sich sagen: Die Stellung des orientalischen Staates in der deutschen Presseberichterstattung hat sich gegenüber einem Teil
seiner eigenen organisierten Gesellschaftskräfte in den letzten Jahrzehnten verschlechtert (Kap. 5.1.6 und Kap. 5.2.2.5), gegenüber dem westlichen Staat hat sich
diese Stellung gleichwohl verbessert.
Im Vergleich des Iran-Irak-Krieges mit dem zweiten Golfkrieg wird deutlich, daß
es sich bei ersterem Konflikt primär um einen Regionalkonflikt mit geringer westlicher Involvierung gehandelt hat. Repräsentanten der Kategorie „offizielle Staatsvertreter Nordafrika/Nah- und Mittelost“ dominieren gegenüber westlichen Staaten im
Verhältnis von etwa 3:1 bis 10:1 (Frankfurter Allgemeine Zeitung). Im Vergleich der
beiden Golfkriege wird ersichtlich, daß sich in den neunziger Jahren die Dimension
von Gewaltkonflikten − lokal, regional, international − in einer adäquaten Repräsentanz des regionalen Staates widerspiegelt. Dies gilt jedoch nicht in gleicher Weise
für den ehemals östlich-realsozialistischen Staat oder für andere Staaten Asiens,
Afrikas und Lateinamerikas. Alle vier Medien lassen erkennen, daß im Iran-IrakKrieg östliche Staatsvertreter weitaus weniger beachtet worden sind als westliche
und daß Staaten der „Dritten Welt“, die nicht unmittelbar Kriegsparteien waren (in
der Kategorie „sonstige Staatsvertreter“), nahezu überhaupt nicht als Akteure des
Konfliktgeschehens vertreten sind. Dies steht im Widerspruch zu der Tatsache, daß
gerade die UdSSR und auch andere Mitglieder des Warschauer Paktes diplomatisch
und durch Waffenlieferungen in hohem Maße in den Iran-Irak-Krieg involviert waren,196 ebenso wie andere Entwicklungsstaaten, etwa die arabischen Golfstaaten oder
China, in den historisch längsten und verlustreichsten Krieg zwischen zwei Entwicklungsländern involviert waren. Diese partielle oder völlige Ausblendung der SüdOst- bzw. Süd-Süd-Beziehungen belegt exemplarisch die bereits in Kapitel 5.1.6
beobachtete Zentrierung der Informationsströme auf nordafrikanisches und nah- und
mittelöstliches Geschehen, die Konzentration auf die Beziehungen zum Westen und
196 Vgl. die Diskussion in Hafez, Orientwissenschaft in der DDR, S. 359-361.
112
den Verlust an bedeutsamem globalem Orientierungswissen über die Beziehungen
der Regionalstaaten zu „dritten“ Partnern in Asien, Afrika und Lateinamerika.
Während bei den Gewaltkonflikten vor allem die Darstellung von offiziellen
Staatsvertretern im Nord-Süd- bzw. Süd-Süd-Gefüge signifikant ist, ist bei den übrigen Themen „Islam“, „Erdöl“ und „deutsch-orientalische Beziehungen“ insbesondere das Verhältnis Staat-Gesellschaft von Interesse. Im direkten Vergleich zeigt sich
bei allen Medien, daß „Islam“ die mit Abstand höchsten Prozentwerte sowohl für die
Repräsentanz regionaler gesellschaftlicher Organisationen als auch regionaler nichtorganisierter Gruppen aufweist. Das Thema „Islam“ wird also − ungeachtet seiner
stark negativen Prägung (Kap. 5.2.1.2) − als das Thema mit dem höchsten sozialen
Mobilisierungsgrad empfunden.197
Im Gegensatz dazu bestätigt das Thema „Erdöl“, daß in der Wirtschaftsberichterstattung weniger volkswirtschaftliche Dimensionen als Handlungsweisen individueller Akteure des Staates oder der Privatwirtschaft reflektiert werden (als Teil der
Kategorie „andere Handlungsträger“). Die durchgehend bei allen Medien vorhandenen hohen Werte in der Rubrik für „regionale Organisationen“ bestätigen die bedeutsame Rolle der OPEC als Organ der staatlichen Sphäre (Kap. 5.2.1.5). Die Berichterstattung über deutsch-orientalische Beziehungen wird von den Beziehungen zwischen orientalischem und westlichem Staat dominiert, während gesellschaftliche
Organisationen wenig repräsentiert sind. Der staatlich-bilaterale Akzent der Berichterstattung ist eine Folge des in Kapitel 5.1.3 geschilderten Verständnisses der
deutsch-orientalischen Beziehungen als politische hard news. Diese Bindung des
Themas an das politische Ressort auf Kosten einer stärkeren Akzentuierung kultureller, wissenschaftlicher und anderer Beziehungsaspekte ist vor allem dafür verantwortlich, daß die deutsch-orientalischen Beziehungen in der Presse überwiegend auf
die Ebene der Staatenbeziehungen auf Kosten einer Darstellung der vorhandenen
Gesellschafts-Gesellschafts-Beziehungen beschränkt bleiben.
Im Hinblick auf die Beziehung Staat und Gesellschaft ist festzustellen, daß unter
den ausgewählten Themen „Islam“ bei allen Zeitungen den höchsten prozentualen
Anteil an nichtorganisierten Gruppen-Nordafrika/Nah- und Mittelost aufweist und
damit den Massenaspekt politischer Handlungen deutlicher als andere Themen verkörpert. „Erdöl“ und „deutsch-orientalische Beziehungen“ sind im Vergleich hierzu
deutlich elitengeprägte Themenstellungen. Damit erweist sich das Thema „Islam“, in
Übereinstimmung mit der in der Regel starken Betonung der sozialen Gerechtigkeitsfragen in fundamentalistischen Bewegungen, quasi als Pendant zum Sachgebiet „Soziales/Umwelt“ (Kap. 5.2.1.5). Während also in der deutschen Presseberichterstattung der orientalische Staat im Laufe der Jahrzehnte Repräsentanzzugewinne gegenüber dem westlichen Staat und ein Teil der orientalischen Organisationen Repräsentanzgewinne gegenüber dem orientalischen Staat erzielen konnte (s.o.), ist eine stärkere Beachtung nicht-elitärer Akteure vor allem in einem begrenzten Themensegment („Islam“) zu erkennen.
197 Zur Repräsentanz islamischer Organisationen vgl. Kap. 5.2.2.5.
113
5.2.2 Länderprofile
Die Beiträge der untersuchten Stichprobe zur Berichterstattung der vier deutschen
Pressemedien über Nordafrika und den Nahen und Mittleren Osten enthalten in der
Regel konkrete Ereignisorte und Länderbezüge, während übergreifende Beiträge
− z.B. über „die islamische Welt“, „die arabische Welt“ − die Ausnahme darstellen.
Dies bedeutet, daß die staatliche Einteilung der Region zugleich eine ordnende
Funktion für die Medienberichterstattung besitzt und daß die systematischen Aspekte
des Auslandsbildes in der Regel georäumlich (genauer: staatsrechtlich) verortet werden. Die durch einfache wie kombinierte Analysen ermittelten Strukturmerkmale des
medialen Auslandsbildes entfalten sich im Rahmen einer spezifischen Nachrichtengeographie. Ermittelt wird damit die Struktur von Länderbildern in der Berichterstattung über Nordafrika und den Nahen und Mittleren Osten, also eine spezifische
Form des Auslandsbildes, die im Unterschied zu den häufig untersuchten Länderund Nationenstereotypen nicht auf die selektive Erörterung von Regelphänomenen
des breiten Nachrichtenstroms, sondern auf die Entwicklung von Parametern zur
Beschreibung des Nachrichtenstroms selbst abzielt (vgl. Kap. 3.1.2). Die Kernfrage
lautet nicht, wie oft oder in welchem Zusammenhang bestimmte (stereotype, feindbildartige usw.) Bildstrukturen in Zusammenhang mit Völkern, Nationen und Ländern gebracht werden (z.B. Saudi-Arabien und die „Ölscheichs“), sondern welche
informationellen Voraussetzungen zur Konstruktion solcher Bildformen existieren
(z.B. Anteil der Erdölberichterstattung über die Arabische Halbinsel).
Eine methodische Vorbemerkung: rechnerische Grundlage der Länderuntersuchungen sind mit Ausnahme des Kapitels 5.2.2.5198 die kodierten maximal fünf Ländernennungen pro Artikel, nicht jedoch die Artikelzahl GS2 selbst. Untersucht wird,
wie viele Ländernennungen auf ein Sachgebiet oder Thema entfallen, wie häufig ein
Land in Artikeln mit „positiver“, „neutraler“ usw. Ereignisvalenz genannt wird und
welche Informationsquellen den die Ländernennungen enthaltenden Artikeln
zugrunde liegen. Da für die bisherigen Analysen, außer für Kapitel 5.1.5, die Artikelzahl, nicht aber die Ländernennungen die rechnerische Grundlage gebildet haben,
verändern sich nachfolgend die absoluten Zahlenwerte, da die einem Artikel anhaftenden Kriterien um den Faktor der in diesem Artikel erwähnten Länder multipliziert
werden.199
5.2.2.1 Länder und Sachgebiete
Ziel der Länder-Sachgebiets-Analyse ist es, die inhaltliche Grundorientierung der
Länderbilder zu untersuchen. Findet eine Kanalisation des Informationsstroms in
Richtung auf Fragen des politischen Systems und der Machtverteilung, wie sie im
allgemeinen in der Berichterstattung über Nordafrika und den Nahen und Mittleren
198 Vgl. die methodischen Bemerkungen im Kap. 5.2.2.5 selbst.
199 Beispielsweise entfallen 7928 Ländernennungen (Tab. A 5.28) auf die 4284 Artikel (Tab. A 5.6)
des Politikressorts der Süddeutschen Zeitung.
114
Osten ermittelt worden sind, bei allen Ländern gleichförmig statt, oder nehmen ökonomische oder andere Fragen bei einzelnen Ländern einen höheren Stellenwert ein
als bei anderen ein?
Die Daten (Tab. A 5.28-A 5.31) lassen erkennen, daß auf Grund der Dominanz
des Sachgebiets „Politik“ die Häufigkeitsverteilung der Ländernennungen in diesem
Sachgebiet weitgehend mit der Rangfolge der Länderbeachtung der Gesamtanalyse
übereinstimmt (Kap. 5.1.5). Spitzenwerte mit über 10 Prozent erzielen bei allen vier
Medien lediglich die meistbeachteten Länder Israel-Palästina und Ägypten (beim
stern auch Iran). Es folgt eine Gruppe von Staaten mit zwischen 5 und 10 Prozent
Anteil an der politischen Berichterstattung, die vor allem aus Irak, Iran, Libanon,
Syrien, bei einigen Medien auch Algerien, der Türkei200 oder Jordanien besteht. Auf
alle anderen Staaten entfallen weniger als 5 Prozent der Ländernennungen im Politikressort, was unter anderem bei den meisten Medien auf ECO-Staaten wie die Türkei, Pakistan oder auf die Staaten der Arabischen Halbinsel zutrifft. Staaten wie
Israel (Kernstaat) und Saudi-Arabien gehören zu den großen „Verlierern“ der Sachgebietsdifferenzierung im Bereich „Politik“, denn während sie insgesamt leicht überdurchschnittliche Beachtung in den Untersuchungsmedien finden (Kap. 5.1.5), ist die
politische Sphäre von relativ geringem Interesse. Im Fall Israels wird dies zum einen
durch die Kategorie „Israel-Palästina“ und zum anderen durch relativ hohe Werte in
allen anderen Sachgebieten kompensiert, was bedeutet: israelische Politik ist in den
Medien vor allem in bezug auf den Nahostkonflikt von Interesse während gegenüber
dem israelischen Kernstaat ein Medieninteresse zu erkennen ist, in dem die allgemeine Dominanz der politischen Nahostberichterstattung durch ein breites Interesse
an anderen Lebensbereichen der israelischen Gesellschaft gemindert wird. Israel tritt
mit überdurchschnittlicher Häufigkeit201 in den Artikeln der meisten Sachgebiete in
Erscheinung,202 wie dies in ähnlicher Weise allein bei Ägypten und Iran der Fall ist.
Ein Land wie Saudi-Arabien kompensiert niedrige Politikwerte, also ein relativ geringes Interesse an seiner Politik, vor allem mit einer besonders hohen Aufmerksamkeit für seinen ökonomischen Sektor, während es in anderen Zusammenhängen wenig Erwähnung findet.
Im Sachgebiet „Ökonomie“ ist zu erkennen, daß Länder wie Saudi-Arabien und
Kuwait, deren Politik relativ wenig Beachtung findet, in der Länderreihenfolge der
Wirtschaftsberichterstattung weit höher angesiedelt sind. Saudi-Arabien ist in der
Frankfurter Allgemeinen Zeitung (15,5%) sogar das Land mit den meisten und im
Spiegel (15,9%) mit den zweitmeisten Erwähnungen (hinter Iran). Während Iran,
Irak, überwiegend auch Ägypten und zum geringeren Teil die Türkei und Algerien
sich als Länder erweisen, bei denen politische und ökonomische Beachtung durch
200 Interessant ist hier: Die Türkei erfährt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung etwa doppelt soviel
Beachtung wie in der Süddeutschen Zeitung (F.A.Z. 7,1%; SZ 3,7%), wobei allerdings die Süddeutsche Zeitung in den neunziger Jahren einen Korrespondenten nach Istanbul entsandt hat, was zu einer Gewichtsverlagerung geführt haben kann.
201 Der rechnerische Durchschnitt bei 26 Ländern liegt bei 3,9 Prozent.
202 Ausnahmen sind: Politik: Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Allgemeine Zeitung und stern; Ökonomie: stern und Der Spiegel; Religion: stern; Tourismus: Frankfurter Allgemeine Zeitung.
115
die Presse in etwa synchron hohe Werte ausweisen, überragt die Wirtschaftsberichterstattung über Saudi-Arabien und Kuwait, in manchen Fällen auch über Libyen
(F.A.Z. 5,3%; Spiegel 7,6%) und Tunesien (SZ 5,3%) die politische Berichterstattung um ein Vielfaches. Gerade die exponierte Stellung Saudi-Arabiens und Kuwaits
weist darauf hin, daß die Presse weniger an ökonomischen Prozessen an sich interessiert ist, die ja in allen Staaten gleichermaßen beobachtet werden könnten, sondern
daß eine Tendenz der Wirtschaftsberichterstattung zur Konzentration auf weltwirtschaftlich relevante, d.h. vor allem auf für Deutschland und den Westen bedeutsame
regionale und lokale Wirtschaftsentwicklungen, zum Tragen kommt.
Konterkariert diese Feststellung die obige These, daß die ökonomische Zentralität den Nachrichtenwert eines Landes nicht − wie Rosengren behauptet hat − determiniert (Kap. 5.1.5)? Folgende Argumente sind abzuwägen:
• Die These, daß der Nachrichtenwert eines Landes nicht von der ökonomischen
Zentralität dieses Landes im Weltwirtschaftssystem bestimmt wird, ist nach wie
vor gültig, denn die ökonomische Zentralität beispielsweise der erdölproduzierenden Staaten der Arabischen Halbinsel hat nicht verhindern können, daß über
weitaus weniger ökonomisch bedeutsame Staaten (wie Israel-Palästina) insgesamt
weitaus häufiger berichtet worden ist. Es besteht kein Zusammenhang zwischen
ökonomischer Zentralität eines Landes und einem steigenden Interesse an dem
Land als solches (Politik, Kultur usw.). Nicht ökonomische Zentralität, sondern
vielmehr Faktoren wie das Vorhandensein internationaler Konflikte und „kultureller Nähe“ erweisen sich als bestimmend für die Beachtung eines Landes in der
untersuchten deutschen Presse.
• Ökonomische Zentralität bzw. Dezentralität stärkt bzw. schwächt die mediale
Beachtung eines Landes weitaus weniger als politische und kulturelle Faktoren,
aber sie stärkt oder schwächt die Beachtung des ökonomischen Sektors des jeweiligen Landes und kann über den Umweg dieses Minderheitsressorts zumindest einen begrenzten medialen Aufmerksamkeitszuwachs erzielen. Ein ökonomisch zentraler Staat kann also nicht damit rechnen, größere Beachtung im ausschlaggebenden Politikressort zu erzielen, wenn er nicht zugleich politisch und
kulturell von Interesse ist, er ist jedoch einem ökonomisch orientierten Blickwinkel unterworfen und wird verstärkt zum Gegenstand der Wirtschaftsberichterstattung. Beachtung findet er vor allem in den Wirtschaftsressorts der allgemeinen
Presse, die wie in Kapitel 5.2.1.5 festgestellt − sich weniger mit volkswirtschaftlichen und sozio-ökonomischen Zusammenhängen als mit den Implikationen für
die deutsche/westliche Wirtschaft beschäftigen.
Wägt man beide Argumentationen gegeneinander ab, so ist über den Zusammenhang
von ökonomischer Zentralität und medialer Aufmerksamkeit in den untersuchten
Medien folgende Aussage zu treffen: Ein Zusammenhang zwischen ökonomischer
Zentralität und dem Nachrichtenwert eines Landes existiert nur insofern, als sich ein
sektoral begrenztes steigendes Interesse an der Wirtschaftsentwicklung dieses Landes − insbesondere für die aus deutscher oder industriestaatlicher Sicht interessanten
Aspekte (s.u. und Kap. 5.2.1.5) − erkennen läßt, das keine Rückwirkungen auf ande116
re Lebensbereiche hat und sich in der allgemeinen Presse auf Grund der Minderheitenstellung der Wirtschaftsberichterstattung und des geringen Berichterstattungsumfangs als schwacher Faktor zur Aufmerksamkeitssteigerung erweist. Die These deckt
sich völlig mit Elmar Unlands Feststellung in bezug auf die Dritte-WeltBerichterstattung der Frankfurter Rundschau: „Wirtschaftlicher Status beeinflußt
kaum (die) Länderhäufigkeit.“203
In Hinblick auf die Nachrichtengeographie der untersuchten Presse läßt sich in
den Tabellen A 5.28-A 5.31 ein sektoral-fragmentarischer Blickwinkel auf die Länder der Regionen Nordafrika und Nah- und Mittelost erkennen. Das politische
Hauptaugenmerk liegt in der Reihenfolge auf Israel/Palästina, Ägypten, Iran, Irak
sowie Libanon und Syrien und läßt sich über den gesamten Untersuchungszeitraum
1955-94 betrachtet mit der Formel „Mashreq plus Iran“ beschreiben. Weder die
ECO-Staaten noch der Maghreb oder Mittlere Osten außer Iran, also etwa Pakistan
und Afghanistan, befinden sich im Zentrum des politischen Interesses, was sich wegen des großen Anteils der politischen Berichterstattung am Gesamt der Berichterstattung bereits bei der kumulierten Länderanalyse (Kap. 5.1.5) angedeutet hat. Die
Beachtung der ökonomischen Sektoren der Länder zeigt, daß sich auf diesem Gebiet
der Medienblickwinkel teilweise von Mashreq/Iran auf die Arabische Halbinsel
verlagert, die in politischer Hinsicht keine Priorität besitzt. Die ökonomische Aufmerksamkeit entfällt in der Reihenfolge auf Iran, Saudi-Arabien, Ägypten, Irak und
Kuwait. Erneut wird der Maghreb ausgespart, und auch die Mashreq-Staaten IsraelPalästina, Syrien und Libanon verlieren ihre Führungspositionen, da ihre ökonomische Dezentralität zwar nicht der Beachtung ihres politischen oder anderer Sektoren,
jedoch der Beachtung ihres ökonomischen Sektors schadet. Im Vergleich der politischen mit der ökonomischen Nachrichtengeographie wird erkennbar, daß ungeachtet
der Überschneidungen unter den genannten führenden fünf bis sechs Staaten (Ägypten, Iran, Irak) auch Sphären existieren, in denen tendenziell entweder die Politik
(Israel-Palästina, Syrien, Libanon) oder die Ökonomie (Saudi-Arabien, Kuwait) von
den Medien beachtet wird, was zu einem analytischen Mangel im Bereich der politischen Ökonomie führen kann. So können beispielsweise in Beiträgen über den Nahostkonflikt, deren primäres Hauptaugenmerk politischen Handlungen (z.B. diplomatischen Gesprächen) gilt, zwar ökonomische Erwägungen eingehen, die in der vorliegenden Untersuchung nicht mitkodiert worden sind. Der Anteil der sich spezifisch
mit ökonomischen Belangen beschäftigenden Artikel über Israel-Palästina ist jedoch
weitaus geringer als der Anteil spezieller Politikberichte. Umgekehrt ist, gemessen
an der hohen ökonomischen Beachtung Saudi-Arabiens und Kuwaits, ein relativ
geringer Nachrichtenstand über politische Abläufe in diesen Ländern zu konzedieren. Während die Medienberichterstattung insgesamt kaum von deutschen wirtschaftlichen Interessen getragen ist, steht die Beachtung der ökonomischen Sektoren
der Länder in Übereinstimmung mit deutschen und industriestaatlichen Wirtschaftsinteressen (vgl. Kap. 5.2.1.5).
203 Unland, Die Dritte-Welt-Berichterstattung, S. 117 ff.
117
Die Daten der Länder-Sachgebiets-Analyse weisen aus, daß verschiedene Länder mit
einer relativ starken Beachtung sozialer und Umweltfragen rechnen können, insbesondere Israel (Kernstaat) sowie Israel-Palästina (alle Medien), Türkei (alle Medien),
Ägypten (Spiegel; SZ), Kuwait (F.A.Z.), Iran (Spiegel; stern), Irak (F.A.Z.) und
Libanon (SZ). Von besonderem Interesse ist die soziale Entwicklung Israels, wobei
eine Aufschlüsselung der Daten zeigt, daß hier beispielsweise die Situation jüdischer
Einwanderer und die soziale Differenzierung zwischen orientalischen und europäischen Juden von Interesse sind. Ein erkennbarer Topos in der deutschen Presse sind
auch die soziale Situation der Palästinenser, Arbeitslosigkeit im Gaza-Streifen und in
der Westbank oder die Lage der Flüchtlinge in der arabischen Welt. Sozial- und
Umweltanalysen über die Türkei konzentrieren sich auf Naturkatastrophen oder auf
soziale Rückwirkungen der deutsch-türkischen Migration auf Türken und die Türkei
(z.B. Rivalität türkischer Gruppen in Deutschland). Kuwait hat ausschließlich durch
die Umwelt- und Ölkatastrophe des zweiten Golfkriegs von 1991 Aufmerksamkeit
erregt. Deutlich wird insgesamt, daß ein medienübergreifendes und zeitlich kontinuierliches Interesse an Umweltberichterstattung für kein Land in der untersuchten
Presse vorhanden ist, und daß ein entsprechendes Interesse an sozialen Fragen sich
in vielen Fällen auf deutsche Sonderverhältnisse – also die Beziehung Deutschlands
zu Juden/Israelis, und infolge auch zu den Palästinensern, oder die Beziehung
Deutschlands zu den Türken in Deutschland und zur Türkei − stützt. Es zeigt sich
aber auch, daß hier kleinere Themennischen der Korrespondenten in Jerusalem und
Istanbul existieren (vgl. Kap. 5.2.1.3). Darüber hinaus scheinen die Daten einige
individuelle Länderschwerpunkte auszuweisen (z.B. Spiegel, SZ: Ägypten; F.A.Z.:
Pakistan); Fallzahlen und Unterschiede in den Zahlen- und Prozentwerten sind jedoch zu gering, um signifikante Aussagen hierüber zuzulassen.
Im Bereich der „Religion“ − im engeren Sinn der Theologie und des religiösen
Kultus und in Abgrenzung zur politisierten Religion − kommt Israel (Kernstaat) und
Israel-Palästina mit prozentualen Anteilen von zusammen zwischen etwa 40 und 80
Prozent am Gesamt der Religionsberichterstattung eine herausragende Stellung zu.
Es handelt sich überwiegend um Berichte des christlichen Weihnachts- oder anderer
Feste in Bethlehem, Jerusalem und anderen biblischen Stätten, zu einem weitaus
geringeren Teil um jüdische oder muslimische Feierlichkeiten. Erkennbar ist damit,
daß ein erheblicher Teil der Berichte unter der Rubrik „Abendländisches Christentum im Vorderen Orient“ zu verbuchen ist, was angesichts der Tatsache, daß das
Sachgebiet „Religion“ das kleinste aller Sachgebiete ist, bedeutet, daß für theologisch-kultische Aspekte von Islam und Judentum nur ein verschwindend geringer
Medienanteil bleibt (auf Saudi-Arabien als Land der islamischen Pilgerfahrt entfallen
im Durchschnitt 0,9 Prozent der Religionsberichte). Ungeachtet des seit 1978/79
gewachsenen Interesses insbesondere am politischen Islam (Kap. 5.1.3), aber auch
am politisierten Judentum,204 erweist sich, daß die im engeren Sinn religiösen Aspek-
204 Zur Berichterstattung über die Kach-Bewegung vgl. Kap. 5.2.2.5.
118
te der monotheistischen „Schwesterreligionen“ des Christentums nahezu nicht vermittelt werden.205
Im Sachgebiet „Kultur“ liegt das Hauptaugenmerk der untersuchten Zeitungen
auf Israel-Palästina, Ägypten, Iran, Türkei (jeweils alle Medien) und auf dem Kernstaat Israel (SZ, Spiegel).206 Dieses Ergebnis stimmt mit dem Befund überein, daß in
den meisten Zeitungen (außer der Süddeutschen Zeitung) ein konservativabendländisches Interesse an der Kultur des Vorderen Orients und Nordafrika dominiert (Kap. 5.1.2). Da die genannten Länder alle in der einen oder anderen Hinsicht
historische Zentren (Irak/Syrien: Zweistromkultur; Türkei: griechische Antike; Israel
und Palästina: biblische Geschichte; Iran: Persertum; Ägypten: pharaonische Geschichte) waren, ist die Konzentration der Kulturberichterstattung auf diese Länder
erklärbar. Als Parameter der Kulturberichterstattung gelten a) die Rückorientierung
von der Gegenwarts- auf die Altkultur und b) die Konzentration auf der europäischabendländischen Kultur (vermeintlich) „nahestehende“ (Nachrichtenfaktor „kulturelle Nähe“) historische Räume wie Israel/Palästina. Was letzteren Punkt betrifft, so ist
auffällig, daß unter dem Gesichtspunkt eines autochthon orientalischen (im Gegensatz zum abendländischen) altgeschichtlichen Interesses auch Länder wie Jordanien,
Libanon oder Zypern eine größere kulturelle Beachtung finden müßten als sie dies
tatsächlich tun. Gleiches gilt auch für Libyen und Tunesien, deren antike Kulturen
(etwa Karthago) über enge Bindungen zur mittelmeerisch-europäischen Geschichte
verfügen, deren Verhaftung in der afrikanischen Kultur jedoch zu einem aus europäisch-abendländischem Blickwinkel möglichen Desinteresse an dieser Geschichte
(Libyen: F.A.Z. 0%; Spiegel 0%; Tunesien: SZ 0%) beigetragen zu haben scheint.
Die Abbildung 5.15 weist aus, daß die Kehrseite des überwiegend auf bestimmte
aus abendländischer Kulturperspektive wichtige Länder ausgerichteten Kulturinteresses ein nahezu vollständiges Desinteresse an der Alt- wie der Gegenwartskultur in
zwei Dritteln der sechsundzwanzig Untersuchungsstaaten ist.207 Für die Aufmerksamkeitsverteilung auf die einzelnen Länder ist ein Vergleich der drei Sachgebiete
„Politik“, „Religion“ und „Kultur/Wissenschaft“ von besonderem Interesse, denn er
belegt, daß das politische Interesse der Presse weitaus breiter über die Länder Nordafrikas und des Nahen und Mittleren Ostens gestreut ist als das kulturelle oder gar
das religiöse Interesse. Die Säulenformation des Sachgebiets „Politik“ weist die
gleichmäßigste Streuung der prozentualen Anteile der Länder an der politischen
Berichterstattung auf. Trotz der Konzentration auf den Mashreq und Ägypten zeigt
sich ein gut gestreutes Mittelfeld (mit 14 Werten zwischen >2≤ 8%), während in den
205 Allerdings kommt Detlef Thofern zu dem abweichenden Ergebnis, daß das Judentum zumindest im
Spiegel häufiger als der Islam als religiös-kulturelles Thema behandelt wird. Thofern, Darstellungen
des Islams, S. 77.
206 Vgl. in Kap. 5.2.2.2 die Hinweise zur Kultur als Teilbereich der deutsch-israelischen Beziehungen.
207 Ausnahmen wie das relativ starke Interesse der Süddeutschen Zeitung an moderner Orientkultur
(Kap. 5.1.2) schlagen bei der Frage, auf welche Länder sich diese Aufmerksamkeit verteilt, nicht
korrigierend zu Buche, da auch die Münchener Zeitung ähnliche Länderschwerpunkte wie die anderen Medien (Ägypten, Türkei usw.) pflegt (vgl. Tab. A 5.29).
119
120
Sachgebieten „Kultur“, und noch stärker bei der Religion, viele „weiße Flecken“
(0%) oder Minimalbeachtungen (≤2%) erkennbar werden. Ihnen gegenüber steht
eine leicht größere Anzahl von Spitzenwerten (>10%). Daß in den Bereichen „Kultur“ und „Religion“ ein großer Teil der Länder kaum beachtet wird, ist keine Frage
des Berichterstattungsumfangs, der bei der Politik weit größer ist, sondern der relativen Verteilung medialer Aufmerksamkeit, wobei ein Bestreben nach Vermittlung
eines Minimums an politischem Orientierungswissen über möglichst viele Staaten
erkennbar wird, während im Fall von Kultur/Wissenschaft und Religion weniger der
Versuch der Bereitstellung von Grundwissen als vielmehr der Wille zur Spezialisierung sichtbar ist.
Das Sachgebiet „Unterhaltung“, das, wie gesehen, vor allem bis 1967 eine markante Größe in der Berichterstattung gewesen ist, nach dem arabisch-israelischen
Krieg und der sich durchsetzenden Solidarisierung mit Israel in weiten Teilen der
deutschen Öffentlichkeit jedoch nahezu gänzlich aus der Berichterstattung herausfiel
(Kap. 5.1.2), bestätigt die Konzentration auf diejenigen Staaten, deren Monarchen
wie Shah Mohammed Reza Pahlevi, König Faruk oder die Familie Agha Khan im
Unterhaltungsjournalismus große Beachtung fanden (Tab. A 5.28-A 5.31). Bei einem nicht-arabischen Land wie der Türkei ist die Unterhaltung als eine Komponente
der Berichterstattung auch nach 1967 stärker erhalten geblieben als im Fall der arabischen Staaten, da die Türkei nicht mit dem arabisch-israelischen Konflikt in Verbindung gebracht worden ist. Im Sachgebiet „Tourismus“ werden diejenigen Länder
stärker berücksichtigt, die wie Ägypten, Israel (Kernstaat) und Israel-Palästina, Marokko, Tunesien oder die Türkei wichtige deutsche oder europäische Reiseziele sind.
5.2.2.2 Länder und Thematisierung
Während Sachgebiete im Grunde aus primären und sekundären menschlichen
Grundbedürfnissen (Ökonomie als Mehrung und Verteilung materieller Güter usw.)
abgeleitet werden können, sind „Themen“ Bestandteile des menschlichen Diskurses
und der Kommunikation, in deren Zusammenhang Bedürfnisse, Interessen und Ereignisse interpretiert und dadurch Handlungen motiviert werden. In welchem Themenkontext Länder in der Presse Erwähnung finden, ist daher wichtig zur Bestimmung der Stellung eines Landes im zeitgenössischen Diskurs.
Die Übersicht über die Länder-Themen-Analyse − sie wurde aus arbeitsökonomischen Gründen auf die vier Themen „Nahostkonflikt“, „Islam“, „Erdöl“ und
„deutsch-orientalische Beziehungen“ begrenzt (Tab. A 5.32-A 5.33) − weist im Fall
des Nahostkonflikts neben Israel-Palästina deren Anrainerstaaten Libanon, Jordanien, Syrien und Ägypten als meistgenannte Staaten aus. Diese Länder waren zum Teil
durch eine Reihe größerer Kriege (1948, 1956, 1967, 1973, 1982) und kleinerer
Gewaltkonflikte (z.B. „Zermürbungskrieg“ zwischen Ägypten und Israel 1967-70)
sowie durch zahlreiche diplomatische Aktivitäten zur umfassenden Friedensregelung
in den Nahostkonflikt involviert. Dementgegen ist es einer Reihe anderer Staaten,
wie den meisten anderen arabischen Staaten oder auch Iran, die im Untersuchungs-
121
zeitraum 1955-94 wiederholt programmatische Konfliktpositionen definiert haben
(etwa im Rahmen der Arabischen Liga) oder durch logistische Hilfeleistungen Partei
bezogen haben (etwa durch die Finanzierung der libanesischen Hizbollah durch
Iran), nicht gelungen, in der deutschen Presse größere Resonanz zu erzielen. Dies
trifft insbesondere auf Libyen, Algerien und Iran zu. Pro-palästinensische und antiisraelische Bekenntnisse sind hier zu zentralen Legitimationsgrundlagen staatlicher
Außen- wie Innenpolitik geworden. In Iran sind anti-israelische Haltungen so ausgeprägt, daß das Land anders als die meisten arabischen Staaten dem sogenannten
Osloer Friedensprozeß (1993- ) nicht zugestimmt hat. Die Mediendaten weisen allerdings darauf hin, daß derlei politische Optionen keine Beachtung in der deutschen
Presse finden. Alle vier untersuchten Zeitungen behandeln den Nahostkonflikt überwiegend als ein sub-regionales Problem des Mashreq (ohne Irak) und Ägyptens,
während darüber hinausweisende pan-arabische bzw. pan-islamische Dimensionen,
d.h. die Bedeutung des Nahostkonflikts für den politischen und ideologischen Diskurs und die Entwicklung der gesamten Untersuchungsregionen Nordafrika sowie
Nah- und Mittelost, ausgeblendet werden.
Beim Thema „Islam“ − hier überwiegend die politisierte Religion − konzentriert
sich die Aufmerksamkeit aller Zeitungen insbesondere auf drei Länder: Iran, Ägypten und Algerien. Im Fall Irans ist dies durch die Iranische Revolution von 1978/79
und die folgende Islamisierung von Verfassung, Staat, Politik und Gesellschaft (Kap.
5.1.3, Abb. 5.5) motiviert; in Ägypten und Algerien sind es vor allem die in den
neunziger Jahren verstärkten Aktivitäten islamistischer Extremisten gewesen. Die
Thematisierung des politischen Islam erfolgt also im Rahmen einer starken Konzentration auf bestimmte Kernstaaten des Extremismus, auch wenn in einzelnen Medien
andere Staaten gelegentlich überdurchschnittlich (>4,0%) repräsentiert sind (z.B.
Irak: F.A.Z.; Kuwait: F.A.Z., stern; Saudi-Arabien: F.A.Z., SZ, stern; Türkei:
F.A.Z., Spiegel, stern; Syrien: SZ; Pakistan: Spiegel, stern). Eine Aufschlüsselung
der Daten zeigt, daß ganz überwiegend islamistischer Extremismus als Topos gewählt worden ist. Hier bestätigt sich die Erkenntnis, daß die Islam-Berichterstattung
durch besonders negative Ereignisvalenzen geprägt ist (Kap. 5.2.1.2). Die Länderverteilung verdeutlicht zudem, daß Staaten wie Syrien, Marokko und Tunesien, denen es trotz starker islamistischer Bewegungen gelungen ist, häufig durch massive
Repression − z.B. die Massenerschießungen während des islamistischen Aufstandes
in Hama (Syrien) 1982 − die staatliche Kontrolle über die Bewegungen aufrechtzuerhalten, weitaus weniger Beachtung in weiten Teilen der untersuchten Presse finden. Daraus kann gefolgert werden, daß extremistische (islamistische) Gewalt, wenn
sie massiv etwa in Terroranschlägen zum Durchbruch kommt, weitaus stärkere
Chancen hat, Eingang in die untersuchte deutsche Presse zu finden als staatliche
Gegengewalt („Staatsterror“).
Wie beim Thema „Erdöl“ ist auch im Themenfeld „deutsch-orientalische Beziehungen“ die Rangfolge der Beachtungshäufigkeit der Länder (Tab. 5.7) weitgehend
identisch mit dem Gesamtranking der Länder (Kap. 5.1.5, Abb. 5.9). Die folgende
Tabelle weist eine selektive Prioritätenliste der Themenverteilung auf, wie sie aus
einer Aufschlüsselung der Daten hervorgegangen ist:
122
Generell besteht eine Tendenz zur multithematischen Zusammensetzung der Themenagenda bei prioritären Staaten und zur monothematischen Ausrichtung bei weniger prioritären Staaten. Eine hochrangige Stellung auf der deutsch-orientalischen
Medienagenda ist auf Grund der hard news-Ausrichtung der Agenda nicht zwangsläufig gleichbedeutend mit einem positiven Länderbild, da häufig Themen die Darstellung der Beziehungen Deutschlands zu den Ländern prägen, die durch sehr negative Ereignisvalenzen charakterisiert sind (Kap. 5.2.2.3). Hierbei sind individuelle
Unterschiede zwischen den Medien zu erkennen. Zum Beispiel sind die deutschägyptischen Beziehungen in den Tageszeitungen höher angesiedelt als in den Wochenzeitungen, was umgekehrt bei deutsch-irakischen Beziehungen der Fall ist (Tab.
123
A 5.32-A 5.33). Die Folge ist, daß weniger durch Negativvalenzen belastete Themen
wie die deutsch-ägyptischen Wirtschaftsbeziehungen häufig nur in Tageszeitungen
zu finden sind, während über Themen wie deutsch-irakische Waffengeschäfte von
allen Medien, einschließlich der Wochenzeitungen, berichtet wird.
Die Länder-Themen-Analyse bestätigt zudem die theoretische Annahme, daß neben der Thematisierung auch die Nicht-Darstellung von Themen (Nicht-Thematisierung; Kap. 3.2.4.1) für die Analyse der Auslandsberichterstattung von Bedeutung ist. So werden etwa im Fall Israels zwar Aspekte der Kulturbeziehungen thematisiert, die hohe Entwicklungshilfe208 und die seit den sechziger Jahren starke Militärhilfe werden jedoch (auch in der vollständigen Aufschlüsselung zu Tab. 5.7) nicht
erwähnt. Bei anderen orientalischen Staaten hingegen sind Waffenhandel, Militärund Entwicklungshilfe zentrale Themen, während kulturelle Beziehungen in der
Regel nur eine untergeordnete Rolle spielen. Da den einzelnen Themen der deutsch-orientalischen Medienagenda unterschiedliche Valenzwerte (negativ, positiv usw.)
zuzuordnen sind (Kap. 5.2.1.2), kommt der Frage, welche Themen in bezug auf
einzelne Länder erörtert werden und wie das Verhältnis von Thematisierung/NichtThematisierung gestaltet wird, entscheidende Bedeutung für die Frage zu, ob die
Beziehungen Deutschlands zu einem bestimmten Land positiv oder negativ gedeutet
werden (Kap. 5.2.2.3) und ob die Auslandsberichterstattung vertrauensbildende
Momente in den internationalen Beziehungen generiert oder nicht. Medien verfügen
zum einen über Wirkungspotentiale durch ihre „Ressourcenfunktion“ für die Politik,
und ihr Wirkungspotential ist noch größer in Bezug auf die Öffentlichkeit und Gesellschaft, deren Mitglieder selbst Akteure in den internationalen Beziehungen sind
(Tourismus, Außenwirtschaft, internationale Kommunikation usw.) und die im Zusammenwirken mit den Medien unter bestimmten Bedingungen Einfluß auf die staatliche Politik auszuüben vermögen (Kap. 3.2.4.1.3).
Auch im Fall der deutsch-israelischen Medienagenda lassen sich zum Teil individuelle Unterschiede zwischen den untersuchten Medien feststellen. Die chronologische Differenzierung der Daten (Abb. 5.16) weist aus, daß die stärkere Berücksichtigung Israels (nur Kernstaat) in der Süddeutschen Zeitung (18,0%; Tab. A 5.32) im
Vergleich zur Frankfurter Allgemeinen Zeitung (13,0%; Tab. A 5.32) vor allem ein
Resultat der nachhaltigeren Thematisierung der nationalsozialistischen Vergangenheit im Kontext der deutsch-israelischen Beziehungen in der ersten Hälfte der sechziger Jahre ist:
Abbildung 5.16 weist aus (eine differenzierte Aufschlüsselung hat dies bestätigt),
daß zwar beide Zeitungen dieselben Höhepunkte der Berichterstattung mit dem
Eichmann-Prozeß von 1961 und der Aufnahme diplomatischer Beziehungen 1965
aufweisen, daß aber die Süddeutsche Zeitung sich diesen Themen jeweils häufiger
widmete und insbesondere in der Zwischenphase 1962-64 anders als die Frankfurter
208 Vgl. exemplarisch die Tabelle über „Bilaterale öffentliche und private Nettoauszahlungen Deutschlands an Entwicklungsländer 1996“, in: Journalistenhandbuch Entwicklungspolitik 1998, Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Bonn 1998, S. 137.
124
Allgemeine Zeitung ein kaum nachlassendes Interesse an der Thematik zeigte.209
Nach dieser Zeit ist keine signifikante Präferenz einer der beiden Zeitungen für die
Thematisierung der deutsch-israelischen Beziehungen mehr auszumachen.
5.2.2.3 Länder und Ereignisvalenz
Völker- und Nationenbilder sind in hohem Maß davon abhängig, ob sie in einem
negativen Ereigniskontext (z.B. Krieg, Terrorismus) oder in einem neutralen Kontext
(z.B. Wahlen, reguläre Wirtschaftsbeziehungen) in Erscheinung treten. Die Ereignisvalenz ist ein wichtiges Bestimmungskriterium der affektiv-wertenden Ebene (im
Kontrast zu kognitiven und operationalen Ebenen) des Auslandsbildes (Kap. 3.1.1),
da die Länder hier in Verbindung mit Gut-Böse-Schemata gebracht werden, die unter
anderem für die Feindbildkonstruktion entscheidend sind. Es muß jedoch davon
ausgegangen werden, daß nicht nur singuläre Länderbilder (Nationenstereotypen,
Nationen-Feindbilder) sondern das Gesamt des Nachrichtenstroms mit ihnen behaftet
werden kann. Ein einzelnes markant negatives oder positives Ereignis kann etwa
einem Land, über das in der deutschen Presse wenig berichtet wird und das daher
auch mit wenigen Stereotypen/Feindbildern behaftet ist (z.B. Bürgerkrieg in Ruan209 Dabei hat die Aufschlüsselung der Daten bestätigt, daß auch die Süddeutsche Zeitung vor 1965
weniger das Thema der politischen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Israel und vielmehr Fragen der nationalsozialistischen Vergangenheit, des Jugendaustauschs usw. berührte (vgl. Kap. 6.1.1).
125
da), über lange Zeit ein negatives oder positives Image verschaffen. Nachfolgend
wird argumentiert, daß neben dem Umfang des Nachrichtenstroms, also der Häufigkeit der Erwähnung eines Landes in einem bestimmten Valenzkontext, auch die
Binnendifferenzierung der Valenzstruktur des Nachrichtenstroms − ob das Land also
auch in unterschiedlichen Valenzzusammenhängen erwähnt wird − für die Ausprägung von Gut-Böse-Bildern entscheidend ist. Der absolute wie relative Negativismusanteil sowie der Vergleich im Länderkontext sind die theoretischen Kriterien zur
Bestimmung einer etwaigen Konfliktperspektive der Medien gegenüber einem Land
(Kap. 3.2.1.2).
Tabellen A 5.35-A 5.36 weisen die Anzahl und Prozentanteile der Ländernennungen in Artikeln mit negativer, neutraler, positiver und neutral-negativer Ereignisvalenz aus. Die Tabelle 5.8 isoliert aus dieser Gesamtschau die Häufigkeit der Ländernennungen im Zusammenhang mit „negativen“, d.h. physische Gewalt beinhaltenden Ereignissen, um den Negativismus-Faktor für jedes einzelne Land zu bestimmen. Dabei ergeben sich − abhängig von der Definition des Problems − verschiedene
alternative Negativ-Rangfolgen. Zunächst bietet sich an, den Anteil der Länder an
der Negativberichterstattung (Tab. A 5.35-A 5.36) in eine Rangfolge umzuwandeln.
Rangfolge II ist eine Darstellung der Prozentanteile der Ländernennungen in den
Artikeln mit negativer Ereignisvalenz im Durchschnitt aller untersuchten Zeitungen.
Es zeigt sich, daß die Rangfolge der Negativnennungen der allgemeinen Rangfolge
der Häufigkeit des Auftretens eines Landes in der Gesamtberichterstattung − Rangfolge I wurde auf der Basis von Kapitel 5.1.5 (Tab. A 5.10) ermittelt − ähnlich ist.
Leichte Verschiebungen sind erkennbar, beispielsweise liegt Ägypten in der allgemeinen Beachtung auf Rang 2, bei der Negativberichterstattung gemäß Rangfolge II
jedoch nur auf Rang 5, da das Land mit Libanon die Plätze getauscht hat. Die Rangverschiebungen gehen jedoch nicht über wenige Ränge hinaus, so daß sich folgende
erste Regel für den Zusammenhang von Länderbeachtung und Negativismus formulieren läßt: Je mehr ein Land von den Medien beachtet wird (Rangfolge I), um so
mehr tritt dieses Land auch in der Berichterstattung über Negativereignisse in Erscheinung (Rangfolge II), und je weniger ein Land beachtet wird, um so weniger
belastet ist das Land mit negativen Ereignisvalenzen. Dieser Zusammenhang scheint
das Motto „No news is good news“ zu bestätigen, das in den Strukturanalysen zur
Dritte-Welt-Berichterstattung häufig für die Haltung der Entwicklungsländer gegenüber der westlichen Auslandsberichterstattung geprägt wurde, da hier zum Ausdruck
kommt, daß allein durch die Nicht-Berücksichtigung in den westlichen Medien ein
allzu negatives Nationenbild vermieden werden könne.210
210 Vgl. die Ausführungen zur „Konfliktperspektive“ in Kap. 3.2.1.2.
126
127
Eine ganz andere Bewertung des Zusammenhangs zwischen der Länder- und Negativismusdarstellung entsteht allerdings, wenn man anstelle des Anteils der Länder an
der Negativberichterstattung untersucht, inwieweit ein Ausgleich durch die Berichterstattung in neutralen Geschehenszusammenhängen erfolgt.211 Kapitel 5.1.4 hat ja
gezeigt, daß die Berichterstattung über negative Ereignisvalenzen im Durchschnitt
lediglich etwa ein Drittel der Berichterstattung ausmacht, während neutrale Ereignisvalenzen bei nahezu 50 Prozent rangieren. Ebenso wichtig wie die Negativbilanz
eines Landes (Rangfolge II) ist also die Frage, ob das Land auch in Artikeln mit
neutraler Ereignisvalenz erwähnt wird und ob insofern ein zumindest partieller Ausgleich negativer Länderbilder in der Presse erzielt werden kann. Rangfolge III der
Tabelle 5.8 weist die Negativ-Neutral-Bilanz der Länder aus, indem sie das Verhältnis (Quotient) der Zahl der Ländernennungen in negativen und in neutralen Artikeln
zugrundelegt.212 Je niedriger der Quotient, um so höher ist der Anteil der Neutralgegenüber der Negativberichterstattung, und je höher der Quotient, um so höher ist
auch der Anteil der Negativ- gegenüber der Neutralberichterstattung.
Rangfolge III unterscheidet sich zum Teil gravierend von Rangfolge II. Eine
Reihe der in den Medien viel beachteten und mit hohen Negativwerten belasteten
Länder weisen eine günstigere Negativ-Neutral-Bilanz aus als andere Länder. IsraelPalästina, um ein Beispiel zu nennen, hat zwar mehr als alle anderen Länder in der
deutschen Presse durch Gewaltereignisse auf sich aufmerksam gemacht, es hat aber
auch im selben Maß durch neutrale Ereignisse (etwa Friedensverhandlungen) Medienbeachtung gesichert − eine Tatsache, die bereits erkannt worden ist, als auf den
verhandlungsorientierten Berichterstattungsstil bei der Berichterstattung hingewiesen
wurde (Kap. 5.2.1.2). Gerade die Länder jedoch, die in andere Großkonflikte (Zypern, Libanon, Afghanistan, Irak, Sudan, Jemen usw.) verwickelt gewesen sind und
für die der konfliktorientierte Berichterstattungsstil als Merkmal gilt, haben eine
besonders schlechte Negativ-Neutral-Bilanz. Über diese Länder wird nahezu allein
im Zusammenhang mit Gewaltkonflikten berichtet, während oft weder das nachfolgende Verhandlungsgeschehen noch andere reguläre politische und gesellschaftliche
Abläufe (wie Wahlen) von Interesse sind. Für diese Länder gilt also, daß, sofern sie
überhaupt in die untersuchte deutsche Presse gelangen und die Nachrichtenschwelle
überwinden, dies weitaus häufiger im Zusammenhang mit Gewaltereignissen geschieht als bei Ländern wie Israel-Palästina, Ägypten und selbst Algerien und der
Türkei, wo das Nachrichtenaufkommen stärker neutral als negativ geprägt ist.
Die Frage bleibt zu beantworten, welche der Rangfolgen für das Image eines
Landes ausschlaggebend ist: die absolute Menge negativer Nachrichten oder die
Negativ-Neutral-Bilanz? Wirkt sich beim Konsumenten eher die Masse negativer
Nachrichten aus und bleibt diese Wirkung auch durch neutrale Informationen unbeeinflußbar, oder aber verhindert eine ausgewogene Berichterstattung über negative
wie neutrale Vorkommnisse, daß ein einseitig negatives Bild entsteht? Da diese
211 Denkbar wäre auch ein Vergleich mit „positiven“ Valenzen.
212 Für die entsprechenden Zahlen der Ländernennungen vgl. Tabellen A 5.35-A 5.36.
128
Frage letztlich auch lerntheoretisch nur schwer zu beantworten ist,213 ist im letzten
Schritt eine kumulierte Rangfolge erstellt worden, in der die Rangpositionen aus
Rangfolge II und Rangfolge III addiert werden und so ermittelt wird, welche Länder
sowohl durch einen großen durchschnittlichen Anteil an der Negativberichterstattung
der Zeitungen als auch durch eine ungünstige Negativ-Neutral-Bilanz belastet sind.
Die Kumulation der Ordinalzahlenwerte weist insbesondere Länder wie Libanon,
Irak, Iran als diejenigen Länder aus, die durch Berichterstattung in Gewaltzusammenhängen in den untersuchten Medien am stärksten betroffen sind. Während Länder wie Ägypten und selbst Israel-Palästina (stärker noch der Kernstaat Israel), Jordanien oder Algerien offensichtlich von der Tatsache profitieren, daß über diese
Länder auch in hohem Maß neutrale Nachrichten berichtet werden (und es zudem
diese Länder sind, in denen die meisten der wenigen „positiven“ Ereignisse angesiedelt sind; Tab. A 5.35-A 5.36), wird über die erstgenannten Länder allgemein sehr
viel (Rangfolge I), sehr viel Negatives (Rangfolge II) und vergleichsweise wenig
Neutrales (Rangfolge III) berichtet. Auch für Syrien, Algerien und die Türkei gilt
dies in abgeschwächter Form, da die Länder in allen Rangfolgen I-III Plätze im oberen Mittelfeld belegen. Länder wie Afghanistan, Sudan, Zypern und Jemen sind von
negativen Valenzen so stark betroffen, weil die Berichterstattung über sie, einschließlich der Negativberichterstattung, zwar auf einem quantitativ niedrigerem
Niveau als bei den bisher genannten Ländern erfolgt, über sie aber zugleich so wenig
Neutrales berichtet wird, daß ihre Neutral-Negativ-Bilanz zu den schlechtesten aller
Staaten gehört.
5.2.2.4 Länder und Informationsquellen
Untersucht werden die Ländernennungen (maximal 5) in Artikeln über Nordafrika
und Nahost. Die Untersuchungsmenge wird dabei − im Unterschied zum Kapitel
5.1.7 oder den Kapiteln 5.2.1.3 und 5.2.1.4 − auf Artikel mit nur einer Quelle begrenzt und Beiträge mit zwei oder mehr Quellen von der Untersuchung ausgeschlossen. Bei letzteren Artikeln besteht die Gefahr, daß nicht jede der verwendeten Quellen über jedes erwähnte Land informiert, sondern unterschiedliche Quellen für unterschiedliche Länder von den Zeitungsredaktionen zu einem Gesamtartikel zusammengeführt worden sind.214
Die Daten der Länder-Informationsquellen-Analyse (Tab. A 5.37-A 5.38) weisen
aus, daß sich der durchschnittliche Anteil der Nutzung der Nachrichtenagenturen
durch die Zeitungen (Kap. 5.1.7, Tab. 5.6) bei einer Reihe von Ländern widerspiegelt, zumal was die führende Stellung von Associated Press betrifft. Zugleich ist
jedoch eine erhebliche Zahl von Abweichungen von der durchschnittlichen Verteilung zu erkennen. Diese Daten bestätigen das Ergebnis der Themen-Informations213 Vgl. die Hinweise zu Leon Festingers Theorie der „kognitiven Dissonanz“ in Kap. 3.1.1.
214 Durch die Begrenzung der Stichprobe verschieben sich auch die Prozentanteile der Nachrichtenagenturen am Quellenaufkommen der Agenturen leicht, da manche Agenturen mehr als alleinige
Quelle genutzt werden, andere hingegen eher als Ergänzungsquellen.
129
quellen-Analyse (Kap. 5.2.1.4), im Zusammenhang mit der Quellenbeschaffung über
Großkonflikte, daß ungeachtet der ähnlichen durchschnittlichen Anteile der großen
Nachrichtenagenturen (AP, AFP, Reuters, UPI, dpa) am Agenturaufkommen von
Frankfurter Allgemeine Zeitung und Süddeutsche Zeitung die Medien in einzelnen
Themenfeldern − und damit auch in einzelnen Regionalbereichen − individuell sehr
unterschiedliche Abnahmestrategien entfalten können. Dabei ist erkennbar, daß die
Süddeutsche Zeitung weitaus stärker dazu neigt, die nationale Deutsche PresseAgentur (dpa) als diejenige Quelle zu bevorzugen, die sie in einzelnen Ländern anstelle der häufig dominierenden AP als stärkste Nachrichtenagentur nutzt, als dies
bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung der Fall ist (SZ: Iran, Jemen, Kuwait, Marokko, Mauretanien, Saudi-Arabien und Türkei; F.A.Z.: Kuwait, Tunesien). Die
Frankfurter Allgemeine Zeitung nutzt oder nutzte häufiger Reuters, AFP und UPI (in
dieser Reihenfolge) als Alternativen zu AP (Afghanistan: Reuters, AFP; Irak: AFP;
Kuwait: Reuters, AFP; Libyen: AFP; Jemen: Reuters, UPI; Mauretanien: Reuters;
VAE: Reuters: Bahrain: UPI; Oman: UPI).
Wenn grundsätzlich angenommen werden muß, daß in den Einsatz von Nachrichtenagenturen als Quelle für die Nahostberichterstattung Angebots- wie Nachfrageaspekte einfließen, so vermitteln die quantitativen Verhältnisse zwischen Agenturquellen und journalistischer Eigenleistung einen Einblick in die Befähigung der
Medien, sich bei der Beschaffung von Informationen über einzelne Länder vom
Angebotsaspekt unabhängig zu machen. Die bisherige Untersuchung hat gezeigt, daß
die Tageszeitungen die Nachrichtenagenturen primär zur Sicherung der politischen
Grundversorgung mit Nachrichten nutzen, während journalistische Eigenleistung in
höherem Maß in andere Sachgebiete und Lebensbereiche einfließen (Kap. 5.2.1.3).
Sowohl die Unabhängigkeit von Nachrichtenagenturen als auch die Vielfalt der
Sachgebietszugänge sind wichtige theoretische Hintergrundbedingungen zur Beurteilung der Informationspolitik der untersuchten Zeitungen in bezug auf individuelle
Länder.
Anhand der Beispiele Ägypten, Algerien und Iran wird untersucht, wie das Verhältnis von Nachrichtenagenturen und Eigenleistung (Nahostkorrespondenten215,
externe Korrespondenten, Zentralredaktion) im Zeitraum 1970-94 gestaltet gewesen
ist: eine Untersuchung, die aus methodischen Gründen auf die Süddeutsche Zeitung
beschränkt bleiben muß (Kap. 5.1.7). Dabei werden die Ländernennungen in den
Artikeln mit je einer Quelle der Süddeutschen Zeitung gezählt. Die Quellenkompositionen erweisen sich als recht unterschiedlich.
50,8 Prozent der Ägypten-Referenzen waren in Artikeln zu finden, deren Quelle
eine Nachrichtenagentur war, verglichen mit 31,2 Prozent in Beiträgen der Nahostkorrespondenten, 3,3 Prozent in Artikeln von regionenexternen Korrespondenten
und 14,7 Prozent in Berichten der Zentralredaktion (vgl. absolute Zahlen in Tab.
A 5.39). Das Balkendiagramm (Abb. 5.17) der chronologischen Verteilung der Län215 Der Begriff „Nahostkorrespondent“ ist vereinfachend und bezeichnet hier wie an anderer Stelle
Korrespondenten in allen Untersuchungsstaaten einschließlich Nordafrikas und des Mittleren Ostens.
130
dernennungen zeigt, daß Kairo im Untersuchungszeitraum durchgehend als ein typischer Korrespondentenstandort zu betrachten ist, der ein gemischtes Quellenangebot
über Ägypten ermöglicht hat, wobei etwa die Hälfte der Quellen von Nachrichtenagenturen, ein Drittel von eigenen Nahostkorrespondenten und ein Siebtel von der
Münchener Zentralredaktion stammt. Auf Grund des hohen Anteils von Nahostkorrespondenten spielen folgerichtig externe Korrespondenten − von den durch zahlreiche internationale Krisen um Ägypten geprägten frühen siebziger Jahren abgesehen −
kaum eine Rolle.
Ein Gegenmodell zu Ägypten ist Algerien. Algerienbezüge konnten in nur 15,9 Prozent der Beiträge von Nordafrikakorrespondenten ermittelt werden, in denen Algerien genannt und nur eine Quelle identifiziert wurde, während dies bei 12,1 Prozent
aller Fälle bei externen Korrespondenten (v.a. Paris und Madrid) der Fall gewesen
ist (Tab. A 5.39). Während der Anteil von Nachrichtenagenturen (53,0%) und Zentralredaktion (18,9%) gegenüber Ägypten nur wenig abweicht, zeigt sich eine deutliche Verlagerung von den Nahost- zu externen Korrespondenten und damit eine deutliche Abnahme von unmittelbarer Vor-Ort-Expertise auf seiten der Zeitung. Abbildung 5.18 der chronologischen Verteilung weist aus, daß gerade in den neunziger
Jahren ein völliges Versiegen von Berichten der Nahostkorrespondenten über Algerien zu beobachten ist, was überwiegend mit der Verfolgung und Ermordung algerischer und ausländischer Journalisten und dem Rückzug nahezu aller westlichen Algerienkorrespondenten zu erklären ist. Auffällig ist allerdings auch, daß die Süddeutsche Zeitung in der Stichprobe auch nicht durch andere Nordafrikakorrespondenten –
etwa in Tunis oder Rabbat – hat berichten lassen.
131
Ein weiteres Beispiel für eine länderspezifische Quellenzusammensetzung in der
deutschen Presse ist Iran. Die Bedeutung von Nachrichtenagenturen für die Süddeutsche Zeitung liegt hier bei durchschnittlich 70,8 Prozent im Zeitraum 1970-94 (362
von 511 Ländernennungen) – der höchste Wert der drei gewählten Beispiele –, der
Anteil der Zentralredaktion stimmt in etwa mit dem Ägyptens oder Algeriens überein
(14,4%), während sowohl der Anteil der Ländernennungen in Nahostkorrespondentenberichten (9,0%) als auch der in Berichten von externen Korrespondenten (5,7%)
relativ niedrig sind (Tab. A 5.39). Iran wird damit noch weniger als Algerien von
Vor-Ort-Korrespondenten beachtet, und dieses Defizit wird weniger als im Fall Algeriens von regionenexternen Korrespondenten kompensiert.
Die chronologische Verteilung (Abb. 5.19) bietet Hinweise darauf, daß in epochemachenden Umbruchs- und Krisensituationen der jüngeren Mittelostgeschichte nicht
allein die politischen Rahmenbedingungen eine stärkere Involvierung von Nahostkorrespondenten verhindert haben. Im Unterschied zu Algerien nach dem Abbruch
der Nationalratswahlen 1991/92 war die innenpolitische Situation Irans bis in den
Herbst 1979 durch eine vorher wie nachher unbekannte politische Öffnung und
Transparenz gekennzeichnet, wobei nach dem Sturz des Shahs Mohammed Reza
Pahlevi zunächst in- wie ausländische Medien Freiheit genossen (Kap. 6.3.1). Nimmt
man die Zahl der Iran-Nennungen in den Zeitungsberichten als Maßstab, hat die
Süddeutsche Zeitung ungeachtet der bestehenden Möglichkeiten zur Vor-OrtRecherche zwar zu einer Steigerung der Nahostkorrespondentenberichte im Jahr
1979 im Vergleich zum Vorjahr genutzt (Steigerung von zwei auf fünf Nennungen),
während sie sich zugleich einer rapide wachsenden Zahl von Agenturquellen bedien-
132
te (Steigerung von 19 auf 47). Das Verhältnis der Quellendaten von Nachrichtenagenturen zu Nahostkorrespondenten war aus der Perspektive letzterer Gattung in
der Revolution 1979 jedoch weitaus schlechter als im „Oktoberkrieg“ 1973 (47:5 im
Vergleich zu 31:20), also einem vergleichbar bedeutsamen Ereignis. Das wachsende
Informationsbedürfnis über Iran im Jahr 1979 befriedigte die Zeitung primär über die
Nachrichtenagenturen, während ein eigener Korrespondent nur kurzfristig, etwa im
Februar unmittelbar nach der Rückkehr Khomeinis aus dem französischen Exil,
eingesetzt wurde. Zwar berichtete der Korrespondent in diesem Monat in einer Reihe
von Beiträgen über das Revolutionsgeschehen. Er war jedoch auf Grund der Kurzfristigkeit seines Aufenthaltes weder in der Lage, die für dauerhaft akkreditierte Korrespondenten typischen Bindungen an das lokale Umfeld auszubilden (z.B. lokale
Meinungsführer), noch konnte er seine Perspektive über Teheran hinaus auf das
vielfältige Geschehen im Land selbst richten. Bereits am 27. Februar berichtete er
aus Moskau über die Intervention Chinas in Vietnam, und die Süddeutsche Zeitung
war erneut vor allem auf Agenturen angewiesen.
Das wachsende Engagement der Zentralredaktion 1979 (Steigerung von drei auf acht
Nennungen) war auf die Möglichkeit zurückzuführen, die Iranische Revolution von
Deutschland aus der Perspektive der Islam-Thematik zu bearbeiten – eine Argumentationslinie, die sich nach der Rückkehr Khomeinis am 1. Februar 1979 durchzusetzen begann (Kap. 6.3.1). Der intensivere Einsatz von Vor-Ort-Expertise hätte
gleichwohl aufzeigen können, daß die innenpolitische Situation Irans über weite
Teile des 1979 von den vielfach stärkeren nicht-islamischen bzw. von Khomeini
fernstehenden islamischen Strömungen beherrscht war (Kap. 6.3.1). Während Kho-
133
meini sich in der Weltpresse bereits als neuer Herrscher Irans durchgesetzt hatte,
hatte er es in Iran selbst noch lange nicht.
Die vorstehenden Analysen zum Verhältnis von Agentur- und Eigenberichten
über einzelne Länder lassen insgesamt folgende Schlußfolgerungen zu:
• Bei der Berichterstattung über einzelne Länder Nordafrikas und des Nahen und
Mittleren Ostens werden verschiedenartige Quellenkompositionen zugrunde gelegt. Neben Ländern mit einer Vielfalt der Quellenzugänge existieren auch Länder, die kaum in den Genuß einer eigenständigen und unabhängige Quellensicherung seitens der Presse gelangen, allenfalls kurzfristig, wenn außergewöhnliche
Umbruchs- oder Krisensituationen dies erforderlich machen, aber nicht einmal
mittelfristig, wie das Beispiel Irans zeigt, das weite Teile des ereignisreichen Revolutionsjahres 1979 ohne Korrespondenten blieb. Eine kursive Durchsicht des
Datenmaterials für andere Länder vermittelt den Eindruck, daß sich das Kerngebiet einer vielfältigen Quellenstruktur auf Ägypten und Teile des Mashreq (v.a.
Palästina und Libanon) sowie Israel konzentriert, während der Irak und Syrien,
der Maghreb, die Arabische Halbinsel sowie die Mitteloststaaten Afghanistan,
Pakistan und Iran Nebenbetätigungsfelder eigener Korrespondententätigkeit sind.
• Zwischen der erwiesenen Befähigung einer Tageszeitung wie der Süddeutschen
Zeitung, als „innerjournalistischer Meinungsführer“ der deutschen Medien zu
fungieren und dem teilweise mangelnden direkten Quellenzugang des Mediums
in der Nahostberichterstattung besteht ein Spannungszustand. Ungeachtet der
Meinungsführerschaft beschränkt sich die Steuerungsfähigkeit selbst eines solch
großen und bedeutsamen deutschen Presseorgans in bezug auf seine Quellenbeschaffung in hohem Maße auf eine nachgeordnete Selektion und Kommentierung
von Nachrichtenmaterial der Nachrichtenagenturen. Dies bedeutet letztlich, daß
die generelle Aussage, derzufolge zwar eine starke Stellung, aber keine Dominanz der Nachrichtenagenturen (insbesondere der „großen Vier“) in der Presse zu
beobachten ist (Kap. 5.1.7) in bezug auf einzelne Länder und Situationen eingeschränkt werden muß, in denen eine solche Abhängigkeit entstehen kann.
5.2.2.5 Länder und Handlungsträger
Vorangegangene Handlungsträgeranalysen (Kap. 5.1.6, 5.2.1.5 und 5.2.1.6) haben in
erster Linie die quantitative Verteilung staatlicher und gesellschaftlicher Akteure in
deutschen Pressemedien untersucht. Festgestellt worden ist etwa, daß das Gewicht
der gesellschaftlichen Organisationen im Verhältnis zu den Staatsvertretern im Laufe
der achtziger und neunziger Jahre zugenommen hat und daß insofern die alte theoretische Annahme, es handele sich bei der Dritte-Welt-Berichterstattung primär um
„Hofberichterstattung“ („Minister trifft Minister“) in bezug auf den Nahen Osten in
dieser Periode korrigiert werden muß, obwohl die Berichterstattung noch immer als
elitenorientiert zu bezeichnen ist, wenn man die Organisationen in den Elitenbegriff
(als Gegeneliten) einbezieht. Desweiteren ist ermittelt worden, daß in den verschiedenen Sachgebieten der Staat, die Gesellschaft und das Individuum in sehr unter134
schiedlicher Weise zu Hauptakteuren der Medienberichterstattung gemacht werden
und daß es dem nahöstlichen Staat in der Berichterstattung über Gewaltkonflikte
(z.B. Suezkrise, Algerienkrieg, Golfkrieg) erst in jüngeren Jahren gelungen ist, die
vormals bestehende Hegemonie des westlichen Staates zu brechen.
Im folgenden soll weniger auf das Verhältnis Staat-Gesellschaft oder Staat-Staat,
sondern auf die Darstellung des nichtstaatlichen Geschehens in den Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens eingegangen werden. Untersucht wird, welche Organisationen in der ausgewerteten deutschen Presse präsent sind. Mit Hilfe einer quantitativen Analyse soll hierbei die Hypothese untersucht werden, daß radikal-militante,
ethnisch-nationale oder religiös-fundamentalistische Organisationen in den deutschen Medien stärker repräsentiert sind als systemkonforme und zivilgesellschaftliche Organisationen (Kap. 5.1.6) und daß es sich hierbei um eine Entscheidung des
deutschen Journalismus handelt, wobei ungeachtet bestehender zivilgesellschaftlicher Kulturen durch die Überrepräsentation radikaler Kräfte das Bild eines „außersystemischen Chaos“216 konstruiert wird.
Um diese begrenzte These zu untersuchen, werden die kodierten Organisationen
im einzelnen gezählt, und aus den zahlenmäßigen Verhältnissen werden Rückschlüsse auf die mediale Repräsentanz gezogen. Auf eine Auswertung der gesamten Stichprobe GS2 ist aus verschiedenen Gründen verzichtet worden. Methodisch ist eine
Eingrenzung der Stichprobe auf diejenigen Beiträge mit einer einzigen Ländernennung erforderlich, da andernfalls die Beziehungen Land-Handlungsträger nicht eindeutig bestimmbar sind.217 Die Begrenzung der Untersuchung auf den Zeitraum
1970-94, d.h. auf die letzten Jahrzehnte des Hauptvergleichszeitraums 1955-94, in
denen gesellschaftliche Organisationen in den Medien stärker präsent waren als
zuvor, ist eine weitere, inhaltliche Grenzbedingung. Aus arbeitsökonomischen Gründen wurde die Untersuchung schließlich auf Tageszeitungen und auf drei Länderbeispiele begrenzt. Ausgewählt wurden Israel und der palästinensische Raum (IsraelKernstaat und Israel-Palästina), die Türkei und Ägypten, da diese Länder zu denjenigen Staaten der Untersuchungsregionen mit der differenziertesten Parteienentwicklung zählen. Israel ist eine Demokratie, wenngleich mit weitgehenden Einschränkungen ethnischer und religiöser Gruppenrechte und begrenzt durch eine Vielzahl nationaler Sicherheitsbestimmungen;218 die Türkei hat in den letzten Jahrzehnten eine
allerdings durch Militärherrschaft und Parteienverbote (Verbote von Altparteien,
Parteineugründungen und -umbenennungen, Wiederzulassung von Altparteien usw.)
gekennzeichnete demokratische Organisationskultur entwickelt, die gleichwohl ebenfalls stark durch nationale Sicherheitsregelungen eingeschränkt worden ist (etwa in
bezug auf kurdische Parteien);219 Ägypten ist seit der Ära Anwar al-Sadats und der
216 Jürgen Link, Medienanalyse unter besonderer Berücksichtigung der Kollektivsymbolik, in: Siegfried Jäger (Hrsg.), Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung, Duisburg, S. 382-401.
217 Beispielsweise kann in einem Artikel über die Beziehungen Ägyptens zu den Palästinensern die
PLO erwähnt werden, was keine Rückschlüsse über die Berichterstattung über ägyptische Organisationen zuläßt.
218 Avner Yaniv (Hrsg.), National Security and Democracy in Israel, Boulder et al. 1993.
219 Harald Schüler, Die türkischen Parteien und ihre Mitglieder, Hamburg 1998.
135
Auflösung der nasseristischen Einheitspartei Arabische Sozialistische Union (ASU)
als ein semi-libertäres Patrimonialsystem zu kennzeichnen, in dem eine Reihe von
Parteien und politischen Organisationen entstanden sind, denen gleichwohl im Unterschied zu Israel und der Türkei de facto keine Teilhabe an der Staatsgewalt gewährt wird.220
Die Tabellen 5.9-5.10 bieten eine Übersicht über die in der Süddeutschen Zeitung und in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung berücksichtigten politischen Parteien und anderen gesellschaftlichen Organisationen im Zeitraum 1970-94. Erkennbar ist, daß die Repräsentanz radikaler nationaler oder islamistischer Organisationen
und deren Verhältnis zu systemkonformen und zivilgesellschaftlich orientierten
Gruppierungen in den einzelnen Ländern und Zeitabschnitten unterschiedlich in den
deutschen Tageszeitungen gestaltet ist. Im Fall Ägyptens läßt sich erkennen, daß
neben der zunächst noch existenten nasseristischen Einheitspartei Arabische Sozialistische Union (ASU) die ihr nachfolgende Regierungspartei Nationaldemokratische
Partei (NDP) ebenso in den deutschen Tageszeitungen präsent war wie die liberale
Neo-Wafd-Partei, die liberal-sozialistische Partei und die Misr-Partei. In den achtziger Jahren koexistierten die Parteien in den deutschen Medien mit islamistischen
Gruppierungen – überwiegend moderater Ausrichtung wie die Muslimbruderschaft
dieser Periode –, die nach der Iranischen Revolution von 1978/79 größeren Zulauf
gewannen und stärkere Beachtung erfuhren. In den neunziger Jahren hingegen sind
ungeachtet des weiteren Bestehens der anderen Parteien in der Stichprobe fast ausnahmslos radikale islamistische Gruppen – neben dem Islamischen Heiligen Krieg
auch die meisten nichtidentifizierten islamistischen Gruppen – oder gemäßigtere
islamische Organisationen repräsentiert. Die Schlußfolgerung liegt nahe, daß die
zunehmende Radikalisierung islamistischer organisierter Kräfte in Ägypten zu deren
wachsender Beachtung und zu einer Verdrängung und Überlagerung zivilgesellschaftlich-systemkonformer Gesellschaftskräfte in den deutschen Tageszeitungen
geführt hat.
220 Peter Pawelka, Herrschaft und Entwicklung im Nahen Osten: Ägypten, Heidelberg 1985.
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138
Sowohl die Türkei als auch Israel zeigen vom ägyptischen Beispiel abweichende
Entwicklungen. Die demokratischen Parteien der Türkei sind in allen Perioden in
den deutschen Medien präsent, und zwar auch in der ersten Hälfte der neunziger
Jahre, als mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) eine radikal-militante nationalkommunistische Strömung die mit weitem Abstand größte Aufmerksamkeit der deutschen Tageszeitungen auf sich zog. Erkennbar wird zwar, daß radikale, also negative
Ereignisvalenzen generierende Organisationen größere Beachtung finden als systemkonforme – auf die PKK entfallen in der Stichprobe etwa 50 Prozent aller Organisationsnennungen. Zugleich ist es der radikalen Strömung nicht gelungen, die Aufmerksamkeit in einem mit Ägypten vergleichbaren Maß zu absorbieren und die Repräsentanz der demokratischen Parteien in den deutschen Medien zu überformen.
Bei der Darstellung der PKK handelt es sich vielmehr um eine zusätzliche Akteurskomponente der Auslandsberichterstattung.
Diese Entwicklung verläuft analog dem Länderbeispiel Israel (Kernstaat und Israel-Palästina). Radikal-militante Gruppierungen wie die islamistische Hamas,221 der
Islamische Heilige Krieg oder die jüdische Kach-Gruppe (vormals Jüdische Verteidigungsliga) haben in den deutschen Tageszeitungen einen ebenfalls beträchtlichen
Aufmerksamkeitswert von etwa 30 Prozent der Organisationsnennungen in den
neunziger Jahren erzielt, dabei jedoch weder die palästinensische mainstreamNationalbewegung PLO noch die demokratischen israelischen Parteien zu verdrängen vermocht.
Die Eingangshypothese, wonach radikal-militante ethnisch-nationale oder religiös-fundamentalistische Organisationen in der deutschen Presse stärker präsent sind
als systemkonforme und zivilgesellschaftliche Organisationen kann auf der Basis der
vorliegenden Daten als in Teilen bestätigt, in Teilen jedoch widerlegt betrachtet
werden. Bestätigen läßt sich die Annahme in bezug auf die Darstellung der ägyptischen Organisationslandschaft, widerlegt wird sie durch die Daten zur Darstellung
der türkischen wie auch der israelisch-palästinensischen Organisationen. Dieser
Befund macht eine Präzisierung der These von der radikalen Überformung pluralistischer Kulturen im deutschen Medienbild erforderlich:
• Werden in der deutschen Presse Parteien und Organisationen aus Ländern repräsentiert, die durch das Fehlen einer etablierten demokratischen Organisationskultur gekennzeichnet sind, d.h. durch den de facto-Ausschluß der Parteien und Organisationen von der politischen Gewaltausübung, besteht die Tendenz, radikale
nationalistische, religiös-politische usw. Organisationen im Verhältnis zu systemkonformen und zivilgesellschaftlich orientierten Parteien und Organisationen
überzurepräsentieren, was, wie der Fall Ägyptens nahelegt, bis zur nahezu völli221 Hamas ist bis etwa 1992/93, also nahezu bis zum Ende des Untersuchungszeitraums (1994),
durchweg als radikale Organisation einzustufen gewesen. Seit 1993/94 − mit Beginn des Friedensprozesses von Oslo − sind auch gemäßigte Strömungen erkennbar geworden. Kai Hafez, Palästina
(Autonome Gebiete/PLO) 1995, in: Nahost Jahrbuch 1995. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in
Nordafrika und dem Nahen und Mittleren Osten, Hrsg. vom Deutschen Orient-Institut/Thomas
Koszinowski/Hanspeter Mattes, Opladen 1996, S. 177.
139
gen Verdrängung der politischen Zivilkultur aus dem deutschen Medienbild führen kann. Der Versuch radikaler Gruppen, durch „außergewöhnliches Verhalten“
(Wolfsfeld)222 Vorteile der etablierten Herrschaft hinsichtlich des Medienzugangs
zu kompensieren, wird hier mit Erfolg belohnt.
• Verfügen die Länder allerdings über eine etablierte demokratische Parteien- und
Organisationsstruktur, in der systemkonforme Parteien an der Staatsgewalt teilhaben, indem aus ihren Reihen sowohl die Legislative als auch die Exekutive rekrutiert wird, so sind radikale Strömungen zwar in der Lage, in hohem Maß die
Aufmerksamkeit der deutschen Medienöffentlichkeit zu absorbieren, die demokratische Organisationskultur wird jedoch nicht aus den deutschen Medien verdrängt, da die Teilhabe an der Staatsgewalt die Parteien als staatstragende oder
potentiell staatstragende Akteure ausweist.
Letztlich ist es also ein Zusammenspiel aus Bedingungen der politischen Kultur der
Nahoststaaten und den Präferenzen des deutschen Journalismus, das darüber entscheidet, welche politischen Organisationen in den Medien präsent sind. Sind die
Voraussetzungen der politischen Kultur günstig, wie in Israel oder der Türkei, beschränken sich auch die Medien nicht auf den Extremismus.223 Sind die Bedingungen
hingegen weniger günstig, wie in Ägypten, neigen die Medien dazu, schwache demokratische Kräfte zu ignorieren und radikale Elemente der Politik zu pointieren.
Jürgen Links theoretische Annahme, die westlichen Medien würden zu Unrecht ein
Bild des „außersystemischen Chaos“ in der außereuropäischen Welt zeichnen, ist
insofern zu differenzieren, als sie dies nach den vorstehenden Ergebnissen nur dort
tun, wo der Zustand der politischen Kultur es ihnen erleichtert.
Auf der anderen Seite ist es tatsächlich eine Entscheidung des Journalismus und
nicht eine Frage politischer Kulturen, bestehende Ansätze einer demokratischen
Organisationskultur, sofern sich diese im Gewaltengefüge noch nicht hinreichend
etablieren konnten, zu negieren. Es sind diese Fälle des strukturellen Übergangs von
Gesellschaften, die aus verschiedenartigen traditionellen, modernen, autoritären,
semi-liberalen usw. Segmenten bestehen, weniger die fortgeschrittenen Strukturen
solcher Länder wie Israel oder Türkei, die auf theoretisch beschreibbare Besonderheiten der Medienberichterstattung hinweisen. Dabei sind zwei Theoriebereiche zu
unterscheiden: a) die Struktur des Auslandsbildes der Medien und b) die Rückwirkungen dieses Auslandsbildes auf die Selbstbilder in den Untersuchungsländern.224
Zu a): Dort wo die Berichterstattung über politische Parteien und andere Organisationen – wie in Ägypten – mit deutlichem Akzent auf radikale ethnisch-nationale
oder religiös-fundamentalistische Kräfte vollzogen wird, geraten jene Gesellschaftskräfte, von denen sich viele Oppositionstheoretiker einen Wandel zur Demokratisie-
222 Wolfsfeld, Media and Political Conflict, S. 20-22.
223 Dies wird durch die Untersuchung von Astrid Hub bestätigt, die eine im Laufe der Jahre zunehmende Differenzierung der Darstellung der politischen Kultur Israels in der deutschen Presse festgestellt
hat (vgl. Kap. 4.1.1).
224 Vgl. die Hinweise zu Shaw in Kap. 3.2.1.2.
140
rung erhoffen225 und die tatsächlich in allen Untersuchungsländern in wachsender
Zahl existieren,226 aus dem Blickfeld der Presse: die „gemäßigte Opposition“, die im
Gegensatz zur „opportunistischen Opposition“ tatsächlich zur Konfrontation mit dem
autoritären und/oder neo-patrimonialen Staat bereit ist, anders als die „maximalistische Opposition“ jedoch nicht jede Form der systemimmanenten Kooperation ablehnt.227 Es entsteht das Bild einer politischen Kultur, die von den Akteuren des
autoritären orientalischen Staates auf der einen Seite und Oppositionskräften auf der
anderen Seite geprägt wird, von denen ein beträchtlicher Teil maximalistischen und
damit selbst antidemokratischen Positionen zuneigt. Die Berichterstattung über gesellschaftliche Handlungsträger außerhalb des Staates ist in weiten Teilen auf Organisationen konzentriert, die das Gewaltmonopol des Staates in Frage stellen.
Aus theoretischer Sicht entsteht eine Konstellation aus mehreren zusammenwirkenden Komponenten. Ausgangspunkt ist die Feststellung aus Kapitel 5.2.1.1: Politik- und Konfliktorientierung stabilisieren sich gegenseitig, d.h. daß die Politikzentrierung der Presseberichterstattung die Tendenz zur Konfliktorientierung der Medien sowie umgekehrt eine vorhandene Konfliktorientierung die Politikberichterstattung begünstigt. Da die Negativereignisse in der Regel entweder durch staatliches
Handeln oder aber durch radikale nationale oder religiös-fundamentalistische Gruppen produziert werden, entsteht ein Zusammenhang zwischen Politikzentrierung,
Konfliktorientierung, der Präferenz des Journalismus für nicht-demokratische Gesellschaftskräfte und der Verdrängung systemkonformer Kräfte aus dem Medienbild.
Da diese Präferenz jedoch desaktualisiert wird, wenn demokratische Kräfte an der
Staatsmacht teilhaben, also nicht mehr Opposition sind oder zumindest Opposition
mit strukturellen Zugangsmöglichkeiten zur Macht werden, wird erkennbar, daß die
Auslandsberichterstattung bei der Berichterstattung über gesellschaftliche Organisationen letztlich zwischen zwei Selektionspräferenzen vermitteln muß: zwischen der
Staats- bzw. der Elitenzentrierung auf der einen Seite und der Konfliktorientierung
auf der anderen Seite. Organisierte Eliten, die daher entweder staatstragend oder
gewaltorientiert sind, finden in der Regel weitaus eher Zugang zu den Medien als
Eliten, die – wie ein Teil der ägyptischen (säkularen) Parteien – weder das eine noch
das andere sind. Die Presseberichterstattung, wie sie sich in der untersuchten begrenzten Stichprobe darstellt, ist also insgesamt geeignet, über gesellschaftliche
Akteure demokratischer Systeme zu berichten, sie ist hingegen kaum in der Lage,
225 Günter Schubert/Rainer Tetzlaff/Werner Vennewald (Hrsg.), Demokratisierung und politischer
Wandel. Theorie und Anwendung des Konzepts der strategischen und konfliktfähigen Gruppen
(SKOG), Hamburg/ Münster 1994.
226 Vgl. u.a. Saad Eddin Ibrahim, Civil Society and Prospects of Democratization in the Arab World,
in: Augustus Richard Norton (Hrsg.), Civil Society in the Middle East, Bd. 1, Leiden u.a. 1995,
S. 27-54; Marion Wille, Spielräume politischer Opposition in Ägypten unter Mubarak, Münster/Hamburg 1993.
227 Scott Mainwiring, Transition to Democracy and Democratic Consolidation. Theoretical and
Comparative Issues, Notre Dame 1989, S. 8.
141
proto-demokratische Organisationstendenzen zu erfassen, die für eine Reihe von
Entwicklungsländern im politischen Transitionsprozeß prägend sind.228
Zu b): Dies führt zu einem anderen Problemkomplex. Der Auslandsberichterstattung werden im Kontext der globalen Informationsflußtheorie auch Rückwirkungen
auf das Selbstbild derjenigen Gesellschaften zugeschrieben, über deren Akteure
berichtet wird. Westliche Presseberichterstattung über Nordafrika und den Nahen
und Mittleren Osten kann über zahlreiche Kanäle zurückwirken: etwa über die starke
Stellung westlicher Nachrichtenagenturen, deren Journalisten in der Regel Konsumenten westlicher Pressemedien sind oder durch die Meinungsführerschaft der westlichen Presse in Rundfunk und Fernsehen, die wiederum in den Regionen direkt zu
empfangen sind. Im Fall der Berichterstattung über gesellschaftliche Organisationen
ist aus theoretischer Sicht die Frage von Interesse, wie das internationale Mediensystem auf die Stellung der „gemäßigten Opposition“ sowie der radikalen Organisationen wirkt und welche potentiellen Einflüsse sie damit auf keimende protodemokratische Strukturen auszuüben in der Lage ist.
Zum einen deuten die Daten zum Beispiel darauf hin, daß es radikalen Kräften
gelingen kann, über den Umweg der globalen Öffentlichkeit, zu der die deutsche
Nahostberichterstattung zählt, internationale Aufmerksamkeit zu erzielen, die es
ihnen etwa durch die genannten Kanäle, ihre politischen Zielsetzungen auch in ihren
Heimatländern auf die öffentliche Agenda zu setzen und dabei die in der Regel über
sie verhängten Meinungsäußerungsrestriktionen des autoritären Staates zu unterlaufen. Was sich hier andeutet, ist eine funktionale Symbiose zwischen demokratischen
westlichen Medien und radikalen Kräften in den Entwicklungsländern, zwischen der
Tendenz zur Konfliktberichterstattung und den Propagandainteressen radikaler Kräfte. Sowohl die Geschichte der PLO als auch die der kurdischen PKK, die sich am
palästinensischen Vorbild in starkem Maß orientiert, muß in weiten Teilen aus der
Perspektive einer bewußten Strategie beschrieben werden, durch Gewalt politische
Forderungen auf den Agenden der internationalen und rückwirkend auch der nationalen Medien dauerhaft zu etablieren.
Zum anderen sind die Daten zu Ägypten auch dahingehend interpretierbar, daß
die starke Präsenz radikaler Organisationen in westlichen Medien für die „gemäßigte
Opposition“ (in Ländern mit einer nicht-etablierten demokratischen Organisationskultur) negative Auswirkungen hat. Ihnen gelingt es nicht, der Unterdrückung des
autoritären Staates, die häufig nicht weniger stark ist als gegenüber den Radikalen,
über den Umweg der internationalen Medien zu umgehen, sondern sie geraten in
eine „Schweigespirale“ zwischen dem sie unterdrückenden autoritären Staat und
einer wenig interessierten internationalen Öffentlichkeit. Die politische Schwäche,
die der säkularen Opposition in Ägypten oft vorgeworfen wird, hat unterschiedliche
Ursachen und liegt primär im Versagen älterer Legitimationsprinzipien wie dem Arabischen Sozialismus oder Liberalismus begründet. Da jedoch moderne Politik ohne
228 Vgl. exemplarisch über Parteien und politische Clubs in arabischen Staaten: Sigrid Faath, Der
7.11.1987: Beginn einer „neuen Ära“ für die politische Opposition Tunesiens?, in: Polititische Opposition in Nordafrika, Themenheft der Zeitschrift Wuquf 12, Hamburg 1999, S. 155 ff.
142
Öffentlichkeitsarbeit nicht mehr denkbar ist, ist die Annahme berechtigt, daß auch
die internationale mediale Beachtung der „gemäßigten Opposition“ für den Erfolg
ihrer politischen Zielsetzung bedeutsam wäre.
143
6.
Qualitative Inhalts- und Theorieanalyse: das Nahost- und Islambild in der deutschen überregionalen Presse
Die qualitative Inhalts- und Theorieanalyse des Nahost- und Islambildes in der deutschen Presse basiert auf fünf Fallstudien zum Nahostkonflikt (Kap. 6.1), der Erdölkrise von 1973 (Kap. 6.2), der Iranischen Revolution von 1978/79 (Kap. 6.3), der
Rushdie-Affäre ab 1989 (Kap. 6.4) und der Algerienkrise ab 1991 (Kap. 6.5). Ziel
der Falluntersuchungen ist es, mit den Mitteln der kritisch-hermeneutischen Textanalyse Argumentationsgänge, Frames und andere Diskursmerkmale der Auslandsberichterstattung zu rekonstruieren, die mit prädefinierten Kriterien quantitativer Verfahren nicht erfaßbar sind. „Singuläre“ Faktoren eines Medienbildes – etwa
die Präsenz einer einzelnen populären Metapher oder eines Handlungsarguments am
entscheidenden Wendepunkt einer Krise – können ebenso bedeutsam sein wie diejenigen Aspekte eines Medienbildes, die in großer Häufigkeit und Kontinuität nachgewiesen werden (vgl. Kap. 4.2.1). Der Diskurs in einem Pressesystem in Bezug auf
einen anderen Untersuchungsraum kann nie in seiner Gesamtheit erfaßt werden. Aus
einer sach- wie theoriegeleiteten Dekonstruktion zentraler Argumentationen in politisch und zeithistorisch signifikanten Zusammenhängen – allein der Nahostkonflikts
vereint etwa jeden fünften Bericht über die Untersuchungsregion auf sich (Kap.
5.1.3) – lassen sich jedoch Aufschlüsse über den Stand der öffentlichen Debattenkultur im Teilbereich der Medien gewinnen.
6.1
Der Nahostkonflikt (1965-82)
Der Nahostkonflikt nimmt in der neueren Geschichte des Nahen und Mittleren Ostens eine zentrale Rolle ein. Eine scheinbar lokale Auseinandersetzung über die
Etablierung einer jüdisch-zionistischen Heimstätte auf dem ehemaligen Mandatsgebiet Palästina, über israelische Landnahme und palästinensische Vertreibung, Autonomie oder Staatlichkeit besaß und besitzt eine ausgeprägte regionale und internationale Dimension. Die Involvierung der Großmächte, der Vereinten Nationen und
zahlreicher anderer Staaten läßt darauf schließen, daß die internationale Medienberichterstattung im Rahmen ihres theoretisch beschriebenen Wirkungspotentials (Kap.
3.2.4.1.3) auf lokale, regionale und internationale Akteure und damit auf das Konfliktgeschehen selbst Einfluß nehmen kann. Das Verhältnis von Politik und Medien
im Nahostkonflikt hat insbesondere in den USA eine Reihe von wissenschaftlichen
Arbeiten beschäftigt (Kap. 4.1.3). In der Bundesrepublik Deutschland lag und liegt
der Forschungsschwerpunkt auf der Nahostberichterstattung als Bestandteil der politischen Kultur.
In der wissenschaftlichen Literatur sind hierbei zwei konträre Positionen zu erkennen. Einerseits wird behauptet, die deutsche nationalsozialistische Vergangenheit
144
habe die Perzeption Israels und der arabischen Staaten im Nahostkonflikt geprägt, da
eine pro-israelische Perspektive das Signum der um Ausgleich der historischen
Verbrechen an den Juden bemühten deutschen Öffentlichkeit geworden sei.229 Andererseits ist die Gegenthese formuliert worden, die deutsche Öffentlichkeitswahrnehmung Israels und der arabischen Welt sei durch eine pro-arabische und propalästinensische Position gekennzeichnet,230 wobei antisemitische oder antizionistische Ressentiments oder das soziopsychologische Entlastungsmoment eines negativen Israelbildes, in dem die Palästinenser zu Opfern der Holocaust-Überlebenden
geworden sind, im Vordergrund stehen.231 Trotz der konträren Aussagen basieren
beide Thesen auf einem analogen Ansatz zur Beschreibung der Wahrnehmung Israels und der Araber im Nahostkonflikt: Sie behaupten eine „mittelbare“ Perzeption
des Nahostkonflikts, die nicht (nur) von nationalen sowie System- und Blockinteressen und -ideologien oder gar völkerrechtlichen oder humanitär-moralischen Prinzipien getragen wird, sondern von einer in die Auslandsberichterstattung hineinwirkenden medialen Erinnerungskultur an den Holocaust/die Shoa.
In der folgenden Fallstudie soll nicht die Berichterstattung über den Nahostkonflikt als solches untersucht werden, sondern die mit der deutschen nationalsozialistischen Vergangenheit verbundenen Momente innerhalb der Konfliktberichterstattung.
Ähnlich wie in der Arbeit von Astrid Hub über das Israelbild in der deutschen Presse
ist eine Streuung entlang der chronologischen Längsachse über mehrere Jahrzehnte
vorgenommen worden,232 da eine Konzentration auf Einzelfälle (wie den Krieg von
1967) die Validität der Aussagen begrenzt. Die beschriebenen konträren Thesen zum
deutschen Medienbild sind das Ergebnis eines selektiven Zugriffs auf die Berichterstattung zu eng begrenzten Ereignissen, die dann als verallgemeinerbare Auslandsbilder der Presse interpretiert worden sind. Im Unterschied zu Hub wird in der vorliegenden Untersuchung jedoch nicht allein die Berichterstattung über Kriege zwischen Israel und den arabischen Staaten untersucht, sondern eine möglichst ausgeglichene Verteilung von Krisen-, Kriegs- und regulären politischen Ereignissen angestrebt, zumal andere Fallbeispiele zeigen, daß akute Krisensituationen teilweise Eigengesetzlichkeiten unterliegen (z.B. Anpassung an das politische System) und die
Medienberichterstattung in diesen Zeiten nicht unbedingt repräsentativ für den
Grundtenor einer Berichterstattung ist (Kap. 6.2.1 und 6.2.2.2 sowie 6.5.1 und
6.5.2.2). Zudem ist die Frage nach der historischen Dimension des Holocaust für die
Nahostberichterstattung dort am besten zu untersuchen, wo die deutsche Nahostpolitik profiliert hervorgetreten ist, was auf Grund der zweitrangigen internationalen
Machtposition der Bundesrepublik Deutschland typischerweise nicht in Kriegen,
sondern in der Pflege bilateraler Beziehungen in Nicht-Kriegszeiten der Fall war.
Die Untersuchungsschritte der Rekonstruktion und der Dekonstruktion I (Kap.
6.1.1) konzentrieren sich auf folgende historische Ereignisse im Zeitraum 1965229 Poschinger, Der Palästina-Konflikt.
