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Ha up ts e mina r G e rman is tik „Mittelhochdeutsche Tagelieder“ Wintersemester 2002 / 2003 Se mi nar l eit er: PD Dr. Otto Neudeck T H E M A D E S R E F E R A T E S A M 1 9 .1 2 .2 0 0 2 : Johannes Hadlaub: „Ich wil ein warnen singen“ H A US A R BEIT : Die vier Tagelieder Johannes Hadlaubs: Ihr Bezug zur Tageliedtradition und ihre Stellung im Gesamtwerk des Minnedichters Han s- H ol ge r M al c o meß F örs t er ei s tra ß e 3 5 – 0 1 0 9 9 Dr es d e n T e l. 0 3 5 1 – 2 1 3 1 8 4 3 Fax: 0351 – 2 13 18 63 i n fo@ ma lc o m es s . co m w w w . ma l c om es s .c o m Magisterstudium Germanistik / Literaturwissenschaft (1. HF) – 9. Semester Kunstgeschichte (2. HF) – 9. Semester Dresden, 31. März 2003 1 INHALTSVERZEICHNIS Ka pi te l I. Ti te l Se i te Ei nle i tu ng 3 I.1. Zum Begriff „Tagelied“ 3 I.2. Hadlaub und die Tagelied-Tradition um 1300 3 I.3. Schwerpunkt der Analyse 4 I.4. Zwei Thesen 4 II. Zu r En t wi ck lu ng d e r W ä cht er fi gu r 5 II.1. Variationen des Tageliedes 5 II.2. Vorbilder für Hadlaubs Wächterfigur 6 III. Ha d lau b u nd d er C od ex Man e s se 11 III.1. Zur Biographie Hadlaubs 11 III.2. Hadlaubs Beziehung zum Manessekreis 12 III.3. Zur Bedeutung des Codex Manesse 13 III.4. Hadlaubs Sonderstellung im Codex Manesse 14 IV. Zu m Ge s amt w e rk H a dl au b s 15 IV.1. Hadlaubs Schaffen im Überblick 15 IV.2. Die subjektive Note im Werk Hadlaubs 17 IV.3. Hadlaubs Sänger-Ich als „unglücklicher Minner par excellence“ 19 V. Di e T age l ie d er Ha d la u bs 21 V.1. Vergleich seiner vier Tagelieder 21 V.2. Neue Elemente in Hadlaubs Tageliedern 23 VI. Zu s am menf a s sung 24 VII. Li te ra tu rv er ze i chn i s 26 VII.1. Quellen 26 VII.2. Verwendete Literatur 26 VII.3. Zitierte Literatur 27 VIII. An ha ng: W o r tl aut d er Tag el i e de r un d Übe r se tzu ng 28 VIII.1. „Ich wil ein warnen singen“ 28 VIII.2. „Nu merkent mich, swer noch tougen lige“ 29 VIII.3. „Nach liebe gât leit!“ 30 VIII.4. „Der ich leider dise nacht gehüetet hân“ 31 2 I. Einleitung I.1. Zum Begriff „Tagelied“ Das Tagelied gilt als „vielleicht die internationalste aller lyrischen Gattungen [...], da es praktisch keine Literatur gibt, die es nicht aufweisen würde.“ 1 Arthur T. Hatto hat schon 1965 in seiner Sammlung „Eos“2 Tagelieder aus 50 Literaturen der Welt herausgegeben. Dieser Liedtyp 3 stellt „Trennung und Abschied eines Liebespaares nach einer heimlich verbrachten Nacht aus Furcht, entdeckt zu werden“ 4, dar. Die Grundform des mittelhochdeutschen Tageliedes – soweit eine solche definiert werden kann5 - läßt sich wie folgt beschreiben: „Nach dem Weckruf des Wächters, der vom Tagesanbruch handelt, erwachen die Liebenden, klagen über das Ende der Nacht und den beginnenden Morgen, die das Scheiden notwendig machen, und nehmen schließlich voneinander Abschied.“ 6 Oder – etwas abstrakter ausgedrückt: „Das mittelhochdeutsche Tagelied ist das künstlerisch gestaltete Eintreten für eine allumfassende menschliche Beziehung angesichts deren Bedrohung.“7 I.2. Hadlaub und die Tagelied-Tradition um 1300 Wenn man die geistlichen Tagelieder ausspart, gelangt man je nach Betrachtungsweise zu einer Anzahl von mindestens 448, 569 oder 80 10 Tageliedern, welche zwischen dem 12. und dem 15. Jahrhundert von 24, 28 oder 32 namentlich bekannten Minnedichtern sowie weiteren anonymen Verfassern geschaffen worden sind. Daraus läßt sich schlußfolgern, daß Johannes Hadlaub um 1 Ioana Beloiu-Wehn: ‚Der tageliet maneger gern sanc’. Das deutsche Tagelied des 13. Jahrhunderts. Versuch einer gattungsorientierten intertextuellen Analyse. Frankfurt a.M. u.a.: Lang 1989 (= Europäische Hochschulschriften, Reihe 1, Band 1168. Zugl.: Bonn: Univ. (Diss.) 1989), S. 8. 2 Arthur T. Hatto (Hg.): Eos. An Enquiry into the Theme of Lovers’ Meetings and Partings at Dawn in Poetry. London u.a.: 1965. (Zit. nach Hilkert Weddige: Einführung in germanistische Mediävistik. 3. durchgesehene und ergänzte Auflage. München: Beck 19973 (= C. H. Beck Studium), S. 261). Die Auswahl deutschsprachiger Tagelieder findet sich auf S. 446472. 3 Der Begriff stammt von Ralf Breslau, der die in Bezug auf das Tagelied verwendete Bezeichnung Gattung bzw. Untergattung – im Gegensatz z.B. zu Beloiu-Wehns ‚Versuch einer gattungsorientierten intertextuellen Analyse’ für eine „problematische[n] Vorstellung“ hält. Ralf Breslau: Die Tagelieder des späten Mittelalters. Rezeption und Variation eines Liedtyps der höfischen Lyrik. Berlin: Freie Univ. (Diss.) 1987, S. 13. 4 Ulrich Müller: Das Tagelied. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Zweite Auflage. Band IV. Berlin: 19802, S. 345 – 350, hier S. 345 (Zit. nach R. Breslau: 1987, S. 12). 5 Zur Diskussion um den Gattungsdefinition vergl. auch Renate Hausner (Hg.): ‚Owe do tagte ez’. Tagelieder und motivverwandte Texte des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Göppingen: Kümmerle 19872 (= Göppinger Arbeiten zur Germanistik, Nr. 204), S. XIV-XXII. 6 R. Breslau: 1987, S. 13. 7 Gerdt Rohrbach: Studien zur Erforschung des mittelhochdeutschen Tageliedes. Ein sozialgeschichtlicher Beitrag. Göppingen: Kümmerle 1986 (= Göppinger Arbeiten zur Germanistik, Nr. 462. Zugl. Würzburg: Univ. (Diss.) 1985), S. 374. Dem sozialgeschichtlich begründeten Ansatz des Autors, daß das Tagelied „das als Klage über die Beschränkung einer erotisch erfüllten Liebe poetisch vorgebrachte Eintreten für eine unreglementierte Liebe gegen alle gegenteiligen Positionen und Praktiken“ sei (S. 375), kann ich allerdings nicht vorbehaltlos zustimmen. 8 Martina Backes beschränkt sich in ihrer Auswahl auf 44 Tagelieder von 24 namentlich bekannten sowie anonymen Autoren. Vergl. Martina Backes (Hg.): Tagelieder des deutschen Mittelalters. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Ausgewählt, übersetzt und kommentiert von Martina Backes. Einleitung von Alois Wolf. Stuttgart: Philipp Reclam jun. 1992 (= Universal-Bibliothek Nr. 8831), S. 3-8. Da sie die wesentlichen Autoren berücksichtigt, habe ich mich in meiner Arbeit vor allem auf ihre Zusammenstellung gestützt. 9 Ulrich Knoop zählt 56 mittelhochdeutsche Lieder von 28 namentlich bekannten sowie anonymen Verfassern, „in denen Konstituenten des Tageliedes realisiert werden“. Vergl. Ulrich Knoop: Das mittelhochdeutsche Tagelied. Inhaltsanalyse und literarhistorische Untersuchungen. Marburg: Elwert 1976 (= Marburger Beiträge zur Germanistik, Band 52. Zugl.: Marburg: Univ. (Diss.) 1975), S. 47 und S. 49-50. 10 Renate Hausner sieht die „klassische Tageliedsituation […] in der Sangverslyrik“ einschließlich neun „GattungsKontaminationen“ (mit Serena bzw. Kreuzlied) in 80 Liedern von 32 namentlich benannten und weiteren anonymen Verfassern dargestellt, wobei sich der bei ihr betrachtete Zeitraum sogar bis ans Ende des 16. Jahrhunderts erstreckt. Vergl. R. Hausner: 1987, S. V-VII und S. XIII. 3 1300 schon auf eine beachtliche Tradition hat zurückgreifen können. Daß man dies nicht nur im übertragenen, sondern „buchstäblich“ auch im wörtlichen Sinn verstehen muß, ist der offensichtlich sehr engen Beziehung Hadlaubs zur Züricher Patrizierfamilie Manesse geschuldet, welche die mit 140 vertretenen Dichtern damals wie heute umfangreichste Sammlung mittelhochdeutscher Lyrik zusammentragen lassen hat. Für Hadlaub ergibt sich „mithin die bemerkenswerte Situation, daß er sowohl in räumlicher wie in zeitlicher Hinsicht zur entstehenden Liedersammlung in allernächster Distanz steht“ 11 – und damit Zugriff auf hunderte Minnelieder gehabt hat, deren älteste vom Ende des 12. Jahrhunderts stammen. I.3. Schwerpunkt der Analyse Das Neue an Hadlaubs insgesamt vier12 Tageliedern ist einerseits die über alle Maßen betonte Stellung des Wächters, welche sich in zwei Tageliedern sogar in Monologen dieser Figur manifestiert, andererseits aber seine auffällig ängstliche Verhaltensweise, welche als „HasenfußCharakter“ 13 bezeichnet worden ist: „Hadlaubs Wächterfigur verkörpert das Wissen um Gefahr und Folgen einer Entdeckung, personifiziert Furcht vor öffentlicher Diskriminierung.“ 14 Vorliegende Arbeit widmet sich der Analyse intertextueller Bezüge der Tagelieder Johannes Hadlaubs. Die Betrachtung erfolgt dabei sowohl in diachroner Richtung auf die vorhandene mittelhochdeutsche Tageliedtradition als auch synchron bezüglich ausgewählter Lieder und Leichs Hadlaubs. Vor dem Hintergrund der Tatsache, daß er in seinen Tageliedern die Rolle der Wächterfigur betont und teilweise neu definiert hat, konzentriert sich die Arbeit auf solche - vor Hadlaub verfaßte - Tagelieder, in denen eine hervorgehobene Wächterrolle erkennbar ist. Darüberhinaus versucht sie mittels seiner anderen Lieder und Leichs eine Erklärung für die spezifische inhaltliche Ausprägung seiner Tagelieder zu finden. I.4. Zwei Thesen Ausgehend von der Annahme, daß Johannes Hadlaub durch seine enge Beziehung zum ManesseKreis all diejenigen Tagelieder gekannt hat, in denen die Figur des Wächters eine herausgehobene Funktion einnimmt, ergibt sich die Vermutung, daß er sich inhaltlich auch an diesen orientiert haben wird. Daher müssten sich, so die erste These, Anhaltspunkte in Hadlaubs Tageliedern finden lassen, die auf eine Beziehung zu diesen älteren Tageliedern hinweisen, beziehungsweise dürften Tagelieder existieren, welche die bei Hadlaub ohne Zweifel erkennbare Sonderstellung des Wächters vorwegnehmen. Damit wäre aber noch nicht der andere neue Ansatz Hadlaubs erklärt, welcher über die intertextuellen Bezüge zur vorhandenen Tagelied-Tradition hinausgeht: Hier ist der „HasenfußCharakter“ gemeint, der sich, so die zweite These, mit seinem in allen vier Tageliedern klagenden und einmal sogar fliehendem Wächter nur durch die Berücksichtigung der anderen 11 Max Schiendorfer (Hg.): Johannes Hadlaub. Die Gedichte des Zürcher Minnesängers. Zürich, München: Artemis 1986, S. 194. 12 Im Gegensatz zu der gebräuchlichen Einordnung als eines von Hadlaubs Tageliedern (u.a. bei M. Backes: 1992) zähle ich das Lied „Sich fröit ûf die edlen nacht“ nicht mit dazu, da es eine Mischform aus Tage- und Nachtlied darstellt und ich mich bei meiner Analyse auf Hadlaubs vier „reine“ Tagelieder konzentriere. 13 Hedwig Lang: Johannes Hadlaub. Berlin: Erich Schmidt 1959 (= Philologische Studien und Quellen), S. 57. 14 Viola Bolduan: Minne zwischen Ideal und Wirklichkeit. Studien zum späten Schweizer Minnesang. Frankfurt am Main: Haag Herchen 1982 (Zugl.: Mainz: Univ. (Diss.) 1980), S. 205. 4 Lieder und Leichs Hadlaubs verstehen läßt. Denn durch diese zieht sich - von wenigen Ausnahmen abgesehen - immer wieder derselbe klagende, ja teilweise sogar jammernde Grundton. Berücksichtigt werden muß dabei, daß „auch der Wächter im Tagelied […] weniger hasenfüßige Person als Personifikation des gesellschaftlichen Minne-Regulativs“15 ist. II. Zur Entwicklung der Wächterfigur II.1. Variationen des Tageliedes Die „Bezeichnung Tagelied und ihre Bedeutung ist in der Forschung kaum umstritten“16, auch wenn „das Tagelied auf den ersten Blick als Offensive gegen die Konzeption des Hohen Minnesangs“ 17 erscheinen könnte und dadurch entsprechende Fragen provoziert. Man sollte diese Kontraststellung aber nicht überbewerten, sondern vielmehr das Tagelied als „ein Ventil [verstehen], das die höfische Konvention als gültig anerkannt hat“18. Genau wie die Hohe Minne ist es ein kulturelles Selbstverständigungsritual der höfischen Gesellschaft gewesen und damit Fiktion, kein „unmittelbarer Durchbruch zur Lebenswirklichkeit“ 19. Deutlich wird dies „vor allem in der außer aller Realität stehenden Figur des Wächters“ 20, die gleich mehrere Paradoxa 21 in sich vereinigt. Nicht allein die in den Tageliedern des 13. und 14. Jahrhunderts vorgenommenen Änderungen der Wächterrolle weisen darauf hin, „daß diese Gattung offenbar den künstlerischen Spieltrieb 22 der Dichter provozierte“.23 Auch die zwei eigentlichen Hauptfiguren des Tageliedes, der Ritter und die Dame, haben starken Schwankungen ihrer Darstellungsform unterlegen. Das hat zu dem Schluß geführt, „daß ein wesentliches Merkmal dieser Liedkunst das ausgeklügelte Variieren des Bekannten ist und daß die Dichter aus einem intensiven Bezug zu ihren Vorgängern, ihren Zeitgenossen und dem Publikum heraus schaffen.“24 Schon kurz nach der Etablierung des Tageliedtypus im mittelhochdeutschen Sprachraum nach 1200 durch Wolfram von Eschenbach und weitere zeitgenössische Dichter hat das „übergreifende Phänomen der Variation [...] die Integration in das größere Phänomen des höfischen Minnesangs genauso enthalten [können] wie Polemik und vielleicht auch schon die sachte Parodie“ 25. 15 V. Bolduan: 1982, S. 204. 16 R. Breslau: 1987, S. 12. Breslau verweist an dieser Stelle darauf, „daß Ulrich Müllers Ausführung im Reallexikon (1980) gleichsam als communis opinio gelten kann“. (Vergl.: U. Müller: 19802, S. 345 – 350). 17 I. Beloiu-Wehn: 1989, S. 96. 18 Helmut de Boor: Die höfische Literatur. 1955, S. 330. (Zit. nach H. Wedigge: 19973, S. 260 – 261). 19 Helmut de Boor: Die deutsche Literatur im späten Mittelalter. Zerfall und Neubeginn. Teil 1: 1250 – 1350. 