Indonesien: eine literarische Schatzkammer

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Indonesien: eine literarische Schatzkammer
Indonesien: eine literarische
Schatzkammer
„Indonesische Literaturen“ und „Moderne Indonesische
Literatur“
(Vortrag von Berthold Damshäuser, Universität Bonn)
Abstract:
Indonesien ist eine literarische Schatzkammer. Es verfügt über vielfältige Literaturen in mehr
als hundert verschiedenen Sprachen. Neben mündlich tradierten existieren bedeutende
schriftsprachliche klassische Literaturen, zum Beispiel die malaiische sowie die javanische,
deren Werken zum Teil weltliterarischer Rang zugestanden werden kann. Zu Beginn des 20.
Jahrhunderts ist in Indonesien eine moderne in malaio-indonesischer Sprache verfasste
Nationalliteratur entstanden, die insbesondere auf dem Gebiet der Lyrik und der erzählende
Prosa Meisterwerke hervorgebracht hat. Der Vortrag von Berthold Damshäuser (Universität
Bonn) liefert eine Einführung in die literarische Vielfalt Indonesiens von der Vergangenheit bis
hin zur Gegenwart. Im Anschluss an den Vortrag besteht Gelegenheit zu Fragen bzw. zu einer
Diskussion, auch im Zusammenhang mit Indonesiens Rolle als Ehrengast der Frankfurter
Buchmesse im Jahr 2015.
©Berthold Damshäuser
Bei Zitaten aus diesem Vortrag muss auf die Quelle hingewiesen werden, also auf: Indonesien: eine literarische
Schatzkammer – „Indonesische Literaturen“ und „Moderne Indonesische Literatur“, Vortrag von Berthold Damshäuser,
gehalten in der indonesischen Botschaft in Berlin im Januar 2015.
Rückfragen an: damshaeuser@t-online.de
BERTHOLD DAMSHÄUSER (*1957) lehrt seit 1986 indonesische Sprache und Literatur an der Universität
Bonn. Herausgeber von „Orientierungen – Zeitschrift zur Kultur Asiens” und Anthologien moderner indonesischer
Lyrik, u.a. von „Gebt mir Indonesien zurück!” (1994). Gemeinsam mit Agus R. Sarjono Herausgeber und
Übersetzer der „Seri Puisi Jerman” (Reihe deutscher Lyrik in indonesischer Übersetzung, gemeinsam mit Agus R.
Sarjono) Redakteur des indonesischen Literaturmagazins Jurnal Sajak. Mitglied des Nationalen Indonesischen
Komitees zur Vorbereitung des indonesischen Auftritts als Ehrengast der Frankfurter Buchmesse 2015. Bei
Regiospectra erschien kürzlich das von ihm mitherausgegebene Buch „Wege nach – und mit – Indonesien“.
Weitere neue und bevorstehende Publikationen: Zeitgenössische indonesische Lyrik, deutschsprachiges
Sonderheft des indonesischen Lyrikmagazins Jurnal Sajak, Jakarta 2015, 2) Denny J.A.: „Das Taschentuch der
Fang Yin“, aus dem Indonesischen von Berthold Damshäuser (ein Multimedia-Langgedicht), Jakarta 2015, 3)
Sprachfeuer. Eine Anthologie moderner indonesischer Lyrik, Regiospectra-Verlag Berlin
Website: http://www.ioa.uni-bonn.de/abteilungen/suedostasienwissenschaft/personen/damshaeuser
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Indonesien: eine literarische
Schatzkammer
„Indonesische Literaturen“ und „Moderne Indonesische
Literatur“
(Berthold Damshäuser, Universität Bonn)
Das Thema meines Vortrags „Indonesien: eine literarische
Schatzkammer – „Indonesische Literaturen“ und „Moderne
Indonesische Literatur“ ist äußerst umfangreich, und kann in den
maximal 45 Minuten, die mir gewährt sind, natürlich nur sehr
oberflächlich behandelt werden kann. Mein Vortrag kann nicht mehr
sein als eine Einführung, die sich insbesondere an Zuhörer richtet, die
noch nichts oder nur sehr wenig über indonesische Literatur bzw.
Literaturen wissen. Und das gilt ja für fast alle Nicht-Indonesisten in
Deutschland, ja selbst für viele sogenannte Indonesien-Kenner. Die
indonesische Belletristik ist eine terra incognita, was sich hoffentlich
spätestens im nächsten Jahr ändern wird, wenn Indonesien, der
Ehrengast der Frankfurter Buchmesse 2015, sich als Literaturnation und
– so bezeichne ich es – als „literarische Schatzkammer“ präsentieren
wird.
Im Zusammenhang mit den indonesischen Literaturen ist es
angebracht, den Begriff „indonesisch“ nicht im politisch-administrativen
Sinne zu verstehen, sondern kulturhistorisch. Er verweist dann auf die
ethnische und sprachliche Einheit der Völker des indonesischen (früher:
malaiischen) Archipels bzw. des malaio-indonesischen Raums, und zwar
unter Einschluss der malaiischen Halbinsel bzw. des heutigen Malaysias.