230 Lichtenstein, Die deutschen Medien.
231 Martin W. Kloke, Israel und die deutsche Linke. Zur Geschichte eines schwierigen Verhältnisses,
Frankfurt 1990, S. 137-149.
232 Hub, Das Image Israels.
145
1982: geheime deutsche Waffenlieferungen an Israel 1965 (Untersuchung Februar,
März und Mai 1965); Israel-Besuche von Walter Scheel 1971 und Willy Brandt
1973 (Untersuchung Juli 1971/Juni 1973); Besuch des ägyptischen Präsidenten Anwar al-Sadat in Jerusalem 1977 (Untersuchung November 1977); Spannungen in
deutsch-israelischen Beziehungen, Schmidt-Begin-Kontroverse usw. 1979-82 (Schwerpunkt August/September 1979); Libanon-Invasion Israels 1982 (Untersuchung Juni/
Juli 1982).233 Die Untersuchung basiert auf Vollerhebungen der großen überregionalen Pressemedien (vgl. Kap. 4.2.3) in den genannten Monaten; dazwischen liegende
Ereignisse wie die großen Nahostkriege werden kursorisch oder mit Hilfe der vorhandenen Forschungsliteratur erschlossen.
Die Zusammenhänge zwischen dem Nahostkonflikt und Holocaust/Shoa in der
deutschen Presseberichterstattung werden im Arbeitsschritt der Dekonstruktion II
mit Hilfe der vorgestellten theoretischen Synopse aus Linkage- und Mediennutzungsforschung erörtert (Kap. 6.1.2.1). Im Vordergrund steht die Frage, wie innergesellschaftliche Anschlußdiskurse der Auslandsberichterstattung im konkreten Fall zu
beschreiben sind, welche Wirkungen sie insbesondere im journalistischen Text entfalten und welche gesellschaftlichen Einflußfaktoren bei home news abroad, foreign
news at home und verwandten Typen auf die Medienberichterstattung wirken (Kap.
6.1.2.2).
6.1.1 Re-Rekonstruktion und Dekonstruktion I: Nahostkonflikt
und Holocaust im Spiegel der Presseberichterstattung
Die unter dem Primat der Deutschlandpolitik entstandene Doppelstrategie, Israel
durch eine Kombination aus Wiedergutmachungsleistungen und geheimen Waffenlieferungen zum Befürworter der Westintegration der Bundesrepublik zu machen,
während zugleich die Nicht-Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Israel und die
„Hallstein-Doktrin“ den arabischen Staaten den Weg der Anerkennung der DDR
versperren sollte, scheiterte mit Bekanntwerden der deutschen Waffenlieferungen im
Jahr 1965. Die Reaktion der untersuchten Pressemedien war vor allem durch wachsenden Druck auf die Bonner Regierung zur Bereinigung der Krise gekennzeichnet.
Vom Verlag Axel Springer abgesehen, der sich in seiner Verlagsprogrammatik zur
Solidarität mit Israel verpflichtet hatte (Kap. 3.2.3.3), erstreckte sich dieser Druck
zunächst nicht auf die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zu Israel, wie sie
schließlich von der Bundesregierung beschlossen wurde. Im Vordergrund stand
vielmehr die Wiedergewinnung der außenpolitischen und insbesondere deutschlandpolitischen Handlungsfähigkeit nach dem Waffengeschäft, das als Fehler der Nahostpolitik Adenauers betrachtet wurde.234 Noch im Februar 1965, d.h. nur wenige
233 Die Reaktion auf die Massaker in den palästinensischen Flüchtlingslagern von Sabra und Shatila im
September 1982 ist nicht untersucht worden.
234 Vgl. Eghard Mörbitz, So fällt eine Bastion nach der anderen, FR 18.2.1965; Hermann Proebst,
Keine glückliche Hand, SZ 13./14.2.1965; Hans-Herbert Gaebel, Niederlagen ohne Ende, FR
17.2.1965; Rudolf Augstein, Die Wacht am Nil, Spiegel 10.2.1965; Um Teppichs Breite, Spiegel
146
Wochen vor der deutschen Willenserklärung zur Anknüpfung diplomatischer Beziehungen, thematisierte keine der untersuchten großen Zeitungen die Frage der Beziehungen zu Israel. Eine moralische Dimension der Politik als Resultat der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands wurde von den Printmedien zunächst nicht
erörtert. Im Gegenteil: Meldungen der Nachrichtenagenturen über „Empörung bei
amerikanischen Juden“ über den Abbruch der Waffenlieferungen wurden unkommentiert weitergeleitet,235 so daß kein Handlungsdruck zur Aufnahme diplomatischer
Beziehungen von der Presse auf die deutsche Politik ausging. Im Vordergrund stand
nicht die israelisch-jüdische Frage, sondern der drohende Ansehensverlust durch den
Besuch Ulbrichts in Ägypten. Lediglich Die Welt vertrat bereits Anfang Februar die
Position, daß die Bundesregierung die Waffenlieferungen einstellen und eine „würdige Form der Beziehungen zu Israel aufnehmen“ solle.236 Expressis verbis forderte
Die Welt erstmals am 24. Februar 1965, d.h. mehrere Monate nach Bekanntwerden
der Waffengeschäfte und erst zwei Wochen vor dem deutschen Regierungsbeschluß
zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Israel (7. März 1965). Es folgten
weitere Plädoyers, in denen unter anderem eine Zugehörigkeit Israels zum Westen
und ein gemeinsames antikommunistisches Interesse in Afrika und dem Vorderen
Orient behauptet wurde.237
Die Süddeutsche Zeitung, die Frankfurter Rundschau und die Frankfurter Allgemeine Zeitung schlossen sich diesem Tenor erst an, nachdem die Regierung Erhard ihre Entscheidung verkündet hatte.238 Inge Deutschkrons Annahme, wonach in
den sechziger Jahren die Mehrheit der Bevölkerung im Gegensatz zur Politik die
Anerkennung Israels forderte, läßt sich mit Blick auf die untersuchten Pressemedien
(mit Ausnahme der Welt) nicht bestätigen.239 Zwar hatten bereits in der ersten Hälfte
der sechziger Jahre verschiedene Initiativen der Jugendorganisationen von SPD und
FDP, der DGB, die Deutsch-Israelische Studiengruppe (DIS) oder Aktion Sühnezei-
235
236
237
238
239
17.2.1965; Tränen im Waldorf-Astoria, Spiegel 24.2.1965; Acht zu acht, Spiegel 10.3.1965; Rudolf
Stiege, Bitterer Preis, Welt 10.2.1965; Ernst-Ulrich Fromm, Realpolitik, Welt 15.2.1965; Albrecht
von Kressel, Nassers Salami, Welt 17.2.1965; Hans Schuster, Die teure Doktrin, SZ 3.3.1965; Beweglich geworden, F.A.Z. 16.2.1965; Keine Retourkutsche, F.A.Z. 20.2.1965; Werner Holzer, Bittere Frucht, FR 4.2.1965; Karl-Hermann Flach, Bis zur letzten Patrone, FR 20.2.1965; Mit allen Ehren, FR 25.2.1965; Hans-Herbert Gaebel, Der rote Teppich, FR 27.2.1965; Hans Reiser, Der Bonner Nahost-Jammer, SZ 16.2.1965; Des Pudels Kern, FR 19.2.1965; Stoßt nach, FR 23.2.1965;
Unwürdig, FR 6.3.1965.
SZ 20./21.2.1965.
Georg Schröder, Politik à la Vogel Strauß, Welt 9.2.1965.
Rudolf Stiege, Der Besuch in Kairo, Welt 24.2.1965; Bernd Nellessen, Führt kein Weg mehr nach
Jerusalem?, Welt 1.3.1965; Kurt Becker, Später, aber kühner Entschluß, Welt 8.3.1965; Eine große
Stunde, Welt 18.3.1965; Offene Karten, Welt 6.5.1965; Offenes Visier, Welt 13.5.1965; ErnstUlrich Fromm, Neuer Anfang in Nahost, Welt 14.5.1965; Bernd Nellessen, „Sind wir noch Juden?“,
Welt 15.5.1965; Ernst-Ulrich Fromm, Zwischen Jahwe und Allah, Welt 15.5.1965.
Das Streiflicht, SZ 9.3.1965; Albert Wucher, Die deutsch-israelischen Beziehungen, SZ 13.5.1965;
Das Streiflicht, SZ 22.3.1965; Kompromiß, F.A.Z. 8.3.1965.
Inge Deutschkron, Israel und die Deutschen. Zwischen Ressentiment und Ratio, Mit einem Geleitwort von Asher Ben-Nathan, Köln 1970, S. 211; vgl. a. Fußntote 95.
147
chen von Teilen der Presse begleitet die Anerkennung Israels gefordert.240 Doch in
der entscheidenden Situation des Frühjahrs 1965 stand die Frage erst nach dem politischen Beschluß zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen auf der Medienagenda.
Jetzt allerdings vollzogen die Zeitungen eine inhaltliche Wende, und anstelle der
Konzentration auf die deutsch-arabischen Beziehungen im Kontext der Deutschlandfrage wurde nun die Verbindung zum Holocaust-Diskurs gesucht. Die Süddeutsche
Zeitung urteilte pathetisch: „Wer dich schlug, wird dich heilen“;241 Der Spiegel und
die Frankfurter Allgemeine Zeitung begrüßten die Entscheidung nüchterner, da sie
nicht auf Grund moralischer Erwägungen zustande gekommen war (die allerdings
auch in der Presse, wie gesehen, bis dahin kaum eine Rolle gespielt hatten), sondern
das Resultat politischer Strategieüberlegungen war.242 Zum Teil wurde sogar bedauert, daß die moralische Bindung der Außenpolitik unter Druck erfolgt war.243
Im Gegensatz zur lange währenden Indifferenz der Presse gegenüber einer Verbindung von Außenpolitik und Holocaust-Diskurs wurden ethisch-moralische Bindungen an das Volk Israels früher und vorbehaltloser bejaht, und das Bild der israelischen Bevölkerung in großen Pressemedien war durchgehend positiv. Die jüngere
bereits in Israel geborene und aufgewachsene Generation wurde als selbstbewußt
und zukunftsorientiert beschrieben. Sie war in der Lage, so hieß es, selbst die jüdische Vergangenheit in Deutschland überraschend ausgewogen zu beurteilen und das
Verhältnis zu den Deutschen neu zu gestalten.244 Die deutsch-arabischen Beziehungen wurden, ebenfalls aus der Perspektive der nationalsozialistischen Vergangenheit,
als eine Verkettung krisenhafter Ereignisse, amoralischer Allianzbildungen aus der
240 Jekutiel Deligdisch, Die Einstellung der Bundesrepublik Deutschland zum Staate Israel. Die Zusammenfassung der Entwicklung seit 1949, Bonn-Bad Godesberg 1974, S. 90-92.
241 Albert Wucher, Aufbruch nach Israel, SZ 14.5.1965. Wilhelm Saekel: „Die Aussichten auf eine
Normalisierung unseres Verhältnisses zu Israel sind jedenfalls nicht schlecht: Auf Normalisierung
auch und gerade in dem Sinne, daß wir einen Schritt vom Schuldkomplex wegkommen und, bei aller weiterhin gebotenen Berücksichtigung unserer moralischen Verpflichtungen, eine politisch reale
Partnerschaft zwischen Staat und Staat erreichen“ (Wilhelm Saekel, Die Krise beginnt erst, SZ
10.3.1965). Die Frankfurter Rundschau sprach von „Freundschaft zwischen beiden Ländern“ und
von einem „gemeinsame(n) Schicksal“ der Deutschen und der Israelis. Eghard Mörbitz, Die Zeit
war überreif, FR 14.5.1965; vgl. a. Eghard Mörbitz, Noch viele Hindernisse müssen überwunden
werden, FR 13.5.1965.
242 Hermann Schreiber: „Eine neue Ära, so wollte es scheinen, war endlich angebrochen in den Beziehungen zwischen Deutschland und Israel. Und doch war die Stimmung des längst erhofften Neubeginns nicht Freude und Erleichterung, sondern Zweifel und Traurigkeit. Denn nicht Versöhnung hat
diesen Neubeginn zustande gebracht, sondern unerwünschte Notwendigkeit, nicht Moral, sondern
kärgliche Realpolitik.“ Hermann Schreiber, „Warum singst Du nicht das Deutschlandlied“, Spiegel
24.3.1965.
243 Frankfurter Allgemeine Zeitung: „In dieser Politik ist ein kräftiger Einschuß moralischer Verpflichtung. Das wissen wir, und wir erkennen das an. Aber gerade weil das so ist, hoffen wir, daß uns das
Bewußtsein freier Anerkennung moralischer Verpflichtungen nicht abhanden kommt, uns nicht genommen wird“ (Hoffnung, F.A.Z. 12.3.1965). Den Bundestagsabgeordneten Kurt Birrenbach, der
die Verhandlungen mit Israel leitete, nannte die Frankfurter Allgemeine Zeitung einen „Sühneprinzen“ (Isolierung, F.A.Z. 13.3.1965). Nach der Zustimmung Israels zur Aufnahme der Beziehungen
zur Bundesrepublik hieß es, daß es „weder anständig noch klug“ gewesen sei, gehofft zu haben, daß
Israel seine Einwilligung verweigern würde. Der nahöstliche Knoten, F.A.Z. 15.3.1965.
244 Junge Leute in Israel, Stern 2.3.1965.
148
Zeit des Nationalsozialismus (zwischen Hitler und dem Großmufti von Jerusalem,
Amin al-Husseini) und illegitimer Waffengeschäfte dargestellt. Ähnlich wie im Fall
Eichmann, so argumentierte der stern, war es das vordringliche Ziel der Ägypter,
„die Juden zu vernichten“.245 Analog dem in den sechziger Jahren verbreiteten Nasser-Hitler-Vergleich suggerierte der Stern, daß die deutsch-arabischen Beziehungen
ein Rudiment der nationalsozialistischen Vergangenheit waren und in einer Tradition
standen, wie sie in der Bundesrepublik Deutschland allenfalls von rechtsradikalen
Kräften weitergeführt wurde. Im Pressediskurs wurde eine Dreiecksbeziehung erkennbar, wobei die historisch bedingte Aufwertung des israelischen Völkerbildes
eine umgekehrt proportionale Abwertung des Araberbildes auslöste – was sich, wie
gesehen, auch im nahezu vollständigen Abbruch des orientalischen Unterhaltungsgenres in der Presse niederschlug (Kap. 5.1.2).
Mit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Israel, dem Abbruch der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und einer Reihe arabischer
Staaten, mit der neuen Unterstützung der Moralbindung der deutschen Nahostpolitik
durch weite Teile der Presse und die Sympathie für Israel bzw. Antipathie gegenüber
den Arabern waren die Voraussetzungen für die deutsche Pressereaktion während
des „Sechstagekrieges“ von 1967 gelegt, wie sie Kenneth Lewan untersucht hat (vgl.
Kap. 4.1.1). Die Verknüpfung der aktuellen Krisensituation mit der HolocaustVergangenheit verstärkte sich nach dem Ausbruch des Krieges. Auschwitz und Israel, so hieß es in der Presse, waren untrennbar miteinander verbunden, und der Krieg
drohte demnach zu einer Wiederholung der Vernichtung der Juden zu werden.246
Sowohl Lewan als auch Friedemann Büttner haben darauf hingewiesen, daß in der
deutschen Medien- und Öffentlichkeitsreaktion während des Sechstagekrieges neben
starken Anleihen an der nationalsozialistischen Geschichte zugleich Elemente der
deutschen nationalistisch-militaristischen Vergangenheit zum Tragen kamen. Israels
Soldaten wurden zu Helden mit deutschen Tugenden: Israel wurde als ein kleines
und nominell unterlegenes Land betrachtet, das sich in einem „Blitzkrieg“247 mittels
Überraschungsangriff und moderner Kriegsführung durchsetzte. Israel konnte demnach zeigen, daß es nicht allein in der Opferrolle verharrte, sondern – im Gegensatz
zur jüdischen Passivität im „Dritten Reich“ – bereit war, für die Nation das Leben
einzusetzen.248 Deutlich wurde in der Pressereaktion auf den Krieg, daß die seit 1965
in der Presse akzeptierte legitimatorische Bindung der Bundesrepublik Deutschland
an Israel zu einer pro-israelischen Perspektive im Nahostkonflikt führte, wie sie in
den Jahren und Jahrzehnten zuvor nicht beobachtet werden konnte.249
245 Gerhard E. Gründer, Was heißt „Freundschaft“ auf arabisch?, Stern 9.3.1965; Wie man sich Freunde macht: Deutschland und die arabische Welt, Stern 9.3.1965.
246 Lewan, Der Nahostkrieg, S. 87.
247 Vgl. Blitz-Feldzug: Tötet, tötet, Spiegel 12.6.1967.
248 Lewan, Der Nahostkrieg, S. 134 ff.; vgl. a. Büttner, German Perceptions, S. 66-81.
249 Die Berichterstattung war so einseitig, daß der damalige israelische Botschafter Asher Ben-Natan
der deutschen Presse nach dem Krieg zu ihrer Berichterstattung gratulierte. Lewan, Der Nahostkrieg, S. 7.
149
Der Sechstagekrieg war jedoch zugleich ein Höhe- und ein Wendepunkt der Verbindung der Themen Nahostkonflikt und Holocaust in der deutschen Presse. Unmittelbar nach Kriegsende veröffentlichte Karl-Heinz Janßen in der Zeit einen ungewöhnlichen Beitrag „Berlin ist nicht Jerusalem“ mit dem Untertitel „Der falsche Philosemitismus als Vergangenheitsbewältigung“.250 Der Artikel war eine Kritik an der in
der deutschen Presse verbreiteten Betrachtung des Nahostkonflikts aus der Perspektive der Holocaust-Vergangenheit und der hieraus resultierenden Fehlurteile.251 Bereits Ende 1965 hatte Eleonore Sterling in der Zeit eine ähnliche Kritik veröffentlicht, die damals jedoch gegen die Strömung der zunehmenden Israelsolidarität gerichtet war.252 Seit den späten sechziger Jahren waren Zeichen für eine Entkopplung
der Themen zu erkennen, die exemplarisch anhand der Presserezeption der Israelreisen von Willy Brandt und Walter Scheel zu verdeutlichen sind. In der frühen Phase
der Kanzlerschaft Willy Brandts, nachdem dieser das Prinzip der „Ausgewogenheit“
der deutschen Position im Nahostkonflikt geprägt hatte, fand die Idee einer Wiederannäherung an die arabische Welt in der untersuchten Presse größere Resonanz.
Anläßlich einer Israelreise Scheels 1971 wurde nach wie vor der besondere Charakter deutsch-israelischer Beziehungen vor dem Hintergrund der Geschichte des Nationalsozialismus betont, zugleich jedoch der Wunsch vor allem der jüngeren Generation nach einer neuen „Unbefangenheit“ bei der Beurteilung der Lage in Nahost
geäußert, was gerade bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung an der Zurückhaltung
anknüpfte, mit der sie 1965 der historischen Moralbindung der deutschen Nahostpolitik begegnet war.253 Als Brandt während seiner Israel-Reise im Juni 1973 davon
sprach, die Bundesrepublik Deutschland strebe keine „Neutralität des Herzens“ gegenüber Israel an, wolle zugleich jedoch zu den Arabern nicht mit „gespaltener Zunge“ reden und somit de facto eine Trennung der moralisch-emotionalen deutschisraelischen Sonderbeziehung vom Nahostkonflikt und den deutsch-arabischen Beziehungen einleitete, wurde dies in der untersuchten Presse begrüßt. Die großen
konservativen und liberalen deutschen Pressemedien bewerteten den Besuch Brandts
positiv.254 Mit dem Abstand von mehr als zehn Jahren wurden im Jahr 1975 sogar
250 Karl-Heinz Janßen, Berlin ist nicht Jerusalem, Zeit 7.7.1967.
251 Karl-Heinz Janßen: „Zweimal haben wir Deutschen in diesem Jahrhundert versucht, auf eigene
Faust Politik zu machen; zweimal haben wir dabei fürchterliche Prügel bezogen. Und jetzt sollen
wir uns von denkfaulen Schablonenschreibern in ein drittes Abenteuer hineinjagen lassen − von
Leuten, deren Judenhudelei in just dem Augenblick ins Kraut schießt, da die Israelis sich aufführen
wie die Deutschen in einer noch immer unbewältigten, erschreckend gegenwärtigen Vergangenheit“. Ebenda.
252 Eleonore Sterling, Judenfreunde − Judenfeinde. Fragwürdiger Philosemitismus in der Bundesrepublik, Zeit 10.12.1965.
253 Harald Vocke: „Denn so unbestreitbar der besondere Charakter der deutsch-israelischen Beziehungen im Licht der Vergangenheit ist, so unverkennbar ist andererseits in der Bundesrepublik der
Wunsch der jüngeren Generation, auch die politische Lage im Mittleren Osten allmählich mit unbefangenerem Blick zu betrachten. (...) Die alte deutsche Schuld kann nicht allein die Politik der Bundesregierung gegenüber den Völkern des Mittleren Ostens bestimmen.“ Harald Vocke, Scheels Reise nach Israel, F.A.Z. 6.7.1971.
254 Vgl. u.a. Moshe Tavor, Der Staatsbesuch des deutschen Bundeskanzlers in Israel, F.A.Z. 7.6.1973;
Hans-Joachim Noack, Kein Schritt des Kanzlers bleibt unbeobachtet, FR 8.6.1973; Hans Ulrich
150
die geheimen Waffenlieferungen der Bundesrepublik Deutschland an Israel als „Erpressung“ bezeichnet und Die Zeit vermerkte, daß „Bonn mit Auschwitz nicht mehr
erpreßbar“ sei.255
Einen Gegenpol zu den anderen untersuchten Medien stellte die Presse des
Springer-Verlags, hier in Form ihres politischen Leitorgans Die Welt, dar. Die Welt
war kein prinzipieller Gegner der Wiederaufnahme der Beziehungen zu den arabischen Staaten, machte diese jedoch von zwei Bedingungen abhängig, die die Dekkungsgleichheit der Springer-Position mit der offiziellen Haltung Israels belegten.
Die Wiederaufnahme der Beziehungen sollte ohne Vorbedingungen vollzogen werden und die deutsche Regierung sich zu keinen Konzessionen an die arabische Position im Nahostkonflikt bereit finden.256 Die Beziehungen zu den arabischen Staaten
sollten sich zudem von denen zu Israel grundlegend unterscheiden, insofern erstere
nicht als „normal“ bezeichnet werden durften, während letztere auch weiterhin unter
dem moralischen Primat der deutschen Vergangenheit zu betrachten waren, was aus
Sicht der Welt eine aktiv pro-israelische Haltung implizierte.257 Die Welt unterschied
sich von den anderen Zeitungen dadurch, daß in ihr keine minimalistische, auf das
Existenzrecht Israels fixierte Position aus der deutschen Vergangenheit abgeleitet
wurde, sondern eine maximalistische politische Allianz, die sinnfällig im Begriff der
„Achse“ Washington-Bonn-Tel Aviv zum Ausdruck kam.258 Nachdem mit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und
Israel 1965 ein wesentliches Etappenziel Axel Springers erreicht war, strebte Die
Welt an, zu Israel eine Sonderbeziehung zu etablieren, was nach dem Vorbild der
amerikanisch-israelischen Beziehungen bedeutete, daß im Nahostkonflikt ausnahmslos Positionen vertreten werden sollten, die einvernehmlich zwischen Bonn und Tel
Aviv vereinbart wurden. Eine solche maximalistische Position fand außerhalb des
Verlagshauses Springer in den untersuchten Beiträgen keine Resonanz in der bundesrepublikanischen Presse.259
255
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258
259
Kempski, Wo Freundschaft noch wie Gnade ist, SZ 9.6.1973; Hans-Joachim Noack, In Herzlia wurde Willy Brandt auch vom Volk angenommen, FR 10.6.1973; Manfred Schröder, In Nahost bleibt
Bonn beweglich, SZ 13.6.1973; Israel und wir, F.A.Z. 12.6.1973; Dietrich Strothmann, Historische
Last − akute Bürde, Zeit 8.6.1973. Mit gegenteiligem Tenor vgl. Georg Schröder, Bilanz einer
schwierigen Reise, Welt 13.6.1973; Hermann Schreiber, „Bestimmt kein böser Deutscher − leider“,
Spiegel 18.6.1973.
Dietrich Strothmann, Wenn die Schatten kürzer werden, Zeit 28.11.1975.
Eine Antwort an Hassouna, Welt 16.5.1968.
Peter Meyer-Ranke, „Normale“ Beziehungen mit den Arabern?, Welt 12.2.1970; Axel Springer,
Israel ist nicht irgendein Staat, Welt 27.3.1971; Peter Meyer-Ranke, Der „Preis“ für neue Beziehungen zu den arabischen Staaten, Welt 19.11.1971.
Heinz Schewe, Besorgt fragt Israel nach der deutschen Nahost-Politik, Welt 20.1.1970.
Die Wirtschaftspresse war ein Gegenpol zu den Springer-Medien. Registrierte die Wirtschaftspresse
in den ersten Jahren nach dem deutsch-arabischen Bruch von 1965 noch gleichbleibend gute Handelsbeziehungen, machten sich danach langsam Verschlechterungen bemerkbar, was zu Kritik an
den konservativen Regierungen von Adenauer bis Kiesinger führte (vgl. Albert Pfeifer, Politik
schlecht, Handel gut, HB 12.12.1968; Rolf Breitenstein, Die Passiva der Nahost-Bilanz, DV
13.6.1969). Spätestens seit Sommer 1969 wurden in der Wirtschaftspresse Forderungen nach einer
„neue(n) außenpolitische(n) Konzeption“ laut (Arabien-Politik, HB 2.7.1969). Das Brandtsche
Prinzip der „Ausgewogenheit“ wurde von der Wirtschaftspresse aufgenommen und zum Teil im
151
Allerdings waren auch außerhalb der Presse des Springer-Verlags in der ersten Hälfte der siebziger Jahre noch Grenzen des Wandels im Medienbild zu erkennen. Die
zunehmende Neutralität der Berichterstattung stand häufig weiterhin unter einem aus
der nationalsozialistischen deutschen Geschichte abgeleiteten Kritikvorbehalt gegenüber Israel. Ein von der EG 1971 verfaßtes Positionspapier zum Nahostkonflikt, das
in Israel vor allem deswegen auf Ablehnung gestoßen war, weil dessen französische
Fassung von einem Rückzug von allen besetzten Gebieten sprach, während die englische Fassung sich nicht auf den Umfang des Gebietsrückzuges festlegte, wurde in
der Presse als zu weitgehend abgelehnt.260 Der Entschluß, die englische Version zu
unterstützen, war zwar nicht gleichbedeutend mit der von der Welt geforderten Unterordnung unter Israels Selbsteinschätzung des Nahostkonflikts,261 aber er bedeutete
einen Verzicht auf ein offensives Eintreten für parteiübergreifende Völkerrechtspositionen gegenüber Israel (Teilung Palästinas und Zwei-Staaten-Lösung).262
Mit Blick auf die späten sechziger und die erste Hälfte der siebziger Jahre wurde
damit insgesamt deutlich, daß die Presse die „demonstrative Normalität“, wie Michael Wolffsohn die Haltung der Bundesregierung seit spätestens 1973 bezeichnet,263
zunächst nur in Teilen nachvollzog, zumal diese Politik auch Kritik an Israel (etwa
Protest gegen amerikanische Waffenlieferungen an Israel über deutsches Territorium
im Oktoberkrieg 1973) einschloß. Zwischen der deutschen Außenpolitik und dem
Tenor der untersuchten Pressebeiträge entstand eine Kluft in der Sicht des Nahostkonflikts. Die Presse reagierte mit vergleichsweise „zurückhaltender Normalität“,
d.h. ohne den Israelzentrismus bei der Beurteilung des Nahostkonflikts und den proisraelischen Pathos des Jahres 1967, jedoch auch weitgehend ohne Kritik an der
Politik Israels und ohne offensives Eintreten für parteiübergreifende Völkerrechtspo-
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Sinn der arabischen Interpretation der Resolution 242 von 1967 ausgelegt, wonach der Rückzug Israels von allen besetzten Gebieten mit der arabischen Anerkennung Israels verbunden war. Dabei
definierte jedoch auch das Handelsblatt gute Beziehungen zu Israel als Grenze bundesrepublikanischer Nahostpolitik: „Niemand denkt in Bonn jedoch daran, gute Beziehungen zu den Arabern mit
schlechten zu Israel eintauschen zu wollen“. Joseph Maria Hunck, Konstruktive Nahostpolitik, jedoch ohne Illusionen, HB 16.1.1970; vgl. a. Georg Gusmann, Komplizierte Nahostpolitik, HB
4.2.1970.
Dietrich Strothmann, Auf schmalem Grat, Zeit 9.7.1971; Theo Sommer, Zwischen zwei Feuern,
Zeit 16.7.1971; Hans Heigert, Israels verkehrtes Mißtrauen, SZ 14.7.1971; Reinhard Appel, Bonns
kontroverse Nahostpolitik, SZ 15.7.1971; Reinhard Appel, Kairo ist am Zug, SZ 10.9.1971.
Dieter Cycon, Bonner Israel-Politik ohne Augenmaß, Welt 10.7.1971; Peter Meyer-Ranke, Hält
Bonn zu David, schlägt es sich zu Goliath?, Welt 12.7.1971; Peter Meyer-Ranke, Bonn demonstriert Neutralität, Welt 27.12.1971.
Diese Einschätzung deckt sich mit der Untersuchung von Sami Musallam über die deutsche Pressereaktion auf den „Oktoberkrieg“ von 1973, in der er feststellt, daß die Notwendigkeit eines israelischen Rückzugs von den besetzten Gebieten bereits erwogen wurde, das Selbstbestimmungsrecht
der Palästinenser (und damit zusammenhängend, die Frage der Staatlichkeit oder der Vertretung
durch die PLO) hingegen weitgehend unreflektiert blieben. Musallam, Zum Araberbild, S. 274, 299.
Wolffsohn setzt den Beginn der „demonstrativen Normalität“ mit dem „Oktoberkrieg“ an, denkbar
ist hingegen auch, ihn bereits im Jahr 1969 mit der neuen Politik der „Ausgewogenheit“ oder 1971
mit der Ausarbeitung des EG-Nahostpapiers anzuberaumen. Michael Wolffsohn, Ewige Schuld? 40
Jahre deutsch-jüdisch-israelische Beziehungen, München/Zürich 1988 (2. Aufl.), S. 38-43.
sitionen. Die Verbindung der Themen des Nahostkonflikts und des Holocaust bestand damit in abgewandelter Form weiter fort.
Im weiteren Verlauf der siebziger Jahre allerdings kam es zu einer Veränderung
der politischen Rahmenbedingungen der Medienberichterstattung, die eine fortschreitende Trennung der Themen begünstigte. Während in der ersten Jahrzehnthälfte Ereignisse wie das Attentat auf die israelischen Sportler während der Olympischen
Spiele in München 1972 die Terrorismusfrage ins Zentrum der Aufmerksamkeit
rückte, war die zweite Hälfte geprägt von der Friedenspolitik des ägyptischen Präsidenten Anwar al-Sadat und dem Friedensschluß in Camp David. Zwischen der Perzeption der Person und Politik Sadats und der langsam wachsenden Kritikfähigkeit
der deutschen Presse gegenüber Israel bestand ein zeitlicher Zusammenhang, der
wahrscheinlich auch ein kausaler Zusammenhang war, da durch die Politik das zentrale Motiv der Verbindung der Themen Nahostkonflikt und Holocaust zunehmend
obsolet wurde: Sadats Friedenspolitik (wie auch seine offensive Öffentlichkeitsarbeit264) verringerte die Angst vor einer „Wiederholung“ des Holocaust und der Bedrohung Israels und der Juden. Als Sadat während eines Deutschlandbesuchs im
April 1976 davon sprach, daß der „Schuldkomplex“ der Deutschen in den arabischen
Staaten konkretes Leid mitverursachte, wurde dies in der Zeit wie folgt kommentiert:
„Die Verpflichtung auf die Existenz des Staates Israel kann freilich niemals heißen:
Verpflichtung auf dessen heutige, auf die Eroberungen von 1967 zurückgehenden
Grenzen. Dies ist erst in letzter Zeit für alle deutlich sichtbar gemacht worden; es ist
ein Teil der neudefinierten Ausgewogenheit. Sie gestattet es uns, ja nötigt uns, für
die Rechte der Israelis zu plädieren, nachdrücklich aber auch für die Rechte des
leidenden palästinensischen Volkes einzutreten.“265 Während in den Jahren zuvor
häufig der Haß zwischen Juden und Arabern ein Leitmotiv der Berichterstattung
darstellte, bewirkte die Reise Sadats nach Jerusalem im November 1977 in der deutschen Presse einen Richtungswandel dergestalt, daß nunmehr die Gemeinsamkeiten
zwischen den beiden „Völkern Abrahams“ in den Mittelpunkt rückten.266 Die Aufwertung des Araberbildes im Umfeld des Sadatbesuchs und der neuen Tendenz einer
Konzentration des Medieninteresses auf Gemeinsamkeiten zwischen Arabern und
Israelis wirkte sich stellenweise auch auf eine Neubewertung der Beziehungen zwischen Arabern und dem Nationalsozialismus aus, die noch in den sechziger Jahren
264 Koschwitz, Massenmedien und publizistische Propaganda, S. 350 ff.; Kunczik, Images of Nations,
S. 166-171; M. Abdel-Kader Hatem, Information and the Arab Cause, London 1974.
265 Dietrich Strothmann, Salut für Sadat, Zeit 2.4.1976.
266 Der Spiegel: „Tatsächlich haben die zwei semitischen Völker trotz aller Kriege viel Gemeinsames:
Juden wie Araber reagieren oft hitzköpfig, übertreiben gerne in Glück und Leid. Sie lieben ihre traditionellen Gemeinschaften, sind noch mutig, weil überzeugt, auserwählte Völker zu sein, sie blikken stolz auf einstige Blütezeiten zurück“ („All die perversen Helden“, Spiegel 28.11.1977). Frankfurter Allgemeine Zeitung: „(Der) blinde Haß, der viele Araber jahrelang dazu trieb, mit immer neuer Wut gegen die Existenz des Judenstaates Amok zu laufen, wird sich am Nil künftig mildern“. Ein
Sieg Sadats, F.A.Z. 21.11.1977; vgl. a. Wolfgang Stockklausner, In Kairo sind die Alltags-Sorgen
erst einmal vergessen, FR 21.11.1977; Wilhelm Körber, Ägypten schwankt zwischen Zorn und
Freude, Welt 21.11.1977; Wolfgang Stockklausner, Ägypten nimmt die arabische Kritik kaum zur
Kenntnis, FR 23.11.1977.
153
vielfach als Problembereich der deutsch-arabischen Freundschaft aufgefaßt worden
war. Der Spiegel erwähnte 1977, daß Gamal Abd al-Nasser, der zu seinen Lebzeiten
vielfach mit Hitler verglichen und dem Judenfeindschaft nachgesagt worden war,
noch im Jahr 1963 zur Einweihung des letzten ägyptischen Oberrabbiners, Chaim
Duweik, in einer Kairiner Synagoge erschienen war und daß sich die Beziehungen
zwischen Ägyptern und Juden mehrheitlich erst im Krieg von 1967 (wie auch während vorangegangener Kriege) soweit verschlechterten, daß Juden in großer Zahl aus
Ägypten auswandern mußten, was den historischen Tatsachen entsprach.267 Lediglich
Die Welt änderte ihre Berichterstattung auch anläßlich des Jerusalem-Besuchs von
Sadat kaum. Die Zeitung ging davon aus, daß der Besuch zwar ein Signal der Versöhnung setzte, jedoch nicht in der Lage sein würde, den Haß der Araber auf die
Israelis zu verringern, während Israel seinerseits „nie den Krieg gegen seine Nachbarn gesucht“ hatte.268
Die Vorstellung, daß deutsche Haltungen zum Nahostkonflikt, zu Israel und den
arabischen Staaten sich primär an den Maßgaben der nationalsozialistischen Vergangenheit orientieren sollten, läßt sich noch in der Presseberichterstattung der späten
siebziger und frühen achtziger Jahre nachweisen.269 Das politische Milieu für entsprechende Anschauungen wurde jedoch zunehmend ungünstiger, da die Regierung
Helmut Schmidt in ihrer letzten Amtszeit eine durch zahlreiche Spannungen geprägte
Beziehung zu Israels Likud-Regierung unter Menachem Begin pflegte. Die offizielle
deutsche Kritik nahm zu, als nach dem Abschluß des Abkommens von Camp David
erkennbar wurde, daß die Flexibilisierung der israelischen Position gegenüber Ägypten mit wachsender Intransigenz gegenüber den Palästinensern und dem Libanon
korrespondierte. In der Presse entstand in diesen Jahren eine langwierige Debatte
über die Grundlagen der deutschen Beziehungen zu Israel, den arabischen Staaten
und über die deutsche Haltung zum Nahostkonflikt. Deutlicher als zuvor kam hier
die Forderung nach einer Trennung der Sphären historisch-moralischer Verpflichtung und politischer Rationalität im Nahostkonflikt zum Vorschein: eine Prämisse,
die anders als noch in den frühen siebziger Jahren die Grundlage zur Kritikfähigkeit
auch gegenüber Israels Verhalten im Nahostkonflikt darstellte.
Kritische Äußerungen von Bundeskanzler Schmidt in einem Interview mit der Jerusalem Post sowie wenige Wochen später in einem Treffen von Bruno Kreisky und
Willy Brandt mit Yasser Arafat lösten in Israel Gegenreaktionen und in der deutschen Presse eine Debatte aus. Aus Sicht der Zeit war durch die restriktivere israeli267 „All die perversen Helden“, a.a.O. Zur historischen Entwicklung vgl. Gudrun Krämer, Minderheit,
Millet, Nation? Die Juden in Ägypten 1914-1952, Wiesbaden 1982.
268 Manfred Rowold, Die Reise nach Jerusalem, Welt 17.11.1977.
269 Harald Vocke von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung etwa gab Abba Ebans Einstufung der
israelischen Grenzen von 1967, die der ehemalige israelische Außenminister als „AuschwitzGrenzen“ bezeichnete, nicht nur wider, sondern schloß sich der Ansicht an, daß ein Rückzug von
den besetzten Gebieten gegen die Sicherheitsinteressen Israels verstießen. Dem Kabinett Schmidt
warf Vocke vor, „kaum mehr verläßliche Freunde“ Israels aufzuweisen, sondern statt dessen die Erinnerung an das Attentat während der Olympischen Spiele von 1972 zu verdrängen und Erdölinteressen den Vorrang zu geben. Harald Vocke, Israel will keine „Auschwitz-Grenzen“, F.A.Z.
29.6.1979.
154
sche Politik gegenüber den Palästinensern die moralische Bindung Deutschlands an
Israels Nahostpolitik zu einem Zwangsmechanismus geworden. Den Deutschen wurde demnach ein „schlechtes Gewissen“ abverlangt, das gegen die kritische Vernunft
gerichtet war, obwohl eine überzeugte Solidarisierung unter den gegebenen Bedingungen nicht mehr möglich war. Die Kopplung der moralischen Bindung an das
Verhalten Israels gegenüber den Palästinensern bedeutete, daß letztere nunmehr als
indirekte Opfer des deutschen Nationalsozialismus betrachtet wurden.270
An den Reaktionen der Presse auf die Zusammenkunft des FDP-Bundestagsabgeordneten Jürgen Möllemann mit Yasser Arafat im August 1979271 und die nachfolgende Nahostreise des Außenministers Hans-Dietrich Genscher wurde erkennbar,
daß die moralische Bindung der Bonner Nahostpolitik an Israel nicht mehr konsensfähig war, sondern primär von konservativen und rechtskonservativen Pressemedien
(außer der Wirtschaftspresse) gefördert wurde, was aber außerhalb der SpringerPresse weniger der Überzeugung entsprang, als vielmehr einer grundsätzlichen Opposition gegenüber der sozialliberalen Regierungskoalition.272 Liberale und linksliberale Medien hingegen, die noch anläßlich der Reise Brandts 1973 Bedenken hinsichtlich einer zu frühen Belastung der noch jungen deutsch-israelischen Beziehungen geäußert hatten, erklärten Israel zunehmend zum Objekt der Kritik. Theo Sommer: „In den zurückliegenden Monaten ist die Nahostpolitik der Bundesregierung
schärfer konturiert worden als je zuvor – und in einer Weise, die verdeutlicht, daß
der Gedanke an die Nazi-Vergangenheit Westdeutschlands Staatsmänner nicht mehr
270 Theo Sommer, Israel und wir, Zeit 13.7.1979; Kurt Becker, Israels Mißtrauen gegen Bonn, Zeit
17.8.1979. Die sich wandelnde Haltung gegenüber Israels Position in der Nahostpolitik machte sich
auch sprachlich-stilistisch bemerkbar. Der ironisch-sarkastische Stil des Spiegel, mit dem bereits
seit Jahrzehnten über Araber und arabische Staaten berichtet wurde, schloß nunmehr auch Israel mit
ein, was gleichfalls als Zeichen einer Normalisierung der Berichterstattung gewertet werden kann.
In einem Bericht über israelische Reaktionen auf das Treffen zwischen Arafat, Brandt und Kreisky
sprach Der Spiegel etwa vom „aufgebrachte(n) Begin“, der sich „lauthals“ über Kanzler Schmidt
„ereiferte“ oder von einer „Woge heiligen Zorns in Israel“ begleitet wurde. Schärfere Gangart, Spiegel 16.7.1979.
271 Bernt Conrad, Helmut Kohl: Freundschaft zu Israel nicht gefährden, Welt 17.8.1979; Bernt Conrad,
Voller Mißtrauen verfolgt Israel die deutsche Nahost-Politik, Welt 22.8.1979; Friedhelm Kemna,
Zwischen Öl und Treibsand, Welt 4.9.1979; Paul Lersch, Auf dem Sofa die Lage erkannt, Spiegel
13.8.1979; Ein wenig weinerlich, Spiegel 20.8.1979.
272 Die Frankfurter Allgemeine Zeitung wurde zur gleichen Zeit zum Forum von israelischen und
anderen Stimmen, die sich kritisch gegenüber der Bonner Nahostpolitik äußerten. Beiträge der Jerusalem Post, in denen unter anderem Schmuel Katz, ein ehemaliger Mitarbeiter Begins, die Meinung
geäußert hatte, daß sich die Bundesrepublik durch die Kontakte verschiedener Politiker mit der
PLO mit „‘Hitlers Erben’“ verbündete, wurden ebenso ausführlich wiedergegeben wie die Ergebnisse einer Studie des Jüdischen Weltkongresses über die deutsche Presse, in der dieser attestiert wurde, aus Angst um die deutsche Erdölversorgung die Erinnerung an Auschwitz zu verdrängen (Die
Bundesrepublik und die „Erben Hitlers“, F.A.Z. 8.9.1979; „Die Sorge um das Öl verdrängt die Erinnerung an Auschwitz“, F.A.Z. 11.9.1979). Doch auch die Frankfurter Allgemeine Zeitung ließ erkennen, daß sie die Idee der Kritisierbarkeit Israels von deutscher Seite im Prinzip befürwortete, jedoch die spezifische Annäherung an die PLO (als Terrororganisation) mißbilligte − eine Haltung,
die auch während des Libanon-Krieges von 1982 die Berichterstattungspolitik der Zeitung nachhaltig beeinflußte. Die deutsche Position, F.A.Z. 11.9.1979; Günther Gillessen, Schwächen der Bonner
Nahostpolitik, F.A.Z. 22.9.1979.
155
daran hindert, Standpunkte einzunehmen, die von Israels Positionen abweichen, ja
ihnen diametral entgegenstehen.“273 Ein Jahr nach der Möllemann-Kontroverse formulierte Olaf Schwenke in der Zeit auf geradezu programmatische Art und Weise
„dreizehn Thesen“ zu dem gewandelten Solidarverhältnis der Deutschen zu Israel. In
ihnen wurde eine deutsche moralische Verpflichtung gegenüber Israel und dessen
Existenzrecht festgeschrieben, zugleich jedoch die Forderung aufgestellt, das Palästinaproblem nicht weiterhin zu „ignorieren“, keine „realitätsblinde Solidarität“ zu
üben, indem alle Maßnahmen israelischer Regierungen gerechtfertigt wurden. Die
Siedlungspolitik Israels entsprang demnach keinem Sicherheitsbedürfnis, sondern
einem ideologischen „Groß-Israel“-Konzept und verstieß gegen Menschenrechte und
Humanität. Solidarität mit Israel mußte sich laut Schwenke auch von einer „spezifisch deutsche(n) moralische(n) Mitverantwortung für die Palästinenser“ leiten lassen, die jahrzehntelang „Hauptleidtragende“ des Arabisch-Israelischen Konflikts
gewesen waren.274
Während mithin keine der untersuchten Zeitungen eine besondere deutsche moralische Verpflichtung für Israel in Frage stellte, war es allein Die Welt, die aus dieser
Pflicht die Notwendigkeit einer bedingungslos an die israelische Selbsteinschätzung
des Nahostkonflikts gekoppelte deutsche Haltung ableitete. Charakteristisch für Die
Welt an der Wende zu den achtziger Jahren war es, die zunehmende Kritik an Israel
in der deutschen Politik und (Medien-)Öffentlichkeit in einen kausalen Zusammenhang zu deutschem Antisemitismus zu bringen. Axel Springer: „Niemandem, der
Vorbehalte gegen die israelische Politik anmeldet oder der die Interessen des jüdischen Staates und des arabischen Lagers (wenn es so etwas gibt) gleichrangig wertet,
soll unterstellt werden, daß er die Sache der Rechtsradikalen absichtlich betreibt.
Doch jeder verantwortliche deutsche Politiker möge der Gewissensfrage nicht ausweichen, ob er, wenn er eine kritische Klinge gegen Israel schlägt, nicht unversehens
Kräfte ermutigt, die Israel sagen, aber Antisemitismus meinen.“275 In offenem Widerspruch befand sich Springer zu den gleichzeitig erkennbaren Tendenzen eines
rassistischen Umgangs seiner Medien mit Arabern, Muslimen und Palästinensern,
die der Welt selbst im Ausland den Vorwurf des Rassismus eingebracht hatten.276
273 Theo Sommer, Punkte für Nahost, Zeit 7.9.1979; vgl. a. Hans Jörg Sottorf, Ringen um Realitäten,
HB 3.9.1979; Was in den Ohren, Spiegel 10.9.1979; Eghard Mörbitz, Was Dayan mißfällt, FR
12.9.1979; Marion Gräfin Dönhoff, „Wir brauchen keinen Rat“, Zeit 14.9.1979; Nahost-Politik:
„Das ist schiefgelaufen,“ Spiegel 17.9.1979.
274 Olaf Schwencke, Wie solidarisch mit Israel?, Zeit 8.8.1980.
275 Axel Springer, Wehret den Anfängen!, Welt 18.10.1980; vgl. a. Axel Springer, Erst kommt das Öl
und dann die Moral, Welt 26.2.1981.
276 Zu entsprechenden Vorwürfen in der britischen Presse vgl. Axel Springer, Ist das Bekenntnis zu
Israel rechtsradikal?, Welt 7.2.1981. Ein Beispiel für die Tendenz der Welt, (muslimische) Araber
als prinzipiell haßerfüllt gegenüber Israelis darzustellen: „Denn die von Moskau geförderten Kräfte
im Orient nutzen den primitiven Fanatismus der islamischen Massen für ihre politischen Zwecke.
Die Syrer, die Palästinenser und auch manche libanesischen Muslims blicken mit Neid auf die
Christenstadt Zahle. Sie betrachten die Christen dieser Stadt als ihre Feinde. Denn diese Christen
sind nicht von blindem Haß gegenüber den israelischen Juden erfüllt.“ Harald Vocke, Der Panzer,
der Kinder zermalmt, Welt 13.4.1981. Zur Welt am Sonntag vgl. den Kommentar von Hans Habe in
Kapitel 6.2.1.
156
Wahrscheinlich erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland wurde
im Umfeld der israelischen Libanoninvasion im Sommer 1982 die deutsche Außenpolitik von seiten großer überregionaler Pressemedien zu einer kritischeren Position
gegenüber Israel aufgefordert. Während die Bundesrepublik Deutschland und die EG
auf die Ereignisse zurückhaltend und mit großer Verspätung reagierten, verurteilte
ein großer Teil der hier untersuchten Tages- und Wochenzeitungen das Vorgehen
Israels und forderte die Politik Bonns und Brüssels zu einer deutlicheren Positionsbestimmung auf. Der Einmarsch im Libanon und das militärische Vorgehen gegen
die PLO, das mehr als 10 000 zivile Opfer forderte, wurde als unverhältnismäßiger
und inhumaner Akt betrachtet: „Auch in Israel mehren sich die Zweifel am Sinn
solcher barbarischen Aktionen, die überall in der Welt den letzten Rest von Verständnis für den Judenstaat auslöschen.“277 Im Kräfteverhältnis zwischen Israel und
der PLO wurde eine grundlegende Umkehrung der Kräfteverhältnisse konzediert und
damit die Verlagerung internationaler Sympathien begründet: „Der jüngste LibanonKrieg verdeutlicht den Themen- und Rollenwechsel, der im Nahost-Konflikt stattgefunden hat. Es geht nicht mehr um die Abwehr einer akuten Existenzbedrohung
Israels, sondern um die Schicksalsfrage, eine Heimstatt für die Palästinenser zu finden.“278 Es wurden Szenen des Krieges beschrieben, die geeignet waren, das noch
1967 existente und von Kenneth Lewan kritisierte Bild des humanen israelischen
Soldaten zu relativieren, zum Beispiel, als libanesische Sanitäter und israelische
Wachen einen vor ihren Füßen liegenden Sterbenden nicht beachteten und statt dessen Tee tranken, bis der Mann starb.279 Registriert wurde eine weltweite Erosion des
moralischen Ansehens Israels.280
Israel wurden zudem expansionistisch-kolonialistische Ambitionen attestiert, etwa in den Worten Rudolf Augsteins: „An die 40 Kilometer Pufferzone im Libanon
hätten die Europäer, und namentlich die Deutschen, den Israelis aus schlechtem
Gewissen noch gutgebracht. (...) Nein, der Vorstoß auf Beirut ist brutale, nicht mehr
277 Libanon: „Die Israelis sollen Schluß machen“, Spiegel 16.8.1982; vgl. a. Karin Storch/Herbert
Freeden, Beirut wird bombardiert: „Die kranke Logik der Vergeltung“, FR 7.6.1982; Vergeltung auf
Vergeltung, FR 8.6.1982; Josef Riedmüller, Israels Sicherheits-Komplex, SZ 9./10.6.1982; Dietrich
Strothmann, Blinde Rache, Zeit 11.6.1982; Vergeltung und Haß, FR 11.6.1982; Rainer Fabian/Jay
Ullal, Israels Vernichtungskrieg, stern 24.6.1982; Werner Holzer, Zu viele Brücken verbrannt, FR
28.6.1982; Libanon: das lange Sterben, Spiegel 5.7.1982; Libanon: Freie Bahn für Begin, Stern
8.7.1982; Dietrich Strothmann, Tod oder Leben, Zeit 13.8.1982. Ein Phänomen, das belegt, daß
Teile der aktiven Öffentlichkeit gewillt waren, sich erstmals für die Palästinenser zu engagieren, waren Annoncen-Aufrufe in der Presse, in denen die israelische Invasion verurteilt und Israel zum
Rückzug aus dem Libanon aufgefordert wurde. Aufruf für den israelischen Rückzug aus dem Libanon, Zeit 9.7.1982.
278 Andreas Kohlschütter, Israel am Pranger, Zeit 16.7.1982; Der Spiegel: „Wie einst der heutige
Gegner, lebt heute der palästinensische Lagerinsasse heimatlos, ohne Landbesitz, oft auch ohne Beruf, in den Aufnahmeländern oft blutigen Verfolgungen ausgesetzt, so geschehen 1970 in Jordanien.“ „Die PLO in die Steinzeit zurückbomben“, Spiegel 14.6.1982.
279 Henri Zoller, „Vielleicht haben wir die Falschen getroffen“, Spiegel 21.6.1982.
280 Der Libanon − „Israels Vietnam“?, Spiegel 28.6.1982.
157
zu rechtfertigende Aggression.“281 Die politische Zurückhaltung der Bundesrepublik
Deutschland und der Westmächte wurde dabei zum Teil ausdrücklich unter Rückgriff auf die aus der deutschen Vergangenheit abgeleitete neue Verantwortungshaltung gegenüber den Palästinensern kritisiert.282
Einen verschärfenden Akzent verlieh die mittlerweile etablierte Berliner tageszeitung der Diskussion über den Zusammenhang zwischen Deutschlands Haltung zum
Nahostkonflikt und dem Holocaust. Von Reinhard Hesse wurde die auf Regierungsbefehl erfolgte Vernichtung ganzer Ortschaften durch die israelische Armee sowie
die massenhafte Tötung von Palästinensern als „umgekehrter Holocaust“ bezeichnet.
Israel strebte demnach durch sein Vorgehen nicht nur die Destabilisierung der PLO,
sondern eine „‘Endlösung’ der Palästinenserfrage“ an, die nunmehr, so Hesses geschichtslogische Folgerung, von den ehemaligen Opfern des Nationalsozialismus
begrüßt wurde. Hesse grenzte sich dabei von Ansätzen eines neuen Antisemitismus
in Deutschland ab.283 Durch Hesses Beitrag wurde eine Kontroverse in der tageszeitung ausgelöst, die sich nicht allein auf die Verurteilung der israelischen Invasion
erstreckte, über die weitgehend Einigkeit bestand, sondern vielmehr die grundsätzliche Frage nach der Beziehung zwischen deutscher Vergangenheit und politischer
Gegenwart im Nahen Osten stellte.284
Die Reaktion der tageszeitung auf den Libanonkrieg war nicht repräsentativ für
die Kritik anderer Zeitungen und Zeitschriften. Im Gegensatz zu der Berliner tages281 Rudolf Augstein, Ariks gordischer Knoten, Spiegel 19.7.1982; vgl. a. Josef Joffe, Ein Stück Frieden, ein Stück Land, Zeit 18.6.1982; „Wer sind wir denn? Eine Großmacht?, Stern 8.7.1982; Masada wird nie wieder fallen, Spiegel 19.7.1982.
282 Weißer Fuß, Spiegel 28.6.1982; Ende eines Staates im Staat, F.A.Z. 11.6.1982; Robert Held, Das
Ritual von Schlag und Gegenschlag, F.A.Z. 12.6.1982.
283 Reinhard Hesse, Umgekehrter Holocaust, taz 15.6.1982. Zielsetzungen einer kollektiven Vertreibung (und Vernichtung) der Palästinenser stellte auch Amos Wollin in den Vordergrund. Amos
Wollin, Im Einvernehmen mit Washington, taz 10.6.1982.
284 Bettina Decke wandte sich gegen den Holocaust-Vergleich. Zwar verurteilte sie die von Israel
verursachten „Kriegsgreueln“, unterschied diese jedoch von der „nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie“ und verglich sie vielmehr mit einem Siedlerkolonialismus ähnlich dem in Südafrika (Bettina Decke, Gegen das Gerede vom „umgekehrten Holocaust“, taz 24.6.1982). Eine vergleichbare Position bezog auch der Vertreter der israelischen Antikriegsbewegung, Haim Hanegby,
der die Politik Israels gegenüber den Palästinesnern als „rassistisch“ und kolonialistisch betrachtete,
gleichwohl den Vergleich mit dem Nationalsozialismus ablehnte (Zur Begrifflichkeit der deutschen
Linken am Beispiel des Libanonkrieges, taz 19.7.1982). Wolfgang Pohrt wandte sich nicht allein
gegen den „Holocaust“-, sondern darüber hinaus auch gegen den Völkermord-Begriff: „Weil gerade
die Linken hier weder den Nationalsozialismus noch Auschwitz begriffen haben, weil sie ersteren
mit einem besonders tyrannischen Regime und letzteren mit einem besonders grausamen Blutbad
verwechseln, deshalb haben sie die Hoffnung nicht aufgegeben, das Unrecht, welches sie anderswo
entdecken, könne Deutschland entlasten. Wenn sich die deutsche Vergangenheit schon nicht verteidigen läßt, dann soll wenigstens niemand besser sein, und schon gar nicht die Juden.“ (Wolfgang
Pohrt, Entlastung für Auschwitz, taz 28.6.1982; vgl. a. Wolfgang Pohrt in der Serie „Solidarität und
deutsche Geschichte“, taz 3.8.1982). Seit Juli 1982 begann die tageszeitung den in der Linken entstandenen Streit über die Art der Kritik an Israel − Völkermord- oder „Holocaust“-Vergleich? − systematisch zu dokumentieren (Der Stein des Anstosses: Solidarität mit der PLO, taz 16.7.1982). Zur
Kritik an der Umkehrung des Holocaust-Motivs vgl. auch die Hinweise in Koschwitz, Massenmedien und publizistische Propaganda, S. 351.
158
zeitung zeigten zwar auch Frankfurter Rundschau, stern, Die Zeit und Der Spiegel
eine deutliche, moralisch wie politisch-völkerrechtlich begründete Distanz zu Israel,
verwendeten jedoch in der Regel nicht den Völkermord-Begriff. Ohnehin in abgeschwächter Form äußerte sich die Kritik der Süddeutschen Zeitung, da hier das Argument einer falschen politischen Strategie, nicht jedoch ethische Kategorien im
Vordergrund stand.285 Die Bezeichnung des israelischen Vorgehens als Völkermord
oder der inverse Vergleich der israelischen Politik mit dem deutschen Nationalsozialismus kam allenfalls indirekt, und zwar in Form einer Berichterstattung über die
israelische Friedensbewegung zum Tragen, wo Begriffe wie „Judäo-Nazismus“ oder
„Semi-Faschismus“ als Ausdruck radikaler Kritik des praktizierten Zionismus nicht
unüblich waren.286
Unternimmt man den Versuch, die verschiedenen Fallbeispiele der Jahre 1965
bis 1982 im Hinblick auf die Verknüpfung der Themen Nahostkonflikt und Holocaust/Shoa zusammenfassend zu interpretieren, sind zunächst starke Unterschiede
und Veränderungen in der Berichterstattung zu konzedieren. 1965 wird von der
überregionalen Presse zunächst kein moralische Verknüpfung der deutschen Außenpolitik mit der nationalsozialistischen Vergangenheit vorgenommen, die erst zum
Tragen kam, nachdem die Regierung Erhard mit dem Beschluß der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Israel, d.h. mit der Überordnung historisch-legitimatorischer über deutschlandpolitischer Erwägungen, die politische Richtung vorgab.
Daß der Holocaust in der Medienrezeption des Nahostkonflikts erst seit den sechziger Jahren eine Rolle spielte, legt auch die Untersuchung von Astrid Hub nahe, wonach das Thema Holocaust und die aus der Vergangenheit erwachsenen spezifischen
Sicherheitswahrnehmungen und -ängste Israels während der Suezkrise von 1956 in
der deutschen Presse überhaupt noch nicht berücksichtigt wurden.287 Der Holocaust,
der mit Verzögerung erst seit dem Eichmann-Prozeß von 1961 in den deutschen
Mediendiskurs gelangte288 und seitdem im Feuilleton und politfernen Gesellschaftsbetrachtungen auch über das Land Israel etabliert war, drang in den politischen Diskurs über Außenpolitik und Nahostkonflikt massiv seit 1965 ein (nicht erst seit 1967,
wie Hub meint289). 1967 stellte den Höhepunkt der Themenverknüpfung dar, zugleich jedoch auch einen Wendepunkt in Richtung auf die erneute Entkopplung der
Themen. Nach dem Sechstagekrieg, in dem Holocaust-Frames im Pressediskurs
verbreitet waren und die Basis für eine außergewöhnliche Solidarisierung mit den
Zielen Israels im Nahostkonflikt bildeten, begann ein sich über die gesamten siebziger Jahre erstreckender Diskussionsprozeß, in dessen Verlauf immer deutlichere,
285 Vgl. u.a. Israel ist nicht allein schuld, SZ 7.6.1982; Manfred F. Schröder, Israel schießt am Ziel
vorbei, SZ 14.6.1982; Scharons Vorstoß nach Beirut, SZ 15.6.1982; Klaus Arnsperger, Reagan
schließt sich Begins Beurteilung an, SZ 23.6.1982; Dieter Schröder, Führungsschwach und richtungslos, SZ 30.6.1982.
286 Manfred F. Schröder, Attacke aus dem Friedenslager, SZ 25.6.1982.
287 Hub, Das Image Israels, S. 36.
288 Jürgen Wilke/Birgit Schenk/Akiba A. Cohen/Tamar Zemach, Holocaust und NS-Prozesse. Die
Presseberichterstattung in Israel und Deutschland zwischen Abneigung und Abwehr, Köln u.a.
1995.
289 Hub, Das Image Israels, S. 40.
159
immer weitergehendere, im Übergang zu den achtziger Jahren sogar programmatisch
formulierte Forderungen nach einer Trennung der Themenbereiche Nahostkonflikt
und Holocaust in der untersuchten überregionalen Presse (außerhalb des Verlagshauses Springer) laut wurden. Dieser Prozeß war das Kehrbild der sich im Nahen Osten
verschiebenden Rollenverhältnisse, wonach Israel zunächst als vermeintlicher „David“ schrittweise zum „Goliath“ einer Besatzungsmacht in der Westbank und dem
Gaza-Streifen avancierte. Spätestens in der Libanoninvasion 1982 war Israels Lage
nicht mehr plausibel als die eines von den Arabern bedrohten Staates zu verstehen,
wodurch das entscheidende und auslösende politische Moment entfiel, das in der
deutschen Presse den Holocaust-Diskurs in den nahostpolitischen Diskurs hatte eindringen lassen.
Analogieschlüsse zwischen dem Nahostkonflikt und dem Holocaust haben ihre
Wurzeln unter anderem in entsprechenden Vergleichen des britischen Premierministers Anthony Eden.290 Die antizionistische Propaganda Gamal Abd al-Nassers und
des Generalsekretärs der Organisation zur Befreiung Palästinas, Ahmed Schukeiri,
wonach die Juden „ins Meer gejagt“ werden sollten, wurden von Israels staatlicher
Öffentlichkeitsarbeit gezielt in die westliche Öffentlichkeit getragen, um die Vorstellung von einer Existenzgefährdung Israels und von einem zweiten Holocaust zu
verbreiten.291 Die Vorstellung vom israelischen „David“, der gegen den arabischen
„Goliath“ kämpfte, war verbreitet.292 Angesichts der zeitgleichen Aufrüstung Israels
und arabischer Staaten wie Syrien und Ägypten mit Hilfe der USA, der Sowjetunion
und anderer Staaten bestand bis 1967 Unklarheit über die militärischen Kräfteverhältnisse. Nach dem „Sechstagekrieg“ und der Besetzung der Westbank und des
Gaza-Streifens jedoch kann von einer Existenzbedrohung Israels nicht mehr gesprochen werden. Im Oktober 1973 befand sich Israel zwar kurzzeitig in der Defensive,
konnte letztlich jedoch, auch mit Hilfe einer amerikanischen Luftbrücke, den Krieg
gewinnen und stand mit seiner Armee am Ende des Krieges nahe Kairo. Israel ist
zudem spätestens seit 1967/68 die einzige Atommacht des Nahen Ostens.293
Daß dennoch der Holocaust auch nach dem Krieg von 1982 in der westlichen
Nahostberichterstattung eine Rolle spielen konnte, zeigte etwa der Vergleich zwischen Hitler und Saddam Hussein während des Golfkriegs von 1991.294 Die vorhandenen sehr selektiven Fallstudien der deutschen Medienberichterstattung in den
achtziger und neunziger Jahren legen die Annahme nahe, daß 1982 zwar keine endgültige Trennung der Diskurse des Nahostkonflikts und des Holocaust, aber eine
290
291
292
293
Anthony Eden, Memoirs/Full Circle, London 1960 (2. Aufl.), S. 431, 440 f., 442, 518.
Koschwitz, Massenmedien und publizistische Propaganda, S. 344.
Vgl. u.a. Ernst Trost, David und Goliath. Die Schlacht um Israel, Wien 1967.
Honoré M. Catudal Jr., Israel’s Nuclear Weaponry. A New Arms Race in the Middle East, Berlin
1991; Seymour M. Hersh, Atommacht Israel. Das geheime Vernichtungspotential im Nahen Osten,
Aus dem Amerikanischen von Hans Bungerter, Gabriele Burkhardt und Karlheinz Dürr, München
1991.
294 William A. Dorman/Steven Livingston, News and Historical Content. The Establishing Phase of the
Persian Gulf Policy Debate, in: W. Lance Bennett/David L. Paletz (Hrsg.), Taken by Storm. The
Media, Public Opinion, and the U.S. Foreign Policy in the Gulf War, Chicago/London 1994, S. 6381; Jochen Schulte-Sasse, Saddam als Hitler, in: kultuRRevolution 24 (1991) 1, S. 10-11.
160
Modifizierung erfolgte: a) auch die Palästinenser können seitdem als Folgeopfer
deutscher Verbrechen in geschichtslogische Betrachtungen einbezogen werden;
b) die Verwendung des Holocaust-Diskurses in der Nahostberichterstattung konzentriert sich auf Krisenzeiten und Zeiten von Gewaltausbrüchen. Hier kehren die Angst
vor der Vernichtung Israels und damit auch die Holocaust-Frames in die Presserezeption des Nahostkonflikts zurück,295 die in Zeiten der regulären Berichterstattung
oder gar eines sichtbaren Positionsnachteils für die Palästinenser keine bedeutende
Rolle mehr spielen. Die Kopplung des Holocaust-Diskurses an und seine Entkopplung vom politischen Diskurs über den Nahostkonflikt, die für den Zeitraum 1965 bis
1982 nachgewiesen worden sind, sind daher keine abgeschlossenen, sondern dynamische Prozesse, und die konditionierten Schwankungen sind in ihrer Gesamtheit ein
Teil der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland, die ihrerseits von den
Medien sowohl internalisiert als auch beeinflußt werden kann.
Diese Bestandsaufnahme führt zu einer kritischen Bewertung der vorhandenen
Fachliteratur. Geht man davon aus, daß die Verbindung von Nahost- und HolocaustDiskurs zu wechselnden Manifestationen in der Auslandsberichterstattung und der
politischen Kultur insgesamt führt, dann sind die in der Literatur zu findenden diametral gegensätzlichen Positionen über die Medienrezeption der achtziger und neunziger Jahre allein dadurch zu erklären, daß sie sich auf nicht-verallgemeinerbare
Einzelphänomene stützen, also auf Momente der Thematisierung oder aber der
Nicht-Thematisierung des Holocaust-Diskurses im Rahmen des Nahostdiskurses der
Medien. Georg Poschingers Ansicht, wonach „Dogmen“ und „Tabus“ die Medienberichterstattung über den Nahostkonflikt bis in die neunziger Jahre dominieren,296 wie
auch Peter Zimmermanns Hinweis darauf, daß ungeachtet eines langfristig erfolgten
Wandels der Israel-Berichterstattung „die zentralen Tabus und Ideosynkrasien“ nach
wie vor wirksam seien,297 stützen sich auf Momentaufnahmen des Golfkriegs und
berücksichtigen nicht, daß in den deutschen Medien – zumindest im Hinblick auf die
untersuchte Presse – ein qualitativer Wandel vollzogen worden ist, in dessen Verlauf
der geschichtsbedingte Kritikvorbehalt gegenüber Israel überwunden wurde, auch
wenn einzelne Situationen – wie der Golfkrieg – durch die Rückkehr des HolocaustDiskurses in die Nahostberichterstattung einem tabuisierenden, alternative Frames
tendenziell negierenden Mediendiskurs Vorschub leisten können. Dieses Potential
allerdings relativiert auf der anderen Seite Einschätzungen wie die von Heiner Lichtenstein, der im Gegensatz zu Zimmermann und Poschinger von einem grundsätzlich
negativen Israelbild seit der Wende zu den achtziger Jahren ausgeht, ohne zu berücksichtigen, daß die von ihm selbst beobachtete Resolidarisierung der deutschen Medien mit Israel während des Golfkriegs298 erkennen läßt, daß auch die sporadisch erfolgende Kopplung des Nahost- mit dem Holocaust-Diskurs einen Strukturvorteil für
das Israel- gegenüber dem Araberbild darstellt.
295 Kenneth M. Lewan, Sühne oder neue Schuld? Deutsche Nahostpolitik im Kielwasser der USA,
Jerusalem/Ottawa 1984, S. 109; Zimmermann, Television als Fata Morgana, S. 7 f.
296 Poschinger, Der Palästina-Konflikt, S. 179.
297 Zimmermann, Television als Fata morgana, S. 14.
298 Lichtenstein, Die deutschen Medien, S. 152 f.
161
6.1.2 Dekonstruktion II: Ist Nahostberichterstattung „Nahost“Berichterstattung? Innergesellschaftliche Anschlußdiskurse der Auslandsberichterstattung
In der quantitativen Inhaltsanalyse der deutschen überregionalen Presse ist deutlich
geworden, daß sich etwa jeder fünfte Artikel (außer Kurzmeldungen) im Zeitraum
1955 bis 1994 mit dem Nahostkonflikt beschäftigt hat, der damit der größte Themenkomplex der deutschen Nordafrika- bzw. Nah- und Mittelostberichterstattung
weit vor anderen bekannten Themen wie dem Islam oder der Erdölfrage ist (Kap.
5.1.3). Als Hauptursache wurde der verhandlungsorientierte Berichterstattungsstil
der Presse ermittelt, wobei selbst kleine diplomatische, politische und gesellschaftliche Entwicklungen, die in anderen Bereichen unberichtet bleiben, vermittelt werden
(Kap. 5.2.1.2). Zugleich ist erkennbar geworden, daß insbesondere die Süddeutsche
Zeitung, aber auch andere Medien, nach dem Eichmann-Prozeß von 1961 ein wachsendes Interesse an der nationalsozialistischen Vergangenheit in ihrer Beziehung zu
Israel und den deutsch-israelischen Beziehungen zeigten, wobei weniger die Frage
der diplomatischen Beziehungen als vielmehr Fragen der Beziehung zwischen Deutschen zu Israelis und Juden thematisiert wurden (Kap. 5.2.2.2). Eine Schnittstelle für
eine Synthese zwischen dem Völkerbild und dem politischen Diskurs waren schließlich die Ereignisse der Jahre 1965 und 1967 (Kap. 6.1.1). Im folgenden soll mit Hilfe
der theoretisch vorgestellten Synopse aus Linkage- und Mediennutzungsforschung
(Kap. 3.2.4.3) untersucht werden, wie der interne Anschlußdiskurs über Holocaust/Shoa zu charakterisieren ist und wie er auf den politischen Diskurs über den
Nahostkonflikt wirkt. Im Zentrum stehen dabei Überlegungen zur Abgrenzung und
Neudefinition der verschiedenen Typen der Auslandsberichterstattung, foreign news
abroad und home news abroad. Desweiteren werden auf der Mikro-, Meso- und
Makroebene der Theorie Entstehungsbedingungen für die Synthese von Auslandsund Inlandsdiskursen in der Nahostberichterstattung untersucht.
6.1.2.1 Themen-Linkage und Diskursinteraktionen: foreign news abroad als
home news abroad
Diskursinteraktionen der Auslandsberichterstattung reichen über personelle und
institutionelle Verbindungen hinaus, wie sie üblicherweise in home news abroad
(Nachrichten im Ausland mit Inlandsbezug) oder foreign news at home (Nachrichten
im Inland mit Auslandsbezug) lokalisiert werden. Im Prozeß der medialen Nachrichtenverarbeitung, -aufbereitung und Textgestaltung können an mehreren Stellen diskursive Anschlüsse gebildet werden, die zum Bestandteil der Auslandsberichterstattung werden und den Nachrichtenkontext und das Interpretationsgefüge des Auslandsbildes verändern (Kap. 3.2.4.3.1, Abb. 3.11 und Kap. 3.2.4.3.2, Abb. 3.12). Der
journalistische Text als Teil des politischen Diskurses ist keine unveränderliche
Größe, sondern er wird von Journalisten und Medieninstitutionen im Rahmen der
politischen Kultur gestaltet. Die Auslandsberichterstattung steht in Wechselbezie-
162
hung zur politischen Kultur, zu den „geschriebenen und ungeschriebenen Ideen und
Wertcodes, die politisches Handeln der Gesellschaftsmitglieder regulieren.“299 Die
„Ideen“ und „Werte“ der politischen Kultur gehen in die Prozesse der Diskursformierung, in die Bildung von Frames, Themen und Stereotypen ein. Da „politische
Kultur“ keine anwendungsbereite Theorie darstellt, sondern eine im Einzelfall durch
Theorie- und Methodenkombinationen zu konkretisierende Größe,300 sollen mit Hilfe
der Synopse aus Linkage- und Mediennutzungstheorie zwei Aspekte der Verbindung
der Themen Nahostkonflikt und Holocaust herausgearbeitet werden:
• Wechselwirkung von Auslandsberichterstattung und innergesellschaftlichem Anschlußdiskurs im Text als Grundlage des Rezeptionsprozesses
• Schwankungen und Veränderungen in der Anschlußbildung als Wesensmerkmal
der Medienberichterstattung und Artikulationsform politischer Kultur.
Die empirische Rekonstruktion hat gezeigt, daß in der Nahostberichterstattung während einer längeren Periode der bundesrepublikanischen Zeitgeschichte (1965-82)
die Verbindung von innergesellschaftlichem Diskurs und internationalen Fragen
nachhaltig gegeben war, und daß die massive Interaktion zwischen innen- und internationalen bzw. außenpolitischen Problemen (issues im Sinne Rosenaus) es vor
allem für die untersuchten Materialien der sechziger und weiter Teile der siebziger
Jahre erschwert, die Auslandsberichterstattung allein der Sphäre (issue-area im Sinne Rosenaus) der internationalen bzw. Außenpolitik zuzuordnen. Die für die genannten Zeiträume belegte Geschichtszentrierung vieler Beiträge der Nahostberichterstattung schlug sich exemplarisch etwa in folgenden argumentativen Verknüpfungen
nieder, die in einzelnen oder mehreren untersuchten Pressemedien ermittelt werden
konnten:
• Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Israel 1965 sollte geeignet sein,
zur Klärung der Beziehungen zwischen Deutschen und Juden nach den Ereignissen des „Dritten Reichs“ beizutragen.
• Die Normalisierung der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland
und Israel wurde als wichtiger Schritt zum Abbau deutscher Schuld und zur Verbesserung des deutschen Ansehens in der Welt betrachtet.
• Die historisch begründete Aufwertung des israelischen Völker- und Nationenbildes ging mit einer ebenfalls historisch begründeten Abwertung des Araberbildes
einher.
• Für die Solidarisierung mit Israel während des „Sechstagekrieges“ von 1967 war
das Motiv, die Vernichtung der Juden dürfe sich nicht wiederholen, konstitutiv.
• Die Berichterstattung über den Krieg beinhaltete zahlreiche historische Analogien, etwa den Hinweis auf die Münchener Konferenz von 1938 oder den NasserHitler-Vergleich.
299 Christian Fenner, Politische Kultur, in: Dieter Nohlen (Hrsg.), Wörterbuch Staat und Politik, Bonn
1993, S. 511.
300 Fenner selbst schlägt einen „Methodenmix“ vor. Ebenda, S. 516 f.
163
• Die Nahostpolitik der „Ausgewogenheit“ der Regierung Brandt stand im Kontrast zu einer historisch begründeten beschränkten Kritikbereitschaft in der Presse
an Positionen Israels im Nahostkonflikt („zurückhaltende Neutralität“).
• Eine besondere deutsche Verantwortung wurde aus dem geschichtlichen Kontext
nicht allein für Juden/Israelis, sondern seit den späten siebziger Jahren zum Teil
auch für die Palästinenser abgeleitet.
Die inhaltliche Verbindung des Themas Nahostkonflikt mit dem Holocaust-Diskurs
zeigt in geeigneter Weise, daß die Grundkategorien zur Einstufung der Auslandsberichterstattung in Abhängigkeit von ihrer Zuordnung zu den Grundeinheiten „Inland“
und „Ausland“, d.h. Ereignisse und Entwicklungen innerhalb und außerhalb des das
jeweilige Medium beheimatenden Staates, einer Ergänzung bedürfen. Home news
abroad, foreign news at home und foreign news abroad liegen im vorliegenden
Fallbeispiel in unterschiedlicher, zum Teil kombinierter Form vor:
• Eindeutig als home news abroad bzw. foreign news at home zu bezeichnen waren jene Berichte, die sich in den Jahren 1965 (Waffengeschäft und diplomatische Beziehungen zu Israel), 1971 (deutsche Staatsbesuche in Israel) sowie Ende
der siebziger/Anfang der achtziger Jahre (deutsch-israelische Kontroversen) mit
den politischen und diplomatischen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik
Deutschland, Israel und/oder arabischen Staaten beschäftigten. Hervorzuheben
ist, daß es sich nicht allein um personelle oder institutionelle, sondern um diskursive Bezüge handelte, d.h. die entsprechende Berichterstattung wurde Teil eines
übergreifenden inner- wie außerstaatlichen Diskursfeldes. Diese Entwicklung war
jedoch erst nach dem Entscheid der Regierung Erhard zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen in der überregionalen Presse (mit Ausnahme der Publikationen des Verlags Springer) zum Durchbruch gekommen, denn erst jetzt wurden
die deutsch-israelisch-arabischen Beziehungen unter Einbeziehung des Holocaust-Diskurses gedeutet. Formal gesprochen, rückten also die außenpolitischen
Fragen der home news abroad bzw. foreign news at home aus dem Themen-/Diskursfeld III (außerstaatlich) in das Themen-/Diskursfeld II (inner-/außerstaatlich)
zurück (vgl. Abb. 3.11 in Kap. 3.2.4.3.1). Als home news abroad bzw. foreign
news at home sind Berichte über die deutsch-israelischen oder deutscharabischen Beziehungen zwar vor wie auch nach 1965 zu bezeichnen, sie besaßen aber je nach Zuordnung zu den Diskursfeldern II oder III einen sehr unterschiedlichen inhaltlichen Charakter, da erst seit 1965 die Außenpolitik nicht mehr
als Strategiefrage der Anerkennungsproblematik, sondern als Moralfrage mit
Bindung zu zentralen Werten der Gesellschaft erörtert wurde. Dies zeigt, daß die
Terminologie der home news abroad/ foreign news at home allein nicht ausreicht, um den Prozeß der Verschränkung von Auslands- und Inlandssphäre in
der Auslandsberichterstattung zu beschreiben.
• Ausgelöst durch die Veränderungen im Gefüge der home news abroad/foreign
news at home gelangte die Berichterstattung über den Nahostkonflikt insgesamt,
also auch die Berichterstattung über Ereignisse, die vorher eindeutig als foreign
news abroad im Diskursfeld III zu charakterisieren waren, in das Diskursfeld II.
164
Sowohl während des Krieges von 1967 als auch in den siebziger Jahren wurden
Ereignisse des Arabisch-Israelischen Konflikts, die mit dem Holocaust in keinem
Ereignis-, Personen- und Institutionenzusammenhang standen, in vielen verifizierten Fällen mit dem Anschlußdiskurs über Holocaust/Shoa gekoppelt. Der diskursive Zusammenhang sorgte mithin dafür, daß auch foreign news abroad Elemente der home news abroad (Diskursfeld II) enthielten (was vor 1965 nur selten
und nach 1982 überwiegend noch in Krisenzeiten der Fall gewesen ist).
Um die Wirkung der Anschlußdiskurse auf die Auslandsberichterstattung zu beschreiben, muß zunächst eine Charakterisierung der Anschlüsse vorgenommen werden. Der Holocaust-Anschluß kann grundsätzlich als ein diachroner, nicht-linearer
und pädagogischer Anschlußdiskurs bezeichnet werden (vgl. Kap. 3.2.4.3.1). „Diachron“ kennzeichnet die historische Orientierung, wobei aktuelle politische Sachverhalte mit geschichtlichen Bezügen analysiert und erklärt wurden (z.B. Nasser-HitlerVergleich). Kennzeichnend war kein synchroner Anschluß wie etwa ein Diskurs über
das Judentum als solches oder über die zeitgenössischen Nachwirkungen des Holocaust (z.B. die deutschen Wiedergutmachungsleistungen), sondern der Rückgriff auf
historisch abgeschlossene Vorgänge wie die Vernichtung der Juden im „Dritten
Reich“, die sich gleichwohl in der zeitgenössischen politischen Kultur Geltung verschafften. Als „nicht-linear“ war der Anschlußdiskurs einzustufen, da der Holocaust
im Verhältnis zum Nahostkonflikt eine Themenverlagerung bedeutete: gewählt wurde nicht ein linearer Anschlußdiskurs aus der deutschen Territorialkampf- und
Flüchtlingsgeschichte (Ereignisse, wie sie analog im Nahostkonflikt tatsächlich stattfanden), sondern ein nicht-linearer Anschluß zum Genozid durch ein faschistischnationalsozialistisches Regime (Ereignisse, die nicht stattfanden, die allenfalls für die
Zukunft befürchtet werden konnten).
Dieser Prozeß der diachronen und nicht-linearen Diskursverlagerung führt zu einem dritten Aspekt des Anschlußdiskurses, dem „pädagogischen“ Aspekt. Die Thematisierung des Holocaust im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt kann als Ersatzhandlung der politischen Kultur bezeichnet werden. Folgt man Frank Stern, dann
hat in der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte ein enger Zusammenhang zwischen philosemitischen Artikulations- und Verhaltensweisen und dem Demokratisierungsprozeß bestanden. Zieht man die gebräuchliche Erklärung des Begriffs der
„politischen Legitimität“ als einer Verbindung von Grundwerten (Normen der Vernunftbegründung des Staates, der vorstaatlichen Menschenrechte, der Rechtsstaatlichkeit usw.) und Verfahren (Techniken der Demokratie wie Wahlen, Verfassungsstaatlichkeit usw.) heran, war es für die Bundesrepublik Deutschland und ihre Westintegration erforderlich zu beweisen, daß sie nicht allein die Techniken, sondern
auch die Werte der Demokratie verinnerlicht hatte. Dieser Demokratiebeweis konnte
maßgeblich nur dann angetreten werden, wenn die Gleichbehandlung ethnischer oder
religiöser Minderheiten glaubhaft gemacht werden konnte. Da in der Bundesrepublik
Deutschland nur noch wenige Juden lebten, dieser Beweis mithin hier kaum anzutreten war, kann es kaum verwundern, daß Stern den Geltungsbereich seiner Aussagen
bewußt auch auf die westdeutsche Außenpolitik, d.h. vor allem auf die deutsche
165
Israelpolitik erstreckte: „So wie das Bekenntnis zur Demokratie wurde das Bekenntnis zu den Juden innen- wie außenpolitisch erwartet.“301 In der Presseberichterstattung ist dieser pädagogische Charakter insbesondere in der Diskussion über die Folgen der Waffenlieferungen an Israel 1965 deutlich geworden.
Nach dieser Charakterisierung der Formen und Funktionen des HolocaustAnschlusses (diachron, nicht-linear, pädagogisch) können die Wirkungen der Themenverbindung untersucht werden. Theoretisch unterscheidbar sind Wirkungen auf
den journalistischen Text (Produktion) und Wirkungen auf bzw. Nutzungen durch
das Publikum (Konsumption). Im Fall der Auslandsberichterstattung wird im Unterschied zum fiktionalen Medienbereich (z.B. importierter Film) ein interner Anschlußdiskurs nicht erst durch die Konsumenten, sondern bereits vorher durch die
Produzenten gebildet. Der Anschlußdiskurs ist ein integrierter Bestandteil des Medientextes und verändert Text und Diskurs.
Wie an den oben aufgelisteten inhaltlichen Verbindungen von Nahost- und Holocaust-Diskurs erkennbar, bestand die Hauptfunktion des Anschlusses in der geschichtslogischen Determinierung zentraler Frames des Mediendiskurses. Rationalpolitisches und strategisches Denken, aber auch moralische und rechtliche Erwägungen gegenüber den Palästinensern, wurde zugunsten historisch vorgeprägter Handlungserwägungen zurückgestellt, zu denen keine Alternative zu bestehen schien. Die
historische Schuld Deutschlands legte Schutzverhalten und eine besondere Allianz
mit Israel nahe, auch wenn in rationaler Abwägung die Palästinenser ebenfalls ein
Schutzbedürfnis besaßen; die historische „appeasement“-Politik gegenüber Hitler
schloß Kompromißbereitschaft und Verständnis für die Motive der Araber aus, auch
wenn diese sich gegen einen auf ihrem Territorium ohne ihre Zustimmung gegründeten Staat zur Wehr setzten. Diese und ähnliche Frames bildeten die zentralen Bestandteile des Holocaust-Anschlußdiskurses, die zwar nicht den gesamten Nahostdiskurs steuerten, aber zentrale Frames, zeitweise sogar sogenannte master frames
darstellten. Ein alternativer Frame wie der der „streitenden Nachbarn“, den Elihu
Katz rückwirkend für den Golfkrieg von 1991 vorschlug (vgl. Kap. 3.2.4.4.2), wobei
der Nahostkonflikt nicht in den Kategorien des Zweiten Weltkriegs, sondern als ein
Territorialstreit betrachtet worden wäre, hätte sehr viel mehr Interpretationsspielräume eröffnet als die historisch determinierten Holocaust-Frames. Deren besondere
Wirkung auf den Nahostdiskurs bestand nämlich nicht darin, ein deutsch-israelischarabisches Beziehungsdreieck zu stiften, wie es Frederick H. Gerlach beschrieben
hat.302 Zwar waren in der deutschen Presse die Einflüsse trilateralen außenpolitischen
Denkens zu erkennen, wobei die Annahme existierte, eine Partei (die Bundesrepublik Deutschland) müsse ihr Verhalten gegenüber einer zweiten Partei (z.B. arabischen Staaten) von den Erwartungen einer dritten Partei (z.B. Israel) abhängig machen oder hierauf abstimmen. Der Trilateralismus war jedoch ein Kennzeichen der
Beziehungen aller Staaten zu Israel und der arabischen Welt, weil sowohl für Israel
301 Frank Stern, Im Anfang war Auschwitz. Antisemitismus und Philosemitismus im deutschen Nachkrieg, Gerlingen 1991, S. 265.
302 Frederick H. Gerlach, The Tragic Triangle Israel, Divided Germany, and the Arabs, 1956-1965,
PhD Ann Arbor 1968.
166
als auch die arabischen Länder der Nahostkonflikt von so zentraler Bedeutung war,
daß weite Teile ihrer internationalen Beziehungen darauf abgestimmt wurden, und
zwar auch ohne daß der Holocaust-Diskurs dabei eine Rolle spielen mußte. Der Trilateralismus war ein Kennzeichen des außenpolitisch-diplomatischen Diskursfeldes
III (in Anlehnung an Rosenau); der Holocaust-Anschluß war jedoch Bestandteil des
integrierten inner- wie außerstaatlichen Diskursfeldes II – und dies war das eigentliche Signum der Verbindung von Holocaust- und Nahostkonflikt.
Der Holocaust konnte und kann allerdings in dem Fall im außenpolitischen Diskursfeld III lokalisiert werden, wenn er nicht als analytische Kategorie verstanden
wird, wobei der Stand der deutschen politischen Kultur die Sichtweise des Nahostkonflikts beeinflußt, sondern als Eigenmotiv Israels und der israelischen Außenpolitik aufgefaßt wird. Der Einfluß der Holocaust-Vergangenheit auf die israelische Politik, wo bestimmte historisch geprägte Einstellungen die Außenpolitik prägen können,
ist kein Einfluß der deutschen, sondern der israelischen politischen Kultur; sie ist
daher kein interner Anschlußdiskurs der Auslandsberichterstattung, sondern ein regulärer Bestandteil des auswärtigen Nachrichtengeschehens, der foreign news abroad.
Wenn Astrid Hub bemängelt, der Holocaust sei in der deutschen Presseberichterstattung über Israel zu wenig beachtet worden, da entsprechende Wahrnehmungen wichtige Motive für die israelische Außenpolitik darstellten,303 berücksichtigt sie nicht,
daß in der deutschen Berichterstattung weniger die Wiedergabe der Interpretationen
der politischen Kultur des auswärtigen Akteurs „Israel“ als vielmehr der inhaltlichanalytisch prägende Einfluß der deutschen Geschichte erkennbar wurde.
In der wissenschaftlichen Literatur hat sich die Meinung etabliert, der analytische
Einfluß des Holocaust-Diskurses auf die Nahostberichterstattung der deutschen Medien oder auf das Nahostbild der Öffentlichkeit sei eine Deformation des journalistischen Textes in Folge einer „neurotischen“ Deformation der politischen Kultur insgesamt. Dieser psychoanalytisch fundierte Ansatz basiert auf der Annahme des Versuchs einer verspäteten Solidarisierung mit den Opfern des Holocaust (oder ihren
Nachfahren) zur Bewältigung kollektiver Schuldgefühle. Die philosemitische Bindung soll demnach nicht nur politisch-legitimatorisch den Beweis für die Nichtexistenz des Antisemitismus belegen, sondern die Identifizierung Israels mit den
scheinbaren Opfern, der Araber mit Antisemiten und Nationalsozialisten und der
arabischen Staaten mit dem „Dritten Reich“ entsprach und entspricht einem seit den
sechziger Jahren verspätet zum Ausdruck gekommenen soziopsychologischen Bedürfnis des Ausgleichs von Schuldgefühlen und der Verdrängung deutscher „Täter“Vergangenheit.304 Die aus dieser Sicht neurotisch bedingte Zuordnung zu Israel
303 Hub, Das Image Israels, S. 52.
304 Margarete und Alexander Mitscherlich haben die Psychoanalyse am konsequentesten auf den
deutschen Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit angewandt. Demnach wurde das
kollektive deutsche „Ich“ durch die Ereignisse des Nationalsozialismus nachhaltig traumatisiert,
und zwar sowohl durch die Nichtauslebbarkeit von Triebbedürfnissen (nationalen Großmacht- und
Übermenschphantasien) als auch durch die massive Verletzung moralischer „Über-Ich“-Gebote
(Vernichtung der Juden, Aggressionskriege usw.). Das Resultat dieser Erfahrungen, die in einem
Zustand kollektiver Melancholie, Depression und Lähmung hätten münden können, war die „Unfähigkeit zu trauern“: vielfältige soziale Mechanismen wurden entwickelt, die historische Schuld aus
167
korrespondiert demnach mit einer emotionalen Abschottung gegenüber den Problemen der Palästinenser/Araber. Unklarheit herrscht allenfalls darüber, ob die Veränderungen der Medien- und Öffentlichkeitsrezeption während des Libanonfeldzugs
von 1982 als Resultat gewonnener „Ich“-Stärke in der Auseinandersetzung mit der
Vergangenheit und als Befreiung von Schuldgefühlen, oder als neue Form der Verdrängung weiterbestehender Schuldkomplexe betrachtet werden müssen.305
Diese psychoanalytische Deutung ist nicht Teil der vorgelegten Theorie der Auslandsberichterstattung, da der sogenannte Black-Box-Ansatz der Psychoanalyse
einem in sich geschlossenen Modell entspricht, das nicht empirisch verifizierbar ist.
Die Erklärung der Verwendung des Holocaust-Frames mit den Deformationen einer
kollektiven Psyche scheint auch deswegen nicht zureichend, weil das HolocaustMotiv auch in anderen Konfliktzusammenhängen und ohne deutsche Beteiligung in
deutschen wie in anderen Medien Verwendung gefunden hat: etwa im Vietnamkrieg,
als sich der Holocaust als eine universell auf alle Kriegsverbrechen anwendbare
Metapher offenbarte.306 Zudem läßt sich zeigen, daß die Wirkung interner Anschlußdiskurse auf Text wie auf Rezeption der Auslandsberichterstattung nicht nur als
„pathologische“ Deformation beschrieben werden kann. Nachvollziehbar ist zwar die
Ansicht, daß durch interne Anschlüsse Sinndeformationen im Text entstehen, wie
etwa die (diachrone) Festlegung auf historisch geprägte Handlungsmuster aus einem
sachfremden (nicht-linearen) Kontext. Andererseits sind Wechselwirkungen zwischen Auslands- und Inlandsberichterstattung zu erkennen, die zwar deformierend
auf die Auslandsberichterstattung wirken können, deren gesellschaftliche Folgewirkungen jedoch komplexer sind, da sie einer wachsenden Interaktion von globalen,
nationalen und lokalen Elementen in der Medienberichterstattung (vgl. die Einleitung zu Theoriekapitel 3) Vorschub leisten.
Jürgen Wilke, Birgit Schenk, Akiba A. Cohen und Tamar Zemach haben in einer
empirischen Untersuchung der deutschen Presseberichterstattung nachweisen können, daß die Presse sowohl in der Bundesrepublik Deutschland als auch in Israel eine
zentrale Rolle bei der gesellschaftlichen Erörterung der Vergangenheit spielte. Die
Medienberichterstattung etwa über die „NS-Prozesse“ von Nürnberg, über den
„Auschwitz-“ oder den „Eichmann-Prozeß“ werden von den Autoren als wesentliche
Faktoren für die durch Meinungsumfragen belegte (vgl. Kap. 6.1.2.2) wachsende
Aufgeschlossenheit der deutschen Bevölkerung gegenüber Diskussionen über die
nationalsozialistische Vergangenheit und die in den sechziger Jahren nachhaltig proisraelische Öffentlichkeit betrachtet.307 Berichterstattung über die mit dem Holocaust
der neuen sozialen Gemeinschaft Nachkriegsdeutschlands zu verdrängen. Alexander Mitscherlich/Margarete Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens, München 1969, S. 13-85.
305 Büttner, German Perceptions, S. 67, 73 f.; Josef Joffe, Reflections on German Policy in the Middle
East, in: Shahram Chubin (Hrsg.), Germany and the Middle East. Patterns and Prospects, London
1992, S. 202 ff. Die Identifikation mit Israel steigerte sich noch durch die Bewunderung für die
„deutschen“ Tugenden der israelischen Soldaten, die zu einer Korrektur des älteren Bildes der Juden
als unfähig zur Selbstverteidigung beitrug. Büttner, German Perceptions, S. 76 ff.