1962, S. 345. (Zit. nach H. Wedigge: 19973, S. 261). 20 A.a.O. 21 „Der Wächter hat die Funktion, die Öffentlichkeit in die Heimlichkeit der Liebenden zu vermitteln, die Paradoxie seines Dienstes liegt dabei darin, daß sein lautes Singen diese im Grund an die Öffentlichkeit verrät.“ (V. Lieb-Jückstock: Das Tagelied als Gattung? Beobachtungen zur Wächterfigur. München: Mag.-arb. (maschinenschriftl.) 1977. Zit. nach I. Beloiu-Wehn: 1989, S. 47). 22 U. Müller: 19802, S. 345 – 350. (Zit. nach I. Beloiu-Wehn 1989, S. 43). 23 I. Beloiu-Wehn: 1989, S. 43. Beloiu-Wehn verweist an dieser Stelle z.B. auf „Gattungskontaminationen (mit Klagelied, Kreuzlied, Serena) u.a. bei Otto von Botenlauben, Hadlaub, Ulrich von Lichtenstein und beim Burggrafen von Lienz“. 24 Alois Wolf: Variation und Integration. Beobachtungen zu mittelalterlichen Tageliedern. Darmstadt: WBG 1979 (= Impulse der Forschung, Band 29), S. 153. 25 Ebenda: S. 117. 5 Nicht unterschätzt werden dürfen auch die „Anregungen zur Abwechslung, zur Variation [...], die sich aus dem unmittelbaren Kontakt mit einem Publikum ergeben konnten. Gerade für die Dichter, die ihrem Publikum unmittelbar konfrontiert waren, die immer wieder veränderte Vortragssituationen antrafen, Vortragsprogrammes.“ II.2. bestand wohl ein lebhafter Anreiz zur Variierung des 26 Vorbilder für Hadlaubs Wächterfigur Mit seinen Kontakten zur entstehenden Liedersammlung des Rüdiger Manesse hat sich Johannes Hadlaub um 1300 „an der reichhaltigsten Quelle, die sich ein spätgeborener Minnesänger überhaupt wünschen konnte“ 27, befunden: „Keiner vor ihm hatte wohl je die gleiche Möglichkeit besessen, die Kunsttradition in ihrer Gesamtheit zu überblicken und sich durch all die großen und kleineren Vorläufer inspirieren zu lassen“.28 Dieser Umstand wirft zwangsläufig die Frage auf, ob es für Hadlaubs Tageliedkonzeption Vorbilder gibt, an denen er sich hat orientieren können. Anhand von zwölf im „Codex Manesse“ vertretenen Dichtern, in deren Tageliedern eine hervorgehobene Rolle der Wächterfigur auffällt und die Hadlaub mit hoher Wahrscheinlichkeit gekannt haben wird, läßt sich darauf eine positive Antwort geben. Bei der folgenden Darstellung dieser möglichen Vorbilder wird versucht, trotz der teilweise unklaren Quellenlage eine einigermaßen chronologische Reihenfolge einzuhalten. Um den Rahmen nicht zu sprengen, werden jeweils - nur die wichtigsten - Zitate aus den 17 Tageliedern in den Fußnoten dargestellt. Wolfram von Eschenbach (ca. 1170 – 1220): - „Sîne klâwen durch die wolken sint geslagen“ 29 - „Von der zinnen will ich gên“ 30 Von Wolfram von Eschenbach, der vor allem durch seine drei epischen Werke „Parzival“, „Willehalm“ und „Titurel“ bekannt geworden ist, sind neun Lieder - davon fünf Tagelieder – überliefert. Seine „höfischen Tagelieder nehmen in der Geschichte des mittelalterlichen Tageliedes [...] eine besondere Stellung ein“ 31: Zum einen deshalb, da er diesem Liedtyp im deutschen Sprachraum endgültig zum Durchbruch verholfen hat, zum anderen, weil er „seine Lieder konsequent als Wächtertagelieder gestaltet“32 und damit von ihm eine Tradition begründet worden ist, auf die letztlich knappe hundert Jahre später auch Johannes Hadlaub 26 Günther Schweikle: Minnesang. 1965. (Zit. nach Ulrich Müller (Hg.): Die große Heidelberger „Manessische“ Liederhandschrift. In Abbildung herausgegeben von Ulrich Müller. Mit einem Geleitwort von Wilfried Werner. Göppingen: Kümmerle 1974 (= Litterae: Göppinger Beiträge zur Textgeschichte, Nr. 1), darin das Nachwort: Zur Geschichte der Großen Heidelberger Liederhandschrift). 27 M. Schiendorfer: 1986, S. 207. 28 A.a.O. 29 2. Strophe: „Wahtaer, du singest, daz mir manige vreude nimt unde mêret mîn klage.“ (Wächter, was du singst, nimmt mir mein ganzes Glück und vergrößert meinen Schmerz.); 3. Strophe: „Er muoz et hinnen balde und ân sûmen sich. Nu gip im urloup, süezez wîp.“ (Er muß aber fort, sogleich und ohne zu zögern. Nun laß ihn gehen, schöne Frau.); 4. Strophe: „Swaz dir gevalle, wahtaer, sinc und lâ den hie, der minne brâht und minne enpfienc.“ (Sing, Wächter, was immer dir gefällt, aber laß den hier, der Liebe schenkte und Liebe empfing.); Text und Übersetzung nach M. Backes: 1992, S. 92–93. 30 1. Strophe: „Von der zinnen will ich gên, in tagewîse sanc verbern. [...] ritter, wache, hüete dîn!“ (Von der Zinne werde ich jetzt hinabsteigen und mit einem Tagelied mein Singen beenden. [...] Ritter, wach auf, nimm dich in acht!); 2. Strophe: „Niht verkrenken will ich aller wahter triuwe an werden man.“ (Ich möchte die Zuverlässigkeit aller Wächter bei diesem edlen Mann nicht in Verruf bringen); Text und Übersetzung nach M. Backes: 1992, S. 94-97. 31 M. Backes: 1992, S. 243. 32 A.a.O. 6 zurückgreifen kann33. Bemerkenswert erscheint unter anderem der intertextuelle Bezug des Begriffspaares „Leben und Ehre“ in Wolframs Tagelied „Von der zinnen will ich gên“ 34, das in zwei Tageliedern Hadlaubs wieder auftaucht: In „Ich wil ein warnen singen“ 35 und in „Nach liebe gât leit“ 36. Otto von Botenlauben (ca. 1190 – 1245): - „Singet, vogel, singet, mîner frouwen, der ich sanc“ 37 - „Wie sol ich den ritter nû gescheiden“ 38 Unter seinem Namen sind uns vierzehn Lieder überliefert, von denen vier als Tagelieder gelten. „Inhaltlich und formal weisen [...] die beiden hier abgedruckten Lieder Anklänge an die Tagelieder des Markgrafen von Hohenburg und Wolframs von Eschenbach auf.“39 In beiden taucht wieder das Begriffspaar „Leben und Ehre“ auf40, womit sich auch hier ein Bezug zu den schon erwähnten zwei Tageliedern Johannes Hadlaubs herstellen läßt41. Intertextuelle Bezüge zu Hadlaub kann man desweiteren über den Begriff des „höfischen Maßhaltens“ nachweisen: Die „mâze“, in Botenlaubens Tagelied „Wie sol ich den ritter nû gescheiden“42 auftauchend, findet sich ebenfalls in zwei Tageliedern Johannes Hadlaubs: In „Ich wil ein warnen singen“ 43 sowie in „Nu merkent mich, swer noch tougen lige“ 44. Markgraf von Hohenburg (ca. 1200 – 1250): - „Ich wache umb eines ritters lîp“ 45 33 „Vor allem die Motive Wächter und Naturbild hat Wolfram äußerst intensiv gestaltet. Bei der Wächterfigur, die zweifellos ein zentrales Element seiner Tagelieder bildet, ist die Frage, ob er die Gestalt als erster aus der romanischen Literatur übernommen hat, nicht zu klären und wohl auch nicht von entscheidender Bedeutung.“ (R. Breslau: 1987, S. 38. (Vergl. auch: A.a.O., Anm. 72)). 34 1. Strophe: „sô gedenken sêre, an sîne lêre, dem lîp und êre ergeben sîn.“ (so mögen sie doch dessen Rat ernst nehmen, dem ihr Leben und ihr Ansehen anvertraut sind); Text und Übersetzung nach M. Backes: 1992, S. 94-95. 35 2. Strophe: „ich vürchte mir so sêre: ez stât umb lîb und êre.“ (ich fürchte mich so schrecklich: Es geht ja um Leben und Ehre); Text und Übersetzung nach M. Schiendorfer: 1986, S. 52-53. 36 1. Strophe: „wir müezzen lân unser leben und êre, siun hân vor tage dan gescheiden sich.“ (Wir werden unser Leben und unsere Ehre verlieren, wenn sie sich nicht vor Tagesanbruch getrennt haben.); Text und Übersetzung nach M. Schiendorfer: 1986, S. 98-99. 37 1. Strophe: „Den beiden diente ich gerne: ir sô diene ich âne wanc. Daz triuw ich wol erwenden, sît sich daz wunderschoene wîp eins ritter und ir êren hât bewegen.“ (Beiden habe ich bereitwillig und mit großer Zuverlässigkeit gedient. Das glaube ich nun aufgeben zu können, da die wunderschöne Frau auf einen Ritter und ihr Ansehen keine Rücksicht nimmt); 2. Strophe: „nu wecke in, frouwe, ich singe im rehte scheidens zît. Nu hüet dîn selbes, ritter, grôz angest bî der liebe lît.“ (Nun weck ihn, Herrin, ich kündige ihm mit meinem Lied den richtigen Zeitpunkt für den Abschied an. Nun gib selbst auf dich acht, Ritter. Große Gefahr ist mit der Liebe verbunden.); Text und Übersetzung nach M. Backes: 1992, S. 114-115. 38 1. Strophe: „dâ rât ich in rehten triuwen beiden und ûf mîn selbes lîp daz sie sich scheiden und er dannen gê. [...] ichn singe eht anders niht wan: es ist zît. Stant ûf, ritter!“ (Weil ich ihnen treu ergeben bin und aus Sorge um mein eigenes Leben rate ich beiden, sich zu trennen und daß er fortgehen soll.); Text und Übersetzung nach M. Backes: 1992, S. 116117. 39 M. Backes: 1992, S. 254. 40 Im Taglied „Singet, vogel, singet, mîner frouwen, der ich sanc“ in der 1. Strophe: „ich sanc umbe alle ir êre und umbe ir werden friundes lîp. (Ich sang, um ihr Ansehen und das Leben ihres edlen Geliebten zu bewahren.); Im anderen Tagelied ebenfalls in der 1. Strophe: „lîp und êre ist unbehuot, ob man iht langer lît.“ (Leben und Ansehen sind gefährdet, wenn sie noch länger liegenbleiben); Text und Übersetzung nach M. Backes: 1992, S. 114-117. 41 Vergl. Anm. 35 und 36. 42 1. Strophe: „mâze ist zallen Dingen guot.“ (Es ist gut, in allen Dingen maßzuhalten.); Text und Übersetzung nach M. Backes: 1992, S. 116-117. 43 1. Strophe: „daz lieb von liebe bringen nu mag, die mâzze kunnen hân.“ (das den Geliebten und die Liebste auseinanderbringen soll, sofern sie maßvoll sein können.); Text und Übersetzung nach M. Schiendorfer: 1986, S. 52-53. 44 1. Strophe: „der mâzze kann, diu wendet leit! davon so lêre ich iuch die mâzze wol.“ (Das rechte Maß, wenn man es einzuhalten versteht, wendet Leid ab! Deshalb lehre ich euch dies rechte Maß.); Text und Übersetzung nach M. Schiendorfer: 1986, S. 96-97. 45 1. Strophe: „got gebe daz ez uns wol ergê, daz er erwache und nieman mê: wecke in, frouwe! [...] verslâfet er, sost gar diu schulde dîn. wecke in, frouwe!“ (Gott gebe, daß es gut für uns ausgeht, daß nur er erwacht und sonst niemand: 7 Von seinen sieben überlieferten Gedichten ist eines ein Tagelied, in welchem die Dame und der Wächter einen Dialog miteinander führen. Der Wächter fordert sie immer wieder auf, ihren Geliebten aufzuwecken: „Die Sorge des Wächters um sein eigenes Leben weist auf die Gestaltung der Wächterfigur bei Hadlaub voraus“ 46. Ein intertextueller Bezug zu zwei Tageliedern Hadlaubs ist wieder über das Begriffspaar „Leben und Ehre“ vorhanden47. Kristan von Hamle (1. Hälfte des 13. Jahrhunderts): - „Ich bin der der lieben liebiu maere singet“ 48 Unter diesem Dichternamen sind im „Codex Manesse“ sechs Lieder überliefert, davon kann eines als Tagelied bezeichnet werden. Vergleichbar zu dem einzigen Tagelied des Markgrafen von Hohenburg ist dieses ebenfalls ein Dialog zwischen dem Wächter und der Dame, wobei bemerkenswert erscheint, daß sie ihm am Ende des Geschehens für seine Dienste Gold anbietet49. Ulrich von Lichtenstein (ca. 1227 – 1274): - „“Got willekomen, herre“ 50 - „Ein schoeniu maget“ 51 Der steirische Adlige Ulrich von Lichtenstein hat seine – überlieferten – 60 Lieder selbst gesammelt und kommentierend in seine fiktive Autobiographie, den „Frauendienst“, eingefügt. Auffällig in seinen Tageliedern ist das Fehlen der Wächterfigur, dessen Funktion aber von der Dienerin der Dame übernommen wird. Ulrich von Lichtenstein hat dies in einem dem zweiten Tagelied vorangestellten Kommentar52 als seine Neuerung dargestellt und auch begründet: „Der gesellschaftliche Abstand zwischen dem ausdrücklich als gebûre [Bauer] gekennzeichneten Wächter und dem adligen Paar schließt für Ulrich jedes vertrauliche Verhältnis aus.“53 Der Marner (ca. 1230 – 1286): - „Guot wahter wîs“ Weck ihn, Herrin! [...] Verschläft er, so ist es allein deine Schuld. Weck ihn, Herrin!); [...] 3. Strophe: „der ritter sol niht hie betagen, wecke in frouwe! [...] vil saelic wîp, sol er den lîp verliesen, sô sîn wir mit im verlorn. [...] nu wecke in, wande in wecket doch mîn horn. Wecke in frouwe!“ (doch darf der Ritter hier nicht den ganzen Tag verbringen. Weck ihn, Herrin! [...] Liebste Frau, wenn er sein Leben verliert, so sind wir mit ihm verloren. [...] Nun weck ihn, denn mein Horn wir d ihn ohnehin aufwecken. Weck ihn, Herrin!); Text und Übersetzung nach M. Backes: 1992, S. 122-125. 46 M. Backes: 1992, S. 257. 47 „Ich wache umb eines ritters lîp und umb dîn êre, schoene wîp: wecke in, frouwe!“ (Ich halte Wache, um das Leben eines Ritters und dein Ansehen zu schützen, schöne Frau: Weck ihn, Herrin!); Text und Übersetzung nach M. Backes: 1992, S. 122-123. 48 1. Strophe: „bringe ich lieb ze liebe, ist beiden lieb al dar, singe ab ich ein scheiden, nement sies vil kleine war.“ (Bringe ich den Geliebten zu seiner Liebsten, so freuen sich beide sehr. Kündige ich mit meinem Singen aber den Abschied an, so wollen sie das kaum wahrhaben.); 3. Strophe: „Frouwe, ich kann ze hulden iu niht wol gesingen: [...] wol im der bî liebe leides sich behüeten kann!“ (Herrin, ich kann Euch nichts singen, was mir Euer Wohlwollen einbringen würde. [...] Wohl dem, der sich in der Liebe vor Leid bewahren kann.); Text und Übersetzung nach M. Backes: 1992, S. 124-127. 49 4. Strophe: „wahtaer, nim mîn golt und hilf im hin, swiez mir ergê.“ (Wächter, nimm mein Gold und hilf ihm fort, wie auch immer es mir dabei ergehen mag.); Text und Übersetzung nach M. Backes: 1992, S. 126-127. 50 5. Strophe: „dar sleich ein maget lîse: diu sprach ‚nu wol ûf, ez ist tac.“ (Eine Dienerin schlich leise herbei und sagte: Steht auf, es ist Tag); 6. Strophe: dô sprach diu maget ‚iu beiden ez ze leide taget.