Die sprachliche und ethnische Vielfalt des malaio-indonesischen
Raums (es gibt dort hunderte verschiedener Völker und Sprachen) ist
der Grund dafür, dass von indonesischen Literaturen zu sprechen ist.
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Analog zur Anzahl der Sprachen und Ethnien gibt es hunderte
verschiedener Literaturen.
Zu unterscheiden ist zwischen den mündlichen tradierten
Literaturen aller indonesischen Völker und den schriftlich fixierten
Literaturen der indonesischen Hochkulturen, deren Zahl sich ungefähr
auf ein Dutzend beziffern lässt.
Die schriftlich
fixierten Literaturen der Hochkulturen sind
entstanden unter dem Einfluss der indischen Kultur und anschließend
unter dem Einfluss des Islams bzw. der arabisch-persischen Kultur.
Die bedeutendendsten schriftlich fixierten Literaturen sind:
1) die vorwiegend hinduistisch geprägte javanische Literatur und
2) die vorwiegend islamisch geprägte malaiische Literatur,
also die klassischen Literaturen der bedeutendsten indonesischen
Kulturvölker, nämlich der Malaien und Javaner, die in malaiischer bzw.
javanischer Sprache verfasst wurden.
Die hinduistisch-javanische Literaturgeschichte hat ihren Beginn
im 10. Jahrhundert nach Christus. Schlussfolgerung daraus: bereits seit
über 1.000 Jahren existiert in Indonesien eine schriftlich fixierte
Belletristik.
Die klassische javanische Literatur, die unterteilt werden kann in
die altjavanische Literatur (bis zum 14. Jahrhundert) und die daran
anschließende neujavanische Literatur, ist vor dem Hintergrund der ab
der Zeitenwende erfolgten Indisierung großer Teile des indonesischen
Archipels, insbesondere Javas, erfolgt. Sie ist fixiert in javanischer Schrift,
einer Variation der indischen Pallava-Schrift.
Diese Literatur ist überaus reich und vielfältig, alle literarischen Genres
sind vertreten: Lyrik, Epos, Drama. Nicht wenige Werke können zur
Weltliteratur gezählt werden, darunter die Adaptionen der indischen
Epen Ramayana und Mahabharata, wie z.B. das vom Dichter Mpu Kanwa
im Jahre 1035 abgeschlossene Versepos Arjunawiwaha.
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Ein weiteres Meisterwerk (aus dem 14. Jahrhundert) ist das Epos Nagara
Kertagama über die Geschichte des javanischen Großreiches Majapahit,
verfasst von Prapanca.
Zu nennen wäre auch das Serat Kalatidha (Eine düstere Zeit) des
berühmten Ronggowarsito (1802 bis 1873), einem metrisch
strukturierten Langgedicht, in welchem der Dichter, der am Hofe des
Sultans von Surakarta lebte und schuf, scharfe Kritik an dem subjektiv
beobachteten Sittenverfall seiner Zeit übte.
Die klassische javanische Literatur hat großen Einfluss auf
Nachbarvölker gehabt (also Sundanesen und Balinesen), aber auch
überregionalen Einfluss, z.B. durch die Geschichten über den Ritter
Panji, die bis nach Thailand und Kambodscha gedrungen sind.
Obwohl sie heute erstarrt ist, lebt die javanische Literatur noch fort,
insbesondere im javanischen Schattenspieltheater (wayang kulit). Die
Figuren und Helden der hinduistisch-javanischen Epen (z.B. Rama, Sita,
Arjuna) sind noch heute fast jedem Javaner wohlbekannt.
Die andere bedeutende schriftlich fixierte Literatur ist, wie gesagt,
die malaiische Literatur, zu der ich mich etwas ausführlicher äußern
werde, da es sich bei dieser zumindest in sprachlicher Hinsicht um den
Vorläufer dessen handelt, was wir als „Moderne Indonesische Literatur“
bezeichnen.
Die malaiische Literatur erlebte in der Zeit vom 16. bis 19.
Jahrhundert eine Phase, die heute als klassisch bezeichnet wird. Unter
dem Einfluss des Islam sowie der arabisch-persischen Kultur, entstand
eine in arabischer Schrift fixierte Literatur, die Werke von
weltliterarischem Rang hervorgebracht hat. Zu nennen sind
insbesondere die zum Ende des 15. Jahrhunderts entstandene „Sejarah
Melayu“ (Die malaiische Chronik), eine Prosadichtung über die
malaiische Geschichte, sowie die Hikayat Hang Tuah, die Geschichte
über den malaiischen Helden Hang Tuah, die
Anfang des 17.
Jahrhunderts entstanden ist. Beide Werke liegen in der hervorragenden
deutschen Übersetzung des Malaiologen Hans Overbeck vor. Es besteht
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also, anders als bei der klassischen javanischen Literatur, deren Werke
noch nahezu überhaupt nicht in literarischer deutscher Übersetzung
vorliegen, die Gelegenheit, sich durch eigene Lektüre davon zu
überzeugen, dass der malaiischen Literatur weltliterarischer Rang
zugeschrieben werden kann.