306 Eichholz, Der Vietnam-Krieg, S. 74 ff.
307 Wilke/Schenk/Cohen/Zemach, Holocaust.
168
zusammenhängenden Ereignisse diente als Stimulation innergesellschaftlicher Debatten im zentralen Bereich der deutschen Vergangenheit, politischen Identität und
Legitimität. Der Nahostkonflikt und die Nahostberichterstattung boten dabei kontinuierlichere Möglichkeiten, die nationalsozialistische Vergangenheit zu problematisieren, als die „NS-Prozesse“. Die Frage, welchen Verlauf die innerdeutsche Diskussion über den Nationalsozialismus ohne externe Diskursstimulantia wie die Gründung des Staates Israel und den Nahostkonflikt genommen hätte, und wie darüber
hinaus ein solcher Diskurs ohne die in der Auslandsberichterstattung der Medien
erkennbare Vermittlungsleistung zwischen nationalen und internationalen Fragen
sich entwickelt hätte, ist letztlich nicht zu beantworten, da Wirkungsdaten der Medienberichterstattung fehlen, die für eine integrierte Agenda-Setting-Analyse erforderlich wären. Ein Vergleich der chronologischen Entwicklung des Holocaust- und des
Nahostkonflikt-Diskurses in deutschen überregionalen Pressemedien weist jedoch
auf die Wirkungspotenz308 der Medien und damit auf eine bislang kaum beachtete
Funktion der Auslandsberichterstattung für die politische Kulturentwicklung eines
Landes.
Ein Vergleich der Nahostberichterstattung mit der Phaseneinteilung bei Wilke,
Schenk, Cohen und Zemach für die Presseberichterstattung über den Holocaust ergibt Hinweise auf potentielle Wechselwirkungen zwischen den Diskursen. Die Autoren zeigen, daß sich die öffentliche Diskussion über die nationalsozialistische
Vergangenheit in „Schüben“ analog den großen „NS-Prozessen“ vollzog, wobei vor
allem dem „Eichmann-Prozeß“ (1961) die Funktion der Diskussionseröffnung zukam. Er wird als „Durchbruch der öffentlichen Wahrnehmung des Holocaust“ bezeichnet. Nach einer Periode der nachhaltigen Problematisierung folgte seit Mitte
der achtziger Jahre („Historikerstreit“) eine Phase der angestrebten „Normalisierung“.309 Im Gegensatz zu dieser Phaseneinteilung hat die vorliegende Untersuchung
gezeigt, daß die Verbindung der Nahostberichterstattung mit historischen Bezügen in
den sechziger Jahren am intensivsten war, in den siebziger Jahren zum Teil kontrovers diskutiert wurde und sich seit dem Ende des Jahrzehnts entspannte. Der Holocaust-Anschluß etablierte sich damit erst verspätet in der politischen Nahostberichterstattung (ab 1965 statt 1961), und Normalisierungserscheinungen machten sich
einige Zeit früher bemerkbar als in der Inlandsberichterstattung. Die Auslandsberichterstattung kann damit kein auslösendes Moment des Holocaust-Diskurses gewesen sein, was vermuten läßt, daß interne Anschlußdiskurse einen fortgeschrittenen
Debattenstand aufweisen müssen, um anschlußfähig zu sein. Demonstrations-, Nachahmungs- und andere Effekte der Auslandsberichterstattung (Kap. 3.2.4.3.1)
kommen erst zum Tragen, wenn der Erörterungsgegenstand als solcher bereits Gestalt angenommen hat. Das Wirkungspotential der Auslandsberichterstattung für den
innergesellschaftlichen Diskurs bestand im vorliegenden Fall vor allem in einem
Katalysatoreffekt in der Früh- und Hochphase des Holocaust-Diskurses.
308 Im Sinne der ZUMA-Studie; vgl. Kap. 2.
309 Wilke/Schenk/Cohen/Zemach, Holocaust, S. 136 f.
169
6.1.2.2 Die außermediale Öffentlichkeit der home news abroad: Lobbies oder
Lernprozeß?
Der Prozeß der Separiertheit (vor 1965), der Verbindung (1965-1982), der Lösung
und Neuverbindung (1982-) des Nahost- und des Holocaust-Diskurses in der Presseberichterstattung weist auf die Tatsache, daß die sich in der Presse artikulierende und
von ihr gestaltete politische Kultur über Spannweite und Veränderungspotential
verfügt. Home news abroad existieren mit und ohne innergesellschaftlichen Diskursanschluß; foreign news abroad mit und ohne Elemente der home news abroad. Zu
fragen ist, wie diese Veränderungen des Medienbildes erfolgen. Der Hinweis darauf,
daß die politische Kultur in sich polymorph-pluralistisch sei oder daß bestimmte
Inlandsdiskurse zu bestimmten Zeiten der externen Stimulanz bedürften, sind zur
Erklärung nicht hinreichend, da solche Entwicklungen auf meßbare Einstellungen
von Individuen, Gruppen, Institutionen oder der Gesellschaft insgesamt zurückgeführt können werden müssen (Kap. 3.2.4.1.2). Aus theoretischer Sicht lassen sich
zwei alternative Hypothesen voranstellen: a) Wie das Medienbild insgesamt ist auch
die Verschränkung von Auslands- und Inlandsberichterstattung das Resultat eines
permanenten Themen- und Framing-Wettkampfes von Teilöffentlichkeiten, die auch
als „Themen-Lobbies“ bezeichnet werden können; b) Interaktionen zwischen Inlands- und Auslandsberichterstattung spiegeln neben Einstellungen artikulierter Öffentlichkeitssegmente (z.B. Gewerkschaften, Lobbies) auch nicht-artikulierte (aber
demoskopisch beobachtbare) Einstellungen und Einstellungsveränderungen wider,
die als Lernprozesse der Gesellschaft und der politischen Kultur beschrieben werden
müssen. In die letzte Richtung zielt beispielsweise Udo Steinbachs Einschätzung des
Wandels der öffentlichen deutschen Wahrnehmung des Nahostkonflikts im Verlauf
der siebziger und achtziger Jahre: „(It was) rooted in a changing attitude of the Germans towards their history and their own experience.“310
Im folgenden sollen die den Nahostdiskurs tragenden Kräftekonstellationen auf
allen theoretischen Ebenen erörtert werden:
•
•
•
•
•
Journalisten im Kontext der beruflichen Inlands-/Auslandsspezialisierung
Redaktionsprogramme der Presse in bezug auf den Nahostkonflikt
Presse und westdeutsche Nahostpolitik
öffentliche Einstellungen gegenüber Juden, Israelis und Arabern
organisierter (Framing-)Lobbyismus.
Im theoretischen Vorlauf ist ausgeführt worden, daß vor allem Bernard Cohen auf
die Tatsache hingewiesen hat, daß zumindest die in allgemeinorientierten sogenannten Vollredaktionen tätigen Journalisten durch ihre berufliche Sozialisation und
Tätigkeit eine universelle Problemorientierungsfunktion ausüben. Der Wechsel zwischen Berichterstattungsressorts und/oder Tätigkeitsfeldern innerhalb der Ressorts,
wie er im Journalismus die Regel ist, fördert die Entstehung einheitlicher, zwischen
310 Udo Steinbach, German Policy on the Middle East and the Gulf, in: Aussenpolitik 32 (1981) 4,
S. 318.
170
innenpolitischen und internationalen Fragen nicht differenzierender journalistischer
Meinungsprofile. Über die Orientierung der Autoren, deren Texte über den Nahostkonflikt und den Holocaust untersucht worden sind, gibt der „Zeitungs-Index. Verzeichnis wichtiger Aufsätze aus deutschsprachigen Zeitungen“ Aufschluß. Das Wirken einiger ausgewählter Journalisten, deren Beiträge im Rahmen der Inhaltsanalyse
(Kap. 6.1.1) untersucht worden sind, soll im folgenden durch eine Stichprobe ihrer
Themenschwerpunkte in den Jahren 1975, 1977 und 1979 vorgestellt werden:311
Die Stichprobe der Themenorientierungen bestätigt die theoretische Grundannahme
Cohens. Es zeigt sich, daß eine Konzentration auf die Region Naher Osten und eine
berufliche Spezialisierung auf das außenpolitische Themen-/Diskursfeld III eine
311 Der Index existiert erst seit Jahrgang 1974, so daß eine Stichprobe etwa des untersuchten Jahres
1973 nicht möglich gewesen ist.
171
Ausnahme darstellte. In die Berichterstattung über den Nahostkonflikt involvierte
Journalisten waren dort, wo sie nicht − wie etwa Manfred F. Schröder − Korrespondenten waren, Generalisten: Sie ließen a) hohe Länder- und Regionenflexibilität
erkennen und bearbeiteten b) sowohl außen- als auch innergesellschaftliche Fragen.
Darüber hinaus betreuten c) einige Autoren (hier: Strothmann und Rowold) neben
nahöstlichen Themen auch Fragen des europäischen Judentums und der nationalsozialistischen Vergangenheit. Vor allem die beiden letzten Aspekte weisen darauf hin,
daß die Verbindung des Nahost- mit dem Holocaust-Diskurs im Sinne der beruflichen Sozialisation vieler beteiligter Journalisten folgerichtig war.
Diese Tatsache kann auf der einen Seite als ein Spezialisierungsmangel des Nahostjournalismus interpretiert werden. Auslandsberichterstattung mit einem Potential
für home news abroad aktiviert zumindest auf bestimmten Höhepunkten des Mediendiskurses Mitarbeiter eines Pressemediums, insbesondere „Leitartikler“ und wichtige Kommentatoren, die mit dem Nahen Osten in der regulären Berichterstattung
wenig zu tun haben; ein Phänomen, das sich auch in anderen Fällen nachweisen
läßt.312 Auf der anderen Seite jedoch spiegelt sich hier die nationale Systembindung
der Auslandsberichterstattung in ihrer jetzigen Form wider (Kap. 3.2.4.2.2). Während Außenpolitiker in hohem Maß mit den Vertretern anderer Staaten kommunizieren, „kommuniziert“ der Auslandsjournalist – also auch der spezialisierte Nahostjournalist – in letzter Instanz mit einem Inlands- bzw. national geprägten Publikum,
das den primären Konsumentenkreis der Presse bildet. Für Journalisten wie für Konsumenten stellen daher innergesellschaftliche Anschlußdiskurse innerhalb des bestehenden Systems der Auslandsberichterstattung eine Normalität dar.
Was die Redaktionsprogramme der Presse und das Mediensystem insgesamt betrifft, sind mehrere Pole in der überregionalen Zeitungs- und Zeitschriftenlandschaft
auszumachen. Eine Zeitung mit deutlicher Zweckprogrammierung (vgl. Kap. 3.2.3.3)
war Die Welt, deren Berichterstattung nach den Maßgaben Axel Springers die
deutsch-israelischen Beziehungen fördern sollte.313 Die Welt stellte und stellt eine
Intra-Medien-Lobby für die Interessen der israelischen Regierung in der Bundesrepublik Deutschland dar. In einer Gegenbewegung zum Verlagshaus Springer im
allgemeinen wie zu dessen Berichterstattung über den Nahostkonflikt im speziellen
entwickelte sich seit den späten sechziger Jahren eine Publizistik des linken politischen Spektrums. Die Kräfte, die sich der Bewegung und (den) Partei(en) der Grünen zuordnen lassen, artikulieren sich seit Ende der siebziger Jahre in der tageszeitung. Die tageszeitung bindet keine verlegerische Zweckprogrammierung; als Erfahrungsprogramm läßt sich jedoch die israelkritische Tradition der politischen Linken
erkennen, wobei im Vordergrund der politische Ausgleich mit den Palästinensern
steht, nicht jedoch antizionistische Positionen, die eher selten sind, oder antisemitische Positionen, die überhaupt nicht erkennbar werden. Die kontroverse und heterogene Berichterstattung der Zeitung aus Berlin über den Libanonkrieg von 1982 hat
312 Etwa während der Schimmel-Kontroverse 1995, als beispielsweise Frank Schirrmacher, Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, in die Debatte eingriff.
313 Eine ähnliche Orientierung wies außerhalb des Verlagshauses Springer auch der Rheinische Merkur
auf. Hub, Das Image Israels, S. 8.
172
gezeigt, daß die tageszeitung für eine pro-israelische und vom Holocaust bestimmte
Perspektive offener war als Die Welt für eine pro-arabische Sichtweise. Martin W.
Klokes Einschätzung, wonach sich die tageszeitung 1982 in einen sprachlichen wie
argumentativen Gleichklang mit antisemitischem Gedankengut begab bzw. diesem
Vorschub leistete, wird nicht schlüssig belegt.314 Außer acht gelassen wird zudem,
daß sich gerade anläßlich des Libanonkrieges in der tageszeitung eine facettenreiche
Kontroverse zur Frage der Verbindung von Nahostkonflikt und Holocaust entwickelte, die verdeutlichte, daß das Medium keinesfalls die in der radikalen Linken und in
den K-Gruppen verbreitete Form der Israelkritik teilte, wobei tatsächlich insbesondere der Zionismus und die Existenzberechtigung Israels als imperialistischem „Brükkenkopf“ des Westens in Frage gestellt wurden.
Mit der Gründung der tageszeitung entwickelte sich im Übergang zu den achtziger Jahren ein Gegengewicht zur Welt im Meinungsspektrum der überregionalen
Presse. Es entstand ein Mediensystem, in dem sich die anderen großen konservativen
und (links-)liberalen Pressemedien zwischen den Meinungspolen positionieren konnten: die Bindung der Interpretation des Nahostkonflikts an den Holocaust und einer
hieraus abgeleiteten pro-israelischen Orientierung, wie sie Die Welt präferierte, wurde aufgegeben, in Ausnahme- und Krisenzeiten jedoch urteilten die meisten untersuchten Medien, auch unter Hinweis auf den Holocaust, zurückhaltender als die
tageszeitung, die trotz ihrer Distanz zum Antizionismus auf Grund der ungeklärten
Frage der von Israel besetzten palästinensischen Gebiete auch in Krisenzeiten israelkritisch blieb, wie der Krieg von 1982 zeigte.
Der Kompromißcharakter der „bürgerlichen“ Presse (mit Ausnahme der hier untersuchten Welt) zeigte sich auch in der Wirtschaftspresse, die stärker an deutschen
Außenwirtschaftsinteressen und weniger an innergesellschaftlichen Debatten interessiert war, jedoch ebenfalls keine Verschlechterung deutsch-israelischer Beziehungen
wünschte. Dies bedeutet, daß auch die Wirtschaftspresse Teil einer politischen Kultur ist, in der Einstellungs- und Verhaltensgrenzen definiert werden, denen sich diese
Spezialmedien nicht entziehen können, da auch das Wirtschaftssystem als Teil des
gesellschaftlichen Gesamtsystems auf ein Gleichgewicht mit seiner gesellschaftli314 Martin W. Kloke formuliert drei Kritikpunkte: Die Reaktion der Linken/der tageszeitung war demnach zumindest teilweise auf antisemitische Einstellungen zurückzuführen, wobei etwa die tageszeitung in „frappierender Nähe zur Terminologie der rechtsextremen ‘Deutsche(n) National- und Soldatenzeitung’“ Israel einen neuen Holocaust und Völkermord vorgeworfen habe (Kloke, Israel und
die deutsche Linke, S. 139 f.). Als Beleg zieht Kloke den Beitrag von Reinhard Hesses „Umgekehrter Holocaust“ (a.a.O.) heran; er übergeht jedoch, daß sich Hesse in seinem Beitrag ausdrücklich
gegen Antisemitismus abgrenzt. Kloke argumentiert weiter, daß die Reaktion der politischen Linken
1982 der sekundären Verdrängung der deutschen Geschichte und Entlastung diente (Ebenda, S. 139
ff.): Ein unbelegtes Argument, das wenig plausibel ist, da es primär die Linke war, die seit den
sechziger Jahren die gesellschaftliche Aufarbeitung der deutschen Judenverfolgung und -vernichtung gefordert hatte. Kloke erkennt schließlich die „moralische Aufrechnung“ (deutsche gegen
israelische Schuld) als Signum nicht nur der extremen Linken (z.B. sogenannte K-Gruppen), sondern auch „weite(r) Teile der linken und linksliberalen Publizistik“ (Ebenda, S. 141). Die Behauptung ist ebenso unbelegt wie seine These, die Linke habe nach 1967 ein „geschlossen antizionistische(s) Weltbild“ − also einen linken Konsens gegen die Existenz des Staates Israel − entwickelt
(Ebenda, S. 11, 76 ff.). Vgl. a. Kloke, Ressentiment und Heldmythos, S. 63 ff.
173
chen Umwelt angewiesen ist (Kap. 3.2.4.2.1). Was ihre Stellung innerhalb des Mediensystems anbetrifft, ist davon auszugehen, daß die allgemeinen Medien, und insbesondere die überregionale Presse, die politische Kultur in hohem Maße mitprägt und
sich die Wirtschaftspresse zumindest im politischen Credo ihrer Berichterstattung an
diesen innermedialen Meinungsführern (Kap. 3.2.3.4) orientiert.
Was das Verhältnis der Presse zum politischen System betrifft, zeigt das vorliegende Fallbeispiel, daß die Bonner Nahostpolitik an mehreren Stellen einen starken
Einfluß auf die Medienberichterstattung ausübte.315 Keiner weiteren Untersuchung
bedarf die Situation des Jahres 1965, als vor der Regierungsentscheidung zur Aufnahme von diplomatischen Beziehungen nahezu keine, unmittelbar nach dieser Entscheidung jedoch zahlreiche Referenzen an den Holocaust in der Nahostberichterstattung erschienen. Die politische Entscheidung, dem Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und der hieraus erwachsenen politischen Legitimierung
einen höheren Stellenwert einzuräumen als kurzfristigen deutschlandpolitischen
Erwägungen prägte die Presseagenda. Weniger deutlich, aber dennoch erkennbar,
übte auch die Normalisierungspolitik der Regierung Brandt/Scheel in den frühen
siebziger Jahren einen entsprechenden Einfluß aus. Dies ist um so plausibler, als es
sich in beiden Fällen – 1965 wie Anfang der siebziger Jahre – um deutsche Außenpolitik im engeren Sinne, also um home news abroad handelte, wobei sich auch in
anderen Fällen zeigen läßt, daß die Presse in bedeutsamen, für die Bundesrepublik
Deutschland vitalen Fragen und in Krisensituationen zu einer momentanen Unterordnung unter das System der Außenpolitik bereit ist (Kap. 6.2.2.2).
Die politische Kultur, hier also die Frage der Verbindung oder Nicht-Verbindung
des Diskurses über deutsche Nahostpolitik mit dem Holocaust-Diskurs, war durch
einen lang anhaltenden Diskussionsprozeß in den Medien geprägt, auf den das außenpolitische System einen erheblichen Einfluß besaß. Wesentlich komplexer als bei
außenpolitischen Nachrichten (home news abroad oder foreign news at home) ist
dabei allerdings die Beziehung zwischen Presse und Politik in der zweiten hier untersuchten Nachrichtenkategorie, den foreign news abroad mit Elementen des home
news abroad-Diskurses. Ob ein Mediensystem einen innergesellschaftlichen Anschlußdiskurs zu von ihm berichteten auswärtigen Geschehen bildet, das nicht unmittelbar mit nationalen Interessen des Heimatlandes in Verbindung steht, läßt sich
durch das außenpolitische System dieses Landes nicht steuern. Im vorliegenden Fall
übten die politischen Akteure im Ausland selbst Einfluß aus, etwa Sadat mit seinem
Appell an eine Trennung der Fragen des Nahostkonflikts von der deutschen Vergangenheitsbewältigung oder Israel mit einer nachhaltigen staatlichen Öffentlichkeitsarbeit.
315 Gerhard Konzelmann bestätigte 1974, daß deutsche Politiker und Diplomaten von deutschen
Journalisten erwarteten, daß sie die auf Grund der Vergangenheit bestehenden besonderen
Beziehungen zu Israel berücksichtigten. Gerhard Konzelmann, Journalismus unter erschwerten
Bedingungen, in: medium 4 (1974) 4, S. 4. Zur Frage der politischen Konformität des Journalisten/
Auslandskorrespondenten vgl. a. Kap. 3.2.2.2.
174
Da diese Öffentlichkeitsarbeit jedoch einen Wandel des Nahostbildes nicht hat verhindern können, wie auch Astrid Hub feststellt,316 muß nach anderen Einflußgrößen
gesucht werden. Ein großes Einflußpotential auf die Auslandsberichterstattung ist im
Bereich öffentlicher Einstellungsstrukturen zu erkennen. Aus theoretischer Sicht muß
prinzipiell davon ausgegangen werden, daß Einstellungen bei außenpolitischen und
internationalen Fragen wenig differenziert und konstant sind, stark von Vorgaben der
nationalen Außenpolitik abhängen und sich lediglich kurzfristig präzisieren (z.B.
rally-round-the-flag-Phänomen; vgl. Kap. 3.2.4.1.2). Dabei ist jedoch zu erkennen,
daß sogenannte „Kernwerte“ und vertikale Einstellungssysteme weder von Medien
noch vom politischen System leicht beeinflußbar sind. Es entstehen allerdings folgende Fragen: Wie sind öffentliche Einstellungen beschaffen, wenn die Auslandsberichterstattung nicht mehr eindeutig als „Auslands“-Berichterstattung zu bezeichnen
ist, sondern durch Diskursverbindungen Beziehungen zu innergesellschaftlichen
Fragen entstehen? Werden dann die Einstellungen differenzierter, stabiler, und ist ihr
Einfluß auf die Medienberichterstattung größer als gewöhnlich in der Auslandsberichterstattung?
Zwar existieren weder integrierte Agenda-Setting-Untersuchungen zum Nahostkonflikt (Presseanalyse/Nutzungsbefragung) noch sind demoskopische Daten zum
Gesamtkomplex Nahostkonflikt-Holocaust vorhanden. Dennoch gibt es eine Reihe
einzelner demoskopischer Befunde zum deutschen Öffentlichkeitsbild über den
Nahostkonflikt oder über Juden, Israelis und Araber. Ein Vergleich des oben ermittelten Pressebildes mit diesen demoskopischen Daten zeigt weitgehende Übereinstimmungen. Michael Wolffsohn unterscheidet bei seiner Auswertung von Meinungsfragen, wie sie vor allem im Allensbacher „Jahrbuch der öffentlichen Meinung“ dokumentiert sind, drei Phasen der Öffentlichkeitsrezeption: vor 1967, von
1967 bis zum Ende der siebziger Jahre und seit 1981.317 Diese Einteilung ist nahezu
identisch mit den hier für die Presse ermittelten Berichterstattungstendenzen.
Das Israelbild litt in der Bundesrepublik Deutschland vor allem in den vierziger
und fünfziger Jahren zunächst unter antisemitischen Stereotypen, die auch nach dem
Zweiten Weltkrieg nicht revidiert wurden.318 1952 befürworteten mehr als ein Drittel
der Befragten, daß keine Juden mehr in Deutschland waren,319 und zwei Drittel lehnten eine Heirat mit einem Juden/einer Jüdin kategorisch ab.320 Die Werte weisen
darauf hin, daß noch immer ein negatives Judenbild vorherrschte. Die Mehrheit der
Befragten stimmte 1949 zu, daß die Gründung des Staates Israel eine Lösung für die
„Judenfrage“ war.321 Im folgenden Jahrzehnt allerdings war eine Verbesserung des
negativen Judenbildes zu erkennen. 1965 bejahten nur noch 19 Prozent die Frage, ob
316 Hub, Das Image Israels, S. 178.
317 Michael Wolffsohn, Deutsch-israelische Beziehungen im Spiegel der öffentlichen Meinung, in: Aus
Politik und Zeitgeschichte B 46-47/1984, S. 21.
318 Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1947-1955, Hrsg. von Elisabeth Noelle und Peter Neumann,
Allensbach 1956, S. 130 f.
319 37% antworteten mit Ja, 19% mit Nein, 44% waren unentschieden.
320 70% Nein, 8% Ja, 22% Vielleicht.
321 66% Ja, 14% Nein, 20% unentschieden.
175
sie es für richtig hielten, daß keine Juden mehr in Deutschland seien.322 Zugleich
verbesserte sich das Bild Israels und wuchs die Bereitschaft, mit Israel politisch in
engeren Kontakt zu treten. Vor der Aufnahme offizieller deutsch-israelischer Beziehungen 1965 war ebensowenig wie in der überregionalen Presse eine Mehrheit für
diesen Schritt in der Öffentlichkeit zu erkennen.323 Während des Suezkrieges von
1956 hatte noch eine Mehrheit der Befragten (56%) für Ägyptens Konfliktposition
votiert, gegenüber nur 10 Prozent für Großbritannien und Frankreich.324 Noch im
März 1965 bekannten sich auf die Frage, mit welcher Seite im Nahostkonflikt die
Befragten gefühlsmäßig sympathisierten, 24 Prozent zu Israel, 15 Prozent zu Ägypten, 44 Prozent zu keinem Land. Im Juni 1967, wenige Tage vor dem „Sechstagekrieg“, votierten 55 Prozent für Israel, 6 Prozent für Ägypten und 27 Prozent für
keines der Länder. Im Juli/August 1967, nach dem Krieg, erhöhte sich die Sympathie
für Israel auf 59 Prozent, die für Ägypten blieb konstant bei 6 Prozent.325 Die nach
der Anbahnung der deutsch-israelischen diplomatischen Beziehungen erfolgende
rapide wachsende politische Solidarisierung in der westdeutschen Öffentlichkeit
deckte sich mit dem analogen Prozeß in der Presse.
In den Jahren 1970, 1971 und 1973 war – wie in der untersuchten Presse – ein
leichter Rückgang der öffentlichen Sympathien für Israels Position im Nahostkonflikt zu erkennen (von 45% über 43% auf 37%), während arabische Positionen relativ konstant niedrig geschätzt wurden (von 7% über 8% auf 5%).326 Die Umfragen
322 1956: 29% Ja; 1958 22% Ja; 1963 18% Ja; 1965 19% Ja. Auflistung der Umfragen in: Jahrbuch der
öffentlichen Meinung 1965-67, Hrsg. von Elisabeth Noelle und Erich Peter Neumann/Institut für
Demoskopie Allensbach, Allensbach/Bonn 1967, S. 96. Auf die Frage nach der Heirat mit einem
Juden/einer Jüdin antworteten 1961 54% mit Nein, 32% Vielleicht und 14% Ja (Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1958-1964, Hrsg. von Elisabeth Noelle und Peter Neumann, Allensbach 1965,
S. 215). Eine ähnliche Entwicklung war auf dem Schulbuchsektor zu erkennen. Während Y. Paporish noch 1957/58 bemängelte, daß Israel in deutschen Geographie-Schulbüchern kaum repräsentiert war, bemerkte er 1965/66 bereits, daß Israel mehr Raum als andere Staaten ähnlicher Größe erhielt, „die Menschen meistens mit Sympathie beschrieben“ und das Aufbauwerk des Staates Israel
hervorgehoben wurde. Y. Paporish, Bemerkungen zur Behandlung Israels in deutschen Erdkundelehrbüchern, in: Internationales Jahrbuch für Geschichtsunterricht, Bd. VI, 1957/58, Braunschweig
1957, S. 361 f.; ders., Die Behandlung Israels in deutschen Geographieschulbüchern, in: Internationales Jahrbuch für Geschichts- und Geographieunterricht, Bd. X, 1965/66, Braunschweig 1967,
S. 261-263.
323 Im Juli 1963 sprachen sich auf die Frage, ob die Bundesrepublik Deutschland diplomatische Beziehungen zu Israel aufnehmen sollte, 27 Prozent dagegen und 38 Prozent dafür aus. Diese Werte veränderten sich bis Februar 1965 auf 37 Prozent Gegenstimmen und 35 Prozent Unterstützung (Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1965-1967, S. 470). Inge Deutschkrons Argument, daß 56 Prozent
der deutschen Bevölkerung der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Israel zustimmten, basiert auf einer Infas-Meinungsumfrage vom 16. Mai 1965, also auf Werten, die erst nach der offiziellen Ankündigung der Aufnahme von diplomatischen Beziehungen (16. März 1965) erzielt wurden. Deutschkron, Israel und die Deutschen, S. 343.
324 Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1947-1955, S. 356.
325 Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1965-67, S. 473.
326 Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1968-1973, Hrsg. von Elisabeth Noelle und Erich Peter Neumann/Institut für Demoskopie Allensbach, Allensbach/Bonn 1974, S. 593. Während des „Oktoberkrieges“ war allerdings eine kurzzeitige Rückkehr zu den hohen Sympathiewerten für Israel (57%)
zu erkennen (Ebenda, S. 595). 1974 sanken diese erneut (50%). Allensbacher Jahrbuch der Demo-
176
bestätigen einen Trend zu größerer Ausgewogenheit und eine erneut anwachsende
Neutralitätsstimmung, die allerdings noch immer von einer nachhaltigen Israelorientierung überlagert wurde. Wenig Kritik wurde in der deutschen Öffentlichkeit auch
an der israelischen Besatzungspolitik geübt: 1971 sprach sich fast die Hälfte der
Befragten (45%) für die Einbehaltung der Westbank und des Gaza-Streifens aus
Sicherheitsgründen aus.327
An der Wende zu den achtziger Jahren schließlich setzte sich langsam eine „relative Ausgewogenheit“ der deutschen öffentlichen Einschätzung des Nahostkonflikts
durch, in der keine der Konfliktparteien mehr bevorteilt wurde.328 Während noch
1978 eine klare Mehrheit Sympathien für Israel statt für die Araber im Zusammenhang mit dem Konflikt äußerte,329 verkehrte sich 1981 und 1982 das Verhältnis
leicht zugunsten der arabischen Seite,330 um erst 1983 wieder leicht in Sympathievorteile für Israel umzuschlagen.331 Das Völkerbild Israels blieb von diesen Schwankungen der Einstellungen zum politischen Nahostkonflikt allerdings unbeeinflußt
positiv. Israelis galten auch am Anfang der achtziger Jahre etwa als fleißig, ausgestattet mit einer guten Armee und großen zivilisatorischen Kapazitäten in der Landwirtschaft.332
Als Antwort auf die Ausgangsfrage nach Einstellungen des sogenannten
„Massen“- oder des „interessierten“ Publikums (Kap. 3.2.4.1.2) ergibt sich: Eine
positive Haltung entwickelte sich gegenüber Juden und Israelis erst sehr langsam im
Verlauf der späten vierziger bis in die sechziger Jahre zu einem stabilen gesellschaftlichen Wert. Die Haltung zu Israels Position im Nahostkonflikt hingegen unterlag
etwa denselben Veränderungen wie das Pressebild und entwickelte sich von anfänglicher Indifferenz über eine starke Israelsolidarität zu weitgehender Ausgewogenheit.
Aus Sicht der demoskopisch bestimmten öffentlichen Meinung erwuchs und erwächst aus einer grundsätzlich positiven Haltung zu Juden und zum israelischen
Volk nicht zwangsläufig eine Verbindung des Nahostkonflikts mit der HolocaustFrage. Die Einstellung zum Nahostkonflikt gehört in den Bereich der disponiblen,
veränderbaren, horizontal-ideologischen Einstellungen und politischen Anschauungen und ist kein fester Bestandteil der politischen Kultur.
327
328
329
330
331
332
skopie 1974-1976, Bd. VI, Hrsg. von Elisabeth Noelle-Neumann, Institut für Demoskopie Allensbach u.a. 1976, S. 292.
Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1968-73, S. 594.
Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie 1978-1983, Bd. VIII, Hrsg. von Elisabeth Noelle-Neumann
und Edgar Piel, München u.a. 1983, S. 648. Annemarie Rengers Beobachtung eines Vertrauensschwundes Israels bei der deutschen Bevölkerung im Jahr 1982 wird durch die Umfragen bestätigt.
Das deutsch-israelische Verhältnis heute, NZZ 6.11.1982.
1978: 44% votierten für Israel, 7% für die arabischen Staaten.
1981: 21% für Israel, 24% für die arabischen Staaten; 1982: 20% für Israel, 26% für die Araber.
1983: 19% für Israel, 15% für die arabischen Staaten.
Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie 1984-1992, S. 998. Unabhängig davon, ob das vorliegende
fragmentarische Zahlenwerk ausreicht, ein bestimmtes Araberbild der nichtmedialen Öffentlichkeit
im zeitgeschichtlichen Kontext der Bundesrepublik Deutschland zu erkennen, verweist Wolffsohn
darauf, daß die Araber, anders als die Israelis, in Deutschland „kaum jemals wirkliche Sympathien“
genossen. Wolffsohn, Ewige Schuld, S. 99.
177
Für das Verhältnis von Medien und Öffentlichkeit bedeutet dies, daß die Verwendung des Holocaust als innergesellschaftlicher Anschlußdiskurs der Berichterstattung
über den Nahostkonflikt etwa in der Periode 1965 bis 1981/82 mit breiter gesellschaftlicher Zustimmung rechnen konnte und daß ein Wechselwirkungspotential
zwischen Auslandsberichterstattung und öffentlichen Einstellungen konzediert werden muß. Die Voraussetzungen für eine sehr seltene Konstellation waren gegeben, in
der das öffentliche Meinungsklima konfliktbezogene Anschauungen parat hielt, die
über vertikale Einstellungen (Kernwerte) hinausgingen und Grenzbedingungen der
Auslandsberichterstattung definierten. Das Nachlassen der Sympathie für Israels
Standpunkt im Nahostkonflikt im Übergang zu den achtziger Jahren weist auf einen
Lernprozeß, in dem die Wahrnehmung des Nahostkonflikts aus der Sicht des projüdischen Wertebegriffs der politischen Kultur ihre Wirkung verlor.
Als letztes bleibt die Frage zu untersuchen, inwieweit die organisierte Öffentlichkeit Einfluß auf die Verwendung von Holocaust-Frames in der Nahostberichterstattung ausübte, insbesondere spezialisierte Interessengruppen als Bestandteil sogenannter „Themen-Öffentlichkeiten“, die direkt (durch Öffentlichkeitsarbeit) oder
indirekt (über die Einflußnahme auf Individuen, Organisationen und Institutionen)
auf die Auslandsberichterstattung einwirken können.
Thomas Friedman, Pulitzer-Preisträger und Korrespondent der New York Times,
bezeichnet Israel als Teil der amerikanischen „Psyche“.333 Udo Steinbach versteht,
wie gesehen, die Veränderungen im deutschen Medien- und Öffentlichkeitsbild als
einen gesellschaftlichen Lernprozeß. Beide Annahmen lassen darauf schließen, daß
Medien, Öffentlichkeit und die zentralen Meinungsführer der Politik zusammen
einen gesellschaftlichen Diskurs prägen, in dem sich unterschiedliche Kräfte zu unterschiedlichen Zeiten durchzusetzen vermögen, wobei es aber die politische Kultur
in ihrer Gesamtheit ist, die bestimmte Teile der Auslandsberichterstattung in den
Einzugsbereich innergesellschaftlicher Debatten geraten läßt, nicht jedoch einzelne
Interessengruppen das Medienbild prägen.
Allerdings ist bemerkenswert, daß der Mediendiskurs über den Nahostkonflikt
sich in den USA erst sehr viel später, nämlich seit Beginn des palästinensischen
Aufstandes (Intifada) in den von Israel besetzten Gebieten 1987, von der einseitigen
Israel-Bindung löste.334 Obwohl anzunehmen wäre, daß der Holocaust-Diskurs auf
Grund der nationalsozialistischen Vergangenheit in Deutschland nachhaltiger hätte
wirken müssen als in den USA, war dessen Präsenz in US-Medien kontinuierlicher335
als in der Bundesrepublik Deutschland, wo seit den achtziger Jahren zum Teil vehe333 Thomas Friedman, The U.S. Media and the Middle East, in: Shai Feldman (Hrsg.), U.S. Middle
East Policy: the Domestic Setting, Tel Aviv 1988, S. 36-39.
334 Gemäß R. S. Zaharna erfolgte ein pro-arabischer Wandel der Nahostberichterstattung in amerikanischen Medien nicht vor 1988, also während der Intifada (R. S. Zaharna, The Palestinian Leadership
and the American Media. Changing Images, Conflicting Results, in: Yahya R. Kamalipour (Hrsg.),
The U.S. Media and the Middle East, Westport/London 1995, S. 37 ff.). Vgl. mit ähnlicher Analyse
auch Younis, Western Media, S. 487 ff. AnneMarie A. Daniel stellt überhaupt keine gravierenden
Veränderungen in der Berichterstattung fest. AnneMarie A. Daniel, U.S. Media Coverage of the Intifada and American Public Opinion, in: ebenda, S. 69.
335 Vgl. Dorman/Livingston, News and Historical Content.
178
mente Kontroversen über die Thematik ausgetragen worden sind. Verschiedene
Faktoren können als Ursache für die Unterschiede in der Entwicklung des Medienbildes angeführt werden. Die Impulse seitens des politischen Systems, die auf die in
der Regel stark an außenpolitischen Belangen orientierte amerikanische Presse ausgesendet werden, sind in den USA stärker auf Israel konzentriert als die der meisten
europäischen Länder und der Bundesrepublik Deutschland (die USA votierten zum
Beispiel in den Vereinten Nationen häufig als nahezu einziges Land mit Israel).
Zudem muß der Versuch jüdischer Interessenvertretungen, einen pro-israelischen
Einfluß auf die Presse auszuüben, als erfolgreicher betrachtet werden als vergleichbare Versuche arabisch-amerikanischer Zusammenschlüsse.336
Poschinger hat die Behauptung aufgestellt, daß pro-israelische Interessengruppen
in der Bundesrepublik Deutschland ebenfalls einen bedeutsamen Einfluß auf das
Medienbild ausüben und insbesondere ein Interesse daran haben, daß HolocaustFrames in der Berichterstattung präsent bleiben.337 Die Kompendien des Auswärtigen Amtes führen etwa die gleiche Zahl deutsch-israelischer Gesellschaften und
anderer Organisationen der deutsch-israelischen Freundschaft338 an wie deutscharabischer Vereinigungen,339 was angesichts der Tatsache, daß es sich bei Israel um
ein einzelnes Land, bei den arabischen Staaten jedoch um eine ganze Ländergruppe
handelt, auf eine ungewöhnlich starke Stellung der „Freunde Israels“ im Bereich der
organisierten deutschen Öffentlichkeit schließen läßt. Im Umfeld des deutschen
Bundestages existieren deutsch-israelische wie deutsch-arabische Parlamentariergruppen und informelle Lobbies wie die sogenannten pro-arabischen „Außenwirtschaftler“ (Hünseler).340 Als Prämisse kann gelten, daß diese Organisationen und
Gruppierungen jeweils der einen oder anderen Seite im Nahostkonflikt nahestehen
und bestrebt sind, die deutsche Öffentlichkeit in ihrem Sinne zu beeinflussen.341 Dies
336 Robert Holmes Trice Jr., Domestic Political Interests and American Policy in the Middle East: ProIsrael, Pro-Arab and Corporate Non-Governmental Actors and the Making of American Foreign
Policy, 1966-1971, Ph.D. University of Wisconsin 1974, S. 334-342; vgl. a. Younis, Western Media, S. 487.
337 Poschinger spricht in sehr unklarer Weise von „zionistischen Aktivitäten“, „Manipulationen“,
„Infiltration“ und „israelische(n) Propagandisten“ als Einflußfaktoren der deutschen Medien:
„Nachweisbar wurden deutsche Politiker und Medienleute von Zionisten und deren Lobby bisweilen nicht nur ersucht, sondern sogar genötigt, keine Kritik an zionistischer Politik zu üben und nicht
die israelische Version von ‘Antisemitismus’ oder andere Dogmen in Frage zu stellen.“ Poschinger,
Der Palästina-Konflikt, S. 186 f., 173-195.
338 Kompendium der deutsch-israelischen Beziehungen, Hrsg. vom Deutschen ÜberseeInstitut/Übersee-Dokumentation, Hamburg, in Zusammenarbeit mit dem Auswärtigen Amt, Bonn,
Hamburg 1995, S. 143-153.
339 Kompendium der deutsch-arabischen Beziehungen, Hrsg. vom Auswärtigen Amt, Bonn 1994,
S. 118-124.
340 Peter Hünseler, Die außenpolitischen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu den arabischen Staaten von 1949-1980, Frankfurt u.a. 1990, S. 187.
341 Der ehemalige Sprecher des Deutsch-Israelischen Arbeitskreises für Frieden im Nahen Osten, einem
1977 gegründeten Verein, der sich von der Politik der israelkonformen Deutsch-Israelischen Gesellschaft durch einen koexistentialistischen Zionismusbegriff abgrenzte, kritisiert, daß die offiziellen
„Freunde Israels“ öffentliche Kritik an Israel grundsätzlich mißbilligen. Rolf Rendtorff, Vom Wandel der Einstellungen. Das Israel-Engagement in der Bundesrepublik seit 1948, in: Ulrike Ber-
179
jedoch bedeutet, daß es nicht nur in den USA, sondern auch in der Bundesrepublik
Deutschland pro-israelische Kräfte der deutschen Öffentlichkeit gibt (wie auch proarabische), die versuchen, die Medienberichterstattung in ihrem Sinne zu beeinflussen; es sagt jedoch nichts darüber aus, wie erfolgreich sie dabei sind.
In Ermangelung empirischer Belege für den Einfluß und die Wirkung von Interessengruppen auf die Medien, kann lediglich ex negativo festgestellt werden, daß die
nachgewiesenen Schwankungen in der Kopplung und Entkopplung von Nahost- und
Holocaust-Diskurs eine vollständige Steuerung und Prägung der Auslandsberichterstattung durch eine „Israel-Lobby“ ausschließen. Organisierte Kräfte der Öffentlichkeit sind auch in Fragen der Auslandsberichterstattung, die eng mit innenpolitischen
Fragen verbunden werden können, nur einer von zahlreichen Bestimmungsfaktoren
neben Einflüssen des Journalisten, des Mediums, der Politik und spezifischen Einstellungskonstellationen der breiten Öffentlichkeit, die in ihrer Gesamtheit Lern- und
Entwicklungsprozesse der politischen Kultur ausprägen. Lobbies üben bei innergesellschaftlichen Diskursanschlüssen der Auslandsberichterstattung nicht grundsätzlich besonders starken Einfluß auf die Presse aus. Im Gegenteil: das Beispiel der
Nahostberichterstattung legt die Schlußfolgerung nahe, daß Auslandsberichterstattung, die mit Fragen innergesellschaftlicher Relevanz gekoppelt wird, weitaus mehr
gesellschaftliche Kräfte auf den Plan ruft, die um Einflußnahme auf das mediale
Auslandsbild konkurrieren, als dies bei Fragen der Fall ist, die von solchen Anschlüssen unberührt bleiben (z.B. ein Teil der außenpolitischen Berichterstattung)342
und die daher geeigneter für erfolgreichen „Framing-Lobbyismus“ sind.
6.2
Die Erdölkrise (1973)
Die Erdölkrise von 1973 war ein Ereignis von herausragender politischer und wirtschaftlicher Bedeutung, und sie ist ein signifikanter Gegenstand zur Erforschung der
Nahostberichterstattung der deutschen Medien. Die Krise war insofern außergewöhnlich, als die Wahrnehmung einer drohenden Verknappung des Rohstoffs Erdöl
und die Bedrohung der Wohlstandsgesellschaft die deutsche Öffentlichkeit in einem
Ausmaß mobilisierte, wie dies weder vorher noch nachher in der Nahostpolitik der
Fall war. Kein anderes Thema im Bereich des Nahostbildes erzielte fünf aufeinanderfolgende Titelseiten im Spiegel. Die allgemeine Strukturschwäche der Öffentlichkeit bei internationalen Fragen (Kap. 3.2.4.1.2) kam bei der Erdölkrise nicht zum
Tragen, da hier alle großen Organisationen wie Parteien oder Gewerkschaften ebenso wie weite Teile der Bürgerschaft zur Meinungsbildung angehalten waren. Das
hohe Maß der Mobilisierung bedeutete, daß die Auslandsberichterstattung in regem
Austausch mit ihrer gesellschaftlichen Umwelt, mit der Außen- und Außenwirtger/Reiner Bernstein/Rolf Rendtorff/Karlheinz Schneider, Israel: Reflexionen über ein Engagement,
Hrsg. von Reiner Bernstein, Berlin 1980, S. 25 f.
342 Home news abroad, foreign news at home oder foreign news abroad im Diskursfeld III, d.h. ohne
innergesellschaftlichen Anschlußdiskurs.
180
schaftspolitik der deutschen Regierung ebenso wie mit Publikum und Konsumenten
stand. Hinzu kam, daß ein ökonomisches Thema auch den wirtschaftlichen Komplex,
dessen Beschäftigungsfeld in Normalzeiten ein Randgeschehen der Auslandsberichterstattung darstellt (Kap. 5.1.2), einbezog. Die gesellschaftliche Konfiguration bietet
ideale Voraussetzungen, um mit einer systemtheoretisch orientierten Analyse den
Ein-fluß von Medien, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in der Auslandsberichterstattung zu studieren.
Gute Bedingungen existieren auch, um das Verhalten der Medien in internationalen Krisen und Konflikten zu untersuchen, denn ungeachtet der Tatsache, daß die
Bundesrepublik Deutschland eindeutige Rohstoffinteressen verfolgte, die sie zur
Konfliktpartei machten, war dieser „Rohstoffkrieg“ ein Wirtschafts- und Handelskrieg, kein Gewaltkrieg. Gewaltkriege sind zwar das bevorzugte Objekt der Medienkonfliktforschung, aber sie sind in vielerlei Hinsicht (militärische Zensur usw.) Sonderphänomene. Das Handeln der Medien wird hier unter Extrembedingungen untersucht, während ihr Funktionieren in den weitaus häufigeren gewaltfreien internationalen Konflikten nicht beachtet wird. Die nationale Einseitigkeit von Medien in
internationalen Konflikten, die von der Medienforschung häufig attestiert wird, ist
unter Kriegsbedingungen geradezu vorgeprägt, muß jedoch bei gewaltfreien internationalen Konflikten erst nachgewiesen werden.
Im folgenden soll zunächst eine Inhaltsanalyse (Re-Rekonstruktion), im wesentlichen auf Basis einer Vollerhebung der großen Tages- und Wochenzeitungen wie der
Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Süddeutschen Zeitung, dem Spiegel usw. für
die Monate Oktober bis Dezember 1973, durchgeführt werden (Kap. 6.2.1). Es folgt
die gegenstandsorientierte Dekonstruktion I, wobei Reflexionen über die Nutzung
des Erdöls als politische Waffe sowie als Wirtschaftsgut im Kontext der Beziehungen Industrie-/Entwicklungsländer im Vordergrund stehen (Kap. 6.2.1). Die abschließende Dekonstruktion II (Kap. 6.2.2) erfolgt in zwei Schritten: Erklärung der
Dekonstruktionsbefunde im Rahmen der Systemtheorie (Kap. 6.2.2.1) sowie der
Krisen- und Konflikttheorie (Kap. 6.2.2.2).
6.2.1 Re-Rekonstruktion und Dekonstruktion I: Die Erdölkrise
in der deutschen Presse: Preisentwicklung, Nationalisierung und downstream operations
In den Jahren 1970 bis zur Erdölkrise von 1973 entwickelte sich in der deutschen
überregionalen Presse schrittweise eine überwiegend kritische Haltung gegenüber
den Nationalisierungsbestrebungen im Erdölsektor verschiedener Staaten Nordafrikas und des Nahen und Mittleren Ostens. Als ernsthafte Gefährdung der westlichen
Rohstoffversorgung wurde insbesondere die Kooperation zwischen der Sowjetunion
und den revolutionären Regimes in Algerien, Libyen und Irak betrachtet.343 Die
343 Volker Schröder, Schwarzmalerei in Öl, IK 5.2.1970; Erwin O. Genzsch/Heinrich L. Kaster, UdSSR
und Comecon im Vormarsch auf westliche Positionen, IK 5.2.1970; Bruno Lahr, Moskau greift
181
Antitrustpolitik Muammar al-Gaddafis beispielsweise wurde als ein Ausdruck von
„Fremdenfeindlichkeit“ betrachtet.344 Als Vorbild der Gefährdung bestehender Verträge mit den westlichen Erdölgesellschaften durch Verstaatlichungsmaßnahmen galt
die Ära Mossadegh in Iran, wo zwischen 1952 und 1954 die Erdölförderung nahezu
versiegte.345 Langsam übertrug sich die Bewertung auch auf die Region des Persischen Golfs, dessen politische Systeme als instabil galten, zumal gegenüber der Koalition der UdSSR mit dem arabischen Staatssozialismus. Zwar betrachtete man die
Herrscher der Golfregion als „verfilzte Sippen“, doch stellte die Kooperation zwischen patriarchalischer Macht und westlichem know how eine Synthese dar, die
insbesondere aus Sicht der konservativen Presse durch „kluge Evolution“ die Revolution „in Schach“ halten konnte.346 Die Verbindung aus Geringschätzung der politischen Systeme der Golfstaaten bei gleichzeitigem Plädoyer für ihren Erhalt entsprach verbreiteten Nationenstereotypen des Araber-Bildes (Kap. 5.3.2.2).
Eine Minderheit der untersuchten Beiträge stand den Wandlungen des Erdölsystems positiv gegenüber. Kritisiert wurde hier, daß die „Logik“ der Entwicklungsgesellschaften in der westlichen Öffentlichkeit noch weithin nicht verstanden wurde.
Die Erdölförderstaaten zielten auf die Erweiterung ihrer Rolle als Rohstofflieferanten und die Industrialisierung ihrer Gesellschaften mittels der gewachsenen Einnahmen durch das Erdöl. Die Industrienationen erhielten über die Mineralölsteuer hohe
versteckte Subventionen, die den Strom entwicklungsrelevanter Finanzmittel im
internationalen Wirtschaftssystem in die falsche Richtung leiteten.347 Zeitweise steigerte sich diese Argumentation bis zu dem Vorwurf, die Ölkonzerne agierten in einer
„Ideenwelt des Kolonialismus“.348
Als im Laufe der Jahre verschiedene Staaten Verstaatlichungen durchführten,
setzte sich eine Knappheits- und Starvationsmetaphorik in der Presse durch: Förder-
344
345
346
347
348
182
nach Arabiens Ölquellen, Welt 8.6.1970; Emil Mühlberger, Arabisches Öl in Moskaus Plänen, BK
22.8.1970; Jonas Beiner, Das Regime in Tripolis steuert einen gefährlichen Kurs, Welt 30.7.1970;
Droht den Ölkonzernen in Libyen jetzt auch die Verstaatlichung?, Welt 26.2.1971; Kraftprobe in
Tripolis, HB 3.3.1971; Klaus-Peter Schmidt, Von den Kapitalisten gelernt, Zeit 5.3.1971. Als Gegenposition vgl. die DDR-Berichterstattung im Neuen Deutschland: Bringfried Beer, Algerien nutzt
Erdöl für nationalen Aufbau, ND 1.11.1970; Rolf Günther, Libyens Kampf gegen die Erdölhaie,
ND 23.12.1970.
Michael Jungblut, Drohung mit dem Bumerang, Zeit 20.2.1970.
Rolf Prudent, Drei Millionen Tonnen weniger nach Deutschland, IK 20.6.1970. Bei dieser Argumentation wurde nicht berücksichtigt, daß es sich bei den Schwierigkeiten Irans vor allem um einen
gezielten Absatzboykott der westlichen Erdölgesellschaften gehandelt hatte, die über ein Verteilungs- und Transportmonopol verfügten.
Hans Baumann, Schmieröl von der Piratenküste, Welt 22.5.1971; vgl. a. Peter Baruschke, Vom
zwölften über Nacht ins zwanzigste Jahrhundert, Welt 5.3.1971; Rudolph Chimelli, Wettlauf im
Persischen Golf, SZ 24.6.1972.
Hans Baumann, Die Logik der Libyer, Welt 13.6.1970.
Eduard Thomas, Die Soldaten gingen, die Ölkonzerne blieben, FR 20.10.1971; vgl. a. Wehrlos wie
nie, Spiegel 25.1.1971. Hans Baumann allerdings argumentierte einschränkend, das vom iranischen
Schah Reza Pahlevi vorgeschlagene Junktim zwischen arabischen Rohöl- und westlichen Industriegüterpreisen solle eingeführt werden, ohne daß die Arbeitsteilung zwischen Rohstoffproduzenten
der „Dritten Welt“ und den Industriestaaten in der Substanz angetastet werde. Hans Baumann, Flankenschutz aus Teheran, Welt 27.6.1972.
länder „griffen nach dem Öl“ und würden möglicherweise den „Ölhahn zudrehen“.
Unabhängig von der politischen Ausrichtung der Presse herrschte weitgehende
Übereinstimmung darüber, daß sich die westlichen Industriestaaten in einer „Energiekrise“ befanden und daß auf die „Ölschwemme“ vergangener Jahre eine „Ölklemme“ folgte,349 von der vor allem die Sowjetunion in ökonomischer wie in militärstrategischer Hinsicht profitieren mußte.350
Da die UdSSR jedoch weder auf die westlichen Industriestaaten als Absatzmärkte noch auf die Technologie der Erdölkonzerne verzichten konnte und daher unmittelbare Versorgungskrisen unwahrscheinlich waren,351 wurde die Verstaatlichungspolitik verschiedener arabischer Staaten zunehmend akzeptiert. Der bahnbrechende
Vertrag zwischen Paris und Bagdad wurde in der deutschen Presse als „schmerzliche(s) Arrangement“, zugleich jedoch als einzig realistische Reaktion auf die „unrechtmäßige Enteignung“ betrachtet.352
Die Haltung der Presse entsprang nur in seltenen Fällen der Einsicht in die Motive der arabischen Entwicklungsgesellschaften, die kaum erörtert wurden, sondern
einer von westlichen Versorgungsinteressen und Stabilitätserwägungen getragenen
Unterordnung unter realpolitische Zwänge.
Die Reaktion der untersuchten deutschen Pressebeiträge auf die Erdölkrise von
1973 läßt sich in drei Rezeptionsphasen unterteilen:
• In der Frühphase etwa von September bis Anfang November 1973 wurde die
sich anbahnende Erdölkrise – der Lieferboykott gegen die USA und die Niederlande sowie die Preiserhöhungen der OPEC – zu einem Diskussionsgegenstand
vorwiegend des Wirtschaftsressorts.
• In der Hauptphase von Anfang bis Mitte November kam es in Folge der Drohung
der arabischen Staaten mit der Ausweitung des Lieferboykotts sowie mit der
Drosselung der Ölausfuhr zu einer richtungsübergreifenden Ablehnung der ökonomischen und politischen „Erpressung“ durch die arabischen Staaten.
349 Vgl. u.a. Hans Baumann, Libyens Revolutionsrat greift nach dem Öl, Welt 9.12.1971; Kurt Leisler,
So wird der Ölhahn zugedreht, WaS 4.6.1972; Securius, Ist an Ölaktien noch etwas zu verdienen?,
Zeit 6.10.1972; Roger Schnapka, Algeriens Öl in den Schlagadern Europas, FR 10.5.1973.
350 Erhöhte Sowjet-Aktivität an der arabischen Ölfront, HB 5.6.1972; Gespannte Muskeln, Spiegel
12.6.1972; Harald Vocke, Läßt Frankreich den Westen in der Erdölkrise im Stich?, F.A.Z.
15.6.1972; Harald Vocke, Frankreich setzt gemeinsame Erdölinteressen des Westens aufs Spiel,
F.A.Z. 26.6.1972; Flotte am Golf, Spiegel 17.4.1972. Zur Haltung sozialistischer Staaten zur irakischen Erdölfrage vgl. a. Karl-Heinz Werner, Rumeila wird Iraks erstes eigenes Erdölfeld, ND
3.9.1971.
351 Rudolph Chimelli, Irak enteignet Ölproduktion, SZ 3.6.1972; Machtpolitik mit Öl, SZ 3.6.1972;
Bag-dad kann auf den Absatz seines Öls in westlichen Ländern nicht verzichten, Welt 6.6.1972.
Der saudische Erdölminister Ahmed Zaki al-Jamani gelangte in der deutschen Wirtschaftspresse zu
Ansehen und wurde als „arabischer Kissinger“ bezeichnet, da er die wirtschaftlichen Beziehungen
zu Europa und den USA intensivieren wollte. Friedrich-Wilhelm Fernau, Ein arabischer Kissinger,
HB 13.11.1972.
352 Klaus-Peter Schmid, Mut zum Offenbarungseid, Zeit 30.6.1972. Zur Nationalisierungsfrage vgl. a.
Friedrich-Wilhelm Fernau, Erst ein Fünftel, dann die Hälfte ..., HB 22.8.1972; ders., Überraschung
aus Teheran, HB 25.1.1973; Karl Heinrich Herchenröder, Weltölmarkt im Wandel, HB 26.7.1973.
183
• In der Spätphase seit Mitte November (bis zum Ende der Untersuchungsperiode
im Dezember 1973) wurde eine Re-Polarisierung der Redaktionslinien im
Rechts-Links-Gefüge erkennbar, wobei vor allem die Wirtschaftspolitik der arabischen Staaten im Kontext des Nord-Süd-Gegensatzes unterschiedlich bewertet
wurde.
Die erneute Verstaatlichungen in Libyen353 und Saudi-Arabien im September 1973
erstmals ausgesprochene Drohung, die Erdölproduktion zu drosseln, falls die USA
weiterhin einen einseitig pro-israelischen Kurs verfolgten, führten zu einer Verunsicherung darüber, ob die politischen und ökonomischen Sphären der OPEC weiterhin
getrennt bleiben würden. Daß insbesondere nach dem Scheitern des ersten Boykottversuchs der arabischen Staaten während des „Sechstagekrieges“ von 1967 die Dynamik des Geschehens im Herbst 1973 unterschätzt wurde, zeigte etwa die Reaktion
des Spiegel, der noch Mitte September die Frage stellte, „was den engagierten Antikommunisten Feisal auf die Seite der Widersacher des Westens getrieben“ haben
könne.354 Die Tatsache, daß sowohl arabische Positionen im Nahostkonflikt als auch
deren ökonomische Interessen bis dahin nur am Rande auf der Agenda der deutschen
Auslandsberichterstattung gestanden hatten, in Verbindung mit der Erfahrung eines
vielfachen Scheiterns multilateraler Solidarisierungsversuche in der arabischen
Welt,355 wirkte der frühzeitigen Formierung eines Mediendiskurses entgegen.
Nach dem Ausbruch des „Oktoberkrieges“ (6. Oktober 1973) veränderte sich
langsam die Wahrnehmung der arabischen Erdölpolitik, die nunmehr zunehmend als
gefährlich eingestuft wurde. Mögliche Versorgungsengpässe durch Kriegsfolgen, die
vorsorglichen Krisenmaßnahmen der USA und vieler europäischer Staaten sowie
Hinweise aus der arabischen Welt wie die des OPEC-Generalsekretärs, Abd alRahman Khene, der Ende September geäußert hatte, die Industrienationen liefen
„mit offenen Augen in die Katastrophe“, ließen die Presse in wachsendem Maß die
Möglichkeit einer akuten Energiekrise in Betracht ziehen.356 Als am 17. Oktober
1973 von der OPEC beschlossen wurde, die Erdölpreise um 17 Prozent zu erhöhen,
Preisverhandlungen mit den Ölgesellschaften zu beenden und die Produktion monatlich um fünf Prozent zu drosseln, bis die Rechte des palästinensischen Volkes wiederhergestellt waren, und als schließlich in den folgenden Tagen und Wochen die
meisten wichtigen Erdölförderstaaten unilateral einen Lieferstopp gegen die USA
und die Niederlande beschlossen,357 war dies für einzelne Journalisten bereits der
Beginn des „Rohstoff-“ oder „Rohölkriegs“.358
353 Kontrolliert, Zeit 7.9.1973; vgl. a. Karl Heinrich Herchenröder, Politischer Ölmarkt, HB 14.8.1973;
Hans Baumann, Libyen pokert hoch, Welt 4.9.1973, Faisal: Erdöl keine Waffe, Zeit 7.9.1973.
354 Erdöl: Konflikt zwischen Arabern und USA?, Spiegel 10.9.1973.
355 Vgl. a. Carola Kaps, An Rache nicht zu denken, Zeit 14.9.1973; Warme Heizungen, F.A.Z.
18.10.1973.
356 Jens Friedemann, Der Krieg des Muammar al-Gaddafi, Zeit 19.10.1973.
357 Die bereits am 17. Oktober empfohlenen Embargos gegen die USA und die Niederlande wurden
von den einzelnen arabischen Staaten schrittweise verhängt. Gegen die USA: Abu Dhabi 18.10.;
Libyen 19.10.; Saudi-Arabien und Algerien 20.10.; Kuwait und Qatar 21.10.; Oman 25.10.; gegen
die Niederlande: Kuwait und Abu Dhabi 23.10.; Qatar 24.10.; Oman 25.10.; Libyen 30.10.; Saudi-
184
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung monierte das „Ölpreisdiktat“, bezeichnete die
arabischen Erdöllieferanten als „Ölaraber“ oder „Klub der arabischen Ölkrösusse“
und verwandte, ebenso wie Die Welt, das Argument, daß der Konsens des internationalen Wirtschaftssystems, der aus ihrer Sicht auf dem Zufriedenstellen beiderseitiger
Interessen beruhte, durchbrochen worden war.359 Auch Der Spiegel, der in den Jahren zuvor zum Teil Verständnis für die arabische Erdölpolitik gegen die internationalen Ölgesellschaften gezeigt hatte, wechselte jetzt seine Problemperspektive und
Sprachgebung. Das Hamburger Nachrichtenmagazin sprach von „Arabiens ÖlPotentaten“, die ihre Monopolstellung als einzige zukünftige Versorger der Bedarfssteigerungen in den USA und Japan unberechtigterweise ausnutzten.360 Allerdings
waren auch die OPEC-Beschlüsse des Oktobers und die folgenden Embargomaßnahmen der arabischen Staaten gegen die USA und die Niederlande kein auslösendes
Moment einer vehementen Krisenberichterstattung. Von wenigen Ausnahmen abgesehen wurde die Erdölfrage in der zweiten Hälfte des Oktober noch überwiegend in
den Wirtschaftsressorts der untersuchten Tages- und Wochenzeitungen erörtert, auch
wenn sie vereinzelt bereits auf den Frontseiten der Presse erschien.361 Die Frankfurter Rundschau war die letzte große Tages- und Wochenzeitung, die noch wenige
Tage vor der endgültigen Eskalation der Hochphase der Erdölkrise anmerkte, daß
Steuereinnahmen westlicher Staaten sowie Konzerngewinne den Großteil der erwirtschafteten Rohöl-Verbraucherpreise ausmachten und das existierende Frachtkostenverrechnungssystem die Erdölförderländer benachteiligte.362
358
359
360
361
362
Arabien 2.11. Ibrahim F.I. Shihata, The Case of the Arab Oil Embargo. A Legal Analysis of Arab
Oil Measures, with the Full Text of Relevant Resolutions and Communiqués, Beirut 1975, S. 7 f.
Hans Baumann: „Doch die Araber spielen nur diesen einen Trumpf aus im Spiel um Macht. Den
letzten und entscheidenden Trumpf aber werden die Amerikaner ziehen. Dieses Land ist nicht bereit, sich den Willen der Länder des Nahen Ostens oder einiger Staaten Afrikas aufzwingen zu lassen. Amerika wird die Erklärung des Rohstoffkrieges aufnehmen.“ Hans Baumann, Ihren RohölKrieg können die Araber nicht gewinnen, Welt 19.10.1973.
Wie wirkt sich das Ölpreisdiktat der Golfstaaten aus?, F.A.Z. 20.10.1973; vgl. a. Franz Thoma, Das
Öldiktat − ein Vertragsbruch, SZ 18.10.1973.
Nahost-Öl: Die Krise dauert fünfzehn Jahre, Spiegel 22.10.1973.
Zu den Beiträgen der zweiten Oktoberhälfte vgl. u.a.: Erdöl als „Waffe“, FR 10.10.1973; Hans
Kepper, Dieser Krieg wird Nachwirkungen in der ganzen Welt haben, FR 12.10.1973; Das Streiflicht, SZ 15.10.1973; Wegen Krieg in Nahost: Wird das Öl jetzt knapp?, WaS 14.10.1973; Wilhelm
Throm, Weiterhin Erdöl aus Iran, F.A.Z. 16.10.1973; Bundesregierung: Die Erdölversorgung durch
den Nahost-Krieg vorerst nicht gefährdet, F.A.Z. 18.10.1973; Alfred M. Stahmer, Was Heizöl nach
dem Preisdiktat kosten wird, SZ 19.10.1973; Rolf Dietrich Schwarz, Fridrichs warnt vor Panikkäufen, FR 18.10.1973; Vertrauliche Beratungen in Paris über die Ölversorgung, F.A.Z. 19.10.1973;
Wilhelm Throm, Die Ölsituation − nüchtern betrachtet, F.A.Z. 19.10.1973; Hans Jürgensen, Amerikas Energiekrise ist ganz hausgemacht, F.A.Z. 20.10.1973; Wilhelm Körber, Öl als Wunderwaffe
der letzten Stunde?, Welt 20.10.1973; Araber verschärfen Ölboykott gegen die USA, Welt
22.10.1973; Carl E. Buchalla, Ölboykott gegen die USA ausgeweitet, SZ 22.10.1973; Teures Öl aus
der Nordsee, FR 24.10.1973; Diether Stolze, Der Ölkrieg findet nicht statt, Zeit 26.10.1973; Schah
betreibt offene Ölpolitik, FR 26.10.1973; Den Haag versucht die Araber umzustimmen, F.A.Z.
30.10.1973.
Karl Grobe, Winke vom Perserschah und Drohungen aus Libyens Wüste, FR 31.10.1973; mit
ähnlichem Tenor vgl. ders., Petroleum und Politik, FR 18.10.1973.
185
Der Höhepunkt der Berichterstattung wurde erst mit der direkten Involvierung der
Bundesrepublik Deutschland erreicht, als die OPEC an der Monatswende mit der
Ausweitung des Lieferboykotts drohte und am 5. November beschloß, ihre Produktion um 25 Prozent und ihre Lieferungen um 5 Prozent zu drosseln, nicht jedoch bereits zum Zeitpunkt der Embargoerklärungen gegenüber den USA und Holland. Erst
jetzt gelangte die Erdölkrise auf die Front- und Titelseiten der Presse. Die vormalige
relative Zurückhaltung in Umfang und Argumentation der Berichterstattung wich
nunmehr einem Tenor, der sich an dem Kernbegriff „Erpressung“ orientierte. Unabhängig von der politischen Ausrichtung der untersuchten Medien wurden etwa im
Spiegel (Titel: „Die Erdölerpressung“) oder Quick (Titel: „Die arabische Erpressung“) sowohl der Einsatz des Erdöls als „politische Waffe“ als auch ökonomische
Maßnahmen wie Preiserhöhungen, Produktions- und Lieferkürzungen als Vorgänge
bezeichnet, die gegen das Völkerrecht und Gepflogenheiten in den internationalen
Beziehungen verstießen. Der Spiegel bezeichnete die arabischen Maßnahmen als
„Kriegserklärung“. Quick sprach von einer „Diktatur der arabischen Petroleumpotentaten“, von einer „in jeder Hinsicht brutalen und nackten Machtentfaltung“.363 Unter
dem Druck der sich zuspitzenden Krise wechselte selbst die linksliberale Frankfurter
Rundschau innerhalb weniger Tage ihre Redaktionspolitik. Die Zeitung reagierte in
Reaktion auf die „Erpressung“ der Araber mit einem Appell an das „Zusammengehörigkeitsgefühl“364 der Europäer.365
363 Ölkrise: kein Verlaß auf Großmütter, Spiegel 5.11.1973; G.O. Ulmer, Die arabische Erpressung und
wie wir darunter leiden, Quick 8.11.1973. Vgl. a. Artikel mit vergleichbarem Tenor: Die Araber erpressen Europa, Welt 1.11.1973; Erpressung mit Öl, Welt 1.11.1973; Wilhelm Throm, Wirtschaftlicher Selbstmord der Oelaraber, F.A.Z. 1.11.1973; Bonn: wir lassen uns nicht erpressen, Bild
3.11.1973; Neue Preiswelle bei Heizöl und Benzin rollt, SZ 5.11.1973; Araber drehen den Ölhahn
weiter zu, SZ 6.11.1973; Walter Günzel, Der arabische Öl-Boykott kann auch den Osten treffen,
Welt 10.11.1973; Öl-Erpressung: Jetzt wollen die Araber Waffen, Bild 10.11.1973; Günter Boddeker, Wer dem Erpresser nachgibt, reizt ihn zu neuen Taten, Welt 12.11.1973; Dirk Cycon, Wichtiger als die Mondfahrt, Welt 14.11.1973; Wilhelm Körber, Araber stellen Ölboykott als Notmaßnahmen dar, Welt 19.11.1973; Sebastian Haffner, Es wird ernst, Stern 29.11.1973.
364 Erich Hauser, Diplomatische Klimmzüge, FR 7.11.1973. Günther Gillessen forderte in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ebenfalls ein „Solidaritätskartell der europäischen Ölabnehmer“, wodurch sich die „europäischen Völker als Not- und Gefahrengemeinschaft bewähren“ sollten: „Die
sichtbare Furcht der europäischen Regierungen vor der Erdöl-Erpressung macht solche Erpressung
wahrscheinlicher, umfangreicher und langfristig wiederholbar. Gegenüber dem Versuch arabischer
Regierungen, ein Kartell der Ölmonopolisten gegen Europa zu organisieren, wird nichts anderes
helfen als die Organisation eigener Stärke.“ Günther Gilessen, Frieren für Holland?, F.A.Z.
7.11.1973.
365 In einem Beitrag mit dem Titel „Erpressung ist nicht Politik“ wurde der Meinungsumschwung der
Frankfurter Rundschau begründet: „Angesichts der arabischen Erdölpolitik und vor allem der Drohun-gen Libyens scheint es angebracht, einmal einige Wahrheiten deutlich auszusprechen: Nicht
nur diese Zeitung hat in der Vergangenheit immer wieder ihre Stimme erhoben, wenn es darum
ging, kleine Län-der vor machtpolitischen oder wirtschaftlichen Erpressungsversuchen größerer und
reicherer Staaten zu bewahren. Dieser Grundsatz gilt allerdings auch umgekehrt. Wer sich ohne Not
darauf einläßt − und das geschieht im Augenblick an manchen Stellen des Nahen Ostens -, Erpressung mit Politik zu verwech-seln, der fordert ähnlich untaugliche Reaktionen heraus.“ Erpressung
ist nicht Politik, FR 3.11.1973.
186
Für die Beurteilung der ökonomischen Dimension der Erdölkrise war in der Mehrzahl der untersuchten Pressebeiträge eine Position charakteristisch, die die arabische
Erdölpolitik weniger als Ausdruck eines begründeten Korrekturbedarfs ehemals
kolonialer Staaten im System des internationalen Rohstoffhandels betrachtete. Im
Vordergrund standen vielmehr die Bereicherungsabsichten arabischer Eliten, die
Gefahren für die Rohstoffversorgung der Industrieländer und das internationale Finanzsystem sowie die Belastungen für nichterdölbesitzende Entwicklungsländer.
Auch Medien wie Der Spiegel, die in den Jahren zuvor Forderungen der arabischen
Staaten gegenüber den Ölkonzernen unterstützt oder zumindest erörtert hatten, änderten auf dem Höhepunkt der Krise (Anfang bis Mitte November 1973) ihre Berichterstattungspolitik erheblich: „Die fast unvorstellbar hohen Milliarden-Summen,
die bei voll aufgedrehtem Ölhahn in die Kassen der Araber-Scheichs und -Obristen
sprudeln würden, gäben den Ölpotentaten den finanziellen Hebel, jederzeit das
Weltwährungssystem in gefährliche Unordnung zu bringen.“366 Nicht zuletzt durch
Begriffe wie „Wüsten-Potentaten“ und „Ölmonopolisten“ vollzog sich im Spiegel
– ungeachtet Augsteins Neutralitätshaltung im Arabisch-Israelischen Konflikt367 –
auf dem Höhepunkt der Erdölkrise im November 1973 eine im Vergleich zur früheren Berichterstattung markante Desolidarisierung mit arabischen Interessen. Im Vordergrund stand nicht die Unterordnung der „Dritten Welt“, sondern im Gegenteil die
„Ausbeutung“ und „Ausbootung“ der Konzerne (Quick) oder die „Knechtschaft“ der
Industriestaaten (Süddeutsche Zeitung).368
Desungeachtet forderte nur eine Minderheit der untersuchten Pressebeiträge ökonomische Gegensanktionen oder eine Verschärfung der deutschen und europäischen
Nahostpolitik. Kritisiert wurde die Brüsseler Erklärung369 der EWG, deren strikter
Neutralitätsbegriff370 und Zeitpunkt371 als Nachgeben gegenüber der Erpressung
(„Bereitschaft zur Devotion“)372 ausgelegt wurde. Die weit überwiegende Mehrheit
der untersuchten Pressebeiträge forderte jedoch weder die Rücknahme der „Brüsse366 Ölkrise: kein Verlaß, a.a.O.
367 Rudolf Augstein: „Israel steht uns näher als die Araber, wir verstehen die Israelis besser, wir beneiden oder fürchten an ihnen das, was uns abhanden gekommen ist. (...) Die Araber sind irrationale
Leute; aber Menschen, anders als einige Israelis meinen, sind sie eben doch, und zwar welche, die
für unsere Hitler-Verbrechen mit der Existenz des expansionsträchtigen jüdischen Staates bestraft
worden sind.“ Rudolf Augstein, Neutral?, Spiegel 5.11.1973.
368 Ulmer, Die arabische Erpressung, a.a.O.; Ernst Berens, Das Öl kann die Weltgeschichte verändern,
SZ 3./4.11.1973.
369 In der sogenannten Brüsseler Erklärung vom 6. November 1973 wurden unter anderem die
„Unzulässigkeit des Gebietserwerbs durch Gewalt“, die Beendigung der israelischen Besatzung von
1967, die „legitimen Rechte der Palästinenser“ sowie die „vielfältige(n) Bande“ zwischen Europa
und den „Anrainerstaaten des südlichen und östlichen Mittelmeeres“ hervorgehoben (Erklärung der
Regierungen der Mitgliederstaaten der Europäischen Gemeinschaften zur Lage im Nahen Osten
vom 6. November 1973, in: Europa-Archiv 2/1974, S. 29 f.). Auf ihrer am 14./15. Dezember 1973
zusammengetretenen Gipfelkonferenz bestätigte die EG die Linie der „Brüsseler Erklärung“ und
leitete zudem den „Euro-Arabischen Dialog“ ein.
370 Ölkrise: kein Verlaß, a.a.O.; Ulmer, Die arabische Erpressung, a.a.O.
371 Dieter Schröder, Mehr Kaltblütigkeit in der Ölkrise, SZ 7.11.1973.
372 Christian Schütze, Das Ende der Verschwendung, SZ 10/11.11.1973; vgl. a. Das Streiflicht, SZ
11.12.1973.
187
ler Erklärung“ noch andere politische oder ökonomische Maß-nahmen gegen die
arabischen Staaten.373
Allein Zeitungen des Springer-Konzerns verlangten die Einhaltung einer proisraelischen Politik. Der Kolumnist Hans Habe warf der „Linkspresse“ vor, ihr Meinungsumschwung erfolge aus Angst vor einer Verschlechterung ihres Lebensstils.
Habes Forderung nach Sanktionen gegen die arabischen Erdölproduzenten waren in
paternalistisch-rassistischen Denkmustern verhaftet: „Seit Jahrhunderten lehrt die
Geschichte der Araber, daß die sadistische Komponente ihres Wesens – wie das nach
Freud häufig geschieht – mit der masochistischen parallel läuft: Sie zeigen den Herrn
nur, bis man ihnen den Herrn zeigt.“374
Nach Ankündigung der OAPEC (arabische Mitglieder der OPEC) vom 18. November 1973, die für Dezember vorgesehene fünfprozentige Produktionssenkung
auszusetzen,375 ging die Presseberichterstattung in eine letzte Rezeptionsphase über.
Die einheitliche Sicht der Krisenvorgänge unter dem Stichwort der „Erpressung“
machte der regulären Rechts-Links-Differenzierung der Presse Raum. Langfristiges
wirtschaftspolitisches Denken der Araber, die ihre Erdölressourcen durch Produktionsminderungen zu sparen und Ungleichheiten der Gewinnverteilung zu korrigieren
trachteten, wurde nunmehr bei der Frankfurter Rundschau in den Vordergrund gestellt. Die Süddeutsche Zeitung, die noch wenige Wochen zuvor Gegensanktionen
erwogen hatte, wies mittlerweile darauf hin, daß der Westen marktwirtschaftliche
Grundsätze der Preisbildung bisher nicht auf seine ehemaligen Kolonien ausgedehnt
hatte.376 Neben der Kritik an der Überflußgesellschaft wurde die Konzernkritik zu
einem Topos der linken und liberaler Pressebeiträge der letzten Rezeptionsphase. In
der Serie „Weltmacht Öl“ des Spiegel wurde das zeitgenössische Erdölsystem als ein
373 Bezeichnend für den Tenor der untersuchten Pressebeiträge waren vielmehr die Ausführungen Theo
Sommers in der Zeit, in der er einerseits die Erpreßbarkeit Europas als moralisch „beschämend“ bezeichnet, zugleich jedoch für ein „nüchterne(s) Diktat des Interesses“ in der Politik angesichts des
drohenden ökonomischen „Selbstmord(es)“ plädierte (Theo Sommer, Kotau vor dem Öl, Zeit
16.11.1973). Zur Brüsseler Erklärung vgl. a. Hauser, Klimmzüge, a.a.O.; Ernst Kobbert, War es ein
großer Tag für Europa?, F.A.Z. 8.11.1973; Karl Grobe, Partner für alle, FR 8.11.1973; Klaus Natorp, Die Rechte der Palästinenser, F.A.Z. 15.11.1973.
374 Vorher schreibt Habe: „Wenn Europa und Japan − wie es die USA schon getan haben − der Ölerpressung mit dem Ausbau ihrer Energiewirtschaft begegnen, kann sich selbst ein arabischer Analphabet aus-rechnen, daß er in wenigen Jahren in seinem Öl ertrinken wird“ (Hans Habe, Der Erpreßte ist schuldig, WaS 18.11.1973). Zur Haltung der Welt zur Neutralitätspolitik im ArabischIsraelischen Konflikt vgl. a. Europa gibt dem arabischen Druck nach/Israel beschwert sich über
Scheel, Welt 7.11.1973; Kniefall vor den Arabern, Welt 7.11.1973; Francis Ofner, Brüsseler Nahost-Erklärung schockiert die Israelis, Welt 7.11.1973; Georg Schröder, Zwiespältige Haltung gegenüber Israel, Welt 13.11.1973.
375 Archiv der Gegenwart, 43. Jg., Bonn 1973.
376 Vgl. Pierre Simonitsch, Erst die Steuern machen das Benzin so richtig teuer, FR 12.11.1973; KarlHeinz Krumm, Die Stunde der Wahrheit, FR 17.11.1973; Josef Riedmüller, Die Ölkrise − Bumerang und Menetekel, SZ 24./25.11.1973; Werner Holzer, Arabisches Orakel in Algier, FR
29.11.1973.
188
Überbleibsel des Kolonialismus charakterisiert, in dem die Förderstaaten dem „Diktat der Konzerne“ ausgesetzt waren.377
Die Positionen anderer Medien unterschieden sich abhängig von ihren politischweltanschaulichen Strömungen deutlich. In der liberalen Süddeutschen Zeitung waren neben pro- auch antiarabische Stimmen zu hören, die etwa den Wunsch äußerten,
daß König Faisal für seinen „Ölterror“ und seine „Arroganz eines Tages zahlen“
müßte.378 Liberale wie konservative Blätter stellten die positiven Funktionen der
Erdölkonzerne heraus379 und schilderten die Auswirkungen der Erdölkrise auf diejenigen Entwicklungsländer, die kein Erdöl besaßen, da diese, so die Argumentation,
durch höhere Erdölkosten und den krisenbedingten Rückgang des Wachstums in den
Industriestaaten in Mitleidenschaft gezogen wurden.380 Die „arabischen Erpressungsmanöver“ verursachten demnach auf diese Weise eine Ernährungskrise in den
Entwicklungsländern: „Sicher ist jedenfalls, daß die Armen dieser Welt die ersten
Opfer der arabischen Politik sind.“381
Für die wissenschaftsvergleichende Dekonstruktion der deutschen Presseberichterstattung über die Erdölkrise von 1973 ist zunächst der zentrale Frame der „Erpressung“ von Bedeutung, der insbesondere auf dem Krisenhöhepunkt dominierte. Die
Wirtschaftssanktionen der arabischen Staaten wurden als illegitim bezeichnet. Nahezu die gesamte überregionale Presse entwickelte, soweit hier untersucht, eine klare
Täter-Opfer-Zuweisung, wobei der (arabische) Täter aus einer Unrechtsposition
heraus ein in einer Rechtsposition befindliches (westliches) Opfer zu einer bestimmten Handlung zwang.
Auf politischer Ebene jedoch ist die Rechtsposition Westeuropas und der USA
umstritten. Es war maßgeblich auf den Einfluß des israelischen Bündnispartners
USA zurückzuführen gewesen, daß in Resolution 242 des UN-Sicherheitsrats (1967)
der Rückzug Israels von den 1967 besetzten Gebieten, die Anerkennung der Palästinenser als Volk und die im Teilungsbeschluß von 1947 festgelegte Zwei-StaatenLösung in Palästina nicht mehr klar zum Ausdruck gekommen waren.382 Gegen die
Neutralitätspflicht des Westens verstieß auch die Luftbrücke, die die USA im Oktoberkrieg für militärische Güter an Israel einrichtete, und die zum Teil über europäische Stützpunkte abgewickelt wurde. Diese beiden Beispiele zeigen bereits, daß die
377 Weltmacht Öl, Spiegel 31.12.1973. Vgl. a. Das Monopol, FR 22.11.1973; Herr Minister Fridrichs,
schüren die Konzerne die Ölkrise?, Stern 29.11.1973; Das Geschäft mit der Angst, Stern
29.11.1973. Daß es sich bei der skizzierten Haltung des Spiegel nicht um eine stringente Redaktionslinie handelte, belegte ein Interview mit dem saudi-arabischen Ölminister Jamani, in dem dieser
seinen Interviewern vorwarf, kein Verständnis dafür zu haben, daß auch Saudi-Arabien eigene Interessen besaß. „Auf König Faisal können Sie sich verlassen“, Spiegel 3.12.1973.
378 Dieter Schröder, Arabische Rechner und Romantiker, SZ 26.11.1973.
379 Jens Friedemann, „Weltregierung der Profiteure“, Zeit 14.12.1973.
380 Hans Roeper, Die Araber spielen hoch, F.A.Z. 13.11.1973.
381 Michael Jungblut, Nahrungsmittel werden knapp, Zeit 23.11.1973.
382 Henry A. Kissinger, Memoiren 1973-1974, T. 2, Übersetzt aus dem Amerikanischen von HansJürgen Baron von Koskull, München 1984, S. 794.
189
Vorstellung einer westlichen Rechtsposition, die im Erpressungsmotiv zum Ausdruck kam, den arabischen Standpunkt im Nahostkonflikt außer acht ließ.383
Was die zweite Komponente der „Erpressung“, die Unrechtsposition des „Täters“, betrifft, so macht Ibrahim Shihata geltend, daß die Wirtschaftssanktionen der
Erdölförderländer (Lieferboykott und -drosselung) nicht zwangsläufig gegen das
Völkerrecht verstießen, und daß sie konform mit internationalem Gewohnheitsrecht
waren. Vor allem die USA und Westeuropa verhängten in der Zeit des Kalten Krieges eine Reihe von Embargomaßnahmen gegen den sino-sowjetischen Block (z.B.
die Wirtschaftsblockade gegen Cuba).384 Was die Völkerrechtskodifizierungen betrifft, so argumentiert Shihata, daß die UN-Deklaration über die Prinzipien friedlicher Beziehungen und Staatskooperation (Res. 2625) von 1970 sich zwar gegen
wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen (economic coercion) ausspricht, die Vereinten
Nationen jedoch in der Resolution 3175 von 1973 ausdrücklich das Recht der arabischen Staaten zur Ausübung voller Souveränität über ihre Ressourcen bestätigte.385
Die Tatsache, daß in der deutschen Presse den arabischen Staaten das Recht zur
Verhängung von Wirtschaftssanktionen abgesprochen wurde, obwohl dieses Instrument, wie Joseph S. Szyliowicz anmerkt, seit Jahrzehnten weltweit angewandt wurde,386 und obwohl auch während des Konflikts Überlegungen bezüglich möglicher
Gegenembargomaßnahmen (Kreditstreichungen, Nahrungsmittelboykott) von einigen Journalisten in Betracht gezogen wurden, muß als Zeichen für ein geringes Reflexionsniveau der Presse hinsichtlich bestehender Nord-Süd-Asymmetrien in der
internationalen Politik gewertet werden. Die arabische Position im Nahostkonflikt
kam zwar − wie die Falluntersuchung über den Nahostkonflikt gezeigt hat (Kap.
5.1.1) − in den siebziger Jahren langsam zu stärkerer Geltung in einer vormals proisraelischen Presselandschaft. Im Kontext der Erdölkrise und dem von der OPEC
ausgeübten Druck jedoch wurde eine entsprechende Öffnung des Diskurses als appeasement-Politik betrachtet, was nur zum Teil berechtigt war. Robert J. Lieber
weist darauf hin, daß zwar der Zeitpunkt, nicht jedoch die Substanz der EG-Politik
der Brüsseler Erklärung (die Erwähnung palästinensischer Rechte) einen Vergleich
mit der Politik der Münchener Konferenz von 1936 und dem appeasement gegenüber Hitler erlaubte.387 Die Tatsache, daß die EG vielmehr – nicht erst seit 1973,
383 Zur Position der arabischen Erdölförderstaaten im Arabisch-Israelischen Konflikt vgl. die Reden
und anderen Arbeiten des damaligen Generalsekretärs der OAPEC: Ali A. Attiga, The Arabs and
the Oil Crisis, 1973-1986, Safat 1987, S. 3 f.
384 Shihata, The Case, S. 35-49.
385 Ebenda, S. 51-59. J.B. Kelly bezeichnet hingegen die Ausübung von „economic coercion“ als ein
von den genannten UN-Resolutionen absolut untersagtes Verhalten, ohne daß er dabei jedoch auf
die (gewohnheits-) rechtlichen Argumente Shihatas eingeht. Dessen Position weist Kelly vielmehr
zurück, da aus seiner Sicht die arabischen Staaten mit ihrem Ölembargo weder politische Ziele im
Interesse der Palästinenser verfolgten noch eine Berechtigung bestand, bilaterale Wirtschaftsverträge (mit den Ölgesell-schaften) einseitig zu beenden. J.B. Kelly, Arabia, the Gulf and the West, London 1980, S. 404 f.
386 Joseph S. Szyliowicz, The Embargo and U.S. Foreign Policy, in: ders./ Bard E. O’Neill (Hrsg.), The
Energy Crisis and U.S. Foreign Policy, Mit einem Vorwort von John A. Love, New York u.a. 1975,
S. 229.
387 Robert J. Lieber, Oil and the Middle East War: Europe in the Energy Crisis, Cambridge 1976, S. 13.
190
sondern bereits seit 1971388 – den Nahostkonflikt zum Bestandteil einer allgemeinen
Entspannungspolitik gemacht hatte, wurde im Mediendiskurs ausgeblendet, da hier
(ähnlich wie in den Memoiren von Henry Kissinger) der Gegensatz zwischen einer
konsequenten Nahostpolitik der USA und einer sanktionsschwachen Politik der
Europäer im Vordergrund stand.389 Der Erpressungs-Frame und der Vergleich mit
der Politik vor dem Zweiten Weltkrieg symbolisierten insgesamt die Verdrängung
des entspannungspolitischen durch den machtpolitischen Diskurs in der deutschen
Presse in Zeiten der Krise.
Der Frame der „Erpressung“ ist nicht nur im Hinblick auf seinen politischen Gehalt kritisierbar. Er beinhaltete auch eine Deutung des internationalen Erdölsystems,
in dem die Versuche der in der OPEC organisierten Entwicklungsländer, ihre terms
of trade mit den Industriestaaten zu verbessern, in ihr Gegenteil verkehrt wurden.
Hervorgehoben wurde die Abhängigkeit Europas und der USA von der Monopolpolitik der OPEC. Die Erdölberichterstattung der siebziger Jahre, insbesondere auf dem
Höhepunkt der Erdölkrise von 1973, war geradezu identisch mit einer industriestaatenzentrierten Sicht, die auf verschiedenen Ebenen erörtert werden muß:
• Marktmechanismen und Preisbildung: Zutreffend war die in den Medien verbreitete These, die OPEC nutze ihre Kartellstellung im Rohstoffsektor zu einer nachhaltigen Preiserhöhung für Rohöl. Die im Kartell vereinigten Staaten verfügten
zwar nur über einen begrenzten Teil der Welterdölproduktion, sie waren jedoch
die einzigen, die den damals absehbaren wachsenden Bedarf vor allem der USA
decken konnten. Aus Sicht der Erdölproduzenten war diese Preiserhöhung jedoch
kein „Diktat“, wie in den deutschen Medien verbreitet, sondern eine Form der
Gegenkartellierung gegen das bis dahin bestehende Kartell der Erdölgesellschaften. Tatsächlich war der Preis für Rohöl vor der Erdölkrise zu niedrig und, trotz
verschiedener Abkommen zwischen Erdölproduzenten und -abnehmern, nicht
marktangepaßt. Das Mineralölsteueraufkommen in den Industriestaaten war höher als die Einnahmen der Erdölexportstaaten.390 Die Erdölproduzenten hatten
damit den Industriestaaten eine Art Entwicklungssteuer von erheblichem Ausmaß
gezahlt. Umgekehrt bereitete den Exportstaaten − neben dem Problem des Verrechnungssystems der Transportkosten − die Inflation in den Industriestaaten ei388 Udo Steinbach, Bernhard von der Planitz und Herbert Sahlmann weisen darauf hin, daß die Europäische Gemeinschaft ihre Position zum Nahostkonflikt nicht auf Grund vom Erdölfaktor ausgehenden Drucks veränderte, da diese bereits in einem Arbeitspapier der sechs Mitgliedsstaaten von
1971 festgelegt war und auf „anerkannten Grundelementen einer Friedenspolitik im Nahen Osten“
beruhte. Dabei hatten über die Resolution 242 des UN-Sicherheitsrats von 1967 bereits am 13. Dezember 1972 auch die legitimen Rechte der Palästinenser in einer Resolution der UNGeneralversammlung mit Unterstützung der mittlerweile neun Mitgliedsstaaten der EG Erwähnung
gefunden. Udo Steinbach/Bernhard von der Planitz/Herbert Sahlmann, Die Europäische Gemeinschaft und der Mittelmeerraum, in: Udo Steinbach (Hrsg.), Europäisch-Arabische Zusammenarbeit.
Rahmenbedingungen, Probleme und Aussichten, Bonn 1979, S. 34.
389 Kissinger, Memoiren, T. 2, S. 1241; vgl. a. S. 770.
390 Don Peretz, Energy: Israelis, Arabs, and Iranians, in: Joseph S. Szyliowicz/Bard E. O’Neill (Hrsg.),
The Energy Crisis and U.S. Foreign Policy, Mit einem Vorwort von John A. Love, New York u.a.
1975, S. 95 f.
191
nen realen Kaufkraftverlust, da sich die Inflation auf steigende Preise bei industriellen Fertigprodukten auswirkte.391 In diesem Sinn waren die Preiserhöhungen
während der Erdölkrise von 1973 tatsächlich nur vordergründig das Resultat einer Kartellierungspolitik, da diese selbst Ausdruck eines ökonomischen Prozesses der kapitalistischen Wertbildung war.392
• Nationalisierung: Das wichtigste Ziel der erdölproduzierenden Staaten neben der
Preiserhöhung war die (Teil-)Nationalisierung der Erdölförderanlagen. Der
Wunsch nach einer Transformation der in der Kolonialzeit entstandenen Eigentumsverhältnisse war eng verbunden mit den Revolutionen in Algerien, Libyen
und dem Irak, die innerhalb der OPEC eine langsame Machtverschiebung vom
pro-amerikanischen Lager um Saudi-Arabien zu den Blockfreien Staaten auslösten. Das Abkommen von New York (5. Oktober 1972) sah eine stufenweise
Übereignung der ausländischen Fördergesellschaften an die Erdölstaaten bis zu
einer Höhe von 51 Prozent bis zum 1. Januar 1983 vor.393 In der Erdölkrise geriet
die Nationalisierungsfrage gleichwohl in den Hintergrund des Medien- und des
öffentlichen Interesses, so daß die Erdölförderstaaten weitgehend ohne öffentliche Resonanz ihre Beteiligungen an den Fördergesellschaften bis 1975 auf größtenteils 100 Prozent ausweiten konnten.394
• Downstream Operations: Ein letztes, mittel- bis langfristiges Ziel der Erdölförderländer war die Durchführung von downstream operations im Bereich der
Erdölwirtschaft zum Zweck der Industrialisierung ihrer Volkswirtschaften. Als
downstream operations wurden diejenigen Vorgänge bezeichnet, die nach der
Förderung des Erdöls in den Bereichen Verarbeitung (Raffination und Petrochemie), Transport und Vermarktung zu leisten waren. Das Streben nach einer
Übernahme der Erdölindustrie entsprach dem Wunsch nach einer Transformation
der passiven Rolle der Rohstofflieferanten und war Ausdruck einer prophylakti-
391 Gegen die These eines die Marktpreisbildung zerstörenden Kartellismus der arabischen Staaten
sprach zudem, daß nach der Erdölkrise der Weltmarktpreis für Erdöl erheblichen Schwankungen
unterlag. Yusif A. Sayigh, Arab Oil Policies in the 1970s. Opportunity and Responsibility, London/Canberra 1983, S. 102.
392 Cyrus Bina, The Economics of the Oil Crisis. Theories of Oil Crisis, Oil Rent, and Internationalization of Capital in the Oil Industry, London 1985. Zwar läßt sich in der Wissenschaftsliteratur auch
die gegenteilige Position nachweisen, wonach die Inflation im Westen erst durch den Abfluß an
Ressourcen in die Erdölförderstaaten entstanden war − und nicht umgekehrt (Bernhard May, Die
Kuwait-Krise und die Energiesicherheit des Westens. Arabisches Öl als Dauerproblem, in: EuropaArchiv 50 (1990) 18, S. 545). Hier wird allerdings nicht berücksichtigt, daß große Teile des abfließenden Kapitals durch Exporte in die Erdölstaaten und durch Investitionen und Beteiligungen dieser Staaten in Europa und den USA in die westlichen Volkswirtschaften zurückgeflossen sind (sog.
Petrodollar-recycling). George T. Abed, Arab Financial Resources: an Analysis and Critique of Present Deployment Policies, in: Ibrahim Ibrahim (Hrsg.), Arab Ressources. The Transformation of a
Society, Washington, D.C. 1983, S. 43-69.
393 Middle East Economic Survey 15 (1972) 51, S. 2; vgl. a. Jean-Marie Chevalier, Energie − die
geplante Krise. Ursachen und Konsequenzen der Ölknappheit in Europa, Frankfurt 1976, S. 63.