“ (Da sagte die Dienerin: Zu euer beider Unglück bricht der Tag an); Text und Übersetzung nach M. Backes: 1992, S. 152-153. 51 1. Strophe: „Ein schoeniu maget sprach ‚vil liebiu frouwe mîn, wol ûf! ez taget. [...] der wahter von der zinnen ist gegangen“ (Eine hübsche Dienerin sagte: Meine liebste Herrin, steht auf, es wird Tag. [...] Der Wächter hat die Zinne bereits verlassen); Text und Übersetzung nach M. Backes: 1992, S. 154-155. 52 Der Wortlaut dieses Kommentars findet sich in M. Backes: 1992, S. 266-269 (Nach der Ausgabe von Reinhold Bechstein: Ulrichs von Lichtstenstein „Frauendienst“. 2 Bände, Leipzig 1988). 53 M. Backes: 1992, S. 266. 8 Von Marner, einem vermutlich fahrenden Berufsdichter, sind acht Lieder bekannt, davon zwei Tagelieder. Im Dialog des Wächters mit der Dame in den ersten beiden Strophen fällt die regelrechte Beschwörung höfischen Maßhaltens durch den Wächter auf – diese Eigenschaft wird sogar mit dem Trojanischen Krieg sowie Tristan und Isolde verbunden. Durch den Begriff der „mâze“ 54 kann wieder ein intertextueller Bezug zu den schon erwähnten Hadlaubschen Tageliedern „Ich wil ein warnen singen“ und „Nu merkent mich, swer noch tougen lige“ 55 hergestellt werden. Konrad von Würzburg (ca. 1230 – 1287): - „Ich sihe den morgensternen glesten“ 56 Von diesem Berufsdichter sind neben Versromanen, Erzählungen und Legenden über 50 Sprüche, 2 Leichs sowie 23 Minnelieder erhalten – davon drei, in denen er die Tageliedthematik aufgegriffen hat. Im Tagelied „Ich sihe den morgensternen glesten“ fällt die klare inhaltliche Gliederung auf: Die erste Strophe gehört vollständig dem Wächter, die zweite der Dame und in der dritten kommt der Ritter zu Wort. Auch hier weist der Wächter am Schluß seines Monologes mit dem Begriff „mâze“ auf das Verhängnis hin, daß den erwartet, der in der Liebe nicht maßvoll sein kann57 - und schafft wieder eine direkte Verbindung zur „mâze“ bei Johhannes Hadlaub58. Burggraf von Lienz (ca. 1231 – 1269): - „Ez gienc ein juncfrou minneclîch“ 59 Der Codex Manesse präsentiert den Burggrafen als Verfasser zweier Tagelieder. Das Lied „Ez gienc ein juncfrou minneclîch“ ist unter anderem deshalb bemerkenswert, weil seine sechs Strophen eine Mischung aus Serena (Nachtlied), Kreuzlied und Tagelied darstellen – die Handlung umfaßt den Zeitraum vom Abend bis zum Morgen. Wie schon bei Kristan von Hamle wird dem Wächter für seine Dienste eine Belohnung angeboten – hier von der Dienerin der Dame-, auf die er sehr erpicht ist.60 Ulrich von Winterstetten (ca. 1241 – 1280): - „Verholniu minne sanfte tuot“ 61 Seine Gedichte bestehen aus 5 Leichs und 40 Liedern, davon 5 Tageliedern, in denen es Ulrich von Winterstetten vor allem „um das spielerische Variieren formaler Elemente“62 gegangen ist. 54 2. Strophe: „saelde ir beider mâze wielt. Troie wart zerstoeret ê, Tristanden wart von minne dur Isalden dicke wê.“ (Diese beiden hielten Maß in ihrem Liebesglück. Troja hingegen wurde einstmals zerstört, und Tristan stürzte die Liebe zu Isolde häufig in tiefes Leid.); Text und Übersetzung nach M. Backes: 1992, S. 132-133. 55 Zu den entsprechenden Textstellen vergl. die Anmerkungen 43 und 44. 56 1. Strophe: „“swer nâch sînes herzen wal hie minne tougen sunder lougen ûf dem sal, der scheide sich enzît von liebe daz im nâhe lît.“ (Wenn jemand tatsächlich hier in diesem Haus heimlich der Liebe nachgeht, so wie es sein Herzenswunsch ist, dann möge er sich bald von seiner Liebsten trennen, die bei ihm liegt.); Text und Übersetzung nach M. Backes: 1992, S. 160-161. 57 1. Strophe: „swer gepflac der mâze an liebe nie, dem misselanc an minnen ie.“ (Wer in der Liebe nie maßvoll gewesen ist, dem ist sie stets zum Verhängnis geworden.); Text und Übersetzung nach M. Backes: 1992, S. 160-161. 58 Zu den entsprechenden Textstellen vergl. die Anmerkungen 43 und 44. 59 3. Strophe: „swer langer slâfet, dest ze vil. ich warne als ich von rehte sol. […] nu wache, ein ritter hôchgemuot!“ (Wenn jemand noch länger schläft, ist das zuviel. Ich warne, wie es meine Pflicht ist. […] Nun wach auf, edler Ritter.); Text und Übersetzung nach M. Backes: 1992, S. 128-129. 60 1. Strophe: „wahtaer, wis hôhes muotes rîch: […] des lônet dir diu frouwe mîn.“ (Wächter, zeige deine höfische Gesinnung und sei großzügig: […] Dafür wird dich meine Herrin belohnen.); 2. Strophe: „dem wahter was zer miete gâch“ (Der Wächter war auf die Belohnung erpicht.); Text und Übersetzung nach M. Backes: 1992, S. 126-129. 61 1. Strophe: „Verholniu minne sanfte tuot - sô sanc ein wahter an der zimme –, doch sol sich liep von liebe scheiden.“ (Heimliche Liebe ist süß, sang ein Wächter auf der Zinne, doch muß sich der Geliebte nun von seiner Liebsten trennen); Text und Übersetzung nach M. Backes: 1992, S. 158-159. 9 Im angeführten Tagelied führt ein selbstbewußter Wächter in der ersten von drei Strophen einen Monolog: Wenn der Geliebte des Wächters „lêre“ folgte, könnte er seine „êre“ bewahren. 63 Auffällig ist, daß der Dichter - in der zweiten Strophe - wie schon Ulrich von Lichtenstein und der Burggraf von Lienz eine Dienerin ins Spiel bringt. Steinmar (2. Hälfte des 13. Jahrhunderts): - „Swer tougenliche minne hât“64 Die „Auseinandersetzung mit der Tradition prägt […] seine beiden Tagelieder“65, die neben zwölf weiteren Liedern überliefert sind. Ähnlich wie schon Ulrich von Lichtenstein kritisiert Steinmar durch den Mund des in allen drei Strophen von „Swer tougenliche minne hât“ monologisierenden Ritters die Figur des Wächters. Aber „anders als bei Ulrich entzünden sich die Einwände Steinmars […] jedoch nicht an dessen niedriger Herkunft und Stellung, sondern an der mangelnden moralischen Integrität der Figur, die mit der Unterstützung des Liebespaares zwangsläufig die Treueverpflichtung dem eigenen Herrn gegenüber bricht. Steinmar ersetzt den Wächter daher durch einen treuen Freund“66 – und erhöht dadurch praktisch noch die Bedeutung der Wächterfigur. Walther von Breisach (ca. 1256 – 1303): - „Ich singe und solte weinen“67 Im Codex Manesse werden dem gelehrten Kleriker vier Lieder zugeschrieben, wovon eines ein Tagelied ist: Dessen erste und dritte Strophe gehört allein dem Wächter, welcher der Dame verschiedene Ratschläge erteilt.68 Meister Heinrich von Meißen, genannt Frauenlob (gest. 29.11.1318): - „Durch dinster finster nebel dicken“ 69 Von diesem Berufsdichter – einer der Hauptvertreter des sogenannten geblümten Stils – sind über 300 Sangsprüche, 3 Leichs, ein strophisches Streitgespräch und einige wenige Minnelieder überliefert, darunter auch ein Tagelied: „Ob er als Verfasser des Tagelieds zu gelten hat, ist in 62 M. Backes: 1992, S. 270. 63 1. Strophe: „volge er mîner lêre, sît daz ich in warnen sol; sô tuot er wol und sint sîn êre.“ (Er möge meinem Rat folgen, da ich die Aufgabe habe, ihn zu warnen. Dann handelt er richtig und bewahrt sein Ansehen.); Text und Übersetzung nach M. Backes: 1992, S. 158-159. 64 1. Strophe: „Swer tougenliche minne hât, der sol sich wênig an den lân, den man so grôzze missetât an sînem herren siht begân, dem er bewachen guot und êre sol!“ (Wer ein heimliches Liebesverhältnis hat, der darf sich nicht dem anvertrauen, den man so großes Unrecht an seinem Herrn verüben sieht, dessen Besitz und Ansehen er eigentlich beschützen soll.); 3. Strophe: „waer ich zuo liebe alsô geladen, daz ich da hôhe fröide sollte hân, so müest er sîn ein staeter friunt, den ich daz wizzen sollte lân.“ (Wenn ich mich mit meiner Geliebten treffen würde, um mit ihr höchstes Glück zu genießen, so dürfte es nur ein zuverlässiger Freund sein, den ich dies wissen ließe.); Text und Übersetzung nach M. Backes: 1992, S. 178-179. 65 M. Backes: 1992, S. 276. 66 A.a.O. 67 1. Strophe: „noch hoere wîsen rât: der tac ûf gât und lât diu naht ir vinster varwe als ie. Vil schône wîp, bewar daz wol gevar der gar an mîne huote sich verlie.“ (Doch höre meinen guten Rat: Der Tag bricht an, und die Nacht verliert ihre finstere Farbe wie immer. Sorge dafür, wunderschöne Frau, daß der sicher fortkommt, der sich uneingeschränkt auf meine Wachsamkeit verlassen hat.); Text und Übersetzung nach M. Backes: 1992, S. 166-167. 68 3. Strophe: „Ein herze in fröiden hô sol minnen sô daz frô dar dar nâch diu liebe und lanc bestê.“ (Selbst im Zustand höchsten Glücks soll ein Herz so lieben, daß die Liebe auch danach noch glücklich ist und lange Bestand hat.) Text und Übersetzung nach M. Backes: 1992, S. 166-169. 69 1. Strophe: „Ich wecke, schrecke zwên getriute liute sô ich beste mac, daz si wachen unt besachen, wie si beide sich vor leidehüeten schiere, daz rât ich; mich kann mîn muot des tages inne bringen. Nuo zuo vruo dîn hinnevart!“ (Ich wecke, schrecke ein Liebespaar auf, so gut ich kann, damit sie aufwachen und sich darum kümmern,wie sie sich beide schleunigst vor Kummer bewahren, das rate ich ihnen. Ich kann bereits den Tag erkennen. Wohlan, nimm zeitig Abschied!); Text und Übersetzung nach M. Backes: 1992, S. 172-175. 10 der Forschung umstritten.“ 70 In der ersten Strophe – einem Monolog des Wächters - fordert dieser den Ritter mit deutlichen Worten auf, sich von seiner Geliebten zu trennen.71 Heinrich von Frauenberg (2. Hälfte des 13. Jahrhunderts): - „Gegen dem morgen suozze ein wahter lûte sank“72 Von seinen fünf im Codex Manesse überlieferten Liedern ist eines ein Tagelied, dessen drei Strophen einen Dialog zwischen dem Wächter und der Dame enthalten. In diesem geht es darum, daß sie ihm eine hohe Belohnung verspricht, wenn er das Weggehen des Geliebten durch List hinauszögerte.73 Wenzel II. von Böhmen (1271 – 1305): - „Ez taget unmâzen schône“ 74 Diesem königlichen Minnesänger vom Prager Hof ordnet der Codex Manesse drei Lieder zu, wovon eines ein Tagelied ist. Wie schon bei Kristan von Hamle, dem Burggrafen von Lienz und Heinrich von Frauenberg verwendet auch Wenzel II. das Motiv des käuflichen Wächters, der für seine Dienste eine Belohnung erhält.75 In der ersten Strophe monologisiert der Wächter, während er in der dritten Strophe auf seine durch die Liebenden vorgenommene Bestechung eingeht.76 III. Hadlaub und der Codex Manesse III.1. Zur Biographie Hadlaubs Bisher sind zwei (bzw. drei) verläßliche – das heißt urkundliche – Bezeugungen Johannes Hadlaubs bekannt geworden. Darüber hinaus existiert eine Quelle, die seiner Ehefrau zugeordnet werden kann. Der Zürcher Rat mit Rüdiger Manesse an der Spitze hat am 4. Januar 1302 beurkundet, daß ein Niklaus Ochs und seine Frau ihr Haus im Neumarktquartier an Johans Hadlaub verkaufen.77 70 M. Backes: 1992, S. 275. 71 1. Strophe: „gedenke ûf scheiden! Dich niht triegen armes twange und ümbevange, nim urlop von der vrouwen dîn; enslâf niht mêre, von hinnen kêre! Der rât ist mîn.“ (Denk an den Abschied! Laß dich von ihrer leidenschaftlichen Umarmung nicht täuschen. Nimm Abschied von deiner Geliebten, schlaf nicht länger, geh von hier fort! Das ist mein Rat.); Text und Übersetzung nach M. Backes: 1992, S. 174-175. 72 2. Strophe: „“frouwe, swer wol soldet mir den lîp, swenne ez taget, ich singe iu mê.“ (Herrin, wenn mich einer angemessen bezahlt, singe ich länger für euch, wenn der Tag anbricht.); Text und Übersetzung nach M. Backes: 1992, S. 148-149. 73 3. Strophe: „Hôhem solde warte mir, geselle mîn, sprach diu frouw wolgetân, Daz mîn holde lange bî mir muge sîn, den ich umbevangen hân.“ (Du kannst eine hohe Belohnung von mir erwarten, mein Freund, sagte die schöne Dame, damit mein Geliebter, den ich in meinen Armen halte, lange bei mir bleiben kann.); Text und Übersetzung nach M. Backes: 1992, S. 148-149. 74 1. Strophe: „wol ûf, wol ûf, ich gan iu niht ze blîben bî der noete. Ich fürhte daz der minne ir teil verderbe.“ (Auf , auf, notgedrungen kann ich euch nicht erlauben, länger zu verweilen. Ich fürchte, daß die Liebe sonst zu Schaden kommt.); Text und Übersetzung nach M. Backes: 1992, S. 170-171. 75 2. Strophe: „der wahter wil niht gunnen uns liebes, wan er wollte sîn bespunnen mit miete […] nim, wahter, silber golt und edel rîch gesteine, lâ mich den zarten lieben umbevâhen.“ (der Wächter will uns unsere Liebe nicht gönnen, denn er möchte mit einer Belohnung bestochen sein […] Wächter, nimm dir Silber, Gold und kostbare Edelsteine und laß mich meinem zärtlichen Geliebten umarmen.); Text und Übersetzung nach M. Backes: 1992, S. 170-171. 76 3. Strophe: „ich bin gemietet: gêt wider unde nietet iuch fröiden, wan ich wolt daz ir berietet mich: daz habt ir ûf ende brâht.“ (Einverstanden. Geht wieder zurück und genießt euer Glück, denn ich wollte nur, daß ihr mir etwas zukommen laßt. Das habt ihr nun getan.); Text und Übersetzung nach M. Backes: 1992, S. 172-173. 77 Urkunde der Fraumünsterabtei Zürich vom 04.01.1302. Staatsarchiv Zürich: C II 2, Nr. 85. (Zit. nach: Max Schiendorfer (Hg.): Johannes Hadlaub. Dokumente zur Wirkungsgeschichte. Anläßlich der Ausstellung „Hadlaub. Der Zürcher Minnesänger“ vom 29.01. bis 31.03.1987 in Zürich. Göppingen: Kümmerle 1990 (= Göppinger Arbeiten zur Germanistik, Nr. 487), S. 4. 