Einen Beitrag zur Weltliteratur stellt die ursprünglich gesungene
malaiische Gedichtform Pantun dar. Zwar kann ein Pantun aus beliebig
vielen Strophen bestehen, doch das klassische besteht nur aus einer
vierzeiligen Strophe, wobei die ersten beiden Zeilen (sampiran) ein Bild
aus der Natur beinhalten, während die folgenden beiden Zeilen (isi oder
maksud) ein menschliches Gefühl zum Ausdruck bringen. Beide
Zeilenpaare sind durch parallele Lautfolgen oder Satzstrukturen
miteinander verbunden. Die Parallelität von sachlicher Naturdarstellung
und Gefühlsausdruck wurde zum Prinzip der Pantun-Tradition.
Folgendes Beispiel einer deutschen Übersetzung macht dies deutlich:
Bald Regen fällt,
bald Sonne scheint;
Es lächelt einst,
wer jetzo weint.
Der deutsche Dichter Adelbert von Chamisso (1781-1838) hat das
Pantun im deutschen Sprachraum bekannt gemacht, insbesondere durch
seine 1822 veröffentlichte Gedichtsammlung In Malaiischer Form, in der
er sich an speziellen, jeweils 5 Strophen umfassenden Formen des
malaiischen Pantuns orientierte.
Chamisso ist keinesfalls der einzige deutsche Dichter, der sich dem
Pantun zuwandte. Im 20. Jahrhundert hat z.B. Oskar Pastior (1927-2006)
zahlreiche Pantune verfasst. Und heute gibt es eine Website
www.pantun.de , ein Forum deutscher Pantun-Liebhaber, mit hunderten
von Pantunen in deutscher Sprache.
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Auch in Frankreich hat das Pantun viele Bewunderer gefunden, zu
den Dichtern, die selbst Pantune verfasst haben, gehören Victor Hugo,
Charles Baudelaire und Paul Verlaine.
Wie beim Pantun, so sind die meisten Verfasser der Werke der
malaiischen Literatur anonym. Es gibt allerdings einige Ausnahmen, ja
sogar berühmte Dichter, von denen ich Ihnen drei nennen möchte:
1) Hamzah Fansuri
Dieser aus Nordsumatra stammenden Lyriker und Mystiker verfasste im
16. Jahrhundert das berühmten Syair Perahu (Das Schiff-Gedicht), das
einen Höhepunkt der indonesischen Sufi-Dichtung darstellt, in der die
islamische Mystik (der Sufismus) im Mittelpunkt steht.
2) Raja Ali Haji (1808-1873)
Das berühmteste Werk dieses aus dem Riau-Archipel stammenden
Dichters ist das Gurindam Dua Belas, ein 12 Gedichte umfassender
Zyklus aus philosophisch-didaktischen Gedichten.
Raja Ali Haji, der eine Art Universalgelehrter war (Theologe,
Historiker, Rechtsgelehrter, zudem auch Politiker), hat sich auch als
Verfasser einer Grammatik des Riau-Malaiischen verdient gemacht.
Dieser malaiische Dialekt ist die Grundlage der indonesischen Sprache,
weshalb Raja Ali Haji zu Recht als „Vater der indonesischen Sprache“
gilt.
3) Abdullah bin Abdul-Kadir Munsy (1797-1854)
Dieser Schriftsteller indischer Abstammung, der in Singapur lebte, war
der erste Autor, der sich selbst als Individuum in seine literarischen
Werke einbrachte, z.B. in seiner 1849 erschienen Autobiographie Hikayat
Abdullah. Er gilt als Vorläufer der indonesischen literarischen Moderne,
und war ein wichtiges Vorbild für die indonesischen Schriftsteller des 20.
Jahrhunderts.
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Neben den beiden großen schriftlich fixierten und klassischen
Literaturen des malaio-indonesischen Raums, also der javanischen und
malaiischen, existieren weitere solcher Literaturen. Insgesamt gibt es –
wie gesagt – rund ein Dutzend schriftlich fixierter Literaturen, darunter
die der Balinesen, Sundanesen, Aceher, die der Minangkabau oder auch
die der Buginesen, eines Volkes in Südcelebes.
Diese Buginesen haben ein Werk geschaffen, dessen in der
Universitätsbibliothek Leiden aufbewahrtes Manuskript im Jahre 2011
aufgrund seiner (ich zitiere) „weltweiten Bedeutung und des
außergewöhnlichen universellen Wertes“ in das UNESCO-Memory of the
World-Register eingetragen wurde. Dabei handelt es sich um La Galigo,
ein Epos, dessen Text etwa 300.000 Verse, etwa 6000 Seiten, umfasst,
womit dieses Werk vermutlich das längste jemals verfasste literarische
Werk überhaupt ist, ungefähr 20 mal so lange wie die Odyssee). Es
wurde zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert von anonymen Verfassern
geschrieben und erzählt ausgehend von einem Schöpfungsmythos die
Abenteuer des großen Kriegers Sawerigading und seiner inzestuösen
Liebe zu seiner Zwillingsschwester We Tenriabeng. La Galilo ist der
Name eines weiteren Protagonisten. Der amerikanische Regisseur Robert
Wilson hat im Jahr 2004 eine Bühnenumsetzung von La Galigo,
geschaffen.