394 Hans-Joachim Burchard, Die Erdölpolitik der OPEC seit 1973, in: Manfred Tietzel (Hrsg.), Die
Energiekrise: fünf Jahre danach, Bonn 1978, S. 108 f.
192
schen Strategie der Produktivitätsschaffung für die Zeit nach den „Erdölrenten“.395
Mit der genannten Triade – Preiserhöhung, Nationalisierung, Industrialisierung –
wurden die OPEC-Staaten und insbesondere die Protagonisten der Erdölkrise von
1973, die arabischen Staaten der OAPEC, zur führenden Kraft einer weitaus größeren „Dritte Welt“-Bewegung der Rohstoffproduzenten, deren terms of trade sich im
Übergang zu den siebziger Jahren verschlechtert hatten.396 Die Erdölkrise verhalf der
Erkenntnis einer Interdependenz von westlichen Industrie- und Entwicklungsländern
zum Durchbruch. Anstelle der asiatischen Industriegruppe (Südkorea, Taiwan,
Hongkong, Singapur und Israel) war es die „Rohstofflobby“ unter den Entwicklungsländern, die den „Durchbruch eines neuen Bewußtseins“ und die „Geburtsstunde der
Nord-Süd-Interdependenz“ (Seitz) herbeiführten.397 Die Politik der OPEC wurde
zum Vorbild für andere Rohstoffgattungen. Unter der Führung Algeriens wurde im
Jahr 1974 die UN-Konferenz über Rohstoffe und Entwicklung einberufen, die die
Erklärung über eine „Neue Weltwirtschaftsordnung“, eine Art programmatischer
Grundlage des Nord-Süd-Dialogs, verabschiedete.398
Dabei war die Allianz zwischen den Erdölstaaten und der „Dritte Welt“Bewegung nicht ohne Spannungen. Wie gezeigt, wurde in der deutschen Presse darauf hingewiesen, daß die nichterdölproduzierenden Entwicklungsländer zunächst
unter der Preissteigerung des Erdöls litten. Der Versuch der USA jedoch, eine Koalition der Entwicklungsländer gegen die OPEC-Staaten zu organisieren, scheiterte, wie
unter anderem die führende Stellung Algeriens auf den internationalen Tagungen
verdeutlichte. Zur Kooperation trug zudem die Tatsache bei, daß die reichen erdölproduzierenden Staaten ihre Entwicklungsleistungen seit der Erdölkrise zum Teil
überproportional steigerten.399
Der tatsächliche Wandel zur Preisautonomie und die Tragweite der Politik der
Erdölstaaten im Rahmen des Nord-Süd-Konflikts wurden nicht nur nicht erkannt,
sondern in den Leitmotiven der „Erpressung“, des „Preisdiktats“ und der „Ölmono395 Wolfgang Ochel, Die Industrialisierung der arabischen OPEC-Länder und des Iran, in: Manfred
Tietzel (Hrsg.), Die Energiekrise: fünf Jahre danach, Bonn 1978, S. 19 f.
396 Vgl. Raúl Prebisch, Die Rohstoffexporte und die Verschlechterung der Terms of Trade, in: Michael
Bohnet (Hrsg.), Das Nord-Süd-Problem. Konflikte zwischen Industrie- und Entwicklungsländern,
Mün-chen 1971, S. 115-123.
397 Konrad Seitz, OPEC als Modell: Der Kampf um eine neue Weltwirtschaftsordnung, in: Manfred
Tietzel (Hrsg.), Die Energiekrise: fünf Jahre danach, Bonn 1978, S. 125; Anton Gälli, Die politische
und soziale Entwicklung der OPEC-Staaten, in: ebenda, S. 73.
398 Es folgten die Rohstoffkonferenz von Dakar (4.-8. Februar 1975) und die Konferenz für Internationale Wirtschaftliche Zusammenarbeit (1975-77) in Paris, die gleichwohl endete, ohne daß die Industriestaaten einer Indizierung der Rohstoffpreise zustimmten. Weitere Foren waren die UNCTAD
(Welthandelskonferenz) sowie die Verhandlungen der EG- und AKP-Staaten (Afrika, Karibik, Pazifik), durch deren Abkommen von Lomé 1975 unter anderem eine Öffnung des europäischen Marktes erreicht wurde.
399 Wolfgang Hager, Die Bedeutung der arabischen Erdölstrategie für den Nord-Süd-Konflikt und die
Diskussion über eine neue Weltwirtschaftsordnung, in: Karl Kaiser/Udo Steinbach (Hrsg.),
Deutsch-arabische Beziehungen. Bestimmungsfaktoren und Probleme einer Neuorientierung, München/Wien 1981, S. 329-348.
193
polisten“ in eine industriestaatenzentrierte Sichtweise verwandelt.400 Hinter der Argumentation verbarg sich eine These vom Weltbesitz des Erdöls, das nicht dem souveränen Verfügungsrecht der Staaten überlassen werden sollte, sondern durch Absprachesysteme, westlichen Anlagenbesitz und klare Arbeitsteilung auf einem künstlich niedrigen Ertragsniveau für die erdölproduzierenden Staaten verharren sollte.
Während sich die Strukturen der Weltwirtschaft in bezug auf festgefahrene NordSüd-Beziehungen langsam zu verändern begannen, verharrte die untersuchte deutsche Presse in einer systemaffirmativen Sichtweise.
Die Tatsache, daß im linken bis liberalen Sektor der Presse vor und nach der akuten Erdölkrise auch Kritik an dieser Art der Problembetrachtung erkennbar wurde,
zeigt, daß die politischen und ökonomischen Maßstäbe der Dekonstruktion des Medienbildes bereits im Jahr 1973 auch im Westen bekannt waren. Ein Vergleich mit
einer Untersuchung der Presseberichterstattung über den Erdölsektor im Jahr 1975401
zeigt allerdings, daß die Erdölkrise von 1973 keine nachhaltige Wende zu einer
entwicklungspolitischen Veränderung des Mediendiskurses darstellte.
6.2.2 Dekonstruktion II: Das Verhalten der Presse im Gesellschaftssystem und in internationalen Konflikten
Die quantitative Untersuchung hat gezeigt, daß das Thema Erdöl in überregionalen
deutschen Pressemedien im Zeitraum 1955-1994 zwischen 2,6 und 5,2 Prozent der
Berichterstattung über Nordafrika und den Nahen und Mittleren Osten ausgemacht
hat (Kap. 5.1.3, Abb. 5.4, Tab. A 5.8). Ungeachtet des schwachen Zusammenhangs
zwischen deutschen Außenwirtschaftsinteressen und Medienbeachtung, ist die Bedeutsamkeit der Erdölthematik daran zu erkennen, daß sie zwar nicht die Nachrichtengeographie in ihrer Gesamtheit, aber doch die Rangfolge der beachteten Wirtschaftssektoren der Staaten Nordafrikas und des Nahen und Mittleren Ostens in der
überregionalen Presse in hohem Maß beeinflußte.402 „Erdöl“ als das wichtigste Thema der Wirtschaftsberichterstattung über den Orient wurde in der Regel in den Wirtschaftsteil der Presse behandelt, in der Erdölkrise von 1973 nahm sich jedoch auch
das politische Ressort des Themas an. Mit dieser Verschiebung wurde deutlich, daß
der „Rostoffkrieg“ zu einer zentralen gesellschaftlichen Konfliktstellung avanciert
war, was Untersuchungen aus system- wie aus konflikttheoretischer Perspektive
ermöglicht.
400 Auch mit Blick auf die englischsprachige, insbesondere auf die amerikanische Berichterstattung ist
bereits kritisiert worden, daß durch massive Kritik der OPEC-Preiserhöhungen und durch das Verschweigen der Steuergewinne der Industriestaaten die Kräfteverhältnisse umgekehrt wurden.
Charles Snow, OPEC and the Western Press, in: Nelson Smith/Leonard J. Theberge (Hrsg.), Energy
Coverage − Media Panic. An International Perspective, New York/London 1983, S. 50-57.
401 Glass, Die Dritte Welt, S. 279-289.
402 Vgl. etwa die starke bis dominierende Stellung Saudi-Arabiens; Kap. 5.2.2.1, Tab A 5.28-A 5.31.
194
6.2.2.1 Wirtschaftsberichterstattung: Das Mediensystem zwischen Strömungsvielfalt, Pluralität und umweltgesteuerter Systemstabilisierung
Inhaltsanalyse und Dekonstruktion mit Hilfe der gegenstandsorientierten Forschung
haben einen inhomogenen Befund erbracht:
• Die Behandlung der arabischen Erdölpolitik in der untersuchten deutschen Presse
war durch ausgeprägte Strömungsunterschiede gekennzeichnet. In der Wirtschaftsberichterstattung kam das politisch-weltanschauliche Rechts-Links-Gefüge
der Presse, dem unterschiedliche Ansichten der Gesellschaft über materielle Eigentums- und Verteilungsfragen zugrunde liegen, zum Ausdruck. Die Bereitschaft, die Erdölfrage mit dem Nord-Süd-Problem zu verbinden, war weitgehend
abhängig von der Strömungszugehörigkeit der Pressemedien.
• Die Strömungsvielfalt korrespondierte mit einer gravierenden Vereinheitlichung
des Mediendiskurses unter dem Eindruck einer manifesten Erdölversorgungskrise. Auf dem Höhepunkt der Krise erfolgte eine Nivellierung von politischen
Richtungsunterschieden der Presse zugunsten eines industriestaatenzentrierten
Meinungsjournalismus.403 Die Wirtschaftsberichterstattung, an der neben den
Wirtschaftsressorts nunmehr auch die großen politischen Ressorts sowie die
Bereiche der „Aufmacher“ und Titelseiten beteiligt waren, erwies damit eine
hohe Krisenanfälligkeit, die zu starken redaktionellen Schwankungen führte.
Aus diskurstheoretischer Perspektive (Kap. 3.1.2) läßt die Presseberichterstattung
über die Erdölkrise in idealtypischer Form die Entstehungsgeschichte und Durchsetzung eines Master-Frames erkennen. Vor und nach dem Höhepunkt der Erdölkrise
im November 1973 waren starke Unterschiede im Framing zwischen einzelnen Medien zu erkennen; sie reichten von „die Araber drehen uns den Ölhahn zu“ bis „die
Konzerne agieren gegen die Interessen der Entwicklungsländer“. Damit war in drei
von vier Framing-Kategorien404 – Problemdefinition, Ursachenbestimmung, moralische Wertung – eine Pluralität der Meinungen zu erkennen, die weit ausgeprägter
war als etwa im Fall Rushdie und der Frage der Menschenrechte, wo politischweltanschauliche Strömungsunterschiede keine Rolle spielten (Kap. 6.4.1). Der
Master-Frame der Erdölkrise („die Araber erpressen uns“), der ursprünglich vor
allem im konservativen Pressesegment verbreitet war und sich dann auch im (links-)
liberalen Spektrum zum Tragen kam, setzte sich durch, als durch die fortschreitende
Krisenentwicklung diejenigen Frames in den Hintergrund gedrängt wurden, die zuvor die Ursachen des Problems in den Industriestaaten und bei den westlichen Erdölgesellschaften gesucht und entsprechende Selbstanklagen gegenüber den westlichen Industriestaaten formuliert hatten. Als die OPEC und die arabischen Staaten
allerdings das Agens durch Boykottmaßnahmen, Preissteigerungen und Produktionsdrosselung übernahmen, war die Vorstellung passiver Entwicklungsländer nicht
403 Diese Einschätzung wurde von der Zeitschrift konkret bereits während der Erdölkrise bestätigt.
Hermann L. Gremliza, Letzte Ölung, konkret 15.11.1973; vgl. a. Alexander von Hoffmann, Kommt
jetzt die große Krise?, konkret 28.11.1974.
404 Im funktionalen Gliederungsschema von Robert Entman (Kap. 3.1.2).
195
mehr tragfähig und kollabierte in Richtung auf konservative Frames, die eine Erklärung für die aktive Erdölpolitik der OPEC zu liefern schienen.
Eine solche handlungslogische Erklärung ist erhellend, sie greift allerdings zu
kurz, da Öffnungs- und Verschlußreaktionen des Medienbildes als eine Dynamik
betrachtet werden, die aus der isolierten Beziehung Medien-Handlung erwachsen,
während die gesellschaftliche Umwelt der Medien ausgeblendet wird. Die Erdölkrise
ist aber ein geradezu idealtypischer Fall zur Verifikation systemtheoretischer Annahmen in der Auslandsberichterstattung. Anders als etwa im Fall der deutschen
Algerienberichterstattung (Kap. 6.5) waren während der Erdölkrise von 1973 alle
Umweltbereiche der Medien – Persönlichkeiten des Journalismus, Publika und politisch-wirtschaftlicher Komplex – mobilisiert und in die Krise involviert. Aus methodischer Sicht ist hervorzuheben, daß demoskopische Umfragedaten vorliegen, die
durch den Vergleich mit der Inhaltsanalyse zur Erklärung der Beziehung MedienPublikum herangezogen werden können.
Im Verlauf der quantitativen Medienanalyse ist gezeigt worden, daß die Nahostberichterstattung nur sehr eingeschränkt von wirtschaftlichen Interessen determiniert
wird, und zwar steigt mit der ökonomischen Zentralität eines Landes aus der Sicht
Deutschlands dessen allgemeine Beachtung nur geringfügig, indem sein Wirtschaftssektor größere Aufmerksamkeit erfährt: was etwa dazu führt, daß ein durchschnittlich beachteter Staat wie Saudi-Arabien in der wirtschaftlichen Beachtung an vorderer Position steht (Kap. 5.2.2.1). Die Fallstudie zur Erdölkrise ist geeignet, das Bild
weiter zu differenzieren: Bei der inhaltlichen Gestaltung der deutschen Wirtschaftsberichterstattung ist ökonomischer Zentrismus vollständig nur in bestimmten konservativen Teilen des Mediensystems nachzuweisen. Andere (linke und liberale) Subsysteme neigen erst unter besonderen Krisenbedingungen dazu, diese Zentrierung
nachzuvollziehen, während sie in anderen Zeiten Momente der Dezentrierung in
Richtung auf die Wirtschaftsinteressen von Entwicklungsländern erkennen lassen.
Ein dynamischer Wechsel von Autonomie, Unabhängigkeit und Umweltanpassung
der Auslandsberichterstattung wird an diesem Beispiel deutlich.
Vor wie nach der akuten Krise wies die Auslandsberichterstattung eine starke
Differenzierung auf. Die Presse übte ihre Aufgabe der öffentlichen Themenstrukturierung aus und erfüllte die Funktion, auf die wachsende Umweltkomplexität – den
Wandel des Erdölsektors und des Weltwirtschaftssystems zu Beginn der siebziger
Jahre – mit einer Steigerung der Eigenkomplexität (der Medieninhalte) zu reagieren.
Die unterschiedlichen Frames erlaubten zumindest interessierten Lesern, insbesondere den sogenannten öffentlichen Meinungsführern, durch einen Vergleich von Zeitungen und Zeitschriften eine Meinungspalette zur Erdölfrage zu rezipieren. Erkennbar wurde eine Neigung der Medien zur inhaltlichen Profilierung entlang ihrer Redaktions- und Entscheidungsprogramme (s.u.) im Rechts-Links-Gefüge. Es ist wahrscheinlich, daß durch Berichterstattung in Feldern wie der Erdölpolitik gerade die
kleineren der überregionalen Zeitungen wie die Frankfurter Rundschau, von der
bekannt war, daß sie die Interessen der Entwicklungsländer mit Nachdruck erörter-
196
te,405 sich eine Blattidentität und damit auch einen Marktanteil sicherten. Die Frage
ist nicht leicht zu beantworten, ob in dieser autonomen Profilierung auch ein Element
der Anpassung an das eigene Publikum liegt. Aus theoretischer Sicht ist eine solche
Diskussion jedoch wenig ergiebig, da gemäß der Unterscheidung zwischen „äußerer“
und „innerer Umwelt“ das Publikum als innere Umwelt die Autonomiebestrebungen
des Mediums (etwa gegenüber der Politik) stützt. Entscheidend ist, daß insbesondere
im (links-)liberalen Pressesegment vor wie auch nach der Erdölkrise eine beträchtliche Distanz von deutschen und westlichen Wirtschaftsinteressen zu erkennen ist.
Allerdings hat die Analyse der Erdölkrise nicht nur Autonomiebestrebungen der
Medien verifiziert, sie hat auch belegt, was Elmar Unland in seiner Analyse der
Frankfurter Rundschau lediglich vermuten konnte, daß nämlich, „wenn schon kein
grundlegender Zusammenhang nachweisbar ist – wirtschaftliche Einflüsse in aktuellen Krisen- und Konfliktsituationen wirksam werden.“406 Das zweite Merkmal der
Erdölberichterstattung neben der Identitätsbildung war die Anpassung der Berichterstattung an den Master-Frame („Erpressung“) auf dem Höhepunkt der Krise. Die
naheliegende Annahme, daß hier die konservativen Medien – etwa auf Grund ihrer
größeren Wirtschaftskompetenz – innerjournalistische Meinungsführer (Kap. 3.2.3.4)
waren, ist eine unzureichende Erklärung, denn inhaltliche wie sprachliche Überschneidungen hatte es bereits in den Jahren zuvor gegeben, nie jedoch in dieser Vereinheitlichung wie auf dem Höhepunkt der Erdölkrise im November 1973. Die Anpassung war daher nicht primär eine Anpassung an andere Teile des Mediensystems,
sondern es war eine Anpassung an die Medienumwelt, bestehend, gemäß Rühl, aus
Personen des Journalismus, dem Publikum und dem politisch-wirtschaftlichen Komplex (Kap. 3.2.4.2.1). Wenn es das grundsätzliche Ziel jedes Mediums sein muß, im
Gleichgewicht mit seiner Umwelt zu stehen, wobei Abweichungen von der Umweltanpassung negativ sanktioniert werden und zum Entzug von Ressourcen (z.B. nachlassendem Kaufinteresse) führen, so wurde in der Erdölkrise erkennbar, daß im Verlauf der Handlungsentwicklung die ursprüngliche Vorangepaßtheit der Medien an
ihre Umwelt in Frage gestellt und von seiten der Medien eine Anpassungskorrektur
vorgenommen wurde. Vor allem im (links-)liberalen Pressespektrum war kurzfristig
ein – zum Teil bewußtes407 – Abweichen von den regulären Blattlinien zu erkennen.
Die Anpassung war eine Reaktion auf die Verschlechterung – oder das, was dafür
gehalten wurde – der Bedingungen in den Umweltsystemen/Systemumwelten:
• Einfluß von Persönlichkeiten: Es muß davon ausgegangen werden, daß unter dem
Einfluß von Preissteigerungen und negativer Folgeerscheinungen für die deutsche
und europäische Wirtschaft, die zugleich Nachteile für die Journalisten, ihre Familien und ihre soziale Umwelt darstellten, im redaktionellen Umfeld persönlich
405 In der Untersuchung des Bundesministeriums für Wirtschaftliche Zusammenarbeit aus dem Jahr
1983 wird hervorgehoben, daß die Frankfurter Rundschau im Unterschied etwa zur (konservativen)
Frankfurter Allgemeinen Zeitung zumindest partiell Beiträge veröffentlicht, „die auch die Wirtschaftsinteressen aus Entwicklungsländern berücksichtigen.“ Dritte Welt und Medienwelt (BMZ),
S. 52.
406 Unland, Dritte-Welt-Berichterstattung, S. 118.
407 Vgl. die Begründung der Frankfurter Rundschau in Fußnote 365.
197
motivierte negative Haltungen gegenüber der arabischen Erdölpolitik entstanden.
Die System-Umwelt-Unterscheidung bringt es mit sich, daß der Journalist nicht
nur als Teil des Mediensystems eine berichterstattende Funktion ausübte, sondern
private Interessen und die Wahrnehmung einer Bedrohung des Wohlstandes und
der Existenz konnten über den Umweg von Persönlichkeitseinflüssen autonomiebegrenzend auf die Systemfunktion des Journalisten wirken.
• Einfluß des Publikums: Während in den meisten Fällen die Beziehungen zwischen Journalisten und ihrem Publikum von beträchtlichen Unsicherheiten geprägt sind, da die Bedürfnisse und Interessen der Konsumenten uneinheitlich und
schwer zu ermitteln sind, kann in der Erdölkrise von einer in hohem Maß homogenen, gegen die arabische Erdölpolitik gerichteten Interessenlage ausgegangen
werden. Während die Dekonstruktion gezeigt hat, daß die Industriestaaten – und
damit indirekt auch die Konsumenten – durch Steuereinnahmen bis dahin den
größten Gewinn in der Erdölwirtschaft erzielt hatten, weisen Umfragen des Instituts für Demoskopie Allensbach aus, daß in der deutschen Bevölkerung eine gegen die arabische Erdölpolitik gerichtete Stimmung vorherrschte, wobei 49 Prozent der Befragten die europäische Reaktion (Brüsseler Erklärung) als Schwäche
interpretierten (nur 19 Prozent hatten den gegenteiligen Eindruck)408 und zwischen 57 Prozent und 63 Prozent der Befragten bei verschiedenen Umfragen im
November und Dezember angaben, man dürfe den Arabern „nicht nachgeben“
und müsse „geschlossen gegen die arabischen Forderungen auftreten, auch wenn
die Araber dann weniger Öl“ liefern.409 Zwar ist nicht mit Sicherheit bestimmbar,
ob diese Anschauungen durch die deutsche Medienberichterstattung verursacht
worden waren, aber es ist zumindest eine Übereinstimmung zwischen antiarabischer Medienberichterstattung und anti-arabischer Öffentlichkeit zu erkennen.410 Statt von einer einseitigen „Wirkung“ der Medien auf die Konsumenten
muß jedoch von einer Wechselbeziehung zwischen Medien und Konsumenten,
d.h. zwischen System und Umwelt ausgegangen werden. Hans Mathias Kepplingers und Herbert Roths Annahme, die Medien hätten 1973 und in der Erdölkrise
von 1978/79 die Öffentlichkeit beeinflußt und seien im Fall der Krise von 1973
für „Hamsterkäufe“ auf Grund einer real nicht feststellbaren, in den Medien aber
suggerierten Erdölverknappung verantwortlich,411 ist zwar plausibel, wird von
den Autoren letztlich nicht belegt, da sie lediglich Korrelationen zwischen
Medienbild und öffentlicher Meinung registrieren, deren Ursache-WirkungsZusammenhang auch anders gedeutet werden kann. Nicht allein, daß neben Medienwirkungen auch intervenierende Variablen der sozialen Interaktion (vgl.
Kap. 3.2.4.1.3) zu berücksichtigen gewesen wären. Auch war die Überseinstim408 Jahrbuch der öffentlichen Meinung, 1968-1973, S. 597.
409 Jochen Hansen, Der „Erdölschock“ in der öffentlichen Meinung, in: Brennpunkte 6/1975, S. 11.
410 Erst im Laufe des Dezember, also nach Abebben der Krise, wuchs die Kluft zwischen einem Teil
der Presse und der breiten Öffentlichkeit, als etwa der Spiegel eine konzernkritische Serie über das
Erdölsystem veröffentlichte, während weite Teile der Öffentlichkeit noch der Meinung waren, allein
die arabische Politik sei zu kritisieren.
411 Kepplinger/ Roth, Creating the Crisis; Kepplinger, German Media.
198
mung von Medienagenda und Öffentlichkeitsbild nicht allein im Sinne einer Medienwirkung deutbar, d.h. als Wirkung des Systems (Medien) auf die Umwelt
(Publikum), sondern auch als Wirkung der Umwelt auf das System. Die Tatsache, daß (links-)liberale Blätter ihre Berichterstattung auf dem Höhepunkt der
Krise in Kongruenz mit der breiten öffentlichen Meinung brachten, ist ein Indiz
dafür, daß die Medien möglicherweise ursprünglich die öffentliche Agenda der
Auslandsberichterstattung geprägt und die Motive der „Erpressung“ usw. eingeführt hatten, daß sie jedoch auf dem Höhepunkt der Krise selbst auf Stimmungen
und Einstellungen der Öffentlichkeit reagierten. D.h. eine Stimmung, die die Medien mitverursacht hatten, erzeugte eine „Hysterie“, die auf die Auslandsberichterstattung selbst zurückwirkte.
• Einfluß des politisch-wirtschaftlichen Komplexes: Auch die wirtschaftlichen
Milieubedingungen des Mediensystems wirkten gegen eine ausgewogene Darstellung der arabischen Erdölpolitik, da die hier geforderten Korrekturen im Gefüge
des Welterdölsystems als materielle Einbuße für die westlichen Industriestaaten
gedeutet werden konnten. Die hohen Mineralölsteuereinnahmen der Industriestaaten und das Petrodollar-Recycling waren sekundär, da die Medien de facto
– wie auch Kepplinger und Roth bestätigen – von einer krisenhaften Entwicklung
und von einer Verschlechterung der Wirtschaftslage ausgingen. Hier kommt die
Unterscheidung zwischen Umweltsystem und Systemumwelt zum Tragen. Mit
Sicherheit kann gesagt werden, daß die Medien gemäß ihrer eigenen Interpretation einen steigenden Druck des wirtschaftlichen Milieus verspürten; nicht mit Sicherheit kann gesagt werden, ob Politik oder Wirtschaft die Medien aktiv – etwa
im Rahmen der sogenannten „Reviersysteme“ (Kap. 3.2.4.2.2) – beeinflußten. Es
ist daher sinnvoll, von einem selbstinduzierten Vorgang der Anpassung der Medien an die gesellschaftliche Systemumwelt (d.h. die angenommene Verschlechterung der Wirtschaftsbedingungen) auf dem Höhepunkt der Krise auszugehen.412
Für die Beziehung zwischen Medien und Umwelt auf dem Krisenhöhepunkt war
nicht nur die Tatsache charakteristisch, daß in den einzelnen Milieus jeweils ein
steigendes Druckpotential zu erkennen war, sondern daß dieser Druck einheitlich in
allen Bereichen wuchs, so daß Autonomiegewinne (der Medien) durch Allianzen mit
anderen gesellschaftlichen Teilsystemen und entsprechende Ausweichstrategien
– z.B. mit dem Publikum gegen die Politik – kaum noch möglich waren, da die Umwelten eine homogene (ökonomische) Interessenlage entwickelt hatten. Eine solche
Konstellation war ungewöhnlich und typisch für bestimmte Wirtschaftsfragen, insbesondere für gesamtgesellschaftliche vitale Interessen an der Versorgung mit Rohstoffen. Erst nachdem mit dem Rückgang der akuten Krise auch die Milieuunterschiede
wieder wuchsen, nahmen Autonomie, Identitätsstrategien und selbstgesteuerter Meinungspluralismus im Mediensystem erneut zu.
Die Erdölberichterstattung war in ihrem gesamten Verlauf – von der Pluralität
des Medienbildes, über das Konsensverhalten auf dem Krisenhöhepunkt bis zur
412 Im Fall der Erdölkrise von 1978/79 wandte sich der amerikanische Präsident Carter im Wahlkampf
offensiv gegen die arabische Erdölpolitik. Snow, OPEC and the Western Press, S. 51 f.
199
erneuten Pluralisierung – ein Paradebeispiel für das „Fließgleichgewicht“ (vgl. Kap.
3.2.4.2.1) von Medien und Umwelt im Bereich der Auslandsberichterstattung. Theorien der politischen Ökonomie der Medien, insbesondere marxistisch orientierte
Theorien, die von einem einheitlichen Verhältnis von Medien, Staat und Gesellschaft
ausgehen, das an den Interessen der heimischen Privatwirtschaft orientiert ist,413 sind
nicht geeignet, Autonomie und Anpassungsvorgänge wie die Systemtheorie zu erfassen. Denn das entscheidende Ergebnis der Fallanalyse ist, daß in der Auslandsberichterstattung einerseits zeitweise tatsächlich eine Anpassung des Mediendiskurses
an nationale Interessen stattfindet, wie man sie in dieser Einheitlichkeit vor allem in
autoritären, nicht aber in demokratischen Mediensystemen vermutet, während auf
der anderen Seite gravierende ideologische Unterschiede in der Wirtschaftsberichterstattung einzelner Medien deutlich werden können.
Insbesondere auf dem Höhepunkt der Krise hat sich die Annahme des MacBrideBerichts der UNESCO bestätigt, daß internationale Strukturprobleme (wie das Verhältnis zwischen Erdölförder- und -verbraucherstaaten) nicht in den deutschen Medien thematisiert werden (Kap. 3.2.1.1; vgl. a. Kap. 5.2.1.5). Annahmen eines strukturellen Ungleichgewichts des Nachrichtenflusses finden hier ebenso Bestätigung wie
die These Johan Galtungs, wonach Massenmedien durch „strukturellen Imperialismus“ geprägt werden, indem etwa die Bedürfnisse der Entwicklungsländer in der
Auslandsberichterstattung nicht reflektiert sondern gemäß übergreifenden politischen
und wirtschaftlichen („imperialistischen“) Interessen selektiert werden. Daniel Glass
hat auf der Basis einer ähnlichen Ideologiekritik der deutschen Presse in einer Untersuchung des Jahres 1975 über die Erdölfrage gleichfalls eine systemaffirmative Tendenz der deutschen Presse ermittelt.414
Die Perspektive erklärt jedoch primär das Verhalten der Medien während der
Hochphase der Krise bzw. ist durchgängig allein auf bestimmte (konservative und
liberale) Segmente der Presse anzuwenden, die permanent in Opposition zur sich
verändernden arabischen Erdölpolitik standen. Unklar muß jedoch bleiben, warum
vor allem im linken (konkret) wie (links-) liberalen Spektrum Informationen über die
arabische Erdölpolitik im Kontext des Nord-Süd-Konflikts vermittelt wurden, die ein
über das Systeminteresse hinausgehendes Meinungsklima entwickeln konnten, das
zum Teil – wie im Fall der Spiegel-Serie „Weltmacht Öl“ – deutliche Züge eines
„Dritte Welt“-Advokatismus trug. Die systemtheoretische Deutung zeigt, daß dies
das Resultat eines grundsätzlichen Strebens nach einer spezifischen Blattidentität,
nach der Erzeugung inhaltlicher Differenz war sowie das Ergebnis der zumindest
413 Friedrich J. Bröder macht geltend, daß die Printmedien als Wirtschaftsunternehmen und Bestandteil
des Wirtschaftssystems unfähig sind, eine Kritik der Ideologie der bestehenden Wirtschaftsordnung
zu leisten und ihre grundlegenden Ordnungsmomente nicht mehr kritisch zu reflektieren (Friedrich
J. Bröder, Presse und Politik. Demokratie und Gesellschaft im Spiegel politischer Kommentare der
„Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, der „Welt“ und der „Süddeutschen Zeitung“, Erlangen 1976,
S. 113). Rudi Holzberger argumentiert, daß ein negativistisches, von Krisen, Kriegen und Konflikten geprägtes Medienbild der Entwicklungsländer das „Verursacherprinzip“ im internationalen
Wirtschaftssystem verdecke (Holzberger, Zeitungsdämmerung, S. 119). Zur Systembegrenztheit der
„Dritte Welt“-Berichterstattung vgl. a. Luger, Dritte Welt-Berichterstattung, S. 6 f.
414 Glass, Die Dritte Welt, S. 279 ff.
200
außerhalb von Krisenzeiten heterogenen Umweltanforderungen an die Medien. Zwischen dem Verkaufsinteresse der privatwirtschaftlichen Presseverlage und den inhaltlichen Orientierungen der jeweiligen Blattkonsumenten bestand offensichtlich
keine lineare Übereinstimmung, sondern die redaktionellen Entscheidungsprogramme (Kap. 3.2.3.3) waren jeweils auf eine bestimmte Käuferklientel zugeschnitten.
Hier kam die theoretische Unterscheidung zwischen „inneren“ und „äußeren“ Umweltsystemen zum Tragen (Kap. 3.2.4.2.1). Die Leser-Blatt-Bindung, die in der
Forschung zur Auslandsberichterstattung in jüngster Zeit vor allem auf Grund rückgängigen Konsums für die Stagnation der Auslandsberichterstattung verantwortlich
gemacht wird, wirkt im Bereich der Nahostberichterstattung nicht nur als ein autonomiebegrenzender, sondern auch als ein autonomieschaffender Faktor gegenüber
Anforderungen des politisch-wirtschaftlichen Komplexes. Die Wirtschaftsberichterstattung ist geeignet, ideologische Differenzen zu akzentuieren, da die Rechts-LinksPolarisierung unmittelbar mit materiellen Verteilungsfragen zusammenhängt.415
Gruppenspezifische Anschauungen und Werte im Rechts-Links-Gefüge sind allerdings von geringer Bedeutung, wenn vitale Interessen des Gesellschaftssystems bedroht sind, werden kurzfristig heruntergestuft und verlieren ihren Einfluß auf die
Inhalte der Auslandsberichterstattung.
Eine Systemdeutung der Erdölkrise kann neben den Faktoren, die innerhalb eines
Staats- und Gesellschaftsverbandes auf die Auslandsberichterstattung wirken, die
internationalen Systembeziehungen in den Vordergrund rücken. Im Hinblick auf die
„Wertfaktoren“ (Wolfsfeld; Kap. 3.2.4.2.2) der Hauptakteure des Konflikts bestand
ein eindeutiges Ungleichgewicht zuungunsten der arabischen Erdölpolitik und der
OPEC in der deutschen Presse:
• Der politische Status arabischer Regierungen im deutschen öffentlichen Ansehen
war weitaus niedriger als der westlicher Regierungen und der deutschen Regierung, wie die Allensbacher Umfragen (s.o.) belegen. Damit sank auch die Chance, Themen- und Framingimpulse an die deutsche Presse zu vermitteln, die die
„andere Seite“ des Konflikts beleuchtet hätten.
• Was die Organisationskapazitäten betrifft, war die Erdölkrise der Auslöser einer
systematischen staatlichen Öffentlichkeitsarbeit der meisten arabischen Staaten
mit dem Ziel, Einfluß auf die internationale öffentliche Meinung zu gewinnen.416
Gerade die „schlechte Presse“ der Araber im Westen während und nach der Krise
verdeutlichte, daß Ungleichgewichte des internationalen Informations- und Nachrichtenflusses bestanden (Kap. 3.2.1.1).
Die Untersuchung der Erdölkrise verifiziert insgesamt die allgemeine theoretische
Annahme, wonach der Einfluß inter- (ausländische Regierungen usw.) bzw. transnationaler (Vereinte Nationen usw.) Systemgrößen auf die Auslandsberichterstattung
des primär auf nationale Räume konzentrierten Journalismus schwächer ausgeprägt
415 Mike Friedrichsen, Wirtschaft im Fernsehen. Eine theoretische und empirische Analyse der Wirtschaftsberichterstattung im Fernsehen, München 1992, S. 18.
416 Vgl. Kap. 6.1.1, Fußnote 264.
201
sind als nationale Größen. Personen des Journalismus, Publika und politischwirtschaftlicher Komplex: In jedem dieser Bereiche besaßen nationale Systeme und
Umwelten ein stärkeres Einflußpotential auf die Inhalte der Presse als etwa transnationale Publika, die in den siebziger Jahren auf Grund des damaligen technischen
Vernetzungsstandes (elektronische Zeitungen im Internet gab es zum Beispiel noch
nicht) noch schwächer ausgebildet waren als heute oder als das transnationale politische System, das nur als regionaler Faktor (EG oder OPEC) und damit als politischökonomische Kontrahenten in Erscheinung trat. Die einzige Ausnahme einer bestehenden transnationalen Struktur mit Einflußpotential auf die Auslandsberichterstattung stellten die Erdölkonzerne dar.
6.2.2.2 Krisenberichterstattung: die Medien als „eigennützige Co-Parteien“ in
internationalen Konflikten
Die quantitative Inhaltsanalyse hat gezeigt, daß nach dem Thema „orientalische
Prominenz“ die Erdölfrage den höchsten Neutralitätswert im Bereich der Ereignisvalenzen aufweist (Kap. 5.2.1.2; Tab. A 5.14). Die deutsche Presse, soweit sie durch
die untersuchten Medien repräsentiert wird, konzentriert sich demnach nicht auf die
Darstellung von Konflikten in diesem Themenfeld, sondern Erdöl ist ein reguläres
Thema der Wirtschaftsberichterstattung über Handel, Investitionen und Rohstoffversorgung ohne ausgeprägte Konfliktperspektive (vgl. Negativismusdefinitionen in
Kap. 3.2.1.2). Da die Erdölfrage jedoch auch mit internationalen Konflikten – wie
der Erdölkrise von 1973 – in Verbindung steht und das Urteil über die relative „Neutralität“ der Berichterstattung sich allein auf die gewählten Ereigniskategorien (Konflikte, Gewaltkonflikte, reguläre Handlungen usw.) bezieht, kein Urteil jedoch über
die Art der Diskursgestaltung beinhaltet, ist die theoriegeleitete Dekonstruktion der
Erdölberichterstattung von Interesse. Dies auch deshalb, weil die Konfliktforschung
im Bereich der Medien sich bisher überwiegend auf die Untersuchung der Berichterstattung über Kriege konzentriert hat. Kriege weisen jedoch in der Regel spezifische
Bedingungen wie die militärische Kontrolle und Zensur der Medien aus, die nicht
generalisierbar sind und daher wenig über den allgemeinen Zustand der medialen
Krisenkommunikation aussagen. Die Erdölkrise hingegen bietet günstige Untersuchungsvoraussetzungen, da einerseits kein kriegerischer Ausnahmezustand herrschte,
sondern das deutsche Mediensystem voll funktionsfähig war, andererseits jedoch die
Erdölkrise eine nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland einzigartige Bedrohungswahrnehmung und ein hohes Maß an Konfliktinvolvierung der Öffentlichkeit
hervorrief.
Ungeachtet des temporären Konflikts über das Erdöl, muß das grundlegende Beziehungsgefüge der Industrie- und der erdölfördernden Staaten als positivinterdependent eingestuft werden. Das von den Industriestaaten benötigte Erdöl
mußte von den OPEC-Staaten verkauft werden, da es sich hierbei in der Mehrzahl
um Entwicklungsländer, zum Teil sogar um Rentenökonomien417 mit einem hohen
417 Peter Pawelka, Der Vordere Orient und die internationale Politik, Stuttgart u.a. 1993, S. 102 ff.
202
Maß an Abhängigkeit vom Rohstoffexport handelte. Im Rahmen dieser positiven
Interdependenz ließen sich im Zusammenhang mit den unterschiedlichen Auffassungen über Preisgestaltung, Verstaatlichung usw. kurzzeitige Interessenkollisionen
erkennen, die als temporäre negative Interdependenz zu deuten waren. Zwar hält die
Deutung der Erdölkrise als „Nullsummenspiel“ (Gewinne der OPEC-Staaten, Verluste der Industriestaaten) einer transaktionalen Bilanz, die das Petrodollar-Recycling
und den erhöhten Absatz westlicher Produkte in die OPEC-Staaten nach 1973 einbezieht, letztlich nicht stand, da Gewinne auf beiden Seiten des Konflikts zu verbuchen
waren. Dennoch wurde die Krise Ende 1973, also in der historischen Situation selbst
und ohne Kenntnis nachfolgender Entwicklungen, weithin als Interessenkonflikt
wahrgenommen.
Damit stellt sich die Frage, welches Wirkungspotential öffentliche „Kommunikation“, d.h. die deutsche Presse, in einer grundsätzlich positiv-interdependenten, momentan jedoch durch konfligierende Interessenwahrnehmungen geprägten internationalen Beziehung besaß.418 Die Presse konnte die Interessenunterschiede nicht negieren oder substantiell beeinflussen; selbst unter günstigsten Kommunikationsbedingungen war die Konfliktlösung daher keineswegs allein kommunikationsabhängig.
Das größte Potential der Massenkommunikation bestand darin, die grundlegende
positive Interdependenz auch in einer Situation momentaner Interessenkollisionen zu
verdeutlichen (was um so bedeutsamer war, als in der Krise auch Leser an der Auslandsberichterstattung interessiert waren, die weder zu den „Meinungsführern“ noch
zum „interessierten Publikum“ im Bereich außenpolitischer und internationaler Fragen, sondern zum „Massenpublikum“ (Kap. 3.2.4.1.2) zu zählen waren). Auf dem
Höhepunkt der Erdölkrise tat die deutsche Nahostberichterstattung jedoch das Gegenteil des Erwarteten. Das Motiv des zugedrehten „Ölhahns“ suggerierte fehlerhafterweise ein Verständnis grundsätzlich negativ-interdependenter Beziehungen zwischen den Industriestaaten, der OPEC und den Arabern, da es die Gefahr versinnbildlichte, daß Erdöllieferungen gänzlich unterbleiben könnten, was zu einem Wirtschaftskollaps geführt hätte. Hans Mathias Kepplinger und Herbert Roth haben die
Medienberichterstattung für Panikkäufe und eine künstliche Verknappung des Erdöls
verantwortlich gemacht (s.o.); die vorliegende Untersuchung zeigt in ähnlicher Weise, daß eine zentrale Ursache für die Panikreaktionen nicht der Konflikt als solcher
war, sondern der in den Medien erzeugte, über sachliche Differenzen hinausgehende
Eindruck eines fundamentalen Interessengegensatzes, der die reale Interdependenz in
den euro-arabischen Beziehungen überdeckte.
Die Feststellung, daß der Erdölkonflikt in der Presse zwar nicht erzeugt, jedoch
kommunikativ zugespitzt wurde, läßt nach den eigenen Interessen der Medien fragen. Welche Rolle spielte die deutsche Presse in der Krise von 1973; war sie eine
neutrale Vermittlerin, eine Co-Konfliktpartei oder agierte sie als unabhängige, dritte
Partei?
Deutlich weist die Falluntersuchung die Presse auf dem Höhepunkt der Krise als
Co-Partei deutscher bzw. westlicher Interessen in der Erdölfrage aus. Die theoreti418 Vgl. die Ausführungen zu Rosecrance in Kap. 3.2.4.4.1.
203
sche Vorgabe, daß „Je größer die Involvierung eines Gesellschaftssystems in einen
internationalen Konflikt, um so ausgeprägter auch die Parteilichkeit seines Mediensystems ist“ (Kap. 3.2.4.4.2), wird bestätigt. Der Zusammenhang zwischen Involvierung und Parteilichkeit wird selten deutlicher als in diesem Beispiel, als unmittelbar
nach der Ausweitung des Konflikts auf die Bundesrepublik Deutschland die Presse
vollständig in den anti-arabischen Tenor einschwenkte. Die Erdölkrise von 1973 und
die Algerienkrise von 1991/92 waren insofern gegensätzliche Beispiele, als in letzterem Fall die deutsche Presse vor dem Hintergrund einer geringen Involvierung der
deutschen Außenpolitik mehrheitlich eine von der deutschen Regierungslinie abweichende Haltung einnahm (Kap. 6.5.2.2).
Allerdings zeigt die Erdölkrise auch, daß Parteilichkeit nicht nur vom Faktor „Involvierung“ abhängt, sondern in Kombination mit anderen Faktoren wirksam wird.
Wichtig ist die „Dramaturgie des Krisengeschehens“ (Kap. 3.2.4.4.2). Mit Blick auf
die Erdölkrise läßt sich sagen: Parteilichkeit ist in der Auslandsberichterstattung
weniger ein Problem der Konfliktberichterstattung im allgemeinen als der Krisenberichterstattung im speziellen. Die Krise ist lediglich ein Teilbereich des Konflikts,
ein labiler Wendepunkt des Geschehens, in dem unter der Bedingung einer hohen
Eigeninvolvierung des Gesellschaftssystems und der mit der Krise einhergehenden
Wahrnehmung knapper Entscheidungszeiten und hohen Handlungsdrucks die Frames
der Auslandsberichterstattung parteilicher werden als sie dies vorher waren. Die in
der Erdölkrise beobachtete Anpassung an die nationalen Systemumwelten ist identisch mit einer Position der Parteilichkeit im internationalen Konflikt.
Aus der Perspektive der medialen Vermittlungskriterien Davisons (Kap.
3.2.4.4.2) ist die Presseberichterstattung während der Erdölkrise wie folgt zu charakterisieren:
• Frühwarnsystem: Als deutliche Einschränkung des journalistischen „Frühwarnsystems“ kann bezeichnet werden, daß die Presse zwar die Frage eines möglichen
Boykotts erörterte, König Faisals wiederholte Mahnungen in der ersten Hälfte
des Jahres 1973419 jedoch auf der Basis früherer Erfahrungen mit arabischen
Boykottversuchen (1967) als unrealistisch eingeschätzt wurden. Deutlich wird,
daß gerade unter den Bedingungen eines sich über Jahre erstreckenden Konflikts,
in dessen Verlauf sich mehrfach Krisen angebahnt hatten, ein akuter Notstand jedoch ausgeblieben war, Wendepunkte des Konfliktgeschehens zu spät erkannt
419 Bereits im April des Jahres 1973 schickte König Faisal eine diplomatische Mission unter der Leitung seines Erdölministers Ahmad Zaki al-Jamani nach Washington, um die US-Regierung darauf
aufmerksam zu machen, daß die von Washington erwartete Produktionssteigerung ohne eine Korrektur der amerikanischen Nahostpolitik nicht zu verwirklichen war. Die Regierung Nixon ignorierte den saudi-arabischen Hinweis, obwohl dieser mehrfach im Laufe des Jahres 1973 wiederholt
wurde (Abdulaziz Al-Sowayegh, Arab Petropolitics, London/Canberra 1984, S. 125-127). Henry
Kissinger erklärte das saudi-arabische Verhalten mit Nullsummenkalkulationen, wonach der von
Faisal angeführte wachsende Druck der arabischen Staaten auf Saudi-Arabien durch amerikanischen Gegendruck ausgeglichen werden mußte (Kissinger, Memoiren, S. 1223). Warnend hingegen
äußerte sich der spätere US-Botschafter in Saudi-Arabien James E. Akins. Vgl. Sowayegh, Arab
Petropolitics, S. 126 und Kissinger, Memoiren, S. 1268.
204
werden. Die Themen „Erdöl“ und „internationales Erdölsystem“ verblieben im
Stadium der „Halbthematisierung“, das von besonderer Gefährlichkeit für das
mediale Frühwarnsystem ist, da ein Thema scheinbar eingeführt wird, die öffentliche Aufmerksamkeitsschwelle überwunden und Gewöhnung vorhanden ist, ohne daß das Framing des Problems bis zur Problemlösung und zur Erzeugung von
Handlungsdruck fortgeschritten ist.
• Quantität und Qualität der Information: Wenn ein zentrales Element der Mittlerrolle der Medien die Vermittlung der Diskurse, Themen und Frames aller Konfliktparteien ist, dann ist auf dem Höhepunkt der Erdölkrise – kumulierend im
Erpressungsmotiv – ein deutliches Ungleichgewicht festzustellen. Obwohl der
Umfang der Berichterstattung erheblich zunahm, wurde die Sichtweise der
OPEC, wonach deren Erdölpolitik politisch wie ökonomisch sinnvoll und legitim
war, kaum repräsentiert, sondern als pure Machtpolitik zurückgewiesen. Die
Presse agierte hier, ähnlich wie bei der Frage der grundlegenden Interdependenz
in den euro-arabischen Beziehungen, kontra-indikativ im Sinne einer in Krisenzeiten prinzipiell notwendigen Neutralität der Medien.
• Friedensklima: Mit der direkten Involvierung der Bundesrepublik Deutschland in
die Krise (seit Anfang November 1973) kam es zu einer Emotionalisierung der
Mediensprache mit Begriffen wie „Erpressung“ oder „Erdöl-Potentaten“. Anstelle eines Friedensklimas schuf die Presse in den untersuchten Beiträgen die
Grundlagen für ein Krisenklima. Dabei standen zwei Elemente im Vordergrund:
a) die Vorstellung einer Existenzkrise: Kepplinger und Roth betrachten die Medien gar als „Schöpfer der Krise“, da ein Krisenklima erzeugt wurde, während
die arabischen Förder- oder Lieferkürzungen (ca. 5-10 %) begrenzt blieben, der
Boykott gegen die USA und die Niederlande zumindest von den USA leicht zu
substituieren war und die Preissteigerungen keine existentielle Bedrohung darstellten; b) ein anti-arabisches Feindbild, das bis zum Rassismus reichte, wie er
bei Hans Habe (Welt am Sonntag) oder in arabischen Nationenstereotypen zum
Ausdruck kam.
• Verhandlungsunterstützung: Hier bot sich ein komplexes Bild. Hinweise auf eine
aktive Stützung von Verhandlungslösungen im Sinne der reminder-Funktion (aktiver Hinweis auf bestimmte Lösungen) konnten nicht ermittelt werden, aber
auch, von Ausnahmen abgesehen, wenig Widerstand gegen die kompromißbereite Politik der EG („Brüsseler Erklärung“). Ungeachtet des von den Medien geförderten Krisenklimas und ihrer mangelnden Neutralität wirkte die Presse auch
nicht auf die Verfolgung konflikteskalierender Optionen hin. Mangelnde Mittlertätigkeit der Medien war demnach nicht gleichzusetzen mit einer aktiven Medienpolitik der Konfliktverschärfung oder gar mit einem kriegshetzerischen Mediendiskurs.
Legt man für die Beurteilung der Presse lediglich deren Berichterstattung auf dem
Krisenhöhepunkt zu Grunde, so übte sie keine Vermittlerrolle im Sinne von Krisenprävention, -deeskalation und Konfliktlösung aus. Wie die Co-Parteischaft der Medien veränderte sich jedoch auch ihre Vermittlungsfähigkeit in Abhängigkeit von der
205
Dramaturgie und zeitlichen Entwicklung der Krise. Gadi Wolfsfelds Bezeichnung
der Medien als „halbehrenhaften Vermittlern“ (semi-honest brokers), die starke
Bindungen zu den Interessen ihrer jeweiligen (nationalen) Klientel aufweisen, gelegentlich aber auch Offenheit für andere Frames zeigen,420 trifft auf die Früh- und
Spätphase der Krise zu, in der die Presse zwar nicht generell „neutral“, jedoch pluralistisch im Sinne der Rechts-Links-Unterschiede war. Auf dem Höhepunkt der Krise
jedoch verwandelte sich der „halbehrenhafte Vermittler“ in eine Co-Partei.
„Vermittler“ und „Co-Partei“ sind gleichwohl nicht die einzigen Rollenmodelle,
die auf die Erdölkrise angewandt werden können. Im Konzept des halbehrenhaften
Vermittlers ist bereits enthalten, daß die Medien nicht nur die Interessen anderer
Parteien verfolgen, sondern auch eigene Interessen, was auf die Stellung der Medien
als dritte Konfliktpartei in internationalen Konflikten hinweist. Wenn jedoch der
„halbehrenwerte Vermittler“ nur außerhalb der akuten Erdölkrise in Erscheinung
trat, welche Eigeninteressen – wenn überhaupt – verfolgten die Medien dann während der Krise?
Die Presse schuf auf dem Höhepunkt der Krise die Bedingungen für ein Krisenklima in der Öffentlichkeit, das ihren eigenen Verkaufsinteressen dienlich sein konnte – Der Spiegel publizierte fünf Titelgeschichten über die Krise nacheinander421 –,
von seiten der deutschen Politik jedoch mit Skepsis betrachtet werden mußte, da sie
eine drohende Panik kontrollieren mußte und im Rahmen der EG an einer diplomatischen Entspannung der euro-arabischen Beziehungen interessiert war. Das Verhalten
der Presse fügte sich in das Modell der Medien als „lachenden Dritten“ (tertius gaudens) in internationalen Konflikten (Kap. 3.2.4.4.2). Andere Kriterien dieses Modells treffen weniger zu, da die Medien beispielsweise keine massiven Forderungen
zur Ausweitung der Krise stellten, wenngleich sie Verhandlungslösungen auch nicht
aktiv förderten. Zwischen der in Kapitel 6.2.2.1 beschriebenen Umweltanpassung
der Auslandsberichterstattung und der Verfolgung von Eigeninteressen auch auf dem
Krisenhöhepunkt besteht kein logischer Widerspruch, sondern es ist ein Beleg dafür,
daß theoretische Modelle im konkreten Fall nicht in Reinform, sondern in Kombination auftreten. Auf dem Höhepunkt der Erdölkrise agierte die untersuchte Presse
insgesamt als „eigennützige Co-Partei“, denn die Medien paßten sich inhaltlich an
die Interessen des politisch-wirtschaftlichen Komplexes an (Co-Partei), während sie
insbesondere durch Emotionalisierung, Sprachgebung usw. sensationistische Eigeninteressen verfolgten (tertius gaudens). Die Presse verlor zwar auf dem Höhepunkt
der Krise ihre inhaltliche Identität, verstärkte dafür aber ihre Funktion als „Medium“
im Wortsinn, als Resonanzkörper und Verstärker öffentlicher Bedürfnisse.
Insgesamt lassen sich die Rollen der Presse in internationalen Konflikten mit hoher nationaler Involvierung (Deutschland in der Erdölkrise im Unterschied zur
Algerienkrise) wie folgt beschreiben:
420 Wolfsfeld, Media and Political Conflict, S. 210.
421 Die Erdölerpressung (5.11.1973); Öl-Scheichs gegen Europa (12.11.1973); Ende der Überflußgesellschaft (19.11.1973); Stop für Deutschlands Autofahrer (26.11.1973); Energie-Krise: Rettung
durch Kohle (3.12.1973).
206
a) Die private Presse kann außerhalb akuter Krisenzeiten ein „halbehrenhafter Vermittler“ in internationalen Konflikten sein, denn hier ist das Bestreben der Presse,
Autonomie insbesondere vom politisch-wirtschaftlichen Komplex zu gewinnen,
groß, und mediale bzw. journalistische Prioritäten werden profiliert (Co-Parteinahme auch in diesen Zeiten ist allerdings nicht ausgeschlossen).
b) Die Presse wird in akuten Krisenzeiten (und ohnehin in Kriegszeiten) zur CoKonfliktpartei des politisch-wirtschaftlichen Komplexes, denn der Umweltdruck
und die Interessen des Gesellschaftssystems werden größer als das Autonomiestreben der Medien.422 Den Verlust an inhaltlicher Autonomie gleichen die Medien durch eine Verlagerung zum Stimmungs- und Sensationsjournalismus aus.
Für Konflikte mit geringer Involvierung (Fallbeispiel Algerien, Kap. 6.5.2.2) gilt:
c) außerhalb akuter Krisenzeiten: dieselbe Regel wie unter a).423
d) in akuten Krisenzeiten: dieselbe Regel wie unter a) und c).424
6.3
Iranische Revolution (1978/79)
Die Iranische Revolution von 1978/79 verlieh dem Thema Islam einen starken quantitativen Aufschwung in den Medien (Kap. 5.1.3, Abb. 5.5), der sich auf das Bild des
Islam allerdings negativ ausgewirkt hat. Kein anderes Thema, außer Kriegen, und
nicht einmal der Nahostkonflikt, ist in der deutschen überregionalen Presse im Zeitraum 1955-94 stärker mit negativen Ereignissen in Verbindung gebracht worden als
der Islam (Kap. 5.2.1.2, Abb. 5.12). Die Revolution erwies sich als ein Ereignis, das
dem Thema „Islam“ half, dauerhaft, bis in die Gegenwart hinein, die mediale Aufmerksamkeitsschwelle zu überwinden.425 Dies ist auch der Grund, warum im nachfolgenden Kapitel der Frage nachgegangen wird, welche Wahrnehmungsgrundlagen
des Islam während der Iranischen Revolution gelegt worden sind, d.h. welche soziopsychologischen Bildkonfigurationen (Feindbilder, Stereotype usw.) erkennbar
werden. Im theoretischen Vorlauf ist ausgeführt worden, daß diese Bildformen nicht
hinreichen, um das Nahost- und Islambild zu charakterisieren (Kap. 3.1.2), daß sie
422 Ein weiteres Beispiel hierfür ist, daß die US-amerikanischen Medien während des Golfkriegs von
1991 erst nach der Involvierung des Kongresses auf eine die amerikanische Regierung vollständig
unterstützende Position einpendelten. Wolfsfeld, Media and Political Conflict, S. 217.
423 Die deutsche Presse nahm vor den nationalen Wahlen von 1991/92 eine vermittelnde Position
zwischen der FIS und anderen politische Kräften ein (Kap. 6.5.1).
424 Auch auf dem Höhepunkt der Krise der algerischen Wahlen im Januar 1992 bestand eine Kluft
zwischen den Positionen deutscher Außenpolitik und weiten Teilen des Pressediskurses (Kap.
6.5.2.2). Auch die kritische Haltung von CNN gegenüber der amerikanischen Tschetschenienpolitik
(Koller, „War of Annihilation“) ist ein Beleg für die These, daß in Konflikten mit geringer nationaler Involvierung den Medien auch in Hochkrisenzeiten eine Distanzierung von der Politik möglich
ist.
425 Zur Bedeutung der Iranischen Revolution für die Beachtung des Islam in den westlichen Medien
und der Öffentlichkeit vgl. a. die Hinweise in: James P. Piscatori, Introduction, in: ders. (Hrsg.), Islam in the Political Process, Cambridge u.a. 1983, S. 1; Mohammed Ayoob, Introduction: The Myth
of the Monolith, in: ders. (Hrsg.), The Politics of Islamic Reassertion, New York 1981, S. 1 f.
207
jedoch wichtige Erklärungsschemata für politische, gesellschaftliche und kulturelle
Vorgänge Nordafrikas und des Nahen und Mittleren Ostens bilden und insofern einer
Untersuchung bedürfen, die einen ähnlichen Differenzierungsgrad erreichen sollte
wie die Untersuchung anderer Bildkomplexe, insbesondere wie die des Kalten Krieges.
Im folgenden wird die Islamberichterstattung im Kontext der Iranischen Revolution zwischen Ende 1978 und dem Beginn der Geiselaffäre in der amerikanischen
Botschaft in Teheran (November 1979) untersucht. Auf die qualitative Inhaltsanalyse
(Re-Rekonstruktion; Kap. 6.3.1) folgt die Dekonstruktion des empirischen Befunde
mit Hilfe verschiedener Ansätze der Re-Islamisierungsforschung (Dekonstruktion I;
Kap. 6.3.1). Die Dekonstruktion wird fortgesetzt, indem mit den Mitteln der soziopsychologischen Bildforschung ein umfangreicher Katalog von Konstruktionsmerkmalen des Islambildes in der Presse erstellt wird (Dekonstruktion II; Kap. 6.3.2.1),
der seinerseits zur Grundlage für einen Exkurs über Edward Saids „Orientalismus“These wird (Kap. 6.3.2.2).
6.3.1 Re-Rekonstruktion und Dekonstruktion I: Das Islambild
der deutschen Presse in der Iranischen Revolution
Die Verlagerung zum Politischen am Ende der siebziger Jahre bedingte nahezu
zwangsläufig eine Verschlechterung des Islambildes. Berichte über den politischen
Islam, über das „Erwachen“, die „Wiederkehr“ oder das „Erstarken des Islam“ als
politische Ideologie existierten bereits seit den vierziger Jahren in der deutschen
Presse, wenngleich auf niedrigem quantitativen Niveau.426 Im Umfeld der Gründung
des Bagdad-Paktes von 1955 wurde sogar erwogen, gemeinsam mit islamischen
Staaten ein „Bollwerk“ gegen die globale Ausdehnung des Kommunismus zu bilden.
Gleichzeitig wuchs jedoch die Erkenntnis, daß die nationalen Bewegungen in Ländern wie Algerien, Ägypten oder Iran eine westlich-islamische Allianz verhindern
würden.427 Die politische „Wiederkehr“ des Islam entwickelte sich in den deutschen
Printmedien zu einem Bedrohungsmotiv, wobei postkoloniale Widerstände der Staaten zum Teil als religiös motiviert interpretiert wurden.428 Die ägyptische Muslimbruderschaft galt als eine Organisation von „religiösen Eiferern organisierten Massenterrors“, was verdeutlicht, daß die Abneigung gegenüber dem islamischen Fundamentalismus bereits lange vor der Iranischen Revolution in der deutschen Öffent-
426 Vgl. u.a. Das Erwachen des Islams, SPK 25.1.1948; Friedrich-Wilhelm Fernau, Aus der Geschichtslosigkeit erwacht, DZt 10.5.1958; Peter Meyer-Ranke, Der Islam wieder aktiv, Welt 29.11.1965.
427 O.M. Green, Wachsende Macht des Islam, Welt 17.3.1950; Fritz Steppat, Islam und Christentum
lernen sich kennen, DNZ 2.12.1952; „Heiliger Krieg“ gegen den Kommunismus, IK 28.4.1959;
Meyer-Ranke, Der Islam wieder aktiv, a.a.O.; Der Islam rüstet zu einem neuen Aufbruch, Welt
22.6.1974.
428 Robert Held, Der Halbmond und das Kreuz, F.A.Z. 17.8.1957.
208
lichkeit zum Tragen kam.429 Vorstellungen von einer rapide voranschreitenden Islamisierung des afrikanischen Kontinents, die später etwa in der Algerienberichterstattung der Jahre 1991/92 eine Rolle spielten (Kap. 6.5.1), existierten ebenfalls bereits
in den fünfziger Jahren.430 Wie die Renaissance des Islam gehört auch die islamische
Expansion in Afrika zu einem Kanon traditioneller Annahmen über den politischen
Islam, die in unregelmäßigen Abständen in der Presse wiederbelebt werden.
Es wird erkennbar, daß die Berichterstattung über die Iranische Revolution und
die „Re-Islamisierung“ der orientalischen Politik in den achtziger und neunziger
Jahren nicht voraussetzungslos waren, sondern in der Tradition einer publizistischen
Wahrnehmung in den Jahrzehnten zuvor standen. Die eigentliche Bedeutung der
Iranischen Revolution für das mediale Islambild bestand darin, daß sich in ihrer
Folge durch die Vervielfachung des Umfangs (Kap. 5.1.3, Abb. 5.5, Tab. A 5.9) die
Berichterstattung fast nur noch mit dem politischen Islam beschäftigte und die im
engeren Sinn religiösen Themenaspekte überlagert wurden.
Seit der forcierten Wiedereinführung des islamischen Rechts (Sharia) in Staaten
wie Pakistan im Jahr 1977,431 spätestens jedoch mit den Unruhen in Iran 1978 und an
der Jahreswende 1978/79 begann das Thema Islam mit Nachdruck, die Aufmerksamkeitsschwelle der Medien zu überwinden. Die Grundannahme der untersuchten
Beiträge bestand darin, daß sowohl Iran als auch alle anderen Kräfte der ReIslamisierung eine „freiwillige, totale Umkehr von der Gegenwart ins Mittelalter“
(Die Zeit) anstrebten.432 Der Islam wurde dabei nicht nur historisch für die Entwicklungsrückstände in Staaten wie Marokko, Tunesien, Ägypten oder Malaysia verantwortlich gemacht, sondern galt als generell unvereinbar mit individueller Freiheit
oder wirtschaftlichem und sozialem Fortschritt. Die „morbide Faszination“ des Islam
(Die Welt) bestand in der Gleichzeitigkeit von populistischer Mobilisierungskraft
und struktureller Fortschrittsfeindlichkeit der Religion.433
Einen vorläufigen Höhepunkt der Beschäftigung der Printmedien mit dem Modernisierungstopos stellte die Titelgeschichte „Zurück ins Mittelalter“ des Spiegel im
Februar 1979 dar: „Etwas Wundersames vollzieht sich da vor den Augen des immer
noch fortschrittsgläubigen Westens wie der fortschrittsgierigen Dritten Welt: An der
Schwelle zum 21. Jahrhundert scheint das 35-Millionen-Volk der Perser, gerade erst
429 Reform und Reaktion im Islam, DZt 15.12.1954. Zu kritischen Anmerkungen über die Rezeption
der Muslimbruderschaft in der westlichen Öffentlichkeit und Wissenschaft vgl. Meyer-Ranke, Der
Islam wieder aktiv, a.a.O.
430 C. W. Fennel: „Die islamisierten Schwarzen werden arbeitsamer, energischer und verfallen nicht
mehr dem Alkohol, der großen Seuche aller tropischen Länder.“ C.W. Fennel, Die grüne Fahne über
Afrika, RM 6.1.1956.
431 „Nur der Koran wird uns leiten“, Spiegel 3.10.77; „Ausweg aus dem Elend“, Spiegel 3.10.77; Peter
Meyer-Ranke, In den Islam-Ländern zählt nur Mekka, Welt 27.2.1978. Nach der Machtübernahme
von General Zia ulHaq wurde beispielsweise die Vermögens- und Sozialabgabe (zakat) wiedereingeführt und die Exekution der Körperstrafen (hudud-Strafen) möglich gemacht. Aufmerksamkeit erregten auch die Abschaffung des Sonntags als Feiertag in Algerien oder die Diskussion über die
Einführung der Sharia in Ägypten, die hier schließlich als eine der Rechtsquellen der Verfassung
anerkannt wurde.
432 Dietrich Strothmann, Politik als Gottesdienst, Zeit 26.1.1979.
433 E. v. Loewenstern, Aber bitte mit Schleier!, Welt 27.1.1979.
209
von der Despotie eines maßlosen Emporkömmlings befreit, mittels einer religiösen
Zeitmaschine um 1300 Jahre zurück in die islamische Urgesellschaft zu fliegen
(...)“.434 Asketische Ideale, Weltbeherrschung, Frömmigkeit, inhumanes Strafrecht,
Geschlechtertrennung, Pogrome gegen Juden, religiöser Fanatismus, Expansionismus und „Heiliger Krieg“ wurden als Konsequenz einer Verdrängung der Moderne
betrachtet. Diese scheinbare Rückorientierung wiederum wurde zum Teil als Ausdruck einer religiösen Grundhaltung gedeutet.435 Die Iranische Revolution wurde als
modernitätsfeindlich und die Modernitätsfeindlichkeit als religiös-kulturell geprägt
betrachtet.
Die Kritik am Islambild der Medien begann sich schon bald nach den Umsturzereignissen im Iran zu regen. Der Islamwissenschaftler Abdoldjavad Falaturi monierte
eine fälschliche Kontrastierung von Islam und Modernität und wies auf die Notwendigkeit der Identifikationsfindung durch eine Distanzierung von äußeren Einflüssen
hin.436 Karl Grobe suchte die Ursachen für die vehemente Zurückweisung des politischen Islam in der Verteidigung eines intoleranten Ausschließlichkeitsanspruchs
westlicher Gesellschaftskonzepte.437 Dieter Wild hob hervor, daß die These von der
islamisch intendierten Rückkehr zum Mittelalter keine reziproke Perspektive beinhaltete und die „Wertekrise des Abendlandes“ sowie die Herausforderung des westlichen Materialismus in den Hintergrund drängte.438
Trotz der Kritik blieb das kontrastive Bild, Islam versus Modernität in der deutschen Presse virulent439 und verschärfte sich unter den Bedingungen einer im Laufe
des Jahres 1979 zunehmenden Gewaltperspektive. Dies bedeutete allerdings auch,
daß das Medienbild des Islam im Jahr 1979 einem sukzessiven Wandel unterlag.
Zwar war der Antagonismus von Islam und Moderne ein durchgehender Topos der
Presseberichterstattung, doch war die Akzeptanz gegenüber einer derart interpretierten „Re-Islamisierung“ zunächst unterschiedlich ausgeprägt. Zwar war zu keinem
Zeitpunkt Sympathie für den politischen Islam zu erkennen, gerade in der Frühphase
der Revolution wurde jedoch zum Teil Verständnis für die Entwicklungen geäußert.
Die Süddeutsche Zeitung zum Beispiel war geneigt, der moralistischen Herrschaft
Khomeinis den Vorzug vor dem nepotistischen Regime des Shah Mohammed Reza
434 Zurück ins Mittelalter/Iran: Der Islam fordert die Macht, Spiegel 12.2.79. Der Artikel hielt in seinen
hinteren Passagen differenzierte, mit Hilfe des Deutschen Orient-Instituts in Hamburg recherchierte
Beobachtungen parat, wobei unter anderem erwogen wurde, ob es sich bei den Vorgängen im Iran
nicht vielmehr um eine symbolische Rückkehr zum Anfang als Zeichen des Neubeginns handelte.
435 Heinz Nussbaumer, Das Licht aller Gläubigen gegen die Sonne der Arier, Welt 10.3.1979.
436 A. Falaturi, Muhammad predigt Vergebung, nicht Rache, Welt 23.6.1979.
437 Grobe, Im Namen des Propheten, a.a.O.
438 Dieter Wild, Chomeini soll leben, Spiegel 3.12.1979.
439 Gegen Ende des Jahres wurden beispielsweise mehrfach Textauszüge der hygienischen oder sexuellen Ge- und Verbote Khomeinis veröffentlicht („Notdurft nicht in Richtung Mekka“, stern
25.10.1979; vgl. a. Schmuck aus dem Fluß, Spiegel 21.1.1980). Ohne Ausführungen über den Kontext der traditionellen islamischen Rechtslehre, die sich − ähnlich den katholischen Vorschriften
über Beischlaf, Verhütung oder Abtreibung − auch auf die Intimsphäre beziehen, dienten die Beiträge der Karikatur, nicht dem Verständnis der schiitischen Rechtslehre.
210
Pahlevi zu geben.440 Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel veröffentlichte seit Ausbruch der Unruhen in Iran im Jahr 1978 kritische Beiträge über die Herrschaft des
Shah, der sich unter dem Eindruck uneingeschränkter Autokratie und weitreichender
Visionen einer Modernisierung Irans von der Bevölkerung isoliert hatte, während er
die Gesellschaftssysteme im Westen wie im Osten zur gleichen Zeit als retardiert und
instabil betrachtete.441 Die Illustrierte Quick dokumentierte ausführlich die Folterpraktiken des Shah-Regimes.442 Da die Shah-Herrschaft in Europa seit den Studentenprotesten der späten sechziger Jahre in die Kritik geraten war, ist es nicht verwunderlich, daß sich zu Beginn der Iranischen Revolution insbesondere in linksliberalen und liberalen Medien die Ablehnung des politischen Islam und des ShahRegimes die Waage hielten.
Im Gegensatz dazu war in konservativen Pressemedien eine ausgeprägte Ablehnungshaltung gegenüber dem Volksumsturz in Iran zu finden, wie sie lange Zeit auch
der außenpolitischen Linie der sozial-liberalen Regierung Helmut Schmidts entsprach.443 Die Frankfurter Allgemeine Zeitung wies auf die Nähe der Revolutionäre
zum Kommunismus hin, und die egalitären Anliegen der islamischen Revolutionsideologie wurden mit deutlichem Unbehagen beobachtet, zumal Islam und Kommunismus bis dahin weithin als unvereinbar gegolten hatten.444 Harald Vocke betrachtete den Iran des Shah als ein durch „wichtige demokratische Institutionen gemilderte(n) Polizeistaat“445 und vertrat die Auffassung, Khomeini sei „ein Lieblingskind
nicht nur der französischen Linken, sondern vieler Marxisten in der westlichen
Welt“.446 Günter Lerch schrieb bereits im Februar, daß die Revolution Iran „an den
Rand des Chaos gebracht“ hatte und die Sehnsucht der Massen nach sozialem Ausgleich mißbraucht wurde.447 Peter Meyer-Ranke hatte bereits im September 1978 den
440 Rudolph Chimelli, Der Thron des Schahs wankt, SZ 3.11.1978; Ein Kaiser, der als Fremder sein
Reich verläßt, SZ 17.1.1979; Der Schah ist gescheitert, SZ 17.1.1979; Khomeini ante Portas, SZ
25.1.1979; Warten auf Khomeini, SZ 27./28.1.1979; Rudolph Chimelli, Der Wohlgeruch der Revolution, SZ 3./4.2.1979; ders., Kurze Atempause in Persien, SZ 5.2.1979; ders., Erfahren im Kampf
gegen Usurpatoren, SZ 10.2.1979; Josef Riedmüller, Khomeinis Kampf noch nicht zu Ende, SZ
13.2.1979.
441 Iran: Aufruhr gegen den Kaiser, Spiegel 10.4.1978; „Keine Mehrheit mehr für den Schah“, Spiegel
21.8.1978; „Irgendwas muß schiefgelaufen sein“, Spiegel 18.9.1978.
442 Die Frauen besiegten den Schah, Quick 11.1.1979.
443 Harry Hamm, Der Bundeskanzler rechnet mit einem „islamischen Sozialismus“ in Iran, F.A.Z.
30.1.1979.
444 Knut Barrey, Teheran im Rausch eines Kommunismus im Namen Allahs und seines Propheten
Khomeini, F.A.Z. 5.2.1979; Wolfgang Günter Lerch, Was heißt „Islamische Republik“?, F.A.Z.
14.2.1979; vgl. a. Harald Vocke, Unruhiger Islam, F.A.Z. 1.12.79.
445 Harald Vocke, Wenn der zwölfte Imam herrscht, F.A.Z. 23.1.1979. Vocke ergänzte wenige Monate
später: „Der Volksgerichtshof in Teheran hat die dreizehn Jahre der Ministerpräsidentschaft Howeidas als die finstersten Jahre der persischen Geschichte bezeichnet. In Wahrheit waren es für viele
Perser Jahre großer wirtschaftlicher Blüte und eines ziemlich ungetrübten bürgerlichen Glücks. Nur
die Forderung des Marquis von Posa, das ‘Geben Sie Gedankenfreiheit’, blieb den Persern unter
dem Schah unerfüllt“. Harald Vocke, Persien ohne Gedankenfreiheit, F.A.Z. 10.4.1979.
446 Ein persischer Reaktionär, F.A.Z. 5.12.1978.
447 Wolfgang Günter Lerch, Der „islamischen Republik“ steht nichts mehr im Weg, F.A.Z. 13.2.1979.
In einem späteren Beitrag betonte Lerch, die Revolution habe die „Geistesfreiheit nicht sichern“
können, während nur wenige Tage zuvor Karl-Alfred Odin ebenfalls in der Frankfurter Allgemeinen
211
Shah als einen im Vergleich zu den schiitischen Mullahs „aufgeklärte(n) Liberale(n)“
bezeichnet.448
Auch bei der Behandlung der Person Khomeinis waren zunächst Differenzierungen im Pressediskurs zu erkennen. Neben Antimodernismusvorwürfen wurde auch
Bewunderung für die Leistung erkennbar, die der Sturz des Shah darstellte. Allein
die „Integrität der Person“ (Der Spiegel) des Ajatollah hatte die Staatsmacht in einer
der stärksten Militärmächte der Welt erringen können. Khomeini wurde mit historischen Persönlichkeiten wie Lenin, Danton und Savonarola verglichen – erst im Laufe
des Jahres 1979 rückten Vergleiche mit Robbespierre und Rasputin in den Vordergrund (s.u.). Khomeinis „persönliche Bescheidenheit“ galt als Gegensatz zur „Verschwendungssucht des alten Regimes“.449 Für eine kurze Zeit existierte ein investigatives journalistisches Neugierverhalten hinsichtlich des Phänomens Khomeini und
seiner Ziele, wobei etwa Passagen aus seinen religiös-politischen Schriften oder
Interviews abgedruckt und ausgewertet wurden.450
Eine spezielle Berichterstattungspolitik verfolgte die Boulevardpresse. „Islam
und Moderne“ war kein Topos der Boulevardpresse, die sich nur sporadisch Themenstellungen des politischen Islam widmete. Die denkbare Hypothese, derzufolge
Zeitungen wie Bild die negativistische und konfliktorientierte Grundtendenz der
Islamberichterstattung, wie sie in der Analyse der Ereignisvalenzen zum Vorschein
getreten ist (Kap. 5.2.1.2), durch affekt- und sensationsorientierte Textgestaltung
noch verstärkt haben könnten, kann nicht bestätigt werden. Da der Themenkomplex
„Islam“ zu abstrakt war, um von der Boulevardpresse verfolgt zu werden – dies bestätigte nach der Iranischen Revolution auch die Berichterstattung über den Fall
Salman Rushdie zehn Jahre später (Kap. 6.4.1) –, war der Islamdiskurs der Iranischen Revolution weitgehend auf die überregionale Abonnentenpresse beschränkt.
Die Berichte der Boulevardpresse zeugten hingegen von einem extrem hohen
Personalisierungsgrad. Die Iranische Revolution wurde überwiegend aus der Perspektive des persönlichen Schicksals von Shah Reza Pahlevi, seiner Familie und der
Auseinandersetzung mit seinem Gegenspieler Ajatollah Khomeini beobachtet.451
448
449
450
451
212
Zeitung festgestellt hatte, daß „der beherrschende Eindruck in Teheran eine Stimmung persönlicher
Freiheit, verbunden allerdings mit der Furcht vor unberechenbarem Verhalten“ war. Karl-Alfred
Odin, In Teheran ist von der Revolution nur wenig zu spüren, F.A.Z. 27.6.1979; Wolfgang Günter
Lerch, Persiens Intellektuelle sind verstummt, F.A.Z. 2.7.1979.
Peter Meyer-Ranke, Unter der Fahne des Propheten, Welt 4.9.1978. Arnold Hottinger, Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung und Gastkommentator der Welt, erkannte in der „Renaissance des
Islam“ hingegen eine Chance für eine Erneuerung der Reformdebatte über die Frage der Konvergenz von Modernität und Islam. Arnold Hottinger, Vom Nationalismus enttäuscht, suchen die Moslems Zuflucht in der Tradition, Welt 25.1.1979.
Was nun, Khomeini?, stern 25.1.79.
„Das Volk ist nun aufgewacht“, Spiegel 20.11.1978; Lutz Krusche, Die Stunde des Ayatollah
Khomeiny in Neauphle-le-Chateau, FR 17.1.1979; Schah-Bezwinger Chomeini/“Dunkle Wolken
ziehen am Horizont auf“/“Die Heimat von Ausbeutern reinigen“/“Ost und West sind rückständig“,
Spiegel 22.1.1979; Josef Joffe, Bleibt Chomeini Sieger?, Zeit 26.1.1979; Ulrich Encke, Der Koran
ist das Grundgesetz der islamischen Republik, FR 3.2.1979; Ludwig Mielke, Khomeini: Der Prophet gab den Theologen alle Macht, Welt 5.2.1979.
Zur Shah-Rezeption der deutschen Presse vgl. a. Heller, Nicht klüger geworden.
Bild verfolgte jede Station des Shah-Exils, seiner Krankheit bis zu seinem Tod.452
Die Information über das Weltgeschehen war von emotionalen Identifikationsmomenten beherrscht und entsprach dort, wo politische Vorgänge angesprochen wurden, einer Shah-konformen Sichtweise, die in klarem Gegensatz zu der Shahkritischen Berichterstattung insbesondere des (links-)liberalen Teils der überregionalen „Elitenpresse“ stand.
Neben dem Themenbereich „Islam und Moderne“ spielte das Thema „Islam und
Gewalt“ eine herausragende Rolle in der untersuchten deutschen Presse, und zwar in
ihrer innen- wie außenpolitischen Dimension. Auslöser für die Hervorhebung des
Gewalttopos waren insbesondere das Vorgehen der Revolutionsgerichte unter der
Leitung von Ajatollah Khalkali, die Wiedereinführung des Sharia-Rechts oder die
Behandlung religiös-ethnischer Minderheiten, die in der deutschen Presse Kritik
auslöste. Johann Georg Reißmüller wandte sich dabei etwa in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gegen zurückhaltende Reaktionen der westlichen Regierungen,
die, so der Autor, mit dem Hinweis auf die vormals unterbliebene Kritik der Atrozitäten der Shah-Herrschaft, zu den Vorgängen in Iran schwiegen. Folgt man Reißmüllers Ausführungen, so waren es weniger die Einrichtung der Revolutionsgerichte und
die Verurteilung ehemaliger Shah-Mitarbeiter an sich, die kritisiert werden mußten,
sondern die mangelnde Rechtsstaatlichkeit des revolutionären Vorgehens (Ausschluß
der Öffentlichkeit, Zeitdruck, Befangenheit der Richter, Angeklagte ohne Verteidigung).453 Carl Friedrich von Weizsäcker kritisierte die Verfolgung der Mitglieder der
452 Im folgenden sollen nur die großen Berichte der ersten Seite angeführt werden: Schah gebrochen/Seine Mutter (90) überfallen, Bild 4.1.1979; Schah und Farah/Angst um ihr Leben/Sorgen um
ihre Heimat, Bild 18.1.1979; Schah Nachbar von Sinatra, Bild 20.1.1979; Schah: Jetzt werden seine
Freunde ermordet, Bild 13.2.1979; Schah-Flugzeug entführt, Bild 21.2.1979; Schah, Soraya, Farah
flüchten, Bild 23.2.1979; Blutbad bei Khomeini/Schah-Schwester befreit, Bild 9.4.1979; Thatcher
rettet Schah, Bild 12.5.1979; Farah verließ Schah/Scheidung für Milliarden?, Bild 25.5.1979; Farah: Abgemagert, von Kindern verlassen, Bild 1.6.1979; Schah gebrochen/Selbstmord?, Bild
30.6.1979; Schah heimlich in Persien?, Bild 30.8.1979; Schah: Ich liebe Farah − ohne sie wäre ich
tot, Bild 5.9.1979; Farah verläßt Schah/Eifersucht auf Nebenfrau, Bild 13.10.1979; Schah
Krebs!/Farah am Bett/Im Todesfieber nach New York geflogen, Bild 24.10.1995; Schah: Testament
geändert/Notoperation, Bild 25.10.1979; Soraya beim Schah, Bild 27.10.1979; Schah: Laßt mich
hier sterben, Bild 2.11.1979; Khomeini: Schah her oder Öl-Stopp, Bild 6.11.1979; Schah: Großer
Tumor im Nacken! Ende?, Bild 7.11.1979; Schah will sich für Geiseln opfern!, Bild 9.11.1979;
Schah zum Skelett abgemagert: Tumor groß wie Tennisball, Bild 15.11.1979; Schah zum Sterben
nach Mexiko, Bild 16.11.1979; Schah packt seine Koffer − zurück nach Mexiko, Bild 29.11.1979;
Todkranker Schah − das erste Foto, Bild 6.12.1979; Geiseln Weihnachten noch gefesselt?/SchahNeffe: Ich befreie sie, Bild 12.12.1979; Schah: Krebs überall/Die letzten Stunden?, Bild
15.12.1979; Khomeini-Freund ermordet/Schah flieht weiter, Bild 19.12.1979. Zur personenzentrierten Shah-Berichterstattung vgl. a. Beiträge der Welt am Sonntag vom Dezember 1979: Die SchahMemoiren, WaS 2.12.1979; Gott ist mein Zeuge, WaS 2.12.1979; Der Schah: so hat Carter mich
verraten/Nach Tod des Neffen neue Mordbefehle, WaS 9.12.1979; So wurde ich gestürzt, WaS
9.12.1979; Schah flieht nach Panama/Iran: Geiseln vor Gericht, WaS 16.12.1979; Dazu brauchte
ich die Savak, WaS 16.12.1979; Ein Herzinfarkt vereitelte meine Rettung, WaS 23.12.1979; So töteten sie meinen Freund Howeida, WaS 30.12.1979.
453 Johann Georg Reißmüller, Und was sagen wir Chomeini?, F.A.Z. 16.5.1979; vgl. a. A. Falaturi,
Muhammad predigt Vergebung nicht Rache, a.a.O. Zur Kritik an den Revolutionsgerichten vgl. exemplarisch Wolfgang Günter Lerch, Wie islamisch sind die „Revolutionsgerichte“?, F.A.Z.
213
Bahai-Sekte und hob hervor, daß eine Beschränkung des islamischen Toleranzgebots
auf Christen, Juden und Zoroastrier, wie sie der Ende 1979 vorliegende Verfassungsentwurf der Islamischen Republik Iran vorsah, unzureichend war.454
Neben Sachkritik war in der untersuchten Presse auch eine starke Zunahme emotionaler Appelle in Text und Bild zu beobachten. Eine sprachliche Metaphorik
brachte vor allem den Gewaltaspekt immer wieder zum Tragen. Überschriften und
Textpassagen wie „Flammen der religiösen Massenhysterie“ (Die Welt),455 „Die
Fackel des Islams lodert überall“ (Hamburger Abendblatt),456 „Persien: Zeichen des
Teufels?“ (Der Spiegel),457 „Der Islam schickt sich an, die Welt zu erobern“
(stern)458, „Buschbrand der Re-Islamisierung“ (Die Zeit)459 oder „Der Prophet, vor
dem wir alle zittern“ (Quick)460 gingen in den regulären Sprachgebrauch von Presseorganen unterschiedlicher Couleur ein.461
Während die Verbindung von Islam und Gewalt in der untersuchten Berichterstattung im Vordergrund stand, gab es einzelne Beiträge, in denen ein Zusammenhang Iran/“Perser“-Gewalt präsent war, da hier die Iraner in ihrer Gesamtheit als
besonders gewalttätiges Volk eingestuft wurden. Am Tag nach der Rückkehr Khomeinis aus Frankreich bezeichnete Harald Vocke diesen nicht nur als „Mann Moskaus für Persien“, was seine These vom Zusammenhang zwischen Iranischer Revolution und Kommunismus stützen sollte. Er interpretierte auch aus einem eher alltäglichen Reiseerlebnis (mangelnde Beteiligung der Anwesenden an einem Herzanfall
eines iranischen Bauern) eine „fast ostasiatische Härte der Perser“: „In der kaltblütigen Raffiniertheit des Folterns und Mordens übertrafen die Perser in der modernen
Geschichte die übrigen mittelöstlichen Völker“.462
Nach Beginn der Geiselaffäre in der amerikanischen Botschaft in Teheran im
November 1979 trat zu der ausgeprägten Gewaltperspektive innerhalb der deutschen
454
455
456
457
458
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460
461
462
214
14.5.1979; D. Mummendey, „Mit bloßen Händen sich wehren und sterben“, Welt 22.8.1979; Der
Mann, der für Khomeini mordet, stern 8.9.1979.
Carl Friedrich von Weizsäcker, Islam und Toleranz, SZ 2.11.1979.
Heinz Barth, Allahs Großinquisitor, Welt 7.2.1979.
Die Fackel des Islams lodert überall, HAB 12.2.1979.
Persien: Zeichen des Teufels, Spiegel 19.2.1979.
Die Macht des Propheten, stern 15.3.79. Das Zitat bildet die Unterzeile des Titels.
Strothmann, Politik als Gottesdienst, a.a.O.
Der Prophet, vor dem wir alle zittern, Quick 29.3.1979.
Häufig war eine Kluft zwischen dem eigentlichen Text und redaktionellen Gestaltungselementen
(Dach-, Haupt- und Unterzeilen, Vorspann usw.) zu erkennen, wobei das Bestreben einer attraktiven
Gestaltung dazu führte, daß der Gewaltaspekt im redaktionellen Rahmen auch dann in den Vordergrund gerückt wurde, wenn der Text selbst um eine ausgewogenere Darstellung bemüht war. Beispielsweise stand in Günter Lerchs Beitrag „Blutrache im Namen Allahs“ (Zwischenüberschrift:
„Auspeitschen, steinigen, verstümmeln“) trotz der plakativen Redaktionsvorgaben eine differenzierte Behandlung der Unterschiede zwischen den Rechtsbestimmungen in Koran und Sharia-Recht
sowie zwischen liberalem und klassischem Rechtsverständnis im Vordergrund. Günter Lerch,
Blutrache im Namen Allahs, F.A.Z. 9.6.1979.
Harald Vocke, Persien denkt anders, F.A.Z. 2.2.1979. Einige Jahre zuvor hatte Vocke in einem
Buch die Behauptung aufgestellt, die Araber seien eher bereit zu Mordtaten als die Europäer, während die Perser/Iraner als den Europäern kulturell näherstehend betrachtet werden müßten (Kap.
3.2.2.1).
Presse eine verstärkte Wahrnehmung der Bedrohung der westlichen Industriestaaten
durch Iran, was, so der stern, der Iranischen Revolution „auch den letzten Rest an
Sympathie in der Welt“ kostete.463 Die Geiselaffäre wurde in der deutschen Presse
als Zeichen einer zunehmenden Ausbreitung der Revolution betrachtet, die in entsprechenden Veröffentlichungen großer deutscher Presseorgane nunmehr endgültig
in die Nähe von Fanatismus und Gewalttätigkeit gerückt wurde. Übergriffe auf amerikanische Einrichtungen in Pakistan oder der Türkei wurden vom Spiegel als islamischer „Steppenbrand in Nahost“464, Khomeinis taktisches Kalkül einer Remobilisierung des Feindbildes Amerika in Zeiten der erlahmenden Revolutionseuphorie als
„Wahnsinn“ bezeichnet.465 Das Bild Khomeinis verlor endgültig seine einstige Ambiguität, und aus dem „Schah-Bezwinger Chomeini“ (Spiegel-Titelgeschichte im
Februar) wurde der „Fanatiker Chomeini“ (Titel im November).466 Die Illustrierte
Quick sprach von einer Bedrohung des Weltfriedens durch einen „Islam im Aufruhr“,467 der stern von einer „Welt am Vorabend eines neuen Glaubenskrieges“ und
der „Fortsetzung des ewigen ‘Heiligen Krieges’ der Mohammedaner gegen die
Nichtgläubigen“.468 Den pragmatisch-politischen Hintergrund für solche Wahrnehmungen bildeten etwa die Angst vor einer Sperrung der Straße von Hormus, die
Gefahr eines Übergreifens der Iranischen Revolution auf Saudi-Arabien oder die
Golfstaaten, die als die letzten Verbündeten des Westens in der Region bezeichnet
wurden.469
Trotz der Hervorhebung des Gewaltaspekts des Islam im Zusammenhang mit der
gewachsenen Bedrohungsperzeption war während der Geiselaffäre vor allem im
Spiegel eine kritische Distanz zur amerikanischen Nahostpolitik und den USA insgesamt zu erkennen. Der Spiegel argumentierte in mehreren großen Beiträgen, daß es
sich bei dem Versuch der Befreiung der Geiseln nicht zuletzt um eine wahltaktische
Überlegung des Präsidenten Jimmy Carter handelte und daß die Art der innenpolitischen Reaktionen in den USA gegen Iran deutliche Züge eines krisenbedingten und
postvietnamesischen nationalen Konsenses trug, der weniger der Verhältnismäßigkeit der Mittel als einer überzogenen Feindbildausprägung entsprach.470 Der Widerspruch zur eigenen Berichterstattung über die Geiselaffäre wurde nicht erkannt.
Unternimmt man den Versuch einer Deutung des Medienbildes mit Hilfe wissenschaftlicher Literatur, so ist festzustellen, daß die Iranische Revolution nicht nur die
mediale, sondern auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem politischen
463
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466
467
468
Der Scharfmacher, stern 29.11.1979.
Islam: „Tod den amerikanischen Hunden“, Spiegel 26.11.1979.
„Chomeini ist vom Wahnsinn befallen“, Spiegel 19.11.1979.
Chaos im Iran/Fanatiker Chomeini, Spiegel 12.11.1979.
Der persische Wahnsinn, Quick 29.11.1979 (vgl. a. das Inhaltsverzeichnis der Ausgabe).
Die Stunde der heiligen Krieger, stern 13.12.1979; vgl. a. die Darstellung der Quick zum islamischen Widerstand in Afghanistan: Kein Friede den Menschen auf Erden ..., Quick 19.12.1979.
469 Islam: „Tod den amerikanischen Hunden“, a.a.O. Bereits im März 1979 hatte die Illustrierte Quick
darauf hingewiesen, daß der Wohlstand der Bundesrepublik Deutschland in Khomeinis Händen lag.
Der Prophet, vor dem wir alle zittern, a.a.O.
470 „Mit dem Teufel Carter reden wir nicht“, Spiegel 19.11.1979; USA: „Eine gewisse Reife“, Spiegel
24.12.1979.
215
Islam stimuliert hat.471 Journalistische und wissenschaftliche Hinwendung zum Thema „Islam“ erfolgten weitgehend parallel, mit Wechselwirkungen, aber auch mit
großen Unterschieden im Diskurs. Verschiedene wissenschaftliche Ansätze der Erklärung der Re-Islamisierung lassen sich erkennen:
•
•
•
•
ideologiekritischer Ansatz
soziokultureller Ansatz
historischer Ansatz
anthropologischer Ansatz.
Arbeiten, die dem ideologiekritischen Ansatz zuzurechnen sind, beschäftigen sich
mit dem Schrifttum des politischen Islam und mit den entwickelten politischen und
sozialen Vorstellungen, wobei insbesondere der Vergleich zur islamischen Tradition
(Koran, Sunna, Hadith; Rechtslehre/fiqh, Philosophie usw.) sowie der Vergleich mit
der westlichen Ideengeschichte von Bedeutung ist. Der Islamwissenschaftler Reinhard Schulze hat darauf hingewiesen, daß Moderne, Modernität und Modernisierung
keine „westlichen“ Konzepte sind, sondern Modernität vielmehr ein auch in der
islamischen Kultur bekannter Stil ist, ebenso wie Tradition und Traditionalismus.472
Modernität ist zum Leitbegriff einer Strömungslehre des islamischen Diskurses geworden: a) der Reformislam (bzw. „Modernismus“) Jamal al-Din al-Afghanis, Muhammad Abduhs oder Rashid Ridas und ihrer Nachfolger strebt nach einer Anpassung islamischer Normen an die Erfordernisse der wissenschaftlich-technischen
Moderne; b) der Fundamentalismus etwa der ägyptischen Muslimbrüder, Ajatollah
Khomeinis oder Abu l-Ala al-Maududis stellt die Distanzierung von der westlichen
Moderne in den Vordergrund, kehrt jedoch weder bei der Formulierung politischer
Grundsätze noch in den sozio-ökonomischen Leitvorstellungen – von besonders
radikalen Kleingruppen abgesehen – zu historischen islamischen Vorbildern zurück;473 c) der orthodoxe Traditionalismus,474 dem mehrheitlich zentrale Lehranstalten des Islam wie die Azhar-Universität in Kairo und die Mehrzahl der sunnitischen
Rechtsgelehrten zuzuordnen sind, hat sich seit Jahrhunderten mit der weltlichen
politischen Herrschaft arrangiert (de-facto-Laizismus475), beharrt jedoch auf der
Einheit von Religion und Gesellschaftsmoral und widersetzt sich in hohem Maß der
kritisch-rationalen Re-Interpretation (ijtihad) des islamischen Rechts.
Vor diesem Hintergrund wird deutlich, daß die untersuchte Berichterstattung der
deutschen Presse aus ideologiekritischer Perspektive zwei Hauptmängel aufwies:
471 Hanna Lücke, „Islamischer Fundamentalismus“ − Rückfall ins Mittelalter oder Wegbereiter der
Moderne? Die Stellungnahme der Forschung, Berlin 1993.
472 Reinhard Schulze, Is there an Islamic Modernity?, in: Kai Hafez (Hrsg.), The Islamic World and the
West. An Introduction to Political Cultures and International Relations, With a Foreword by Mohammed Arkoun and Udo Steinbach, Translated by Mary Ann Kenny, Leiden et al. 2000, S. 21-32.