11 In dem unter Propst Kraft von Toggenburg eingerichtetem Anniversar – also Großen Jahrzeitbuch – der Großmünsterpropstei Zürich von 1338/39 wird Hadlaubs Todestag verzeichnet: „XVII kal. Aprilis“ 78. Dies entspricht dem heutigen 16. März – leider ist diese Angabe ohne das Todesjahr, so daß man nur mit Sicherheit annehmen kann, daß er vor 1338 gestorben sein muß. Im selben Anniversar wird Hadlaubs Haus am 23. Februar erwähnt: In Chuonrat Phentzi, dem Kämmerer des Chorherrenstiftes am Großmünster, findet es einen neuen Besitzer.79 Seine Ehefrau taucht dagegen im Steuerverzeichnis der Großmünsterpropstei Zürich 1293/94 auf, weil sie innerhalb der „curia“ des Wernher Werchmeisters ein Ackergrundstück besessen hat: „uxor Johis Hadeloup I quartale tritici“80. Aus diesen wenigen Anhaltspunkten läßt sich annehmen, daß Johannes Hadlaub 1293 schon verheiratet gewesen sein muß – also vermutlich um 1270 herum geboren sein wird -, und spätestens 1338 gestorben ist. Es liegen zwar weitere urkundliche Zeugnisse auf Träger des Namens Hadlaub vor81, aber ob dies vielleicht Verwandte von ihm gewesen sind, läßt sich heute nicht mehr mit Sicherheit feststellen: Es handelt sich hierbei um Burkhard Hadlaub, der am 5. September 1260 erwähnt wird82, und um Peter Hadlaub, der zwischen 1308 und 1334 mehrfach in den Urkunden auftaucht83. „Für alle weiterreichenden biographischen Aussagen sind wir auf die kritische Ausdeutung von Hadlaubs balledesken Liedern angewiesen, wo sich zahlreiche Stellen finden, die zu historischer Interpretation geradezu einladen.“ 84 Allerdings sollte man sich davor hüten, aus diesen Stellen autobiographische Rückschlüsse auf das Leben Hadlaubs zu ziehen, wie es in der frühen Forschung zu diesem Minnedichter der Fall gewesen ist: Allenfalls als Indizien kann man sie gelten lassen. III.2. Hadlaubs Beziehung zum Manessekreis Auch wenn die wenigen urkundlichen Bezeugungen nicht allzuviel Informationen über das Lebensumfeld Johannes Hadlaubs zulassen, gibt es doch in mehreren seiner Lieder Bezüge zu historisch nachweisbaren Personen und Ereignissen85. Bei der Interpretation derselben muß allerdings immer bedacht werden, „daß literarische Texte wie die Lieder Hadlaubs kein ‚objektives’ Urkundenmaterial darstellen“, sondern „vielmehr allerorten mit künstlerisch- 78 Großes Jahrzeitbuch der Großmünsterpropstei Zürich von 1338/39, fol. 25v. Zentralbibliothek Zürich: Ms. C 10 d. Vergl. Necrologia Germaniae I, S. 559. (Zit. nach: M. Schiendorfer: 1990, S. 4). 79 A.a.O. Vergl. Necrologia Germaniae I, S. 557. (Zit. nach: M. Schiendorfer: 1990, S. 4). 80 Steuerrödel der Großmünsterpropstei Zürich von 1293/94. Staatsarchiv Zürich: C II 1, Nr. 2a. (Zit. nach: M. Schiendorfer: 1990, S. 4. Schiendorfer begründet seine zeitliche Einordung des undatierten Dokuments zwischen Ende 1293 und dem 10. Juli 1294 mit dem bekannten Todestag des Schätzmeisters Hugo von Mülimatten). 81 Zum Beispiel verkaufen am 4. November 1326 die Brüder Itschner einen Teil ihrer Rebberge in Zürich-Hottingen, „die oben stozent an Hadloubes guot“. Urkunde des Klosters Oetenbach Zürich vom 04.11.1326. Staatsarchiv Zürich: C II 11, Nr. 246. (Zit. nach: M. Schiendorfer: 1990, S. 5). Allerdings geht daraus nicht hervor, ob es sich um unseren Dichter Johannes Hadlaub gehandelt hat. 82 Vergl. M. Schiendorfer: 1986, S. 200. 83 Vergl. M. Schiendorfer 1990, S. 5. 84 M. Schiendorfer: 1986, S. 201. 85 Vergl. hierzu u.a. H. Lang: 1959, S. 15–17; und M. Schiendorfer: 1986, S. 202-205. 12 künstlichen Stilisierungen zu rechnen ist und mit der gerade im Mittelalter oft erdrückenden Macht literarischer Vorbilder und Traditionen“ 86. Trotz dieser notwendigen Einschränkung lassen sich einige wesentliche Informationen gewinnen, die uns wertvolle Hinweise sowohl auf das politisch-gesellschaftliche Umfeld Zürichs um 1300 als auch das soziale Netzwerk Hadlaubs geben. Mit dem „Lobpreis der Manessen“ („Wa vunde man sament so manig liet?“) ist uns – an dritter Stelle des Hadlaubschen Eintrages im Codex Manesse - ein Lied überliefert, in dem Hadlaub den Enstehungsprozeß dieser Handschrift beschrieben hat und den Urheber der Sammlung benennt: Wa vunde man sament so manig liet? Wo fände man so viele Lieder beisammen? Man vunde ir niet in dem künigrîche, Man fände sie nirgends sonst im Königreich, als in Zürich an buochen stât. wie sie hier, in Zürich, in Büchern stehen! Des prüevet man dike da meister sang. Deshalb befaßt man sich da eifrig mit dem Sang der Meister. Der Manesse rank darnâch endelîche, Der Manesse hat sich zielstrebig darum bemüht, des er diu liederbuoch nu hât. so daß er nun die Liederbücher beisammen hat. [...] [...] und wisse er, wâ guot sang noch wære, Und erführe er, wo es noch kunstgerechte Lieder gäbe, er wurbe vil endelîch darnâ. er setzte alles dran, sie zu erwerben. Sîn sun, der kuster, der treibz ouch dar, Sein Sohn, der Kustos, der betrieb das Gleiche, des si gar vil edils sanges, deshalb haben sie so viel an edlem Gesang, die herren guot, hânt zemne brâcht. die vornehmen Herren, zusammengebracht. 87 III.3. Die Zur Bedeutung des Codex Manesse heute in Heidelberg Liederhandschrift“ 88 aufbewahrte und daher so genannte „Große Heidelberger ist „die bei weitem umfangreichste und wichtigste Handschrift für die deutsche Lyrik des Mittelalters“89. Da sie sich zwischen 1657 und dem 10. April 1888 mit einer kurzen Unterbrechung in Paris befunden hat, ist sie früher auch als „Pariser Liederhandschrift“ bezeichnet worden. Sie umfaßt 426 beidseitig beschriebene Pergamentblätter im Format 35,5 x 25 cm und enthält das Werk von 140 namentlich genannten Dichtern aus der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts, dem 13. Jahrhundert und dem Anfang des 14. Jahrhunderts. Diese Dichter „scheinen auf den ersten Blick in hierarchisch absteigender Reihenfolge (also dem mittelalterlichen ‚Heerschild’ entsprechend) angeordnet zu sein“90: Begonnen wird mit ‚Keiser Heinrich’91, dann folgen ‚Künig Chuonrat der Junge’, ‚Künig Tyro von Schotten und Fridebrant sin sun’ sowie ‚Künig Wenzel von Behein’. Daran schließen sich Herzoge, Markgrafen und Grafen an (u.a. ‚Marggrave Heinrich von Missen’), und die Aufzählung geht über niedere Adlige und Meister (wie ‚Meister Johans Hadloub’) bis hin zu einfach Bezeichneten, wobei die Namen manchmal etwas eigenartig anmuten (z.B. ‚Der Gast’). 86 M. Schiendorfer: 1986, S. 202. 87 Text und Übersetzung nach M. Schiendorfer: 1986, S. 34 – 35. 88 Die genaue Bezeichnung lautet: Codex Palatinus Germanicus 848 (Deutsche Handschrift der Pfälzischen Bibliothek Heidelberg Nr. 848, abgekürzt als Cod. Pal. Germ. 848). 89 U. Müller: 1974, Zur Geschichte…. 90 A.a.O. 91 Allerdings ist das Einzelblatt von Kaiser Heinrich erst nachträglich als erstes eingeklebt worden. Vergl. hierzu: G. Schweikle: 1965 (Zit. nach U. Müller: 1974, Zur Geschichte…). 13 Die ungefähr 6.000 Strophen werden von 137 gotischen Miniaturmalereien gegliedert, die den Einträgen der jeweiligen Dichter voranstehen: Diese Miniaturen „sind keine ‚Porträts’ im heutigen Sinne, sondern stark typisierende Darstellungen; ihre Motive lassen sich zum Teil aus dem Werk oder der Biographie des jeweiligen ‚Dichters’ [...] erklären“92. III.4. Hadlaubs Sonderstellung im Codex Manesse Nach dem 1304 gestorbenen Züricher Ratsherren Ritter Rüdiger II. Manesse, welcher die Lyriksammlung begonnen und organisiert hat - wird die „Große Heidelberger Liederhandschrift“ auch „Codex Manesse“ genannt. Bemerkenswert ist dabei, daß sich diese namentliche Zuordnung allein auf Johannes Hadlaub stützt, und zwar durch seinen „Lobpreis der Manessen“. Allerdings ist dieser – auf Pergamentblatt 372 recte sich befindende Schlüsseltext - erst nach dem 19. November 1746 durch den Züricher Literaturtheoretiker Johann Jacob Bodmer wieder ‚entdeckt’ und in seiner vollen Bedeutung erkannt worden93. Bodmer ist es auch gewesen, der erstmals von der Manessischen Handschrift gesprochen hat. Nicht allein durch diese Tatsache wird die Annahme verstärkt, daß Hadlaub „im Manessekodex eine unverkennbare Sonderstellung ein[nimmt und] deshalb in einem besonders engen Verhältnis zur Handschriftenredaktion gestanden haben“ 94 muß, denn auch weitere Indizien legen diese Schlußfolgerung nahe95: 1. Im Gegensatz zu allen anderen in der Liederhandschrift versammelten 139 Dichtern enthält Hadlaubs Miniatur am Beginn seines Eintrages ein Doppelbildnis - mit zwei thematisch voneinander unabhängigen Szenen aus seinen ersten beiden Liedern: Das obere Bild zeigt eine Szene aus dem Lied Nr. 2 „Die vermittelte Begegnung“ („Ich diene ir sît daz wir beidiu wâren kint“) - und zwar genau den Augenblick, als der Sänger (der früher allgemein als Hadlaub selbst definiert worden ist) seine geliebte Herrin nicht loslassen will und diese ihm deshalb in seine Hand beißt96. Im unteren Bild sehen wir eine Szene aus dem Lied Nr. 1 „Der Brief“ („Ach, mir was lange nach ir so wê gesîn“), in welcher der Sänger (darunter ist wieder Hadlaub verstanden worden) seiner geliebten Herrin heimlich einen Liebesbrief an ihre Kleidung hängt97. 92 U. Müller: 1974, Zur Geschichte…. 93 Nach ihrer Fertigstellung Anfang des 14. Jahrhunderts ist der Codex Manesse für mehrere Jahrhunderte in Vergessenheit geraten und hat mehrfache Besitzerwechsel erlebt. Erst der Assistent des St. Galler Juristen Dr. Bartholomaeus Schobinger – in dessen Besitz sich die Handschrift damals befunden hat -, mit Namen Melchior Goldast von Haiminsfeld, veröffentlichte 1604 Auszüge aus ihr unter dem Titel „Paræneticorum veterum pars I“. Durch dieses Traktat wurden sowohl Johann Jacob Bodmer als auch sein Züricher Kollege Johann Jacob Breitinger auf die Liedersammlung aufmerksam, und nach zehnjährigem Bemühen gelang es ihnen, sich diese 1746 für einige Jahr vom französischen König auszuborgen. (Vergl. M. Schiendorfer: 1986, S. 189 – 194; U. Müller: 1974, Zur Geschichte …). 94 M. Schiendorfer: 1990, S. 3. 95 A.a.O. 96 Der genaue Wortlaut dieser Szene (Strophe V, Zeilen 1–2) ist bei Hadlaub wie folgt: „Do hâte ich ir hant so lieblîch, gotte weiz, davon si beiz mich in mîn hant.“ (Da hielt ich ihre Hand so liebevoll fest; Gott weiß, deswegen biß sie mich in meine Hand!). Text und Übrsetzung zit. nach M. Schiendorfer: 1986, S. 16 - 17. (Aus Rücksicht auf die höfische Konvention wird dieses Beißen allerdings von einem Hündchen vorgenommen dargestellt, das aber - Röntgenaufnahmen haben dies gezeigt - erst nachträglich ins Bild eingefügt worden ist! Vergl. M. Schiendorfer: 1986, S. 197). 97 Der Wortlaut bei Hadlaub (Strophe I, Zeilen 9 –11): „Dô hâte ich von sender klage einen brief, dar an ein angil was, den hieng ich an sî“ (Ich hatte da voll Liebesklagen einen Brief, woran ein Angelhaken war: den steckte ich ihr an.) Text und Übrsetzung zit. nach M. Schiendorfer 1986, S. 10 – 11. (Auch hier ist der Hund erst nachträglich ins fertige Bild eingefügt worden! Vergl. M. Schiendorfer: 1986, S. 197). 14 2. Der schriftliche Eintrag Hadlaubs beginnt - auf dem Pergamentblatt 371 verso – mit der mit Abstand größten und kunstvollsten Filigraninitiale der gesamten Liederhandschrift: Sie stellt den Buchstaben A dar, mit welchem das erste Lied anfängt („Ach, mir was lange nach ir so wê gesîn“). 3. Im darauffolgenden zweiten Lied („Ich diene ir sît daz wir beidiu wâren kint“) begegnet uns auf Blatt 372 recto eine weitere Auffälligkeit im Text, welche in der gesamten Liederhandschrift einzigartig dasteht: Der Name Rüdiger Manesses („Rüedge Manesse“) ist mit einem rot markierten Anfangsbuchstaben R ausgezeichnet98. 4. Seine Lieder sind von einer anscheinend nur für ihn bestimmten, exklusiven Schreiberhand aufgezeichnet worden: „Die Niederschrift wird dem Schreiber Ms zugeschrieben, der nur den Hadlaub-Text eingetragen hat.“ 99 5. Die Überlieferung seiner 51 Lieder und 3 Leichs erscheint im Vergleich zu den meisten anderen 139 Dichtern außerordentlich umfangreich und ist vermutlich lückenlos: von den etwa 6.000 Strophen auf 426 Pergamentblättern im Codex Manesse sind 240 Strophen auf zehn Pergamentblättern (371 recto bis 380 verso) ‚Meister Johans Hadloub’ zuzurechnen. 6. Das Schlußblatt des Hadlaubschen Eintrages ist als einziges der ganzen Handschrift unliniert geblieben: Wahrscheinlich hat es den „Codex Manesse“ ursprünglich 100 abschließen sollen . 7. Am Beginn des Hadlaubschen Eintrages – über der Doppelminiatur – fehlt dagegen die Namensvorschrift, die man bis auf wenige Ausnahmen101 bei allen in der Handschrift vertretenen Dichtern findet. Das läßt darauf schließen, daß man in der Redaktion der Liedersammlung mit seinem Werk gut vertraut gewesen ist. IV. Zum Gesamtwerk Hadlaubs IV.1. Hadlaubs Schaffen im Überblick Bis auf eine Ausnahme – nämlich die erste Strophe seines Nachtliedes „Sich fröit ûf die edlen nacht“102 in der „Berner Sammehandschrift“ – ist uns das Werk Hadlaubs nur in der „Großen Manessischen Liederhandschrift“ überliefert103: „Nach metrischen Gesichtspunkten besteht [es] aus Lied- und Leichdichtung, die [...] sichtbar durch je eine Leerzeile abgesetzt sind“ 104. 