Ich denke, dass sich aufgrund der bisherigen Ausführungen
durchaus nachvollziehen lässt, warum ich Indonesien als „literarische
Schatzkammer“ bezeichne. Dass dies bei uns nicht hinlänglich bekannt
ist, hat seinen Grund sicherlich auch darin, dass nur wenige Werke der
klassischen indonesischen Literaturen in poetischen deutschen
Übertragungen vorliegen. Das meiste liegt nur in philologischen von
Wissenschaftlern angefertigten Übersetzungen vor. Die indonesischen
Literaturen hatten bislang nicht das Glück der chinesischen, arabischen
oder indischen Literatur, auch von Dichtern oder dichterisch begabten
Personen übersetzt zu werden. Die Übertragungen von Hans Overbeck,
die ich nannte, gehören zu den wenigen Ausnahmen.
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*
Heute sind die mündlich tradierten, aber auch die schriftlich
fixierten klassischen Literaturen erstarrt und stehen im Schatten der
indonesischen Gegenwartsliteratur, die nahezu ausschließlich in der
indonesischen Nationalsprache (Bahasa Indonesia) verfasst wird. Literatur
in anderen Sprachen, den sogenannten Regionalsprachen, wird fast nicht
mehr geschrieben. Ausnahmen sind das Sundanesische, Javanische und
Balinesische, die in Ansätzen eine regionalsprachliche moderne Literatur
entwickelt haben. Der Begriff „Moderne Indonesische Literatur“ ist
deshalb zu Recht wie folgt definiert:
Es handelt sich um „indonesische“ Literatur primär in dem Sinne, dass
sie in malaiischer Sprache verfasst ist.
Malaiisch? Ja, denn – bei der „Bahasa Indonesia“ (übersetzbar als
„die Sprache – in Klammern: des Staates – Indonesien“) handelt es sich –
wie bereits angedeut - um die malaiische Sprache, die seit vielen
Jahrhunderten als lingua franca des indonesischen Archipels das
interethnische Kommunikationsmedium gewesen ist und deshalb auch
Amtssprache des niederländischen Kolonialstaates wurde. Im Jahre 1928
– im Rahmen des berühmten „Eids der Jungen Generation“ (Sumpah
Pemuda) wurde das Malaiische zur Nationalsprache eines zukünftigen
und unabhängigen Staates Indonesien proklamiert, und fortan als
„Bahasa Indonesia“ bezeichnet. Dies ist also ein politischer Begriff, denn
linguistisch betrachtet handelt es sich nach wie vor um das Malaiische,
das übrigens auch Nationalsprache des Staates Malaysia ist, und dort als
„Bahasa Melayu“ oder „Bahasa Malaysia“ (Sprache Malaysias)
bezeichnet wird.
Und folglich sind (zumindest) linguistisch betrachtet sind sowohl
die „moderne indonesische Literatur“ als auch die „Moderne
Malaysische Literatur“ eine Fortführung der traditionellen bzw.
klassischen malaiischen Literatur.
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Bevor wir uns der Frage zuwenden, worin nun die „Modernität“
dessen besteht, was als „Moderne Indonesische Literatur“ bezeichnet
wird, möchte ich Ihnen gerne ein berühmtes Gedicht in malaiischindonesischer Sprache vorlesen, damit sie einen Eindruck von der
klanglichen Schönheit und Musikalität dieser Sprache erhalten, die man
früher auch als das „Italienisch des Osten“ bezeichnet hat. Es handelt
sich um ein Gedicht eines der größten indonesischen Lyrikers, nämlich
Amir Hamzah (1911-1946).
Naik-naik
Membubung badanku, melambung, mengawan
Naik, naik, tipis-rampis, kudus-halus
Melayang-terbang, mengembang-kembang
Menyerupa-rupa merona-warni langit-lazwardi.
Bertiup badai merentak topan
Larikan daku hembuskan badan
Tepukkan daku ke puncak tinggi
Rangkitkan daku ke lengkung pelangi ….
Tenang-tenang anginku sayang
Tinggalkan badan di lengkung benang
Reda(n)-reda(n) badaiku dalam
Ulikkan sepoi sunyikan dendam.
Biarkan daku tinggal di sini
Sentosa diriku di sunyi sepi
Tiada berharap tiada meminta
Jauh dunia di sisi dewa.
In deutscher Übersetzung klingt das wie folgt: (übersetzt von BD, in:
„Orientierungen – Zeitschrift zur Kultur Asien“ 1/1995)
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Immer höher
Mein Körper schwebt empor zum Firmament
Immer höher, fein und zart, heilig-hehr
Fliegend und webend, fließend und schwebend
Dem azurnen Himmel gleich
Winde wehen und Orkane wüten
Reißen mich fort und werfen mich zu Boden
Schleudern mich auf hohe Gipfel
Hängen mich hoch oben an den Regenbogen …
Haltet ein, ihr lieben Winde
Lasst auf diesem Bogen meinen Körper rasten
Halt ein, du Sturm in meinem Inneren
Wieg mich in den Schlaf und still mein Sehnen
Lasst mich hier bleiben
Friedvoll und in stiller Einsamkeit
Ohne Wünsche, ohne Fragen
Der Welt entrückt, den Göttern nah.