473 Kai Hafez, Islam and the West: The Clash of Politicised Perceptions, in: Kai Hafez (Hrsg.), The
Islamic World and the West. An Introduction to Political Cultures and International Relations, With
a Foreword by Mohammed Arkoun and Udo Steinbach, Translated by Mary Ann Kenny, Leiden et
al. 2000, S. 3-18.
474 Zu unterscheiden vom Neo-Traditionalismus der Fundamentalisten.
475 Hafez, Islam and the West, S. 5.
216
• Der Reformislam fand nur sehr selten Erwähnung,476 und der Pressediskurs war
weitgehend identisch mit einem Fundamentalismusdiskurs. Ein Beispiel für Reformansätze in der Iranischen Revolution bestand in der Wirkung der Schriften
des 1977 verstorbenen Reformislamdenkers Ali Schariati.477 Schariatis Ideen einer Reform des Islam durch ein aufgeklärtes Verhältnis zur Tradition und des
Einsatzes religiöser Ideologie zur Durchsetzung sozialer und postkolonialer Ziele
waren in Iran 1979 gerade bei Intellektuellen so weit verbreitet,478 daß Khomeini
Schariatis Bücher verbrennen ließ und damit demonstrierte, daß sich sein radikales Islamkonzept allein machtpolitisch und mit den Mitteln der charismatischpopulistischen Mobilisierung durchsetzen ließ. Sonderfälle der Islamentwicklung
wie der „Khomeiniismus“, dessen zentrales politisches theokratisches Ordnungsmodell des vali-ye faqih (politische Richtlinienkompetenz des obersten islamischen Rechtsgelehrten) weder in der Geschichte Irans noch andernorts jemals Anwendung gefunden hatte (s.u.), wurden in der deutschen Presse unter
dem Oberbegriff des islamischen „Fundamentalismus“ zu einem allgemeinen
Modell eines autoritär-antimodernen Islam erhoben.
• Auch die inneren Widersprüche des Fundamentalismus in bezug auf Modernität
wurden aus dem Mediendiskurs ausgeblendet. Eine „islamische Ordnung“, wie
sie Islamisten fordern, strebt jedoch trotz ausgeprägt wertkonservativer Haltung
in nahezu allen Fällen ein Arrangement mit der wissenschaftlich-technischen und
industriellen Revolution an (von unbedeutenden Sektierergruppen abgesehen),
was Friedemann Büttner damit erklärt, daß „Modernisierung“ ein wertfreier Prozeß ist, der von den meisten Fundamentalisten begrüßt wird, während „Modernismus“ (oder auch „die Moderne“) als ideelles, philosophisches Phänomen zur
Wertebedrohung des islamisch-fundamentalistischen Monopolanspruchs wird.479
Was die Gesellschaftskonzepte des Fundamentalismus betrifft, so ist ebenfalls
kein durchgehender Antimodernismus zu erkennen, zumal Konzepte des „islamischen“ Staates uneinheitlich sind, einmal auf Monokratismus zielen, ein anderes
476 Vgl. Wolfgang Günter Lerch, Der Schah gibt dem Druck der Schiiten nach, F.A.Z. 29.8.1978;
Renaissance des Islams, F.A.Z. 9.9.1978.
477 Detlev Khalid, Antiparlamentarische und antidemokratische Positionen in der politischen Philosophie des Islam, in: Axel Buchholz/Martin Geiling (Hrsg.), Im Namen Allahs. Der Islam − eine Religion im Aufbruch?, Frankfurt 1979, S. 42 f.
478 Vgl. Mangol Bayat, Islam in Pahlavi and Post-Pahlavi Iran: A Cultural Revolution?, in: John L.
Esposito (Hrsg.), Islam and Development. Religion and sociopolitical Change, Syracuse 1980,
S. 102 f.
479 Friedemann Büttner, Islamischer Fundamentalismus: Politisierter Traditionalismus oder revolutionärer Messianismus?, in: Heiner Bielefeldt/Wilhelm Heitmeyer, Politisierte Religion. Ursachen und
Erscheinungsformen des modernen Fundamentalismus, Frankfurt 1998, S. 194-198; vgl. a. Bruce
B. Lawrence, Understanding Islamic Fundamentalism as a Revolt against Modernity, in: Sybille
Fritsch-Oppermann (Hrsg.), Fundamentalismus der Moderne? Christen und Muslime im Dialog,
Rehburg-Loccum 1996, S. 87-96. Bassam Tibi diskutiert diese Mehrfachorientierung vieler Fundamentalisten als Tendenz zur „halben Moderne“, die er für nicht lebensfähig hält, da eine Trennung des wissenschaftlich-technischen vom sozialen Fortschritt nicht möglich sei. Bassam Tibi, Der
islamische Fundamentalismus zwischen „halber Moderne“ und politischem Aktivismus, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 33/1993, S. 3-10.
217
Mal Pluralismus, Parlamentarismus und Gewaltenteilung nicht ausschließen und
damit moderne Bestandteile der Politik und sogar der Massendemokratie beinhalten (wobei allerdings die Definition des Staates als „islamisch“ eine gleichberechtigte Teilhabe der Nicht-Muslime an vorstaatlichen Menschenrechten in Frage stellt).480
Beide Facetten des politischen Islam – reformislamisch-modernistische wie pluralistisch-fundamentalistische – kamen im Jahr 1979 in Iran zum Tragen, ohne daß solche Entwicklungen in der deutschen Presse einen nennenswerten Niederschlag gefunden hätten. Khomeini besaß bis zum Herbst 1979 keine vollständige Kontrolle
über die Revolutionsentwicklung, die von unterschiedlichen ideologischen Strömungen sowie von mehreren islamistischen wie säkularistischen Machtzentren geprägt
wurde. Der Redakteur der Süddeutschen Zeitung, Rudolph Chimelli, anerkannte auf
einer wissenschaftlichen Tagung der Friedrich-Ebert-Stiftung im Juni 1979: „Von
einer ‘Diktatur der Mullahs’, in der ein eilfertiges Schlagwort Iran versinken sieht,
kann keine Rede sein; eher schon vom Gegenteil, von Anarchie.“481 Nahezu übereinstimmend wird das Jahr 1979 von vielen wissenschaftlichen Autoren und Zeitzeugen
als Zeit der politischen Öffnung beschrieben, in der unterschiedliche politische Kräfte, säkulare wie islamistische, um die Vorherrschaft im Land bemüht waren.482 Das
insbesondere in konservativen deutschen Zeitungen verbreitete Bild einer relativen
Liberalität der Shah-Zeit im Vergleich zur islamisch-monokratischen Revolutionszeit
ist mit Blick auf den vielfältigen politischen Diskurs des Jahres 1979 unhaltbar.483
480 Zur Diskussion der unterschiedlichen Auffassungen über die Herrschaftsausübung, die Auslegbarkeit des islamischen Konsultationsprinzips hinsichtlich der Frage der Gewaltenteilung und parlamentarischen Souveränität sowie die Idee der Parteienvielfalt vgl. u.a. John Hicks, Notions of Legitimacy in Islamic and Liberal-Democratic Thought, in: JSAMES 3 (1980) 4, S. 9-22; John Esposito,
Islam and Politics, Syracuse 1984, S. 220 ff.; ders./James P. Piscatori, Democratization and Islam,
in: MEJ 45 (1991) 3, S. 427-440; Olaf Farschid, Hizbiya: Die Neuorientierung der Muslimbruderschaft Ägyptens in den Jahren 1984 und 1989, in: Orient 30 (1989) 1, S. 53-73; Gudrun Krämer,
Visions of an Islamic Republic. Good Governance according to the Islamists, in: Kai Hafez (Hrsg.),
The Islamic World and the West. An Introduction to Political Cultures and International Relations,
With a Foreword by Mohammed Arkoun and Udo Steinbach, Translated by Mary Ann Kenny, Leiden u.a. 2000, S. 33-45. Trotz der umfangreichen Literatur hat auch die wissenschaftliche Literatur
Vereinfachungen nicht immer vermieden. Barry A. Colvin bemerkt beispielsweise über das Verhältnis westlichen politischen Denkens zur islamischen Denktradition: „Islam completely rejects
Western political thought because this modern philosophy rejects the souvereignty of God.“ Barry
A. Colvin, Islam and the Western Concept of Modernity, in: The Search 5 (1984) 1/2, S. 73.
481 Rudolph Chimelli, Gesellschaftspolitische Entwicklung im Iran seit der Revolution, in: Expertengespräch „Gesamtanalyse der Ursachen und möglichen Perspektiven der Entwicklung in Iran“, Bonn
21./22. Juni 1979, Hrsg. von der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 1979, S. 60.
482 Shaul Bakhash: „The revolution gave rise to a welter of political parties and movements ranging
across the political spectrum, from Islamic-fundamentalist to Islamic-radical, from liberal to conservative, from socialist to Marxist-Leninist and Maoist. The plethora of groups reflected the pent-up
political energies of many years of tight controls and the heady sense of freedom and experimentation released by the revolution.“ Shaul Bakhash, The Reign of the Ayatollahs. Iran and the Islamic
Revolution, New York 1984, S. 66.
483 Auch die in der Presseberichterstattung schon wenige Wochen nach dem Sturz des Shah häufig zu
findende Argumentation, Khomeini sei es nicht gelungen, der Ökonomie Irans ein neues Gesicht zu
geben, sondern habe statt dessen zu Versorgungsnöten geführt, war verfrüht. Zugrunde lag die An-
218
Plausibler ist Richard W. Cottams Einschätzung, wonach die Iranische Revolution
eine Stufe auf dem Weg Irans zur Massenpolitik darstellte.484
Diese Position läßt sich auch aus der soziokulturellen Perspektive der ReIslamisierungsforschung stützen. Die Revolution kann als ein Vorgang des Massenprotests gegen eine exklusive und elitäre Form der Modernisierung während der
Shah-Herrschaft interpretiert werden, nicht aber als Gegenbewegung gegen die Modernisierung, wie in der deutschen Presse geschehen. Träger der Iranischen Revolution waren vor allem Teile der Mittel- und unteren Mittelschicht, die an die Modernisierungsversuche der Vergangenheit keinen Anschluß gefunden hatten, und die
unter dem Vorzeichen einer islamischen Politik Modernisierungsgewinne auf eine
breitere soziale Basis stellen wollten. Die Iranexpertin Nikkie Keddie entdeckt in der
Geschichte von Staaten mit starken fundamentalistischen Bewegungen folgende
Gemeinsamkeiten: einen Bruch mit einer von islamischem Symbolismus getragenen
Vergangenheit infolge westlicher Intervention (wie im Fall des Sturzes der iranischen Regierung Mossadegh mit Hilfe der USA 1953) sowie eine rapide ökonomische Entwicklung und Urbanisierung, soziale Dislokationen und eine Verschärfung
des Gegensatzes zwischen arm und reich.485 In der Iranischen Revolution waren es
maßgeblich Mittelschichtsegmente wie die bazaris, die sich durch die Modernisierung der Shah-Herrschaft, die neue, technische Eliten begünstigte, vernachlässigt
fühlten, die mit Hilfe der charismatischen Persönlichkeit Khomeinis und dessen
Fähigkeit zur Mobilisierung der in islamischen Traditionen verhafteten Landbevölkerung erstmals Massen für ihre Ziele gewinnen konnten.486
Der politische Islam fungierte in der Iranischen Revolution als ideologische Artikulation der Forderung nach Modernisierungspartizipation: a) er diente der Legitimation politischer Herrschaft; b) er war eine eigenständige Ideologie in der Auseinandersetzung mit den Groß- und Supermächten, insbesondere der USA, deren Klient
Iran war; c) er war eine Widerstandsideologie im Nord-Süd-Konflikt; und d) der
politische Islam war eine Konsensideologie zwischen linken und rechten Gesell-
nahme der Unvereinbarkeit von Islamisierung und moderner Wirtschaftsentwicklung, die nicht in
Rechnung trug, daß sich ökonomischer Strukturwandel prinzipiell langfristig vollzieht und daß
Khomeini im Jahr 1979 überwiegend versuchen mußte, die Liquidität Irans wegen des massiven
Abflusses von Kapital zu sichern. Hinzu kam, daß große Industrien wegen spontaner Besetzungen
im Zuge der Revolution in vielen Fällen vor dem Bankrott standen, da viele Arbeiter die Revolution
für die Durchsetzung ökonomischer Demokratisierungsbestrebungen zu nutzen versuchten. Ähnliches vollzog sich auf dem Agrarsektor, wo auf Betreiben landloser Bauern Landenteignungen vonstatten gingen. Die doktrinäre Auseinandersetzung in der Wirtschaftspolitik begann erst in den folgenden Jahren, obwohl sich bei Khomeini tatsächlich eine durchgehende Polemik gegen die privilegierten Gruppen aus der Perspektive der islamischen Gerechtigkeitsnorm nachweisen läßt. Dennoch
war die Wirtschaftspolitik der frühen Zeit der Islamischen Republik weniger von spezifisch islamischen als von regulären Revolutionserscheinungen geprägt. Vgl. ebenda, S. 177, 197, 206 ff.
484 Richard W. Cottam, The Iranian Revolution, in: Juan R.I. Cole/Nikkie R. Keddie (Hrsg.), Shi’ism
and Social Protest, New Haven/London 1986, S. 61, 76.
485 Nikkie Keddie, Ideology, Society, and the State in Post-Colonial Muslim Societies, in: Fred Halliday/Hamza Alavi (ed.), State and Ideology in the Middle East and Pakistan, New York 1988, S. 17.
486 Vgl. Misagh Parsa, Social Origins of the Iranian Revolution, New Brunswick/London 1989.
219
schaftskräften zur revolutionären Mobilisierung.487 Vor diesem Hintergrund wird
deutlich, warum Edmund Burke die Frage stellt, ob es sich beim organisierten Fundamentalismus wirklich um islamische politische Bewegungen handelt oder vielmehr
um soziale Bewegungen in islamischen Gesellschaften.488 Die Annahme scheint
berechtigt, daß Religion und Ideologie des Islam keine selbstreferentiellen Phänomene darstellen, sondern sich in Wechselwirkung mit sozialen Prozessen entfalten.
Dennoch gehört es zu den wesentlichen Ergebnissen der Dekonstruktion des
Pressebildes, daß hierbei in vielen Fällen nicht allein die islamische Ideengeschichte
auf den radikalen Fundamentalismus reduziert wurde, sondern verschiedene der
wichtigsten soziokulturellen Erklärungsmuster für die „Islamische Revolution“, die
in der Wissenschaft zum Standardrepertoire gehören, kaum vermittelt wurden. Statt
dessen dominierte ein ideozentrisch-kulturalistischer, auf das Symbolsystem „Islam“
konzentrierter Ansatz. Die „Wiederkehr des Islam“ oder ähnliche häufig verwendete
Begrifflichkeiten brachten zum Ausdruck, daß die Ursachen für die Revolution in
der historischen Eigenbewegung, Beharrungs- und Durchsetzungskraft religiöser
Normen gesucht wurden, weniger jedoch in sozialen Bedingungen, die auch in anderen Weltrevolutionen vorhanden waren, die in Iran jedoch eine Verbindung mit islamischem politischem Denken eingegangen waren. In der deutschen Presse erfolgte,
um mit Clifford Geertz zu sprechen, eine Konzentration auf das Symptom statt auf
die Ursachen der Re-Islamisierung.489 In zahlreichen journalistischen Beiträgen
waren dabei Widerklänge skriptualer Traditionen der klassischen Orientalistik zu
erkennen, etwa wenn von der Annahme der Untrennbarkeit von Religion und Politik
im Islam ausgegangen wurde490 – ein Postulat, das durch eine dogmengeschichtliche
Fixierung der europäischen Wissenschaft entstanden war.491
Im Koran ist tatsächlich die umma als die durch das göttliche Gesetz zusammengehaltene Gemeinschaft der Gläubigen als Grundordnung der Gesellschaft verankert.
Historisch jedoch war es seit den Nachfolgern des Propheten Mohammed zu einer
institutionellen Trennung von islamischer Rechtsauslegung und politischer Herr487 Cheryl Benard/Zalmay Khalilzad, „The Government of God“: Iran’s Islamic Republic, New York
1984, S. 24, 34 ff.
488 Edmund Burke III, Islam and Social Movements: Methodological Reflections, in: ders./Ira Lapidus
(Hrsg.), Islam, Politics, and Social Movements, London 1988, S. 18.
489 Geertz schreibt über das Konzept der „Wiederkehr des Islam“: „[It] tends to divert attention from its
referent to itself. The question becomes whether there really is such a thing out there in ‘Islamdom’
demanding special explanation or whether there is not (...).“ Clifford Geertz, Conjuring with Islam,
in: New Review of Books, 27. Mai 1982, S. 25; vgl. a. Eric Davis, The Concept of Revival and the
Study of Islam and Politics, in: Barbara Freyer Stowasser (Hrsg.), The Islamic Impulse, Washington,
D.C. 1987, S. 37-58.
490 Wolfgang Günter Lerch: „Es gehört zu den Binsenweisheiten der Islamforschung, daß der Islam
zwischen Geistlichem und Weltlichem nicht unterscheidet. Im allgemeinen wird das in die Formel
gekleidet, der Islam sei ‘din wa daula’ − Religion und Staat. Auch wenn diese Formulierung so
nicht im Koran vorkommt, so hat sie sich doch im Bewußtsein der Muslime festgesetzt; ihre Staatsdenker, die immer auch Theologen waren, verwendeten sie. Das für die Neuzeit typische Auseinanderklaffen von geistlichen und weltlichen Dingen ist der islamischen Zivilisation unbekannt.“
Wolfgang Günter Lerch, Die totalitäre Gesellschaft der Religiösen, F.A.Z. 7.8.1982.
491 Nazih Ayubi, Political Islam. Religion and Politics in the Arab World, London/New York 1991,
S. 3.
220
schaft gekommen – eine politische Ordnung wie die Khomeinis war daher in der
iranischen Geschichte völlig neuartig und basierte auf keinem historischen Vorbild,
wie Khomeini selbst meinte.492 Aus der Sicht des historischen Ansatzes der ReIslamisierungsforschung war die Tendenz der Medien, die theokratische Herrschaft
Khomeinis als „klassisch“ islamisch darzustellen ebenso ahistorisch493 wie ein anderer Punkt: die Hervorhebung des Gewaltaspekts der Iranischen Revolution. Tatsächlich war die Zahl der Toten in den Revolutionsjahren 1978/79, vor allem die Opfer
der Revolutionsjustiz, im Vergleich zu anderen Revolutionen (einschließlich der
Französischen von 1789) relativ gering. Während an einem einzigen Tag des letzten
Herrschaftsjahres des Shahs 1978 mehrere tausend Menschen von Regierungskräften
getötet wurden, ohne daß die deutsche Presse dies ähnlich vehement zur Kenntnis
genommen hätte, lag die Zahl der Justiztoten im Jahr 1979 bei etwa 265.494 Die deutsche Presse führte ein überzogenes Gewaltmotiv in die deutsche Öffentlichkeit ein
und erzeugte durch die Kopplung des Gewaltaspekts mit dem Islam („Flammen
religiöser Massenhysterie“ usw.) das Bild inhärenter islamischer Gewaltbereitschaft.
Zwar ist zutreffend, daß kriegerische oder kriegsähnliche Gewalt in der islamischen
Welt seit dem Zweiten Weltkrieg im Vergleich mit anderen Weltregionen stark aus492 In der Theorie islamischer Lehre regelt daher auch die Sharia, das aus Koran und Sunna (Überlieferung Mohammeds) durch einfache Übernahme, Analogieschluß oder rationale Schlußfolgerung extrahierte Gesetz, das individuelle wie das gemeinschaftliche Leben, und es ist die Verpflichtung des
Herrschers, für die größtmögliche Annäherung der Praxis an die Sharia Sorge zu tragen. Hier wird
gleichwohl erkennbar, daß weltliche und geistliche Macht institutionell keine Einheit darstellen.
Din wa-daula entspringt keinem koranischen Prinzip, was historisch seit den Nachfolgern Mohammeds dazu geführt hat, daß die Politikgestaltung faktisch weltlichen Kräften und Dynastien überlassen war, die von den ulama weder ernannt noch entmachtet, sondern allein beraten werden konnten.
Lerch übersah jedoch, daß in diesem Modell die Konsultation der Gelehrten zum Zwecke der Herrschaftslegitimation, nicht jedoch die Ausübung der Herrschaft durch eine einheitliche Macht des
din wa-daula für den Orient (wie für das europäische Mittelalter) charakteristisch war. Vgl. Daniel
Crecelius, The Course of Secularization in Modern Egypt, in: John L. Esposito (Hrsg.), Islam and
Development. Religion and Sociopolitical Change, Syracuse 1980, S. 50 f.; Andreas Meier, Der politische Auftrag des Islam. Programme und Kritik zwischen Fundamentalismus und Reformen: Originalstimmen aus der islamischen Welt, Wuppertal 1994, S. 28.
493 Das Herrschaftskonzept Ajatollah Khomeinis stand nicht, wie er vorgab und wie weite Teile der
westlichen Presse annahmen, in Übereinstimmung mit dem mainstream der schiitischen Tradition
und war schon aus dieser Sicht kein „Rückfall ins Mittelalter“. Die politische Führungsbefugnis
oder Richtlinienkompetenz des Rechtsgelehrten (vali-ye faqih) war vielmehr eine Neuinterpretation
des schiitischen Staatsrechts und eine Reaktion auf das zunehmende Eindringen westlichen Ideengutes in den iranischen Diskurs (Yvonne Haddad, Muslim Revivalist Thought in the Arab World:
an Overview, in: The Muslim World 76/1986, S. 143-167; Karl-Heinrich Göbel, Moderne schiitische Politik und Staatsidee, Opladen 1984, S. 206-219). Khomeinis Herrschaftskonzept wurde zu
Beginn der Revolution auch im islamischen Lager nur zum Teil begrüßt, da a) die theokratische
Herrschaft nach dem Modell der Iranischen Revolution ohne Parallele in der iranischen Geschichte
war: der imamate Schiismus war ähnlich dem Sunnismus immer Teil des Staates gewesen und nicht
umgekehrt (G.H. Jansen, Islamischer Widerstand, Deutsch von Gesine Puchelt-Froese, Köln 1984
(engl. Orig. 1979), S. 142 ff.), und da b) der messianische Gedanke der schiitischen Herrschaftslehre auch andere Formen der Interimsherrschaft als die des vali-ye faqih denkbar machte; das Konzept
wurde während der Iranischen Revolution etwa von Ajatollah Schariat-Madari als zu theokratisch
kritisiert. Göbel, Moderne schiitische Politik, S. 206.
494 Von Nussbaum, Der Augenzeuge, S. 21.
221
geprägt sind, doch ist nur eine geringe Zahl der Todesopfer auf fundamentalistischen
Terrorismus zurückzuführen, die Hauptursachen sind hingegen in undemokratischen
Machtverhältnissen zu suchen.495 Während der Iranischen Revolution von 1979
wurde nur ein Teil der revolutionären Gewalt von der schiitischen Geistlichkeit ausgeübt, insbesondere vom Ajatollah Khalkali, dem obersten Strafrichter Irans. In
vielen Fällen waren gleichwohl lokale Revolutionskomitees für Gewaltakte verantwortlich,496 und es gab Geistliche wie Ajatollah Schariat Madari und Ajatollah Hasan Qomi-Tabataba’i, die gegen die Revolutionsgerichte protestierten.497 Im historischen Vergleich ähnelt das Medienbild Khomeinis als gewaltbereitem Fanatiker dem
Bild des florentinischen Mönchs und Usurpators Savonarola, der in der heutigen
Literatur überwiegend als „Beter“, Mystiker, Prophet, Reformator usw. dargestellt
wird, nur selten jedoch als Politiker und „Vertreter bürgerlicher, mittelständischer
Interessen“, obwohl Savonarolas „Diktatur Gottes“ einen deutlich rationalen und
machtpolitischen Zug besaß.498 Schließlich lenkte auch die in der deutschen Presse
verbreitete Angst vor einer Expansion der islamischen Revolution Irans („Der Islam
schickt sich an, die Welt zu erobern“ usw.) vom überwiegend rational-machtpolitischen Charakter der iranischen Außenpolitik ab – Iran war und ist zwar tatsächlich ein revolutionär legitimierter Staat, hat den Export der Revolution jedoch ungeachtet der aggressiven antiamerikanischen und antiwestlichen Rhetorik ganz überwiegend mit friedlichen Mitteln voranzutreiben versucht.499
Wenn in der Presse einerseits eine Tendenz erkennbar wurde, politische und soziale Phänomene mit der Religion zu erklären, so wurde andererseits auch die Neigung sichtbar, religiösen Vorgängen eine politische Bedeutung zuzuweisen. Der
anthropologische Ansatz der Re-Islamisierungsforschung verdeutlicht hingegen, daß
die Re-Islamisierung nicht mit dem politischen Islam (Islamismus/Fundamentalismus) gleichgesetzt werden kann. Die quantitative Inhaltsanalyse (Kap. 5.1.3; Abb.
5.5; Tab. A 5.9) hat gezeigt, daß deutsche Pressemedien jahrzehntelang nur sehr
geringes Interesse am Islam als Religion besessen hatten, daß der politische Islam
jedoch der Beachtung des Islam zum Durchbruch verhalf, was während der Iranischen Revolution dazu führte, daß der Islam in vielen Artikeln allgemein als ein
politisches Phänomen betrachtet wurde, etwa wenn die Teheraner FlagellantenProzessionen als politische Kundgebung gedeutet wurden (s.u.). Der politische Islamismus ist jedoch ein Minderheitenphänomen, das sich von einer größeren Bewe495
496
497
498
Scheffler, West-östliche Angstkulturen.
Bakhash, The Reign, S. 56-59.
Ebenda, S. 60 ff.
Ernst Piper, Savonarola. Umtriebe eines Politikers und Puritaners im Florenz der Medici, Berlin
1983 (2. durchges. Aufl.), S. 99.
499 Shireen T. Hunter argumentiert in diesem Zusammenhang: „It would be equally erroneous to view
the conduct of all Iranian foreign policy as the fanatical pursuit of a millenarian dream or a quest to
establish a so-called Islamic world-order (...). It would be more appropriate to analyze Irans behavior during the last decade as that of a revolutionary state at different stages of internal consolidation
and adaptation to its external setting.“ Shireen T. Hunter, Iran and the World. Continuity in a Revolutionary Decade, Bloomington/Indianapolis 1990, S. 4. Siehe mit ähnlichem Tenor: Zachary Karabell, Fundamental Misconceptions: Islamic Foreign Policy, in: Foreign Policy 105/1996-97, S. 84.
222
gung zur Volksgläubigkeit und zum sozialen Neokonservativismus nährt. Diese
breite Bewegung ist seit den siebziger Jahren in einer Zunahme von Moscheebauten
und -besuchen, in ostentativer Frömmigkeit (z.B. Gebetsketten, Gebetsmal auf der
Stirn), in religiöser Symbolik wie koranischen Kalligraphien, im Tragen traditioneller Kleidung (Kopftücher usw.), in der stärkeren Hinwendung zu Sufismus und ekstatisch-therapeutischem sikr sowie in wachsender Helden- und Heiligenverehrung
zum Ausdruck gekommen.500 Folgt man Khalid Duran, so basiert die seit 1978/79
verstärkte Re-Islamisierung vor allem auf einer „von fast allen Schichten getragene(n) stärkere(n) Betonung des islamischen Kulturerbes“.501 Der Rückgriff auf die
eigene Tradition wird ähnlich der afrikanischen négritude als „nativistisch“ bezeichnet, um sie von „Traditionalismus“ und Orthodoxie abzugrenzen. Der Nativismus
besitzt Gemeinsamkeiten mit dem Traditionalismus, ist jedoch nicht identisch mit
einer Haltung, die im dogmatisch-rechtsgeleiteten (ortho-) Verhalten (-dox), und
damit im Rekurs auf das Sharia-Recht, die wesentliche Ausdrucksform der Muslime
sieht. Von der Anthropologie ist starke Kritik an den „sensationalistischen Portraits“502 des Islam in westlichen Medien als Folge der Verwechslung von Re-Islamisierung und Fundamentalismus/Islamismus geübt worden.
Aus der Perspektive der breiten Bewegung des Nativismus wird der organisierte
Islamismus häufig als „Fremdkörper, bestenfalls als ein Nebenprodukt“ (Khalid)503
betrachtet, zumal die Ideen einer islamischen Gesellschafts- und Staatsordnung für
die Masse der Muslime etwas Neues darstellen, dessen Radikalität (durch den Zwang
zur Politisierung) sogar zur Bedrohung hergebrachter Volksgläubigkeit werden kann.
Zwar können Nativismus und Islamismus in den Zielsetzungen des einzelnen Muslims konvergieren, doch stellen weder die Durchsetzung einer bestimmten islamischen Ordnung noch die Reaktualisierung des Sharia-Rechts ein einheitliches Ziel
des Nativismus dar. Zwischen nativistischer Mehrheit und islamistischer Minderheit
kann es neben Übereinstimmungen auch zu Spannungszuständen kommen. Je problematischer sich die Versuche gebärden, einen Konzepte des „islamischen Staates“
politisch zu realisieren, um so größer kann auch der Widerstand der Muslime gegen
die Islamisten werden, ohne daß dies zwangsläufig zu einer völligen Revision der
„Re-Islamisierung“ (in ihrer nativistischen Form) führen müßte.
500 Vgl. Reinhard Schulze, Islam als politischer Faktor. Politischer Islam im 20. Jahrhundert, in:
Entwicklungspolitische Korrespondenz 5/6 (1987), S. 7-11; Lücke, „Islamischer Fundamentalismus“, S. 119 ff.
501 Khalid Duran, Islam und politischer Extremismus. Einführung und Dokumentation, Hamburg 1985,
S. 12.
502 Michael Gilsenan, Recognizing Islam. Religion and Society in the Modern Middle East, London/New York 1990 (Orig. 1984). Das Zitat entstammt dem Klappentext der Taschenbuchausgabe.
503 D. Khalid, Re-Islamisierung und Entwicklungspolitik, Köln 1982, S. 21 f. vgl. a. Mohammed
Arkouns Kritik an der „Monopolisierung“ des Islamdiskurses durch den Islamismus. Mohammed
Arkoun, Rethinking Islam today, Washington, D.C. 1987, S. 1.
223
6.3.2 Dekonstruktion II: Soziopsychologische Grundlagen des
Islambildes in der Berichterstattung über die Iranische Revolution
Stereotype, Feindbilder und andere Bildtypen sind basale Einheiten der Wahrnehmung anderer Nationen, Völker, Kulturen und Religionen und damit ein Bestandteil
der medialen Auslandsberichterstattung (Kap. 3.1.1). Im folgenden sollen einige
soziopsychologische Konstruktionsprinzipien des Islambildes deutscher Pressemedien im Zusammenhang mit der Iranischen Revolution von 1978/79 aufgezeigt werden.
Dabei ist es wichtig, sich den theoretischen Stellenwert der Soziopsychologie innerhalb der Theorie der Auslandsberichterstattung erneut zu vergegenwärtigen: das
medial vermittelte Auslandsbild ist nicht identisch mit Religions- und Kulturstereotypen, sondern letztere umfassen lediglich einen Teilbereich dieses Bildes (Kap.
3.1.2). Die nachstehende Analyse beansprucht nicht, die gesamte Berichterstattung
über die Iranische Revolution zu erfassen, zumal diejenigen Artikel oder Artikelteile,
in denen nicht Bezug auf „Islam“ genommen wurde, nicht in die Stichprobe der
Inhaltsanalyse eingeschlossen worden sind. Die Erörterung beschränkt sich auf mit
soziopsychologischen Theoremen erfaßbare Komponenten innerhalb des Islambildes
der Iranischen Revolution, da diese ein wesentliches Referenzsystem zur Erklärung
politischer, sozialer und kultureller Vorgänge in Iran und der islamischen Welt insgesamt darstellten. Die vor- und nachstehenden Falluntersuchungen (Kap. 6.1, 6.2,
6.4, 6.5) beleuchten Vermittlungsprozesse der Auslandsnachrichten in anderen Theoriesegmenten.
6.3.2.1 Worst-Case-Annahmen, Spiegelbild-Denken, Antipoden-Denken und
andere soziopsychologische Prozesse der Konstruktion des Islambildes
Die Ergebnisse der Dekonstruktion I (Vergleich Medienbild-Islamwissenschaft)
können im soziopsychologischen Strang der Theorie der Auslandsberichterstattung
einer Reihe von Wahrnehmungsmechanismen im Bereich der Bild-RealitätsProblematik (Bild), der Bild-Struktur-Problematik (Stereotyp), der Verbindung aus
negativer Affektladung und konativer Bildprägung (Feindbild), der Realitätsadäquanz von Feindbildern, dem Spiegelbild-Denken (Auto-/Heterostereotype) usw.
(Kap. 3.1.1) zugeordnet werden. Aufschlußreich ist insbesondere ein Vergleich mit
den 28 Punkten der Psycho-Logik der sowjetischen-amerikanischen Feindwahrnehmung nach Daniel Frei.504 Verschiedene Aspekte kommen analog auch im Islambild
zum Tragen, andere hingegen weisen auf Strukturunterschiede der Bildkonstruktionen. Vorstellungen von einer Aufwertung des „Feindbildes Islam“ im Zuge der Desaktualisierung des „Feindbildes Kommunismus“ nach dem Ende des Ost-WestKonflikts (Kap. 4.1.3) basieren zwar auf der bewiesenen Tatsache, daß die in der
Presse stark gewachsene Beachtung des Themas Islam (Kap. 5.1.3, Abb. 5.5) mit
504 Vgl. Kap. 3.1.1, Fußnote 65.
224
einer außergewöhnlich starken Verknüpfung des Themas mit (gewaltgeprägten)
Negativereignissen einhergegangen ist (Kap. 5.2.1.2, Abb. 5.12). Eine vollständige
Übertragung der Ergebnisse der älteren Feindbildforschung des Ost-West-Konflikts
auf den Islam ist dennoch nicht möglich, da das Islambild einige soziopsychologische Spezifika aufweist. Zum Vergleich bieten sich daher neben Wahrnehmungsmodellen des Kalten Krieges auch andere Religions- und Nationenbilder – etwa das Bild
der Juden505 – an.
In einem ersten Schritt läßt sich die Islamwahrnehmung der Medien durch folgende Annahmen charakterisieren:
1)
2)
Annahme der Einheit von Politik und Religion: Das von islamistischen Bewegungen geprägte Islambild der Presse beschrieb häufig ein Minderheitenphänomen, das den Charakter der „Re-Islamisierung“ als einer mehrheitlich nativistischen und religiös-kulturellen Rückbesinnung außer acht ließ (anthropologischer Ansatz). Dabei wurde der Islam mehr als Politik denn als Religion betrachtet. Der denkbare Einwand, dies sei die Folge der Konzentration der Untersuchung auf das politische Ereignis der Iranischen Revolution, während andere Untersuchungsperioden ein stärker religionsgeprägtes Bild ergeben würden, ist nicht relevant: a) Die quantitative Inhaltsanalyse hat gezeigt, daß im
Zuge der Iranischen Revolution die Islamberichterstattung der Presse um ein
Vielfaches zunahm (Kap. 5.1.3, Abb. 5.5). Das Bild des politischen Islam dominierte daher in quantitativer Hinsicht spätestens seit 1978/79 generell das der
nicht-politischen Aspekte des Islam, an denen im Zuge der politikzentrierten
Medienberichterstattung wenig Interesse bestanden hat (Kap. 5.2.2.1). b) Das
Problem der weitaus größeren Zahl der Berichte über den politischen Islam ist
nicht nur ein quantitatives, sondern ein qualitatives insofern, als zumindest in
Zeiten einer starken islamisch-fundamentalistischen Bewegung eine Politisierung des Gesamtbildes des Islam erfolgt, wobei auch zunehmend religiöskultische Phänomene als politische Ausdrucksformen interpretiert werden. Beispiele wie die Abbildung der Kaaba und der Pilger in Mekka oder Bilder von
Geißelprozessionen in Teheran (s.u.) verdeutlichen dies ebenso wie die in vielen Beiträgen erkennbare mangelnde sprachliche Unterscheidung zwischen Islam, „Re-Islamisierung“, Fundamentalismus usw. Die Annahme der Einheit von
Politik und Religion im Islam kommt also nicht allein in einer prioritären Beachtung des politischen Islam, sondern auch in einer sekundären Eindeutung religiöser Phänomene in den Einzugsbereich politischer Ideologien und Bewegungen zum Tragen.
Annahme der Einheit von Norm und Realität: Wenn Annahme 1 bedeutet, daß
„das Religiöse politisch gedeutet“ wird, so ist zur gleichen Zeit zu beobachten,
daß „das Politische religiös gedeutet wird“, so daß beide Sphären zu einer einheitlichen Bildebene verschmelzen. Im Rahmen des soziokulturellen Ansatzes
wurde aufgezeigt, daß der Iranischen Revolution soziale Konstellationen
zugrunde lagen, die in wesentlichen Teilen vergleichbar waren mit anderen
505 Hafez, Antisemitismus, Philosemitismus und Islamfeindlichkeit.
225
3)
4)
Weltrevolutionen. Zwar war der Aspekt der religiös fundierten Legitimität ein
Spezifikum, was jedoch nicht bedeutet, daß sämtliche Revolutionsphänomene
aus der Perspektive normativ-religiösen Denkens und unter Bezug auf den islamischen Diskurs zu verstehen waren. Zusammenhänge zwischen Islam, Moderne, Demokratie, Gewalt und anderen Gesellschaftsphänomenen wurden in der
Presse nur selten im Rahmen einer soziokulturellen Perspektive als Ideologiekritik eingesetzt, sondern das Islambild tendierte zu einer Gleichsetzung von
Ideologie- und Gesellschaftskritik. Die geokulturelle und -politische Distanz
zum Objekt der Wahrnehmung (Kap. 3.1.1) förderte eine kulturalistische Deutung, die die vielfachen Brüche zwischen religiös-politischer Norm und sozialer
Realität (z.B. das Nebeneinander säkularer und religiöser Bewegungen in der
Revolution) überdeckte.
Annahme der Einheit von politischem Islam und radikalem Fundamentalismus:
Auf der Ebene der Normen – im Bereich des politischen islamischen Denkens –
bestand die Tendenz, islamisches politisches Denken mit radikalfundamentalistischen Zielsetzungen wie denen Khomeinis gleichzusetzen (vgl.
ideologiekritischer Ansatz). Der politische Islam wurde damit als GegenIdeologie zur Politik der Moderne, d.h. zu Demokratie, Menschenrechten,
Emanzipation und wissenschaftlich-technischem Fortschritt verstanden. Ähnlich
wie „Sozialismus“, „Kommunismus“ und „Kapitalismus“ im Rahmen der
Feindbilder des Ost-West-Konflikts wurde im Kontext der Iranischen Revolution von der untersuchten Presse das Vorhandensein fortschrittlichen Ideengutes
im islamischen Diskurs und dessen Entwicklungsfähigkeit verneint.506 Das Islambild war damit in bezug auf den Islam ein ähnlich geschlossenes Weltbild
wie das vieler islamischer Fundamentalisten, die den Westen als amoralisch, islamfeindlich usw. charakterisierten, ohne die Heterogenität „des Westens“ anzuerkennen.507
Annahme der Einheit von Islam und politischem (fundamentalistischem) Extremismus: Die in nahezu allen Weltrevolutionen typischen Formen der Gewalt
– Schnelljustiz, politische Morde usw. – wurden in der deutschen Presse mit der
Islamthematik gekoppelt. Bemerkenswert war nicht die Berichterstattung über
Gewaltereignisse an sich, sondern die Lokalisierung der Ursachen der Gewalt in
religiösen Motiven („Fackel des Islam“ usw.) – obwohl auch säkulare Gruppierungen beispielsweise für die Besetzung der amerikanischen Botschaft gestimmt
hatten. Was die Realitätsadäquanz (Kap. 3.1.1) des Gewaltbildes des Islam betrifft, so ist nach dem Vergleich mit dem Forschungsstand (Dekonstruktion I)
ein differenziertes Urteil erforderlich. In bezug auf den Khomeiniismus als Gewaltideologie war das Bild mit Einschränkungen adäquat. Khomeinis Herrschaft basierte im Inneren Irans auf einem religiös begründeten, nicht demokratisch kontrollierten Gewaltmonopolanspruch; im Äußeren war Expansion als
506 Vgl. Freis Kategorie „Betonung des Dauernden − Vernachlässigung des Wandels“. Frei, Feindbilder
und Abrüstung, S. 112 f.
507 Lueg, Das Feindbild Islam, S. 21 f.
226
5)
6)
Defensivfall eines „Angriffes auf den Islam“ denkbar, was gegen das Völkerrecht verstieß, das keine Religionen, sondern lediglich Staaten als souveräne
Subjekte anerkannt. Die kollektivierende Ausweitung der Gewaltannahme auf
den (politischen) Islam in seiner Gesamtheit, einschließlich modernistischer, orthodoxer usw. Kräfte, war weitgehend inadäquat, weil statt der jeweils gewaltbereiten Kräfte die (politische) Kultur als solche als besonders gewaltträchtig
galt, was sich durch internationale Vergleichsuntersuchungen über Konfliktursachen nicht bestätigen läßt (Kap. 6.3.1: historischer Ansatz).
Annahme der Irrationalität des Gegenüber: Ein markanter Unterschied zur
Wahrnehmung im Ost-West-Konflikt bestand in der Annahme, das Handeln
Khomeinis, seiner Anhänger und der iranischen „Massen“ sei irrational und fanatisch. Während die Protagonisten des Ost-West-Konflikts beim jeweiligen
Gegenüber zwar einen Primat der Ideologie vor realpolitischen Politikerwägungen (z.B. Sicherheitswahrnehmungen) konzedierten (Punkt 6), galt dieser ideologische Faktor gleichwohl als ein berechenbares und klar definiertes Programm
(Weltherrschaft des Kommunismus usw.). Begriffe wie „Fanatiker“, „Wahnsinn“ oder „Massenhysterie“, wie sie für das Islambild der Iranischen Revolution charakteristisch waren, wurden etwa auf sowjetische Verhältnisse nicht angewandt, da hier vielmehr die Vorstellung der zentralen Steuerung, der Planhaftigkeit, des Dirigismus und des Mangels an politischer Spontaneität des Realsozialismus vorherrschte. Die Rationalität des politischen Islam hingegen wurde
negiert.
Annahme der eigenen Bedrohtheit: Ungeachtet dieser unterschiedlichen Charakterisierungen des Wahrnehmungsobjekts in bezug auf die Rationalität/Irrationalität der politischen Basis bestand eine Gemeinsamkeit darin, daß in beiden
Fällen eine aggressive, also nicht durch eigenes Mitverschulden (des Westens)
mitverursachte Bedrohung für den Westen angenommen wurde. Die Einschätzung dieser Wahrnehmung muß die Realitätsadäquanz der beiden zentralen
Konzepte des Feindbildes, der feindlichen Handlungsabsicht und des gegnerischen Handlungspotentials, berücksichtigen. Was die Handlungsabsichten angeht, so ist zu erkennen, daß ähnlich wie im Fall der Sowjetunion und der sozialistischen Staaten, die während des Kalten Krieges (maßgeblich ausgelöst durch
George Kennans „Mr. X“-Telegramm) als ideologisch im Kommunismus fundierte Staaten mit expansiven Interessen betrachtet worden waren, im Fall Irans
selbstempfundene Sicherheitsinteressen dieses Staates weithin negiert wurden.508 Ähnlich wie die ehemalige Sowjetunion jedoch war und ist Iran zwar ein
revolutionärer Staat mit dem Anspruch einer regionalen Führungsrolle, seine
Außenpolitik basiert jedoch auf realpolitischen Erwägungen ähnlich denen anderer Staaten.509 Was das Handlungspotential angeht, also die Frage, ob der als
508 MccGwire, The Genesis.
509 Andreas Rieck, Iran: Towards an End of Anti-Western Isolationism?, in: Kai Hafez (Hrsg.), The
Islamic World and the West. An Introduction to Political Cultures and International Relations, With
a Foreword by Mohammed Arkoun and Udo Steinbach, Translated by Mary Ann Kenny, Leiden
u.a. 2000, S. 127-145. Selbst Unterstützungsleistungen für ausländische Gruppen wie für die Hiz-
227
7)
8)
ideologisch ausgerichtet empfundene „Feind“ auch wirklich ein „Gegner“ war,
suggerierte die in der Presse verbreitete Annahme eines globalen Expansionsinteresses Khomeinis oder gar „des Islam“ („Der Islam schickt sich an, die Welt
zu erobern“, „Der Prophet, vor dem wir alle zittern“, „Welt am Vorabend eines
neuen Glaubenskrieges“ usw.) eine real kaum zu begründende Vorstellung der
Bedrohtheit Europas und der USA durch Iran. Selbst wenn man annehmen wollte, eine regionale Expansion Irans (am Persischen Golf) habe im Jahr 1979 im
Bereich des Vorstellbaren gelegen – die Annahme der eigenen Bedrohtheit des
Westens jedoch, die bereits im Frühjahr 1979, also lange vor der Geiselaffäre,
in der deutschen Presse existierte, war eine Projektion, die möglicherweise auf
historischen Vorbildern der Expansion des Propheten Mohammeds und dem
Glauben an die prinzipielle Aggressivität „islamischer Außenpolitik“ („Heiliger
Krieg“) basierte, aus dem Kontext der Iranischen Revolution jedoch nicht erklärt werden konnte. Inadäquate Annahmen über die Handlungsabsichten und
das Handlungspotential fügten sich in ein weitgehend imaginäres Bild der eigenen Bedrohtheit.
Annahme der Einheitlichkeit und Einheit der islamischen Welt (Dominotheorie): Eng verbunden mit der Bedrohungswahrnehmung war die Annahme der
Einheitlichkeit sowie der Einheit der islamischen Welt (z.B. „Die Fackel des Islams lodert überall“). Hier wurde die Gefahr gesehen, daß auch ohne eine aktive
Expansionspolitik Irans die islamische Revolution in anderen Ländern Nachahmung finden konnte. Eine solche „Dominotheorie“ existierte in bezug auf den
Islam bereits in den fünfziger Jahren, erlebte während der Iranischen Revolution
eine Hochkonjunktur und läßt sich auch in der Algerienkrise der neunziger Jahre noch immer nachweisen (Kap. 6.5.1). Dominotheorien bestanden ebenfalls
bereits im Ost-West-Konflikt (z.B. im Fall Vietnams), sie waren jedoch in bezug auf die islamische Welt von besonderer Bedeutung, da die Vorstellung von
einem zentral gesteuerten islamischen „Lager“ oder „Block“ keine Grundlage
besaß, denn kein islamisches Land verfügte über eine mit der UdSSR im Warschauer Pakt vergleichbare Hegemonialstellung. Im Unterschied zum Kommunismus wurde daher der Islam nicht als eine oktroyierte Ideologie betrachtet,
sondern in der Medienwahrnehmung dominierte die Vorstellung einer Ausbreitung des politischen Islam auf der Basis einer kulturellen Empfänglichkeit anderer Staaten des Nahen und Mittleren Ostens für den Islam/Fundamentalismus.
Die islamische Variante der Dominotheorie war angesichts des Vorhandenseins
fundamentalistischer Bewegungen in den meisten Staaten der Region zumindest
an der Wende zu den achtziger Jahren realitätsadäquater als die Vorstellung der
Bedrohtheit des Westens.
Annahme der historischen Einzigartigkeit der Vorgänge: Im Zusammenhang
mit der Wahrnehmung der Modernitätsfeindlichkeit des Islam (Punkt 3) stand
bollah im Libanon ab 1982 oder Interzessionsmaßnahmen wie die Verfolgung Oppositioneller im
Ausland unterscheiden sich qualitativ nicht von der Außenpolitik von Staaten wie den USA, die
1953 mit Hilfe der CIA und des Shahs Premierminister Mossadegh stürzten, oder Israels, deren Geheimdienst Mossad auch Gegner im Ausland entführt oder tötet.
228
9)
die Annahme einer historischen Einzigartigkeit der Vorgänge in Iran. Die Revolution, so wurde angenommen, forderte nicht einmal ideologisch – wie etwa die
Oktoberrevolution – eine Überwindung bestehender Herrschafts- und Sozialstrukturen in Richtung auf größere gesellschaftliche Partizipation, sondern die
Hauptstoßrichtung war eine „Rückkehr ins Mittelalter“. Daß diese Modernitätsfeindlichkeit nur bedingt, nicht im Wirtschaftsbereich, nur zum Teil in der Politik und ausgeprägt allenfalls im Bereich der öffentlichen Moral und Sitten zu
konzedieren war (Kap. 6.3.1: ideologiekritischer und soziokultureller Ansatz),
verdeutlicht, warum Gerhard Schildt bereits im Jahr 1980 in einem ungewöhnlichen Beitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung herausstellte, daß sich die
iranische Entwicklung nahezu nahtlos in bekannte weltrevolutionäre Ereignisabläufe einordnen ließ, wie sie die vergleichende Revolutionsforschung ermittelt
hat: prä-revolutionärer sozialer Wandel, Delegitimierung der Herrschaft durch
die Intelligenz, Umsturz, Doppelherrschaft, Autonomieforderung nationaler
Minderheiten usw.510 Dies verdeutlicht, daß die „Einzigartigkeit der Vorgänge“
der Revolution nur zu begründen war, wenn das vergleichende Kategoriensystem Universalien der Revolution ausblendete und sich auf ihre ideologischen
Spezifika konzentrierte.
Annahme der Einheit von politischer Führung und Volk/Religion/Kultur: Die
Tatsache, daß in den meisten untersuchten Beiträgen zum Islambild der Berichterstattung über die Iranische Revolution „Islam“ als Erklärungsgrundlage
für bestimmte politisch-gesellschaftliche Abläufe der Revolution herangezogen
wurde, zeigt, daß ein zweiteiliges Gegnerbild, wie es im Ost-West-Konflikt bestand, in dem repressive Parteien und Staaten ihren unterdrückten Völkern gegenübergestellt wurden,511 nicht existierte. Im Gegenteil wurde die Iranische
Revolution nicht als eine avantgardistische Revolution, sondern als ein Massenphänomen begriffen, wie dies in Formulierungen wie „religiöse Massenhysterie“ zum Ausdruck kam. Hier bestätigt sich das Ergebnis der quantitativen Untersuchung, wonach „Islam“ das Thema mit der stärksten Kollektivorientierung
der auftretenden Akteure in der Presseberichterstattung (Kap. 5.2.1.6) ist. Zwar
510 Nach Schildt ereignete sich die Iranische Revolution typischerweise a) nicht während einer Phase
des materiellen Elends, sondern in einer Periode starken sozialen Wandels (Schildt verkannte hier,
daß neben den Aufstiegsforderungen ausgegrenzter Eliten, die tatsächlich mit sozialen Wandlungsmotiven zu erklären waren, auch der Faktor Armut − etwa in Form der Landarmut − eine bedeutsame Rolle spielte); b) die Intelligenz wandte sich in dieser Situation von der Macht ab und entzog ihr
die Legitimation; c) nach dem Sturz der Monarchie folgten öffentliche Sympathiekundgebungen;
d) es folgte eine Phase der Doppelherrschaft von Khomeini und Premierminister Bazargan; e) Autonomieforderungen ethnischer Minderheiten wurden laut (Gerhard Schildt, Der Machtkampf in Persien steht erst noch bevor, F.A.Z. 18.1.1980). Udo Steinbach hat zudem darauf hingewiesen, daß
die Iranische Revolution die „erste Revolution im Nahen Osten (war), die vom Volk selbst ausgelöst
und getragen“ wurde, was bedeutet, daß sich zwischen der Iranischen Revolution und anderen Revolutionen der Weltgeschichte eine starke Konvergenz hinsichtlich der sozialen Trägerschaft „von
unten“ erkennen läßt. Udo Steinbach, Das politische System in Iran unter dem Schah-Regime, in:
Expertengespräch „Gesamtanalyse der Ursachen und möglichen Perspektiven der Entwicklung in
Iran“, Bonn 21./22. Juni 1979, Hrsg. von der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 1979, S. 311.
511 Frei, Feindbilder und Abrüstung, S. 115.
229
bestand tatsächlich ein Unterschied insofern, als die Massenbasis des politischen Islam wahrscheinlich größer war als die des Marxismus-Leninismus bei
Ausbruch der Oktoberrevolution, da es sich nicht um eine „neue“, sondern um
eine „alte“ Ideologie handelte. Dennoch: Ebensowenig wie die Gegnerbilder
des Ost-West-Konflikts in Rechnung stellten, daß ein erheblicher Teil der Bevölkerungen des Gegners tatsächlich Anhänger ihrer politischen Leitbilder
(Marxismus-Leninismus bzw. Demokratie/Kapitalismus) war, so berücksichtigten viele Medienbilder der islamischen Revolution selten, daß nicht alle Muslime in Iran eine Verbindung von Politik und Religion wünschten, und daß zumindest ein Teil der öffentlichen Kundgebungen einer aktiven Mobilisierungspolitik Khomeinis entsprang. An die Stelle eines zweigliedrigen Gegnerbildes
wie im Ost-West-Konflikt trat ein homogenes Bild einer fundamentalistischen
Volkskultur als Antagonismus zum Westen.512 Die Wahrnehmung der Einheitlichkeit bzw. Uneinheitlichkeit von Führung und Volk ist insofern politisch bedeutsam, als gerade das zweigliedrige Gegnerbild zur Legitimierung eigener
Handlungen (im Interesse der unterdrückten Bevölkerung des Gegners) herangezogen werden kann.
10) Annahme der Einheit von Tradition und Repression: Eine markante Ausnahme
im Bild der Einheitlichkeit von Führung und Volk stellte das Bild der Frauen im
Islam sowie nicht-islamischer Minderheiten dar. Insbesondere Frauen galten als
Opfer der „islamischen Revolution“, da die errungenen Freiheiten der ShahHerrschaft durch eine Rückkehr zu repressiven Traditionen in Frage gestellt
wurden.513 Diese Annahme der Einheit von Tradition und Repression war insofern problematisch, als ungeachtet der Retraditionalisierung der Frauenrollen in
der Iranischen Revolution diese zu einem großen Teil von Frauen mitgetragen
wurde, die zwar erst in den neunziger Jahren in die politische Führung Irans
vordrangen, jedoch sowohl in der fundamentalistischen Bewegung als auch in
anderen Bereichen der Re-Islamisierung (vgl. Kap. 6.3.1: anthropologischer
Ansatz) aktiv waren.
Den Grundannahmen des Islambildes lassen sich eine Reihe von soziopsychologischen Konstruktionsprinzipien zuordnen:
11) selektive Wahrnehmung und Pars-Pro-Toto-Denken: Eine Reihe von Annahmen über den Islam, wie sie sich im Kontext der Iranberichterstattung darstellen, basierten auf selektiver Wahrnehmung: politische Phänomene fanden mehr
Beachtung als religiös-kulturelle, radikal-fundamentalistische mehr als reformi512 In der Berichterstattung späterer Jahre (vgl. Kap. 5.2.1.6) stehen neben nicht-organisierten Bevölkerungsteilen allerdings auch islamistische Organisationen im Vordergrund, die während der Iranischen Revolution noch nicht existierten. Insofern ist das Pendeln der Medienbeachtung zwischen
der Person Khomeinis (oder dem Shah) und der iranischen Massenbevölkerung auch ein typisches
Revolutionsphänomen.
513 In einem Beitrag des Spiegel heißt es, Frauen seien aus der Sicht Khomeinis und der „breiten männlichen Mehrheit“ Irans ein „Abfallprodukt der Schöpfung“. „Kopftuch auf oder Schläge drauf“,
Spiegel 19.3.1979.
230
stisch-modernistische, extremistische mehr als gewaltfreie usw. Entscheidend
ist, daß von selektiver Wahrnehmung nur dann gesprochen werden kann, wenn
die eigene Wahrnehmung zugleich überschätzt wird, d.h. es besteht die Annahme „das Ganze“ wahrzunehmen, während man tatsächlich nur einen Teil wahrnimmt. Selektive Wahrnehmung geht dadurch einher mit Pars-Pro-TotoDenken, wobei fragmentarisches Wissen nicht als solches wahrgenommen, sondern für das Gesamtbild gehalten wird. Die Reflexion über den Fundamentalismus findet also beispielsweise nicht vor dem Hintergrund der Kenntnis modernistischer Strömungen statt (die man sich lediglich entschieden hat, momentan
nicht zu reflektieren), sondern fundamentalistisches Denken wird für islamisches Denken per se gehalten.
12) Worst-Case-Denken: Die selektive Wahrnehmung basiert nicht nur auf dem
Prinzip des Pars-Pro-Toto- sondern auch dem des Worst-Case-Denkens, das,
gemäß Frei, eng mit dem Sicherheitsbedürfnis des wahrnehmenden Subjekts
verbunden ist.514 Worst-Case-Denken bedeutet, daß selektiv alle Bestandteile
einer Realität perzipiert werden, die vom eigenen Wertesystem als negativ
und/oder gefährdend wahrgenommen werden. Die Reduktion des politischen Islam auf den Fundamentalismus (Punkt 3) ebenso wie die des Fundamentalismus
auf Gewalt und Bedrohung (Punkt 4) operieren nach dem Prinzip des WorstCase-Denkens. Zudem können reduktive kognitive Ketten entstehen, etwa nach
dem Schema: Islam ⇒ Politik ⇒ Fundamentalismus ⇒ Extremismus ⇒ Bedrohung, ergo: Islam ⇒ Bedrohung.
13) Dekontextualisierung – Stereotypisierung/Inferenz: Die „Annahme der Einheit
von Norm und Realität“ (Punkt 2), d.h. die Tendenz einer Erklärung politischer
und gesellschaftlicher Vorgänge mit normativ-religiösen Ursachen („Glaubenskrieg“ usw.) war ein Vorgang der Dekontextualisierung des Islambildes, wobei
anstelle der Aufklärung über die soziokulturellen und politischen Zusammenhänge der „Re-Islamisierung“ und der Iranischen Revolution eine Tendenz zur
Erklärung des Profanen mit Hilfe normativ-religiöser Aspekte des Islam erkennbar wurde. Dies bedeutet jedoch auch, daß die Dekontextualisierung (Herauslösung aus dem Kontext) eng mit dem zeitgleichen Prozeß der Organisation
von Information anhand stereotyper Schemata (Einfügen in einen Kontext – Inferenz515) zusammenhängt. Auf der historischen Längsachse wurden zum Beispiel während der Iranischen Revolution ältere Bilder des politischen Islam aus
den fünfziger Jahren reproduziert, d.h., daß selektive Wahrnehmungsmuster historische Dimensionen und Beharrungskräfte aufweisen. Hinsichtlich horizontaler Stereotype im Vergleich verschiedener Medien (Individuum-KollektivProblematik) waren bei den sozio-psychologischen Grundlagen der Islambildkonstruktion keine stabilen Unterschiede zwischen einzelnen Medien oder politischen Strömungen im Mediendiskurs zu erkennen. Daß solche Unterschiede
sich in den anderen Fallbeispielen dort zeigen, wo nicht allein einige Stereotype
514 Frei, Feindbilder und Abrüstung, S. 114.
515 Dieser Begriff wird von Frei verwendet.
231
und Feindbilder, sondern der Islamdiskurs in seiner Gesamtheit (Frames, Themen, Themenkonjunkten usw.) untersucht werden,516 zeigt um so deutlicher,
daß die Soziopsychologie allein keine hinreichende theoretische Basis zur Untersuchung der Auslandsberichterstattung darstellt (s.o.).
14) Personalisierung versus Kollektivierung: Unterschiede zwischen den Islambildern der Pressemedien waren allerdings ausgeprägt im Vergleich des Boulevard- mit dem Abonnentensektor. Kennzeichen der Boulevardmedien war die
starke Personalisierung (Khomeini, Shah usw.), während in der überregionalen
„Elitenpresse“ neben den handelnden Protagonisten die mit dem Islam in Verbindung stehenden Massenphänomene stärkere Beachtung fanden (vgl. Punkt
9).
15) Spiegelbild-Denken: In der Presse ausgeprägt war ein Bild des Gegensatzes
zwischen der westlichen Kultur der Moderne und der islamischen Kultur der
Tradition, wobei der Kulturbegriff im weiteren Sinn auch die politische Kultur
umfaßte. Wenn ein solches Denken als „Spiegelbild-Denken“ bezeichnet werden kann, dann deshalb, weil der Islam zugleich als Gegenüber (Vergleichsmodell für den Westen) und als spiegelverkehrt (kulturelle Differenz) angesehen
wurde. In der Betrachtung des Islam als kulturelles Vergleichssystem für den
Westen, an dem dieser die Errungenschaften der geistigen und materiellen Kultur messen konnte, lag eine Aufwertung des Islam im Vergleich zu anderen Kulturen, denn anders als etwa die afrikanischen Kulturen, die im Westen in hohem
Maß folkloristisch wahrgenommen werden, existiert in der von Anbeginn
schriftkundlichen islamischen Kultur zu jedem Aspekt der westlichen Kultur
(Wissenschaft, Philosophie, Religion usw.) ein Pendant zum Westen.517 Zugleich jedoch wurde während der Iranischen Revolution die islamische Kultur
in der deutschen Presse massiv abgewertet, denn die (vorgeblich) gegensätzliche Kulturausformung des Orients wurde auf der affektiven Bildebene negativ
bewertet:518 eine nahezu zwangsläufige Folge der Vergleichssituation, da die
Angehörigen einer Kultur in der Regel dazu neigen, positiven Autostereotypen
negative Hetero-Stereotype gegenüberzustellen. Kernwerte der westlichen Kultur des 20. Jahrhunderts (Fortschrittlichkeit, Freiheit, Demokratie usw.) treten
vorgeblich negativen Eigenschaften des Islam (Rückständigkeit, Repression,
Monokratismus usw.: vgl. Punkte 2 und 3) gegenüber. Die Ungleichheit des
Vergleichbaren wird zum Signum des interkulturellen Spiegelbild-Denkens. Eine synkretistische Kulturauffassung (Kap. 3.1.1), wonach Kulturen vielfältige
516 Beispielsweise zeigte sich eine Rechts-Links-Polarisierung in bestimmten Phasen der Erdölkrise
von 1973; vgl. Kap. 6.2.1 und 6.2.2.1.
517 Bassam Tibi, Akkulturation und interkulturelle Kommunikation: Ist jede Verwestlichung kulturimperialistisch?, in: Gegenwartskunde 2/1980, S. 177.
518 Edward Said verdeutlicht diesen Zusammenhang am Beispiel des Propheten Mohammed. In der
allein im Westen gebräuchlichen Bezeichnung der Muslime als „Mohammedaner“, die aufgrund der
Tatsache, daß Mohammed nie den Status des Gottessohnes besaß, bei Muslimen selbst unbekannt,
im Westen jedoch seit dem Mittelalter gebräuchlich gewesen ist, ist der Versuch zu erkennen, eine
Parallele zu Jesus Christus und dem Christentum zu bilden. Als Negation der Gleichheit ist Mohammed zugleich als Häretiker betrachtet und abgewertet worden. Said, Orientalism, S. 60, 62.
232
kulturelle Teilsysteme aufweisen und sich bei einem Kulturvergleich oft mehr
Ähnlichkeiten zwischen den Subsystemen verschiedener Kulturen als zwischen
den Subsystemen derselben Kultur zeigen (etwa interkulturelle Übereinstimmungen zwischen „reaktionären“ und „modernen“ Kräften), war dem Pressediskurs über den Islam fremd.
16) Antipoden-Denken: Im Unterschied zum Spiegelbild-Denken zeichneten sich
andere Formen des Islambildes durch eine Form der Selektion und Organisation
des Wahrgenommenen aus, die als „Antipoden-Denken“ bezeichnet werden
kann. In diesen Fällen wird anstelle des Vergleichs zwischen dem Islam und
dem Westen die Vergleichbarkeit systematisch verneint. Beispiel für das Antipoden-Denken ist die Annahme, Politik und Religion ließen sich in der islamischen Welt grundsätzlich nicht trennen (Punkte 1 und 2), was bedeutet, daß Politik im Westen in letzter Instanz nicht mit Politik in der islamischen Welt zu
vergleichen ist (wie das Spiegelbild-Denken nahelegt), d.h. es besteht eine Verunsicherung hinsichtlich der Existenz grundlegender Kategorien des menschlichen Lebens wie dem Religiös-Sakralen und dem Politischen oder dem Weltlichen und dem Transzendentalen. Aus kulturtheoretischer Sicht ist dieses Phänomen deshalb von besonderem Interesse, weil hierdurch die Dichotomie IslamWesten auf anthropologischer Ebene verfestigt wird, d.h. das Bild des Islam als
einer negativen Gegenkultur des Westens korrespondiert mit einem entsprechenden Menschenbild.519 Während ein Islambild, in dem die Dichotomie Islam-Westen nach den Prinzipien des Spiegelbild-Denkens, des Worst-CaseDenkens, der Stereotypisierung usw. die Vorstellung einer Negativ-Parallelwelt
schafft, die trotz ihrer Andersartigkeit, Bedrohlichkeit oder Unterlegenheit doch
symmetrisch konstruiert und insofern zugänglich und verständlich ist, so erzeugt
erst das tiefergreifende Antipoden-Denken den Eindruck des „außersystemischen Chaos“, das etwa Jürgen Link in seiner Diskursanalyse als Merkmal des
Islambildes der Medien beschreibt.520
519 Das Menschenbild deutscher Nahostjournalisten ist am Beispiel Peter Scholl-Latours bereits untersucht worden. Folgt man Georg Auernheimer, so vertritt Scholl-Latour in seinen Arbeiten die Vorstellungen, „es gebe so grundverschiedene ‘Mentalitäten’ mit so stark variierenden Bedürfnissen
und Lebensansprüchen, daß man die europäischen Maßstäbe bezüglich der Lebensqualität nicht an
Menschen aus anderen Kulturen anlegen könne.“ Auernheimer, Die unausweichliche welthistorische Konfrontation, S. 272.
520 Jürgen Link, Medienanalyse unter besonderer Berücksichtigung der Kollektivsymbolik, in: Siegfried Jäger (Hrsg.), Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung, Duisburg 1993, S. 382-401; vgl. a.
Gerhard/Link, Der Orient im Mediendiskurs. Vgl. a. James Carriers Ausführungen über Marcel
Mauss und die Einstufung Papua-Neuguineas als „Geschenkgesellschaft“ (James G. Carrier, Maussian Occidentalism. Gift and Commodity Systems, in: ders. (Hrsg.), Occidentalism. Images of the
West, Oxford 1995, S. 85-108). Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß Bassam Tibi bereits
1984 den Orientalismusbegriff Edward Saids für Europa gerade hinsichtlich des Menschenbildes
modifiziert hat. Während der Orientalismus amerikanischer Prägung nach Tibi auf der Idee der
Wiederholbarkeit der amerikanischen Zivilisationserfahrung basiert, ist das europäische Orientbild
häufig von einem Glauben an die fundamentale Andersartigkeit der Orientalen und ihre immanente
Unfähigkeit zur Entwicklung geprägt gewesen. Bassam Tibi, Orient und Okzident. Feindschaft oder
intellektuelle Kommunikation? Anmerkungen zur Orientalismus-Debatte, in: Neue Politische Literatur 29 (1984) 3, S. 281.
233
17) Kluft und Wechselwirkung zwischen visueller Wahrnehmung und kognitiver
Bildprägung: Auffällig in der untersuchten Berichterstattung war eine überwiegend in den Illustrierten zu findende Bildästhetik mit permanent wiederkehrenden Gewaltbildern (schiitische Flagellanten, Auspeitschungen, Amputationen,
Massenansammlungen, erregte Demonstranten usw.).521 Die Gewalt stand in direkter visueller Beziehung zur Islamthematik, da islamische Symbole wie die
Kaaba in Mekka, der Schleier (tschador) oder der Halbmond in diese Bildlandschaften integriert waren. Zugleich war auffällig, daß der Fotojournalismus zumindest teilweise ein Eigenleben führte, da entsprechende Bilder neben Texten
stehen konnten, in denen Gewalt gar nicht oder nur beiläufig thematisiert wurde.
Grundannahmen des Islambildes wie die der „Einheit von Islam und politischem (fundamentalistischem) Extremismus“ (Punkt 4) oder der „Irrationalität
des Gegenüber“ (Punkt 5) wurden auf diese Weise a) visuell vermittelt und
konnten b) sekundäre Einflüsse auf die über Texte vermittelte, kognitive Bildprägung ausüben, indem sie den Texten einen (affektiven) Subtext beifügten
und damit eine Bedeutungsveränderung induzierten. Fotos von Geißelprozessionen neben einem Artikel über den Sturz des Shahs konnten beispielsweise
den Eindruck verfestigen, der politische Umbruch in Iran sei einem kulturimmanenten Fanatismus entsprungen, auch wenn diese These, die in anderen Texten tatsächlich vertreten wurde, in dem nebengestellten Text gar nicht enthalten
war.
Gemeinsamkeiten zwischen den Bildstrukturen im Kontext der deutschen Presseberichterstattung über Islam/Iran und der von Frei untersuchten sowjetisch-amerikanischen Feindwahrnehmung bestanden in einer Reihe von Aspekten, unter anderem in
der ideozentrischen Betrachtung, der Suche nach Polaritäten in den Wertvorstellungen, der Wahrnehmung eines Aggressions-, Ausbreitungs- und Expansionspotentials
des Gegenüber, wodurch insgesamt das Islambild als (nur bedingt realitätsadäquates)
Feindbild bezeichnet werden kann. Unterschiede bestanden in der Verlagerung von
der system-ideologischen zur kultur-ideologischen Bildkonstruktion, wobei anders
als im Fall des Kommunismus/Realsozialismus der Islam nicht allein als Spiegelbild
der politischen und wirtschaftlichen, sondern der gesamten Kultur (z.B. Moderne vs.
Tradition) wie auch des Menschenbildes fungierte. Die in der Fachliteratur dargelegte These, das „Feindbild Islam“ sei ein Ersatz für das „Feindbild Kommunismus“,
weist auf wichtige strukturelle Gemeinsamkeiten der selektiven Wahrnehmung, des
Worst-Case-Denkens usw., sie ist jedoch zu undifferenziert, um die Unterschiede in
den Bildstrukturen zu erfassen.
Die holistische „Psycho-Logik“ des Islambildes als Abbild der gesamten Kultur
und der Menschen ist nahezu zwangsläufig an ganz andere Kräftekonstellationen in
der deutschen Gesellschaft gebunden als die Wahrnehmung des Kalten Krieges, denn
521 Was nun, Khomeini?, a.a.O.; Schade um den Schah?, a.a.O.; Chaos in Gottes Namen, a.a.O.; Zurück ins Mittelalter, a.a.O.; Die Macht des Propheten, a.a.O.; Der Prophet, vor dem wir alle zittern,
a.a.O.; „Allah, gib uns Gewehre“, stern 19.4.1979; Persien heute: Die verpfuschte Revolution, stern
5.7.1979.
234
die Einheit des Wahrgenommenen korrespondierte mit der Einheit des Wahrnehmenden – der untersuchten Presse. Bei den untersuchten Medien waren keine markanten Unterschiede im Islambild zu erkennen, die etwa eine Rechts-LinksZuordnung erlaubt hätten, wie sie bei der Berichterstattung über das alte System des
Shahs noch bestanden hatten. Die dargelegten soziopsychologischen Grundlagen
existierten richtungsübergreifend.522 Man muß daher für die Zeit der Iranischen Revolution 1978/79, ungeachtet der inhaltlichen Gewichtungsunterschiede einzelner
Medien in anderen Teilen der Nahost-, Nordafrika- und Islamberichterstattung, von
dem Feindbild Islam als einem mainstream-Phänomen der Presse sprechen. Strömungsverteilungen wie die des Kalten Krieges, als (links-)liberale Medien eine differenziertere Feindwahrnehmung der sozialistischen Staaten als (rechts-)konservative
Medien besaßen, kamen im Islambild der Iranischen Revolution nicht zum Tragen.
6.3.2.2 Exkurs: Zeitgenössische Schwankungen des Islambildes – eine Erweiterung der „Orientalismus“-These
Zu fragen ist allerdings, ob das Feindbild Islam der Jahre 1978/79 eine stabile Größe
des deutschen Pressediskurses darstellt. Die quantitative Inhaltsanalyse der Jahre
1955-94 deutet auf einen solchen Tatbestand hin (Kap. 5.2.1.2), allerdings ist ihre
Aussage auf die Leistungsfähigkeit quantitativer Verfahren beschränkt und qualitativ-theorieförmige Untersuchungen müßten daher ebenfalls für andere Fallbeispiele
als die Iranische Revolution 1978/79 hinaus durchgeführt werden, um soziopsychologische Kategorien als Dauerphänomene der bundesrepublikanischen Pressegeschichte bezeichnen zu können. Die nachfolgende Darstellung wird in knapper Form
und ohne die Grundschritte der Rekonstruktion-Dekonstruktion erfolgen, so daß
lediglich begründete Hypothesen formuliert werden können.
Drei Bereiche sind zu erkennen, die es erschweren, die soziopsychologischen
Grundlagen des Islambildes der Iranischen Revolution (Kap. 6.3.2) als konstantes
Phänomen der deutschen Presse seit ihrer Neubegründung nach dem Zweiten Weltkrieg zu bezeichnen. Vielmehr weisen sie auf „zeitgenössische Schwankungen“ (im
Sinne Dröges; Kap. 3.1.1) im Rahmen „kultur-dauernder“ und „kultur-epochaler“
Bildkonstanten hin:
• Das Medienbild des Islam weist zeitgenössische Schwankungen auf, wobei ein
Vergleich vor und nach der Iranischen Revolution nahelegt, daß sich ein Feindbild des Islam im vollen Umfang lediglich in Zeiten hoher Politisierung (politischer Islam), d.h. der Verknüpfbarkeit von Stereotypen/Feindbildern mit politischen Themen, formiert.
• Auch innerhalb politisierter Phasen des Islambildes – im vorliegenden Fall also
seit 1978/79 bis in die Gegenwart – können kurzfristig Strömungsunterschiede im
Rechts-Links-Gefüge der Medien erkennbar werden, die zu einer sporadischen
522 Eine entsprechende Untersuchung würde ein ähnliches Ergebnis möglicherweise auch für die außermediale Öffentlichkeit ergeben.
235
Differenzierung des mainstream-Diskurses in der Presse und zur Kooperation
von bestimmten Organisationen, Institutionen und Personen der außermedialen
Öffentlichkeit mit „kleinen Traditionen“ des deutschen Islambildes (z.B. Teilen
der Orientwissenschaft, der Literatur- und Kunstszene) führen, was nicht ohne
Einfluß auf die Auslandsberichterstattung geschieht.
• Das Islambild steht zudem in Wechselbeziehung mit anderen Völker- und Nationenbildern, wie dem Bild der Araber oder der Türken, sowie mit Bildkategorien,
die weniger autochthonen Ursprungs sind, sondern im westlichen historischen
Kontext entstanden sind und weiterwirken, insbesondere mit der Vorstellung vom
„Orient“.
Was den Vergleich medialer Islambilder vor und nach der Iranischen Revolution
betrifft, so können Unterschiede exemplarisch anhand der jährlich publizierten Berichte über den islamischen Fastenmonat (ramadan) und die Pilgerfahrt nach Mekka
(hadj) verdeutlicht werden.523 „Islam“ war als scheinbar unpolitisches Thema über
Jahrzehnte ein Randthema der deutschen Presse,524 das statt von breitem öffentlichen
Interesse zu sein in Nischen der außermedialen Öffentlichkeit (etwa bei den Kirchen)
angesiedelt war.525 Die jährlichen Berichte über die islamische Pilgerfahrt und den
Fastenmonat weisen auf inhaltliche Veränderungen im historischen Längsschnitt der
fünfziger bis neunziger Jahre. Berichte vor der Iranischen Revolution konzentrierten
sich auf religiöse Fragen, allenfalls begleitet von Erörterungen über die „technisierte
Pilgerfahrt“ durch moderne Beförderungsmittel und das Neben- und Miteinander
von traditionellem Ritus und Fortschritt. In den achtziger und neunziger Jahren hingegen war in einer Reihe von Beiträgen der Einfluß eines politisierten Islambildes zu
erkennen, wodurch auch die Berichte über die Pilgerfahrt eine weitaus negativere
Färbung erfuhren als dies vorher der Fall war, da sie zunehmend mit religiösem
Extremismus in Verbindung gebracht wurde. Die Aufmerksamkeit der Presse wandte
sich tendenziell von den rituellen Handlungen zu ihren politischen Begleiterschei523 P.B. Peclaris, 5000 km zu Fuß nach Mekka, DNZ 27.9.1949; Ernst Günther Lipkau, Pilgerflug nach
Mekka, Zeit 20.10.1949; Robert Botzat, Strenge Maßstäbe für Moslempilger, DT 5.5.1954; C. von
Vitianyi, Ramadan − Fastenmonat des Islams, DT 7.2.1963; Manfred von Juterczenka, Der schwierige Weg nach Mekka, HB 25.5.1965; Wolfgang Köhler, Rekordteilnahme an der diesjährigen Pilgerfahrt nach Mekka, F.A.Z. 26.9.1983; Peter Gerner, Wieder demonstrieren Iraner bei der heiligen
Handlung, FR 16.8.1986; ders., Ein profaner Geist weht an den heiligen Stätten, FR 25.7.1988;
„Saudi-Arabien ist für den Tod der Pilger verantwortlich“, F.A.Z. 5.7.1990; Türkische Pilgerfahrt
auf saudische Rech-nung?, F.A.Z. 5.7.1990; Khalil Abied, Keine Hadschis aus Jordanien und Palästina, taz 4.6.1991; Ahmad Taheri, Den Pilger-Knigge schrieb der Geheimdienstler, FR 17.6.1991;
Ali M. Ramadan, Iranische Pilger demonstrieren in Mekka, taz 20.6.1991; Detlev Ahlers, Für die
Pilgerfahrt öffnen Saudis „provisorisch“ die Grenzen zum Irak, Welt 22.6.1991; Peter Gerner, Die
islamische Welt hofft auf eine friedliche Pilgerfahrt, FR 24.6.1991; Ali M. Ramadan, Ein schlechter
Tag für den Satan, taz 29.6.1991.
524 Der geringe Stellenwert der Religion in der Presse konnte in Kapitel 5.1.2 belegt werden.
525 Diese Tatsache rief in den fünfziger Jahren bereits vereinzelte Kritik hervor. Rudolf Küstermeier
bemerkte im Jahr 1953, daß lediglich „Spezialisten“, nicht jedoch „die Breite der öffentlichen Meinung“ bestrebt seien, zu einem fundierteren, die historischen Fehlentwicklungen bei der Wahrnehmung der islamischen Welt revidierenden Bild zu gelangen. Rudolf Küstermeier, Keiner der Gäste
aß und trank, Welt 11.4.1953.
236
nungen, wie etwa der Besetzung der Großen Moschee in Mekka 1979. Unruhen im
Umfeld der Pilgerfahrt hatte es bereits in früheren Zeiten gegeben, aber erst die Iranische Revolution war Auslöser für eine Politisierung der Pilgerfahrtberichte, und
zwar auch in Jahren, in denen keine nennenswerten Irritationen zu vermelden waren:
„Ohne politische Unruhen“, „Polizeiaufgebot begleite(t) den Pilgerzug nach Mekka“;
„Die islamische Welt hofft auf friedliche Pilgerfahrt“, „In Mekka ging der Hadsch
526
– die Wallfahrt der Muslime – unerwartet ruhig zu Ende“.
Auch die vielfache Integration von Bildern über die Pilgerfahrt in illustrierten Darstellungen über die Iranische Revolution (vgl. Kap. 6.3.2.1) weist auf eine Veränderung der Hadj-Rezeption.
Aus diesen Entwicklungen läßt sich folgern: Die Annahmen einer „Einheit von
Politik und Religion“ (Punkt 1) und von „Norm und Realität“ (Punkt 2), die in Kapitel 6.3.2.1 als Teile des Islambildes der deutschen Presse während der Iranischen
Revolution benannt wurden, waren keine zeitübergreifenden Bildkonstanten, sondern
sie unterlagen zeitgenössischen Schwankungen. Da durch die weitgehende Absenz
der Bindung von Religion und Politik in den fünfziger und sechziger Jahren auch die
Bedrohungswahrnehmung des Islambildes entfiel, muß davon ausgegangen werden,
daß in diesen Jahrzehnten von der Presse der Islam zwar als antimodernes Spiegelbild wahrgenommen wurde, ein „Feindbild Islam“ jedoch nicht existierte, da ein
solches die Unterstellung feindlicher Handlungsabsichten und -potentiale beinhalten
muß, was erst durch die Iranische Revolution motiviert wurde.
Ein zweiter Aspekt zeitgenössischer Schwankungen stellt das Wechselspiel und
die Beziehung zwischen dem Islambild und anderen Facetten von „Nationenbildern“
dar. In den vierziger, fünfziger und weiten Teilen der sechziger Jahre waren in der
deutschen Presse Berichte über das Leben von orientalischen Königen und Monarchen (Faruk von Ägypten, der Shah von Persien, Agha Khan u.a.m.) auch in der
illustrierten seriösen Presse (z.B. stern, Der Spiegel), und nicht nur in der yellow
press und Boulevardpresse, verbreiteter als Islamberichte. Es waren weniger geopolitisch und -kulturell lokalisierbare Berichte als vielmehr solche über einen orts- und
zeitlosen „Orient“. In den fünfziger und sechziger Jahren standen „die Araber“ im
Focus des medialen Interesses. Beide Bildtypen – „Orient“ und „Araber“ – sind aus
soziopsychologischer Sicht zu komplex, als daß sie im Rahmen eines Exkurses untersucht werden könnten. Zumindest auf das mediale „Orient“-Bild der Nachkriegszeit trifft jedoch zu, daß es eine vom Islambild der Iranischen Revolution abweichende innere Ökonomie aufwies. Einerseits erzeugte die kosmopolitische Orientierung der genannten Monarchen und ihre Tendenz zur Liaison mit westlichen Frauen
(Rita Hayworth, Soraya) weitaus positivere Affekte, und „der Orient“ erschien nicht
als Hort der Antimoderne, wie während der Iranischen Revolution, sondern der
Pracht und Sinnlichkeit.527 Andererseits jedoch ist zwischen den Schilderungen
menschlicher Begebenheiten an den Höfen und den journalistischen Beschreibungen
des Umfeldes ein Bruch festzustellen, da sowohl die menschliche Beschreibung „der
526 Überschriften sowie Dach- und Unterzeilen von Beiträgen der achtziger/neunziger Jahre.
527 Richard Blank, Soraya, Farah und der Schah. Deutsche Schicksalsberichte vom Pfauenthron, München 1977.
237
Orientalen“ als auch die Beschreibung der politischen-gesellschaftlichen Verhältnisse Elemente des Spiegelbild- und des Antipoden-Denkens aufweisen konnte.528 Das
Orientbild der Nachkriegsära enthielt damit bereits eine Reihe von Anlagen, die in
späteren Rezeptionsphasen, also während der Arabisierung des Orientbildes spätestens ab 1967529 und der Islamisierung des Medienbildes ab 1978/79 an politische
Sachverhalte geknüpft zur Entfaltung kamen; die Nachkriegsära war jedoch insgesamt keine Zeit des Worst-Case-Denkens, der Bedrohungsperzeptionen und Feindbilder, sondern ein „Schmelztiegel“ der im deutschen Kulturerbe angelegten unterschiedlichen Wahrnehmungstraditionen, wobei die sogenannten kleinen Traditionen
der romantischen Orientbetrachtung und Orientschwärmerei aus Wissenschaft, Literatur und Kunst kurzfristig in den mainstream der großen Pressemedien vordringen
konnten.530
Ein letzter Aspekt zeitgenössischer Bildschwankungen besteht in den kurzfristigen Strömungspolarisierungen, die in der deutschen Presselandschaft erkennbar
werden und die zu einer Differenzierung der Grundlagen des medialen Islambildes
beitragen. In der Kontroverse um die Trägerin des Friedenspreises des deutschen
Buchhandels 1995, die Orientalistin Annemarie Schimmel, waren mehrheitlich konservative und liberale Beiträge auf der Unterstützerseite zu finden, wobei ein moderates Islambild vorherrschte, während in anderen liberalen Beiträgen, linksliberalen
und linksalternativen Medien weitaus eher die repressiven Facetten des Islam bzw.
der „islamischen Welt“ hervorgehoben wurden.531 Es erwies sich, daß politischweltanschauliche Richtungsunterschiede im Rechts-Links-Gefüge der Medien unter
günstigen Voraussetzungen der politischen Kommunikation (Thema aus dem Bereich der foreign news at home; Äußerungen von bekannten Personen und Institutionen mit deutlicher politischer Ausrichtung wie Günter Wallraff) eine Strömungsdebatte entstehen lassen können, die das Islambild zumindest kurzfristig differenziert,
in der eine verstärkte Kooperation zwischen Medien und (Orient-) Wissenschaft
stattfindet und ein bewußter Bildwandel vollzogen wird.
528 In einem Beitrag des stern von 1950 heißt es beispielsweise über König Faruk von Ägypten: „Die
ganze Sinnlichkeit des Orientalen bricht über den jungen Herrscher herein“ (Faruk, Farida, Fawzia.
Der Schahinschah von Persien, stern 7.5.1950). Was die Charakterisierung des politischen Umfeldes betrifft, wurde Faruk als „allmächtiger Herrscher“ bezeichnet (Scheherezade: Die Liebesromanze der schönen Kusine Faruks und des geflüchteten deutschen Kriegsgefangenen Robert Brandenburg. Leidenschaft, Haß und Eifersucht im Schatten der Politik am Nil und am Suezkanal, stern
1.4.1953). Daß nach der Revolution von 1919 ein konstitutionelles Königtum auf der Basis einer
Verfassung und im Rahmen eines liberalen Mehrparteiensystems geschaffen worden war, fand keine Erwähnung. Nicht der postkoloniale Parlamentarismus, sondern die Idee des „orientalischen
Despotismus“ war prägend.
529 Dieser Zusammenhang ist in der quantitativen Analyse erkennbar geworden, wo das orientalische
Unterhaltungsgenre seit dem Jahr 1967 abrupt aus der Presse verschwand (Kap. 5.1.2, Abb. 5.3).
530 Zum historischen Hintergrund vgl. Rana Kabbani, Europe’s Myths of the Orient, Houndmills u.a.
1986.
531 Vgl. Kai Hafez, Das Islambild in der deutschen Öffentlichkeit, in: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 43 (1996) 5, S. 426-428; Kai Hafez/Munir D. Ahmed, Das Orient- und Islambild in Deutschland. Überlegungen zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und ein Gespräch mit Annemarie Schimmel, in: Orient 36 (1995) 3, S. 415-417; Hoffmann, Der Islam in den
Medien.
238
Alle drei Facetten zeitgenössischer Bildschwankungen stellen eine Erweiterung des
seit den späten siebziger Jahren in der soziopsychologischen Forschung dominierenden Paradigmas vom „Orientalismus“ dar. Edward Saids grundlegende Arbeit über
das westliche Bild des Orients, das weit über die Grenzen der Orientforschung hinaus die Perzeptionsforschung beeinflußt hat, behandelt „Orient“, „Araber“ und „Islam“ weitgehend als Synonyme und trifft keine Unterscheidung zwischen einzelnen
Typen des Religions- und Nationenbildes, obwohl diese trotz vieler Gemeinsamkeiten auch Eigenheiten aufweisen, wie etwa der positiv-affektive Mythos des Lawrence
von Arabien, der das Araber-, nicht jedoch das Islambild berührt, oder wie die geschilderten Spezifika des „Orient“-Bildes, die weder das Araber- noch das Islambild
betreffen.532 Daß Said auch innerhalb des Islambild-Komplexes allenfalls epochale
historische und nahezu keine Genre-Unterschiede registriert, zeigt sich in seinem
Buch „Covering Islam“, in dem er das westliche Medienbild der Iranischen Revolution von 1978/79 als direktes Resultat des seit dem späten 18. Jahrhundert von der
westlichen Wissenschaft und Literatur konstruierten Orientbildes bezeichnet.533
Saids Orientalismus-These betrachtet das westliche Islambild als identisch mit
einem Feindbild, nicht jedoch, wie vorstehend angedeutet, als einen dynamischen
Bildkomplex, in dem bestimmte Charakteristika (z.B. Spiegelbild- und AntipodenDenken) historisch langfristige Präsenz zeigen, während zugleich innerhalb der historischen Langzeitformation zeitgenössische Schwankungen zwischen positivaffektiven Bildern und voll ausgebildeten Feindbildern (einschließlich der entwickelten Bedrohungs- und Gegnerwahrnehmung) zu erkennen sind. Im Einteilungsschema
Dröges verbleibt Said mit seiner Kritik weitgehend auf der Ebene kultur-dauernder
oder kultur-epochaler Stereotype, blendet jedoch zeitgenössische Aktualisierungs-,
Desaktualisierungs-, Veränderungs- und Rückveränderungsprozesse aus. Unter dem
Eindruck der amerikanischen Rezeption der Iranischen Revolution geschrieben,
beschreibt Said den damaligen Ist-Zustand der Feindbild-Konstruktion als DauerZustand der Medienberichterstattung und löst damit den eigenen Anspruch nach
einem Bewußtsein für die Historizität des Beobachtungsstandpunktes nicht ein. Stereotype und Feindbilder, verstanden als begrenzte kognitive, affektive und konative
Formationen innerhalb des wesentlich weiteren „Auslandsbildes“, sind in der Regel
tatsächlich zeitlos und ohne spezifische Themen- und Kontextbindung, wie Said
suggeriert (sonst wären sie Frames; vgl. Kap. 3.1.2), dies darf jedoch nicht mit einer
permanenten und gleichförmigen Präsenz in Medien und Öffentlichkeit verwechselt
werden. Vielmehr fungieren Medien durch die Aktualisierung und Desaktualisierung
von Stereotypen/Feindbildern als Institutionen des sozialen Gedächtnisses einer
Gesellschaft:534 eine Metapher, die Veränderungen infolge von „Erinnerungsverlu532 Charakteristisch für Saids Herangehensweise ist etwa folgendes Zitat: „Books and articles are
regularly published on Islam and the Arabs that represent absolutely no change over the virulent
anti-Islamic polemics of the Middle Ages and the Renaissance.“ Said, Orientalism, S. 287.
533 Said, Covering Islam, S. 4 f.
534 Aleida Assmann/Jan Assmann, Das Gestern im Heute. Medien und soziales Gedächtnis, in: Klaus
Merten/Siegfried J. Schmidt/Siegfried Weischenberg (Hrsg.), Die Wirklichkeit der Medien. Eine
Einführung in die Kommunikationswissenschaft, Opladen 1994, S. 114-140.
239
sten“ und „Erinnerungsblockaden“ impliziert, nicht jedoch ein zu allen Zeiten gleichförmiges Funktionieren des Wahrnehmungs- und Denkapparates.
6.4
Der Fall Salman Rushdie (1989-95)
Der britische Autor indischer Herkunft Salman Rushdie wurde 1989 von Ajatollah
Khomeini in einer fatwa (islamisches Rechtsgutachten) zum Tode verurteilt, weil er
in seinem Roman „Die Satanischen Verse“535 die „heiligen Güter der Muslime verächtlich“ gemacht haben sollte.536 Die Affäre entwickelte sich zu einem Konflikt auf
mehreren Ebenen. Er stellte zunächst ein politisches und völkerrechtliches Problem
dar, denn die Intention Khomeinis war von taktischen Erwägungen nach dem Ende
des iranisch-irakischen Krieges, der nachlassenden Revolutionseuphorie und dem
Wunsch der Verteidigung der Dominanz der radikalen Geistlichkeit gegen moderate
Kräfte innerhalb und außerhalb des schiitischen Klerus getragen. Westliche Regierungen reagierten auf Khomeinis fatwa mit der Behauptung von Völkerrechtspositionen, wobei man sich gegen die Interzessionsabsichten Irans – Aufruf zur Ermordung auf britischem Territorium – wandte. Mit zunehmender Zeit jedoch wurde eine
partielle Entpolitisierung der Rushdie-Affäre erkennbar. Die iranische Staatsführung
begann sich nach dem Tod Khomeinis von dessen Rechtsgutachten zu distanzieren,
verwies jedoch gleichzeitig auf die religiöse Autonomie der geistlichen Führung
unter Ajatollah Khamenei, die ihrerseits die Todesdrohung gegen Rushdie populistisch zur Mobilisierung der Bevölkerung einsetzte. Die westlichen Staaten normalisierten bereits wenige Wochen nach Verkündung der fatwa ihre Beziehungen zu
Iran, was sinnfällig in der Wiederherstellung der diplomatischen Beziehungen zum
Ausdruck kam.537
Während sich der Fall Rushdie als „schwaches Politikum“ entpuppte, war die
kulturelle Konfliktebene stark ausgeprägt. Die relative Absenz realpolitischer Implikationen ließ die Frage in den Vordergrund treten, ob ein kultureller Wertekonflikt
des Gegensatzes zwischen westlichem Universalitätsanspruch der Menschenrechte
und islamischem Superioritätsanspruch der Religion zum Tragen kam. Das Zusammenwirken politischer und kultureller Aspekte der Rushdie-Affäre ließ Udo Steinbach annehmen, diese sei das „bislang dramatischste Symptom“ einer Verschlechte-
535 Salman Rushdie, The Satanic Verses, London 1988.
536 Vgl. Abdruck des Dekrets in der Zeitung Kayhan (Teheran), 14.2.1989.
537 Salman Rushdie wurde von der 1989 amtierenden Ministerpräsidentin Margaret Thatcher nicht zu
einer persönlichen Unterredung empfangen. Politische Lösungsinitiativen für die Rushdie-Affäre
gingen nach 1989 überwiegend von der organisierten öffentlichen Meinung wie dem International
Rushdie Defense Committee in Köln oder von dem Schriftsteller selbst aus, der sich in den Jahren
1992/93 durch seine Reisediplomatie unter anderem gegen den Abschluß eines deutsch-iranischen
Kulturabkommens wandte.
240
rung der islamisch-westlichen Beziehungen.538 Rushdie selbst sprach in bezug auf
die islamische Welt und den Westen von „zwei kriegerischen Hälften der Welt“.539
Im folgenden soll untersucht werden, ob und in welcher Form Fragen des Kulturkonflikts Eingang in die deutsche Presse fanden. Ausgewertet wird die Berichterstattung der Jahre 1989 bis 1995. Die den Untersuchungsschritten der Re-Rekonstruktion und Dekonstruktion I (Kap. 6.4.1) folgende theoriegeleitete Dekonstruktion II
(Kap. 6.4.2) konzentriert sich auf Aspekte der transkulturellen Kommunikation (vgl.