98 Die betreffende Passage findet sich in der Handschrift auf Blatt 372 recto in der linken Spalte und hat folgenden Wortlaut: „Und her Rüedge Manesse, die werden man, hulfen mir vür mîn edlen frowen klâr“ (und Herr Rüdiger Manesse: diese würdigen Männer verhalfen mir vor meine edle, reine Herrin). Text und Übrsetzung zit. nach M. Schiendorfer 1986, S. 18-19. 99 Rena Leppin (Hg.): Johannes Hadlaub. Lieder und Leichs. Herausgegeben und kommentiert von Rena Leppin. Stuttgart, Leipzig: Hirzel 1995, S. 10. Über Besonderheiten der Schreibweise des Schreibers Ms informiert S. 15 – 39, hier S. 19 f. (Zit. nach R. Leppin: 1995, S. 10, Anm. 17). 100 Darauf weist auch hin, daß der in der Handschrift auf Hadlaub folgende Sänger Regenboge erst zu einem späteren Zeitpunkt eingetragen wurde. Vergl. M. Schiendorfer: 1990, S. 3. 101 U.a. fehlt die Namensvorschrift auch bei Wernher von Homberg, Jakob von Wart und dem von Büwenburg. Zit. nach M. Schiendorfer: 1990, S. 3. 102 Die Strophe findet sich auf Blatt 234 verso einer aus der Mitte des 14. Jahrhunderts stammenden und überwiegend lateinisch abgefaßten Handschrift des Matthias von Neuenburg, die als sogenannte Lagenfüllsel auch zwei Blätter mit 36 deutschen Minneliedstrophen von verschiedenen Verfassern enthält: Berner Sammelhandschrift, Sigle p., Burgerbibliothek Bern, Cod. 260. (Zit. nach M. Schiendorfer: 1990, S. 3 – 4). 103 Auch viele andere der im „Codex Manesse“ aufgeführten Minne-Dichter sind nur dort verzeichnet: Ohne die Anstrengungen des Manesse-Kreises wäre der größere Teil dieser Werke für immer untergegangen und dem Vergessen anheimgefallen. 104 Die Absätze finden sich auf den Blättern 379 recto und 380 verso. Zit. nach R. Leppin: 1995, S. 25. 15 Seine 51 Lieder und drei Leichs weisen - mit der Ausnahme von Lied Nr. 14 („Mîn herze tuot mich sorgen rîch“) - einen stolligen Strophenaufbau auf und muten „nahezu wie ein Panoptikum all dessen an, was in der spätzeitlichen Minnesangpflege um 1300 an Formen und Farben möglich war. Kaum einen traditionellen Liedtyp, kaum eine formale oder stilistische Variante findet man, in denen der vielseitige Hadlaub seine Künste nicht versucht hätte.“ 105 Obwohl es mitunter problematisch ist, „Lieder Gesichtspunkten mit einer ‚Überschrift’ zu versehen“ nach 106 liedtypischen oder inhaltlichen und entsprechend zu ordnen, wird dies aus formalen Gliederungsgründen auch in der Forschung zu Johannes Hadlaub107 getan. Da aber – sieht man von Leerzeilen ab - alle Lieder in der Handschrift ohne Überschriften und ohne Abgrenzung „hintereinanderweg“ geschrieben worden sind, stellen solche Versuche ausnahmslos subjektive Bemühungen der heutigen Wissenschaft dar, welche die Texte dadurch für 108 Interpretationen handhabbarer machen will . Man kann so Hadlaubs 51 Lieder zu inhaltlichen Gruppen zusammenfassen: zwölf Sommerlieder, acht Winterlieder, vier Tagelieder, jeweils drei Herbst- und Erntelieder, desweiteren Unikate wie ein Nachtlied, ein „Minnemärtyererlied“ sowie ein „Dörperlied“ über einen Bauernzank. Außerdem kommen Mischformen vor, wie der „Lobpreis der Manesse“. Mehr als zehn Lieder sind entweder den Frauen, Frau Minne oder nur der eigenen Geliebten gewidmet. Neu in die Liedtradition eingeführt haben soll Johannes Hadlaub den Typus des „Erzählliedes“, das mindestens viermal vorkommt: An der Diskussion um diesen Begriff109 kann man das unsichere Fundament erkennen, auf welchem diese Bezeichnungen und entsprechende Gliederungen stehen. Es gibt nur wenig eindeutige – und damit objektive - Anhaltspunkte für eine Einteilung nach formalen oder inhaltlichen Kriterien; eine aufgrunddessen vorgenommene Abgrenzung untereinander ist wegen Überschneidungen meist nicht einfach zu verwirklichen. Solche Unsicherheiten sind auch in der Forschung zu Johannes Hadlaub festzustellen: Allerdings bilden hier die Tagelieder eine Ausnahme, da sie inhaltlich über ausreichend eindeutige Merkmale verfügen. Diese Unsicherheiten haben bei Hadlaub – vor allem in Bezug auf die beiden „historischen Erzähllieder“ am Schluß seines Eintrages – dazu geführt, daß es zwei verschiedene Auffassungen110 über die „richtige“ Anordnung seiner Lieder gibt: Dies erschwert direkte 105 M. Schiendorfer: 1986, S. 207–208. 106 R. Leppin: 1995, S. 21, Anm. 40. 107 Vergl. die „Auflistung und Binnengliederung“ seiner Lieder und Leichs bei R. Leppin: 1995, S. 21 – 22; und die „stofflich orientierte Grobeinteilung“ bei M. Schiendorfer: 1986, S. 208ff. 108 Zu dieser wissenschaftlich offensichtlich notwendigen, aber dennoch unsicheren Vorgehensweise gibt es nur eine Alternative: Die jeweiligen Liedanfänge bis zum ersten Reimwort als Titel zu übernehmen. 109 Vergl. R. Leppin: 1995, S. 20. 110 Die Mehrzahl der Hadlaub-Forscher (u.a. H. Lang: 1959, und M. Schiendorfer: 1986) hat in der Vergangenheit die von Ludwig Ettmüller 1840 in der ersten Hadlaub-Monographie eingeführte und von Karl Bartsch 1886 übernommene Anordnung verwendet, die sich aber von der eigentlichen Reihenfolge im „Codex Manesse“ vor allem am Beginn unterscheidet (Vergl. Karl Bartsch (Hg.): Die Schweizer Minnesänger. Frauenfeld: Huber 1964 (= Unveränderter reprografischer Nachdruck der Ausgabe Frauenfeld 1886: Bibliothek älterer Schriftwerke der deutschen Schweiz, Band VI. Zugl.: Darmstadt: WBG 1964)).Rena Leppin, die sich in ihrer Dissertation 1959 noch an Bartsch orientiert hat, verwendet stattdessen in ihrer 1995 erschienenen Hadlaub-Werkübersicht genau die eigentliche Reihenfolge der Liederhandschrift, die auch schon von Friedrich Heinrich von der Hagen 1838 in seinem Werk „Minnesinger des 12., 13. und 14. Jahrhunderts“ angewendet worden ist. 16 Vergleiche. Die Indizien111, welche diese Umstellung begründen sollen, erscheinen mir aber nicht ausreichend, um eine solchen nachträglichen Eingriff in die ursprüngliche Reihenfolge zu rechtfertigen: Deshalb orientiere ich mich bei der Lied-Numerierung an der ursprünglichen Anordnung im „Codex Manesse“, die - bis zum ersten Tagelied - nachfolgend der bei Max Schiendorfer und anderen benutzten gegenübergestellt wird: Codex Manesse Textanfang des Liedes M. Schiendorfer 1 „Ach, mir was lange nach ir so wê gesin“ 1 2 „Ich diene ir sît daz wir beidiu wâren kint“ 2 4 „Waz man wunnen hœrte und sach“ 3 5 „Ach, ich sach si triuten wol ein kindelîn“ 4 53 „Der vil edle Reginsberger was vor ir“ 5 54 „Ich irgieng mich vor der stat, doch âne vâr“ 6 8 „Er muoz sîn ein wol berâten êlich man“ 7 3 „Wa vunde man sament so manig liet?“ 8 6 „Minne ist so wunderlich“ 9 7 „Als sich mîn sinne nâch ir minne stellent“ 10 9 „Der sitte ist in Œsterrîche unminnenklich“ 11 10 „Swer nimmt schœner frowen durch ihr wunne war“ 12 11 „Ich was vor ir, daz ich wol mîn jâmer ir geklaget solde hân“ 13 12 „Ich wil ein warnen singen“ 14 Alle weiteren Lieder haben bei Schiendorfer eine gegenüber dem Codex Manesse jeweils um zwei erhöhte Numerierung, so daß sich für die vier Tagelieder folgende zwei Zählweisen ergeben: Die ursprüngliche Bezifferung 12, 31, 32 und 48 wird zu 14, 33, 34 und 50. IV.2. Die subjektive Note im Werk Hadlaubs Für meine Argumentation ist allerdings weder die Lied-Bezeichnung noch die Gliederung von Belang. Auch ob letzterer eine chronologische Struktur zugrundeliegt, ist nicht entscheidend. Ausgehend von der in der Einleitung genannten Feststellung, daß ein klagender, ja teilweise sogar jammernder Grundton die meisten Lieder Hadlaubs durchzieht, interessiert vor allem die Frage, ob und inwieweit sich dieser Grundton in seinen vier Tageliedern fortsetzt und den „Hasenfuß-Charakter“ des Wächters verständlicher macht. Dabei hilft eine allgemeine Einteilung der Lieder und Leichs von Johannes Hadlaub in eine subjektive und eine objektive Dichtung - wie von Max Schiendorfer vorgenommen112 - nicht weiter, zumal die von ihm dem „Genre objectif“ zugerechneten Lieder gerade nicht ausschließlich objektiv – also erzählend - sind, sondern die gleichen subjektiven Elemente 111 Schiendorfer argumentiert, daß es sich bei den beiden letzten (Erzähl-)liedern in der Handschrift um später hinzugefügte Texte handelt, „weil die ursprüngliche Sammlung zweifellos mit den drei Leichdichtungen schließen sollte“, worauf die sowohl vor als auch nach diesen sich befindende Leerzeile hinwiese. (M. Schiendorfer: 1986, S. 195). Schiendorfer stelle diese zwei Lieder deshalb an die fünfte bzw. sechste Stelle, weil sie seiner Meinung nach zu bestimmten „Erzählliedern“ am Anfang des Hadlaub-Eintrages gehörten. Daraus ergeben sich weitere Umstellungen, auf die weiter unten ausführlicher eingegangen wird. 112 Vergl. M. Schiendorfer: 1986, S. 208ff. 17 enthalten wie die anderen.113 Es ist nämlich nicht nur „allen Sommer- und Winterliedern gemeinsam, daß nach dem Natureingang das Thema jeweils unfehlbar auf die persönliche Minnesituation des Sängers verlagert wird“114, sondern auch die Herbst- und Erntelieder sowie das Haussorgenlied sind, „wie die Lieder mit üblichem Natureingang, den Subjektliedern zuzuordnen: Das Ich nutzt diverse Eingänge als Folie, um sein eigenes Minneleiden zu verdeutlichen.“ 115 Als subjektive Note in Hadlaubs Liedern läßt sich unschwer die introvertierte Seelenanalyse des Sänger-Ichs erkennen, welche „quasi unvermeidlich auf eine immer wiederkehrende Klage“ 116 hinausläuft. Dieser in fast jedem Lied enthaltene Binnentext erfüllt die Aufgabe, des Sängers „privates Minneelend möglichst effektvoll herauszustreichen“ 117. Mit wenigen Ausnahmen kann man deshalb Hadlaubs im Codex Manesse aufgezeichnetes Werk als ein einziges „wehmütiges, fast stereotypisches Klagelied über die Unnahbarkeit und das ‚frömden’118 der Geliebten sowie über seinen unbeirrten, wiewohl ungelohnten Dienst an ihr“ 119 betrachten. Die Ausnahmen davon sind neun an der Zahl und weisen ein gemeinsames Merkmal auf: Ihnen fehlt jeder Hinweis auf das persönliche Minneleid des Sänger-Ichs. In der Reihenfolge ihres Eintrages seien sie nachfolgend aufgezählt: Lied Nr. 3 (Preislied auf die Manesse): „Wa vunde man sament so manig liet?“ Lied Nr. 12 (Tagelied – Der ängstliche Wächter): „Ich wil ein warnen singen“ Lied Nr. 13 (Dörperlied - Bauernzank um die Dorfschöne): „Ich was, dâ ich sach in ihr swert zwên dorper grîffen junge“ Lied Nr. 31 (Tagelied - Bericht des Wächters): „Nu merkent mich, swer noch tougen lige“ LiedNr. 32 (Tagelied – Abschiedsgespräch): „Nach liebe gât leid“ Lied Nr. 48 (Tagelied - Der fliehende Wächter): „Der ich leider dise nacht gehüetet hân“ Lied Nr. 49 (Nachtlied - Nächtliches Stelldichein): „Sich fröit ûf die edlen nacht“ Erster Leich Nr. 50 (Frauenpreis - Kein Hof ohne schöne Frauen!): „Swem sîn muot stêt ûf minne gar“ Zweiter Leich Nr. 51 (Frauenpreis - Frauen sind die Krone der Welt): „Nieman vol loben frowen kann“ 113 Dieser Widerspruch wird übrigens von Schiendorfer selbst benannt, ohne daß er daraus entsprechende Schlußfolgerungen für seine Einteilung gezogen hat: In denen der objektiven Dichtung zugeordneten Herbstliedern nimmt Hadlaub, das heißt der Sänger, trotzdem wieder „seine altvertraute melancholische Pose“ ein, und auch bei den gleichfalls objektiv eingeordneten Ernteliedern mit ihren „Minnespielen frivoler Art“ kommt es „erneut zu der nun schon längst vertrauten Einschränkung, daß Hadlaub, also der Sänger, selber nicht zu den Profiteuren der guten Gelegenheit zählen darf“ und daher „des Sängers eigene Liebesnot ins heimliche Zentrum der Aussage rückt“. (Vergl. M. Schiendorfer: 1986, S. 210 – 212). 114 M. Schiendorfer: 1986, S. 209. 115 R. Leppin: 1995, S. 26. 116 M. Schiendorfer: 1986, S. 208. 117 Ebenda: S. 214. 118 „frömden“ ist als „Fremdeln“ zu verstehen: also das sich fern halten und sich ihm entziehen seiner geliebten Herrin. Vergl. den Eintrag von „vremden“ in Matthias Lexer: Mittelhochdeutsches Taschenwörterbuch. Mit den Nachträgen von Ulrich Pretzel. 38. Auflage. Stuttgart: Hirzel 1992, S. 297. 119 M. Schiendorfer: 1986, S. 208. 18 IV.3. Hadlaubs Sänger-Ich als „unglücklicher Minner par excellence“120 Im Gegensatz zu diesen sieben Liedern und zwei Leichs ohne jeden Hinweis auf das persönliche Minneleid lassen sich bei den anderen 44 Liedern und dem letzten Leich mehr oder weniger stark ausgeprägte Aussagen zur unglücklichen Situtation des Sänger-Ichs finden. Als Beispiele für die typische Vorgehensweise Hadlaubs seien die Sommer- und die Winterlieder mit ihrem jeweiligen Natureingang genannt, die darauf hinweisen, daß Liebe sozusagen „saisonbedingt“ 121 gewesen ist: „Im Sommer blüht alles auf, Menschen wie Tiere, die ganze Natur ist ausgelassen und glücklich – einzig ich, in meinem Liebeselend, bin davon ausgenommen! Oder: Im Winter ist alle Welt trist und freudelos – aber noch viel übler als irgendwem sonst geht es leider mir...