Was ist nun „modern“ an der indonesischen Literatur, die zu
Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden ist, oder – anders gefragt: worin unterscheidet sie sich von den traditionellen bzw. klassischen
Literaturen. Das radikal Neue, also das Moderne, wird deutlich durch
den Gegensatz zu den traditionellen Literaturen Indonesiens, die
wesentlich dadurch gekennzeichnet waren, dass
1) Die Persönlichkeit des Autors hinter dem Text verschwand,
sowie durch
2) eine Vermischung von fiktionalen Texten und Sachtexten,
z. B. historischen,
3) einen stark didaktischen Charakter, insbesondere auch im
religiösen Kontext.
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Insofern weisen die traditionellen Literaturen durchaus manche
Ähnlichkeiten mit der europäischen Literatur des Mittelalters auf.
Die modernen indonesischen Dichter erlaubten sich nun, als sich
vom Kollektiv lösende Individuen mit den Zwängen der Tradition zu
brechen, und es ist vielleicht nicht völlig übertrieben, wenn man dies als
einen Sprung aus dem „Mittelalter“ in die „Moderne“ bezeichnet, wobei
Moderne hier durchaus eine westliche Konnotation aufweist. Eine solche
Betrachtungsweise ist auch nicht abwegig, wenn man sich klarmacht,
vor welchem Hintergrund und unter welchen Voraussetzungen die
moderne indonesische Literatur entstanden ist.
Mitentscheidend war die Einführung eines modernen, das heißt
westlichen
Bildungssystems
durch
die
niederländische
Kolonialregierung. Dadurch kam eine einheimische Elite in Kontakt mit
modernem emanzipatorischen westlichen Denken, natürlich auch mit
westlicher Belletristik. Zu dieser Elite gehörten die meisten der ersten
modernen indonesischen Schriftsteller, und es ist deshalb auch nicht
verwunderlich, dass nicht wenige von ihnen Lehrer an Schulen des
niederländisch-westlichen Bildungssystems waren oder in anderer
Funktion für das niederländisch-indische Kolonialsystem tätig waren,
zum Beispiel für das kolonialstaatliche Verlagshaus Balai Pustaka, nach
dem sogar eine ganze Generation von Schriftstellern benannt wurde, die
sogenannte „Angkatan Balai Pustaka“, die Balai-Pustaka-Generation.
Abgesehen vom Faktor „Individualität der Autoren“, gibt es
weitere Kennzeichen der Modernität. In thematischer Hinsicht ist dies
das Entstehen eines indonesischen Nationalbewusstseins, das sich
bereits in den frühen Werken deutlich niederschlägt. Die zumeist jungen
Schriftsteller empfanden sich nicht mehr primär als Javaner,
Minangkabau, Malaiien etc., sondern als Indonesier, als Menschen einer
gemeinsamen Heimat, die sich nach einem unabhängigen Staat
Indonesien sehnten. Gleichzeitig setzte sich eine kritische Sicht auf die
traditionellen und kollektivorientierten Gesellschaften der indonesischen
Völker durch. Kritik am Adat, der Tradition, kennzeichnet die großen
Romane der 20ger Jahre, insbesondere das System der Zwangsheirat
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wird Gegenstand scharfer Kritik, zum Beispiel in dem berühmten
Roman „Siti Nurbaya“ von Marah Rusli.
In formaler Hinsicht ist die Modernität ablesbar am Bruch mit den
strengen Formen der traditionellen Literaturen. Man schreibt jetzt – nach
westlichem Vorbild – am liebsten Romane. Lyriker schreiben keinesfalls
Pantune, sie schreiben nicht selten lieber Sonette.
Ein
weiterer
in
der
Forschung
lange
vernachlässigter
Modernisierungsimpuls ging zu Anfang des 20. Jahrhunderts auch von
Indonesiern chinesischer Abstammung aus, und zwar in Form einer
malaiischen (sprich: indonesischen) Trivialliteratur, in deren Rahmen
hunderte von Romanen entstanden. Der bedeutendste sino-malaiische
Schriftseller ist der – übrigens nicht-triviale – Kwee Tek Hoay, der neben
zahlreichen gesellschaftskritischen Roman auch Schauspiele verfasste.
Zu den wichtigsten indonesischen Schriftstellern der Phase vor dem
Erreichen der staatlichen Unabhängigkeit im Jahre 1945 gehören unter
anderem:
- Amir Hamzah, der große frühverstorbene Lyriker, von dem ich
gerade ein Gedicht zitiert hatte.
- Armijn Pane (1908-1970), Verfasser des wichtigsten Romans der
indonesischen Literatur vor der Unabhängigkeit, nämlich Belenggu,
der auch in deutscher Übersetzung vorliegt, und zwar unter dem
Titel "In Fesseln" (Horlemann-Verlag). In diesem Roman schildert
der Romancier eine Dreiecksbeziehung
im urbanen Milieu
Batavias, dem heutigen Jakarta. Da Pane diese Beziehung, es geht
konkret um das außereheliche Verhältnis des männlichen
Protagonisten zu einer Sängerin, nicht moralisch verurteilt, löste
dieser Roman einen Skandal aus. Ich möchte die Lektüre dieses
Werkes sehr empfehlen.