Kap. 3.2.4.5). Wie wurden auf der Inhaltsebene der Staatsgrenzen und Kulturräume
überschreitenden Medienkommunikation kulturelle Zeichen, Symbole und Botschaften im Zusammenhang mit Fragen von Religion und Menschenrechten übersetzt
(Kap. 6.4.2.1)? Welche Interaktionsbeziehungen waren zudem zwischen den deutschen Medien und islamischen Diskurspartnern (Organisationen, Medien usw.) erkennbar? War die Kulturkommunikation der deutschen Medien auf virtuelle Partner
in der islamischen Welt (oder der globalen muslimischen Gemeinschaft) „koorientiert“ (vgl. Kap. 3.2.4.5.2), und waren die Medien Bestandteil eines inter- bzw.
transkulturellen Dialogs über Fragen der Menschenrechte und der Religion (Kap.
6.4.2.2)? Abschließend wird der gesellschaftliche Ursache-Wirkungs-Zusammenhang der Medienberichterstattung untersucht (Kap. 6.4.2.3): a) Allianzbildungen der
öffentlichen Meinung (vgl. Kap. 3.2.4.1.2), b) journalistische Berufsrollenmodelle
des kulturellen „Mittlers“ (vgl. Kap. 3.2.2) und c) Wirkungspotentiale der Medien im
Hinblick auf internationale wie auch innergesellschaftliche Kulturkonflikte („multikulturelle Gesellschaft“; vgl. Kap. 3.2.4.5.3).
6.4.1 Re-Rekonstruktion und Dekonstruktion I: Salman Rushdie, Menschenrechte und Religion in der deutschen Presse,
1989-95
Das Todesurteil Khomeinis und die Verhängung eines Kopfgeldes für die Tötung
Salman Rushdies im Februar 1989 fanden große Resonanz in der deutschen Presse.
Zeitliche Schwerpunkte der Veröffentlichungstätigkeit waren nach dem Frühjahr
1989 vor allem die Jahrestage des Todesurteils, die von den Medien überwiegend zu
Zwischenresümees genutzt wurden. Die Printmedien widmeten sich in einer Vielzahl
journalistischer Darstellungsformen (z.B. Interviews,540 Buch- und Werksbespre-
538 Udo Steinbach, Irritationen und Spannungen. Die islamische Welt und der Westen in der Gegenwart, in: Jürgen Schwarz (Hrsg.), Der politische Islam. Intentionen und Wirkungen, Paderborn u.a.
1993, S. 127.
539 Christiane Peitz, „Ich habe niemals widerrufen“, taz 16.12.1991.
540 „Ich nehme mir das Recht zu zweifeln“, Zeit 24.2.1989; Der Sündenbock des Fundamentalismus,
Zeit 6.3.1992; „Schweigen wäre Selbstzensur“, Spiegel 11.5.1992; „Der sicherste Ort ist das Licht“,
taz 28.10.1992; Die verzweifelte Angst, nicht islamisch zu sein, FR 29.10.1992; Die RushdieAffäre langweilt mich entsetzlich, Zeit 17.12.1993; „...aber sie tun es nicht“, FR 10.11.1994; Ehre
der Männer..., taz 4.3.1995; Stephan Wackwitz, West-östliche Stricke, Zeit 10.3.1995.
241
chungen,541 Essays,542 Veranstaltungsberichte,543 Personenportraits544) den verschiedenen Aspekten der Thematik (z.B. persönliches Schicksal Salman Rushdies und
politischer Kontext,545 Bedrohung und Ermordung seiner Übersetzer und Verleger,546
Unruhen in verschiedenen Ländern.547) Selbst kleinere mit dem Fall in Zusammenhang stehende Ereignisse wie die Weigerung der Lufthansa, den Autor zu transpor-
541 Rainer Weber, Unter Krawall aus den Fugen, Spiegel 27.2.1989; Bernd Robben, „So war es, so war
es nicht...“, taz 28.2.1989; „Die Welt stimmt vorn und hinten nicht, sie ist plemplem“, FR 1.3.1989;
Verkehrtes Bild, taz 26.5.1989; Felix Grill, Komplimente für Bibiji, HAB 24.10.1989; Stefan Kornelius, Im Kampf gegen die Stille zur Sprache gefunden, SZ 2.10.1990; Susanne Mayer, Wie man
das Glück erfindet, Zeit 14.12.1990; Doris Kilias, Ein modernes Märchen, ND 24.12.1990; Wolfram Schütte, Verteidigung der Bastarde, FR 4.7.1992; Ludger Lütkehaus, Seine Geschichte vorwegnehmen, SZ 15.2.1993; Rushdie ff., FR 24.2.1993; Tilman Spengler, Satanische Milde, DWO
3.3.1995.
542 Salman Rushdie, Ist denn nichts heilig?, F.A.Z. 10.2.1990; ders., Tausend Tage im Ballon, Zeit
3.1.1992; ders., Vier Jahre − und ich lebe noch, Zeit 12.2.1993; ders., Islamische Flüche, Welt
7.8.1993; ders., Sie haben nichts Unrechtes getan, taz 13.7.1994.
543 Schriftstellersolidarität mit Rushdie, taz 11.3.1989; Biermann gegen Schütt, Welt 22.3.1989; Zu
diesem Schlüsselstück hat jeder den Schlüssel, Welt 25.4.1989; Zwei Minuten für das freie Wort,
taz 2.5.1989; Ralf Sotscheck, Bankett der Gotteslästerer, taz 3.8.1989; Gerd Kröncke, Pinter
Sprachrohr für Rushdie, SZ 6.2.1990; Nur kurz tauchte Rushdie auf, Welt 17.9.1991; Jutta Brendemühl, Märchen aus 1003 Nächten, Zeit 22.11.1991; „Madonna hat vermutlich mehr Probleme“,
taz 26.6.1992; Nun doch, SZ 18.5.1994.
544 Thomas Ross, Mitternachtskind, F.A.Z. 17.2.1989; Ulrich Enzensberger, Ein listiger Intellektueller,
Zeit 24.2.1989; Wolfram Schütte, Nachlesen?, F.A.Z. 24.2.1989.
545 Siegfried Helm, „Hiermit informiere ich die stolzen Moslems...“, Welt 16.2.1989; Aufruhr um ein
Buch − Khomeini setzt Kopfgeld aus, HAB 16.2.1989; Khomeinis Aufruf setzt Todesschwadron in
Marsch, Welt 17.2.1989; Kopfgeld steht auf zehn Millionen, HAB 17.2.1989; Neun Millionen
Mark Kopfgeld auf Rushdie, SZ 17.2.1989; Ausweisung iranischer Studenten erwogen, F.A.Z.
18.2.1989; Der Iran zur Begnadigung Rushdies bereit, SZ 18.2.1989; Iran bietet Rushdie Begnadigung an, HAB 18.2.1989; Tod dem Autor der „Satanischen Verse“, Spiegel 20.2.1989; Abkommen
außer Kraft, Welt 22.2.1989; Khomeini wiederholt seine Morddrohung, HAB 20.2.1989; Weizsäcker lehnt Treffen mit Iranern ab, SZ 24.2.1989; London äußert in der Rushdie-Affäre Verständnis
für empörte Moslems, Welt 6.3.1989; Grenzen der Freiheit, taz 13.6.1989; „Diesmal komme ich
nicht raus“, taz 14.2.1990; Burkhard Müller-Ulrich, Das Jahr Rushdie, Zeit 16.2.1990; Ralf Sotscheck, Rushdie sucht den Dialog, Iran bietet Kopfgeld, taz 14.12.1990; Gequältes Weghören,
Spiegel 3.2.1992; Ralf Sotscheck, Britische Regierung im Fall Rushdie untätig, taz 14.2.1992; Ralf
Sotscheck, Rushdie: „Ich kann das überleben“, taz 15.2.1992; Teheran bekräftigt Mordaufruf, FR
15.2.1992; Thierry Chervel, Rushdie: „Schweigen ist immer falsch“, taz 28.10.1992; Endlich: Bewegung?, FR 29.10.1992; Der schon wieder, Spiegel 2.11.1992; Paul Ingendaay, Auf ewig im Ballon?, F.A.Z. 28.11.1992; Ralf Sotscheck, Keine Kompromisse, taz 23.1.1993; Thierry Chervel,
Nicht das einzige Beispiel, taz 10.2.1993; Der Fall Rushdie und die iranische Staatsraison, F.A.Z.
16.2.1993; Peter Nonnenmacher, Rushdie gibt sich nicht geschlagen, FR 16.2.1993; „Ich hasse
ihn“, Spiegel 31.5.1993; Matthias Graetzschel, Salman Rushdie will jetzt aufs Ganze gehen, HAB
25.7.1993; Stefan Kornelius, Die Politik muß reagieren, SZ 11.12.1993; „Die kleinen Nationen
müssen vorangehen“, FR 8.10.1994; Iran mildert Drohung gegen Rushdie, taz 7.6.1995.
546 Werner Raith, Messerstiche für Rushdie-Übersetzer, taz 5.7.1991; Rushdie-Übersetzer ermordet, FR
13.7.1991; Georg Blume, Japanischer Rushdie-Übersetzer tot, taz 13.7.1991; Uwe Schmitt, Angst
vor der Dunkelheit, F.A.Z. 16.9.1991; Hakon Harket, Wir erschießen unsere Verleger nicht, taz
29.1.1994.
547 Proteste gegen Rushdie: 10 Tote, HAB 25.2.1989; London: Demonstration gegen Rushdie, HAB
29.5.1989; Ralf Sotscheck, Neue Proteste gegen Rushdie, taz 26.9.1989.
242
tieren,548 oder eine Kontroverse zwischen Rushdie und dem türkischen Schriftsteller
Aziz Nesin,549 die unter normalen Umständen kaum Beachtung gefunden hätten,
gingen in die Berichterstattung ein, da nach der nachhaltigen Einführung des Themas
die Nachrichtenschwelle niedrig war.
Auf das Rechtsgutachten Khomeinis reagierte die deutsche Presse in der untersuchten Stichprobe mit einer nachhaltigen Hervorhebung des Menschenrechtstopos.
Die Forderung nach einer Garantie der physischen Unversehrtheit Rushdies wurde
mit dem Recht auf Meinungsfreiheit verknüpft. In den Worten Heinrich Heines
ausgedrückt – „Wo Bücher brennen, werden auch Menschen verbrannt“550 – wurden
im Moment der Bedrohung von Grundwerten der demokratischen Gesellschaft
aufklä-rerisch-liberale europäische Erfahrungen reaktiviert. Überschriften wie „Nie
wieder dort, wo wir schon einmal waren“ belegten überdies die Verknüpfung des
Falles Rushdie mit der nationalsozialistischen Vergangenheit.551 Mit der
Menschenrechtsthematik verbunden wurden zeitweise Plädoyers für die freie
Kreativitätsentfaltung der Kunst.552
Als Hinweis auf die Bedeutung der Menschenrechtsfrage im Fall Rushdie kann
die in der deutschen Presse dokumentierte und von ihr zum Teil initiierte Kritik an
Kiepenheuer & Witsch, dem deutschen Verlag Rushdies, betrachtet werden. Der
Verlag, der die Verwertungsrechte für die „Satanischen Verse“ besaß, hatte sich
wegen der Gefahren für seine Mitarbeiter geweigert, Rushdies Werk herauszugeben.
Damit bewegte er sich auf der Linie des Börsenvereins des deutschen Buchhandels,
der ebenfalls vornehmlich diplomatische Maßnahmen gegen Iran gefordert hatte,
ohne eine unmittelbare Beteiligung des Buchhandels an einer regulären Publikation
zuzusagen. Der Literat Hans Magnus Enzensberger bezichtigte Kiepenheuer &
Witsch in einem vielbeachteten Interview, sich „in der verächtlichsten Weise als
Mitläufer“ Khomeinis zu betätigen, forderte andere Autoren zu einem Boykott des
Verlags auf und kündigte eine eigenständige Veröffentlichung für den Fall an, daß
sich die Verlagslinie nicht ändern sollte. Die tageszeitung hob die vergleichsweise
couragierte Haltung des amerikanischen Penguin Ver-lags hervor, der auch nach
Verkündung der fatwa an der geplanten Taschenbuchausgabe festhielt, während sich
Kiepenheuer & Witsch „von den Mullahs in seine Verlagspolitik hereinreden“ ließ.
Ralph Giordano forderte eine kämpferische Verteidigung der Grundrechte.553
548 Wolfgang Gast/Thierry Chervel, Die Feigheit der Kraniche, taz 5.10.1994; Peter Schneider,
Zivilfeigheit, taz 8.10.1994; Kein Bordservice für Rushdie, taz 19.5.1995.
549 Ömer Erzeren, „Schönes Beispiel für Demokratie“, taz 13.2.1993; Man hat mich beleidigt, F.A.Z.
10.7.1993; Simone Sitte, Künftig gemeinsam satanisch, taz 20.8.1993.
550 F. v. Heintze, Wo Bücher brennen..., Welt 24.2.1989.
551 „Nie wieder dort, wo wir schon einmal waren“, HAB 26.7.1989.
552 Theo Sommer, Mannesmut vor Mullah-Thronen, Zeit 24.2.1989.
553 Rolf Paasch, Kann denn Literatur Sünde sein, taz 17.2.1989; „Ich bin für eine offensive Antwort“,
taz 18.2.1989; Rushdie: Verleger kuschen vor Khomeini, taz 18.2.1989; Buchverlage fordern von
Bonn Unterstützung, HAB 21.2.1989; vgl. a. Arno Widmann, Rushdie leert den Bundestag, taz
24.2.1989; Rushdies Verlag erwägt Entschuldigung, SZ 28.2.1989; Rushdies Verse in 50 Verlagen,
HAB 15.3.1989; Rushdie: Die gute Nachricht, taz 15.3.1989; A. Widmann, Zivilcourage und beschränkte Haftung, taz 17.8.1989. Ähnliche Reaktionen des deutschen Feuilletons rief die Zulassung iranischer Verlage zur Frankfurter Buchmesse 1991 hervor, die auf Druck von der Zeit, der
243
Zu einem Streitfall entwickelte sich auch die Vorveröffentlichung der „Satanischen
Verse“ in der deutschen Presse, obgleich bei dieser Frage die Fronten innerhalb der
Printmedien verliefen. Die tageszeitung veröffentlichte Teile des Werkes ohne das
Einverständnis Rushdies und gegen den Widerstand des Verlages Kiepenheuer &
Witsch. Sie kritisierte darüber hinaus die anderen Tages- und Wochenzeitungen für
die Unterlassung der Veröffentlichung, da diese aus ihrer Sicht den probatesten Ausdruck des Rechtes auf freie Meinungsäußerung darstellte.554 Die Zeit reagierte mit
dem Gegenvorwurf des „intellektuellen Fundamentalismus“ und attestierte der tageszeitung eine „Lust am Ausnahmezustand“, die aus Sicht des Hamburger Mediums
nur vordergründig als Einsatz für die Meinungsfreiheit zu bezeichnen war, da sie
sich über das Recht des Autors auf Wahrung seines geistigen Eigentums hinwegsetzte.555
Die Pressekontroverse über die Vorveröffentlichung der „Satanischen Verse“ ist
als ein situationsbedingter Dissens über die Wahl der Mittel zur Verteidigung Rushdies und der Meinungsfreiheitsrechte einzustufen, aus dem keine Rückschlüsse auf
einen grundsätzlichen inhaltlichen Alleingang der tageszeitung gezogen werden
können. „Intellektueller Fundamentalismus“, von Claus Leggewie auch als „Aufklärungsfundamentalismus“ bezeichnet,556 kann dementsprechend auch in der Berichterstattung anderer Presseorgane nachgewiesen werden. Bei der Formulierung der positiven Aspekte der Meinungsfreiheit machten sich deutliche Tendenzen der Stilisierung und mangelnden Differenzierung zwischen Ideal und Realität bemerkbar. Begrenzungen der demokratischen Meinungsfreiheit, die in westlichen Staaten unterschiedlich gestaltet sind und sich etwa in Deutschland auf Rassismus und Antisemitismus oder in den englischen Blasphemiegesetzen auf den Schutz der christlichen
Religion erstrecken, fanden keine Erwähnung. Aus britisch-muslimischen Kreisen
erfolgte insbesondere nach dem Verbot des Anti-Rushdie Films „International Guerillas“557 der Vorwurf der Doppelmoral, da die Muslime selbst keine Möglichkeit
554
555
556
557
244
Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der tageszeitung und dem PEN-Zentrum zurückgezogen wurde.
Vgl. u.a. Jürgen Schultheis, Die Buchmesse läßt wieder iranische Verlage zu, FR 30.8.1991; Politik
des Wegschauens, FR 11.9.1991; Ewiger Spagat, Spiegel 23.9.1991; Vom ethischen Zustand der
Republik, Zeit 26.9.1991; Carmel Bedford, Das dritte Jahr. Ein Arbeitsbericht, taz 9.10.1991.
„Satanische Verse“, taz 22.2.1989. Die tageszeitung wiederholte ihre Vorwürfe gegen den aus ihrer
Sicht unengagierten Journalismus der großen deutschen Feuilletons zu Beginn ihrer Kampagne
„Letters to Rushdie“ (Thierry Chervel, Vorwort des Herausgebers, in: ders. (Hrsg.), „Redefreiheit ist
das Leben“: Briefe an Salman Rushdie. Die taz-Kampagne, München/Zürich 1992, S. 9 f.). Chervel
kritisierte auch das satirische Magazin Titanic, das im März 1992 die „Briefe an Rushdie“ parodiert
hatte und vermutete einen „subtile(n) Rassismus“. Ebenda, S. 7.
Ulrich Greiner, Mut zeiget auch der Mameluck, Zeit 3.3.1989.
Mutig und notwendig, FR 9.10.1993. Vgl. a. Claus Leggewie, Alhambra − Der Islam im Westen,
Hamburg 1993; Reinhard Schulze, Fundamentalistische Argumente von beiden Seiten, in: Das
Parlament 17/1993, S. 11.
Am Rande kritisch kommentiert wurde das im Sommer 1990 erfolgte Verbot des pakistanischen
Films „International Guerillas“ in Großbritannien. Der Actionfilm, in dem Rushdie als Anführer einer internationalen jüdischen Verschwörung am Ende durch einen Laserstrahl Gottes stirbt, wurde
mit dem Hinweis auf die mögliche gewaltfördernde Wirkung und den Schutz der Persönlichkeitsrechte Rushdies verboten, obgleich der Autor selbst gegen die Verbreitung keine Einwände erhob.
Bannstrahl gegen Zelluloid-Rushdie, taz 24.7.1990; Ahmad Taheri, „Rushdie − der gottverdammte
besaßen, ihre Zensurforderungen gerichtlich zu verfolgen. Tatsächlich kam in den
untersuchten Medienbeiträgen eine Tendenz zur Idealisierung der Meinungsfreiheit
und zur Verwendung des Menschenrechtsbegriffs als ideologischem „Kampfbegriff“558 in der Rushdie-Affäre zum Vorschein, ähnlich der Haltung des amerikanischen Schriftstellers Norman Mailer, der im Fall Rushdie Chancen zur kulturellen
Katharsis zu erkennen glaubte: „Khomeini hat uns die Chance geboten, unsere gebrechliche Religion zurückzugewinnen (...) den Glauben an die Macht des Wortes.“559
Die Menschenrechtsfrage wurde von der Boulevardpresse in weitaus geringerem
Maß thematisiert als von der hier überwiegend ausgewerteten überregionalen Abonnentenpresse. Die Berichterstattung von Bild, die sich in den ersten Tagen nach der
Verhängung des Todesurteils über Rushdie vor allem mit persönlichen Fragen und
der Lebensbedrohung des Autors, seiner möglichen Verfolgung durch internationale
Terroristen wie Abu Nidal oder die Infiltration von Todesschwadronen nach Europa
beschäftigt hatte,560 verlor weitaus eher das Interesse an der Berichterstattung als die
„Elitenpresse“, in der eine stärker zu grundsätzlichen – und damit auch abstrakteren –
Fragen neigende Auseinandersetzung über den Fall Rushdie im Kontext der Menschenrechtsfrage stattfand, die für den Boulevardsektor wenig relevant zu sein
schien.
Die Hervorhebung des Menschenrechtstopos in der deutschen Presse beinhaltete
neben der inneren auch eine äußere Dimension, die neben dem Schutz der Grundrechte in Europa auch auf die Universalisierung der Meinungsfreiheit, unter Bezugnahme auf Artikel 19 der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen von
1948, zielte.561 Universalisierung wiederum ging in einer Reihe von Pressebeiträgen
558
559
560
561
indische Bastard“, taz 24.7.1990; „Die Leute kommen gelöst und entspannt aus dem Kino − sie wissen, Gott wird Rushdie strafen“, taz 24.7.1990; Allah und ein Laserstrahl, taz 24.7.1990; Allahs Rache, Spiegel 30.7.1990.
Formulierung entlehnt aus: Der Islam in den Medien (Deutsche Welle), S. 101.
Barbara Ungeheuer, Im Schatten des Teufels, Zeit 17.3.1989.
Größte Menschenjagd der Welt, Bild 22.2.1989; Blüm will Satanische Verse herausgeben, Bild
22.2.1989; Khomeinis Rache, Bild 23.2.1989; Im Herbst die „Satanischen Verse“, Bild 23.2.1989;
Khomeinis Rushdie-Jagd eine Kriegserklärung, Bild 24.2.1989; Rushdie: Das letzte Foto, Bild
24.2.1989; Rushdie: Khomeini-Killer bald bei uns?, Bild 27.2.1989; „Rushdie, wie lange kannst du
dich noch verstecken?“, Bild 27.2.1989.
Die vom International Committee for the Defense of Salman Rushdie and his Publishers (ICDSR) in
London herausgegebene Solidaritätserklärung basierte − ebenso wie der später von einem Kollektiv
gegründete Verlag der deutschen Ausgabe der „Satanischen Verse“ − auf Artikel 19 der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948: „Jeder Mensch hat das
Recht auf freie Meinungsäußerung; dieses Recht umfaßt die Freiheit, Meinungen unangefochten
anzuhängen und Informationen und Ideen mit allen Verständigungsmitteln ohne Rücksicht auf
Grenzen zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten“. Die Erklärung, in Deutschland von der tageszeitung verbreitet, wurde als ein weltweiter Aufruf bezeichnet, wenngleich zu den Unterzeichnern
überwiegend Intellektuelle aus westlichen Staaten einschließlich Osteuropas gehörten, während nur
wenige Vertreter aus islamisch-orientalischen Staaten und der „Dritten Welt“ zu finden waren (Arno
Widmann, Weltweite Kampagne für Rushdie, taz 28.2.1989; Weltweite Erklärung, taz 2.3.1989).
Ein ähnliches geographisches Einzugsgebiet wies die taz-Kampagne „Briefe an Rushdie“ auf, die
seit Februar 1992, dem dritten Jahrestag der fatwa, mit Essays bekannter Literaten und Intellektueller dem Fall Rushdie neue Publizität verschaffte. Die Kampagne wurde in Argentinien, Österreich,
245
mit einer Tendenz zur Polarisierung zwischen westlicher Zivilisation und Islam einher. Während Rushdie selbst seinen Fall als eine Herausforderung durch die islamische Orthodoxie und deren „heilige(m) Krieg gegen den Modernismus“ bezeichnete,562 gingen solche Differenzierungen in einer Reihe der untersuchten Pressebeiträge
verloren, in denen statt dessen von der „Empörung in der westlichen Welt“ (Süddeutsche Zeitung), vom Islam als einer „finsteren Realität“ und „Ideologie des Absoluten“ (Süddeutsche Zeitung), von „fanatischen islamischen Ländern“ (Die Welt), der
Verachtung der Muslime für den säkularisierten Westen (Die Welt), der „ungeheuren
geistigen Kluft (...) zwischen Christentum und Islam“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung) oder vom „millionenfach wirkliche(n) Typus“ des mordbereiten Muslims (Die
Zeit) die Rede war.563
Während manche Beiträge zumindest verbale Unterscheidungen zwischen „Muslimen“ und „Fundamentalisten“ erkennen ließen, blieb zugleich die Annahme einer
fundamentalen Unverträglichkeit von westlicher Zivilisation und islamischer Barbarei als Orientierungsrahmen in den großen überregionalen Zeitungen und Zeitschriften präsent.564 Pointiert formuliert läßt sich festhalten, daß dieser Teil der deutschen
Presse auf den Ausschluß Rushdies aus der islamischen Gemeinschaft (durch Khomeini) seinerseits mit dem Ausschluß des Islam aus der Zivilisationsgemeinschaft
reagierte. Hans Magnus Enzensberger: „Und wenn dem Rushdie auch nur ein Haar
gekrümmt wird, dann wird es sehr teuer für den Islam.“565 Mit umgekehrten Vorzeichen bestätigten verschiedene deutsche Printmedien im Grunde das Selbstverständnis der iranischen Theokratie, wonach der Urteilsspruch Khomeinis für die Muslime
insgesamt repräsentativ war.
Probleme der Menschenrechte wurden zum Teil mit Blick auf die Entwicklung
einer multikulturellen Gesellschaft erörtert. Theo Sommer von der Wochenzeitung
Die Zeit stellte die Frage, wie eine Gesellschaft ihre Identität bewahren könne, in der
muslimische Einwanderer die Prinzipien der Toleranz konterkarierten: „Wie können
562
563
564
565
246
Belgien, Brasilien, Kanada, Dänemark, Frankreich, Griechenland, Ungarn, Irland, Israel, Italien,
Norwegen, Portugal, Rußland, Spanien, Schweden, Schweiz, Großbritannien, USA und Jugoslawien
übernommen. Vgl. Frances D’Souza, Intro-duction, in: Steve McDonogh (Hrsg.), The Rushdie Letters. Freedom to Speak, Freedom to Write, Dingle 1993, S. 9-12.
Rolf Paasch, „Alles ist vom Zweifel durchdrungen“, taz 17.2.1989.
Trotz Entschuldigung Rushdie weiter in Gefahr, SZ 20.2.1989; Fabian Blau, Blasphemie oder die
Krise des Glaubens, SZ 25./26.2.1989; Siegfried Helm, Zwischen Asien und Europa − die Geburt
Satanischer Verse, Welt 18.2.1989; Thomas Ross, Der Streit um die „Satanischen Verse“ zeigt die
tiefe Kluft zwischen Islam und Christentum, F.A.Z. 22.2.1989; Jürgen Krönig/Kuno Kruse/Reinhard Merkel/Bernhard Robben/Ulrich Tilgner, Tod dem Dichter des Satans, Zeit 24.2.1989.
Eine „Mittelalterthese“ untermauerte diese scheinbare Dichotomie. Demnach ließ sich der Kontrast
zwischen westlicher Liberalität und islamischer Intoleranz und Repression durch das mehr als 600
Jahre spätere Gründungsdatum des Islam erklären, wodurch ein Entwicklungsrückstand entstanden
sein sollte, der die islamische Gegenwart auf eine Ebene mit dem europäischen Mittelalter stellte
(Helm, Zwischen Asien und Europa, a.a.O.). Eine derart einfache Wachstumsanschauung war weder in der Lage, den kulturellen Vorsprung des islamischen Orients während des europäischen Mittelalters noch den tatsächlichen Stand der Denk- und Verhaltensweisen in zeitgenössischen orientalischen Gesellschaften, d.h. vor allem die Koexistenz von antiquierter religiöser Orthodoxie mit modernen Institutionen, zu erklären.
„Ich bin für eine offensive Antwort“, a.a.O.
wir in einer Welt, in der jeder gedungene Mörder sein Ticket zum Tatort kaufen
kann, wo auch in unserem Lande die Ableger vieler fremder Kulturen Wurzeln geschlagen haben, die eigenen Werte bewahren?“566 Die rechtskonservative Tageszeitung Die Welt betrachtete den Fall als Beweis für das Nichtfunktionieren der multikulturellen Gesellschaft, wo diese nicht einem nachdrücklichen Assimilierungsdruck
ausgesetzt wurde, um die „Fremdheit zwischen den Kulturen“ zu überwinden.567
Auf die in der deutschen Presse, selbst in ihrem linksliberalen und liberalen
Spektrum, erkennbare Tendenz einer verallgemeinernden Polarisierung zwischen
westlich fundierter Meinungsfreiheit und islamischer Restriktion reagierten eine
Reihe von namhaften Intellektuellen, zumeist orientalischer Herkunft, mit Kritik.
Vorgeworfen wurde der westlichen Intelligenz eine Wiederbelebung des abendländischen Kulturkreisdenkens (wie es einige Jahre später bei Samuel Huntington formuliert wurde; vgl. Kap. 3.1.1). Statt sich auf pragmatische Weise für Rushdies Leben
und Meinungsfreiheit und gegen Khomeini einzusetzen, so der Vorwurf, förderte die
ideologiebetonte Debatte Vorurteile in der deutschen Bevölkerung gegenüber Islam
und Muslimen. Bahman Nirumand: „Daß aber gerade Intellektuelle, darunter auch
die, die über jeden Verdacht rassistischer Befangenheit erhaben sind, einem Eurozentrismus unterliegen und sich genötigt sehen, künstliche Grenzen zu ziehen und,
wie sie es vorgaben, die europäische Zivilisation gegen die islamische Barbarei – so
wurde es nicht gesagt, aber gemeint – zu verteidigen, gibt Anlaß zu Befürchtungen.
(...) Das bedeutet nicht, daß man die Barbarei nicht deutlich beim Namen nennen
sollte. Khomeinis Mordaufruf entstammt einer Welt der Barbarei, aber auch Rassismus und Fremdenhaß, die in manchen Kreisen, Gruppen und Parteien Europas immer deutlicher gepredigt werden, oder die zahlreichen Anschläge gegen Flüchtlinge
kann man schwerlich als Ausdruck von Zivilisation bezeichnen.“568
Die Diskussion über die Rolle des Menschenrechts- und Meinungsfreiheitstopos
in der deutschen Presseberichterstattung der Jahre 1989 bis 1995 bedarf einer differenzierten Eingrenzung der Thematik. Sowohl die Verurteilung des Mordaufrufs und
der Kopfgeldverhängung gegen Salman Rushdie als auch die Verteidigung der Meinungsfreiheitsrechte gegen Zensurbestrebungen basierten auf verfassungsmäßigen
Grundrechten der Bundesrepublik Deutschland. Die Hervorhebung der Menschenrechte kann als eine berechtigte Abwehrreaktion gegen die Interzessions- und Interventionsversuche des Ajatollah Khomeini betrachtet werden.
566 Sommer, Mannesmut, a.a.O.; vgl. a. Hans-Herbert Gaebel, Pfeil ins Dunkel, FR 25.2.1989; Ulrich
Greiner, Wider den Kulturrelativismus, Zeit 5.6.1992.
567 Dankwart Guratzsch: „Nun sehen all jene, die soviel Fleiß, Ehrgeiz und Idealismus aufgeboten
hatten, einer ‘multikulturellen Gesellschaft’ gegen alle Warnungen und Erfahrungen den Weg zu
bahnen, ihr Leitbild zerfallen. (...) Der Islam kennt Formulierungen des Menschenbildes, die nicht
‘Relikt des Mittelalters’, sondern lebendige Wirklichkeit des Koran sind und die den Bannspruch
gegen den ‘abtrünnigen Dichter’ verständlicher machen (...).“ Dankwart Guratzsch, Rushdie und
die Multikultur, Welt 20.3.1989.
568 Bahman Nirumand, Die Affäre Rushdie und die europäische Zivilisation, taz 6.5.1989; vgl. a.
Karam Badra, Wie der Westen nur Khomeini helfen würde, Welt 4.3.1989; Wolfgang Köhler, Wird
der Geist der Kreuzzüge neu belebt?, F.A.Z. 29.3.1989; Ahmad Taheri, Den Islam gibt es nicht, taz
28.4.1990; Mutig und notwendig, a.a.O.
247
Problematisch gestaltet sich hingegen der globale Komplex der Thematik: die deutliche Tendenz zur Dichotomisierung zwischen einer nicht menschenrechtskonformen
„islamischen“ und einer menschenrechtsorientierten „westlichen“ Haltung. Die Dekonstruktion entsprechender Medienbilder kann in zwei Bereichen erfolgen:
• theologische und religionsrechtliche Beziehungen zwischen Islam und Menschenrechten
• zeitgenössische Öffentlichkeitsreaktionen in islamischen Ländern auf den Fall
Rushdie.
Für eine Beurteilung der islamischen Haltung zum Fall Rushdie muß zwischen den
verschiedenen Auslegungsebenen des Koran, der Traditionen (Sunna), der Rechtsprechung (fikh) und deren praktischer Anwendung durch die islamische Gelehrtenschaft unterschieden werden. Bei Rushdies Roman „Satanische Verse“ können aus
islamischer Sicht verschiedene theologisch-rechtliche Grundkategorien zur Anwendung kommen, wobei bis heute nicht eindeutig geklärt ist, welche von Khomeini
intendiert waren: Apostasie (irtidad; Apostat: murtadd) oder – vor allem nach malikitischer und schafiitischer Lesart – Gotteslästerung (sabb: Lästern Gottes oder eines
Propheten). Der Koran sieht für Apostasie keine diesseitigen Strafen vor und spricht
lediglich von den durch den Zorn Gottes verursachten Strafen nach dem Tod (Sure
III, 80 ff.; vgl. a. II 214, IV 136, V 59, IX 67).569 Die Behauptung des Korrespondenten der Frankfurter Rundschau, Peter Greiner, Mohammed kenne im Koran für
Apostasie „keine Gnade“,570 ist dementsprechend nicht belegbar. Der Koran kann
ganz allgemein als Belegfundus für alle maßgeblichen Freiheitsrechte, u.a. für das
Recht auf Meinungs- und Redefreiheit, betrachtet werden, da eine große Anzahl von
Koranversen entsprechende Rechte offerieren.571 Das Element der Todesstrafe für
Apostasie erscheint erstmals in einer Reihe von Traditionsschriften. Mohammed soll
demnach Strafen von der Verbannung bis zu Kreuzigung und Verbrennung für Apostaten empfohlen haben. Unterschiedliche Traditionen weisen in widersprüchlicher
Weise darauf hin, daß einem reuigen Apostaten entweder verziehen oder nicht verziehen werden könne.572 Einstimmigkeit hinsichtlich der Verhängung der Todesstrafe
für Apostasie herrscht lediglich im fikh. Mit dem Tod werden in der islamischen
Rechtsprechung außer der Apostasie auch natürliche und widernatürliche Unzucht,
Zauberei und das Lästern Gottes oder seiner Propheten geahndet.573
569 Vgl. Stichwort „murtadd“ in M.Th. Houtsma/A.J. Wensinck/W. Heffening/H.A.R. Gibb/E. LéviProvencal (Hrsg.), Enzyklopädie des Islam. Geographisches, ethnographisches und biographisches
Wörterbuch der muhammednischen Völker, Bd. III, Leiden 1936, S. 795. Zur islamischen Rechtsprechung vgl. Rudolph Peters/Gert J.J. De Vries, Apostasy in Islam, in: Welt des Islam 17/1976/77,
S. 1-25.
570 Peter Greiner, Schweigen zum Schuldspruch aus Teheran, FR 27.2.1989.
571 Sigrid Faath/Hanspeter Mattes, Demokratie und Menschenrechte im islamischen politischen Denken, in: dies., (Hrsg.), Demokratie und Menschenrechte in Nordafrika, Hamburg 1992, S. 38; Munir
D. Ahmed, Der Islam und sein Bild der menschlichen Gesellschaft, in: Bernd Rill (Hrsg.), Aktuelle
Profile der islamischen Welt, München 1998, S. 27-37.
572 Enzyklopädie des Islam, Bd. III, S. 795 f.
573 Ebenda, S. 796 f.
248
Heribert Busse hat darauf hingewiesen, daß entgegen der verbreiteten Annahme,
Khomeinis Dekret sei eine Antwort auf Rushdies Apostasie, der Ajatollah ursprünglich ein anderes Delikt bestraft sehen wollte: die Beleidigung des Islam.574 Tatsächlich ist es dieser Aspekt, der von Khomeini ausdrücklich erwähnt wird. Sabb könnte
im Fall Rushdie rechtlich auch dann zur Anwendung kommen, wenn der Autor nicht,
wie zum Teil angeführt worden ist, als Muslim eingestuft wurde, was Apostasie a
priori ausschließen würde. Schließlich ist sabb auch auf Nichtmuslime, also auf die
von Khomeini erwähnten Verleger Rushdies, anwendbar.
Stellt man die schriftkundlichen Interpretationen den faktischen Reaktionen muslimischer Gelehrter und islamischer Institutionen auf die „Satanischen Verse“ gegenüber, so ist festzustellen, daß Khomeinis fatwa überwiegend in nichtarabischen Ländern wie Pakistan und Indien Beachtung fand, was vor allem mit der besonderen
Stellung des Propheten Mohammed in diesen Ländern zu erklären ist. Mohammed,
der nach Auffassung vieler Kritiker Rushdies in den „Satanischen Versen“ etwa
dadurch verunglimpft wird, daß seine Frauen in einer Traumsequenz als Huren auftreten, ist als Vorbild des tugendhaften Lebens personifizierte Verkörperung des
rechtsgeleiteten Islam, wohingegen die arabischsprachige Glaubenslehre (Koran,
Sunna, fiqh) in den Hintergrund rückt. In den arabischen Ländern hingegen fand
Khomeini nur bei radikalen Gruppierungen wie der Iran-orientierten schiitischen
Hizbollah oder dem radikalen ägyptischen Fundamentalisten Umar Abd ar-Rahman
Unterstützung. In Saudi-Arabien wurde gefordert, Rushdie vor ein Gericht zu stellen,
da kein Urteilsspruch ohne rechtsgültiges Urteil zulässig sei. Der Leiter des wichtigsten Zentrums der sunnitischen Lehre, der Azhar-Universität, betonte die Notwendigkeit der Veröffentlichung eines Werkes, das Rushdie wider-legte.575
Insgesamt ergibt sich ein heterogenes Bild islamischer Haltungen zum Fall Rushdie und zu Menschenrechtsfragen.576 Auch von Menschenrechtsaktivisten in der
islamischen Welt wird der koranische Islam – im Gegensatz zum weitaus repressiveren Sharia-Recht577 – häufig als Quelle zur Definition von Menschenrechten heran574 Heribert Busse, Salman Rushdie und der Islam, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht
4/1990, S. 193-215.
575 Reinhard Schulze, Folgen der Affäre Salman Rushdie, in: Ulrich Haarmann (Hrsg.), Geschichte der
arabischen Welt, München 1994 (3. u. erw. Aufl.), S. 601 f.; Arnold Hottinger, Die schwierige Koexistenz von Orient und Okzident. Die Hintergründe der Rushdie-Affäre, in: Europa-Archiv 44
(1989) 6, S. 171.
576 Vgl. a. Lorenz Müller, Islam und Menschenrechte. Sunnitische Muslime zwischen Islamismus,
Säkularismus und Modernismus, Hamburg 1996; Heiner Bielefeldt, „Schwächlicher Werterelativismus“? Zur Notwendigkeit des interkulturellen Dialogs über die Menschenrechte, in: Kai Hafez
(Hrsg.), Der Islam und der Westen. Anstiftung zum Dialog, Frankfurt 1997, S. 56-66; Kai Hafez,
Interkultureller Dialog mit dem Islam über die Menschenrechte? Ein Plädoyer für ein transkulturelles Universalitätsverständnis, in: Kulturelle Unterschiede, Menschenrechte und Demokratie, Kongreß der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Philosophisch-Politischen Akademie am 22./23. Oktober
1997 in Bonn, Bonn 1998, S. 61-69.
577 Als Kernbereiche des Widerspruchs zwischen der Sharia und internationalen Menschenrechtsabkommen gelten überwiegend 1.) die rechtliche Stellung der Frau, 2.) die Stellung von Minderheiten
und 3.) die Körperstrafen (hudud-Strafen). Carsten Jürgensen, Demokratie und Menschenrechte in
der arabischen Welt. Positionen arabischer Menschenrechtsaktivisten, Hamburg 1994, S. 121-133.
249
gezogen, zugleich jedoch wird betont, daß der Menschenrechtsschutz einer positivrechtlichen Formulierung bedarf. Ein lediglich sporadisches Rekurrieren auf die
humanitären Grundlagen des Islam steht im Gegensatz zur westlichen Auffassung
von der Notwendigkeit verbindlich kodifizierter, vorstaatlicher Individualrechte und
bestätigt den instabilen, „appellativen“ (Kühnhardt)578 Charakter der Menschenrechte im Islam. Grundsätzlich ist zu unterscheiden zwischen den humanitären Grundlagen der Menschenrechte, die, laut Gesine Schwan, „universalen Impulsen“579 entstammen, und der Entstehung des Menschenrechtsbegriffs bzw. der positiv-rechtlichen Kodifizierung der Menschenrechte, die erstmals im okzidentalen Raum vollzogen wurde.580 In der untersuchten deutschen Presseberichterstattung über den Fall
Rushdie wurde gleichwohl zwischen beiden Aspekten der Menschenrechtsproblematik nicht unterschieden, sondern Menschenrechte und Meinungsfreiheit wurden als
eine Errungenschaft der westlichen Zivilisation und als ein westlicher Universalisierungsauftrag aufgefaßt.
Deutsche Pressebeiträge, die von einem Gegensatz Islam/Westen in Menschenrechtsfragen ausgingen, ließen weder erkennen, daß sie über die Unterschiede in den
Reaktionen der Gelehrtenschaft informiert waren, noch spiegelten sich in nennenswertem Umfang Reaktionen von Politik und Öffentlichkeit in islamischen Ländern in
den deutschen Medien. Die 18. Konferenz der islamischen Außenminister im März
1989 in Riad beispielsweise verurteilte zwar die „Satanischen Verse“, äußerte sich
jedoch nicht zur Person Rushdies oder zum Urteilsspruch Khomeinis, worin vor
allem eine Distanzierung von westlich-iranischen Konfliktstellungen zum Ausdruck
kam.581 In der deutschen Auslandsberichterstattung waren solche und ähnliche politische Positionen nur am Rande vertreten.582 Dies war um so erstaunlicher, als die
Ambivalenz zwischen der Unterstützung eines Publikationsverbots der „Satanischen
Verse“ einerseits und der passiven – zum Teil auch aktiven – Ablehnung des Todesurteils Khomeinis andererseits das eigentliche Signum der öffentlichen Meinung in
der islamischen Welt, zumindest außerhalb des indischen Subkontinents und Irans,
darstellte.583 Wenn in der untersuchten deutschen Presse überhaupt auf die öffentli-
578 Ludger Kühnhardt, Die Universalität der Menschenrechte, Bonn 1991 (2., überarb. u. erw. Aufl.),
S. 142-157.
579 Gesine Schwan, Internationale Menschenrechtspolitik, in: Wichard Woyke (Hrsg.), Handwörterbuch Internationale Politik, Bonn 1986, S. 215.
580 „Petition of Rights“ (1628); „Habeas Corpus“ (1679); „Bill of Rights“ (1689); „Virginia Bill of
Rights“ (1776); „Declaration of Independence“ (1776); „Déclaration des Droits de l’ Homme et du
Citoyen“ (1789); „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ der Vereinten Nationen (1948).
581 Schulze, Folgen der Affäre, S. 601 f.
582 Beate Seel, Der selbsternannte Richter isoliert sich, taz 21.2.1989; Nicht Sprecher aller Moslems,
FR 24.2.1989; Soll Rushdie vor islamisches Gericht?, Welt 27. 2. 1989; Islamische Außenminister
verdammen Salman Rushdie, Welt 18.3.1989; Günter Lerch, Teilerfolg Teherans auf Außenministerkonferenz in Riad, F.A.Z. 21.3.1989.
583 Kai Hafez, Transcultural Communication and the Antinomy between Freedom and Religion. A
Comparison of Media Responses to the Rushdie Affair in Germany and the Middle East, in: Joel
Thierstein/Yahya Kamalipour (Hrsg.), Religion, Law and Freedom: A Global Perspective, Westport,
CT 2000, S. 177-192; James P. Piscatori, The Rushdie Affair and the Politics of Ambiguity, in: In-
250
che Meinung in islamischen Ländern verwiesen wurde, dann wurde die geringe Solidarität mit Rushdie kritisiert.584 Die tatsächlich erfolgten Solidaritätsadressen der
islamisch-orientalischen Intelligenz fanden in der deutschen Presse nur ein geringes
Echo. Schon im März 1989 hatten 42 Künstler und Intellektuelle in Syrien, unter
ihnen Sadiq al-Azm, Khomeinis Regime als tyrannisch und religionsschädigend
bezeichnet. 1993 erschien ein Sammelband mit Beiträgen von mehr als hundert namhaften arabischen Intellektuellen, die sich für Rushdie einsetzten.585
Im Vergleich zu den Menschenrechten fand in der deutschen Presse eine Debatte
über Religion nur am Rande statt. Die Anstoß erregenden Passagen der „Satanischen
Verse“, in denen etwa Prostituierte die Namen der Frauen Mohammeds tragen, Männer im Inneren des Bordellhofes kreisten wie um die Kaaba in Mekka, Mohammed
mit dem abendländisch-mittelalterlichen Schimpfnamen „Mahound“ bedacht wurde
oder die „Satanischen Verse“ als Mittel zur Kritik des koranischen Offenbarungscharakters herangezogen wurden, führten seit 1988 in verschiedenen Ländern zu Unruhen, öffentlichen Protesten und dem Verbot des Buches. Das Werk hatte, so behaupteten seine Kritiker, zur gleichen Zeit die wichtigsten Schutzzonen des Islam, die
Offenbarung Gottes und die moralische Integrität der Person Mohammeds, verletzt.
Die Tatsache, daß Khomeini erst 1989 in Reaktion auf öffentliche Proteste sein Todesurteil verkündete, weist auf die Existenz eines von persönlichen und politischen
Interessen des Ajatollahs unabhängigen Kulturkonflikts, der allerdings – zumindest
mit Blick auf die breite Öffentlichkeit in den meisten islamischen Ländern – anders
zu definieren wäre, als dies in weiten Teilen der deutschen Presse geschah; nicht als
Konflikt zwischen westlichem Lebensschutz gegen islamische Willkür im Umgang
mit der physischen Unversehrtheit des Individuums (dafür war die Unterstützung für
die fatwa Khomeinis zu begrenzt) und auch nicht als Unvereinbarkeit zwischen einer
westlichen Kultur der individuellen Freiheit mit einer repressiven, generell gegen
Freiheitsrechte gewandten Religion (dafür sah insbesondere der Koran zu viele Freiheitsrechte vor), sondern als einen begrenzten Konflikt über die Zurücknahme von
Freiheiten oder Freiheitsrechten im Fall „blasphemischer“ Angriffe auf die Religion.
Proteste, Unruhen und religiös motivierte Empörung fanden nur am Rande Eingang in die Berichterstattung der deutschen Presse. Die Hinweise auf Protestaktivitäten beschränkten sich überwiegend auf die Wiedergabe faktischer Vorgänge, ohne
auf Argumentationen, regionale oder historische Hintergründe des Geschehens einzugehen. Die Thematik von Blasphemie oder Kulturbedeutung der Religion war ein
Nebenschauplatz, dem sich kaum ein Beitrag der deutschen Presse zwischen 1989
und 1995 zuwandte.586 Für eine begrenzte Resonanz in der deutschen „Elitenpresse“
ternational Affairs 66 (1990) 4, S. 767-789; Rainer Freitag, Reaktionen in der Türkei auf die Salman-Rushdie-Affäre, in: Orient 30 (1989) 3, S. 427-438.
584 Wole Soyinka, Heiliger Krieg für Satanische Verse, taz 26.5.1989; Achmed Taheri, Ein bloßer
Unsinn, taz 13.3.1993; Hassouna Mosbahi, Die verratene Tradition, Zeit 11.2.1994; Herbert Mainusch, Wieviel Freiheit braucht die Kritik?, Welt 14.2.1994.
585 Pour Rushdie, Editions La Découverte, Paris 1993.
586 Ausnahmen waren: Gegen die Verhöhnung des Islam, FR 25.2. 1989; Siegfried Helm, Schadensbegrenzung, Welt 1.3.1989; Fritz Steppat, Der Islam trug viel zu Europas Aufklärung bei, taz
24.2.1989; Jochen Hieber, Klage über den abwesenden Gott, F.A.Z. 24.2.1990. Das Thema der reli-
251
sorgte dabei das 1992 veröffentlichte Werk „Erben des Hasses“ von Richard Webster, in dem der Autor die westliche Reaktion auf den Fall Rushdie in die christliche
Tradition der Kreuzzüge und der protestantischen Intoleranz gegenüber fremden
Religionen stellt. Die Theologie Luthers oder Calvins, so Webster, zielte zwar auf
eine Befreiung von der katholischen Dogmatik, ordnete den Menschen jedoch den
Interessen einer höheren Autorität unter, die keineswegs individualistisch zu interpretieren war, so daß alle gegen die Autorität der christlichen Religion gerichteten
Regungen einer scharfen Polemik ausgesetzt wurden, die sich bis heute in „repressiven Denkmustern“ und – etwa im Fall Großbritanniens – in Blasphemiegesetzen
niederschlagen, die in regelmäßigen Abständen zur Indizierung und Zensierung von
Kunstwerken führen. Der aufgeklärte Liberalismus, so argumentiert Webster weiter,
entwickelte seinerseits Widerstände gegen die religiöse Repression und wurde gegenüber religiösen Gefühlen tendenziell immun und ignorant.587
Übertragen auf den Fall Rushdie bedeutet Websters Argumentation, daß sich eine
außereuropäische Religion wie der Islam im westlichen Kulturraum in einem soziokulturellen „Niemandsland“ bewegt: Sie wird einerseits von den christlichen Blasphemiegesetzen und informellen gesellschaftlichen Tabuisierungen nicht geschützt,
während sie andererseits von religionsfeindlichen Strömungen des säkularistischen
Liberalismus als ein scheinbar restriktives Kultursystem abgelehnt wird. Diese Sonderstellung der außereuropäischen Religion im öffentlichen Ansehen kam in der
Medienberichterstattung insbesondere in der Zurückweisung des „Kulturrelativismus“ zum Ausdruck. Eine Erörterung von Religionsfragen stand demnach im Widerspruch zum universalen Anspruch der Menschenrechte.588 Diese Argumentation
allerdings kann sich nur auf das Todesurteil Khomeinis gegen Rushdie, nicht jedoch
auf die Blasphemiefrage generell erstrecken, denn es gibt auch innerhalb des christlich geprägten Kulturraums gesetzliche Sanktionen gegen Blasphemie (z.B. englische Blasphemiegesetze), und in Ländern wie Deutschland fällt die „Beleidigung“
des christlichen Glaubens in den Wirkungsbereich der ethischen Selbstkontrolle der
deutschen Presse (durch den Deutschen Presserat). Anläßlich des sogenannten Kruzifix-Urteils (BVerfG 1995) beispielsweise, das dem Bayerischen Staat die staatliche
Anordnung zur Befestigung christlicher Symbole in Schulen untersagte, beschwerte
sich der Deutsche Presserat (auf Ersuchen der Katholischen Deutschen Bischofskonferenz) über den Begriff „Balkensepp“ für den gekreuzigten Jesus in einem Beitrag
der tageszeitung mit folgender Begründung: „Nach Überzeugung des Ausschusses
wird durch die Bezeichnung „Balkensepp“ das Kreuz als Kernsymbol des christlichen Glaubens der Lächerlichkeit preisgegeben und ist geeignet, das religiöse Empfinden von Christen wesentlich zu verletzen.“589 Hier wird deutlich, daß Forderungen
nach einer Debatte über die öffentliche Stellung und den Schutz islamischer Symbole
giösen Verletzung wurde ebenfalls nachhaltig vom Spiegel in einem Interview mit Salman Rushdie
thematisiert: „Schweigen wäre Selbstzensur“, a.a.O.
587 Richard Webster, Erben des Hasses. Die Rushdie-Affäre und ihre Folgen, Aus dem Englischen von
Irene Rumler, München 1992, S. 25 f., 33, 41.
588 Greiner, Wider den Kulturrelativismus, a.a.O.
589 Balkensepp! Keine Satire!, taz 5.1.1996.
252
in den deutschen Medien zum Teil mit einem vereinfachten Konzept des „Kulturrelativismus“ zurückgewiesen wurden, das keine Differenzierungen etwa dergestalt vorsah, daß eine Einschränkung von Lebensrechten abgelehnt, ein mit dem Christentum
gleichberechtigter Schutz des Islam jedoch befürwortet worden wäre.590
Problematisch war das erkennbare Konzept des Kulturrelativismus, weil selbst in
liberalen Pressesegmenten aus dem Fall Rushdie kompromißlose Lehren und negative Prognosen für die multikulturelle Gesellschaft gezogen wurden: „Nathans Weisheit [die Ringparabel in „Nathan der Weise“/K.H.] hilft uns offensichtlich nicht
weiter. (...) Ein Roman, der heute geschrieben wird, kann morgen in der ganzen Welt
gelesen werden; und eine Sippe asiatischer Moslems, die gestern noch in der Steppe
nomadisierte, kann sich heute schon in einem Container-Dorf am Rand von Oberammergau wiederfinden. (...) (W)ir, die wir die multikulturelle Gesellschaft loben
(...), vergessen, daß es nicht um Pizza und Moussaka geht, sondern um Schador und
Fatwa. Die Frage ist, von welchem Augenblick an wir unsere kulturelle Identität als
gefährdet betrachten müssen.“591
Das Problem wurde von einem Teil der Presse erkannt, wie folgende redaktionelle Einleitung eines Webster-Textes in der Süddeutschen Zeitung verdeutlicht: „Die
barbarische Morddrohung gegen den Schriftsteller Salman Rushdie, ausgesprochen
vom Ayatollah Khomeini vor drei Jahren, besteht weiterhin. Der britische Autor
Richard Webster zeigt in einem intelligent geschriebenen Buch, daß zwar nicht die
Morddrohung, aber doch das Gefühl der Blasphemie auf seiten der Muslime verständlich ist. In unserer scheinbar liberalen Gesellschaft hat die Verleumdung anderer Religionen Tradition: im Antisemitismus seit Jahrhunderten, neuerdings in einem
aggressiven Anti-Islamismus.“592
6.4.2 Dekonstruktion II: Transkulturelle Kommunikation im
Fall Salman Rushdie
Die Tatsache, daß der Islam erst mit der Iranischen Revolution von 1978/79 und dem
Aufschwung des politischen Islam zu einem bedeutsamen Topos der Auslandsberichterstattung deutscher Presseorgane wurde, hat deutlich gemacht, daß das Hauptaugenmerk der überregionalen Presse nicht auf religiös-kulturellen, sondern auf
politischen Entwicklungen des Islam liegt (Kap. 5.1.2). Im folgenden wird erörtert,
wie eine auf politische Fragen ausgerichtete Presselandschaft eine Thematik wie die
Rushdie Affäre behandelt und kommentiert, die ein hohes Maß an religiös-kultureller
590 Iain Hampsher-Monk argumentiert, daß die tatsächlich bestehende Ungleichheit hinsichtlich der
„Blasphemie“-Frage in England nicht allein durch eine gleichberechtigte Einführung von Blasphemiegesetzen, sondern auch durch die allgemeine Abschaffung solcher Gesetze gewährleistet würde.
Iain Hampsher-Monk, Salman Rushdie, the Ayatollah and the Limits of Toleration, in: Anoushiravan Ehteshami/Manshour Varasteh (Hrsg.), Iran and the International Community, London/New
York 1991, S. 171.
591 Greiner, Wider den Kulturrelativismus, a.a.O.
592 Einleitung zu Richard Webster: Nachdenken mit einer Pistole an der Schläfe, SZ 15.2.1992.
253
Kompetenz verlangt und einen Grenzbereich von Politik- und Kulturberichterstattung darstellt.
6.4.2.1 Menschenrechte und Religion als Gegenstände transkultureller Vermittlungsleistungen der Presse
Im Zusammenhang mit der Stellung der transkulturellen Kommunikation im Rahmen
der Theorie der Auslandsberichterstattung (vgl. Kap. 3.2.4.5) ist verdeutlicht worden, daß die Massenmedien im Prozeß der transkulturellen Kommunikation eine
zentrale Position einnehmen und daher über ein hohes Steuerungspotential im Bereich der Kulturkommunikation verfügen. Journalisten besitzen eine gesellschaftlich
bedeutsame Funktion als „systemverbindende Kommunikatoren“593 – wobei es sich
beim derzeitigen Stand der internationalen Medienkommunikation um sporadische
Vernetzungen, nicht jedoch um Systeminterdependenz handelt (vgl. Kap. 3.2.4.2.3).
Ein Teil ihrer Funktion (Inhaltsebene) besteht aus der En-/Dekodierung kultureller
Zeichensysteme verschiedener Sprachen, Werte usw., wobei sie neben Auswahl,
Übermittlung und Konstituierung der öffentlichen Meinung der eigenen Kultur auch
die Aufgabe besitzen, manifeste oder latente Botschaften von Fremdkulturen zu
erfassen. In der Regel verlangt die Auslandsberichterstattung nicht allein sprachliche,
sondern vielmehr auch kulturelle Übersetzungen zwischen zahlreichen Symbolen,
Diskursen und Interpretationen, die den Journalisten zum Bestandteil einer Enkodierung-Dekodierungs-Kette von der Fremdkultur über die Medien zum Nutzer der
Auslandsberichterstattung werden läßt. Dabei wählt der Journalist zwischen verschiedenen Konzepten der kulturellen Bedeutungsinterpretation – etwa essentialistischen oder synkretistischen Konzepten. Jedes dieser Konzepte bedeutet, in Anlehnung etwa an Stuart Hall, eine Einschränkung der strukturellen Polysemie kultureller
Zeichensysteme. Solche Kanalisierungsleistungen der Medien sind im Prinzip unvermeidlich, können jedoch theoretisch dekonstruiert und durch Reflexion in jedem
Einzelfall erweitert und verändert werden.
Im Fall Salman Rushdie ist erkennbar, daß essentialistische Kulturauffassungen
im deutschen Pressediskurs nachhaltig präsent waren; synkretistische Deutungen
können hingegen nicht nachgewiesen werden. Hervorgehoben wurden kulturelle
Unterschiede zwischen den Menschenrechtsverständnissen und damit profunde Wertedifferenzen zwischen der westlichen und der islamischen Kultur. „Transkulturelle
Kommunikation“ im Sinne einer Interpretation kultureller Symbolik aus der Perspektive einer kulturübergreifenden Werteperspektive fand nicht statt, obwohl sie sich auf
mehreren Ebenen angeboten hätte:
• Khomeinis Todesurteil fand in der islamischen Welt überwiegend bei schiitischen (oder anderen radikalen) Gefolgsgruppen Zuspruch. Gegenüber diesen
593 Horst Reimann, Strukturierung einer Welt-Informations-Ordnung, in: Horst Reimann (Hrsg.),
Transkulturelle Kommunikation und Weltgesellschaft. Zur Theorie und Pragmatik globaler Interaktion, Opladen 1992, S. 343.
254
Gruppen war ein kultureller Unterschied zum Westen insofern manifest, als das
Todesurteil als Strafe für Blasphemie/Apostasie eine Verhaltensdisposition der
frühen europäischen Moderne in Zeiten der Inquisition darstellt. In der zeitlichen
Versetztheit kam zwar kein „kultur-dauernder“, jedoch ein „kultur-epochaler“
Unterschied (vgl. Kap. 3.1.1) zur Geltung, der allerdings nur gegenüber dem kulturellen Subsystem des islamischen Radikalismus (einschließlich bestimmter Sharia-gestützter Rechtssysteme wie in Iran oder Saudi-Arabien), nicht jedoch gegenüber dem Islam als solchem geltend gemacht werden konnte. Weder der orthodoxe Islam der sunnitischen Rechtsgelehrtenschaft (z.B. Al-Azhar) noch modernistische Islamauffassungen, die die Sharia im 20. Jahrhundert nicht mehr
nach dem klassischen Strafkanon ausgelegt hatten, noch modernistische Islamrichtungen, die anstelle des Sharia-Rechts eine modernen Bedürfnissen der Menschenrechte angepaßte Koraninterpretation anstreben, fügten sich in kulturelle
Dichotomien wie die, die in der deutschen Presse verbreitet waren.
• Etwas anders gelagert verhielten sich die kulturellen Beziehungen bei der Frage
der Einschränkung der Meinungsfreiheit in Fällen von „Blasphemie“. Die Ansicht, daß Rushdies „Satanische Verse“ gegen die religiöse Identität des Islam
verstoßen hatten und als Konsequenz verboten werden sollten, war im öffentlichen Diskurs vieler islamischer Staaten (der arabischen ebenso wie etwa der Türkei) sehr verbreitet und wurde auch von der arabischen Außenministerkonferenz
unterstützt. Allerdings sind entsprechende Verhaltensdispositionen auch in westlichen Staaten präsent, wenngleich hier verschiedene Subsysteme der Gesellschaft auch öffentlich Meinungsverschiedenheiten austragen. Verallgemeinernd
kann festgestellt werden, daß die kulturellen Übereinstimmungen zwischen der
gemäßigt-sanktionistischen islamischen Position (Verbot der „Satanischen Verse“ ohne Unterstützung des Todesurteils) Parallelen zu konservativen Strömungen in Großbritannien oder den USA zeigten, wo Meinungs- und Publikationsverbote zum Schutz der christlichen Religion existieren, oder auch zu Deutschland, wo zumindest Appelle zur Selbstzensur (Beispiel: Deutscher Presserat)
nachweisbar sind. Die bedeutsamste kulturelle Differenz bestand demnach zwischen einer im Westen in weiten Teilen des 20. Jahrhunderts mehrheitlich liberalen Haltung zur Meinungsfreiheit in religiösen Fragen und einer in den meisten
islamischen Staaten mehrheitlich restriktiven Auffassung. Der Kulturkonflikt bestand daher zwischen mehr oder weniger einflußreichen liberalen und konservativen Teilsystemen der Kulturen. Im Fall der Presseberichterstattung über Rushdie
allerdings verlagerten auch Medien des liberalen Spektrums – wie Die Zeit – den
kulturellen Konflikt in die Sphäre der Auseinandersetzung zwischen dem Islam
und dem Westen, statt kulturinterne Differenzen und kulturübergreifenden Ähnlichkeiten zu benennen.
• Eine über den Fall Rushdie hinausgehende, generelle Dekodierung des islamischen Kulturkontextes in einer solchen Weise, daß diese als Antagonismus zu
den Menschenrechten erscheint, ist aus einer Reihe von genannten Gründen, die
im Rahmen der Dekonstruktion I angeführt worden sind, nicht möglich, beispielsweise weil der Koran zahlreiche Freiheitsrechte expliziert, ein einheitlicher
255
zeitgenössischer „islamischer“ Menschenrechtsdiskurs nicht existiert und verschiedene Argumentationsebenen unterschieden werden müssen (kulturelle Werte/Menschenrechte und Verrechtlichung/Menschenrechte). Die untersuchten
Pressebeiträge zeigten demnach nicht nur eine Tendenz, Differenzen in einem
Teilbereich der Kulturen – dem Verhältnis von Schutz der Meinungsfreiheit zu
Schutz der Religion – in differentialistischer Weise zu akzentuieren, sondern es
war darüber hinaus eine Ausweitung des Differenzbegriffs auf das Gesamt
menschlicher Wertedispositionen erkennbar.
In der Berichterstattung kam eine partielle Verschiebung der Gleichheits-/Ungleichheitsrelationen zwischen der westlichen und der islamischen Kultur zum Tragen.
Kulturelle Entsprechungen und Unterschiede wurden an den falschen Stellen lokalisiert und der dem Fall Rushdie zugrunde liegende Kulturkonflikt, der im Kern in der
Frage von Einschränkungen der Meinungsfreiheit bei „Blasphemie“ seinen Ausdruck
fand, wurde von den Medien unzureichend definiert. Die Annahme einer kulturell
verankerten generellen Wertedifferenz zwischen dem Westen und der islamischen
Welt bzw. dem Islam entsprach einem historisch geprägten Islambild des mainstream europäischer Gesellschaften, das sich aus der Konkurrenz der monotheistischen Religionen, aus epochalen Begegnungen wie der Reconquista in Spanien, den
Kreuzzügen oder dem türkischen Vormarsch bis Wien entwickelt hat.594 Historisch
gewachsene Perzeptionen dieser Art sind jedoch stereotype und feindbildartige Bildkonstruktionen, die zwar in der Regel auch zeitgenössisch verifizierbar, ebenso leicht
jedoch durch Gegenbeispiele falsifizierbar sind – im vorliegenden Fall etwa durch
den Hinweis auf humanitäre Werte islamischer Gesellschaften, moderate Äußerungen weiter Teile der Geistlichkeit zum Fall Rushdie oder Versuche einer Integration
von Islam und Menschenrechten durch zahlreiche Menschenrechtsaktivisten und organisationen in der islamischen Welt. Die Beliebigkeit dieser Falsifikation läßt
erkennen, daß Vorstellungen essentialistischer Kulturdifferenzen sich nicht, wie in
Huntingtons Konzept des „Clash of Civilizations“, als Grundlage zur Theorie-, sondern allenfalls zur Ideologiebildung eignen. Ansätze wie die Huntingtons sind von
der Politik595 ebenso wie von zahlreichen Wissenschaftsdisziplinen widerlegt worden: aus politikwissenschaftlicher Sicht etwa von Thomas Meyer, aus theologischer
Sicht in Hans Küngs Projekt „Weltethos“ und aus sozialphilosophischer Sicht bei
Leonard Nelson.596 Die Dominanz des differentialistischen Diskurses in den Pressebeiträgen zum Fall Rushdie zeigt jedoch, daß zwischen Medien- und Wissenschaftsdiskurs hinsichtlich der „kulturellen Übersetzungsleistungen“ gravierende Unterschiede bestehen können.
In den Medien führte im Gegenteil die mangelnde Differenzierung zwischen
Rushdies Lebensrecht, der Blasphemiefrage und dem Zusammenhang von Islam und
594 Hafez/Ahmed, Das Orient- und Islambild in Deutschland, S. 411-417.
595 Roman Herzog, Preventing the Clash of Civilizations. A Peace Strategy for the Twenty-First Century, New York 1999.
596 Thomas Meyer, Identitäts-Wahn. Die Politisierung des kulturellen Unterschieds, Berlin 1997; vgl.
Kap. 3.2.4.5.1.
256
Menschenrechten zu einer aus dem Differentialismus resultierenden Polemik, wie in
folgendem Kommentar der Frankfurter Rundschau: „Ob das ‘Urteil’ des religiösen
Eiferers Khomeiny irgendwelchen islamischen Rechtsschulen entspricht, ist uns
schnurzpiepegal. Hier in Europa gilt das jeweilige Landesrecht und das dekretiert
Meinungsfreiheit. (...) Im übrigen verstößt das zitierte, aus grauer Vorzeit stammende islamische Recht gegen die allgemeinen Menschenrechte und ist schon deswegen
für uns unerheblich.“597
Vor diesem Hintergrund ist fraglich, ob das journalistische Rollenmodell des
Auslandsjournalisten (insbesondere des Korrespondenten) als „kulturellem Mittler“,
wie es im deutschen Journalismus existiert (vgl. Kap. 3.2.2.2), im Fall Rushdie ausgefüllt worden ist. Auch hier hängt eine Antwort vom inhaltlichen Verständnis dessen ab, was kommuniziert wird. Werden Kulturen als differente Denk- und Verhaltenssysteme menschlicher Gruppen betrachtet, dann ist im Fall Rushdie der Presse
die Vermittlungsleistung gelungen, denn – mit Ausnahme des Boulevardsektors –
wurde eine kontextuelle und thematische Vertiefung des politischen Konflikts auf
der Ebene prinzipieller kultureller Fragen vorgenommen. Geht man allerdings von
einem synkretistischen Kulturkonzept aus, so ist die Affäre Rushdie weniger ein
Beleg für kulturelle Vermittlung als vielmehr für die Konstruktion eines konflikthaften Religions- und Kulturbildes. Der Fall zeigt, daß Journalisten aufgrund der Tatsache, daß kulturelle Symbolik interpretationsbedürftig und nicht von einzelnen gesellschaftlichen Akteuren, sondern von verschiedenen Personen und Gruppen getragen
und durch zeitliche Versetzungen und Renaissancen gekennzeichnet ist, nicht in der
Rolle eines „neutralen“ oder „objektiven“ Kulturmittlers, sondern durch die Wahl
von Kulturkonzepten im Prozeß der kulturellen En-/Dekodierung aktiv gestaltend
tätig sind. Diese Tatsache ist insofern problematisch, als der Fall Rushdie einen
Grenzfall zwischen politischer und kultureller Berichterstattung darstellt, da Fragen
der Menschenrechte, der Religion und der multikulturellen Gesellschaft unmittelbar
gesellschaftliche Fragen berühren. Erkennbar wird hier eine Kluft zwischen der
Kommentierungsfreudigkeit, dem Kreativitätsgebot feuilletonistischer Arbeit (die,
wie die quantitative Analyse gezeigt hat, weniger von externen Quellen wie den
Nachrichtenagenturen als von den Medien selbst geleistet wird; vgl. Kap. 5.2.1.3)
und dem Gebot der neutralen Informationsmittlung im Bereich der politischen Nachrichtengebung. Aus der Sicht normativer journalistischer Berufsrollen stellt der Fall
Rushdie Ansprüche spezifischer Art an die „kulturelle Objektivität“ der Auslandsberichterstattung, da kulturgestützte Ideologien nach dem Ende des Ost-West-Konflikts
eine bedeutendere Rolle für die politische Ideologiebildung in den internationalen
und interkulturellen Beziehungen gewonnen haben (vgl. Kap. 6.4.2.3).
597 Es reicht, FR 11.10.1991.
257
6.4.2.2 Interaktion, Koorientierung und Dialogverhalten der Auslandsberichterstattung
Der Fall der Berichterstattung über Salman Rushdie kann auch auf der Beziehungsebene der transkulturellen Kommunikation untersucht werden. Die Inhaltsanalyse hat
gezeigt, daß es keine signifikanten Hinweise auf Interaktionsprozesse in der Form
gab, daß in der deutschen Presse Reaktionen auf den Fall Rushdie in islamischen
Ländern rezipiert worden wären. Weite Teile der Presse interpretierten nicht nur den
islamischen Wertekontext aus einer differentialistischen Perspektive, sie leiteten ihre
Positionen auch in hohem Maß aus einer allgemeinen Kenntnis des Islam bzw. des
islamischen Schrifttums (Koran usw.) ohne Rezeption weiter Teile der islamischen
Debatten zum Fall Rushdie ab.598 Damit verblieb der deutsche Pressediskurs auf
einer kulturalistischen Interpretationsebene, ohne jedoch das tatsächliche Meinungsspektrum der sozialen Akteure zu vermitteln.
Die Folgen für den Kommunikationsprozeß lassen sich mit Hilfe des ABXSchemas (Newcomb) und des Koorientierungsmodells (Chaffee/McLeod) verdeutlichen (vgl. Kap. 3.2.4.5.2). Sowohl die deutschen Medien (A) als auch die Medien in
islamischen Ländern (B), dies haben Vergleichsstudien über die arabischen Länder
und die Türkei gezeigt, waren auf dieselben deutungsbedürftigen Vorgänge X (Salman Rushdie, „Satanische Verse“, Khomeinis fatwa usw.) gerichtet und waren insofern koorientiert. Das angenommene Maß an Übereinstimmung (congruency) der
Interpretationen der potentiellen Kommunikationspartner war in deutschen Medien
dort gering, wo das Bild einer fundamentalen Wertedifferenz zwischen dem Westen
und dem Islam stark ausgeprägt war. Zeitgleich stattfindende Debatten in Medien
und Öffentlichkeit der arabischen Staaten oder der Türkei lassen allerdings erkennen,
daß diese Annahme von geringer Genauigkeit (accuracy) geprägt war, da – wie oben
aufgezeigt – zumindest das Todesurteil Khomeinis außerhalb Irans nur sehr wenige
Unterstützer fand. Mangelnde Interaktionsgenauigkeit entstand dadurch, daß der
deutsche Pressediskurs in hohem Maß – von Ausnahmen abgesehen – von parallelen
Diskursen in der islamischen Welt isoliert blieb und eine Kommunikationsblockade
der grenzüberschreitenden Kulturkommunikation nicht durchbrochen werden konnte.
Diese Blockade mündete in einer Situation, die von der theoretischen Figur der pluralistic ignorance beschrieben wird, wobei Bedeutungszuschreibungen verschiedener Interaktionspartner oder interaktiver Gruppen ähnlicher sind als dies die Partner
selbst annehmen. Die grundlegende These der vorliegenden Fallstudie lautet daher,
daß die deutsche Presseberichterstattung über den Fall Salman Rushdie deutliche
Züge transkultureller Kommunikationsstörungen trug und das Ziel einer systemverbindenden transkulturellen Kommunikation verfehlte, da der Kommunikationsprozeß
nicht allein auf der Inhalts-, sondern auch auf der Beziehungsebene gestört war.
598 Ähnliches gilt für Zeitschriften und Bücher, die versuchten, die Rushdie-Debatte anhand von Originaltexten überwiegend aus Massenmedien zu dokumentieren, dabei jedoch nahezu ausschließlich
auf westliche Medienerzeugnisse zurückgriffen: Der rechte Weg. Versuch einer Annäherung an den
Islam, Themenheft zum Fall Rushdie der Zeitschrift für Kulturaustausch 42 (1992) 4, S. 539-589;
Lisa Appignanesi/Sara Maitland (Hrsg.), The Rushdie File, London 1989.
258
Bei der Suche nach den Ursachen für die mangelnde Reflexion des islamischen Diskurses und des daraus resultierenden Interaktionsproblems (pluralistic ignorance)
können Faktoren auf der Mesoebene der Theorie der Auslandsberichterstattung, etwa
im Bereich der Informationsbeschaffung, nur sehr begrenzt verantwortlich gemacht
werden, denn entsprechende Quellen hätten Nachrichtenagenturen und der deutschen
Presse auf verschiedenen Wegen zugänglich sein müssen. Korrespondenten beispielsweise hätten die Medienlandschaft in den islamischen Ländern verfolgen können; das mögliche Argument, daß sich auch Korrespondenten, wie in Kapitel 5.2.1.3
festgestellt, wegen der Konzentration auf politische Nachrichten nur begrenzt mit
kulturellen Themen beschäftigen können, kann nicht zum Tragen kommen, da der
Fall Rushdie einen Grenzfall zwischen den Sachgebieten Politik und Kultur darstellte.
Ein Versuch der Erklärung der Interaktionsstörungen auf der Makroebene der
Theorie rückt die Frage der kulturellen Machtverhältnisse ins Blickfeld, die etwa aus
den Perspektiven Stuart Halls oder Edward Saids in die Analyse transkultureller
Medienkommunikation einfließen. Folgt man Said und betrachtet die Kulturkommunikation der Medien als Bestandteil der globalen, politischen und ökonomischen
Kräfteverhältnisse, dann kann die Nicht-Zurkenntnisnahme des islamischen Diskurses im Fall Rushdie als Ausdruck einer Dialogverweigerung deutscher (westlicher)
Medien aus der Position der Stärke bezeichnet werden. Die „Ungenauigkeit“ im
Koorientierungsverhalten wäre demnach Ausdruck einer Öffentlichkeitskultur, in der
zwar die Menschenrechte als ideologische Waffe gegen die islamische Welt (mit
einer entsprechenden Tradition seit den Zeiten des Osmanischen Reichs)599 benutzt
werden, ein Dialog über Menschenrechte und Religion jedoch zeitgleich verweigert
wird.
Eine solche Erklärung berücksichtigt gleichwohl nicht, daß Interaktionsstörungen
im Fall Rushdie nicht nur in deutschen (westlichen) Medien, sondern auch in denen
der islamischen Welt nachweisbar sind: Ähnlich wie der Westen Fragen der Religion
und „Blasphemie“ kaum thematisierte, stand auch in islamischen Staaten die Frage
der Menschenrechte im Fall Rushdie nur sehr begrenzt auf der Öffentlichkeitsagenda, und die westliche Reaktion auf den Fall Rushdie wurde inhaltlich nur sehr selektiv verarbeitet. Hier ist eine Kulturräume übergreifende Symmetrie der Interaktionsverweigerung im Fall Rushdie zu erkennen, die darauf hinweist, daß Prestige- und
Machtaspekte, die in die Kommunikation einfließen können, im Bereich der Kulturkommunikation kein Derivat der politischen und ökonomischen Machtverhältnisse
sind, wie etwa von Said angenommen.600 Vielmehr besteht „kulturelle Macht“ (in
Anlehnung an Hall) auch auf islamischer Seite durch die Hervorhebung und Auslassung bestimmter Themen, Frames usw., und zwar ungeachtet der bestehenden Teilabhängigkeit von westlichen Nachrichtenmittlern wie den großen Nachrichtenagenturen (vgl. Kap. 3.2.1.1). Bassam Tibi hat darauf hingewiesen, daß zwar eine kom599 Vgl. Gerrit W. Gong, The Standard of „Civilization“ in International Society, Oxford 1984.
600 Vgl. auch Saids Reaktion auf die amerikanische Medienberichterstattung über den Kosovo-Krieg
1999: Edward Said, Die Logik der Geschichte, taz 17.5.1999.
259
munikative Asymmetrie des kulturellen Weltsystems in bezug auf die Repräsentanz
des Islam im Prozeß der westlich geprägten Globalisierung bestehe, daß jedoch der
innerislamische Diskurs ähnliche Asymmetrien bei der Darstellung der Europäer und
des Westens erkennen ließe.601
Im Fall Rushdie war weniger die Asymmetrie als vielmehr eine situative Symmetrie der kulturellen Machtverhältnisse zu erkennen. Khomeini hatte es durch seine
fatwa – ähnlich wie bei der Geiselnahme in der amerikanischen Botschaft von Teheran während der Iranischen Revolution – verstanden, die strukturelle politische Unterlegenheit Irans gegenüber dem Westen in der internationalen Politik durch eine
symbolische politische Handlung zu kompensieren, die im Westen das subjektive
Gefühl erzeugte, unter Druck zu geraten, was wiederum die Kommunikationsbereitschaft hemmte oder gar zerstörte. Ulrich Greiner von der Zeit: „Die Situation gemahnt an einen Banküberfall mit Geiselnahme, während dem ein hinzugeeilter Seelsorger darum bittet, es möge die prekäre finanzielle Situation der Geiselnehmer
bedacht werden. Da lacht der Kommissar. Nein, die Situation für das (...) geforderte
Gespräch ist ausgesprochen ungünstig.“602 Khomeini setzte den Westen unter Druck,
erzielte eine kurzfristige Machtbalance, er zerstörte damit gleichwohl die Beziehungsebene, auf der ein inhaltlicher kultureller Austausch hätte basieren müssen.
Insgesamt zeigt die Behandlung des Falls Rushdie in der deutschen Presse, daß
Massenmedien auch unter den Bedingungen technischer Optimierung des Informationsflusses und fortschreitender Nachrichtenvernetzung isolierte Mediendiskurse
entwickeln können, in denen sich die „Domestizierung“ der Auslandsberichterstattung in nationalstaatlich gestützten Mediensystemen widerspiegelt (vgl. Kap.
3.2.4.2.3). Die Existenz weitgehend separierter Diskurse und der Mangel an Interaktion wie im Fall Rushdie zeigen, daß die Defizite in Kulturkontakt und -austausch
zwischen Orient und Okzident, wie sie seit dem 12./13. Jahrhundert zu beobachten
sind, als sich beide Sphären jeweils zur societas perfecta entwickelten,603 auch im
modernen Medienbetrieb fortbestehen können, daß sie die Formierung eines
transkulturellen Kulturdialogs (etwa über Menschenrechte und Religion) behindern
und sich einer konversionstheoretischen Deutung der Auslandsberichterstattung (vgl.
Einleitung zu Kap. 3) entziehen.
Im Zusammenhang mit der Rushdie-Affäre wurden des öfteren von kirchlicher
und anderer Seite Forderungen nach einer Verbesserung der Dialogbeziehungen laut,
etwa nach einer Wiederbelebung des christlich-islamischen604 oder des Euro601 Bassam Tibi, Kommunikationsstrukturen der Weltgesellschaft und der interkulturelle Konflikt, in:
Beiträge zur Konfliktforschung 11 (1981) 3, S. 71 f.; vgl. a. ders., Akkulturation und interkulturelle
Kommunikation.
602 Greiner, Wider den Kulturrelativismus, a.a.O.
603 Vgl. René Gousset, Orient und Okzident im geistigen Austausch, Stuttgart 1955, S. 181.
604 Kardinal Franz König, Die Vergangenheit beiseite lassen, Zeit 27.11.1992. In der Vergangenheit hat
es verschiedene Versuche der Politik und der Kirchen gegeben, einen orientalisch-okzidentalen Dialog zu institutionalisieren, die gleichwohl alle zu derselben Erkenntnis führten: transkulturelle
Kommunikation, die sich unter Hintanstellung der Medien allein auf den interinstitutionellen Austausch (im Rahmen der Diplomatie oder kirchlichen Ökumene) stützt, besitzt keinen nachhaltigen
Einfluß auf die öffentliche Meinung und läßt sowohl das innenpolitische Klima als auch die außen-
260
Arabischen Dialogs.605 Institutionalisierte „Dialoge“, „Trialoge“ usw. basieren auf
dem Prinzip der Machtgleichheit und des Machtausgleichs, die symbolisch durch
den Eintritt in eine nicht alltägliche Form der Kommunikation (auf Konferenzen
usw.) hergestellt wird. Dialogveranstaltungen sind daher Maßnahmen zur Verbesserung der Kommunikation, bei denen kommunikative Voraussetzungen auf der Beziehungsebene geschaffen werden, um einen Austausch auf der Inhaltsebene zu ermöglichen. Zwar lassen sich solche Modelle der personalen Kommunikation nur bedingt
auf den Mediensektor übertragen, etwa in Form von professionellen Dialogen unter
Journalisten606 oder durch die Einführung von Medienspiegeln, wobei die Koorientierungsdiskurse des jeweils anderen Kulturraums dargestellt werden. Der Fall Rushdie läßt prinzipiell erkennen, daß im Bereich der transkulturellen Kommunikation
Störungen auf der Beziehungsebene ebenso ausgeprägt sein können wie auf der
Inhaltsebene. Ohne eine (im Sinne des Koorientierungsmodells) „genauere“ wechselseitige Kenntnisnahme zeitaktueller Diskurse ist die kulturelle Koorientierung auf
kulturübergreifende Problemstellungen, die für die Herausbildung einer globalen
Ethik einerseits erforderlich ist, andererseits mit der Gefahr öffentlicher differentialistischer Akzentuierungen von Kulturkonflikten behaftet, die auch durch eine umfängliche inhaltliche Beschäftigung der Medien, wie im Fall Rushdie, nicht auszuräumen ist.
6.4.2.3 Auslandsberichterstattung und „multikulturelle Gesellschaft“
Kulturkommunikation durch Massenmedien weist gesellschaftsinterne wie gesellschaftsexterne Wirkungspotentiale auf. Die öffentliche Verbreitung eines kulturdifferentialistischen Auslandsbildes kann über die allgemeinen Wirkungskanäle der Auspolitische Entscheidungsfindung unberührt. Die Erklärung „Nostra aetate“ des Zweiten Vatikanischen Konzils (1965) basiert auf dem Prinzip des Missionsdialogs, d.h. auf der Verbindung eines
ungefährdeten Wahrheitsanspruchs des Christentums mit der aus dem Gedanken der friedlichen
Koexistenz der Menschen, Kulturen und Religionen geborenen Bereitschaft zu einem Dialog mit
dem Islam und anderen nichtchristlichen Religionen, um Übereinstimmungen und Unterschiede zu
ermitteln, strittige Fragen der Trinitätslehre, der Stellung Mohammeds, des „Heiligen Krieges“ (jihad) usw. zu klären und durch eine Korrektur historischer Fehlwahrnehmungen das Verhältnis zwischen den Religionen zu entspannen. Werner Wanzura, Christ-lich-islamische Begegnung. Zur Haltung der katholischen Kirche, in: Michael Fitzgerald/Adel Th. Khoury/Werner Wanzura (Hrsg.),
Renaissance des Islams. Weg zur Begegnung oder zur Konfrontation?, Graz u.a. 1980, S. 151-189.
605 Ahmad Bahadin von der ägyptischen Tageszeitung Al-Ahram zog aus der Rushdie-Affäre die
Lehre, daß der Euro-Arabische Dialog früherer Jahre mit einem Schwerpunkt auf kulturelle und historische Fragen neu belebt werden sollte, um eine falsche Polarisierung zwischen Ost und West in
Theorie und Praxis der Menschenrechte zu vermeiden (Köhler, Wird der Geist, a.a.O.). Wie der
christlich-islamische Dialog litt jedoch auch der „Euro-Arabische Dialog“, der in den siebziger und
achtziger Jahren von der Europäischen Gemeinschaft und der Arabischen Liga geführt wurde, trotz
transkultureller Ansätze unter fehlender Basispartizipation, was seine Wirkung erheblich begrenzte.
Hubert Dobers/Ulrich Haarmann (Hrsg.), The Euro-Arab Dialogue/Le Dialogue Euro-Arabe, St.
Augustin 1983; Euro-Arab Dialogue. The Relations between Two Cultures. Acts of the Hamburg
Symposium April 11th to 15th 1983, London u.a. 1985.
606 Vgl. den Hinweis zu den deutsch-arabischen Mediendialogen in der Einleitung.
261
landsberichterstattung (vgl. Kap. 3.2.4.1.3) die ideologische Komponente außenpolitischer Debatten in der Öffentlichkeit und die Wahrnehmung und Definition des
Kulturkonflikts in den internationalen politischen Beziehungen fördern, wie am
Beispiel der Algerienkrise in der deutschen Presse zu zeigen sein wird (vgl. Kap.
6.5.2.1). Kulturkommunikation beinhaltet jedoch auch ein innergesellschaftliches
Wirkungspotential dort, wo sie mit Minderheitenkulturen in Verbindung steht (Kap.
3.2.4.5.3).607 Im Fall Rushdie war eine enge Bindung zwischen Medien und Öffentlichkeit erkennbar, die sich nicht nur in einem weitgehenden Konsens verschiedener
weltanschaulicher Strömungen, sondern auch in einer Allianz zwischen Medien und
organisierter Öffentlichkeit niederschlug. Unter Führung linker und liberaler Kräfte
setzte sich diese Allianz in und mit Hilfe der Presse advokativ für die Verteidigung
von Rushdies Lebens- und Freiheitsrechten ein. Die oben geschilderten Einschränkungen der transkulturellen Kommunikation auf der Inhalts- wie auf der Beziehungsebene bedingten jedoch, daß dieser Advokatismus einen zumindest im linken und
liberalen Spektrum wahrscheinlich unerwünschten Nebeneffekt auslöste: Die öffentliche Behandlung des Falles Rushdie entwickelte sich zu einer Infragestellung der
multikulturellen Gesellschaft in Deutschland.
Insoweit in der deutschen Presse Menschenrechte als Fundament der eigenen Gesellschaftsordnung sowie als Abwehrrechte aufgefaßt und durch Solidaritätskampagnen politisch mobilisiert wurden, kann die Berichterstattung zum Fall Rushdie als ein
Paradebeispiel für einen ethisch fundierten, advokativen Journalismus zum Schutz
des Lebens und der Grundrechte (Salman Rushdies) gelten. In der untersuchten Presseberichterstattung spiegelte sich die Tatsache wider, daß journalistische Rollenmodelle und Verhaltenskodizes westlicher Medien insbesondere den Schutz individueller Rechte zur Aufgabe des Journalismus erklären, während die Vorstellung einer
kulturellen Mittlerstellung in diesen Berufsrichtlinien noch weitgehend fehlt (Kap.
3.2.2.3), auch wenn sie von einigen Journalisten angestrebt wird (Kap. 3.2.2.2).
Einschränkungen bei der Ausübung journalistischer Rollen galten lediglich für den
Boulevardsektor der deutschen Presse, in dem die Berichterstattung anders als in der
überregionalen Abonnentenpresse bereits nach kurzer Zeit abebbte.
Der Menschenrechtsadvokatismus der Presse war nicht allein das Resultat individueller oder beruflicher Sozialisationsprägung, sondern basierte auf einer breiten
gesellschaftlichen Allianz, wie sie in der Auslandsberichterstattung selten zustande
kommt (vgl. Kap. 3.2.4.1.2). Zu den wichtigsten Informationsquellen der Presse
zählten neben Salman Rushdie selbst, der im Untergrund eine vielgestaltige Interview- und Essaykultur entwickelte, verschiedene Solidaritätskomitees – zu nennen
sind hier vor allem International Committee for the Defense of Salman Rushdie and
his Publishers (ICDSR) in London und das International Rushdie Defense Committee in Köln -, die als Einrichtungen der organisierten Öffentlichkeit Thematisierungsimpulse an die Medien abgaben. Innerhalb der deutschen Presse erlangte die Berliner
607 Vgl. a. Hafez, Antisemitismus, Philosemitismus und Islamfeindlichkeit; ders., Öffentlichkeitsbilder
des Islam. Kultur- und rassismustheoretische Grundlagen ihrer politikwissenschaftlichen Erforschung, in: Siegfried Jäger/Helmut Kellerhohn/Andreas Disselnkötter/Susanne Slobodzian (Hrsg.),
Evidenzen im Fluß. Demokratieverluste in Deutschland, Duisburg 1997, S. 188-204.
262
tageszeitung – insbesondere durch die Vorveröffentlichung der „Satanischen Verse“
und die nachfolgenden Solidaritätskampagnen für Rushdie – die Funktion eines
Leitmediums. Die Dynamik des Informationsstroms von den Solidaritätskomitees
über die tageszeitung zur deutschen Presse stellte ein konstitutives Moment des
quantitativ hohen und vergleichsweise kontinuierlichen Berichterstattungsniveaus
dar.
Während die Menschenrechte verteidigt wurden, wurde im Kontext des Falles
Rushdie auch in liberalen Medien das Konzept einer „multikulturellen Gesellschaft“
in Frage gestellt. Hier zeigten sich Parallelen zur britischen Presse, in der debattiert
wurde, inwieweit „das Intolerante“ toleriert werden könne und ob der Multikulturalismus nicht eine Doktrin mit Gefahren für die Mehrheitsgesellschaft sei.608 Die
Berichterstattung über den Fall Rushdie wurde in Großbritannien zum Bestandteil
einer über die Medien hinausgehenden öffentlichen Debatte über den Schutz des
Rechtsstaats und der (ungeschriebenen) Verfassung vor Angriffen aus den Reihen
der muslimischen Einwanderer.609 Die Diskussion über die multikulturelle Gesellschaft im Rahmen der deutschen Berichterstattung über den Fall Rushdie fand im
liberalen (Die Zeit) wie im konservativen Medienspektrum (Die Welt) statt. Die
Argumentationsgänge waren in beiden Strömungen unterschiedlich, zeichneten sich
jedoch durch gemeinsame Prämissen und Schlußfolgerungen aus. Die Zeit stellte auf
der Basis der – wie festgestellt kritisierbaren – Annahme der kulturellen Differenz
zwischen Islam und Westen die Frage, ob das urliberale Ideal des Kulturrelativismus
im Sinne einer Koexistenz unterschiedlicher Kulturen noch aufrechterhalten werden
konnte, was negativ beantwortet wurde. In der rechtskonservativen Welt wurde die
ebenfalls konzedierte Kulturdifferenz als Bestätigung der lange gehegten Gegnerschaft gegen Multikulturalismus und Kulturrelativismus bewertet und die RushdieAffäre zum Anlaß genommen, erneut die kulturelle Assimilation von Einwanderern
zu verlangen. Wenn verschiedene Autoren in der tageszeitung die Ansicht äußerten,
der Fall Rushdie habe in Deutschland Ängste vor Muslimen befördert und den gesellschaftlichen Umgang mit Minderheiten beeinträchtigt,610 so ist – aufgrund des
ausgeprägten Kulturdifferentialismus vieler Beiträge der Presse (Kap. 6.4.2.1) –
festzustellen, daß die Presse tatsächlich eine entsprechende Wirkungspotenz besaß,
da in der Berichterstattung eine diskursive Verknüpfung von Rushdie-Affäre und der
Frage der multikulturellen Gesellschaft vorgenommen wurde.
Von entscheidender Bedeutung dafür, daß eine solche Potenz festgestellt werden
muß, ist gleichwohl weniger die Tatsache daß, sondern die Art wie über Salman
Rushdie in weiten Teilen der untersuchten Medien berichtet wurde. Interessant war
608 Bhikhu Parekh, The Rushdie Affair and the British Press, in: Dan Cohn-Sherbok (Hrsg.), The
Salman Rushdie Controversy in Interreligious Perspective, Lampeter 1990, S. 79; vgl. a. Simon
Cottle, Reporting the Rushdie Affair: a Case Study in the Orchestration of Public Opinion, in: Race
& Class 32 (1991) 4, S. 45-64.
609 Elizabeth Poole, Framing Islam: An Analysis of Newspaper Coverage of Islam in the British Press,
in: Kai Hafez (Hrsg.), Islam and the West in the Mass Media. Fragmented Images in a Globalizing
World, Cresskill, NJ 2000, S. 164 f.
610 Islamische Strömungen in Berlin, taz 17.2.1990; Sonia Seddighi, Feindbild Muselmann, jetzt auch
im Kino, taz 11.4.1991.
263
in diesem Zusammenhang, daß linksorientierte Medien wie die tageszeitung, die im
Fall Rushdie Meinungsführerfunktion innehatten, sich an der Verknüpfung des Falles
mit den innerdeutschen Beziehungen zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen, und
darüber hinaus mit Angehörigen anderer Kulturen, nicht oder nur kritischdistanzierend beteiligten. Zu erkennen war, daß die interne deutsche Diskursentwicklung der Presse vom linken Medienspektrum nicht beabsichtigt gewesen war, denn
diese gesellschaftliche Strömung geriet in einen Zielkonflikt zwischen dem intendierten Menschenrechtsadvokatismus einerseits und der Verteidigung von Minderheitenrechten der Immigranten andererseits.
Der Konflikt zwischen dem Willen zur Verteidigung der Menschenrechte und der
„multikulturellen Gesellschaft“ war weit ausgeprägter als der zwischen Menschenrechten und kultureller Vermittlung (vgl. Kap. 6.4.2.1) – hing jedoch letztlich untrennbar mit diesem zusammen. Denn die Debatte über das Fortbestehen der multikulturellen Gesellschaft war ursächlich mit den Problemen der transkulturellen
Kommunikation verbunden, wie sie in den vorangegangenen Kapiteln erörtert worden sind:
• Auf der Inhaltsebene war die islamische Religion und Kultur in einem für das
Multikulturkonzept essentiellen Bereich delegitimiert worden, da die Vorstellung
einer prinzipiellen Unverträglichkeit von Islam und Menschenrechten in der
Presse nachhaltig präsent war und auch vom linken Pressespektrum keine Thematisierungsvorstöße zur Klärung des komplexen Zusammenhangs vorgenommen wurden. Damit wurde ein Frame auf die öffentliche Agenda gehoben, der
geeignet war, die Konfliktlinien zwischen Minderheiten und Mehrheitsgesellschaft zu vertiefen.