“ 122. Diese sich ständig wiederholende subjektive Note des Klagens und Jammerns kann geradezu als Merkmal des Hadlaubschen Sänger-Ichs gelten, obwohl man einwenden könnte, daß die Reflexion über das „leit“ und das „trûren“ fester Bestandteil jeder Minnedichtung gewesen ist. Meine Argumentation ist aber, daß sich Hadlaub durch die relative Häufigkeit des Gebrauchs spezifischer Vokabeln in seinen Liedern - welche diese Selbststilisierung als unglücklicher Minner unterstreichen – über die übliche Rollenlyrik des Minnesangs mit ihren festgefügten Elementen 123 heraushebt. Nachfolgend will ich einige dieser Vokabeln zitieren. Die Auswahl beschränkt sich auf die ersten Lieder des Hadlaub-Eintrages bis zum Tagelied „Ich wil ein warnen singen“ (Lied Nr. 12) – hinzu kommen entspechend der Anordnung bei Schiendorfer die beiden letzten Lieder der Handschrift (Lied Nr. 53 und 54). Da aber Lied Nr. 3 (Preislied auf die Manesse) und Lied Nr. 12 (Tagelied) ohne jegliche subjektive Note sind und daher nicht berücksichtigt zu werden brauchen, erstreckt sich die Untersuchung auf zwölf Lieder. Die dort gefundenen 13 Belege124 stehen exemplarisch für die Art und Weise, in der in allen 44 Liedern und dem einen Leich das persönliche Minneleid thematisiert wird: „sender smerze“ 125 und „sendem smerzen“ 126 (Liebesschmerz) „sender nôt“127 und „sendiu nôt“ 128 (Liebesnot) sowie „sendiu nôt“ 129 (Sehnsuchtsqual) „lieben wân“130 (Liebeshoffnung) „sendez leit“ 131 (Liebeskummer) und „sendem leide“ 132 (Liebesleid) 120 M. Schiendorfer: 1986, S. 211. 121 R. Grimminger: Poetik des frühen Minnesangs. München: 1969 (= MTU 27). (Zit. nach H. Weddige: 19973, S. 250). 122 M. Schiendorfer: 1986, S. 209. 123 Diese Elemente kann man wie folgt zusammenfassen: „Der beharrliche Minnedienst des Mannes wird als Dienst des Vasallen gegenüber seiner Lehnsherrin dargestellt.“ Der Minnende beteuert „seine triuwe und staete. Er möchte sich seiner Herrin als würdig erweisen und bemüht sich um zuht und mâze, weil er für seinen dienest auf lôn hofft. Die Frau wird zur Erzieherin des Mannes. [...] Der Mann fleht um hulde, milte, trôst und genâde. [...] Die Verunsicherung des Minnenden wird mit Begriffen des Leidens umschrieben: leit, kumber, sorge, nôt, ungemach, swaere.“ (Zit. nach H. Weddige: 19973, S. 255–256). 124 Übersetzungen dieser Begriffe nach M. Schiendorfer: 1986. 125 M. Schiendorfer: 1986, S. 14-15 (Lied: „Ach, mir was lange nach ir so wê gesîn“, VII-7); und S. 38-39 (Lied: „Als sich mîn sinne nâch ir minne stellent“, I-5). 126 Ebenda: S. 38-39 (Lied: „Minne ist so wunderlich“; II-10). 127 Ebenda: S. 16-17 (Lied: „Ich diene ir sît daz wir beidiu wâren kint“; VI-7). 128 Ebenda: S. 50-51 (Lied: „Ich was vor ir, daz ich wol mîn jâmer ir geklaget solde hân“, II-5). 129 Ebenda: S. 42-43 (Lied: „Der sitte ist in Œsterrîche unminnenklich“, III-10). 130 Ebenda: S. 22-23 (Lied: „Waz man wunnen hœrte und sach“, III-7). 131 Ebenda: S. 30-31 (Lied: „Ich irgieng mich vor der stat, doch âne vâr“, VI-6). 19 „sende ungimach“ 133 (Liebeskummer) „sendiu gir“134 (sehnsüchtiges Begehren) „sender pîn“ 135 (Liebespein) „sendem jâmer grôz“ 136 (großem Liebesschmerz) „sender strît“ 137 (Liebeskrieg) „daz leit geschach mir senden man“ 138 (dies Leid geschah mir liebeskranken Mann) Eine weitere Auffälligkeit betrifft den Klageausruf „Owe“, der relativ häufig anzutreffen ist und in Verbindung mit den Liebesleid-Vokabeln die subjektive Note des Klagens und Jammerns verstärkt (Anordnung nach Schiendorfer, Lied-Zählung dagegen entsprechend der Handschrift)139: Lied Nr. 1: „ôwê, reine minnenkliche, du tuost mich sêre wunt“ 140 „Ôwê, diu Minne, wie wil si mich nu lân“ 141 Lied Nr. 5: „owê, wære ich daz kindelîn, unz daz si sîn wil minne hân!“ 142 Lied Nr. 53: „Ôwê, daz si mir nicht fröiden gunde vor ir!“ 143 Lied Nr. 54: „ôwê, Minne, wild daz tuon, so tuoz inzît“ 144 Lied Nr. 6: „Ôwê, Minne, kum ir noch ze herzen“145 „Ôwê, sî nicht enhât der minne“ 146 Lied Nr. 9: „owê, ich muoz trûren iemer mê“ 147 Lied Nr. 11: „ôwê, lieblîch gestellet so rôter munt!“ 148 „Ôwê, daz ich ir nit machte giklagin mîn vil langez ungemach!“ 149 Lied Nr. 12: „owê, ich bin mit in verlorn!“ 150 „Ôwê, daz ich wart erkorn, daz ich wart ir wachtære!“151 132 M. Schiendorfer: 1986, S. 46-47 (Lied: „Der sitte ist in Œsterrîche unminnenklich“, VII-6). 133 Ebenda: S. 48-49 (Lied: „Swer nimmt schœner frowen durch ihr wunne war“, IV-6). 134 Ebenda: S. 50-51 (Lied: „Ich was vor ir, daz ich wol mîn jâmer ir geklaget solde hân“, I-3). 135 A.a.O. (Lied: „Ich was vor ir, daz ich wol mîn jâmer ir geklaget solde hân“, II-3). 136 A.a.O. (Lied: „Ich was vor ir, daz ich wol mîn jâmer ir geklaget solde hân“, II-8). 137 M. Schiendorfer: 1986, S. 30-31 (Lied: „Ich irgieng mich vor der stat, doch âne vâr“, V-7). 138 Ebenda: S. 28-29 (Lied: „Der vil edle Reginsberger was vor ir“, V-7). 139 Zum Vergleich der beiden Zählweisen siehe die Tabelle auf S. 15 dieser Arbeit. 140 „Oh weh, du Reine, Liebenswerte, du verwundest mich schmerzlich“. (Text + Übersetzung nach M. Schiendorfer 1986, S. 10–11, III-11/12). 141 „Oh weh, die Minne, wie läßt sie mich im Stich“ (Text + Übersetzung nach M. Schiendorfer 1986, S. 14-15, VII-1/2). 142 „Oh weh, wäre ich doch jenes Kind, solange es sie so liebevoll umsorgt!“ (Text + Übersetzung nach M. Schiendorfer 1986, S. 24-25, II-6/7). 143 „Oh weh, daß sie mir nicht die Freuden ihres Anblicks gönnte!“ (Text + Übersetzung nach M. Schiendorfer 1986, S. 2829, V-1). 144 „Oh weh, Minne, willst du das tun, so tu’s beizeiten“ (Text + Übersetzung nach M. Schiendorfer 1986, S. 30-31, V-6). 145 „Wehe, Minne, laß dich noch in ihr Herz ein“ (Text + Übersetzung nach M. Schiendorfer 1986, S. 38-39, II-7). 146 „Wehe, da sie nun einmal keine Minne hat“ (Text + Übersetzung nach M. Schiendorfer 1986, S. 38-39, III-7). 147 „Weh, ich werde ewig traurig bleiben müssen“ (Text + Übersetzung nach M. Schiendorfer 1986, S. 46-47, VII-8/9). 148 „Oh weh, lieblich geschaffener, so roter Mund!“ (Text + Übersetzung nach M. Schiendorfer 1986, S. 50-51, II-6). 149 „Oh weh, daß ich ihr mein überlanges Leid nicht klagen konnte!“ (Text + Übersetzung nach M. Schiendorfer 1986, S. 50-51, III-1/2). 150 „Oh weh, dann bin ich samt ihnen verloren!“ (Text + Übersetzung nach M. Schiendorfer 1986, S. 52-53, III-3). 151 „Oh weh, daß ich dazu ausersehen wurde, ihr Wächter zu sein!“ (Text + Übersetzung nach M. Schiendorfer 1986, S. 52-53, III-7/8). 20 Letztgenanntes Lied Nr. 12 ist das Tagelied „Ich wil ein warnen singen“: An der Aufzählung schon dieser wenigen Lieder kann man sehen, wie nahtlos sich das Tagelied mit seinen beiden Ausrufen in den häufigen klagenden „ôwê“-Gebrauch bei Hadlaub einfügen läßt. Auf zwei bemerkenswerte Ausnahmen in der passiven Klagehaltung des Sänger-Ichs bei Hadlaub sei noch hingewiesen, in denen dieses – zumindest gedanklich - aktiv aus seiner Leidsituation ausbrechen will. Im heutigen Verständnis würde man die nachfolgend aufgeführten Textstellen vermutlich am ehesten als „Vergewaltigungsphantasien“ einordnen, denn „in beiden Liedern denkt der Mann, sich die Frau durch seine körperliche Überlegenheit gefügig zu machen“ 152: „Ê daz aber ich si wollte lân, ich wolde sî doch umbevân und si dan anz bette swingen“ 153 „Wir müestin lîchte ringen: so solte ich wol hin an daz bette si swingen; so wurde ez vol der wunnen, der ich wünschen sol“.154 V. Die Tagelieder Hadlaubs V.1. Vergleich seiner vier Tagelieder Johannes Hadlaub hat seine vier Tagelieder - wie zu der Zeit üblich - nach dem Vorbild des provenzalischen bzw. altfranzösischen Minneliedes aus Kanzonenstrophen aufgebaut. Dem Aufgesang mit jeweils zwei symmetrischen Stollen – sie sind mit derselben Melodie vorgetragen worden - folgt der Abgesang. Da alle Tagelieder dreistrophig aufgebaut sind, weisen sie insgesamt jeweils drei Aufgesänge – also sechs Stollen – sowie drei Abgesänge auf. Wie hat Hadlaub diese Struktur für seine Dichtung genutzt? Auf den ersten Blick fallen schon bei der jeweils ersten Strophe eine Reihe inhaltlicher Gemeinsamkeiten auf. Da im Anhang dieser Arbeit alle vier Tagelieder Hadlaubs im Wortlaut einschließlich Übersetzung aufgeführt sind, habe ich darauf verzichtet, die nachfolgend zitierten Textstellen jedesmal mit Fußnoten zu belegen. Erste Strophen: Diese beginnt bei allen Tageliedern mit einem Monolog des Wächters. Im Aufgesang rät er jeweils dem Herrn und der Dame, ihre „fröiden spil“ zu beenden, da es gleich tagen wird. Im jeweiligen Abgesang beschreibt er die Sorgen, die nicht nur den beiden Liebenden, sondern vor allem ihm entstünden, wenn man den Ritter entdeckte. Dabei verwendet Hadlaub in den vier Tageliedern auffällige und teilweise sehr ähnliche Vokabeln, wie an Beispielen aus den entsprechenden Aufgesängen gezeigt werden soll: Der Wächter will ein „warnen“ singen, eine Frau „erschreken“, damit sie ihren Geliebten bald „weken“ soll, er rät den beiden, die er „leider“ nachts „gehüetet“ hat, nicht „unwîs“ zu sein und „mâzze“ zu halten sowie sich zu „scheiden“. Er ist besorgt, weil deren „sorge“ so klein ist, und empfiehlt, dem „leit“ vorzubeugen, um später nicht „riuwe“ zu empfinden. Das Problem aus Sicht des Wächters wird klar benannt: Die beiden Liebenden sind zu „minnen balt“. In den jeweiligen Abgesängen thematisiert Hadlaub, wie der Wächter seine Lage 152 V. Bolduan: 1982, S. 190. 153 Schiendorfer 1986, S. 102/103 (Lied Nr. 35: „Ein Bett aus Sommerkleidern“; V,5 – V,7. Übersetzung: „Bevor ich sie nämlich gehen ließe, würde ich sie doch umarmen und sie dann aufs Bett hinwerfen“). 154 Schiendorfer 1986, S. 118/119 (Lied Nr. 41: „Das erträumte Blumenbett“; III,7 – III,11. Übersetzung: „Das gäbe ein leichtes Ringen: Ich könnte sie problemlos auf das Bett niederwerfen; dann würde es voll von allen Freuden die ich mir erträume“). 21 einschätzt: Dieser fragt sich nämlich, warum sich der Herr und die Dame nicht „sorgent“ und ihre „nâhen umbevange“ sein lassen. Deshalb stünde aber er, der Wächter, in „nôt“, und machte sich „wunder sorgen“ aufgrund deren „ubrig liebi“. Weil es um ihrer aller „leben und êre“ ginge damit es ihnen nicht zur „klage“ würde sowie ihnen kein „leide“ geschähe - müsse die Herrin vorher dieses „ungemach“ verhindern, indem sie und ihr Geliebter sich vor Tagesanbruch „gescheiden“. Notwendig wäre der Ruf: „herre, wach!“ Zweite Strophen: Bei den jeweils zweiten Strophen lassen sich die vier Tagelieder in zwei Gruppen aufteilen: In Lied 12 („Ich wil ein warnen singen“) und in Lied 48 („Der ich leider dise nacht gehüetet hân“) ist es weiterhin der Wächter, der allein auftritt und seinen Monolog der ersten Strophe fortführt. Dagegen kommt es bei den Liedern 31 („Nu merkent mich, swer noch tougen lige“) und 32 („Nach liebe gât leit!“) zu einer Änderung der handelnden, das heißt sprechenden, Personen. In Lied 31 ist es jetzt allein die Frau, welche sich äußert. Im ersten Stollen redet sie ihren Geliebten an, welchen sie als „mîner fröiden hort“ bezeichnet und den sie aufwecken muß. Im zweiten Stollen sowie im Abgesang spricht sie dagegen zum Wächter, dem sie vorwirft, daß er den Tag zu früh angekündigt habe, „ze fruo uns kunt getan“. In Lied 32 beginnt ebenfalls die Frau die Handlung: Im ersten Stollen umarmt sie den Geliebten, im zweiten spricht sie ihn direkt an: „friunt, du slâfst ze lange“. Dagegen wird im Abgesang erstmalig der „herre guot“ aktiv, welcher - nachdem er aufgewacht ist - seiner Geliebten sagt: „mir ist wol und mir ist leit erkannt“. Bei den zwei anderen Tageliedern treten weder der Herr noch die Dame auf, denn der Wächter ist auch in der zweiten Strophe der einzige Akteur. In Lied 12 gibt er im ersten Stollen „dem herren nit die schulde“, weil er um die „ungedulde“ der Frau Bescheid wisse. Im zweiten Stollen fordert der Wächter deshalb den Herrn auf, daß er „sol si lâzzen weinen“, seinen Abschied also nicht länger aufsparen solle. Der Abgesang der zweiten Strophe gehört ganz dem Klagen des Wächters, der nunmehr „aller fröiden arn“ sei, weil es „umb lîb und êre“ ginge, und der allen mitteilt: „ich vürchte mir so sêre“. In Lied 48 teilt der Wächter im Aufgesang mit, daß er „si beidiu“ warne, obwohl „mîn frowe leides vil“ daraus gewänne, weshalb sie auch nicht „wîzzen“ wolle, daß es tage. Im Abgesang tragen die Aussagen des Wächters regelrecht defätistisch zu nennende Züge: „Mîn herre“ solle selbst zurechtkommen, singt er, es ginge bei beiden „umb ir lîb“. Allerdings kümmere es ihn, den Wächter, nicht weiter – „ich kum wol hin!“ -, denn er wolle „vor dem morgen fruo“ über alle Berge sein. Eine Wächterfigur, welche sich schrecklich fürchtet und dann einfach aus dem Staube machen will - zu recht kann man einem solchen Wächter „Hasenfuß-Charakter“ unterstellen. Dritte Strophen: In den dritten Strophen der vier Tagelieder kommen mit Ausnahme von Lied 12 („Ich wil ein warnen singen“) – in welchem der Wächter weiter allein auftritt – sowohl die Dame als auch der Herr zu Wort: In Lied 31 („Nu merkent mich, swer noch tougen lige“) sind der Wächter und der Herr anwesend, in Lied 32 („Nach liebe gât leit!“) gibt es einen Dialog zwischen Dame und Herr, und in Lied 48 („Der ich leider dise nacht gehüetet hân“) spricht nach dem Wegschleichen des Wächters die Dame zu ihrem Geliebten. 