-
Sutan Takdir Alisjahbana (1908-1995). Bei diesem Philosophen,
Linguisten, Romancier und Lyriker handelt es sich um einen der
bedeutendsten Intellektuellen, die Indonesien hervorgebracht hat.
12
Leider ist bislang keines seiner literarischen Werke in deutscher
Übersetzung erschienen.
Armijn Pane und Sutan Takdir Alisyabana sind auch deshalb sehr
bedeutend, weil sie im Jahre 1933 gemeinsam die Literaturzeitschrift
"Pujangga Baru" (Der Neue Dichter) begründeten und herausgaben. In
dieser Zeitschrift, die der zweiten Schrifstellergeneration vor der
Unabhängigkeit den Namen gab, nämlich Angkatan Pujangga Baru
(Pujangga-Baru-Generation) wurden auch die wichtigsten intellektuellen
Debatten der 30ger Jahre geführt, insbesondere die sogenannten
"Kulturpolemik" (Polemik Kebudayaan), in der es um die kulturelle
Ausrichtung des zukünftigen Indonesiens ging. Debattiert wurde
insbesondere die Frage, ob sich Indonesien an der "dynamischen und
rationalen westlichen Kultur" oder an "spirituell-kontemplativen
asiatischen Kulturen" ausrichten solle. Für die Ausrichtung am
westlichen Vorbild sprach sich vehement Sutan Takdir Alisyahbana aus,
der in diesem Zusammenhang sogar empfahl, man möge die statische
Vergangenheit tilgen und deshalb auch Bauwerke wie den
buddhistischen Borobudur-Tempel am besten abreißen, während Armin
Panes Bruder, der Dramatiker Sanusi Pane, für eine Ausrichtung an
sogenannten "östlichen" Werten plädierte. Amir Hamzah und Armijn
Pane sprachen sich für eine Synthese aus, sprachen wörtlich von einer
"Synthese aus Faust und Arjuna".
Die gerade genannten Schriftsteller stammen übrigens alle aus
Sumatra, sind Malaien (Amir Hamzah) oder Minangkabau (Pane und
Takdir). Sie sind durchaus repräsentativ, was die ethnische Herkunft der
meisten indonesischen Schriftsteller vor der Unabhängigkeit angeht.
Grund ist die Tatsache, dass ihre Muttersprache Malaiisch bzw. ein
malaiischer Dialekt war. Erst in den fünfziger Jahren schwand die
Dominanz der sumatranischen Schrifsteller, als sich immer mehr
Javaner, Sundanesen, Balinesen etc. der malaio-indonesischen Sprache
als literarisches Medium bedienten, das heißt also einer Sprache, die
nicht ihre Muttersprache war.
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Ich komme jetzt auf die postkolonialen Entwicklungen der
modernen indonesischen Literatur zu sprechen. Ich möchte dies mit
einer weiteren Gedichtrezitation einleiten, nämlich der des wohl
bekanntesten indonesischen Gedichts überhaupt, des 1943 verfassten
Gedichts "Aku" (Ich) von Chairil Anwar. In diesem nämlich kulminieren
gewissermaßen die Entwicklungen hin zur Moderne, die ich Ihnen
bereits dargelegt habe, insbesondere die Entwicklung zur Individualität
und der damit einhergehende Ausbruch aus Kollektivität. Für diese
paradigmatische Wende steht schon der für viele Indonesier durchaus
provozierende Titel des Gedichts, also Aku = Ich. Die Ablehnung des
Kollektives findet Ausdruck findet in der Zeile : Ich bin ein wildes Tier, das
verstoßen ward aus seinem Rudel. Aber hören Sie selbst: (Übersetzung BD,
in « Gebt mir Indonesien zurück !, Horlemann-Verlag)
ICH
Wenn meine letzte Stunde naht
Soll niemand mich beweinen
Auch du nicht
Wozu die Tränen und die Klagen
Ich bin ein wildes Tier
Das verstoßen ward‘ von seinem Rudel
Auch wenn Kugeln meine Haut durchbohren
Stürm‘ ich doch weiter wütend voran
Renne trotz Wunden und Gift
Renne
Bis aller Schmerz und alles Leid vergehen
Dann ist mir erst recht alles egal
Leben will ich noch tausend Jahr‘.
Chairil Anwar (1922-1949), der neben Amir Hamzah als
bedeutendster moderner Dichter gilt, hat die indonesische Literatur nicht
nur thematisch revolutioniert, er hat auch in formaler Hinsicht innovativ
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gewirkt, insbesondere durch die in seinem Werk endgültig vollzogene
Abkehr von den Vorbilder der tradionellen Dichtung. In seinem Werk
wird die malaiische Sprache modern und frei gehandhabt, sie entwickelt
sich zum modernen Indonesischen.
Chairil Anwar wird der Angkatan 45, der Generation von 1945, der
ersten postkolonialen Schrifststellergeneration zugerechnet, der auch
zwei weitere sehr bedeutende Schriftsteller angehören, nämlich die
Romanciers Mochtar Lubis und Pramoedya Ananta Toer.