• Auf der Beziehungsebene wurden die konkreten Äußerungen in Deutschland
lebender Muslime, die abgesehen von schiitischen Unterstützern des iranischen
Kurses weitaus moderater als Khomeinis fatwa waren (was die Unterstützung von
Publikationsverboten nicht ausschloß), kaum reflektiert. Es gibt keine Hinweise
auf das Einholen von Stellungnahmen zum Fall Rushdie aus Kreisen der Muslime
in Deutschland, die damit für die Presse ebensowenig Gesprächs- und Dialogpartner waren wie die Träger des Diskurses in den islamischen Staaten, was auf
Störungen des Interaktionsverhaltens der Kulturkommunikation auch innerhalb
Deutschlands schließen ließ. Es wurde viel über den Islam, aber wenig mit Muslimen geredet.
Der Fall zeigt, daß Fragen der transkulturellen Kommunikation in den Medien zeitweise nicht allein eine globale Dimension der Interaktion (oder mangelnden Interaktion) zwischen kulturellen Großräumen wie der islamischen Staatenwelt und dem
Westen, sondern zusätzlich eine innergesellschaftliche Dimension aufweisen. Aus
deutscher Sicht war der Fall Rushdie dem Auslandsgeschehen und dem klassischen
Verständnis der Auslandsberichterstattung als foreign news abroad (vgl. Kap.
3.2.4.3) zuzurechnen. Ereignisse trugen sich wechselweise in Großbritannien, Iran,
in Indien oder Pakistan, aber nicht in der Bundesrepublik Deutschland zu. Aus theoretischer Sicht bemerkenswert ist, daß im Fall Rushdie nicht personelle oder institu264
tionelle Verbindungen zu innerdeutschen Verhältnissen im Vordergrund standen
denn Reflexionen über Reaktionen von in Deutschland lebenden Muslimen waren
marginal –, sondern daß eine ausschließlich thematisch fundierte interne Anschlußkommunikation erfolgte, d.h. auswärtiges Geschehen wurde im Hinblick auf Lehren
und Erfahrungen für die Zukunft der deutschen Gesellschaft weiterentwickelt. Anders als im Fall des Nahostkonflikts fand in der Erörterung von Problemen der multikulturellen Gesellschaft zwar kein historisch-diachroner, dafür jedoch ein nichtlinearer Themenanschluß statt (vgl. Kap. 3.2.4.3.1 und Kap. 5.1.2.1). Dies zeigt
erneut, daß Kategorien der Inlands- und Auslandsberichterstattung in einem Ausmaß
verwoben sein können, das weit über das bekannte Beispiel der Auslandsbesuche
von Ministern usw. hinausgeht. Zu foreign news at home können alle Nachrichten
werden, für die logisch plausible inländische Diskurse erkennbar werden, und insbesondere durch die Migration bieten sich kulturelle Fragen zunehmend für derartige
interne Anschlußkommunikationen an. Das Beispiel Rushdie zeigt: Die theoretische
Trennung der Sphären der Kulturkommunikation „innerhalb des Kulturraums“ und
„zwischen Kulturräumen“ (vgl. Kap. 3.2.4.5.1, Abb. 3.15) ist in der Praxis schwer
aufrechtzuerhalten. Die mediale Vermittlung auswärtigen Kulturgeschehens ist in
letzter Instanz bedeutsam für den Diskurs über gesellschaftlichen Wandel in dem die
Medien umgebenden Staat und Gesellschaftssystem. Das Medienbild auswärtiger
Kulturen reflektiert auf die „multikulturelle Gesellschaft“.
–
6.5
Die Algerienkrise (1991-95)
In Algerien entwickelte sich an der Wende zu den neunziger Jahren ein für die arabische Welt vorbildlicher Demokratisierungsprozeß, der auf seinem Höhepunkt – den
Wahlen zur Nationalversammlung 1991/92 – unterbrochen wurde und danach in
einen Zustand des schleichenden Bürgerkriegs überging. Bedingt durch die geopolitische Lage als Mittelmeeranrainer, die späte Loslösung Algeriens vom Kolonialstaat
Frankreich und die folgenden engen Beziehungen vor allem zum südwestlichen Europa, besitzt die Algerienkrise eine ausgeprägte internationale Dimension. Die algerische Frage ist in die inneren Entscheidungszirkel der Politik in der Europäischen
Union, der Vereinigten Staaten und Deutschlands vorgedrungen und beschäftigt
Politiker, Diplomaten und die beratende Wissenschaft gleichermaßen nachhaltig.
Das Verhalten der europäischen Politik und Öffentlichkeit hat wiederum direkt oder
indirekt über den franko-arabischen „Schmelztiegel“ Frankreich zu politischen und
gesellschaftlichen Reaktionen in Algerien geführt.
Die folgende Fallstudie untersucht einen Ausschnitt des Diskurses im euromediterranen Medienraum, und zwar die Reaktionen deutscher überregionaler Presseorgane auf die algerischen Parlamentswahlen im Winter 1991/92, einschließlich
ihres Abbruchs durch einen militärgestützten Staatscoup. Zentrale theoretische Leitfragen richten sich auf die Struktur der deutschen Medienagenda, auf die Diskurskomposition von Themen, Frames und anderen Elementen des Auslandsbildes sowie
auf die spezifischen Nachrichtenfaktoren der Algerienberichterstattung (vgl. Kap.
265
3.2.1.2). Untersucht wird weiterhin die Wirkungspotenz611 der Medien hinsichtlich
der Formierung der öffentlichen Meinung und der demokratischen Mitgestaltungskapazität des Auslandsjournalismus im Hinblick auf die deutsche Außenpolitik (vgl.
Kap. 3.2.2.2, 3.2.4.1.3 und 3.2.4.2.2). Der Untersuchungszeitraum der kritischhermeneutischen Inhaltsanalyse erstreckt sich von 1991 bis April 1995. Die selektive
Auswahl der Beiträge wird durch eine Vollerhebung im Zeitraum Dezember 1991
bis Januar 1992 ergänzt. Der Re-Rekonstruktion und Dekonstruktion I (Kap. 6.5.1)
folgt die theoretische Dekonstruktion II (Kap. 6.5.2 und 6.5.3).
6.5.1 Re-Rekonstruktion und Dekonstruktion I: Die algerischen
Wahlen und die Algerienkrise in der deutschen Presse
Die Rezeption der Algerienkrise in den untersuchten deutschen Pressebeiträgen
durchlief unterschiedliche Perioden. Den Ausgangspunkt bildeten die Ereignisse des
Wahlwinters von 1991/92. Maßgeblich für die Zäsursetzung war, daß sich der Tenor
der Berichterstattung vor allem mit Blick auf die Bewertung der Rolle der maßgeblichen islamistischen Gruppierung Front Islamique du Salut (FIS) im Demokratisierungsprozeß jeweils signifikant veränderte. Zwar waren bei einzelnen Medien unterschiedliche Nuancen der Darstellung und Bewertung sowie einzelne Gegentrends
erkennbar, übergreifende Rezeptionstendenzen lassen sich jedoch wie folgt beschreiben:
• In der Vorwahlzeit war die deutsche Berichterstattung durch eine demokratisierungsfreundliche Haltung gekennzeichnet, wobei auch die Integration der Islamisten in das parlamentarische System begrüßt wurde.
• In der Zwischenwahlperiode (zwischen zwei Wahlgängen)612 fand ein Meinungsumschwung zuungunsten der FIS statt. Der Staatsstreich wurde überwiegend
nicht als Akt gegen die Demokratie, sondern als „kleineres Übel“ im Vergleich
zur antizipierten totalitären Herrschaft der Islamisten betrachtet.
• Der Tenor der Pressebeiträge veränderte sich in der Nachwahlzeit613 nicht grundsätzlich, wenngleich im Rahmen des „schleichenden“ Bürgerkriegs neben der
ausführlichen Berichterstattung über islamistischen Terror auch staatskritische
Haltungen vertieft wurden.
In der Vorwahlzeit des Jahres 1991 wurde in der deutschen Presse die Innenpolitik
Algeriens aus demokratisierungsfreundlicher Perspektive verfolgt. Die seit den Unruhen von 1988 eingeleitete Öffnung des politischen Systems wurde mit wachsendem Widerstand der Bevölkerung gegen die ökonomische Misere der Staatswirtschaft und die Korruption der herrschenden Elite sowie als Ausdruck gewachsener
611 Im Sinne der ZUMA-Studie; vgl. Kap. 2.
612 Der erste Wahlgang fand am 26. Dezember 1991 statt. Der Rücktritt von Präsident Chadli Bendjedid erfolgte am 11. Januar, die Übernahme der Staatsführung durch den fünfköpfigen kollegialen
Staatsrat am 14. Januar 1992.
613 Beiträge sind stichprobenartig bis zum Frühjahr 1995 ausgewertet worden.
266
ethnischer Rivalitäten und Abgrenzungsbedürfnisse gegenüber dem Westen betrachtet. Die Neuorientierung der Politik nach dem Wegfall des sowjetischen Ordnungsmodells wurde begrüßt.614 Algerien wurde als demokratisches Vorbild und Modell
für die Nachbarstaaten herausgestellt.615
Die Presse berichtete über die Anbahnung der algerischen Parlamentswahlen mit
einem ähnlichen professionellen Instrumentarium wie über vergleichbare Ereignisse
in westlichen Industriestaaten. Ihre Stärken lagen grundsätzlich im Bereich der politikorientierten Information, während Fragen der interkulturellen Übertragbarkeit von
Modellen wie Marktwirtschaft, Bürokratisierung und demokratischer Ordnung oder
Probleme der sozialen Entwicklung, die in der Orientwissenschaft einen breiten
Raum einnehmen, am Rande behandelt wurden.616 Der dem europäischen Kontext
verwandte technische Ablauf der Wahlen begünstigte differenzierte Analysen, wobei
etwa den Einwänden der Opposition gegen die Einführung des Mehrheitswahlrechts
und die neue Wahlgesetzgebung, die die Sahararegionen bevorteilte, wohingegen
religiöse und linke Parteien ihre Hochburgen in den Küstenstädten besaßen, Rechnung getragen wurde.617
Die Behandlung der seit 1989 zugelassenen islamistischen, sozialistischen, berberischen und liberalen Parteien war weitgehend neutral. Die mangelnde Sympathie
für die Herrschaft der Front Libération Nationale (FLN), die selbst im linken Zeitungsspektrum in Deutschland als verbraucht und kraftlos betrachtet wurde, begünstigte eine Hinwendung zur Demokratie unter Einschluß aller Oppositionskräfte. Es
dominierte ein differenzierender Umgang mit der islamistischen Opposition, deren
interne Strukturen und Zielsetzungen zwar nur selten verfolgt, deren Stärke und
Anziehungskraft als Ausdruck des Protests gegen den Staat jedoch anerkannt wurde.
Die Chancen der FIS bei nationalen Wahlen wurden unterschiedlich bewertet, je
nachdem ob die Autoren das beachtliche Abschneiden der Partei bei den Kommunalwahlen von 1990 oder die darauffolgenden Abnutzungserscheinungen in der
praktischen Kommunalpolitik hervorhoben. Überwiegend wurde betont, daß die
Politik der FIS keine demokratische Alternative zur herrschenden Politik darstellte.
Auch wurde die Hoffnung zum Ausdruck gebracht, die Islamisten könnten durch
andere politische Kräfte eingehegt werden.618 Keine der untersuchten Zeitungen
614 Zum letzten Punkt vgl. Günter Lerch, Noch eine islamische Revolution?, F.A.Z. 6.6.1991.
615 Werner Herzog, Ein Beispiel für die Nachbarn, FR 23.12.1991.
616 Eine Ausnahme stellten in diesem Zusammenhang beispielsweise die Nachrichten für den Außenhandel dar, die zumeist über eigene Außendienstmitarbeiter Marktberichte und Sozialanalysen für
einen an außenwirtschaftlichen Fragen interessierten, unternehmerisch orientierten Leserkreis erstellten: Algerien im Zeichen bevorstehender Wahlen, NfA 23.10.1991.
617 Algeriens Opposition lehnt Mehrheitswahlrecht ab, FR 30.3.1991; Werner Herzog, Wahl oder Generalstreik, FR 16.4.1991; Sabine Kebir, In Algerien steigt das Wahlkampffieber, taz 4.6.1991; Rudolph Chimelli, Fundamentalisten auf der Flucht nach vorn, SZ 6.6.1991; Algeriens Opposition zu
Wahlen bereit, F.A.Z. 18.10.1991.
618 Zur Darstellung der Islamisten vgl. Werner Herzog, Auf mehreren Wegen zum Heil, FR 5.6.1991;
Lerch, Noch eine islamische Revolution?, a.a.O.; Chimelli, Fundamentalisten auf der Flucht, a.a.O.;
Reinhold Brender, An Selbstvertrauen mangelt es den algerischen Islamisten nicht, F.A.Z. 2.7.1991;
ders., Ghozali in der Sackgasse, F.A.Z. 5.10.1991; Werner Herzog, Wahlspiel nach den Regeln des
267
jedoch wollte die FIS vom Demokratisierungsprozeß ausgeschlossen sehen. Die
Integrationsbereitschaft kam exemplarisch in der Frankfurter Rundschau zum Ausdruck: „In Algerien sind die ernsthaften Beobachter überzeugt, daß kein arabisches
Land zur Demokratie kommen kann, ohne sich der religiösen Frage offen zu stellen.“619 Selbst eine Parlamentsmehrheit der FIS wurde von den meisten Zeitungen620
nicht prinzipiell abgelehnt.621
Hinsichtlich der Informationsbeschaffung machte sich bemerkbar, daß der überwiegende Teil der Nachrichten von den großen Nachrichtenagenturen AFP, AP,
Reuters und UPI sowie der nationalen Agentur dpa bezogen wurde. Korrespondentenberichte externer Redaktionen aus Madrid,622 Paris623 oder Nicosia624 ergänzten
die Agenturberichte; nur sehr selten angereichert durch Reiseberichte der Korrespondenten oder Vor-Ort-Berichte freier Mitarbeiter. Der bereits in Kapitel 5.2.2.4
festgestellte begrenzte direkte Informationszugang der deutschen Presse zur politischen Szene Algeriens machte sich unter anderem dadurch bemerkbar, daß die Islamisten – wie auch andere Oppositionsgruppierungen – zwar als Handlungsträger der
Politik, nicht jedoch als sogenannte „Gesprächspartner“ des Journalismus in Erscheinung traten.625 Zur aktiven Darstellung ihrer Belange weitaus größeren Raum
erhielten die Staatsorgane – was sich vor allem in Zeiten innerer Unruhen und des
Notstandes in einer Einseitigkeit der Argumentation niederschlug, die für die Vorwahlzeit untypisch war. Anläßlich der Verhaftung der FIS-Führer Madani und Ali
Belhadj im Sommer 1991 wurden via dpa, Reuters, AFP und AP allein regierungsoffizielle Stellungnahmen ausgewertet oder Angaben des algerischen Staatsfernsehens
619
620
621
622
623
624
625
268
Re-gimes?, FR 26.11.1991; Oliver Fahrni, Die ersten freien Parlamentswahlen in Algerien, taz
20.12.1991.
Werner Herzog, Mit dem Koran gegen Panzer, FR 28.6.1991. Oliver Fahrni bezeichnete in der tageszeitung eine Wahl ohne die FIS als „Farce“: Oliver Fahrni, Flucht vor Algeriens „großer, stummer Kraft“, taz 28.11.1991.
In der Vorwahlzeit zeigte Der Spiegel von allen untersuchten Medien die deutlichste gegen die
Islamisten gewendete Tendenz. Die Verhängung des Ausnahmezustandes im Juni 1991 als Reaktion
auf den Generalstreikaufruf der FIS, die ihrerseits gegen die unausgewogene Wahlgesetzgebung
protestiert hatte, wurde von dem Hamburger Nachrichtenmagazin zum Anlaß genommen, vor Gefahren des Islamismus zu warnen. Der FIS-Führer Abbassi Madani wurde mit Mussolini verglichen,
der Partei demokratische Intentionen grundsätzlich abgesprochen und eine FIS-Mehrheit als Herausforderung für das Militär beschrieben: eine Interpretation, bei der eine seltene Übereinstimmung
mit Positionen der Welt zu beobachten war. Wort Allahs, Spiegel 10.6.1991; Eiserne Faust, Spiegel
1.7.1991; Zu oft gelogen, Spiegel 23.12.1991; Bruno Funk, Sport, Poesie, Wissenschaft − auf dem
Boden des islamischen Erbes, Welt 24.12.1991.
Die Wirtschaftspresse (Handelsblatt, Nachrichten für den Außenhandel) reihte sich in den Tenor
ein. Sie kritisierte sowohl den Wirtschaftsreformkurs der algerischen Regierung Chadli Bendjedid
als auch Perspektiven einer Ökonomie unter der Ägide der FIS wegen der Schaffung eines kontraproduktiven Investitionsklimas: Staatspräsident Chadli muß sich mit den islamischen Fundamentalisten arrangieren, HB 11.1.1991; Vor der Parlamentswahl gerät Premier Hamrouche immer mehr
unter Druck, HB 24.5.1991; Harte Flügelkämpfe nach Chadlis Wahlentscheidung, HB 26.11.1991.
Frankfurter Rundschau (Werner Herzog).
Süddeutsche Zeitung (Rudolph Chimelli).
Handelsblatt (Birgit Cerha).
Zur Analyse von Gesprächspartnerschaften vgl. die theoretische Einführung zu Rosario Ragusa, Der
Medien-Stiefel. Italienberichterstattung in der deutschen Presse, Frankfurt/Bern 1981.
vermittelt, wonach die FIS-Führer wegen „bewaffnete(r) Verschwörung gegen die
Sicherheit des Staates“ verhaftet wurden.626 Dabei wurde allerdings deutlich, daß
erfahrene Redakteure in der Lage waren, durch ihre strukturelle Kenntnis der historischen und politischen Vorgänge des Nahen Ostens Informationsdefizite auszugleichen und einen quellenkritischen Umgang mit dem Agenturmaterial zu pflegen, der
auch unter schwierigen Bedingungen die Annäherung an eine kritisch-distanziertere
Berichterstattung gestattete.627
In der etwa dreiwöchigen Zwischenwahlperiode nach dem Sieg der FIS im ersten
Durchgang der Parlamentswahlen und dem Abbruch der Wahlen setzte sich in der
deutschen überregionalen Presse fast ausnahmslos ein antiislamistischer Tenor
durch. Die vormalige Befürwortung der Integration der FIS in den demokratischen
Prozeß entwickelte sich nach deren unerwartet hohem Sieg im ersten Wahlgang
(42,7%) in ihr Gegenteil. Betont wurde nunmehr überwiegend die Gefährdung der
Demokratie im Falle einer Machtübernahme durch die Islamisten, die die demokratische Wahl nutzten, um einen autoritären „islamischen Staat“ zu errichten. Der Meinungsumschwung in der Presse entfaltete sich in einem stark emotionalisierten Klima, das sich sprachlich in Überschriften wie „Klarer Sieg für radikale Moslems“,
„Algeriens grüne Gefahr“, „Rückfall ins Mittelalter“, „Furcht vor Algeriens Bärtigen“, „Der nächste Gottesstaat“ oder „Heilsfront nicht zu stoppen“ zum Ausdruck
kam.628
Ein bedeutsamer Topos in den untersuchten Pressemedien in der Zwischenwahlperiode waren die Befürchtungen westlicher Staaten hinsichtlich einer Islamisierung
Algeriens. Die Süddeutsche Zeitung berichtete über die Versicherung des Interimssprechers der FIS, Ali Ben-Hadj Haschani, seine Partei beabsichtige weder die Abschaffung bürgerlicher Rechte noch eine politische und wirtschaftliche Isolierung des
Landes. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung berichtete über Befürchtungen in den
algerischen Nachbarstaaten Marokko und Tunesien und hob dabei vor allem antibürgerliche und antiwestliche Statements hervor, während ein radikalerer Ton (Überprüfung der Beziehungen zum IWF, Verbot des Zinswuchers, Stärkung der Moral der
Frauen) tatsächlich erst mehr als eine Woche später in einem Manifest der FIS zu
erkennen war. Die Wirtschaftswoche antizipierte darüber hinaus, unter Bezugnahme
auf nichtgenannte Quellen, gar einen „‘islamistische(n) Gottesstaat’ nach iranischem
626 Noch keine Wahl in Algerien, FR 3.7.1991; vgl. a. Militär besetzt muslimische Zentrale in Algier,
SZ 2.7.1991; Von Aufstachelung bis Folter, FR 12.7.1991.
627 Vgl. in diesem Zusammenhang Rudolph Chimellis Kommentar zur Verhaftung der FIS-Führer, in
dem er entgegen der offiziellen Darstellung von einer „handstreichartige(n) Verhaftung“ sprach und
Kritik an dem von Wahlerwägungen getragenen Vorgehen der Regierung übte: Freifahrtschein für
die Fundamentalisten, SZ 2.7.1991; vgl. a. Dominic Johnson, Algeriens Zukunft gehört den Militärs, taz 5.7.1991; Rudolph Chimelli, Staatsstreich gegen Regierung und Fundamentalisten, SZ
6.7.1991.
628 Klarer Sieg für radikale Moslems, SZ 28.12.1991; Algeriens grüne Gefahr, SZ 28.12.1991; Abida
Femouri, Zwischen Euphorie und Katzenjammer (Dachzeile: Rückfall ins Mittelalter), ND
30.12.1991; Furcht vor Algeriens Bärtigen, SZ 31.12.1991; Der nächste Gottesstaat, Zeit 3.1.1992;
Werner Herzog, Heilsfront nicht zu stoppen, FR 6.1.1992.
269
Vorbild, [die/ K.H.] ‘Ausmerzung westlicher Sitten und Gebräuche’“.629 Für die
unmittelbar vor dem Staatsstreich erfolgende Verkündung von der Welt „Heilsfront
schafft Demokratie ab“ gab es zum Zeitpunkt der Veröffentlichung nur sehr vage
Hinweise.630
Die Beurteilung des Verhältnisses von Islamismus und Demokratie in Algerien
zur Zeit der Wahlen von 1991/92 fällt im Wissenschaftsdiskurs – der im Rahmen des
rekonstruktivistischen Ansatzes als Vergleichsgrundlage zur Dekonstruktion des
Mediendiskurses dient (vgl. Kap. 2) – sehr unterschiedlich aus. Wenig umstritten ist,
daß der Abbruch der Parlamentswahlen vor dem Hintergrund einer „doppelten Legitimitätskrise“ (dual-edged crisis of legitimacy) der Islamisten und der algerischen
Regierung zu beurteilen ist, wie dies Claire Spencer formuliert hat.631 Es gehört zu
den gravierendsten Problemen der Algerienberichterstattung der untersuchten Medienbeiträge, daß in den entscheidenden Tagen des Wahlabbruchs die Frage der demokratischen Legitimität dieses Vorgehens in der deutschen Presse kaum thematisiert wurde und statt dessen eine weitgehend unreflektierte Unterstützung des Staatscoups dominierte (s.u.). Während die Anbahnung demokratischer Wahlen in der
Vorwahlzeit als ein maßgeblicher Faktor für die Hinwendung der Presse zu Algerien
betrachtet werden kann, spiegelte sich in dieser Reaktion das ungeklärte Verhältnis
weiter Teile der großen deutschen überregionalen Pressemedien gegenüber demokratischen Entwicklungen in der arabisch-islamischen Welt wider. Das Resultat war,
daß in den untersuchten Medien dem Abbruch der Wahlen und dem Verbot einer bis
dahin akzeptierten (islamistischen) Opposition wenig Widerstand entgegengesetzt
wurde − mit möglichen weitreichenden Folgen für Politik und Öffentlichkeit in
Deutschland (vgl. Kap. 6.5.2 und 6.5.3).
Der Mediendiskurs kann unter anderem an folgenden thematischen Eckwerten
des Zusammenhangs von Islamismus und Demokratie in Algerien gemessen werden,
an denen das Meinungsspektrum des Wissenschaftsdiskurses deutlich wird:
• Islamismus und Demokratie: Es existieren zumindest drei Positionen zum Verhältnis zwischen Islamismus und Demokratie, die zwar durchgehend Demokra629 Annette Ruess, Ende des Elends, WIWO 10.1.1992. Ruess bezog sich nicht auf das FIS-Manifest,
sondern auf namentlich nichtgenannte „radikale Prediger“, die unter anderem ein Verbot jeglicher
weltlicher Presseerzeugnisse verlangten.
630 Heilsfront will Algerien nicht isolieren, SZ 30.12.1991; Walter Haubrich, „Algerien wird ein islamischer Staat“, F.A.Z. 30.12.1991; Islam soll Algerien beherrschen, FR 9.1.1992; Heilsfront
schafft Demokratie ab, Welt 11.1.1992. Die Welt schrieb: „Die FIS gibt es zwar nicht offen zu, aber
eine ihrer Prioritäten ist es, jegliche westliche Demokratievorstellung in Algerien auszurotten.“ Vgl.
a. Amir Taheri, Weg mit dem Rasiergerät, Welt 2.1.1992; In Algerien werden die Massen mobilisiert, Welt 3.1.1992; Amir Taheri, Noch hat Algerien eine Chance − aber sie ist sehr gering, Welt
13.1.1992.
631 Claire Spencer, Algeria in Crisis, in: Survival 36 (1994) 2, S. 154. Dazu auch Werner Ruf: „Das
Dilemma, das aus den Wahlen vor allem für den Westen resultierte, ist die Tatsache, daß aus den ersten wirklich freien und pluralistischen Parlamentswahlen in Algerien eine politische Kraft hervorging, deren Programm die Abschaffung der Demokratie westlichen Musters war, andererseits ein
putschistisches und korruptes Regime die Macht ergriff, dessen Herrschaft mit demokratischen
Normen und Prinzipien unvereinbar ist.“ Werner Ruf, Die algerische Tragödie. Vom Zerbrechen
des Staates einer zerrissenen Gesellschaft, Münster 1997, S. 112.
270
tiedefizite der algerischen Islamisten zum Zeitpunkt der Wahlen konzedierten,
jedoch mit sehr unterschiedlichen Akzenten:
-
-
Autoren wie Sigrid Faath, Hanspeter Mattes und Issam A. Sharif halten die
FIS für nicht demokratiefähig und für extremistisch.632 Die weitgehendste Position von Mattes und Faath verweist auf einen Mangel an organisationsinterner Demokratie der FIS, auf externe Finanzierungshilfen etwa von seiten
Irans und eine bereits vor den Wahlen von 1991/92 sichtbare Gewaltneigung
der FIS. Im Gegensatz dazu wird die algerische Armee als eine Institution betrachtet, die sich seit Ende der achtziger Jahre ideologisch umorientiert hat
und „hinter der republikanischen, pluralistischen Verfassung steht“.633
Lahouari Addi ist einer der prominentesten Vertreter einer wissenschaftlichen
Richtung, in der die Existenz bestimmter demokratieverträglicher Strömungen innerhalb des islamistischen Lagers hervorgehoben wird.634 Da die Islamisten Algeriens in der Medienberichterstattung überwiegend als eine homogene Gruppe behandelt wurden, muß aus der Sicht dieser Wissenschaftsrichtung kritisiert werden, daß Informationen über die Vielzahl der bestehenden
Gruppierungen und Strömungen im Mediendiskurs verlorengingen.635
632 Sigrid Faath, Die Konfusion über ein politisches Phänomen im Maghreb. Anmerkungen zu den europäischen und amerikanischen Reaktionen auf islamistische Bewegungen, in: Orient 35 (1994) 3,
S. 463 ff.; Issam A. Sharif, Algerien vom Populismus zum Islam, Wien 1992, S. 178 ff.
633 Sigrid Faath/Hanspeter Mattes, Keine Demokratie für die Feinde der Demokratie? Algeriens Dilemma im Umgang mit dem islamischen Fundamentalismus, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 37 (1992) 3, S. 281-289 (Zitat auf S. 288). Der Titel des Aufsatzes ist täuschend insofern, als das Fragezeichen und der Begriff „Dilemma“ die Autoren der dritten hier geschilderten
Strömung zuzuordnen scheinen (s.u.). Die Autoren beziehen jedoch, worauf auch die Redaktion der
Zeitschrift in einem Vorspann hinweist, deutlich Position gegen eine Integration der FIS in ein demokratisches System Algeriens, betrachten den folgenden Staatscoup als „das kleinere Übel“ im
Vergleich zu einem als sicher angesehenen totalitären islamistischen Staat und dem Abbruch der
Wahlen mit Hilfe der Armee als Voraussetzung für eine „langfristig(e)“ Demokratisierung (S. 288).
634 Lahouari Addi, L’Algérie et la démocratie. Pouvoir et crise du politique dans l’Algérie contemporaine, Paris 1994, S. 174, 185 ff. Vgl. a. die Ausführungen von Reinhard Schulz über „Bemühungen
um eine islamische Demokratie: Algerien 1988-1992“ (Kap. 8), in: Reinhard Schulze, Die arabische
Welt in der jüngsten Gegenwart 1986-1993, in: Ulrich Haarmann (Hrsg.), Geschichte der arabischen Welt, München 1994 (3., erw. Aufl.), S. 592-616. Andreas Meier attestiert dem Wirtschaftsprogramm der FIS von 1989 ein im Vergleich zu anderen islamischen Wirtschaftsentwürfen differenziertes Bemühen um eine Verbindung von aus dem islamischen Kontext abgeleiteten Sozialvorstellungen und der Marktwirtschaft: „Wer uns betrügt, gehört nicht zu uns!“ – Wirtschaftsprogramm
der Islamischen Heilsfront in Algerien (FIS) vom 17.3.1989, in: Andreas Meier, Der politische Auftrag des Islam: Programme und Kritik zwischen Fundamentalismus und Reformen. Originalstimmen
aus der islamischen Welt, Wuppertal 1994, S. 411.
635 Die FIS bestand zum Zeitpunkt der Wahl 1991/92 aus mehreren, zum Teil konkurrierenden Fraktionen. Die Salafiya-Bewegung der bekannten Führungsfiguren Madani und Belhadj orientierte sich
am medinensischen Gesellschaftsmodell der Zeit Mohammeds, verurteilte gleichwohl die autoritäre
Herrschaft in Saudi-Arabien wegen der Ausgrenzung des Volkes vom politischen Prozeß. Die FISGruppe der Gazara um Rabah Kebir war stark national orientiert und bevorzugte im allgemeinen
gemäßigte politische Strategien, einschließlich der Kooperation mit dem bestehenden algerischen
Regime. Die FIS verfügte über einen paramilitärischen Arm, die Armée Islamique du Salut (AIS),
die nicht zuletzt die Aufgabe besaß, die extremistischen Gruppierungen im Umfeld der FIS – vor allem der Groupement Islamique Armé (GIA) und der Mouvement Islamique Armée (MIA) -, deren
271
-
Eine dritte Position zum Verhältnis von Islam und Demokratie in Algerien
zeichnet sich bei Autoren wie Werner Ruf und Rémy Leveau ab, die zwar
ebenfalls davon ausgehen, daß die islamistische Bewegung in Algerien im
Tenor keine demokratischen Absichten hegte und hegt,636 die jedoch zugleich
auf das „doppelte Legitimitätsdilemma“ von Islamisten und Staat zurückverweisen und eine mögliche produktiv-integrierende Wirkung des Islamismus
für die algerische Demokratie erkennen. Dabei hat etwa Leveau darauf hingewiesen, daß selbst autoritäre islamische Systeme wie das iranische nach
dem Prinzip der modernen bürokratisch-zentralistischen Staatsführung funktionieren und daß es häufig, wie etwa in Ägypten, die Islamisten sind, die die
politische und soziale Integration gegenüber autoritären Systemen am deutlichsten fordern; ein Legitimitätsverlust, der auf seiten der herrschenden Regimes zu der Erkenntnis führen kann, daß eine demokratische Öffnung der
Gesellschaft bei wachsender politischer Spannung die einzig gangbare Alternative zu vergeblichen Versuchen der fortgesetzten autoritären Eindämmung
sein kann.637
Positionen wie die beiden letztgenannten haben zu Dialoginitiativen geführt. Auf
der Exilversammlung der Oppositionsparteien in der katholischen Kirche von
Sant’ Egidio in Rom (13. Januar 1995) wurde vor einem Dialog ohne Islamisten
gewarnt und die Wiederzulassung der FIS verlangt.638
• Bedingungen der Transition zum „islamischen Staat“: Zur Einführung eines mit
der bestehenden Verfassung unvereinbaren „islamischen Staates“ hätten auch
nach einem Wahlsieg der FIS eine Reihe von Bedingungen gegeben sein müssen.
Sie fanden in den untersuchten Beiträgen der Presse kaum Erwähnung, obwohl
sie, mehr noch als prinzipielle Erwägungen über den Zusammenhang von IslaBeziehungen zur FIS ständig in Bewegung waren, zu kontrollieren. Neben der FIS existierten zudem
die Hamas, die einen vergleichsweise ausgeprägten Modernismus pflegte und ausdrücklich nach einer Synthese von Islam und Demokratie suchte, sowie die Nahda (Erneuerung), deren Ziel vor allem
die individuelle Annäherung an den Islam war, während sie erst in zweiter Linie gesellschaftliche
und politische Ziele verfolgte. Ahmed Rouadjia, Die algerischen Islamisten, in: Wuquf 6/1991,
Hamburg 1992, S. 102-117.
636 Leveau: „Of course, the Islamists have no more consideration for formal democracy than Marxist
parties in the 1930s (...).“ Rémy Leveau, Reflections on the State in the Maghreb, in: George Joffé
(Hrsg.), North Africa: Nation, State, and Region, London/New York 1993, S. 259. Vgl. a. Ruf, Die
algerische Tragödie, S. 111.
637 Leveau, Reflections, S. 259 ff. Ähnliche Positionen finden sich auch bei: Crisis of State, in: Civil
Society. Democratic Transformation in the Arab World, Kairo 1995, S. 10-14; Arun Kapil, Algeria’s Crisis Intensifies. The Search for a Civic Pact, in: Middle East Report, Januar-Februar 1995,
S. 2-7; Ulrich Vogt, Algerien: Alternative Islam? Alternativer Islam?, in: Wuquf 6/1991, Hamburg
1992, S. 123-131; Spencer, Algeria, S. 149-163.
638 La Plate-Forme de Rome, in: Algérie: La Descente aux Enfers (Les Cahiers de L’Orient 4/19941/1995), Paris 1995, S. 9-12. Auch der französische Staatspräsident Francois Mitterand, dessen
kon-servative Regierung unter Innenminister Charles Pasqua einen harten Kurs gegen die algerischen Islamisten einschlug, verlangte einen von der EU geförderten Dialog auf der Basis der Verhandlungen von Rom. Paris Distances itself from Mitterand’s Call for EU Meeting on Crisis in Algeria, Jordan Times 7.2.1995.
272
mismus und Demokratie, Sicherungen gegen die Einführung eines autoritären islamischen Systems darstellten:
-
-
Selbst im Fall einer FIS-Mehrheit im Parlament hätte die Partei nicht allein
regieren können. Durch die bis 1993 währende Amtszeit des Staatspräsidenten Bendjedid wäre eine „Kohabitation“ nach französischem Vorbild erforderlich gewesen, was einen radikalen Wandel der Politik verhindern konnte,
insofern als die FIS auf die Kooperationsbereitschaft des Präsidenten angewiesen gewesen wäre.
Eine vorzeitige Absetzung des Präsidenten oder der gemeinsame Versuch der
FIS und des Präsidenten wiederum, die Verfassung abzuschaffen und ein autoritäres Regime einzuführen, hätte eine Intervention von seiten der Armee
legalisiert. Die Armee jedoch war zum Zeitpunkt der Wahlen streng antiislamistisch orientiert und verstand sich ähnlich wie die türkische Armee als Hüterin der bestehenden algerischen Verfassung,639 was schließlich deutlich
wurde, als sie selbst durch den Abbruch der Wahlen im Januar 1992 jeder anderen Entwicklungsdynamik zuvorkam.
• „Re-Islamisierung“ und Demokratisierung: In den untersuchten Pressebeiträgen
ist es nicht gelungen, das Phänomen des Islamismus (auch als „Fundamentalismus“640 bezeichnet) im Gesamtkontext der Re-Islamisierung zu lokalisieren. Die
Re-Islamisierung ist ein vielfältiges Phänomen der Revitalisierung religiöskultureller Denk- und Verhaltensweisen als breites Gesellschaftsphänomen in den
Staaten Nordafrikas sowie des Nahen und Mittleren Ostens, wobei politische Islambewegungen und Organisationen wie der FIS lediglich ein Bestandteil sind
(vgl. Kap. 6.3.1). In den untersuchten Medien gelang es nicht, zwischen der islamischen Grundorientierung weiter Teile der Bevölkerung und den teilweise radikalen Zielen von islamistischen Gruppen zu unterscheiden.641 Der Islam macht in
Algerien nicht nur Offerten für die Lösung der sozio-ökonomischen Probleme, er
trägt zum Teil auch identitätsstiftende Züge für die arabische und berberische
Bevölkerung im algerischen Staat, dessen Integrität bisher durch die Armee als
nationale Gründungsinstitution und die historische Legitimität der FLN als Befreiungsbewegung gewährleistet war.642
Insgesamt sind in der untersuchten deutschen Presse deutliche Mängel hinsichtlich
der ideologischen, staatsrechtlichen und soziologisch-kulturwissenschaftlichen Interpretation der Ereignisse in Algerien erkennbar. Es wirkten ähnliche Mechanismen
wie im Fall der Berichterstattung über die Iranische Revolution: Es kam zur Aus639 Sigrid Faath, Militär und Demokratie in Algerien seit 1989, in: Wuquf 6/1991, Hamburg 1992,
S. 11-77; Ulrike Borchardt, Das Militär in Algerien, in: Michael Brzoska (Hrsg.), Militarisierungsund Entwicklungsdynamik. Eine Exploration mit Fallbeispielen zu Algerien, Iran, Nigeria und Pakistan, Hamburg 1994, S. 107-139.
640 Hafez, Islam and the West: the Clash.
641 Vgl. a. Jahangir Amuzegar, The Truth and Illusion of Islamic Fundamentalism, SAIS Review 13
(1993) 2, S. 43-56.
642 Spencer, Algeria, S. 156 ff.
273
blendung fundamentaler sozialer Entwicklungen, die zum Verständnis der Islamfrage
erforderlich gewesen wären, zu einer Verengung der Thematik auf den Islamismus/
Fundamentalismus und zu einer Konzentration auf radikale Charakteristika dieser
Organisationen auf Kosten der differenzierten Einschätzung des Zusammenhangs
zwischen Islamismus und Demokratisierungsprozeß (vgl. Kap. 6.3.1).
Noch ein weiteres Charakteristikum ist vergleichbar mit der Iran-Berichterstattung von 1978/79: die Konzentration der Medien auf gewaltsame Züge des Islamismus. Nachhaltigen Einfluß auf die deutsche Berichterstattung übte die französische
Bedrohungsperzeption aus. Betont wurde die Angst Frankreichs vor zunehmender
Einwanderung und die Stärkung der islamischen Komponente innerhalb der frankoarabischen Bevölkerung, was wiederum der rechtsradikalen Front Nationale um
Jean-Marie Le Pen Auftrieb geben würde: „Mit Sorge sieht man in Paris bereits
Tausende Angehörige der geistigen und technischen Eliten, aber auch Frauen, die
nicht ins Mittelalter zurückgestoßen werden wollen, auf der Flucht vor den Fundamentalisten. Nur einer scheint sich die Hände zu reiben – Jean-Marie Le Pen.“643
Weder die ökonomischen Interessen Frankreichs noch die politisch-strategischen
Überlegungen der konservativen Regierung, die unter der Führung ihres Innenministers Charles Pasqua mit einer harten Linie gegenüber der FIS Stimmenverluste am
rechten Wählerrand vermeiden wollte, fanden Eingang in die untersuchten Pressebeiträge, die sich weitgehend mit einer Wiedergabe der offiziösen französischen Haltung begnügten.644
Der Spiegel verfolgte im Gesamtkontext der deutschen Bedrohungsperzeption
bezüglich des algerischen Islamismus eine besondere Nachrichtenpolitik. Das Hamburger Nachrichtenmagazin veröffentlichte in der Zwischenwahlperiode keinen Beitrag über Algerien, sondern statt dessen in zwei aufeinanderfolgenden Ausgaben
mehrseitige Artikel über die globale Ausweitung des Islam, die Gefahren einer islamischen Blockbildung „vom Atlas bis zum Indus“645 und eines Religionskrieges
zwischen Christen und radikalen Moslems in ganz Afrika.646 Die Entwicklung Algeriens wurde in den Kontext eines herannahenden epochalen Konflikts zwischen einem christlichen und modernen Westen auf der einen Seite und der islamischen Welt
auf der anderen Seite gestellt: „Droht somit nach dem Ende des Ost-West-Konflikts
mit dem Entstehen unberechenbarer fundamentalistischer Gottesstaaten am Rande
Europas ein neuer Glaubenskrieg? Kommt es zu einer unwägbaren Konfrontation mit
religiösen Eiferern, deren mittelalterliche Denkweise vor allem von Haß auf alles
Westliche geprägt ist?“647
Die Berichterstattung in der untersuchten deutschen Presse über eine islamische
Bedrohung fand ihren Höhepunkt in der Verbreitung einer nicht verifizierbaren
Nachricht („Zeitungsente“), wonach Algerien mit irakischer Hilfe im Begriff sein
sollte, eine Atombombe zu bauen. Ministerpräsident Sid Ghozali wies diese Annah643
644
645
646
647
274
LePens Wahlhelfer, FR 3.1.1992.
Franzosen blicken mit Sorge nach Algerien, FR 30.12.1991; Furcht vor Algeriens Bärtigen, a.a.O.
„Der Duft des Imam“, Spiegel 6.1.1992.
„Die gewaltigste Seelenernte“, Spiegel 20.1.1992.
„Der Duft des Imam“, a.a.O.
me als eine Spekulation der britischen Sunday Times zurück und sowohl die USA als
auch die Internationale Atomenergieorganisation (IAEA) betonten, daß es für Nuklearpläne Algeriens keine Hinweise gebe.648 Problematisch bei der Behandlung der
Atombombenfrage war, daß a) trotz der sachlichen Darstellung der verschiedenen
Sichtweisen der Topos einer islamischen Atombombe in dem für die algerische politische Entwicklung kritischen Moment unmittelbar vor dem zweiten Wahlgang eingeführt wurde, und daß b) die Nachrichtenagenturen und die Presse auf Grund der
reinen Möglichkeit einer gravierenden Gefahr gezwungen werden konnten, Falschmeldungen zu verbreiten, die ihrerseits das Öffentlichkeitsbild Algeriens, vor allem
im Hinblick auf die FIS-Mehrheit im zweiten Wahlgang, nachhaltig beeinträchtigten.
Die Bedrohungsszenarien der deutschen Presse waren von unterschiedlicher Begründbarkeit. Nachvollziehbar scheinen die französischen Bedenken hinsichtlich
einer massiven Fluchtbewegung aus Algerien und eines verstärkten Einwanderungsdrucks auf Frankreich, wobei weitgehend Unklarheit darüber herrschte, unter welchen Bedingungen eine Übersiedlung nach Frankreich tatsächlich vollzogen werden
konnte. Eine doppelte Staatsbürgerschaft berechtigte nur einen Teil der Algerier zum
dauerhaften Aufenthalt in Frankreich. Zudem wurde weithin übersehen, daß Probleme der Immigration nicht nur von der Nichtintegrierbarkeit der islamischen Algerier,
sondern ebenso durch den ungewöhnlich starken Säkularisierungsdruck Frankreichs649 verursacht werden können.650
Während Antworten auf die Frage einer algerischen Atombombe auf gänzlich
spekulativer Ebene verblieben, gleichwohl sie das Meinungsklima vor dem Staatsstreich nachhaltig beeinflußt haben dürften, war und ist die von Teilen der deutschen
Presse vermutete Bildung eines aggressiven islamischen Staatenblocks als neuer
politischer Herausforderung nach dem Ende des Ost-West-Konflikts zumindest unwahrscheinlich. Selbst im Fall einer Islamisierung der politischen Systeme des gesamten Nahen und Mittleren Ostens würden die unterschiedlichen Transformationsansätze und die traditionellen nationalstaatlichen und ethnischen Rivalitäten mit
großer Wahrscheinlichkeit die Bildung eines homogenen und handlungsfähigen
islamischen Staatenblocks verhindern.651 Die Iranische Revolution hat deutlich ge648 Algerien bestreitet Nuklearpläne, SZ 8.1.1992; Algeriens Ministerpräsident weist Berichte über
Putschplan von Generälen und Uranlieferung zurück, F.A.Z. 8.1.1992; Algier weist Verdacht zurück, FR 13.1.1992.
649 Zu dem Vergleich zwischen der Stellung der Religion und des Islam im französischen etatistischen
Säkularismus und im britischen Kommunalismus vgl. Gilles Kepel, Allah in the West. Islamic
Movements in America and Europe, Translated by Susan Milner, Cambridge/Oxford 1997.
650 Auch ein Teil der deutschen Wissenschaft sprach in diesem Zusammenhang wenig differenziert von
einer „Gefahr der massiven Zuwanderung“. Valérie Guérin-Sendelbach, Frankreich und das algerische Pulverfaß, Bonn, Juni 1994, S. 4.
651 Zur Geschichte der islamischen Weltpolitik vgl. Dieter Schröder, Die Konferenzen der ‘Dritten
Welt’. Solidarität und Kommunikation zwischen nachkolonialen Staaten, Hamburg 1968, S. 60-86;
Reinhard Schulze, Islamischer Internationalismus im 20. Jahrhundert. Untersuchungen zur Geschichte der Islamischen Weltliga, Leiden u.a. 1990; Vom Kalten Krieg zur Neuen Weltordnung:
Aufstieg des Islam als politischer Faktor auf regionaler und internationaler Ebene, in: Andreas Meier, Der politische Auftrag des Islam. Programme und Kritik zwischen Fundamentalismus und Reformen. Originalstimmen aus der islamischen Welt, Wuppertal 1994, S. 217-298.
275
macht, daß die Re-Islamisierung von Politik und Gesellschaft keine supranationalen
Auswirkungen besitzt, die über die bis dahin gekannte sporadische Allianzbildung
etwa im Zeichen des arabischen Nationalismus hinausgehen.652 Der wesentliche
Unterschied zwischen dem durch die sowjetische Imperialpolitik formierten Ostblock vergangener Zeiten und der „islamischen Welt“, in der weder die ideologischen noch die realpolitischen Voraussetzungen zur Blockbildung gegeben sind, ist
von der deutschen Presse nicht thematisiert worden. Nur vor dem Hintergrund dieser
zeithistorischen Gegebenheiten ist jedoch verständlich, daß die amerikanische Politik
sich zu einer sehr moderaten Haltung gegenüber Algerien entschied, die keine Befürchtungen vor islamischer Block- und Weltpolitik verriet, sondern den Willen, eine
Wiederholung von Fehlern der amerikanischen Außenpolitik während der Iranischen
Revolution im algerischen Fall zu vermeiden. Dem Vorwurf, die Liberalität der
Amerikaner spiegele ihre geopolitische Distanz von dem Konfliktherd Algerien
wider,653 kann insofern widersprochen werden, als es sich bei der Frage der Islamisierung der nahöstlichen und nordafrikanischen Politik um globalpolitische Erwägungen handelt, die die nationalen oder gar vitalen Interessen der USA betreffen.
Nach der gegen die Islamisten gerichteten Berichterstattung wurde der „kalte
Putsch“, in dessen Verlauf ein von der Armee gestützter Staatsrat die Geschäfte des
mit der FIS kooperationsbereiten Präsidenten Chadli Bendjedid übernahm, in der
deutschen Presse überwiegend als kleineres Übel im Vergleich zu einer islamistischen Majorität betrachtet. Josef Joffe sprach für die Süddeutsche Zeitung von einem
legitimen Putsch angesichts der Tatsache, daß auch die Gegenseite zu Gewalt neige.
Das Handelsblatt urteilte, die Armee werde keine Demokratie dulden, die durch die
FIS „ein totalitäres Regime an die Macht bringen würde“. Unklar blieb jedoch in
beiden Fällen, warum die Islamisten die inakzeptablere autoritäre Variante darstellten. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung, in der die faktische Übernahme der Regierungsgewalt durch das Militär allgemein als „sanfter Staatsstreich“ bezeichnet wurde,654 vertrat die Auffassung, daß sich die FIS aufgrund der niedrigen Wahlbeteiligung von 59 Prozent ohnehin nur auf ein Viertel des gesamten Wahlvolkes stützen
konnte und insofern eine Minderheit im Lande repräsentierte. Vergleiche mit Staaten
wie den USA belegen gleichwohl, daß eine auf einer Minderheit der potentiellen
Wählerstimmen basierende parlamentarische Mehrheit auch in westlichen Demokratien nicht unbekannt ist. Das Handelsblatt forcierte die Delegitimierung der FIS
durch die Annahme der Manipulation der Wahlen durch die FIS. Am 15. Januar
schließlich berichtete Die Welt, daß Frankreich nach dem Staatsstreich aufatmete.655
652 Fred Halliday, Iranian Foreign Policy since 1979: Internationalism and Nationalism in the Islamic
Revolution, in: Juan R.I. Cole/Nikki R. Keddie (Hrsg.), Shi’ism and Social Protest, New Haven/London 1986, S. 88-107.
653 Faath, Die Konfusion, S. 451-453.
654 Vgl. a. Beiträge aus späteren Rezeptionsperioden: Reinhold Brender, Zur Vergeltung entschlossen,
F.A.Z. 22.1.1992; ders., Die FLN vor der Auflösung, F.A.Z. 1.2.1992; ders., In Algerien nur Verlierer, F.A.Z. 9.6.1993; ders., Nationalkonferenz ohne Heilsfront, F.A.Z. 25.1.1994; Nur noch wenige
Deutsche in Algerien, F.A.Z. 11.3.1994.
655 Rücktritt in Algier, FR 13.1.1992; Josef Joffe, Ein Übel schlägt das andere, SZ 14.1.1992; Reinhold
Brender, In Algerien hängt jetzt vieles von den Streitkräften ab, F.A.Z. 13.1.1992; Zahlreiche Fra-
276
Die Presse übte lediglich zurückhaltende, auf wenige Beiträge beschränkte Kritik am
algerischen Staatsstreich, die redaktionell nicht stark ins Gewicht fiel. Die in einem
Beitrag der Frankfurter Allgemeinen Zeitung geäußerten Bedenken hinsichtlich des
möglichen Schadens an der Glaubwürdigkeit der Demokratie656 standen isoliert innerhalb einer im übrigen überaus eloquenten Betonung des antidemokratischen Charakters der FIS und der Rechtfertigung des Putsches. Rudolph Chimellis deutlicher
Vorwurf an die Kurzsichtigkeit einer grundsätzlichen Anti-FIS-Politik657 erfolgte erst
eine Woche nach Joffes Zustimmung und blieb ohne Echo in der zurückhaltenden,
nichtkommentierenden, auf die Ereigniswidergabe konzentrierten Redaktionspolitik
der Süddeutschen Zeitung. Die Berliner tageszeitung war das einzige überregionale
Pressemedium, das in der Zwischenwahlperiode eine durchgehend antizyklische
Berichterstattung betrieb. Sie stellte den Wählerwillen in den Vordergrund und bezeichnete den Staatsstreich als einen legalistischen coup d’état des Militärs, der der
Demokratieentwicklung in Algerien einen schweren Schlag versetzte: „Das algerische Volk darf nicht wählen, wie es regiert werden will.“658
Zu Beginn der Nachwahlzeit (ab Ende Januar 1992) wurde der Abbruch der
Wahlen wiederholt vor allem von der konservativen Frankfurter Allgemeinen Zeitung in längeren Beiträgen begründet. Der Göttinger Orientwissenschaftler Bassam
Tibi trat hierbei als Autor in Erscheinung. Tibi bestritt, daß es sich bei den Vorgängen in Algerien um einen „Putsch“ handelte, da eine Entmachtung des Ministerpräsidenten Sid Ghozali nicht stattgefunden habe: eine Einschätzung, die die Absetzung
Bendjedids und den Rücktritt des FLN-Exekutivkomitees unberücksichtigt ließ,
Formalaspekte der Verfassungstreue der Armee in den Vordergrund schob und das
gezeichen nach Chadlis Rücktritt, HB 13.1.1992; Günter Lerch, Algerien am Scheideweg, F.A.Z.
14.1.1992; Birgit Cerha, Koran oder Verfassung, HB 14.1.1992; Bruno Funk, Doch wie sehen die
Straßen von Algier nach dem Freitagsgebet aus?, Welt 14.1.1992; Günter Lerch, Kolonialmacht
stand unfreiwillig Pate, F.A.Z. 15.1.1992; Jochen Hehn, Nach dem Putsch atmet Frankreich hörbar
auf, Welt 15.1.1992; Reinhold Brender, Taktieren nach der Gründung des Staatskomitees in Algerien, F.A.Z. 17.1.1992; Reinhold Brender, Islamische Heilsfront zwischen Moderne und Gottesstaat,
F.A.Z. 18.1.1992; Günter Lerch, Erneuerung aus dem ‘Geist der Väter’?, F.A.Z. 20.1.1992.
656 Reinhold Brender, Hinter der neuen Führung steht die alte Elite Algeriens, F.A.Z. 16.1.1992.
657 Rudolph Chimelli, Fehldiagnose in Algerien, SZ 20.1.1992.
658 Oliver Fahrni, Die FIS geht „bis auf weiteres“ auf Tauchstation, taz 14.1.1992; vgl. a. Walter Kamalutti, Ungewißheit nach dem Wahlsieg, taz 2.1.1992; Oliver Fahrni, Algerien – ein gespaltenes
Land, taz 4.1.1992; ders., Algerien sucht sein Heil in der Flucht nach vorn, taz 13.1.1992; Dominic
Johnson, Chadli Bendjedids letzter Dienst an der Demokratie, taz 13.1.1992; Algerien – Militär
stoppt Demokratie, taz 14.1.1992; Keine Empörung über den Putsch, taz 14.1.1992; Die FIS meldet
sich zu Wort, taz 15.1.1992. Antizyklisch wirkten zeitweise auch die Nachrichten für den Außenhandel (Algerien vor ungewissen Weichenstellungen, NfA 6.1.1992). Das Neue Deutschland verfolgte mit Ausnahme von zwei Artikeln (Femouri, Zwischen Euphorie und Katzenjammer, a.a.O.;
Lothar Pilz, Paradoxe Lage, ND 14.1.1992) eine ebenso gegen den Islamismus gerichtete Berichterstattungspolitik wie weite Teile der übrigen untersuchten Presse. Algerien: Gegner der Heilsfront
formieren sich, ND 2.1.1992; Algerien: Hunderttausende bei ‘Marsch für Demokratie’, ND
3.1.1992; Andreas Fleischer, Algerien: Protest gegen Islamisten weckt neue Demokratiehoffnung,
ND 4./5.1.1992; ders., Legendär, ND 6.1.1992; Widerstand gegen drohende Islamisierung Algeriens
wächst, ND 7.1.1992; Algerien dementiert Atomkooperation mit Irak, ND 8.1.1992; Recht im Islam: Öffentliche Hiebe für Diebe, ND 11./12.1.1992; Unruhe in Nahost durch Ereignisse in Algerien, ND 15.1.1992.
277
Wesen eines Putsches als einer vom Militär herbeigeführten grundsätzlichen politischen Richtungsänderung ausblendete. Aus Tibis Perspektive war zudem der Abbruch der Wahlen kein Eingriff in die Demokratisierung, da lediglich undemokratische Kräfte an der Machtübernahme gehindert wurden – eine Position, die, wie oben
dargelegt, von Teilen der Wissenschaft vertreten wird.659
Reinhold Brender von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung bewegte sich auf der
Linie Tibis, als er wenig später den aus dem Exil zurückgekehrten und im Juni 1992
ermordeten Staatsratsvorsitzenden Mohammed Boudiaf als „Hoffnung auf einen
friedlichen Wandel im wichtigsten Land des westlichen Nordafrika“ bezeichnete;660
eine Position, die über die maßgeblich von Brender geprägte Idee der Unvermeidlichkeit des Wahlabbruchs dem algerischen Regime Modernisierungsimpulse für die
algerische Gesellschaft attestierte. Ähnliche Tendenzen waren bei Werner Herzog
von der Frankfurter Rundschau zu erkennen, der die maßgeblich von Boudiaf verkörperte Re-Französisierung der algerischen Kultur als eine modernistische Politik
beschrieb.661 Rudolph Chimelli von der Süddeutschen Zeitung bezeichnete Boudiaf
zur gleichen Zeit als „Galionsfigur“ der Generäle.662 Dabei muß anerkannt werden,
daß Boudiaf zumindest die Privilegienwirtschaft der herrschenden Kräfte kritisiert
hatte, weswegen die tageszeitung und Der Spiegel erwogen, ob Boudiaf möglicherweise statt von Islamisten von der Regierung oder der Armee selbst ermordet wurde.663
Unmittelbar nach dem Abbruch der Wahlen war in den untersuchten deutschen
Pressebeiträgen auch eine staatskritische Strömung erkennbar. Die Medien beobachteten aufmerksam die Entwicklungen in Algerien, die verstärkten Repressionsmaßnahmen, die sich zum Beispiel in der Einengung der Spielräume für die Parteien
bemerkbar machten. Die staatlichen Internierungslager für Oppositionskräfte, vornehmlich in Wüstenregionen gelegen, wurden etwa im Zusammenhang mit der Verhaftung von mehr als 1500 Studenten vom „Komitee für die Achtung des Volkswillens“ erwähnt. Insgesamt wandte sich die Mehrheit der Presse zwar nicht gegen das
Verbot der FIS, zielte jedoch, um in der Terminologie Brenders zu verbleiben, auf
eine Wahrung des „sanften“ Charakters des Staatsstreichs. Nicht der demokratischen
659 Bassam Tibi, Daß die Demokratie ein Unglaube ist, F.A.Z. 14.3.1992. Anders als Tibi hatte Brender das Gewicht des Militärs anerkannt (Reinhold Brender, Der Einfluß der algerischen Streitkräfte
auf die Innenpolitik, F.A.Z. 14.1.1991). Tibi wurde in einem Leserbrief „Unkenntnis oder Voreingenommenheit“ vorgeworfen, da er weder den Gewaltcharakter des Regimes noch die Heterogenität
der islamistischen Bewegung, in der neben autoritären auch pluralistische Tendenzen erkennbar waren, erwog. Ayub bin Jafar Az-Zuhry, Eine pluralistische Volksbewegung Algeriens, F.A.Z.
25.3.1992.
660 Reinhold Brender, Ein Mann der Hoffnung/ An den Aufgaben gescheitert, F.A.Z. 30.6.1992; vgl. a.
ders., Der Staatsstreich als kleineres Übel, F.A.Z. 16.5.1992.
661 Werner Herzog, Die Haßliebe dauert an, FR 14.3.1992.
662 Rudolph Chimelli, Revolutionäre Justiz in mörderischem Tempo, SZ 30.6.1992.
663 Thomas Schmid, Ein Mann, der das Volk ersetzen sollte, taz 30.6.1992; Nur noch der Abgrund,
Spiegel 6.7.1992.
278
Gewaltausübung, sondern der Wahrung bürgerlicher Rechte galt das Hauptaugenmerk nach dem Wahlabbruch.664
Auch Der Spiegel, der sich in den vorhergehenden Rezeptionsperioden der algerischen Wahlen als besonders kompromißlos gegenüber den Islamisten gezeigt hatte,
veränderte nach dem Staatsstreich seine Berichterstattungspolitik. Erstmals wurde
die FIS als Massenbewegung eingeordnet und der Abbruch des Demokratieexperiments als Auslöser für starke innere Unruhen bezeichnet.665 Der Spiegel verfolgte
damit in jeder Phase der Berichterstattung redaktionell einheitliche und im Vergleich
zu anderen Pressemedien extreme Positionen, die zeitweise mit der, zeitweise gegen
die Grundströmung der Presse verliefen. Die Politik des Hamburger Nachrichtenmagazins im Zusammenhang mit der Algerienkrise läßt auf eine erhebliche journalistische Unabhängigkeit schließen, die allerdings auch mit einem hohen Maß inhaltlicher Unberechenbarkeit einherging. Die außerordentliche Wandlungsfähigkeit des
Magazins überschritt die Toleranzspielräume der anderen untersuchten Pressemedien
und verriet keine inhaltliche redaktionelle Linie, statt dessen jedoch eine Tendenz
zur kontrastiven Berichterstattung.
Im Verlauf der Jahre 1992 bis Frühjahr 1995 verlagerte sich der Schwerpunkt der
Berichterstattung erneut von der kritischen Begleitung des Staates zur Dokumentation und Verurteilung des fundamentalistischen Terrorismus. Eine große Zahl von
Beiträgen beschäftigte sich mit diesem Aspekt,666 während die staatliche Repression
zunehmend den Charakter eines publizistischen „Nebenschauplatzes“ einnahm.667
664 Bruno Funk, Algier engt Spielraum für Parteien ein, Welt 21.1.1992; ders., Algier verhaftet Führung der FIS, Welt 24.1.1992; Oliver Fahrni, Die FLN debattiert die Auflösung, taz 29.1.1992; Rudolph Chimelli, Wütender Krieg gegen die Moscheen, SZ 10.2.1992; Verhängung des Ausnahmezustandes in Algerien erwartet/Zentrale der Islamischen Heilsfront geschlossen, SZ 10.2.1992; Neuer Schlag gegen Algeriens Islamisten, taz 5.3.1992; Oliver Fahrni, „Radio Trottoir“ hat diesmal geirrt, taz 6.3.1992.
665 Bereits Ende Januar 1992 schließt ein Spiegel-Artikel mit einem Interview des ägyptischen Nobelpreisträgers Nagib Mahfuz: „’Man sagt, das Wahlvolk Algeriens habe einen Fehler begangen. (...)
Aber warum läßt man dem Volk nicht die Gelegenheit, selbst mit diesem Fehler fertig zu werden?“
In einem anschließenden Interview wurden dem ägyptischen Schriftsteller und Islamismus-Kritiker
Farag Foda kritische Fragen gestellt, die dem bis dahin verfolgten Tenor des Nachrichtenmagazins
diametral entgegenliefen. Finger weg, Spiegel 27.1.1992; „Zwangsjacke fürs Volk“, Spiegel
27.1.1992. Vgl. a. Im Strom der Jünger, Spiegel 20.1.1992; Gulag in der Wüste, Spiegel 16.3.1992.
666 Vgl. u.a. Rudolph Chimelli, Mordbefehle von der Tonbandkassette, SZ 19.3.1993; „Algerien auf
einer Reise der Angst“, Spiegel 2.8.1993; Hans-Hagen Bremer, Paris droht der Heilsfront, FR
8.11.1993; Von Terroristen verfolgt, FR 16.12.1993; Jochanan Shelliem, Die verquere Logik eines
Mordan-schlags, FR 17.3.1994; Hoher Beamter in Algerien ermordet, F.A.Z. 29.3.1994; Khalil
Abied, „Unter der Asche liegt noch die Glut“, taz 27.4.1994; Die Region um Jijel – Opfer der Gewalt, FR 17.5.1994; Die Wahl zwischen Koffer und Sarg, Spiegel 11.7.1994; Alexander Gschwind,
Südeuropäer wollen gehen, FR 14.7.1994; E. Antonaros, Der große Exodus – die Besten gehen,
HAB 19.7.1994; Khalil Abied, „Heiliger Krieg“ jeder gegen jeden, taz 2.8.1994; Werner Herzog,
Tödlicher Terror in Algerien, FR 5.8.1994; Selbstbezichtigung nach der Ermordung von fünf Franzosen, F.A.Z. 6.8.1994; Moslem-Guerilla droht Paris mit Terror, Welt 8.8.1994; Reinhard Hesse,
Der Islam: Bedrohung für den Westen?, DWO 7.10.1994; Werner Herzog, Gewalt in Algerien, FR
19.10.1994; Die algerische GIA setzt auf Gewalt, F.A.Z. 27.12.1994.
667 Ausnahmen bildeten etwa folgende Beiträge: Khalil Abied, Der Schleier als Schutz vor Mord, taz
20.4.1994; Rudolph Chimelli, Das grausame algerische Wechselspiel, SZ 18.7.1994; Oliver Fahrni,
279
Nicht nur fand die Gewaltproblematik grundsätzlich ein größeres Medienecho als
strukturelle Entwicklungsfragen, sondern darüber hinaus war innerhalb der Konfliktberichterstattung ein Ungleichgewicht zuungunsten des islamistischen Terrors zu
erkennen. Die Verfolgten des individuellen Terrors der Islamisten (Intellektuelle,
Frauen, später auch Ausländer) besaßen größere Präsenz in den Pressemedien als die
Opfer der staatlichen Repression. Mit dieser Tendenz fiel der überwiegende Teil der
untersuchten Artikel im Laufe der Jahre 1992/93 hinter die nach dem Staatsstreich
erkennbare kritische Haltung der Presse gegenüber dem algerischen Staat, seiner
Fähigkeit zur Moderation und zur Einhaltung der Menschenrechte zurück. Obwohl
Regierung und Militär ebenfalls eine große Zahl politisch motivierter Verbrechen
(u.a. Folter) zu verzeichnen hatten,668 war die mediale Resonanz auf staatliche Repression in Algerien relativ gering – eine Beobachtung, die sich mit den Ergebnissen
der quantitativen Analyse deckt (vgl. Kap. 5.2.2.2).
Seit Herbst 1993 war in der deutschen Presse eine sporadische Gegentendenz zu
dem bis dahin dominierenden Tenor der Berichterstattung erkennbar. Sie kam in
einer verstärkten Forderung nach Reintegration der FIS in den politischen Prozeß
zum Ausdruck und richtete sich damit gegen die bis dahin gehegte überwiegende
Akzeptanz der Aussetzung des Demokratisierungsprozesses. Der langsame Lernprozeß der Presse war offenbar durch die immer deutlicher werdende Destabilisierung
Algeriens nach dem Wahlabbruch verursacht worden.669
Zu erkennen war jedoch, daß die Rückkehr zur Demokratisierung immer dann
mit Nachdruck thematisiert wurde, wenn die (algerische, amerikanische oder europäische) Politik eine solche Fragestellung auf die Agenda hob. Kurzfristige Dialogdebatten und -forderungen der Presse,670 in denen nunmehr auch Vertreter der Islamisten in Interviews zu Wort kamen, erfolgten in erstaunlicher Parallelität zu den
Jenseits von Algier, DWO 11.8.1994; Morde und Hinrichtungen in Algerien, taz 24.10.1994; Spanien ruft Bürger aus Algerien zurück, Welt 25.10.1994; Neue Konfrontation in Algerien, SZ
3.11.1994; Michael Lüders, Die starre Haltung der Generäle, Zeit 11.11.1994.
668 Vgl. Livre blanc sur la répression en Algérie (1991-1994), Comité Algérien des militants libres de la
dignité humaine et des droits de l’homme, Planles-Quates (Schweiz) 1995. Das Komitee steht den
Islamisten nahe, die Angaben des Weißbuchs decken sich jedoch vielfach mit Berichten von amnesty international. Ruf, Die algerische Tragödie, S. 123.
669 Reinhold Brender, Verschärfter Terror in Algerien, F.A.Z. 29.10.1993.
670 Reinhold Brender, Algeriens Führung ratlos im Kampf gegen die Fundamentalisten, F.A.Z.
24.8.1993; ders., Die Heilsfront schließt den Dialog mit der algerischen Regierung aus, F.A.Z.
11.11.1993; Der Friedenspoker beginnt, Spiegel 1.11.1993; Birgit Cerha, Viele Hürden vor einem
Dialog, HB 19.7.1994; Werner Herzog, Dialog bleibt ein Versprechen, FR 25.7.1994; Reinhold
Brender, Schweigen und Leiden in Algerien, F.A.Z. 9.8.1994; Lothar Rühl, Unheilige Gewaltfront,
Welt 9.8.1994; Andrea Nüsse, Qual der Wahl, WP 11.8.1994; dies., „Für die Radikalen sind wir sogar Verräter“, WP 25.8.1994; Werner Herzog, Neue Hoffnung in Algerien, FR 15.9.1994; Oliver
Fahrni, Der Pakt von Rom, DWO 2.12.1994; Reinhold Brender, Bedeutet die Konferenz von Rom
einen neuen Anfang?, F.A.Z. 12.1.1995; Thomas Schmid, Aber zwei Fragen sind noch offen, taz
14.1.1995; ders., Noch lehnt Algier den Dialog ab, taz 20.1.1995; Willi Germund, „Wir können
noch nicht gewinnen“, taz 23.1.1995.
280
Dialoginitiativen der Politik im Herbst/Winter 1993/94 und im Herbst/Winter
1994/95,671 die als Impulsgeber fungierten.672
Wenn hier eine nachhaltige Wirkung der Politik auf die Presse erkennbar wurde,
so war das umgekehrte Verhältnis im Fall der seit Ende 1994 zunehmenden Morde
an Ausländern erkennbar. Diese führten in der deutschen Presse zu einer neuerlichen
Verhärtung gegenüber den Islamisten, die eine innenpolitische Debatte über
Deutschland als Basis der FIS und des Extremismus (z.B. für eine Führungsfigur der
FIS wie Rabah Kebir) auslöste,673 wobei die Polarisierung zwischen dem islamischen
Algerien und dem Westen forciert wurde: „Der Bürgerkrieg in Algerien wird nicht
um die Regierungsmacht in Algerien geführt. Es geht, auch bei der Verfolgung von
Ausländern, vor allem um Leben oder Vernichtung der Schichten und Gruppen, die
als prowestlich gelten und ihr Land kulturell, wirtschaftlich und politisch offenhalten
wollen. (...) Die Verbündeten sollten Frankreich nicht allein lassen.“674
6.5.2 Dekonstruktion II: Algerienberichterstattung
keit – Außenpolitik
–
Öffentlich-
Die Berichterstattung über die algerischen Wahlen von 1991/92 bietet vielfältige
Möglichkeiten der theoriegeleiteten Interpretation. Insbesondere vor dem Hintergrund der Agenda-Setting-Hypothese und des hohen Wirkungspotentials der Medien
unter den Bedingungen der Distanz zum Auslandsgeschehen ist zu fragen, wie die
Themenagenda im Fall der Algerienkrise zu beschreiben ist, in welchem Verhältnis
Thematisierung und Nicht-Thematisierung standen und welche Impulse für die öffentliche Meinungsbildung von den Medien in bezug auf einen Konflikt ausgingen,
der in Nachbarschaft zu Europa und zum Einzugsgebiet der Europäischen Union
beheimatet ist. Da die Algerienkrise, obgleich primär ein nationaler Konflikt, eine
ausgeprägte internationale Dimension aufwies, insofern als sowohl die europäische
als auch die amerikanische Außenpolitik involviert waren, stellt sich die Frage nach
dem Verhältnis zwischen Medien und Außenpolitik. War die Algerienberichterstat-
671 Zum Dialogprozeß vgl. Sigrid Faath, Algerien 1993, in: Nahost Jahrbuch 1993. Politik, Wirtschaft
und Gesellschaft in Nordafrika und dem Nahen und Mittleren Osten, Hrsg. vom Deutschen OrientInstitut/Thomas Koszinowski/ Hanspeter Mattes, Opladen 1994, S. 56 f.
672 Einzelne Autoren nahmen die Dialoginitiativen gleichwohl zum Anlaß, ihre Haltung grundsätzlich
zu überdenken. Bemerkenswert war hierbei der Wandel, den das Denken Reinhold Brenders von der
Frankfurter Allgemeinen Zeitung vollzog, wobei dieser anfangs einer der führenden Verteidiger des
Wahlabbruchs war, mit dem zunehmend desolateren Zustand der algerischen Innenpolitik jedoch
einen Lernprozeß vollzog, so daß er anläßlich des Treffens der Opposition (einschließlich der FIS)
die klare Forderung an die EU stellte, ihre Politik gegenüber der FIS grundsätzlich zu überdenken.
Vgl. neben den bereits angeführten Beiträgen Brenders zum Dialog v.a. Reinhold Brender, Ein wenig Hoffnung für Algerien, F.A.Z. 16.1.1995.
673 Morddrohungen islamischer Extremisten gegen westliche Botschaften in Algier, F.A.Z. 5.1.1995;
Zuckungen der Bestie, Spiegel 27.3.1995; Ludwig Greven, Allahs deutsche Vorhut, DWO
6.1.1995; Zittern vor Allahs Kriegern (Titel), FOC 6.2.1995.
674 Zwischen den Fronten, F.A.Z. 5.1.1995.
281
tung ein Reflex auf die deutsche Außenpolitik, oder waren umgekehrt Journalisten
und Medien Impulsgeber der Politik, d.h. waren sie „Mitgestalter“ der Außenpolitik?
6.5.2.1 Medienagenda und Demokratieentwicklung
Die große Zahl der Pressebeiträge über die algerischen Wahlen von 1991/92 und das
nachfolgende Geschehen verdeutlicht: die Algerienkrise war auf der Agenda der
deutschen Presse etabliert. Da die Auslandsberichterstattung auf Grund der relativen
Knappheit von Ressourcen und Platzkapazitäten (vgl. Kap. 5.1.1) über begrenzten
Raum zur Thematisierung verfügte, gab der Umfang der Berichterstattung Aufschluß
über die große öffentliche Relevanz und politische Signifikanz, die der Algerienkrise, den algerischen Wahlen und der algerischen Demokratieentwicklung aus der
Sicht deutscher Medien zukam. Eine Analyse des medialen Auslandsbildes zeigt eine
spezifische Diskursformation. Während noch in der Vorwahlzeit eine pluralistische
Framing-Struktur hinsichtlich der Beurteilung des islamischen Faktors im Demokratisierungsprozeß erkennbar war, verengte sich der Diskurs mit Beginn der Zwischenwahlperiode auf einen operativen master frame mit dem Tenor: „Eine islamistisch majorisierte algerische Demokratie endet in der Diktatur eines islamischen
Staates und muß verhindert werden.“ Alternative Frames, wie etwa a) die doppelseitige Legitimitätskrise der Islamisten und der Regierung, b) die Unvorhersagbarkeit
der konkreten Form eines „islamischen Staates“ und seines demokratischen Gehalts,
c) die (später tatsächlich bestätigte) Gefahr einer Bürgerkriegseskalation oder d) die
Notwendigkeit der Solidarisierung der deutschen Öffentlichkeit mit allen Demokratiekräften in Algerien wurden nach dem ersten Wahlgang – von Ausnahmen abgesehen – nicht mehr erörtert. „Keine Empörung über den Putsch“ – diese Überschrift der
Berliner tageszeitung über die Reaktionen der französischen und spanischen Presse
auf den algerischen Staatsstreich kennzeichnet auch den Tenor der untersuchten
deutschen Medienbeiträge.675
Neben der parallel zur Zuspitzung der Algerienkrise erfolgenden Verjüngung der
Frames im deutschen Pressediskurs (Vor- und Zwischenwahlperiode) war ein zweites Merkmal charakteristisch für die Medienagenda. In der Nachwahlzeit verschwand das Sub-Thema der Demokratisierung und der Entwicklung des politischen
Systems Algeriens weitgehend aus den Medien, was aus der Sicht des Modells der
Kontextpyramide (vgl. Kap. 3.2.1.2, Abb. 3.6) einer Rückstufung von der tiefergehenden Kontextebene politischer Entwicklungsanalysen auf die akute Handlungsund Geschehensebene entsprach. Die grundsätzliche politische Thematik wurde
durch das akute Gewaltgeschehen überlagert, mit Ausnahme von kurzen Perioden, in
denen Thematisierungsimpulse des politischen Systems (Dialoginitiativen) von den
Medien aufgenommen wurden.
Kennzeichen des Algeriendiskurses war also insgesamt eine fortschreitende Einschränkung der Medienagenda, zunächst auf bestimmte Frames innerhalb eines breiten Themenspektrums, später auf bestimmte Themenbereiche. Für diese Entwicklung
675 Keine Empörung über den Putsch, a.a.O.
282
sind eine Reihe von Faktoren auf allen theoretischen Ebenen der Auslandsberichterstattung (Mikro-, Meso- und Makroebene) anzuführen.
Der Zeitpunkt des Framing-Umschwungs – direkt nach dem ersten Wahlgang und
noch vor den ersten möglichen Anzeichen islamistischer Gewalt oder demokratiefeindlicher Maßnahmen – weist auf vorhandene stereotype Vorstellungen über den
Islam, die Islamisten und den islamischen Staat hin. Diese Stereotype trugen zur
Aktivierung des antiislamistischen master frame bei. Daß soziopsychologische Prägungen eine Rolle spielten, zeigte der zeitliche Ablauf: Der gegen die Regierungsübernahme der FIS gewandte Pressetenor entwickelte sich unmittelbar nach Bekanntwerden der Ergebnisse des ersten Wahlgangs, während konkrete Hinweise auf
diktatorische Bestrebungen der FIS, sofern überhaupt klar ersichtlich, erst Tage
später erkennbar wurden. Der deutsche Meinungsumschwung zuungunsten der Islamisten war damit, zumindest am Anfang, keine Reaktion auf konkrete politische
Ereignisse, sondern folgte vorgeprägten Mustern der Islamwahrnehmung (etwa dem
Referenzmodell der Iranischen Revolution). Diese Beobachtung ist unabhängig davon, welcher wissenschaftlichen Interpretation über den Zusammenhang Islamismus/Demokratie man folgt und wie man das Demokratiepotential der FIS einschätzt,
d.h. wie hoch die Realitätsadäquanz des Islamistenbildes einzustufen ist. Werner
Rufs Kritik, wonach ein Teil der deutschen Wissenschaft kultur-differentialistische
Vorstellungen eines Gegensatzes Islam/Westen oder Islam/Demokratie zur Erklärung komplexer politisch-gesellschaftlicher Vorgänge in Algerien heranzog,676 läßt
sich analog auf weite Teile der untersuchten Medienbeiträge übertragen, beispielsweise auf die Beiträge des Spiegel über die Ausbreitung eines antiwestlich orientierten Islamismus vom Atlas bis zum Indus und ganz Afrika.
Die deutsche Medienreaktion läßt sich allerdings nicht allein mit sozialpsychologischen Prädispositionen auf der Mikroebene der Theorie erklären. Als sich im Verlauf der Zwischenwahlperiode Vorstellungen einer von Algerien ausgehenden Bedrohung Europas mehrten, kamen andere Faktoren hinzu, die ebenfalls formativ auf
den Algeriendiskurs wirkten. Erkennbar wurden Probleme der Transparenz des Informationssystems der Presse. Bereits am Beispiel der Berichterstattung über die
Verhaftung der FIS-Führer Madani und Belhadj im Sommer 1991 war deutlich geworden, daß sich die theoretisch kritisierte strukturelle Transparenz des Systems der
Auslandsberichterstattung für die massive Verbreitung von Regierungspositionen im
Fall der Algerienberichterstattung verifizieren ließ. Die entsprechenden Beiträge
bestanden ausschließlich aus Informationen, die mit den Hinweisen „nach offiziellen
Angaben“, „laut Meldung der algerischen Nachrichtenagentur APS“, „im [algerischen/K.H.] Fernsehen“ und „französischen Rundfunkberichten zufolge“ oder „der
Regierungserklärung zufolge“ gekennzeichnet waren.677 Aus theoretischer Sicht war
676 Ruf: „Wer auf dieser vereinfachten und dichotomisierenden Oberfläche verbleibt, kommt über die
Beschreibung von Phänomenen nicht hinaus. Wer gar den Fundamentalgegensatz zwischen Islamismus, Gottesherrschaft und Diktatur einerseits und Laizismus und Demokratie andererseits auf
das algerische Konfliktfeld projiziert, der ist dann folgerichtig gezwungen, die Gruppe an der Macht
zum Verteidiger der Demokratie zu adeln.“ Ruf, Die algerische Tragödie, S. 133.
677 Noch keine Wahl in Algerien, a.a.O.; Militär besetzt muslimische Zentrale in Algier, a.a.O.
283
damit eines der beiden Kriterien für die Weitergabe von Nachrichten (vgl. Kap.
3.2.3.2) erfüllt – die Kennzeichnung der Quelle –, das zweite Kriterium – die Qualifikation der Quelle – jedoch blieb unerreicht, da die weitergegebenen Positionen ausschließlich die Haltung der (autoritären) algerischen Regierung reflektierten.
In der Zwischenwahlperiode im Januar 1992 gelangten Falschmeldungen über
den Bau einer algerischen Atombombe über den Umweg Großbritanniens in die
deutsche Presse. Hier setzte sich ein innerjournalistischer Meinungsführereffekt (vgl.
Kap. 3.2.3.4) durch, dessen Ausgangspunkt möglicherweise jedoch außerhalb des
Mediensystems in einer bewußt lancierten Desinformationsstrategie zu suchen ist.
Da letztere Überlegung jedoch im Rahmen einer Medienuntersuchung nicht zu verifizieren ist, bleibt aus theoretischer Sicht die durch den Meinungsführereffekt verstärkte Anfälligkeit der Medien für Falschinformationen zu konzedieren. Das berechtigte Prinzip der Gefahrenabwendung von der Gesellschaft durch das „Frühwarnsystem“ der demokratischen Presse bei Konflikten mit internationaler Dimension wurde im Fall der Algerienberichterstattung vor dem Hintergrund der starken Einflüsse
medienexterner Informationsgeber und begrenzter Kapazitäten der Eigenrecherche
und der Quellenkontrolle strukturell unterlaufen. Hier wird deutlich, welche Folgen
die Tatsache nach sich ziehen kann, daß, wie in Kapitel 5.2.2.4 ermittelt, Algerien
lediglich ein Zweitstandort für deutsche Korrespondenten aus externen Redaktionen
in Paris und Madrid ist.
Während sich mit Stereotypen und den Konstellationen der Nachrichtenbeschaffung weite Teile des Meinungsumschwungs in der Zwischenwahlperiode erklären
lassen, bleibt zu fragen, wie die in der Nachwahlzeit folgende Überlagerung der
Demokratie- durch die Gewalt- und Bürgerkriegsthematik zu erklären ist. Hier spiegelten sich einerseits reale Verschiebungen vom politischen Prozeß zur Auseinandersetzung zwischen Paramilitaria und Staat wider. Andererseits war die Entwicklung Algeriens in den Jahren 1992 bis 1994/95 nicht durch einen permanenten Bürgerkriegszustand gekennzeichnet, sondern Phasen der islamistischen und/oder staatlichen Gewaltausübung wechselten sich mit Phasen verstärkter Dialoginitiativen und
anderen politischen Aktivitäten ab. Dies wirft die generelle Frage auf, welche Kriterien der Nachrichtenselektion, d.h. welche Nachrichtenfaktoren für die deutsche
Berichterstattung über Algerien existieren und ob Algerien generell aus einer „Konfliktperspektive“ (Kap. 3.2.1.2) betrachtet wird.
Die quantitative Untersuchung der Algerienberichterstattung hat gezeigt, daß Algerien allgemein im oberen Mittelfeld liegt, sowohl was die allgemeine Beachtung
durch die deutsche Presse als auch die Präsenz in Nachrichten mit negativer Ereignisvalenz (Gewaltgeschehen) angeht (vgl. Kap. 5.2.2.3, Tab. 5.8, A 5.35 und A
5.36). Dies bedeutet, Algerien befindet sich im Mittelfeld derjenigen Länder, über
die im Zusammenhang mit Gewalt aus Nordafrika/Nahost berichtet wird. Aus Sicht
des ersten theoretischen Kriteriums für die Konfliktperspektive – des Ländervergleichs – und angesichts der längeren kriegerischen oder bürgerkriegsähnlichen Perioden (vor allem 1958-64 und seit 1992), die Algerien durchlebt hat, ist dies kein
Ausweis für eine Konfliktperspektive der Medien. Hinsichtlich des zweiten Kriteriums – mehr als 50 Prozent negative Ereignisvalenzen – muß allerdings festgestellt
284
werden, daß nahezu Parität zwischen neutralen und negativen Ereignisvalenzen besteht. Algeriens Darstellung in der deutschen Presse überschreitet die 50-ProzentHürde sogar, wenn man Nennungen der Mischkategorie „negativ-neutral“ hinzurechnet. Dies bedeutet: Der großen Zahl von Berichten über Konflikte aus Algerien
stand während der längeren Perioden des Nicht-Krieges (1955-57 und 1965-91) ein
dünnerer Strom über neutrales politisches und sonstiges Geschehen gegenüber.
Insgesamt muß gefolgert werden, daß die früher gehegte Annahme, wonach die
Überlagerung der Demokratie- durch die Gewaltthematik in der Nachwahlzeit 19921994/95 das Resultat einer generellen Konfliktperspektive der Algerienberichterstattung war,678 eingeschränkt werden muß. Der Nachrichtenfaktor „Konflikt“ ist trotz
seiner hohen Intensität nicht der alleinige Selektionsmechanismus der Nachrichtengebung, denn das Aufkommen an Nachrichten über neutrale politische Vorgänge in
der deutschen Presse ist hoch genug, um unter anderem Berichte über den Demokratisierungsprozeß zu ermöglichen, wie die mehrfache kurzfristige Berichterstattung
über Dialoginitiativen in den Folgejahren des Wahlabbruchs belegt. Dies bedeutet im
Umkehrschluß, daß weniger die Absenz politischer Themenstellungen als vielmehr
die Absenz des Sub-Themas Demokratisierung bzw. des Frames der „doppelseitigen
Legitimitätskrise der Demokratie“ das zentrale Phänomen der Algerienberichterstattung darstellte, und dieses Phänomen war nicht das Resultat einer bestimmten (konfliktorientierten) Selektionsroutine der Medien (Nachrichtenfaktorentheorie), sondern es war, wie oben ausgeführt, unter anderem das Ergebnis stereotyper Vorprägungen, unzureichender und wenig transparenter Informationsquellen und, aus rekonstruktivistischer Sicht (Vergleich Medien/Wissenschaft), eines unbefriedigenden
Standes der Debattenkultur über Zusammenhänge zwischen Islam, Islamismus und
Demokratisierung in Nordafrika.679
Ein weiterer Einflußfaktor auf die Algerienberichterstattung ist im Bereich der
außermedialen deutschen Öffentlichkeit zu suchen. Anders als im Fall Salman Rushdie ist es der Berliner tageszeitung im Fall der algerischen Wahlen nicht gelungen,
als Plattform zur Formierung einer gesellschaftlichen Allianz bzw. zum Artikulationsforum gesellschaftlicher Kräfte zu werden. Die Annahme liegt nahe, daß die
Bedingungen der Einflußnahme organisierter Öffentlichkeitskräfte oder einzelner
Persönlichkeiten im Fall Algerien schlechter waren als etwa bei der Türkei- oder
Iranberichterstattung, da der algerienstämmige Bevölkerungsanteil in Deutschland
weitaus kleiner ist als der türkische und insofern die Impulse, die von spezialisierten
Themen-Öffentlichkeiten ausgehen, im Fall der Maghrebpolitik gering sind und der
Journalismus in hohem Maß auf Eigenthematisierung angewiesen ist. Zwar hat die
quantitative Analyse gezeigt, daß auch vorhandene Aktivitäten großer deutscher
Stiftungen und anderer Organisationen in Nordafrika und im Vorderen Orient kaum
Beachtung in den Medien finden (vgl. Kap. 5.1.6). Die strukturellen Voraussetzun678 Hafez, The Algerian Crisis, S. 165-167.
679 Der algerische Ministerpräsident Reda Malek kritisierte, daß sich europäische Medien gegenüber
Algerien wie „makabre Buchhalter“ des Todes benahmen, da sie minutiös über Gewalttaten und nur
wenig über politische Vorgänge schrieben. Walter Haubrich, Ratlosigkeit in Algier, F.A.Z.
30.12.1993.
285
gen der algerienorientierten deutschen Öffentlichkeit, Themenimpulse zu entwickeln,
die dann in die Medienberichterstattung über den Maghreb eingehen können, müssen
jedoch als grundsätzlich schwach eingestuft werden.
Eine weitere makrotheoretische Überlegung hängt eng mit der Frage des Zusammenspiels zwischen Medien und organisierter öffentlicher Meinung zusammen. Zu
fragen ist: Welche gesellschaftlichen Einstellungen hat die Algerienkrise in Deutschland berührt? Gab es Grenzbedingungen des Journalismus, die etwa aus „vertikalen
Einstellungssystemen“ (vgl. Kap. 3.2.4.1.2) der deutschen Öffentlichkeit erwuchsen?
Wie ist zu erklären, daß im Fall Rushdie auch einflußreiche, nicht auf Auslandsfragen spezialisierte Organisationen wie der PEN-Club mobilisierend wirkten, während
Ähnliches nach dem Wahlabbruch in Algerien nicht zu verzeichnen war?
Die Algerienberichterstattung erfolgte in einem weitaus ungünstigeren gesellschaftlichen Umfeld für gesellschaftliche Thematisierungen als die Rushdie-Affäre.
In Kapitel 3.2.4.1.2 ist festgestellt worden, daß horizontale (ideologische) Einstellungssysteme in bezug auf internationale Fragen instabil sind. Fragen der „Demokratisierung“ oder des Zusammenhangs von Islam und Demokratie waren insofern ideologisch geprägt, als sie mit politischen Gestaltungsvorstellungen, also mit dem Kern
von Ideologiesystemen verbunden waren. Daher ist nicht verwunderlich und theoretisch erklärbar, daß differenzierte Haltungen zur Frage der Demokratisierung in
Algerien oder in islamischen Ländern und damit auch entsprechende Thematisierungsanreize für die Medien fehlten (wie auch umgekehrt von den Medien nur sehr
begrenzt entsprechende Impulse auf die Öffentlichkeit ausgingen; s.u.). Allerdings
berührt der Zusammenhang zwischen Islamismus und Demokratie auch Fragen, die –
etwa bei der Frage vorstaatlicher Rechte/Menschenrechte – nicht politischideologischer, sondern philosophisch-anthropologischer Natur sind und damit vertikale Einstellungssysteme berühren, die theoretisch auch für die Auslandsberichterstattung zur Grenzbedingung des öffentlichen Diskurses werden können (wie Militarismus/Pazifismus; vgl. Kap. 3.2.4.1.2). Im Fall der deutschen Presseberichterstattung über die algerischen Wahlen war allerdings zu beobachten, daß horizontalideologische Annahmen im Mediendiskurs stärkere Durchschlagskraft besaßen als
vertikale Einstellungen, die erst mit Zeitverschiebung (Nachwahlperiode) zum Tragen kamen und sich in einer Kritik des Umgangs mit den Menschenrechten durch
den algerischen Staat äußerten. Die Beobachtung der tageszeitung, daß in Europa
„keine Empörung“ über den algerischen Putsch geäußert würde, während Militärcoups in anderen Fällen verurteilt würden,680 war Ausdruck der Verwunderung darüber, daß die Grundsätze des Rechtsstaates in einem entscheidenden politischen
Moment (Zwischenwahlperiode) in der europäischen Öffentlichkeit nicht zum Tragen kamen, während zugleich auf der Basis ideologischer oder vorideologischer
Annahmen über den Zusammenhang Islamismus/Demokratisierung der Abbruch der
Legislativwahlen mehrheitlich unterstützt wurde.
Nach dem Versuch, die Bestimmungsfaktoren für den medialen Algeriendiskurs
in bezug auf die Frage der Demokratisierung zu ermitteln, kann nunmehr auch die
680 Keine Empörung über den Putsch, a.a.O.
286
Wirkungspotenz der deutschen Medienberichterstattung in diesem Bereich bestimmt
werden. Zu fragen ist, welche potentiellen Wirkungen der Diskurs über die algerischen Wahlen, die Demokratisierung und die Zusammenhänge zwischen politischem
Islam und Demokratie auf die Medienkonsumenten und die deutsche Öffentlichkeit
besaß (Ursache-Wirkungsbeziehungen zwischen Medien und politischem System
werden im weiteren Fortgang erörtert; vgl. Kap. 6.5.2.2).
Die Berichterstattung über die Wahlen in der Vorwahlzeit waren ein Beispiel dafür, daß politische Ereignisse insbesondere dort, wo, wie im Fall demokratischer
Wahlen, Intentionen und Handlungsabläufe der Ereignisse dem europäischen Kontext verwandt sind, in der deutschen Medienberichterstattung Raum für kontextorientierte Berichterstattung bieten. Insbesondere nationale Parlamentswahlen stellen ein
formales „Eingangstor“ für einen auf neutrale politische Handlungsabläufe statt auf
Krisen und Konflikte konzentrierten und kontextbezogenen Mediendiskurs dar. Sie
kommen der Politikzentrierung der deutschen Nordafrika- und Nah- und Mittelostberichterstattung (vgl. Kap. 5.1.2) entgegen. Im Falle Algeriens, einem Land, das mit 3
bis 6 Prozent Anteil der Politikberichterstattung deutscher Pressemedien über die
Regionen (vgl. Kap. 5.2.2.1, Tab. A 5.27-A 5.30) keine herausragende Stellung
einnimmt, beinhalteten die ausführlichen Berichte über die Wahlen eine bedeutsame
Möglichkeit, den Wissensstand der Öffentlichkeit, insbesondere ihrer interessierten
und meinungsführenden Segmente, zu erweitern.
In der Zwischenwahlperiode tritt ein anderes Wirkungspotential in den Vordergrund. Die Verengung des Mediendiskurses auf den Staatsstreich und den Abbruch
der Wahlen unterstützenden Frame barg ein großes Potential zur Auslösung einer
sogenannten Schweigespirale681 der öffentlichen Nichtbeachtung politischer Vorgänge. Da die Demokratiefrage in der Presse kaum thematisiert wurde, andererseits
jedoch die algerischen Wahlen zu den „unaufdringlichen Themen“ zu zählen sind,
die sich dem Erfahrungsnahbereich der Konsumenten entziehen, sich keiner dauerhaften Thematisierung in den Medien erfreuen (wie etwa der Nahostkonflikt) und
das Wirkungspotential der Medien deshalb besonders hoch einzuschätzen ist (Kap.
3.2.4.1.3), fehlte der öffentlichen Meinung der Bundesrepublik Deutschland der
entscheidende Anreiz, die Frage der Demokratisierung in Algerien zu thematisieren.
Für ein darüber hinausweisendes normatives Berufsrollenverständnis einer demokratisch-advokativen Unterstützung von Demokratisierungsentwicklungen in einem
Land in Europas Nachbarschaft gab es nur wenige Anhaltspunkte.