22 In Lied 31 bemerkt der Wächter im ersten Stollen, daß derjenige, „der mâzze kann“, „leit“ von sich abwenden könne: „so lêre ich iuch die mâzze wol“ bemerkt er etwas anmaßend gegenüber dem Liebespaar. Im zweiten Stollen rechtfertigt er seine Haltung und betont nochmals die Notwendigkeit, „daz ir iuch scheident, sît ez tagen sol“. Im Abgesang spricht dagegen der Herr zur „frowe“, sie solle ihr „weinen“ sein lassen und fordert sie auf: „küsse mich, ê daz ich von dir var“. In Lied 32 wird der Dialog der beiden Liebenden aus der zweiten Strophe auch in der dritten fortgesetzt: Die Dame versichert im ersten Stollen ihrem „guot herre mîn“, daß sich zwischen ihnen „mêr gefüegen“ lasse, wenn sie sich jetzt voneinander „scheiden, ê mans werde gewar“. Im zweiten Stollen gibt der Herr seiner „frowe“ recht - sie könnten sich jetzt „genüegen“, da sie „die nacht wâren frœlich sament gar.“ Im Abgesang bittet er seine Geliebte: „so gib nu urlob mir“, weshalb sie ihn fragt, warum er es denn so eilig habe – „daz ist, frowe, umb dîn êre“, woraufhin sie ihn freigibt. In Lied 48 geschieht gleich in der ersten Zeile der dritten Strophe eine Ungeheuerlichkeit: Der Wächter berichtet, daß er heimlich hinausschleicht und dort ein Warnlied singt – damit läßt er die beiden Liebenden schmählich im Stich. Dies bemerkt die Herrin, die daher im zweiten Stollen ihren Geliebten auffordert „du solt ûf stân, mîn herre tugenden rîch!“ und im Abgesang darauf hinweist: „ez kumt nicht wol“, wenn sie zu lange liegenbleiben. In der dritten Strophe von Lied 12 fällt auf, daß in der ersten Zeile der letzte Satz der vorherigen Strophe fortgesetzt wird – es kommt zu einem Strophenenjambement. In diesem ersten Stollen klagt der Wächter, daß wenn die Liebenden seinem Rat zu spät folgten, er mit ihnen verloren wäre: „owê, ich bin mit in verlorn!“ Im zweiten Stollen scheint er regelrecht wütend zu werden: „daz ist mir leit und zorn“, sagt er aus, falls er noch mehr „ir minn erarnen“ sollte. Im Abgesang jammert der Wächter, daß gerade er „wart erkorn“, ihr Wächter zu sein: „Ôwê, daz ich wart erkorn, daz ich wart ir wachtære!“. Im letzten Satz gibt es einen eindeutigen Hinweis, daß der Wächter nicht mit demjenigen identisch ist, welcher auf der Burg den neuen Tag ankündigt: „den tag man kündet dur diu horn“. V.2. Neue Elemente in Hadlaubs Tageliedern Zwei seiner vier Tagelieder können als Tagelieder „im klassischen Sinne“ aufgefaßt werden, da Johannes Hadlaub in ihnen die um 1300 bekannte Tagelied-Tradition nur im bis dahin üblichen Rahmen variiert: Es sind dies die Lieder Nr. 31 („Nu merkent mich, swer noch tougen lige“) und Nr. 32 („Nach liebe gât leit!“). Sie beschreiben die typische Figuren-Konstellation, auch wenn die Wächterrolle - unter anderem durch die jeweiligen Monologe in der ersten Strophe hervorgehoben wird. Trotzdem ist die klassische Dreierbeziehung zwischen den beiden Geliebten und dem Wächter, der die Notwendigkeit des Abschied verkörpert, gegeben: In der zweiten sowie in der dritten Strophe dieser Tagelieder führen der Herr und die Dame miteinander einen Dialog, der nur in Lied 31 durch die Einwendungen des Wächters unterbrochen wird. Im Dialog geht es um die schon von vielen anderen Tageliedern her bekannten Inhalte: die beiden Liebenden bedauern sehr, sich bald trennen zu müssen, versichern sich gegenseitig ihrer Zuneigung und hoffen auf ein Wiedersehen (letzteres nur in Lied 32). 23 Dagegen stellen sowohl Lied 12 als auch Lied 48 Sonderformen des Tageliedes dar, da Hadlaub hier durch die Aufhebung der klassischen Dreierbeziehung und andere neue Elemente eindeutig über die bis dahin in diesem Bereich übliche Variation hinausgeht. Bei beiden Tageliedern läßt sich inhaltlich – verglichen mit der Tradition - ein jeweiliges Novum feststellen. Lied 12 stellt in seiner Gänze einen reinen Wächter-Monolog dar: Weder der Herr noch die Dame handeln oder sagen etwas. Die Situation wird also vollkommen aus Sicht der eigentlich sekundären WächterFigur beschrieben, wobei diese ihrer subjektiven Klage ungehemmt freien Lauf läßt: In den 30 Versen von Lied 12 kommt der Ausdruck „ich“ allein 13mal vor, dazu kann man die Posessivpronomen „mînem“ und „mîn“ sowie das Personalpronomen „mir“ feststellen. Charakteristisch ist außerdem, daß das gesamte Tagelied das Gefühl einer großen Furcht durchzieht, konkret der Furcht vor dem Verlust von Leben und Ehre, was in der zentralen Stelle von Lied 12, dem zweiten Abgesang, deutlich wird155. Lied 48 stellt zwar keinen reinen Wächtermonolog dar - da diese Figur nur in den ersten beiden Strophen allein auftaucht, in der dritten Strophe dagegen die Dame zu ihrem Geliebten spricht aber die Bedeutung liegt in der Verhaltensweise des Wächters: Dieser schleicht sich heimlich hinaus und überläßt – obwohl noch ein Warnlied singend – seine Herrin und seinen Herrn einfach ihrem Schicksal. Dieser feige „Hasenfuß-Charakter“, den Hadlaub hier auf die Spitze getrieben hat, ist allerdings schon von anderen Minnedichtern thematisiert worden: Beispielsweise von Steinmar, welcher dem Wächter in seinem Lied „Swer tougenliche minne hât“ von vornherein Unzuverlässigkeit unterstellt und deshalb lieber jemanden vertraute, der „ein staeter friunt“ wäre. Wie schon in Lied 12 läßt Hadlaub auch in diesem Tagelied den Wächter übertrieben ängstliche und egoistische Äußerungen tätigen, die seine Flucht argumentativ vorbereiten sollen. VI. Zusammenfassung Wie gezeigt worden ist, gibt es mindestens zwölf Minnedichter, die in ihren Tageliedern die bei Hadlaub erkennbare besondere Bedeutung des Wächters vorweggenommen haben.156 Darüber hinaus findet man mehrere intertextuelle Bezüge, welche über die Begriffe von „Leben und Ehre“ sowie des höfischen Maßhaltens, der „mâze“, eine Verbindung zu Hadlaubs Tageliedern herstellen: Zu nennen sind hier vor allem Wolfram von Eschenbach, Otto von Botenlauben und der Markgraf von Hohenburg. Johannes Hadlaub hat dabei – wie es auch vor ihm schon üblich gewesen ist – die vorhandene Tagelied-Tradition nach eigenem Gutdünken variiert. Die verschiedenen Spielarten und Variationsmöglichkeiten dieses Liedtypus sind ihm wahrscheinlich bekannt gewesen – hat er doch durch seine enge Beziehung zum sogenannten Manessekreis direkten Zugriff auf die größte deutschsprachige Liedersammlung des Mittelalters gehabt. Darauf weisen sowohl biographische Hintergründe als auch die auffällige Sonderstellung Johannes Hadlaubs im Codex Manesse hin. Somit gibt es ausreichend Anhaltspunke, die meine erste These von einer vergleichbaren 155 „Nu bin ich aller fröiden arn, ich vürchte mir so sêre: ez stât umb lîb und êre.“ (Zit. nach M. Schiendorfer: 1986, S. 52–53, II-6 bis II-9). 156 Hierzu zähle ich auch Steinmar und dessen Tagelied „Swer tougenliche minne hât“, weil trotz der durch den Dichter vorgenommenen Ersetzung der Wächterfigur durch einen treuen Freund an der wichtigen Funktion des Warners und Weckers sich nichts geändert hat – deren Rolle dadurch eher noch gestärkt worden ist. 24 Sonderstellung der Wächterfigur sowohl bei älteren Tagelied-Dichtern als auch bei Johannes Hadlaub bestätigen. Trotz der allgemein hervorgehobenen Stellung der Wächterfigur bei Hadlaub können zwei seiner vier Tagelieder noch als „Tagelieder im klassischen Sinne“ aufgefaßt werden, in denen sich die Variation der Figurenkonstellation im bis dahin üblichen Rahmen vollzieht. Die anderen beiden Tagelieder, „Ich wil ein warnen singen“ sowie „Der ich leider dise nacht gehüetet hân“, können dagegen als „Tagelieder eines neuen Typus“ charakterisiert werden: Ein reiner Wächtermonolog das eine, ein Wächtermonolog in den ersten zwei Strophen das andere. Dazu kommt bei beiden eine übersteigerte Ich-Bezogenheit der Wächterfigur sowie die das ganze Tagelied durchziehende Grundhaltung der Furcht - welche in Lied 48 sogar in der feigen Flucht des Wächters gipfelt! Dieser „Hasenfuß-Charakter“ manifestiert sich – in verschiedenen Abstufungen – in allen vier Tageliedern Johannes Hadlaubs. Gleichzeitig ist nachgewiesen worden, daß sich – mit Ausnahme von neun Liedern (wozu auch die vier Tagelieder zählen) - immer wieder derselbe klagende, ja teilweise sogar jammernde Grundton durch das Werk Hadlaubs zieht. Dieser ist zwar für die zeitgenössische Konzeption der Minnedichtung grundsätzlich charakteristisch, erfährt aber meiner Auffassung nach bei Johannes Hadlaub eine über das übliche Maß hinausgehende Steigerung: Unter anderem steht für diese „subjektive Note“ der häufige Gebrauch des klagenden „Ôwê“-Ausrufes ebenso wie die auffallend große Zahl der verschiedenen „Minneleid“-Vokabeln. Diese Selbstilisierung des Sänger-Ichs als „unglücklicher Minner par excellence“ bestätigt meine zweite These, daß sich der klagende Wächter, voller Furcht um sein Leben und jammernd seine vermeintliche Notlage beschreibend, nur mit Hilfe der subjektiven Note in den anderen Liedern Hadlaubs hinreichend verstehen läßt. Anders ausgedrückt: Eine alleinige Fokussierung auf die Tagelied-Tradition vor Hadlaub und deren verschieden variierte Sonderstellungen der Wächterfigur dürfte für eine ausreichende Erklärung vor allem der „Tagelieder neuen Typus“ von Johannes Hadlaub nicht ausreichen. Ob man aber wirklich „bisweilen versucht ist, unseren Dichter mit jenem ängstlich und engstirnig um sein eigenes Wohl bedachten Wärter in Lied 14 [„Ich wil ein warnen singen“] ein wenig zu identifizieren“ 157, muß von jedem Leser selbst entschieden werden. 157 Rena Leppin: Der Minnesinger Johannes Hadlaub. Monographie und Textkritik. Hamburg: Univ. (Diss.) 1959, S. 413. 25 VII. Literaturverzeichnis VII.1. Quellen • C o d e x P al at i n u s G e rm an i c u s 8 48 (Deutsche Handschrift der Pfälzischen Bibliothek Heidelberg Nr. 848, abgekürzt als Cod. Pal. Germ. 848). • G r o ß e s J ah rz e i t b u ch der Großmünsterpropstei Zürich von 1338/39, fol. 25v. Zentralbibliothek Zürich: Ms. C 10 d. • M e l c h i o r G o l d a s t v o n Ha i m i n s f e l d: Paræneticorum veterum pars I. St. Gallen: 1604. • U l ri c h M ü l l e r (Hg.): Die große Heidelberger „Manessische“ Liederhandschrift. In Abbildung herausgegeben von Ulrich Müller. Mit einem Geleitwort von Wilfried Werner. Göppingen: Kümmerle 1974 (= Litterae: Göppinger Beiträge zur Textgeschichte, Nr. 1). • S t e u e r r ö d e l der Großmünsterpropstei Zürich von 1293/94. Staatsarchiv Zürich: C II 1, Nr. 2a. • U r k u n d e d e r F r au m ü n s t e r ab t e i Zürich vom 04.01.1302. Staatsarchiv Zürich: C II 2, Nr. 85. • U r k u n d e d e s K l o s t e rs Oetenbach Zürich vom 04.11.1326. Staatsarchiv Zürich: C II 11, Nr. 246. VII.2. Verwendete Literatur • M art i n a B a c k e s (Hg.): Tagelieder des deutschen Mittelalters. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Ausgewählt, übersetzt und kommentiert von Martina Backes. Einleitung von Alois Wolf. Stuttgart: Philipp Reclam jun. 1992 (= Universal-Bibliothek Nr. 8831). • K ar l B a r t s c h (Hg.): Die Schweizer Minnesänger. Frauenfeld: Huber 1964 (= Unveränderter reprografischer Nachdruck der Ausgabe Frauenfeld 1886: Bibliothek älterer Schriftwerke der deutschen Schweiz, Band VI. Zugl.: Darmstadt: WBG 1964). • I o an a B e l o i u - W e h n : ‚Der tageliet maneger gern sanc’. Das deutsche Tagelied des 13. Jahrhunderts. Versuch einer gattungsorientierten intertextuellen Analyse. Frankfurt a.M. u.a.: Lang 1989 (= Europäische Hochschulschriften, Reihe 1, Band 1168. Zugl.: Bonn: Univ. (Diss.) 1989). • V i o l a B o l d u a n : Minne zwischen Ideal und Wirklichkeit. Studien zum späten Schweizer Minnesang. Frankfurt am Main: Haag Herchen 1982 (Zugl.: Mainz: Univ. (Diss.) 1980), • R al f B r e s l a u : Die Tagelieder des späten Mittelalters. Rezeption und Variation eines Liedtyps der höfischen Lyrik. Berlin: Freie Univ. (Diss.) 1987. • R e n at e Ha u s n e r (Hg.): ‚Owe do tagte ez’. Tagelieder und motivverwandte Texte des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Göppingen: Kümmerle 19872 (= Göppinger Arbeiten zur Germanistik, Nr. 204). • U l ri c h K n o o p : Das mittelhochdeutsche Tagelied. Inhaltsanalyse und literarhistorische Untersuchungen. Marburg: Elwert 1976 (= Marburger Beiträge zur Germanistik, Band 52. Zugl.: Marburg: Univ. (Diss.) 1975). • H e d w i g La n g : Johannes Hadlaub. Berlin: Erich Schmidt 1959 (= Philologische Studien und Quellen). • R e n a L e p p i n : Der Minnesinger Johannes Hadlaub. Monographie und Textkritik. Hamburg: Univ. (Diss.) 1959. • R e n a L e p p i n (Hg.): Johannes Hadlaub. Lieder und Leichs. Herausgegeben und kommentiert von Rena Leppin. Stuttgart, Leipzig: Hirzel 1995. • M at t h i as Le x e r : Mittelhochdeutsches Taschenwörterbuch. Mit den Nachträgen von Ulrich Pretzel. 38. Auflage. Stuttgart: Hirzel 1992. • U l ri c h M ü l l e r : Zur Geschichte der Großen Heidelberger Liederhandschrift. In ders. (Hg.): Die große Heidelberger „Manessische“ Liederhandschrift. In Abbildung herausgegeben von Ulrich Müller. Mit einem Geleitwort von Wilfried Werner. Göppingen: Kümmerle 1974 (= Litterae: Göppinger Beiträge zur Textgeschichte, Nr. 1). 26 • G e rd t R o h r b a c h : Studien zur Erforschung des mittelhochdeutschen Tageliedes. Ein sozialgeschichtlicher Beitrag. Göppingen: Kümmerle 1986 (= Göppinger Arbeiten zur Germanistik, Nr. 462. Zugl. Würzburg: Univ. (Diss.) 1985), • M ax S c h i e n d o r f e r (Hg.): Johannes Hadlaub. Die Gedichte des Zürcher Minnesängers. Zürich, München: Artemis 1986. • M ax S c h i e n do r f e r (Hg.): Johannes Hadlaub. Dokumente zur Wirkungsgeschichte. Anläßlich der Ausstellung „Hadlaub. Der Zürcher Minnesänger“ vom 29.01. bis 31.03.1987 in Zürich. Göppingen: Kümmerle 1990 (= Göppinger Arbeiten zur Germanistik, Nr. 487). • H i l k e rt W e d di g e : Einführung in germanistische Mediävistik. 