Pramoedya Ananta Toer (1925-2006) ist der international
bekannteste indonesische Schriftsteller, der, so heißt es, auch mehrmals
Kandidat für den Literatur-Nobelpreis gewesen ist. Er hat meisterhafte
Romane hinterlassen, von denen eine ganze Reihe in zum Teil leider nur
mäßigen deutschen Übersetzungen vorliegen (fast alle sind beim
Horlemann-Verlag erschienen), nämlich unter anderem:
Die Familie der Partisanen
Mensch für Mensch
Die Braut des Bendoro
Garten der Menschheit.
Kind aller Völker
Spur der Schritte.
Haus aus Glas
Bei den vier letztgenannten Titeln handelt es sich um die vier
Bücher der Buru-Tetralogie, seines berühmtesten Werks, das nach der
Insel Buru benannt ist, auf der Pramoedya viele Jahre als politischer
Gefangener verbringen musste, da ihm unterstellt wurde, an dem
„Putschversuch“ des Jahres 1965 mitgewirkt zu haben, für das die
Soeharto-Regierung die kommunistische Partei (PKI) verantwortlich
machte. Seine bitteren Erfahrungen als Gefangener hat Pramoedya in
autobiographischen Aufzeichnungen verarbeitet, die ebenfalls in
deutscher Sprache vorliegen: Stilles Lied eines Stummen. Aufzeichnungen
aus Buru.
Die Lektüre der Romane von Praemodya sind ein Muss für jeden
Indonesien-Interessierten, denn bei diesen handelt es sich um eine
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tiefgründige literarische Auseinandersetzungen mit indonesischer
Geschichte und Gesellschaft.
Dasselbe gilt für Mochtar Lubis (1922-2004), den anderen großen
Romancier der „Generation von 1945“, der zudem auch einer der
bedeutendsten Journalisten Indonesiens war. Auch von ihm liegen
einige Romane in deutscher Übersetzung vor, nämlich:
Dämmerung in Jakarta
Tiger, Tiger!
Straße ohne Ende
Im Bezug auf Pramoedya und Mochtar Lubis ist sicherlich
erwähnenswert, dass Mochtar Lubis im Jahre 1995 dem ihm im Jahre
1959 verliehenen internationalen Magsaysay-Preis zurückgab, und zwar
als Protest gegen die Verleihung desselben Preises an Pramoedya, die
1995 erfolgte. Als Grund für seine spektakuläre Handlungsweise gab er
an, dass er nicht damit einverstanden sei, dass Pramoedya als jemand,
der jahrelang die Meinung und künstlerische Freiheit anderer
unterdrückt habe, diese Auszeichnung erhalte.
Dieser Vorfall deutet an, dass die literarische Szene in Indonesien von
heftigen ideologischen Auseinandersetzungen gekennzeichnet war, und
das gilt insbesondere für die Zeit bis 1965/66. Diese Auseinandersetzung
verlief zwischen dem Lager der sogenannten „Universalen
Humanisten“ auf der einen und den „Sozialistischen Realisten“ auf der
anderen Seite.
Pramoedya stand im Lager der „Sozialistischen Realisten“, das in
ideologischer Nähe zur kommunistischen Partei Indonesiens, der PKI,
stand. Die „Universalen Humanisten“ wiederum wandten sich gegen
jede ideologische Bevormundung von Kunst und Literatur und waren
überwiegend „Anti-Kommunisten“. Ab Beginn der sechziger Jahre und
spätesten nach der Proklamation eines antikommunistischen
„Kulturmanifests“ gerieten sie unter dem Druck der immer mächtigeren
PKI in eine schwierige, ja sogar gefährliche Lage, wurden mit
Berufsverboten belegt oder auf sonstige Weise mundtot gemacht.
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Pramoedya war zumindest einer der geistigen Mittäter, da er sich an der
Hetze gegen die „universalen Humanisten“ aktiv beteiligte.
Die Auseinandersetzung zwischen „sozialistischen Realisten“ und
„Universalen Humanisten“ fand in den Jahren 1965/66 ein blutiges
Ende, und zwar in Form der brutalen Niederschlagung des
Kommunismus, bei der Hunderttausende Menschen ermordet wurden.
Zehntausende gerieten für Jahre in politische Gefangenschaft, darunter
viele linke Künstler und Schriftsteller, wie z.B. Pramoedya Ananta Toer.
Die literarische Linke war somit für Jahrzehnte ausgeschaltet.
Die politische Wende der Jahre 1965/66, also die Entmachtung des
linksgerichteten Präsidenten Sukarno und die Etablierung der
sogenannten „Neuen Ordnung“ unter Soeharto, hat in der Literatur zu
einem Schub von Innovationen geführt, die in Zeiten der Dominanz des
rigiden und unpluralistischen sozialistischen Realismus nicht möglich
war. Es etablierte sich die sogenannte Generation von 1966, deren
bedeutendste Vertreter ich Ihnen im folgenden nennen möchte, und
zwar verbunden mit Hinweisen auf vorliegende Übersetzungen ins
Deutsche:
Im Bereich der Prosa, also des Romans und der Kurzgeschichte, die
in Indonesien ein sehr populäres Genre ist, sind insbesondere folgende
Autoren zu nennen:
- der aus Sumatra stammende Iwan Simatupang (1928-1970),
- die Javaner Budi Darma (*1937) und Danarto (*1940),
- der Balinese Putu Wijaya (*1944), der auch als Dramatiker große
Bedeutung hat.