Sieht man vor den wenigen Beiträgen der großen Tageszeitungen ab, die sich
trotz der negativen Berichterstattung über die Islamisten nach dem ersten Wahlgang
kritisch mit dem Wahlabbruch auseinandersetzten, war vor allem die tageszeitung
aus Berlin ein Beispiel für antizyklische und Vielfalt garantierende Themensetzung
in Krisen- und Umbruchzeiten. Es zeigte sich jedoch deutlich, daß die Fähigkeit der
Zeitung (wie analog jeder anderen Zeitung), als Forum, Sammelbecken und Allianzplattform einer öffentlichen Debatte wie im Fall Rushdie zu wirken und dabei sogar
681 Vgl. u.a. Elisabeth Noelle-Neumann, Die Schweigespirale: öffentliche Meinung – unsere soziale
Haut, München 1982.
287
gesellschaftlich mobilisierend zu sein, nicht nur von der Art der Berichterstattung
abhing, sondern daß auch die Konsensfähigkeit ihrer Positionen bedeutsam war. Das
zentrale Problem war hier, daß die Haltung der tageszeitung, die auf die doppelseitige Legitimitätskrise von Staat und Islamisten verwies (ähnlich wie in der Wissenschaft Leveau, Ruf oder Spencer), ohne die FIS pauschal als demokratiefähig einzustufen, konsensfähig hätte sein können, ein solcher Mindestkonsens jedoch von den
Pressemedien – auf Grund der oben genannten auf die Berichterstattung wirkenden
Faktoren – nicht existierte. Die im Anschluß an den Staatsstreich in vielen Pressemedien geäußerte Kritik am repressiven Charakter des algerischen Regimes kann nicht
als Ersatz für die Diskussion der Demokratiefrage bewertet werden. In ihr kam zwar
eine deutliche Orientierung der Medien an den grundsätzlichen Menschenrechten,
vor allem an der Unverletzlichkeit des menschlichen Lebens zum Ausdruck. Gleichzeitig bewegte sich das von der Presse veröffentlichte Algerienbild auf dem schmalen Grat einer Anerkennung des autoritären Rechtsstaats ohne weitergehende Transitionsforderungen. Die Presse forderte eine Sicherung der individuellen Rechte, verzichtete jedoch darauf, die Frage der politischen Herrschaft zu stellen.
Einschränkend muß gesagt werden, daß die deutsche Presse in den Jahren 1994
und 1995 im Zusammenhang mit den verschiedenen Dialoginitiativen der algerischen Politik zeitweise zu einer demokratiefördernden Berichterstattung zurückfand.
Zu erkennen ist jedoch auch, daß selbst nach Jahren des „schleichenden“ Bürgerkriegs in Algerien die Thematisierung politischer Optionen für den Maghrebstaat
von Impulsen der Politik abhängig war und deswegen weitaus weniger kontinuierlich
als die Konfliktberichterstattung erfolgte.
6.5.2.2 Auslandsberichterstattung und deutsche Außenpolitik
Bisher sind eine Reihe von Einflußfaktoren auf die Algerienberichterstattung ermittelt worden, die überwiegend im Inneren des Mediensystems zu lokalisieren sind,
etwa Einstellungen von Journalisten oder die Nachrichtenquellen. Die Berichterstattung über die algerischen Wahlen ist eine Fallstudie der geringen Bedeutung, die
Makro-Einflüsse, also gesellschaftliche Einflüsse von außerhalb des Mediensystems,
auf die Auslandsberichterstattung haben können. Bedeutsam ist sie vor allem im
Vergleich zur Studie über die Berichterstattung der Erdölkrise von 1973, in der eine
enge Bindung der Medien an nationale Interessen von Politik und Gesellschaft ermittelt worden ist.
In bezug auf den Zusammenhang zwischen der Berichterstattung über die algerischen Wahlen von 1991/92 und der deutschen Algerienpolitik sind zwei Dinge zu
konzedieren: a) Die deutsche Algerienpolitik war zum Zeitpunkt der Wahlen liberaler gegenüber der islamistischen Opposition eingestellt als weite Teile der untersuchten deutschen Presse; und b) die deutsche Außenpolitik, ihre Intentionen, Akteure
und Wirkungsweise im Rahmen von Bündnissen wie der Europäischen Union oder
der NATO stand nicht auf der Presseagenda, und es fehlte eine sichtbare Bindung
zwischen Auslandsberichterstattung und Außenpolitik.
288
Die Algerienkrise hat im Westen unterschiedliche Reaktionen ausgelöst. Der französische Staat unterstützte den Staatsstreich von 1992 aktiv, um seine nationalen Interessen in Algerien und im Maghreb zu wahren und ein Erstarken des Islamismus in
Frankreich zu verhindern.682 Die Europäische Union verfolgte eine einheitlich profranzösische Linie insofern, als nach dem Staatsstreich in Algerien weder die algerische Regierung zu einer Rückkehr zum status quo ante noch Frankreich zu einer
entsprechenden Orientierung seiner Außenpolitik aufgefordert wurden, sondern vor
dem Hintergrund einer überwiegend wahrgenommenen Gefahr, die von einer Radikalisierung eines islamistischen Algerien an der Südflanke Europas ausgehen sollte,
eine Politik der ökonomischen Stützung des Militärregimes betrieben wurde.683 Allerdings haben sich Staaten wie die Bundesrepublik Deutschland durch die Anerkennung algerischer Islamisten als Asylanten (z.B. des FIS-Führers Rabah Kebir) Politikoptionen vorbehalten, die als eine grundsätzliche Anerkennung der islamistischen
Opposition und Ausdruck des Willens zu einer langfristigen Re-Integration in den
politischen Entscheidungsprozeß interpretiert worden sind. Entsprechende Positionen sind zwar von der Regierung Frankreichs kritisiert, zugleich jedoch von ihrem
damaligen Präsidenten Mitterand oder der amerikanischen Regierung Clinton geteilt
worden.684
Die vorstehende Inhaltsanalyse hat keine Hinweise darauf erbracht, daß die Presseberichterstattung ein Spiegel nationaler Orientierungen war. Denkbare theoretische
Erklärungsversuche, wonach zwischen Medien und Außenpolitik inhaltliche Übereinstimmung und Kooperation bestehen, wobei Journalisten zum Teil zu Insidern der
Politik werden und im Gegenzug einen Teil ihrer Autonomie einbüßen, etwa weil sie
auf interne Information angewiesen sind, die sie dauerhaft nur durch Abstriche bei
der Kritik der nationalen Außenpolitik erhalten (vgl. O’Heffernan in Kap. 3.2.4.2.2),
lassen sich auf die deutsche Algerienberichterstattung in ihrer Beziehung zur deutschen Außenpolitik an der Jahreswende 1991/92 nicht anwenden. Die Algerienberichterstattung hat keine nationalen Positionen reflektiert, und zwischen Medien und
politisch-wirtschaftlichem Komplex bestand kein Kooperationsverhältnis, das in den
Inhalten der Berichterstattung sichtbar geworden wäre. Die Presseagenda spiegelte
weder thematische Einflüsse noch Frames (z.B. „Ein Dialog mit moderaten Islamisten ist zur Wahrung der innenpolitischen Stabilität Algeriens erforderlich“) der
deutschen Außenpolitik wider. Erst lange Zeit nach dem Abbruch der Wahlen fanden
Dialoginitiativen der Politik sporadisch Eingang in die Presse.
Aus Sicht des Fehlkalkulations-Ansatzes (vgl. die Ausführungen zu Hippler in
Kap. 3.1.1) deckte sich die Tatsache, daß über weite Strecken die Stimmung in den
Medien eine stärkere Tendenz zu einer konfrontativen Politik gegenüber den islami682 Guérin-Sendelbach, Frankreich.
683 Faath, Die Konfusion, S. 446-450; Rémy Leveau, Brandherd Algerien. Die Krise im Innern und die
internationale Hilfe, in: Europa-Archiv 49 (1994) 22, S. 643-650; Annette Jünemann, Demokratischer Beistand oder Angst vor dem islamistischen Nachbarn? Europa und Algerien, in: Kai Hafez
(Hrsg.), Der Islam und der Westen. Anstiftung zum Dialog, Frankfurt 1997, S. 125-138.
684 Faath, Die Konfusion, S. 451-453; Paris Distances itself from Mitterand’s Call for EU Meeting on
Crisis in Algeria, Jordan Times 7.2.1995.
289
schen Kräften in Algerien besaß als die deutsche Außenpolitik, mit der Erkenntnis,
daß Nationenbilder in der Öffentlichkeit häufig eine größere Beharrlichkeit aufweisen als in der Politik, die über ein höheres Maß an alternativen Informationsquellen
(diplomatische Kontakte) und eine Neigung zur Wahrung pragmatischer Interessen
verfügt und Feindbilder lediglich im Einzelfall zur Krisenmobilisierung adaptiert.
Die deutsche Presse bewies Autonomie hinsichtlich der Entscheidung, ob, wann
und in welcher Form Impulse der deutschen Außenpolitik aufgenommen wurden.
Weite Teile des Pressediskurses stellten den interessanten Fall einer eurozentrischen,
ein einseitiges Auslandsbild hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen Islam/Islamismus und Demokratisierung sowie der Gefahren für Europa ausprägenden,
aber zugleich außerhalb nationaler außenpolitischer Positionen stehenden Berichterstattung dar.
Der Fall der Algerienkrise unterscheidet sich von dem der Erdölkrise insbesondere dadurch, daß die deutsche Außenpolitik und die Bundesrepublik Deutschland nur
sehr begrenzt involviert waren, insofern als weder politisch noch ökonomisch oder
militärisch deutsche Ressourcen in signifikanter Größenordnung betroffen waren (es
sei denn im Rahmen der EU-Finanzhilfe für Algerien). Während im Fall der Erdölkrise das Einflußpotential nationaler Publika und des politischen und wirtschaftlichen Systems auf die Nahostberichterstattung hoch einzustufen war, boten sich in der
Algerienkrise gute Voraussetzungen für eine autonomiewahrende Berichterstattung.
Ohne Anpassungsdruck seitens der das Mediensystem umgebenden gesellschaftlichen Teilsysteme bzw. Systemumwelten konnten politische Positionen und Medienberichterstattung stark differieren.
Die Übereinstimmung war größer zwischen der deutschen Presse und der französischen Öffentlichkeit und Außenpolitik, beispielsweise bei der Reflexion von Befürchtungen hinsichtlich massiver algerischer Einwanderung. Die Interaktionen zwischen deutscher und französischer Öffentlichkeit blieben sporadisch und selektiv,
wiesen jedoch auf eine Tendenz, die politischen Verhältnisse des nordafrikanischen
Algerien aus der Perspektive des kulturell wie politisch nahestehenden französischen
Nachbarn zu betrachten. Hier zeigte sich die Tendenz zu wachsender Transparenz
des Systemumfeldes der deutschen Medien, die im Fall der Algerienkrise weniger in
Übereinstimmung mit der nationalen deutschen Algerienpolitik als mit der des
Nachbarn und EU-Mitgliedes Frankreich stand. Zwar ist zu bezweifeln, daß dies im
Fall einer stärkeren deutschen Involvierung in die Algerienkrise und einem Interessenkonflikt zwischen Frankreich und Deutschland ebenso der Fall gewesen wäre.
Dennoch stellte die Algerienkrise einen Fall der Schwächung des nationalen Systemumfeldes der Auslandsberichterstattung zugunsten supranationaler Einflüsse auf das
Mediensystem dar, wie es theoretisch derzeit noch nicht verallgemeinerbar ist (vgl.
Kap. 3.2.4.2.3).
Auf mikrotheoretischer Ebene stellt diese Entwicklung allerdings das professionelle Rollenverständnis des Auslandsjournalisten als „Informanten“ oder „Mitgestalter der Außenpolitik“ (vgl. Kap. 3.2.2.2) in Frage. Die deutsche Algerienpolitik
stand nicht auf der Medienagenda im untersuchten Bereich der deutschen Berichterstattung über die Wahlen und den Staatsstreich von 1991/92. Das Fallbeispiel der
290
algerischen Wahlen wie auch die Ergebnisse der quantitativen Inhaltsanalyse zu den
Prioritäten der Auslandsberichterstattung im Bereich der deutsch-orientalischen
Beziehungen (vgl. Kap. 5.2.2.2, Tab. 5.7) legen den Schluß nahe, daß deutsche
Maghreb- und Nordafrikapolitik (mit Ausnahme Ägyptens) anders als zum Teil etwa
die deutsche Iran-685 und Türkeipolitik im Lichtschatten der deutschen Medienbeachtung steht. Differenzen, Unterschiede und Nuancen der europäischen Herangehensweisen an die Algerienkrise kamen nicht zum Vorschein. Da sich die Außenpolitik
der Bundesrepublik jedoch faktisch auch auf den Maghreb erstreckte, ist hier ein
Defizit in der öffentlichen Reflexion auswärtiger Staatshandlungen zu erkennen – ein
Phänomen, das vor allem im Vergleich zu den Nachbarländern Großbritannien und
Frankreich in weiten Bereichen der Außenpolitik zu vermerken ist.
Gleich mehrere journalistische Rollenkonzepte sind betroffen. Zum einen ist die
Rolle der Presse als Hauptinformant der deutschen Öffentlichkeit über außenpolitische Handlungen und damit die demokratische Grundlage außenpolitischer Entscheidungen selbst in Frage gestellt. Elisabeth Noelle-Neumanns These, es existiere
eine Unlust der Politik, sich mit der Bevölkerung über außenpolitische Fragen auseinanderzusetzen686 oder andere Untersuchungen, die auf instabile Einstellungen der
Bevölkerung gegenüber außenpolitischen und internationalen Fragen hinweisen (vgl.
Kap. 3.2.4.1.2), berücksichtigen nicht, daß Teile der nationalen Außenpolitik in den
Medien keinen Niederschlag finden und insofern Politikern wie Bürgern das erforderliche massenkommunikative Bindeglied für einen außenpolitischen Diskurs
fehlt.687
Noch ein weiteres journalistisches Rollenkonzept kommt im Fall der Algerienberichterstattung nicht zum Tragen, das der außenpolitischen Mitgestaltung. Wenn
Medien bei internationalen Fragen in hohem Maß auf Eigenthematisierung angewiesen sind (vgl. Kap. 3.2.4.1.2), wenn sich der außenpolitische Öffentlichkeitsdiskurs
hierdurch tendenziell auf die Beziehung zwischen Medien (insbesondere Presse) und
Politik verengt (vgl. Kap. 3.2.4.1.3 und 3.2.4.2.2) und wenn schließlich aus dieser
elitären Beziehung ein Verständnis des Journalismus als „Mitgestalter der Außenpolitik“ entstanden ist, wie es im amerikanischen und abgeschwächt auch im deutschen
Journalismus nachweisbar ist (vgl. Kap. 3.2.2.2), dann ist festzustellen, daß das politische Gestaltungspotential im Fall der Algerienkrise nicht ausgeschöpft wurde.
Außenpolitische Fragen und insbesondere die deutsche Außenpolitik wurden nicht
erörtert, wodurch keines der Subkonzepte der Mitgestaltung zum Tragen kam. Deutsche Journalisten waren weder Informanten, noch waren sie Kritiker oder Advokaten
der Außenpolitik. Durch die weitgehende Entkopplung der Presseberichterstattung
von der deutschen Algerienpolitik entfiel auch die Funktion der Medien als „Unsicherheitsfaktoren“ der Außenpolitik (vgl. Kap. 3.2.4.1.3).
685 Hafez, Dialog mit dem Islam, S. 57-59.
686 Noelle-Neumann, Öffentliche Meinung und Außenpolitik, S. 12.
687 Eine Analyse mit Hilfe des Kaskadenmodells von Karl W. Deutsch (vgl. Kap. 3.2.4.2.3) zeigt, daß
der Kommunikationsfluß zwischen sozio-ökonomischen Eliten, politischem System, Massenmedien, Leitpersonen der öffentlichen Meinung und der Bevölkerung unterbrochen war.
291
Das Rollenverständnis der Pressejournalisten richtete sich im Fall der Algerienkrise
weniger auf die deutsche Außen- als auf die Innenpolitik. Die Presse trug durch die
Verhärtung ihrer Berichterstattungspolitik nach den seit der Jahreswende 1994/95
massiven Übergriffen auf Ausländer in Algerien und einer Reihe Berichte in der
Wochenpresse zu einer mit Nachdruck aufgegriffenen Diskussion bei, in der vor
allem das Verhalten des Bundesinneministeriums und des Verfassungsschutzes im
Vordergrund stand. Wenn weite Teile der deutschen Presse es versäumt hatten, die
Frage der Demokratisierung im islamischen Algerien auf die öffentliche Agenda zu
setzen und als „vierte Gewalt“ die deutsche Außenpolitik kritisch zu begleiten, so
stimulierte die Presse andererseits eine Debatte über die deutsche Asylpolitik gegenüber algerischen Islamisten und die scheinbare Liberalität gegenüber militanten
Kräften, die Deutschland als Stützpunkt extremistischer Übergriffe benutzten.
292
Systematische Zusammenfassung
Der derzeitige Forschungsstand zum Nahost- und Islambild deutscher Medien weist
nicht nur gravierende empirische Lücken auf, sondern das theoretische Erklärungspotential ist noch weitgehend unausgeschöpft. Die interdisziplinäre Charakteristik
des Gegenstandes ist bisher weder von der Kommunikationswissenschaft noch von
der Orientwissenschaft hinreichend berücksichtigt worden, da es hier an Gegenstandskompetenz in bezug auf Nordafrika und den Nahen und Mittleren Osten und
dort an Medienkompetenz gemangelt hat. Die vorliegende Arbeit verwendet einen
integrierten Forschungsansatz, der als „sozial- und kulturwissenschaftlicher Rekonstruktivismus“ bezeichnet wird. Die Berichterstattung deutscher Pressemedien über
eine definierte Anzahl von Untersuchungsländern ist sowohl mit Hilfe von langzeitigen quantitativen als auch mit qualitativ-fallorientierten Inhaltsanalysen rekonstruiert
worden (Re-Rekonstruktion); die empirischen Ergebnisse sind – auf der Basis eines
moderaten, intersubjektiven Realitätsbegriffs, der den Vergleich, nicht die erkenntnistheoretische Verabsolutierung betont – einer kritischen Dekonstruktion vor dem
Hintergrund des jeweiligen nahost- und islamwissenschaftlichen Forschungsstandes
unterzogen worden (Dekonstruktion I); der Dekonstruktionsbefund ist schließlich in
eine medientheoretische Erörterung von Strukturen, Entstehungsbedingungen und
Wirkungspotentiale der Nahost- und Islamberichterstattung weiterentwickelt worden
(Dekonstruktion II). Da eine stringente Theoriebildung im Bereich internationaler
und interkultureller Darstellungsprozesse in Massenmedien bisher nicht erfolgt ist,
mußte für den letzten und zentralen Schritt der Untersuchung eine anwendungsbezogene Theoriematrix zur Erklärung der Inhalte der Auslandsberichterstattung erstellt
werden (Band 1). Da die Theorie auch auf andere Bereiche anwendbar ist, beansprucht sie relative Eigenständigkeit bei der Schaffung theoretischer Grundlagen in
der Erforschung des Auslandsbildes der Medien.
Bei der nachstehenden Zusammenfassung und Systematisierung der Ergebnisse
zum Nahost- und Islambild in der überregionalen deutschen Presse stehen nicht
einzelfallorientierte Re- bzw. Dekonstruktionsbefunde im Vordergrund, die an dieser
Stelle nicht resümiert werden, sondern theorieförmige Verallgemeinerungen (Dekonstruktion II).
Die Struktur des Nahost- und Islambildes
• Häufigkeit – Ereigniszentrierung – Kontextvermittlung:
- Nordafrika sowie der Nahe und Mittlere Osten werden stärker beachtet als
andere Teile Asiens, Afrikas und Lateinamerikas. Mit etwa drei Berichten pro
Tag in den Tageszeitungen ist die Nachrichtenlage aber auch hier auf eine
Grundversorgung über einige „top news“ beschränkt.
- Durch die Konzentration auf bestimmte Großereignisse (z.B. Suezkrise, Erdölkrise, Golfkrieg) unterlag die Berichterstattung im Untersuchungszeitraum
1955-94 konjunkturellen Schwankungen. Allerdings ist eine kontinuierlichere
293
-
Grundversorgung mit Nachrichten auf Grund einer allgemeinen Umfangssteigerung der Nahostberichterstattung der Tageszeitungen seit den siebziger Jahren gewährleistet.
Im selben Zeitraum ist die Steigerung von Hintergrundberichten in Wochenzeitungen allerdings auf das unmittelbare Umfeld von Großereignissen beschränkt geblieben. Die im Laufe der letzten Jahrzehnte entstandene „Schere“
zwischen zunehmender Ereignis- und stagnierender Hintergrundberichterstattung zeigt die Bindung der Presse an den ereigniszentrierten auf Kosten eines
entwicklungsorientierten Nachrichtenbegriffs.
• Sachgebiete – Politikzentrierung – Nicht-Darstellung:
- Durch eine ausgeprägte Politikkonzentration (im Durchschnitt etwa 73%)
verbleibt die Orientberichterstattung weitgehend auf der Ebene politischer
Überbauhandlungen, während zivilgesellschaftliches Wissen durch die Marginalisierung ganzer Informationsbereiche (Soziales/Umwelt, Kultur/Wissenschaft, Unterhaltung usw.) kaum vermittelt wird. Theoretische Annahmen der
Nicht-Darstellung bedeutsamer Ereignisse und Entwicklungen in der Auslandsberichterstattung werden insofern bestätigt, als allein das Politikressort
einen ausreichenden Berichterstattungsumfang aufweist, der signifikante Differenzierungen ermöglicht.
- In der Wirtschaftsberichterstattung erweist sich, daß die Bedeutung eines
Landes für die deutsche/westliche Wirtschaft („ökonomische Zentralität“)
ausschlaggebend für die Beachtung des Landes in diesem Ressort ist. Die im
Vergleich zu anderen Sachgebieten starke Konzentration auf private Akteure
(Unternehmen) anstelle sozialer Gruppen und Schichten (z.B. „Arbeiter“,
„Stadtarmut“) weist auf die Dominanz von betriebs- vor volkswirtschaftlichen
Analysen hin. Strukturprobleme der Weltwirtschaftsordnung, der Nord-SüdBeziehungen und eine Rechts-Links-Differenzierung der Presse können insbesondere im Zuge von Wirtschaftskonflikten Eingang in die Nahostberichterstattung finden. Dabei bieten allerdings intensive Konflikte wie die Erdölkrise von 1973 („Wirtschaftskriege“) auf richtungsentscheidenden Krisenhöhepunkten wenig Raum für solche Erwägungen, wohingegen Konflikte niedriger Intensität oder Früh- und Spätphasen hochintensiver Krisen geeigneter
erscheinen (s.u.).
- Eine kontinuierliche Umweltberichterstattung außerhalb akuter Katastrophenberichte existiert nicht. Die Darstellung sozialer Entwicklungen beschränkt
sich häufig auf deutsche Sonderinteressen (z.B. türkische Migration).
- Ungeachtet des seit der Iranischen Revolution von 1978/79 stark gewachsenen Interesses am Islam, richtet sich dieses nahezu auschließlich auf den politischen Islam, während theologische, kultische oder nativistische Aspekte des
Islam wie auch des Judentums im Nahen Osten in der deutschen Presse kaum
(allenfalls an den höchsten Festtagen dieser Religionen kurzfristig) eine Rolle
spielen. Religionsberichterstattung, sofern sie überhaupt stattfindet, weist
überwiegend christlich-orientalische Bezüge auf.
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Das orientalische Unterhaltungsgenre bricht nach dem Sechstagekrieg von
1967 abrupt ab und büßt den hohen Stellenwert ein, den es in den fünfziger
und frühen sechziger Jahren besaß (z.B. Berichte über Soraya, Agha Khan).
Der Nahostkonflikt erweist sich, insbesondere in der Verbindung zu Holocaust/Shoa (s.u.), seit 1965/67 als primärer Katalysator einer Politisierung
und De-Entertainisierung des Nahostbildes in der deutschen Presse.
Kultur- und Wissenschaftsberichterstattung sind in den meisten Medien durch
zwei Mechanismen gekennzeichnet: a) eine Rückorientierung von der Gegenwarts- auf die vorislamische Altkultur (mit Ausnahme etwa der Süddeutschen Zeitung mit einem kleineren Fokus auf orientalische Gegenwartskulturen) und b) ein konservativ-abendländisches Kulturverständnis mit Schwerpunkt auf den für das „Abendland“ maßgeblichen Kulturen wie Israel/Palästina (biblische Geschichte), die Türkei (griechische Antike) oder Ägypten
(pharaonische Geschichte) unter weitgehender Ausblendung „afrikanischer“
und „asiatischer“ Kulturenentwicklungen (z.B. Tunesien und Libyen/Karthago; arabisch-islamische Geschichte). Diese am Nachrichtenfaktor „kulturelle
Nähe“ orientierte Perspektive führt dazu, daß anders als im Bereich der Politik, wo das Informationsinteresse trotz verschiedener Länderschwerpunkte relativ breit über die Länder gestreut ist, ein weitgehendes Desinteresse an der
Alt- wie an der Gegenwartskultur der meisten der 26 Untersuchungsstaaten zu
konzedieren ist.
• Dauerthemen – Themenvielfalt:
- Innerhalb des politischen Berichterstattungssektors absorbiert eine geringe
Zahl von Themen – insbesondere der Nahostkonflikt, andere Großkonflikte,
der Islam, die Erdölfrage und die deutsch-orientalischen Beziehungen – etwa
zwei Drittel der Berichterstattungskapazität (außer Kurzmeldungen). Wenn
etwa jeder fünfte Artikel auf den Nahostkonflikt entfällt, so relativiert dies die
theoretische Annahme, Entwicklungsländerberichterstattung sei grundsätzlich
diskontinuierlich, sporadisch und kontextlos. Statt dessen bestehen unterschiedliche Zonen der Einbeziehung oder Nicht-Einbeziehung von Ländern
und Regionen in dauerhafte Thematisierungen und damit unterschiedliche
Grade einer über die Vermittlung von top news hinausweisenden „geistigen
Erschließung“ der Region.
- Durch die Konzentration auf Kardinalthemen werden Kapazitäten absorbiert,
die die thematische Vielfalt der überwiegend politischen Berichterstattung in
hohem Maß einschränken. Die Nahostberichterstattung steht vor einem Thematisierungs-Diversifikations-Dilemma, das nur durch Neubewertung der
Themenlandschaft (z.B. des von strategischen Kommunikationsangeboten der
Regierungen geprägten Nahostkonflikts) oder eine Kapazitätsausweitung der
Berichterstattung zu beheben wäre.
- „Islam“ ist eher ein qualitativ als ein quantitativ bedeutsames Thema, das eng
an die Konjunktur des politischen Islam gebunden ist. Nach dem einsetzenden
Interesse während der Iranischen Revolution 1978/79 folgte auf ein zwi-
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schenzeitiges Abflachen in den achtziger eine Wiedererstarkung des Medieninteresses in den neunziger Jahren durch eine Kumulation von themenrelevanten Ereignissen (Rushdie-Affäre, Algerienkrise usw.).
„Deutsch-orientalische Beziehungen“ bilden ein Themenfeld, aber nur selten
ein Thema in der Presse. Deutsch-türkische, deutsch-arabische wie auch europäisch-türkische und andere Aspekte der internationalen Beziehung werden
kaum erörtert, sondern sind überwiegend im Subtext übergeordneter Themen
(z.B. Handel, Waffenlieferungen) zu finden.
• Ereignisvalenz – Negativismus – Konfliktperspektive:
- Die theoretisch geprägte Annahme einer Konfliktperspektive in der Auslandsund besonders in der Entwicklungsländerberichterstattung, erzeugt durch einen Überhang an Berichten über Gewaltereignisse (Kriege, Terror usw.), läßt
sich auf der Basis der empirischen Daten zum Nahost- und Islambild weder
eindeutig bestätigen noch entkräften, sondern die Daten sind interpretationsbedürftig. Zwischen einem Drittel und der Hälfte der Berichterstattung entfällt auf negative Ereignistypen (nach Wortfeldern definiert), je nachdem ob
ausschließlich „Gewalt“ oder aber „Konflikte“ insgesamt als Definitionsgrundlage gewählt werden. Die Daten ähneln den Ergebnissen von Studien
über die Berichterstattung über andere Weltregionen, so daß das Bild Nordafrikas und des Nahen und Mittleren Ostens in der Presse nicht stärker durch
Negativismus belastet wird als andere Segmente des Bildes von Asien, Afrika
und Lateinamerika. Allerdings sind die Negativismuswerte mit mehr als 50
Prozent so hoch, daß von einem Grenzfall einer Konfliktperspektive gesprochen werden kann, da neutral-reguläre politische und gesellschaftliche Vorgänge, insbesondere aber die nur marginal in Erscheinung tretenden positiven
Valenzen, vom Journalismus unterbewertet werden.
- In der Detailanalyse zeigen sich starke Unterschiede in der NegativismusBelastung einzelner Themen. Der Islam wird nach Kriegen und Gewaltkonflikten und noch vor dem diplomatieorientiert dargestellten Nahostkonflikt in
der Presse am häufigsten mit Gewaltereignissen in Verbindung gebracht, obwohl die vergleichende Konfliktforschung zeigt, daß nur ein geringer Prozentsatz der Gewalt in den Regionen von Fundamentalisten ausgeübt wird.
Die These eines medialen „Feindbildes Islam“ läßt sich daher quantitativ erhärten; die Ausstrahlungskraft des Islambildes als qualitatives Phänomen
(vgl. Kap. 4.1) prägt wahrscheinlich weit über das Thema hinaus das Medienbild der Untersuchungsregion, das mit einem demographischen Negativtrend in der deutschen Öffentlichkeit in den neunziger Jahren korrespondiert.
In der extremen Negativbelastung eines zentralen Kulturmusters (wie des Islam), nicht in der überdurchschnittlichen Repräsentanz von Gewalt und Konflikten (wie Kriegen), liegt eine Besonderheit des Nahost- und Islambildes im
Kontext des Bildes der außereuropäischen Welt in der Presse.
- Die Konzentration auf den politischen Islam in Staaten wie Ägypten und Algerien bei weitgehender Ausblendung von Syrien, Marokko und Tunesien
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zeigt, daß in den Medien islamistischer Terror als Unsicherheitsfaktor und
„ungewöhnliches Verhalten“ (Wolfsfeld) in der Politik einen strukturellen
Beachtungsvorsprung vor staatlicher Repression und Gegenterror gegenüber
dem Islamismus besitzt.
Pressebilder der Länder unterscheiden sich erheblich in der Valenzausrichtung, inwieweit sie also etwa mit negativen Ereignissen in Verbindung gebracht werden oder ein Ausgleich durch neutrale Berichte erfolgt. Unter Berücksichtigung aller Faktoren ist das Negativbild im Fall Libanons, des Irak,
Irans, Syriens, Afghanistans und des Sudan am stärksten ausgeprägt, während
Länder wie Ägypten, Israel-Palästina (noch stärker der Kernstaat Israel), Jordanien und Algerien insbesondere durch die variablere Themenpalette (z.B.
mehr Kultur) einen Teilausgleich durch neutrale, gelegentlich sogar positive
Berichterstattung erfahren.
Die Wochenzeitungen (Der Spiegel und stern) zeigen eine stärkere Tendenz
zum Negativismus und zu einer polarisierenden Berichterstattung als die Tageszeitungen (F.A.Z. und SZ). Im Bereich der Islamberichterstattung oder in
den deutsch-orientalischen Beziehungen, wo ein ungewöhnlich starker Akzent
auf Waffengeschäften und anderen belasteten Themen liegt, wird insbesondere Der Spiegel zum Meinungsführer für ein Negativbild. Die Wochenzeitungen zeigen sich an einer polarisierenden und zum Teil sensationistischen Zuspitzung stärker interessiert als die Tageszeitungen, die als einzige – wenn
überhaupt – existierende zwischenstaatliche oder -gesellschaftliche Beziehungen im Bereich von Politik, Ökonomie, Kultur und Wissenschaft im Rahmen
ihrer nachrichtlichen „Protokollfunktion“ vermitteln.
• Nachrichtengeographie – Elitenationen – politisch-ökonomische Zentralität:
- Die Untersuchung der Länderschwerpunkte der Medienberichterstattung zeigt
eine Nachrichtengeographie, die von wenigen „weißen Flecken“, einem soliden Mittelbau und einer Konzentration auf wenige Staaten geprägt ist. Der
Schwerpunkt der Beachtung liegt auf Israel-Palästina, Ägypten, Irak, Iran und
der Türkei. Im Vergleich der georäumlichen Beachtung liegt der Mashreq
(Libanon, Syrien, Palästina, Jordanien), einschließlich Ägyptens und Israels,
deutlich vor dem Maghreb, der Arabischen Halbinsel oder Mittelost. Das Interesse an Israel-Palästina übersteigt das am Kernstaat Israel bei weitem, was
darauf hindeutet, daß innere Entwicklungen Israels nur durchschnittliche
Aufmerksamkeitswerte erzielen. Eine breitere Sachgebietsstreuung im Vergleich zu anderen Ländern weist auf ein relativ tiefergehendes Medieninteresse; in quantitativer Hinsicht jedoch erzielt Israel jenseits des Nahostkonflikts
lediglich Durchschnittswerte, die zu Vorsicht bei der Annahme eines deutschisraelischen Sonderverhältnisses in den Medien mahnen.
- Die theoretisch geprägte Annahme, die Medienberichterstattung sei an „Elitenationen“ geknüpft, läßt sich nur insofern erhärten, als die Nahost- und Islamberichterstattung deutliche Präferenzen für Staaten aufweist, deren politische Bedeutung (sog. „politische Zentralität“) für Deutschland und den We-
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sten groß und/oder deren kulturelle Anziehungskraft (sog. „kulturelle Nähe“)
ausgeprägt ist, wie etwa im Fall Ägyptens, das sowohl politisch als auch kulturell starke Beachtung erfährt. Der Zusammenhang zwischen der ökonomischen Zentralität eines Landes und seiner Beachtung in der deutschen Presse
ist hingegen sekundär, da der Maghreb, die Nilstaaten, der Mashreq, die Arabische Halbinsel und die ECO-Staaten (Türkei, Pakistan, Iran, Afghanistan;
ohne Zentralasien) nicht entsprechend ihrem Handelsvolumen mit Deutschland, sondern weitgehend unabhängig von ökonomischen oder demographischen Faktoren in der Presse stärker oder weniger stark repräsentiert sind.
Ein Zusammenhang zwischen ökonomischer Bedeutung und dem Nachrichtenwert eines Landes besteht nur insofern, als sich ein sektoral begrenztes
steigendes Interesse an der Wirtschaftsentwicklung dieses Landes – insbesondere der für Deutschland bedeutsamen Rohstoff- und Handelssektoren (s.o.) –
bemerkbar macht, das sich in der allgemeinen Presse auf Grund der Minderheitenstellung der Wirtschaftsberichterstattung als schwacher Faktor der
Aufmerksamkeitssteigerung erweist.
In einem gewissen Gegensatz zu theoretisch geprägten Annahmen ist „Konflikt“ nur bedingt ein Moment der Aufmerksamkeitssteigerung, da etwa ein
Vergleich der wenig berichteten Kriege im Sudan und im Jemen mit den stark
beachteten Ereignissen des Nahostkonflikts und des Golfkriegs zeigt, daß die
internationale Relevanz eines Konfliktes die Überschreitung der Thematisierungsschwelle garantiert, nicht jedoch das Vorhandensein eines Konflikts an
sich.
Ein Vergleich der Ergebnisse mit Daten der wissenschaftlichen OrientDokumentation des Deutschen Übersee-Instituts in Hamburg zeigt, daß sich
die Verteilung der Mediendaten und der wissenschaftlichen Beachtung der
Länder in hohem Maß ähneln. Ungeachtet zahlreicher inhaltlicher Unterschiede besteht eine einheitliche Wissensgeographie, wobei allerdings Ägypten und Syrien von der Wissenschaft weniger, Pakistan, Sudan und die Türkei
hingegen mehr beachtet werden.
Neben dem Umfang der Länderbeachtung ist die chronologische Verteilung
von Bedeutung, wobei etwa über die Türkei zwar weniger, aber kontinuierlicher (und weniger negativ) berichtet wird als über Irak oder Iran, die ihre
Präsenz in der deutschen Presse in hohem Maß Revolutionen und Kriegen
verdanken.
• Handlungsträger – Staat/Gesellschaft – Elitenorientierung – Eurozentrismus:
- Die Berichterstattung basierte im Untersuchungszeitraum 1955-94 in hohem
Maß auf Aktivitäten der staatlichen Akteuren, während gesellschaftliche Akteure weniger präsent waren. In den achtziger und neunziger Jahren machte
sich allerdings als gegenläufige Tendenz bemerkbar, daß gesellschaftliche
Organisationen aus Nordafrika sowie dem Nahen und Mittleren Osten als
Handlungsträger in der deutschen Presse an Bedeutung gewannen, der Staat
als Akteur der Berichterstattung jedoch an Bedeutung verlor. Die theoretische
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Annahme einer dominierenden Stellung der Exekutive muß eingeschränkt
werden. Die nachlassende Integrationsfähigkeit des orientalischen Staates und
die Entwicklung der Zivilgesellschaft (im weitesten Sinne) spiegelt sich auch
im deutschen Pressebild wider.
Die radikale ethnische oder religiöse Opposition besitzt einen Repräsentanzvorteil in der Presse gegenüber der gemäßigten Opposition und moderaten zivilgesellschaftlichen Kräften. Der Vergleich der Darstellung Ägyptens mit der
Israels und der Türkei hat verdeutlicht, daß unter den Bedingungen einer gefestigten demokratischen Kultur, in der Parteien an der Staatsmacht beteiligt
werden und durch Wahlen wechselnde Kräfte an die Macht gelangen (Israel,
Türkei), radikale Kräfte (wie die kurdische PKK) in der deutschen Presse
zwar stark beachtet werden, andere Parteien jedoch nicht aus der Berichterstattung verdrängen. Unter den Bedingungen neopatrimonialer Herrschaft
hingegen (etwa in Ägypten) geraten demokratische Kräfte aus dem Blickfeld
der deutschen Presse, die ihr Hauptaugenmerk auf radikale Kräfte richtet, die
durch „ungewöhnliches Verhalten“ (Wolfsfeld) wie Terrorakte auf sich aufmerksam machen. Zivilgesellschaftliche Kräfte und gemäßigte Opposition befinden sich in einer „Schweigespirale“, da zu der Informationskontrolle im eigenen Land die internationale Nicht-Beachtung hinzukommt.
Die theoretische Annahme der Elitenprägung der Auslandsberichterstattung
wird bestätigt, auch wenn sich die Medienperspektive von staatlichen auf andere organisierte Eliten- und Gegeneliten ausgeweitet hat. Nichtorganisierte
Teile der Gesellschaften, soziale Bewegungen und die „schweigende Mehrheit“ der Bevölkerungen treten hinter die Elitenzentrierung der Medien zurück. Dabei unterscheidet sich die Akteurszusammensetzung je nach Sachgebiet oder Thema, wobei die dominierende Politikberichterstattung die Elitenorientierung deutlich stärker fördert als Sozial- und Umweltthemen. Die Berichterstattung über „Islam“ ist eine Ausnahmeerscheinung insofern, als Massenakteure (Demonstranten u.a.) stärkere Beachtung finden als bei anderen
Themen.
Die „Personalisierung“ ist ein sekundärer Nachrichtenfaktor, da er an die
Ausübung formaler politischer Funktionen (Präsidenten u.a.) gebunden ist.
Eine ausschließlich auf informeller Autorität und der exponierten Stellung einer Persönlichkeit im Gesellschaftsleben beruhende Medienpräsenz ist die
Ausnahme, die gegenseitige Beeinflussung von Funktions- und Personenmerkmalen in der Berichterstattung hingegen die Regel. Die Personalisierung
politischer Handlungen ist im Boulevardsektor weit ausgeprägter als in der
Abonnentenpresse.
In bezug auf die Darstellung regionaler, westlicher und anderer Akteure sind
in den älteren Kolonialkonflikten (Suezkrise, Algerienkrieg) eklatante Positionsvorteile westlicher Staats- und Regierungsvertreter in der deutschen Presse
auszumachen, was die theoretische Annahme der Transparenz des damaligen
Informationssystems (vor allem der Nachrichtenagenturen) für Propagandainteressen der ehemaligen Kolonialstaaten bestätigt. In jüngeren Konflikten
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hingegen (Golfkrieg 1991) hat der nahöstliche Staat den Repräsentanzvorsprung des westlichen Staates in der deutschen Konfliktberichterstattung ausgleichen können. Insgesamt läßt sich daher folgern: Die Stellung des orientalischen Staates in der deutschen Presse hat sich im Verhältnis zu einem Teil
seiner eigenen Gesellschaftskräfte im Laufe der Jahrzehnte verschlechtert;
gegenüber dem westlichen Staat hat sie sich hingegen verbessert.
Während auf der Ebene der staatlichen Akteure ein hohes Aufkommen an
westlichen Repräsentanten zu erkennen ist, werden die Aktivitäten westlicher
Organisationen und NGOs (politischer Stiftungen, Menschenrechtsorganisationen usw.) wenig reflektiert. Die vielfältig bestehenden zivilgesellschaftlichen Beziehungen zwischen deutschen/westlichen und regionalen NGOs finden in dem auf staatliches Handeln und die Stabilität politischer Systeme fixierten Medienbild kaum Resonanz.
Der hohe Anteil nordafrikanischer, nah- und mittelöstlicher sowie westlicher
und die weitgehende Absenz anderer Akteure der südlichen und östlichen
Staatenwelt weist auf die Eurozentrierung der Medienberichterstattung. Zwischenstaatliche und -gesellschaftliche Beziehungen im Süd-Süd- bzw. SüdOst-Kontext entgehen der medialen Aufmerksamkeit weitgehend (selbst in
Konflikträumen wie der Golfregion).
• Die soziopsychologische Konstruktion des Islambildes:
Die Wahrnehmungsmechanismen des Islambildes in der untersuchten Presse weisen
auf eine komplexe „Psycho-Logik“, die sich mit Kategorien wie „Stereotyp“ oder
„Feindbild“ allein nicht erfassen läßt, sondern die erst durch eine Differenzierung
des soziopsychologischen Theoriekomplexes erkennbar wird.
Folgende Züge der Islamwahrnehmung sind in den untersuchten Beiträgen ermittelt worden:
1. Die Annahme der Einheit von Politik und Religion entsteht durch die prioritäre
Beachtung des politischen Islam und eine sekundäre Eindeutung religiöser Phänomene (z.B. Moschee-Besuche, Prozessionen) in politische Zusammenhänge.
2. Die Annahme der Einheit von Norm und Realität: Nicht nur werden religiöse
Handlungen zum Teil politisch gedeutet (Punkt 1), sondern politische Handlungen (z.B. Unruhen, Revolutionen) gelten vielfach als religiös motiviert.
3. Die Annahme der Einheit von politischem Islam und radikalem Fundamentalismus: Das Strömungsspektrum islamischer Gesellschaftslehre und politischen
Denkens wird auf den radikalen Fundamentalismus (z.B. Khomeini) verengt, indem a) orthodoxe, reformislamische und säkular-kulturmuslimische Strömungen
und b) moderate fundamentalistische Richtungen ausgeblendet werden, wodurch
ein Gegensatz Islam/Moderne konstruiert wird.
4. Die Annahme der Einheit von Islam und Extremismus: Eine geradezu zwangsläufige Folge der Verengung der medialen Aufmerksamkeit auf den radikalen Fundamentalismus ist, daß die ungewöhnlich hohe Gewaltbereitschaft in diesem
Spektrum auf den (politischen) Islam insgesamt rückprojiziert wird.
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5. Die Annahme der Irrationalität des Gegenüber: Während im Kalten Krieg die
Gegnerwahrnehmung auf der Annahme des rationalen politischen Kalküls des
Gegenüber (realsozialistische Systeme, Parteiapparate usw.) basierte, herrscht im
Islambild in vielen Fällen die Annahme der Irrationalität oder sogar des Fanatismus vor (z.B. Naturmetaphern wie „lodernde Fackel des Islam“).
6. Die Annahme der Bedrohtheit des Westens existiert in vielen Fällen im Islambild
in ähnlicher Weise wie beim Kommunismus/Realsozialismus, obgleich sich im
ersten Fall aus militärisch-strategischer Sicht ein Vergleich der Kräfteverhältnisse
im allgemeinen verbietet.
7. Die Annahme der Einheitlichkeit der islamischen Welt: Aufgrund des Vorhandenseins islamischer politischer Gruppen in den meisten Staaten Nordafrikas sowie des Nahen und Mittleren Ostens löste die Iranische Revolution in der deutschen Presse eine islamische „Dominotheorie“ aus, wobei Vorstellungen einer islamischen Blockbildung am Mittelmeer nationale und regionale Differenzen zwischen Staaten und Bewegungen unterschätzten.
8. Die Annahme der Einzigartigkeit der Vorgänge der Re-Islamisierung ist in der
deutschen Presse vielfach durch die Konzentration auf ideologische (islamistische) Spezifika unter Ausblendung universeller politischer Mechanismen und sozio-ökonomischer Politikbedingungen (etwa beim Ausbruch der Iranischen Revolution) entstanden.
9. Die Annahme der Einheit von politischer Führung und Volk: An die Stelle eines
zweigliedrigen Gegnerbildes wie im Ost-West-Konflikt ist im Fall des Islam in
weiten Teilen das Bild einer homogenen Volkskultur als Nährboden eines durchgängig anti-westlichen politischen Denkens in der islamischen Welt entstanden.
10. Die Annahme der Einheit von Tradition und Repression: Eine Ausnahme zu
Punkt 9 stellt das Bild der islamischen Frauen dar, die nun umgekehrt häufig vereinfachend als „Opfer“ islamischer Ordnungen wie denen in Iran dargestellt worden sind.
Die Grundzüge des medialen Islambildes lassen folgende soziopsychologische Konstruktionsprinzipien der Islamwahrnehmung erkennen:
11. Selektive Wahrnehmung und Pars-Pro-Toto-Denken: Erkennbar sehr begrenzte
Teile der Realität werden für das Gesamt gehalten (z.B. Fundamentalismus für
den Islam, Extremisten für Fundamentalisten und Islam).
12. Worst-Case-Denken: Die Wahrnehmung konzentriert sich auf Vorgänge, die vom
eigenen Wertesystem als negativ (affektive Bildebene) und bedrohlich (konative
Bildebene) betrachtet werden und bildet entsprechende assoziative Verkettungen
(z.B. Islam ⇒ politischer Islam ⇒ Fundamentalismus ⇒ Gewalt).
13. Dekontextualisierung und Stereotypisierung: Vorgänge werden aus einem Entwicklungs- und Handlungskontext (z.B. sozio-ökonomische Lage vor der Iranischen Revolution) herausgelöst und in andere, dem Leser vertraute Kontexte
(z.B. die angenommene Einheit von Politik und Religion im Islam) eingebettet.
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14. Personalisierung versus Kollektivierung: Islam wird von der sog. Elitenpresse
eher als „Massenphänomen“, von Boulevardmedien eher als von Persönlichkeiten (wie Khomeini) getragen betrachtet.
15. Spiegelbild-Denken: Während der Islam als Religion in der Presse kaum thematisiert wird (s.o.: Sachgebiete), wird er in vielen Fällen als ein unterlegenes politisch-kulturelles Gegenkonzept zu den Normen und Leitvorstellungen der westlichen politischen Kultur (Modernität, Freiheit, Menschenrechte usw.) dargestellt.
16. Antipoden-Denken: Das Bild des Islam als Gegenkultur korrespondiert teilweise
mit einem Menschenbild der Andersartigkeit der Muslime, das im Gegensatz zum
Kulturbild als eine Annahme über anthropologische Konstanten Zweifel an der
Wandelbarkeit und Lernfähigkeit (selbst beim Versuch einer Annahme westlicher
Gesellschaftsvorstellungen seitens der Muslime) aufkommen läßt.
17. Kluft und Wechselwirkung zwischen visueller Wahrnehmung und kognitiver
Bildprägung: der Fotojournalismus kann kognitive Konstruktionsprozesse stützen, aber auch eine eigenständige Islamsymbolik entwickeln.
• Zeitgenössische Schwankungen im Bildgefüge als Erweiterung der Orientalismus-These:
- Das „Feindbild Islam“ ist keine feste Bildgröße der deutschen Presse, sondern
ungeachtet der Beharrlichkeit des Spiegelbild-Denkens ist gerade die Bedrohungswahrnehmung in vollem Umfang lediglich in Zeiten hoher Politisierung
zu erkennen. In anderen Perioden, etwa der unterhaltungsorientierten Nachkriegsära, können verschiedenartige Stereotypenkategorien (z.B. romantisierende) in den Medien zum Tragen kommen.
- Die zeitgenössischen Bildschwankungen und die Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Segmenten des Nationen-, Kultur- und Religionsbildes
(z.B. Bild der Araber, des Islam) erweitern den Orientalismusbegriff von Edward Said, der das Nahost- und Islambild westlicher Medien letztlich allein
aus der Perspektive kultur-epochaler Phänomene begreift und damit
Aufnahmeleistungen sowie Verluste des „kulturellen Gedächtnisses“, als
dessen Teilbereich Medien gelten, unterbewertet.
• Diskursives Verhalten:
- Auch innerhalb zeitgenössischer Bildkonfigurationen ist das Nahost- und Islambild in Abhängigkeit von Zeit-, Themen- und Entstehungsbedingungen
komplex, was nicht bedeutet, daß es generell als differenziert im Sinne der
wissenschaftlichen Dekonstruktion bezeichnet werden kann. Die oben skizzierte „Psycho-Logik“ des Islambildes prägt jedoch bei weitem nicht das gesamte Bild Nordafrikas sowie des Nahen Ostens, denn Nationen- und andere
Stereotype sind nur Teilbereiche des „Auslandsbildes“, die sich in der Regel
langsamer entwickeln als die politische Argumentationslage im Nahostdiskurs, die oft massiven Fluktuationen ausgesetzt ist.
- Nahezu alle untersuchten Mediendiskurse (Erdölkrise, Iranische Revolution,
Nahostkonflikt, Algerienkrise) haben zwischen Phasen relativer Meinungsoffenheit, Pluralitätsverlusten und Vereinheitlichung geschwankt: vom neutra302
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len über den pro-israelischen zum reneutralisierten Pressetenor im Nahostkonflikt; von der richtungsübergreifenden Verurteilung der arabischen zur
richtungsabhängigen Kritik der westlichen Erdölpolitik; von der Kritik des
iranischen Schahs über die bedingte Unterstützung des Oppositionellen Khomeini zur einheitlichen Ablehnung Khomeinis als Machthaber Irans; von der
inklusivistischen Strategie gegenüber den Islamisten Algeriens über die Zustimmung zu ihrer Delegalisierung bis zur Kritik des repressiven Staates.
Thematisierung und Nicht-Thematisierung oder die Vielfalt und Einheit der
Frames sind das Resultat von Themen- und Framing-Konkurrenzkämpfen.
Gerade unter den Bedingungen knapper Zeit und hohen Meinungsdrucks
können konsensähnliche master frames entstehen, die alternativen Frames den
in anderen Diskursphasen möglichen Zugang zur Presse erschweren.
Entstehung und Wirkung des Nahost- und Islambildes
• Der Journalist im Darstellungsprozeß – Mitgestaltung der Außenpolitik:
- Das im theoretischen Vorlauf ermittelte journalistische Rollenkonzept einer
„Mitgestaltung der Außenpolitik“ kann in der Nahostberichterstattung der
Presse nur begrenzt zum Tragen kommen, da weite Teile der deutschen
Nordafrika- sowie Nah- und Mittelostpolitik nicht Gegenstand der Presseberichterstattung sind. Es sind Zonen unterschiedlich hoher Nachrichtenschwellen zu erkennen. Die deutsche Nordafrikapolitik zeigt die höchste Schwelle,
denn sie bleibt selbst in Ausnahme- und Krisenzeiten, in denen deutsche außenpolitische Positionen formuliert und wirksam werden, unbeachtet (Beispiel Algerienkrise); eine mittlere Ebene ist im Bereich des Mashreq zu erkennen, wobei die deutsche Nahostpolitik überwiegend im Rahmen des historischen Sonderverhältnisses zu Israel, weniger jedoch in seiner politischen
Substanz erörtert wird; die niedrigste Aufmerksamkeitsschwelle zeigt sich
dort, wo die deutsche Außenpolitik traditionell die stärksten Initiativen entwickelt: gegenüber der Türkei und Iran. In den ersten beiden Fällen sind Defizite in der öffentlichen Reflexion auswärtigen Staatshandelns und damit in
der Konsequenz auch in der demokratischen Transparenz der Außenpolitik zu
erkennen. Außenpolitischen Debatten fehlt in Deutschland in weiten Teilen
eine mediale Informationsgrundlage.
- Ausgeprägter als realpolitische Reflexionen über deutsche Außenpolitik ist in
vielen Fällen der Menschenrechtsadvokatismus (Beispiele Rushdie, Iranische
Revolution und Algerien). Allerdings ist die Hinwendung der Journalisten zur
Demokratisierung als normative Position deutlich weniger entwickelt als ihr
Bekenntnis zu den Menschenrechten, denn weder im Fall Algerien noch in
Saudi-Arabien oder Tunesien stehen Probleme der Demokratisierung auf der
Presseagenda. Im links-alternativen Pressespektrum hat sich die Wertesicherheit in bezug auf Demokratisierung im Fall Algerien als ausgeprägter als im
links-liberalen und liberalen Mediensegment erwiesen; in den links-alternativ
bis liberalen Strömungen ist sie insgesamt stabiler als in den konservativen
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und rechtskonservativen Strömungen (z.B. Haltung zum Shah, LibanonInvasion, Algerien), wo nationale und Stabilitätsinteressen von großer Bedeutung sind (s.u.).
Ungeachtet des normativen Bestrebens, kulturelle Mittlertätigkeiten auszuüben, sind essentialistische Kulturvorstellungen in allen Fällen, in denen Interpretationen der orientalischen und islamischen Kultur erforderlich gewesen
sind (z.B. Iran, Algerien, Rushdie), deutlich zum Vorschein getreten, während
sich transkulturelles Denken, insbesondere die Frage kultureller Gemeinsamkeiten zwischen dem Westen und der islamisch-orientalischen Kultur, nirgends nennenswert niedergeschlagen hat.
• Medienorganisation – Nachrichtenfluß – Strömungsunterschiede:
- Der Quellenzufluß durch Nachrichtenagenturen der überregionalen Tageszeitungen ist durchschnittlich (Süddeutsche Zeitung) bzw. gering (Frankfurter
Allgemeine Zeitung), was auf eine begrenzte primäre Steuerung durch externe Informationsgeber schließen läßt. Das Steuerungspotential der Agenturen
ist in politischen Fragen relativ größer als auf anderen Gebieten.
- Das Steuerungsvermögen der großen vier Agenturen (Reuters, AP, AFP, UPI)
ist in der Nahostberichterstattung mit etwa 30 Prozent bei der Süddeutschen
Zeitung und 15 Prozent bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zwar nennenswert, aber nicht dominierend. Eine monopolistische Stellung wie in der
NIIO-Debatte vermutet, läßt sich nicht erkennen.
- Allerdings läßt die überdurchschnittliche Nutzung der Agenturen im Bereich
„Politik“ im Vergleich zu anderen Sachgebieten, die nicht von mangelnden
Angeboten der Agenturen, sondern vom Abnahmeverhalten der Zeitungen
abhängen, eine „Agenturträchtigkeit“ und Agenturorientierung der Politikberichterstattung erkennen. Die Steuerungspotentiale auf die ohnehin unter den
Pressemedien in hohem Maße ähnliche Sachgebiets-, Themen- und Ereignisagenda sind in diesem Bereich am größten und wahrscheinlich durch sekundäre gatekeeper-Einflüsse größer als der nominelle Quellenanteil der Agenturen vermuten läßt. Politische Themen, die sich nicht auf der Agenturagenda
etablieren, haben nur geringe Chancen in der Presse mittel- oder langfristig
berücksichtigt zu werden.
- Regierungen haben einen Standortvorteil bei der Nutzung des agenturgeprägten Nachrichtensystems, beispielsweise im Fall der algerischen Krise Anfang
1992, als Regierungspositionen aus Algier in hohem Maß in die deutsche
Presse Eingang fanden, während Positionen der Islamisten selten zugänglich
wurden.
- Nationale Bindungen der Agenturen werden erkennbar, wenn etwa AP dort
einen Informationsvorsprung auch in der deutschen Presse besitzt, wo die
amerikanische Nah- und Mittelostpolitik vitale Interessen verfolgt (Nahostkonflikt, Persischer Golf usw.), während in anderen Bereichen etwa Reuters
oder dpa führend sind. Ein meinungssteuernder Einfluß der amerikanischen
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Nahostpolitik im Informationssystem ist dennoch nicht zu erkennen, da eine
hinreichende Agenturvielfalt in der Konfliktberichterstattung besteht.
In Einzelfällen lassen sich gezielte Desinformationsstrategien (Falschmeldungen) unbekannten Ursprungs nachweisen (z.B. „Atombombe in Algerien“
1992), die sich auch in Krisen- und politischen Entscheidungszeiten im Mediensystem ausbreiten.
Das bestehende Korrespondentensystem mit den festen Standorten Kairo, Jerusalem und Istanbul und der unregelmäßigen journalistischen Mitbetreuung
des Mashreq und Mittelost von hier aus sowie des Maghreb durch externe
Büros in Madrid/Paris zeichnet die untersuchten Zeitungen einerseits vor Regionalzeitungen aus, ist jedoch nicht einmal in epochalen Umbruchsituationen
ausreichend zur Sicherung eigenrecherchierter („unabhängiger“) Quellen, wie
das Beispiel der Iranischen Revolution gezeigt hat, als der Quellenanteil der
Nachrichtenagenturen bei der Süddeutschen Zeitung bezogen auf das Gesamtjahr 1979 stieg, während ein Korrespondent nur kurzfristig vor Ort war.
Die nicht-politischen Sachgebiete profitieren relativ mehr von Eigenleistungen der Presse als die Politikberichterstattung, d.h. insbesondere die Zentralredaktionen, wahrscheinlich auch Fremdautoren, sorgen für ein Minimum an
Sachgebietsvielfalt und prägen Besonderheiten wie die Wirtschaftsberichterstattung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung oder die Kulturberichterstattung der Süddeutschen Zeitung.
Nahostkorrespondenten haben bei einer großen Tageszeitung wie der Süddeutschen Zeitung im Untersuchungszeitraum etwa ein Fünftel des Berichtaufkommens bestritten, wobei hiervon mehr als vier Fünftel auf politische Berichte entfielen, so daß die normativ angestrebten Freiräume des Korrespondenten, der originäre Informations- und Meinungsimpulse aussenden soll,
deutlich eingeschränkt bleiben.
Nahostjournalismus wird nicht nur von Nahostspezialisten (z.B. hauptverantwortlichen Redakteuren und Korrespondenten), sondern zeitweise auch von
hierarchisch übergeordneten, inhaltlich aber universell orientierten Redaktionsteilen wie der Chefredaktion oder „Leitartiklern“ mitgestaltet (in hohem
Maß etwa bei Fragen des Nahostkonflikts oder bei der Rushdie-Affäre). Der
Nahostjournalismus arbeitet daher in einem Spannungsfeld zwischen eingeschränkter Kommunikation wegen hochgradiger redaktioneller Arbeitsteilung
in Routinefällen und einer sehr weitreichenden, sporadischen Intervention in
das Arbeitsgebiet des Area-Spezialisten in prominenten, für die öffentliche
Bildprägung gleichwohl wichtigen Einzelfällen.
Was die redaktionellen Entscheidungsprogramme der Nordafrika-, Nah- und
Mittelostberichterstattung angeht, so weisen die untersuchten überregionalen
Zeitungen unterschiedliche Grade an Binnenpluralität, also an Meinungsvielfalt innerhalb eines Mediums auf. Als generelle Regel kann gelten, daß die
redaktionelle Liberalität größer ist, je weniger bedeutsam ein Sachverhalt für
zentrale „Werte“ des Mediums ist. In der Wirtschaftsberichterstattung sind
die Spielräume gering, da Wirtschaftsfragen die Strömungszuordnung der
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Presse im Rechts-Links-Spektrum prägt, so daß etwa in der Erdölfrage der
„Dritte Welt“-Advokatismus eher im linken, anti-arabische Positionen hingegen eher im konservativen Spektrum zu finden waren. Beim Thema „Islam“
ist der Themenkontext und Funktionszusammenhang entscheidend: die linksorientierte tageszeitung war liberaler im Fall Algerien, als es um die Demokratisierung eines postkolonialen Diktatursystems unter Einschluß der Islamisten ging, während konservative Medien europäische (französische) Stabilitätsinteressen in den Vordergrund schoben. Andererseits berührte der Fall
Rushdie den für die Linke konstitutiven Zusammenhang Islam-Menschenrechte-Religion, so daß hier wie auch in der nachfolgenden „Schimmel-Kontroverse“ (1995) Meinungsflexibilität (z.B. Befürwortung des Religionsdialogs ohne Verzicht auf Meinungsfreiheitsrechte) in diesem Mediensegment
beschränkt blieb.
Binnenpluralität hängt mit Außenpluralität, also Meinungsvielfalt im Mediensystem, insofern eng zusammen, als sich Differenzierungen der vorstehenden
Art häufig erst im Kontext von Strömungsdebatten ausprägen. Pressemedien
reagieren dann zum Teil direkt auf die Berichterstattung der anderen Medien,
beziehen unter Umständen Gegenpositionen, so daß nicht nur interne „Programmierungen“, sondern auch das Aktions-Reaktions-Gefüge und die Debattendynamik des Mediensystems einen wesentlichen Beitrag dazu leisten können, um beim Beispiel „Islam“ zu bleiben, die weitgehend einheitlichen soziopsychologischen Muster der Islamwahrnehmung zumindest kurzfristig zu
differenzieren und kulturelles Wissen – auch im Kontakt mit Fachwissenschaftlern und Experten – zu aktualisieren.
Auf der anderen Seite lassen sich im Pressesystem insbesondere in bestimmten Krisensituationen (Erdöl, s.u.) oder zentralen nationalen Legitimitätsfragen (z.B. Nahostkonflikt/Holocaust 1965, 1967) auch vereinheitlichende
Tendenzen der innerjournalistischen Meinungsführerschaft bis hin zum
sprachlichen Gleichklang (z.B. während der Erdölkrise) erkennen.
• Öffentliche Thematisierung – politische Kultur – Menschenrechte/Demokratisierung:
- Organisierte Teile der Öffentlichkeit artikulieren sich in der Nahost- und Islamberichterstattung nur sehr sporadisch in der Presse (z.B. Solidaritätskomitees im Fall Rushdie). Außermediale Elitenmeinungen gehen in die Medien
zumeist als individuelles Expertenwissen, nicht aber als Teil einer systematischen Öffentlichkeitsarbeit der großen gesellschaftlichen Institutionen (z.B.
Parteien, Gewerkschaften) ein, was auf die überragende Bedeutung der Eigenthematisierung durch das Mediensystem, aber auch auf die Strukturschwäche der Öffentlichkeit verweist.
- Am Beispiel des Nahostkonflikts ist deutlich geworden, daß die Bindung zwischen der Nahostberichterstattung und der allgemeinen Entwicklung der politischen Kultur in Deutschland entscheidender sein kann als der Einfluß von
Organisationen und politischen Lobbies. Ungeachtet der Kontinuität pro-
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israelischer wie pro-arabischer lobbyistischer Politik setzte sich im Verlauf
der siebziger und achtziger Jahre ein hiervon unabhängiger Prozeß zunehmender Meinungsdifferenzierung im Pressebild in enger Bindung an allgemeine gesellschaftliche demographisch erfaßte Einstellungsveränderungen
zum Nahostkonflikt durch. Hieraus läßt sich folgern: Je größer die öffentliche
Meinungsmobilisierung, um so geringer ist das Potential einer lobbyistischen
Steuerung der medialen Themenbearbeitung.
Die Befähigung der Presse, als Resonanzboden gesellschaftlicher Debatten
über Nahost- und Islamfragen oder gar als Plattform zur Formierung von
Meinungsströmungen und gesellschaftlichen Allianzen zu wirken, wächst in
dem Maß, wie von einem Thema vertikale Einstellungen (grundsätzliche
Wertefragen) berührt werden. Die Mobilisierung der Öffentlichkeit ist etwa in
Menschenrechtsfragen (z.B. Rushdie) nachhaltiger als in Fragen der Demokratisierung (z.B. Algerien), was die theoretische Annahme einer relativen Instabilität horizontaler Einstellungen und Meinungen in weiten Teilen der Öffentlichkeit bestätigt (Der Differenzierungsgrad horizontaler Einstellungen
wächst jedoch mit der Verbindung zwischen In- und Auslandsberichterstattung; s.u.).
Das Beispiel der algerischen Wahlen 1991/92 zeigt, daß zentrale politische
Entwicklungen wie Demokratisierungsprozesse bei formalen Anlässen wie
Wahlen auf der Medienagenda stehen, deren Bedeutung durch die Analogie
zu Politikabläufen in Deutschland unmittelbar erkennbar wird, während sie
sonst der Nicht-Thematisierung anheim fallen können. Eine Solidarisierung in
der Presse mit demokratischen Kräften in der Region ist nur sporadisch erkennbar; insbesondere das Verhältnis zu gemäßigten, demokratieverträglichen Teilen und Strömungen der islamistischen Opposition bleibt ungeklärt.
• Systemverhalten zwischen pluraler Meinungsprofilierung und nationaler Nivellierung:
- Unabhängig davon, daß die Nachrichtengeographie (eurozentrischen) politischen und kulturellen Interessen folgt (s.o.) und eine hohe Transparenz des
Informationssystems für staatliche Öffentlichkeitsarbeit besteht, ist die Nahost- und Islamberichterstattung nicht generell ein Spiegel nationaler Orientierungen. Interpretationsspielräume werden vielmehr im Rahmen eines „Fließgleichgewichts“ zwischen Medien, Politik und Gesellschaft genutzt. Im Vergleich sind neben Fällen der demonstrativen Unabhängigkeit der Medien von
Regierungspositionen auch Situationen einer zumindest kurzfristigen starken
Anpassung an nationale Interessen und das politische System erkennbar.
- Unabhängige Meinungsprofile und Non-Konformität in bezug auf Regierungshandeln sind vor allem in Nicht-Krisen-Zeiten (z.B. vor und nach Erdölkrise, deutsch-israelisch-arabisches Verhältnis in den siebziger Jahren) oder
während Krisen und Konflikten ohne nationale Relevanz (z.B. Algerienkrise)
ausgeprägt. Mit wachsender Dynamik von Krisen mit nationaler Relevanz
wächst in weiten Teilen der Presse häufig die Anpassungsbereitschaft.
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Interessen des politisch-wirtschaftlichen Komplexes können sich in der Nordafrika-, Nah- und Mittelostberichterstattung insbesondere dann bemerkbar
machen, wenn nicht nur eine bestimmte regierungspolitische Linie oder aber
unternehmerische Einzelinteressen zum Tragen kommen, sondern das dazugehörige Umweltmilieu der Medien in dieselbe Richtung weist. Während der
Erdölkrise von 1973 erfolgte das Einschwenken auf eine konsensuale nationale, anti-arabische Medienberichterstattung und die kurzfristige Nivellierung
von Richtungsunterschieden im Rechts-Links-Spektrum der Presse vor dem
Hintergrund befürchteter Wohlstandseinbußen für Deutschland. Die Umorientierung zum pro-israelischen Richtungswechsel der Regierung Erhard 1965
erfolgte unter Bezugnahme auf Erfordernisse der politischen Kultur angesichts der Holocaust-Vergangenheit.
Deutsche Nahostberichterstattung kann sich statt an deutschen unter Umständen auch an „westlichen“ außenpolitischen Interessen orientieren, etwa den
Interessen Frankreichs in Algerien. Dies sind erste Anzeichen einer Schwächung des nationalen zugunsten des internationalen Systemumfeldes der Auslandsberichterstattung, die allerdings derzeit noch nicht verallgemeinerbar
sind.
Ein Potential der Presse zur Mitgestaltung der Politik ist überwiegend im Bereich der Erzeugung und Vermittlung öffentlicher Stimmungen zu erkennen,
die die Politik unter Zeitdruck setzen oder wenigen der Öffentlichkeit bekannten Politikoptionen der Außenpolitik zum Durchbruch verhelfen können. Eine
tagespolitische Mitgestaltung im Sinne der konkreten „Diplomatie in der Öffentlichkeit“ ist hingegen nur dort denkbar, wo ein verhandlungsorientierter
Berichterstattungsstil, der über die kurzfristige Konfliktbeobachtung hinausgeht, vorherrscht (Nahostkonflikt).
• Interaktionen zwischen Inlands- und Nahostberichterstattung:
- Im Fall des Nahostkonflikts hat sich bewahrheitet, daß die Beziehungen zwischen Auslandsberichterstattung und innergesellschaftlichen Fragen komplexer sein können als häufig angenommen wird. Personelle und institutionelle
Beziehungen (z.B. Brandts Besuch in Israel), darüber hinaus aber auch die
Berichterstattung über „reines“ Nahostgeschehen wie die israelische Libanoninvasion von 1982 weisen zum Teil thematische Inlandsbezüge auf, die wie
der Holocaust als interne Anschlüsse (hier: als geschichtslogische Determinierung) in den Text eingehen können und darüber hinaus Kontextualisierung
und Framing des Nahostgeschehens beeinflussen können.
- Die Nahostberichterstattung zeigt ein dynamisches Diskursverhalten; die Behandlung einzelner Themen kann zwischen den in Anlehnung an Rosenau
theoretisch konzipierten Diskursfeldern wechseln und zu unterschiedlichen
Zeiten engere oder weniger enge Bindungen zu innergesellschaftlichen Diskursen und zur Gesamtentwicklung der politischen Kultur aufweisen. Dieses
Diskursverhalten wiederspricht Vorstellungen einer soziopsychologischen
Determination der Nahost- und Islamberichterstattung.
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• Krisenberichterstattung – Medien als „eigennützige Co-Parteien“:
- Die Nahostberichterstattung weist eine ausgeprägte Krisenanfälligkeit auf.
Die Berichterstattung kann starke Pluralitätsverluste erleiden, die zumindest
kurzfristig einer starken Vereinheitlichung des Pressebildes Vorschub leisten
und ein konfliktverschärfendes Wirkungspotential beinhaltet.
- Je nachhaltiger die Involvierung des deutschen Gesellschaftssystems in einen
Konflikt ist (Deutschland bei der drohenden Ausweitung des Erdölboykotts
1973), um so ausgeprägter ist die Neigung vieler Presseorgane zur Systemanpassung (s.o.) und zur Co-Parteinahme mit der deutschen Politik; je geringfügiger die Involvierung ist (Deutschland in der Algerienkrise 1991/92), um so
geringer ist diese Neigung.
- Co-Parteinahme ist nicht nur abhängig von der gesellschaftlichen Involvierung, sondern auch von der Konfliktdynamik, wobei die mit akuten Krisen
einhergehende Wahrnehmung knapper Entscheidungszeiten und hohen Handlungsdrucks (Erdölkrise) Tendenzen der Co-Parteinahme fördern kann.
- Nur eine Minderzahl der Medien ist in der Lage, auch in akuten und vitalen
Krisenmomenten die Rolle des journalistischen Konfliktvermittlers auszufüllen, indem systematisch vor allem ein ausgewogenes und friedensorientiertes
Meinungsklima gepflegt wird. Dabei haben die Medien in der Erdölkrise
weniger durch konkrete politische Forderungen eine Eskalation des Konflikts
(etwa durch Gegensanktionen) gefordert, sondern ihr Hauptversäumnis bestand vielmehr in der Nicht-Reflexion gegnerischer Argumente und in der
Emotionalisierung der Öffentlichkeit.
- Gerade letzteres zeigt, daß die Presse auch während akuter und vitaler Krisenmomente zum Teil nicht nur die Interessen des sie umgebenden Gesellschaftssystems (und der eigenen Leserschaft) vertritt, sondern insbesondere
durch Sprachgebung und Dramaturgie eigene Absatzinteressen verfolgt
(Nachrichtenfaktor Negativismus), die nicht mit Interessen des politischen
Systems (Regierung) identisch sein müssen. Theoretische Rollenmodelle der
Konfliktkommunikation müssen hier kombiniert werden; die Presse wird zur
„eigennützigen Co-Partei“.
• Transkulturelle Kommunikation – kulturräumliches Dialogverhalten – „multikulturelle“ Gesellschaft:
- Trotz des geringen Interesses an Kultur und Religion in den meisten Untersuchungsländern (s.o.: Sachgebiete), werden Religion und Kultur stellenweise
massiv zur Erklärung politischer Vorgänge herangezogen (s.o.: Soziopsychologie). Der Fall Rushdie hat gezeigt, daß diese diskontinuierliche Kulturbeschäftigung zwar auf der einen Seite die eigenen Werte (Menschenrechtsadvokatismus; s.o.) zur Geltung bringt, aber auf der anderen Seite auch essentialistische Abgrenzungen gegenüber anderen Kulturen (Islam als „unvereinbar“
mit Menschenrechten) befördern kann. Die Darstellung verschiedener kultureller Teilsysteme und regionaler wie zeitlicher Ausformungen des Islam tritt
dann hinter einer kulturtheoretisch fraglichen Konstruktion der kulturellen
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Differenz zurück. Insofern Medien als kommunikatives Element internationale Konflikte beeinflussen können, haben die Darstellungen der Iranischen Revolution und des Falls Rushdie in der deutschen Presse ein Potential der medialen Forcierung der kulturellen wie religiösen Dimension der internationalen Beziehungen, wie sie etwa Samuel Huntington betont, aufgezeigt. Theoretisch handelt es sich um Störungen auf der Inhaltsebene der transkulturellen
Kommunikation.
Auch unter den Bedingungen verbesserter technischer globaler Informationsvernetzung lassen sich Mängel im Dialogverhalten, in der Reflexion indigener
Diskurse und im Koorientierungsverhalten der Presse erkennen. An die Stelle
der Reflexion der tatsächlichen öffentlichen Diskurse in der islamischen Welt
traten etwa im Fall Rushdie ausführliche religionsprinzipielle Betrachtungen,
die auf Grund der Polysemie kultureller Zeichen mit der tatsächlichen Aktualisierung kultureller Fragen in der islamischen Welt allenfalls teilidentisch
waren (auf die „Satanischen Verse“ wurde etwa in arabischen Medien überwiegend mit Publikationsverbot, aber nur selten mit einer Unterstützung des
Todesurteils durch Khomeini reagiert; Fragen des Schutzes und der Tabuisierung von Religion wurden im Westen kaum beachtet, obwohl diese in der islamischen Welt viel diskutiert werden). Diese solipsistischen „Selbstgespräche“ großräumiger Kulturkommunikation durch Medien sind als Störungen
auf der Beziehungsebene globaler Kommunikation zu betrachten. Sie sind
aber nur bedingt an ungleiche Machtverhältnisse im Nord-Süd-Verhältnis (im
Sinne Edward Saids) gebunden, da Solipsismen auch in außereuropäischen
Medien existieren und im konkreten Fall von Khomeinis fatwa gegen Rushdie
in der deutschen Presse gleichfalls als Beziehungsstörung („Erpressung“)
wahrgenommen wurden.
Die Kulturkommunikation in der Nahost- und Islamberichterstattung weist
auch ein innerdeutsches Wirkungspotential auf, und zwar dort, wo sie mit gesellschaftlichen Minderheiten in Verbindung steht (foreign news at home).
Das Beispiel der Rushdie-Berichterstattung hat gezeigt, daß ein essentialistischer Mediendiskurs zu einer Infragestellung der multikulturellen Gesellschaft führen und zur Katalysation gesellschaftlicher Konflikte beitragen
kann. Wie auf globaler Ebene hat die fehlende Präsenz muslimischer Stimmen in der deutschen Presse im Fall Rushdie gezeigt, daß Gesprächspartnerschaften und Dialogverhalten zwischen Presse und Minderheiten ungeachtet
der räumlichen Nähe und kurzen Kommunikationswege unterentwickelt sein
können.
In der theoretischen Gesamtbilanz sind eine Reihe von Facetten des Nahost- und
Islambildes zu erkennen, die einer konversionstheoretischen Deutung im Rahmen der
Globalisierungsdebatte Vorschub leisten. Die Orientierung an internationalen Quellen wie den großen Nachrichtenagenturen begünstigt einheitliche globale Nachrichtenstandards, die zeitweise Orientierung an nicht-deutschen „westlichen“ Interessen
wie denen Frankreichs in Algerien und die Bildung innergesellschaftlicher An-
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schlußdiskurse im Umfeld der Auslandsberichterstattung sind Hinweise in diese
Richtung. Dennoch weist die überwiegende Zahl von Bildstrukturen und deren Entstehungsbedingungen – psychologische Spezifika der Islamwahrnehmung, die fehlende Präsenz von Süd-Süd- und Süd-Ost-Beziehungen, die Ausrichtung der Wirtschaftsberichterstattung an deutschen Handelsinteressen und viele andere der genannten Aspekte – in die gegenteilige Richtung; auf die „Domestizierung“ und Partikularisierung des Pressebildes.
311
312
Quellen- und Literaturverzeichnis (Bd. 2)
Quellenverzeichnis*
* Im Quellenverzeichnis werden nur die Quellen aus Kapitel 6 ausgewiesen, nicht
jedoch die 11.518 Artikel, die im Zuge der quantitativen Inhaltsanalyse (Kap. 5)
ausgewertet worden sind.
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Abied, Khalil, Keine Hadschis aus Jordanien und Palästina, taz 4.6.1991
Abied, Khalil, Der Schleier als Schutz vor Mord, taz 20.4.1994
Abied, Khalil, „Unter der Asche liegt noch die Glut“, taz 27.4.1994
Abkommen außer Kraft, Welt 22.2.1989
Acht zu acht, Spiegel 10.3.1965
Ahlers, Detlev, Für die Pilgerfahrt öffnen Saudis „provisorisch“ die Grenzen zum
Irak, Welt 22.6.1991
„Algerien auf einer Reise der Angst“, Spiegel 2.8.1993
Algerien − Militär stoppt Demokratie, taz 14.1.1992
Algerien bestreitet Nuklearpläne, SZ 8.1.1992
Algerien dementiert Atomkooperation mit Irak, ND 8.1.1992
Algerien im Zeichen bevorstehender Wahlen, NfA 23.10.1991
Algerien: Gegner der Heilsfront formieren sich, ND 2.1.1992
Algerien: Hunderttausende bei ‘Marsch für Demokratie’, ND 3.1.1992
Algeriens grüne Gefahr, SZ 28.12.1991
Algeriens Ministerpräsident weist Berichte über Putschplan von Generälen und
Uranlieferung zurück, F.A.Z. 8.1.1992
Algeriens Opposition lehnt Mehrheitswahlrecht ab, FR 30.3.1991
Algeriens Opposition zu Wahlen bereit, F.A.Z. 18.10.1991
Algier weist Verdacht zurück, FR 13.1.1992
Allah und ein Laserstrahl, taz 24.7.1990
Allahs Rache, Spiegel 30.7.1990
„All die perversen Helden“, Spiegel 28.11.1977
„Allah, gib uns Gewehre“, stern 19.4.1979
Appel, Reinhard, Bonns kontroverse Nahostpolitik, SZ 15.7.1971
Appel, Reinhard, Kairo ist am Zug, SZ 10.9.1971
Araber drehen den Ölhahn weiter zu, SZ 6.11.1973
Araber verschärfen Ölboykott gegen die USA, Welt 22.10.1973
Arabien-Politik, HB 2.7.1969
Arnsperger, Klaus, Reagan schließt sich Begins Beurteilung an, SZ 23.6.1982
„Auf König Faisal können Sie sich verlassen“, Spiegel 3.12.1973
Aufruf für den israelischen Rückzug aus dem Libanon, Zeit 9.7.1982
Aufruhr um ein Buch – Khomeini setzt Kopfgeld aus, HAB 16.2.1989
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Augstein, Rudolf, Neutral?, Spiegel 5.11.1973
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Augstein, Rudolf, Wir Schreibtisch-Krieger, Spiegel 2.3.1998
„Ausweg aus dem Elend“, Spiegel 3.10.1977
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Die Frauen besiegten den Schah, Quick 11.1.1979
„Die gewaltigste Seelenernte“, Spiegel 20.1.1992
„Die kleinen Nationen müssen vorangehen“, FR 8.10.1994
„Die Leute kommen gelöst und entspannt aus dem Kino − sie wissen, Gott wird
Rushdie strafen“, taz 24.7.1990
Die Macht des Propheten, stern 15.3.1979
„Die PLO in die Steinzeit zurückbomben“, Spiegel 14.6.1982
Die Region um Jijel − Opfer der Gewalt, FR 17.5.1994
Die Rushdie-Affäre langweilt mich entsetzlich, Zeit 17.12.1993
Die Schah-Memoiren, WaS 2.12.1979
„Diesmal komme ich nicht raus“, taz 14.2.1990
„Die Sorge um das Öl verdrängt die Erinnerung an Auschwitz“, F.A.Z. 11.9.1979
Die Stunde der heiligen Krieger, stern 13.12.1979
Die verzweifelte Angst, nicht islamisch zu sein, FR 29.10.1992
Die Wahl zwischen Koffer und Sarg, Spiegel 11.7.1994
„Die Welt stimmt vorn und hinten nicht, sie ist plemplem“, FR 1.3.1989
Dönhoff, Marion Gräfin, „Wir brauchen keinen Rat“, Zeit 14.9.1979
Droht den Ölkonzernen in Libyen jetzt auch die Verstaatlichung?, Welt 26.2.1971
E. Antonaros, Der große Exodus – die Besten gehen, HAB 19.7.1994
Ehre der Männer..., taz 4.3.1995
Ein Herzinfarkt vereitelte meine Rettung, WaS 23.12.1979
Ein Kaiser, der als Fremder sein Reich verläßt, SZ 17.1.1979
Ein persischer Reaktionär, F.A.Z. 5.12.1978
Ein Sieg Sadats, F.A.Z. 21.11.1977
Ein wenig weinerlich, Spiegel 20.8.1979
Eine Antwort an Hassouna, Welt 16.5.1968
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Fahrni, Oliver, Die FLN debattiert die Auflösung, taz 29.1.1992
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Farah verließ Schah/Scheidung für Milliarden?, Bild 25.5.1979
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Wöhlcke, Manfred, Lateinamerika in der Presse. Inhaltsanalytische Untersuchung
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NZZ, Handelsblatt, Le Monde, Neues Deutschland, Der Spiegel, Stuttgart 1973
Wolffsohn, Michael, Deutsch-israelische Beziehungen im Spiegel der öffentlichen
Meinung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 46-47/1984, S. 19-30
Wolffsohn, Michael, Ewige Schuld? 40 Jahre deutsch-jüdisch-israelische Beziehungen, München/Zürich 1988 (2. Aufl.)
Wolfsfeld, Gadi, Media and Political Conflict. News from the Middle East, Cambridge 1997
Yaniv, Avner (Hrsg.), National Security and Democracy in Israel, Boulder et al.
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Younis, Talib, Western Media and the Arab-Israeli Conflict: an Overview, in: Orient
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Zaharna, R.S., The Palestinian Leadership and the American Media. Changing Images, Conflicting Results, in: Yahya R. Kamalipour (Hrsg.), The U.S. Media and
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Zimmermann, Peter, Television als Fata Morgana. Die Nahost-Berichterstattung und
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1991, S. 7-20
351
352
Tabellarischer Anhang*
*Es können Rundungsabweichungen von 100 Prozent auftreten.
353
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389
390
Kodierbogen
Abkürzungsverzeichnis
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
391
392
Kodierbogen
Name der Zeitung/Zeitschrift:
Datum:
Seite:
Informationsquellen:
1.
2.
3.
4.
Nachrichtenagenturen
Korrespondent in Nordafrika bzw. Nah-/Mittelost
Externe Redaktion/Korrespondent
Zentralredaktion
Sachgebiete:
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
Politik
Ökonomie
Soziales/Umwelt
Religion (nur Theologie, Kultus)
Kultur/Wissenschaft
Unterhaltung
Tourismus
Sonstiges
Dauerthemen:
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
Arabisch-Israelischer Konflikt
andere Großkonflikte
u.a.
Nahostkonflikt
Suezkrise 1955/56
Algerienkrieg 1958-64
Libanonkrise 1958
Zypernkonflikt
Libanesischer Bürgerkrieg 1975-90
Afghanistankonflikt 1979-90
Iran-Irak-Krieg 1980-88
Golfkrise/-krieg 1990/91
Kurdenkonflikt
Islam
Erdöl
deutsch-orientalische Beziehungen
(Pan-) Arabischer Nationalismus
Orientalische Prominenz
Altorientalische Geschichte
393
9.
Sonstiges
Ereignisvalenz:
1.
2.
3.
4.
negativ
neutral
positiv
negativ-neutral
Länder:
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
15.
16.
17.
18.
19.
20.
21.
22.
23.
24.
25.
26.
Ägypten
Afghanistan
Algerien
Bahrain
Djibouti
Irak
Iran
Israel (Kernstaat)
Israel-Palästina
Jemen
Jordanien
Qatar
Kuwait
Libanon
Libyen
Marokko
Mauretanien
Oman
Pakistan
Saudi-Arabien
Sudan
Syrien
Tunesien
Türkei
VAE
Zypern
Handlungsträger:
1.
2.
394
Offizielle Staatsvertreter
Nordafrika/Nah-/Mittelost
West
Ost
Sonstige
Gesellschaftliche Organisationen
Nordafrika/Nah-/Mittelost
3.
4.
5.
6.
7.
West
Ost
Sonstige
Nichtorganisierte Gruppen
Nordafrika/Nah-/Mittelost
West
Ost
Sonstige
Regionale Organisationen
Internationale Organisationen
Prominente Persönlichkeiten
Nordafrika/Nah-/Mittelost
West
Ost
Sonstige
Andere Handlungsträger
395
396
Abkürzungsverzeichnis
ABC
AFP
AP
APS
ASU
BK
CBS
CNN
ddp
DNZ
dpa
DT
DV
DWO
DZt
ECO
F.A.Z.
FIS
FLN
FOC
FR
GS
HAB
Hamas
HB
HWWA
IAEA
IAMCR
ICDSR
IK
IRA
IWF
LLDC
NBC
ND
NfA
NGO
NIIO
NS
American Broadcasting Corporation
Agence France Presse
Associated Press
Algerie Presse Service
Arabische Sozialistische Union
Bayernkurier
Columbia Broadcasting System
Cable News Network
Deutscher Depeschen Dienst
Die Neue Zeitung
Deutsche Presse-Agentur
Der Tagesspiegel
Der Volkswirt
Die Woche
Deutsche Zeitung
Economic Cooperation Organization
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Front Islamique du Salut
Front Libération Nationale
Focus
Frankfurter Rundschau
Gesamtstichprobe
Hamburger Abendblatt
Harakat al-Muqawama al-Islamiyya / Islamische Widerstandsbewegung
Handelsblatt
Hamburgisches Welt-Wirtschafts-Archiv
Internationale Atomenergieorganisation (engl.)
International Association of Mass Communication Research
International Committee for the Defense of Salman Rushdie and his Publishers
Industriekurier
Irisch-Republikanische Armee
Internationaler Währungsfonds
Least Developed Countries
National Broadcasting Company
Neues Deutschland
Nachrichten für den Außenhandel
Nichtregierungsorganisation (engl.)
Neue Internationale Informationsordnung
Normalstichprobe
397
NWICO
NWIO
NZZ
OAPEC
OPEC
PKK
PLO
RM
Spiegel
SPK
SZ
taz
UPI
VAE
WaS
Welt
WIWO
WP
Zeit
ZS
398
Neue Weltinformations- und Kommunikationsordnung (engl.)
Neue Weltinformationsordnung
Neue Zürcher Zeitung
Organization of Arab Petrol Exporting Countries
Organization of Petrol Exporting Countries
Arbeiterpartei Kurdistans
Palestinian Liberation Organization
Rheinischer Merkur
Der Spiegel
Sozialistische Presse-Korrespondenz
Süddeutsche Zeitung
die tageszeitung
United Press International
Vereinigte Arabische Emirate
Welt am Sonntag
Die Welt
Wirtschaftswoche
Wochenpost
Die Zeit
Zusatzstichprobe
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis (Bd. 2)
Abbildungen
Abb. 5.1
Abb. 5.2
Abb. 5.3
Abb. 5.4
Abb. 5.5
Abb. 5.6
Abb. 5.7
Abb. 5.8
Abb. 5.9
Abb. 5.10
Abb. 5.11
Abb. 5.12
Abb. 5.13
Abb. 5.14
Abb. 5.15
Abb. 5.16
Abb. 5.17
Abb. 5.18
Abb. 5.19
Anzahl der Artikel über Nordafrika/Nah- und Mittelost, 1946-94
Sachgebiete der Berichterstattung über Nordafrika/Nah- und
Mittelost, 1955-94
Sachgebiet „Unterhaltung“ im stern
Themen der Berichterstattung über Nordafrika/Nah- und
Mittelost, 1955-94
Themenentwicklung „Islam“, 1946-94
Ereignisvalenzen der Berichterstattung über Nordafrika/
Nah- und Mittelost, 1955-94
Positive - Neutrale - Negative Ereignisse in der Presse,
1955-94 (Variante 1)
Positive - Neutrale - Negative Ereignisse in der Presse,
1955-94 (Variante 2)
Länderverteilung, 1955-94
Irak - Iran - Türkei: Strukturelle Beachtung in den
Tageszeitungen, 1955-94
Sachgebiete und Ereignisvalenzen, 1955-94
Thematisierung und Negativismus
Associated Press: Vorsprung vor anderen/Rückstand auf
andere Nachrichtenagenturen in deutschen Tageszeitungen
Repräsentanz westlicher und regionaler Staatsvertreter aus
Sicht des regionalen Staates
Medienbeachtung der Länder in den Sachgebieten Politik,
Kultur/Wissenschaft und Religion, 1955-94
Deutsch-israelische Beziehungen, 1955-94
Informationsquellen über Ägypten:
Süddeutsche Zeitung, 1970-94
Informationsquellen über Algerien:
Süddeutsche Zeitung, 1970-94
Informationsquellen über Iran: Süddeutsche Zeitung, 1970-94
45
49
52
55
57
61
62
62
66
69
91
93
103
111
120
125
131
132
133
Tabellen
Tab. 5.1
Tab. 5.2
Tab. 5.3
Tab. 5.4
Anteil der Regionen an der Berichterstattung
Mediendaten und Extra-Medien-Daten im Vergleich
Staatsvertreter und Organisationen
Informationsquellen der Tageszeitungen, 1955-94
70
71
75
85
399
Tab. 5.5
Tab. 5.6
Tab. 5.7
Tab. 5.8
Tab. 5.9
Tab. 5.10
Tab. 6.1
Tab. A 5.1
Tab. A 5.2
Tab. A 5.3
Tab. A 5.4
Tab. A 5.5
Tab. A 5.6
Tab. A 5.7
Tab. A 5.8
Tab. A 5.9
Tab. A 5.10
Tab. A 5.11
Tab. A 5.12
Tab. A 5.13
Tab. A 5.14
Tab. A 5.15
Tab. A 5.16
Tab. A 5.17
Tab. A 5.18
Tab. A 5.19
Tab. A 5.20
Tab. A 5.21
Tab. A 5.22
400
Nachrichtenagenturen und journalistische Eigenleistung, 1970-94
Nachrichtenagenturen, 1955-94
Prioritätenliste und Themenfelder der deutsch-orientalischen
Beziehungen
Länder und Negativismus, 1955-94
Gesellschaftliche Organisationen Ägyptens und der Türkei:
Frankfurter Allgemeine Zeitung und Süddeutsche Zeitung,
1970-94
Gesellschaftliche Organisationen Israels und Palästinas:
Frankfurter Allgemeine Zeitung und Süddeutsche Zeitung,
1970-94
Themenschwerpunkte von Nahostjournalisten
Umfang der Nahostberichterstattung, 1955-94
Umfang der Nahostberichterstattung:
Süddeutsche Zeitung, 1946-54
Umfang der Nahostberichterstattung: Der Spiegel, 1947-54
Umfang der Nahostberichterstattung: stern, 1949-54
Anzahl der Artikel über Nordafrika/Nah- und Mittelost, 1946-94
Sachgebiete der Berichterstattung über Nordafrika/Nah- und
Mittelost, 1955-94
Sachgebiet „Unterhaltung“ im stern
Themen der Berichterstattung und Nordafrika/Nah- und
Mittelost, 1955-94
Themenentwicklung „Islam“, 1946-94
Ereignisvalenzen der Berichterstattung über Nordafrika/
Nah- und Mittelost, 1955-94
Länder der Berichterstattung über Nordafrika/Nah- und
Mittelost, 1955-94
Iran - Irak - Türkei: Strukturelle Beachtung in den
Tageszeitungen, 1955-94
Handlungsträger, 1955-94
Sachgebiete und Ereignisvalenzen, 1955-94
Themen und Ereignisvalenzen, 1955-94
Sachgebiete und Informationsquellen, 1955-94
Sachgebiete und journalistische Eigenleistungen, 1955-94
Themen und Nachrichtenagenturen:
Süddeutsche Zeitung, 1955-94
Themen und Nachrichtenagenturen:
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1955-94
Sachgebiete und Handlungsträger:
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1955-94
Sachgebiete und Handlungsträger:
Süddeutsche Zeitung, 1955-94
Sachgebiete und Handlungsträger: Der Spiegel, 1955-94
87
88
123
127
137
138
171
355
355
355
355
356
357
358
359
360
361
362
363
364
365
366
367
368
369
370
371
372
373
Tab. A 5.23 Sachgebiete und Handlungsträger: stern, 1955-94
Tab. A 5.24 Themen und Handlungsträger:
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1955-94
Tab. A 5.25 Themen und Handlungsträger: Süddeutsche Zeitung, 1955-94
Tab. A 5.26 Themen und Handlungsträger: Der Spiegel, 1955-94
Tab. A 5.27 Themen und Handlungsträger: stern, 1955-94
Tab. A 5.28 Länder und Sachgebiete:
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1955-94
Tab. A 5.29 Länder und Sachgebiete: Süddeutsche Zeitung, 1955-94
Tab. A 5.30 Länder und Sachgebiete: Der Spiegel, 1955-94
Tab. A 5.31 Länder und Sachgebiete: stern, 1955-94
Tab. A 5.32 Länder und Themen: Frankfurter Allgemeine Zeitung und
Süddeutsch