3. durchgesehene und ergänzte Auflage. München: Beck 19973 (= C. H. Beck Studium). • A l o i s W o l f : Variation und Integration. Beobachtungen zu mittelalterlichen Tageliedern. Darmstadt: WBG 1979 (= Impulse der Forschung, Band 29). VII.3. Zitierte Literatur • R e i n h o l d B e c h s t e i n : Ulrichs von Lichtstenstein „Frauendienst“. 2 Bände, Leipzig 1988. • H e l m u t d e B o o r : Die höfische Literatur. 1955. • H e l m u t d e B o o r : Die deutsche Literatur im späten Mittelalter. Zerfall und Neubeginn. (Teil 1: 1250 – 1350). 1962. • F ri e d ri c h H e i n ri ch v o n d e r H a g e n : Minnesinger des 12., 13. und 14. Jahrhunderts. 1838. • A rt h u r T. Ha t t o (Hg.): Eos. An Enquiry into the Theme of Lovers’ Meetings and Partings at Dawn in Poetry. London u.a.: 1965. • V . Li e b - J ü c k s t o c k : Das Tagelied als Gattung? Beobachtungen zur Wächterfigur. München: Mag.-arb. (maschinenschriftl.) 1977. • U l ri c h M ü l l e r : Das Tagelied. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Zweite Auflage. Band IV. Berlin: 19802. • G ü n t h e r S c h w e i k l e : Minnesang. 1965. • W i l f ri e d W e r n e r : Die Handschrift und ihre Geschichte. In: Walter Koschorreck, Wilfried Werner (Hgg.): Codex Manesse. Die Große Heidelberger Liederhandschrift. Kommentar zum Faksimile des Codex Palatinus Germanicus 848 der Universitätsbibliothek Heidelberg. 27 VIII. Anhang: Wortlaut der Tagelieder und Übersetzung VIII.1. „Ich wil ein warnen singen“158 1 Ich wil ein warnen singen, Ich will ein Warnlied singen, 2 daz lieb von liebe bringen das den Geliebten und die Liebste auseinanderbringen 3 nu mag, die mâzze kunnen hân. soll, sofern sie maßvoll sein können. 4 Sus râte ich dien ein scheiden, So rate ich auch denen, sich zu trennen, 5 der ich nu hüete, beiden: die ich hier beide behüte: 6 der tag, der will so schiere ûf gân. Der Tag wird so bald anbrechen. 7 Des ich wunder sorgen hân, Deshalb habe ich größte Sorgen, 8 wie ez uns noch irgange: wie es uns noch ergehen soll! 9 ir nâhen umbevange, Ihre innigen Umarmungen 1 0 die wellent sî so kûme lân. wollen sie partout nicht sein lassen. _______________________________________________________________________________________________ ____________________________________________________________________________________________________________________________ 1 In gibe dem herren nit die schulde: Ich gebe dem Herrn nicht die Schuld; 2 ich weiz ir ungedulde Ich kenne ihre Leidenschaft 3 so wol, si lât in kûme varn. so gut: Sie läßt ihn schwerlich ziehen. 4 Der herre sol si lâzzen weinen: Der Herr soll sie weinen lassen, 5 der nacht ist noch so kleinen, von der Nacht bleibt nur noch ein kleiner Rest, 6 er sol ez langer nicht ensparn. er soll es nicht länger aufschieben. 7 Nu bin ich aller fröiden arn, Nun bin ich arm an allen Freuden geworden, 8 ich vürchte mir so sêre: ich fürchte mich so schrecklich: 9 ez stât umb lîb und êre. Es geht ja um Leben und Ehre. 1 0 In kann ir nicht biwarn, Ich kann sie nicht vor Unheil bewahren, _______________________________________________________________________________________________ ____________________________________________________________________________________________________________________________ 1 Sin volgen danne mînem râte. ... wenn sie nicht meinem Rat folgen! 2 und tuont si daz ze spâte, Und tun sie das zu spät, 3 owê, ich bin mit in verlorn! oh weh, dann bin ich samt ihnen verloren! 4 Nu hœrent sî doch wol mîn warnen. Nun hören sie doch zweifellos meine Warnung: 5 muoz ich ir minn erarnen Muß ich für ihre Liebschaft noch mehr büßen, 6 noch mê, daz ist mir leit und zorn. bereitet mir das Leid und Zorn. 7 Ôwê, daz ich wart erkorn, Oh weh, daß ich dazu ausersehen wurde, 8 daz ich wart ir wachtære! ihr Wächter zu sein! 9 noch wendent unsir swære: Wendet unser Unheil doch noch ab – 1 0 den tag man kündet dur diu horn“ 158 den Tag kündet man bereits mit Hornsignalen an! Text und Übersetzung nach M. Schiendorfer: 1986, S. 52 – 53. 28 VIII.2. „Nu merkent mich, swer noch tougen lige“159 1 Nu merkent mich, swer noch tougen lige, Nun hört mir zu, die ihr noch verborgen beisammenliegt: 2 ir sunt irgeben der fröiden spil, Ihr sollt die Freudenspiele aufgeben, 3 daz râte ich iu gar âne valschen muot. das rate ich euch ganz ohne falsche Gedanken. 4 Er wære unwîs, der mir des verzige; Der wäre unklug, welcher mir das versagte: 5 der tag nit mêr irwinden wil: Der Tag will nicht länger ruhen. 6 der leit versicht, dast vür riuwe guot. Wenn einer dem Leid vorbeugt, ist das gut gegen spätere Reue! 7 Frowe, swaz ich nû gisage, Herrin, was ich nun aber auch sagen mag – 8 went ir doch niender sprechen: ‚herre wach!’ solange ihr dann doch nicht sprechen wollt: ‚Herr, wacht auf!’, 9 ez wirt unser aller klage, dann wird es unser aller Klage, 1 0 daz uns so rechte leide nie bischach. so sehr, daß uns so großes Leid noch nie geschah. 1 1 nein, frowe, versehent ê daz ungemach! Nein, Herrin, verhindert vorher dieses Unglück! _______________________________________________________________________________________________ ____________________________________________________________________________________________________________________________ 1 Si hôrte, daz ich ûz ernste rief. Sie hörte, daß ich aus ernster Besorgnis rief. 2 si sprach: ‚nu wache, mîner fröiden hort! Sie sprach: ‚Nun wach auf, mein Freudenhort! 3 Ich muoz dich leider schiere von mir lân.’ Ich muß dich leider bald von mir gehen lassen.’ 4 Ir trêne vil ûf im zerswief. Sie vergoß zahllose Tränen über ihn. 5 Si sprach: ‚wachtær, dîns sanges wort, Sie sprach: ‚Wächter, die Worte deines Gesangs, 6 diu hânt den tag ze fruo uns kunt getân. die haben uns den Tag zu früh verkündet, 7 Wan er ist so gern bî mir denn er ist so gern bei mir 8 und ich bî im, die wîle ich iemer mag. und ich bei ihm, so lange ich immer kann. 9 Wachter, dîns sangis imbir, Wächter, halte deinen Gesang so lange zurück, 1 0 unz daz âne zwîvel komn sül der tag, bis der Tag dann unzweifelhaft anbricht –, 1 1 wan nien kein wîb so lieblîch mê gelag!’ denn noch keine Frau hat je so geborgen gelegen!’ _______________________________________________________________________________________________ ____________________________________________________________________________________________________________________________ 1 Ir hânt iuchs unwægsten nû bidâcht: Ihr habt euch das denkbar Ungeschickteste ausgedacht: 2 Der mâzze kann, diu wendet leit! Das rechte Maß, wenn man es einzuhalten versteht, wendet 3 Davon so lêre ich iuch die mâzze wol. Leid ab! Deshalb lehre ich euch dies rechte Maß. 4 Ich hab iuch in ungemüete brâcht, Ich habe euch in Betrübnis gebracht, 5 doch hab ichs iu dur guot geseit, doch habe ich es euch im Guten gesagt, 6 daz ir iuch scheident, sît ez tagen sol. damit ihr euch trennen mögt, da es gleich tagen wird. 7 Er sprach: ‚frowe, des ist zît, Er sprach: ‚Herrin, dazu ist es nun Zeit, 8 swie wê mir tuot, daz ich mich dîn enbar. wie weh es mir auch tut, mich von dir loszumachen. 9 Frowe, dîn weinen mît; Herrin, laß dein Weinen sein; 1 0 daz dich got iemer mêre wol bewar! daß Gott dich immer behüten möge! 1 1 und küsse mich, ê daz ich von dir var.’ Und küsse mich, bevor ich von dir gehe.’ 159 Text und Übersetzung nach M. Schiendorfer: 1986, S. 96-97. 29 VIII.3. „Nach liebe gât leit!“160 1 ‚Nach liebe gât leit! ‚Nach Liebe ergeht Leid! 2 Ich muoz ein wîb erschreken’, Ich muß eine Frau erschrecken’, 3 sang ein wachter, ‚diu noch bî friunde lît. sang ein Wächter, ‚die noch beim Freunde liegt! 4 Ir sî giseit, Ihr sei gesagt, 5 daz sî in balde sol weken, daß sie ihn schnellstens wecken soll, 6 wan ez wil tagen: dâvon ist ez zît. weil es gleich tagen wird; deshalb ist es Zeit. 7 In nôt ich stân: Ich befinde mich in einer Notlage. 8 ubrig liebi vürchte ich, Ich fürchte mich vor übermäßiger Liebe: 9 daz si sich dur liebi wâgen unde mich. daß sie sich – und mich – wegen ihrer Liebe gefährden! 1 0 wir müezzen lân Wir werden 1 1 unser leben und êre, unser Leben und unsere Ehre verlieren, 1 2 siun hân vor tage dan gescheiden sich.’ wenn sie sich nicht vor Tagesanbruch getrennt haben.’ _______________________________________________________________________________________________ ____________________________________________________________________________________________________________________________ 1 Si stet imz kunt Sie brachte es ihm bei, 2 friuntlîch mit umbevange liebevoll mit einer Umarmung 3 und ouch mit manigem brüsteldrucke dô. und ihn wieder und wieder an sich drückend. 4 Ir rôter munt Ihr roter Mund 5 sprach: ‚friunt, du slâfst ze lange. sprach: ‚Freund, du schläfst zu lange. 6 wir suln uns scheiden, swiez uns macht unfrô.’ Wir müssen uns trennen, wenn es uns auch unglücklich macht.’ 7 Der herre guot Der edle Herr 8 ir wekens dâ bevant. nahm da ihr Wecken wahr 9 er sprach: ‚mir ist wol und ist mir leit erkant. Er sprach: ‚Es geht mir so gut, und es ist mir Leid beschieden: 1 0 mir fröit den muot Mir erfreut das Herz 1 1 dîn minnenklichez triuten; dein zärtliches Liebkosen 1 2 so tuot mir wê, daz ich von dir muoz zehant.’ zugleich tut es mir weh, daß ich jetzt von dir gehen muß.’ _______________________________________________________________________________________________ ____________________________________________________________________________________________________________________________ 1 ‚Guot herre mîn, ‚Mein guter Herr, 2 ez mag sich mêr gefüegen, es wird sich mehr arrangieren lassen, 3 ob wir uns scheiden, ê mans werde gewar.’ wenn wir uns trennen, bevor man es gewahr wird.’ 4 ‚Frowe, daz sol sîn: ‚Herrin, so soll es sein: 5 wir sun uns lân genüegen, Wir wollen uns jetzt damit begnügen, 6 daz wir die nacht wâren frœlich sament gar. daß wir die Nacht lang glücklich zusammen waren.’ 7 Frowe, unz har nâch Herrin, bis dann 8 so gib nu urlob mir.’ gewähre mir also Urlaub.’ 9 sî sprach: ‚’herre, daz gib ich noch kûme dir. Sie sprach: ‚Herr, den gebe ich dir noch nicht gleich jetzt. 1 0 wie ist dir sus gâch?’ Wie hast du es nur so eilig?’ 1 1 ‚daz ist, frowe, umb dîn êre.’ ‚Das ist, Herrin, wegen deiner Ehre.’ 1 2 si sprach: ‚nu var, swie kûme ich dîn embir!’ Sie sprach: ‚So gehe, obwohl ich kaum ohne dich sein kann!’ 160 Text und Übersetzung nach M. Schiendorfer: 1986, S. 98-99. 30 VIII.4. „Der ich leider dise nacht gehüetet hân“161 1 Der ich leider dise nacht gehüetet hân, Die ich zu meinem Leidwesen heut Nacht behütet habe, 2 der umbevân ist noch so manigvalt, deren Umarmungen sind noch immer so zahlreich, 3 Wan ir beider wille stellet sich inein. Denn ihrer beider Wille stimmt darin überein. 4 Ir sorge ist klein: si sint so minnen balt. Sie sind recht unbesorgt, so liebessüchtig wie sie sind. 5 Wan sorgent sî, wie ez uns irgê? Weshalb sorgen sie sich nicht darum, wie es uns ergehen wird? 6 wirt man sîn gewar, so komen wir in nôt. Wenn man ihn entdeckt, dann kommen wir in Not. 7 Nu welle got, daz sî sich scheiden ê! Nun füge Gott, daß sie sich vorher trennen! _______________________________________________________________________________________________ ____________________________________________________________________________________________________________________________ 1 ‚Ez biginnet gegen dem tage stellen sich’: ‚Die Zeit beginnt, gegen Tagesanbruch vorzurücken’: 2 alsus warne ich si beidiu, der ich pflag. In solcher Weise warne ich sie beide, die ich bewacht habe. 3 Des gewinnet doch mîn frowe leides vil, Dadurch erfährt meine Herrin jedoch viel Leid, 4 davon sin will nicht wîzzen noch den tag. weshalb sie den Tag noch nicht zur Kenntnis nehmen will. 5 Mîn herre sehe selb dar zuo: Mein Herr sehe selber weiter: 6 ez stêt beiden umb ir lîb -, ich kum wol hin! Es geht um ihrer beider Leben -, ich komme schon davon, 7 Wan ich will sîn ûz vor dem morgen fruo. denn ich werde vor dem Morgengrauen über alle Berge sein! _______________________________________________________________________________________________ ____________________________________________________________________________________________________________________________ 1 Ich sleich tougen ûz und sang ein warnen dô. Ich schlich heimlich hinaus und sang dabei ein Warnlied. 2 do sprach ie sô mîn frowe minnenklîch: Da sprach darauf meine Herrin liebevoll: 3 ‚Âne lougen, der wachtær hât uns verlân. ‚Ohne Scherz, der Wächter hat uns sitzenlassen! 4 du solt ûf stân, mîn herre tugenden rîch! Du mußt aufstehen, mein trefflicher Gebieter! 5 Ich weiz nu wol, daz ez ist zît, Ich weiß zu gut, daß es jetzt Zeit ist; 6 des sich unser lieblich triuten scheiden sol. Deshalb muß sich unsere zärtliche Umarmung lösen: 7 ez kumt nicht wol, swer doch zelange lît!’ Es kommt nicht gut heraus, wenn jemand zu lange liegenbleibt!’ 161 Text und Übersetzung nach M. Schiendorfer: 1986, S. 140-141. 31