Leider liegen die Romane dieser vier Autoren noch nicht in
deutscher Übersetzung vor. Einen Eindruck von ihrer Prosa kann man
sich bislang nur durch die Lektüre ihrer Kurzgeschichten machen, von
denen deutsche Übersetzungen u.a. in der Zeitschrift „Orientierungen
Zeitschrift zur Kultur Asiens“ enthalten sind.
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Die vier genannten Autoren entwickelten eine sich auch am
nouveau roman orientierende Ästhetik, entdeckten das Groteske und
Absurde, zum Teil – insbesondere bei Danarto – unter Bezugnahme auf
die javanische Mystik. Ihre Werke spiegeln zum Teil einen Trend der
modernen indonesischen Literatur der siebziger Jahre wider, der
dadurch gekennzeichnet war, dass eine introspektiv auf das Individuum
ausgerichtete Sichtweise dominierte und in deren Rahmen
gesellschaftspolitische oder gar ideologische Themen immer mehr in den
Hintergrund traten. Dominantes Thema war die „condition humaine“.
Dasselbe galt für die Lyrik, zu deren Innovation ab 1966
insbesondere folgende Dichter beitrugen:
1) Sutardji Calzoum Bahri (*1942), der mit seinen sprachmagischmystischen, am malaiischen Mantra orientierten Texten, die teilweise an
den Dadaismus erinnern, sehr viele Nachahmer bzw. Imitatoren fand.
2) Sapardi Djoko Damono. Der 1940 geborene Sapardi, der auch
einer der bedeutendsten Literaturwissenschaftler Indonesiens ist, hat
durch sein umfangreiches lyrisches Werk bis in die Gegenwart größten
Einfluss auf die indonesische Lyrik, insbesondere auf deren prosaischen
Charakter.
3) Subagio Sastrowardoyo (1924-1995), für den insbesondere
komtemplativ-philosophische Gedichte charakteristisch sind.
4) Taufiq Ismail (*1935), einer der produktivsten indonesischen
Lyriker, der in den Jahren 1965/66 mit politischen Protestgedichten
bekannt wurde, dann aber experimentelle, zum Teil „absurde“ Gedichte
verfasste, um dann später – und zwar bis heute – insbesondere religiöse,
das heißt islamische inspirierte Gedichte verfasste.
5) Goenawan Mohamad (*1941): Dieser einflussreiche Lyriker
zählt zu den zu bedeutendsten indonesischen Intellektuellen, ist auch
journalistisch tätig gewesen, z.B. als Mitbegründer des Nachrichtenmagazins Tempo ist. Dort veröffentlicht er seit Jahrzehnten literarische
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Essays, von denen eine Auswahl in leider unzureichender deutscher
Übersetzung erschienen ist, und zwar unter dem Titel Am Rande bemerkt.
Die kurzen Informationen, die Ihnen hier zu diesen Lyrikern geben
kann, sind natürlich nicht allzu ergiebig. Einige ihrer Gedichte liegen
aber bereits in deutscher Übersetzung vor, so dass Sie sich durch eigene
Lektüre einen Eindruck verschaffen können. Ich verweise in diesem
Zusammenhang auch auf die Anthologie moderner indonesischer Lyrik
„Sprachfeuer“ die demnächst bei Regiospectra/Berlin erscheinen wird.
Die Tatsache, dass die indonesische Belletristik der siebziger und
achtziger Jahre, zumindest was die Publikationen angeht, sich in einem
auffälligen Maße von Politik- und Gesellschaftskritik fernhält, muss
sicherlich im Zusammenhang mit dem autoritären Herrschaftssystem
der sogenannten Neuen Ordnung unter Suharto gesehen werden, das
von Zensur sowie Einschüchterung kritischer Stimmen gekennzeichnet
war.
Allerdings gab es eine prominente Ausnahme, nämlich den neben
Pramoedya Ananta Toer wohl bedeutendsten indonesischen
Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, nämlich den Lyriker und Dramatiker
Rendra (1935-2009), der – wie es heißt – ebenfalls mehrere Male
Kandidat für den Literaturnobelpreis gewesen ist. Rendra war nicht nur
ein großer Schriftsteller, er war auch ein politischer Aktivist, der in
seinen Werken scharfe Kritik am System der Neuen Ordnung übte und
deshalb auch mehrere Male verhaftet wurde. Auszüge aus seinem
lyrischen Werk liegen in deutscher Übersetzung vor, und zwar unter
dem programmatischen Titel Weltliche Gesänge und Pamphlete.
*
Wir nähern uns nun der literarischen Gegenwart Indonesiens. Für diese
ist eine Entwicklung relevant, die seit Beginn der 80ger Jahre deutlich zu
beobachten ist und häufig als „Islamisierung“ Indonesiens bezeichnet
wird. In Indonesien wird seit einigen Jahren auch eine Sastra Islami, eine
islamische Belletristik propagiert, die durchaus missionarischen
Charakter hat. Eine Protagonistin dieser „Bewegung“ ist die
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Schriftstellerin Helvy Tiana Rosa (*1970), die 1997 überdies ein
literarisches Netzwerk (Forum Lingkar Pena) gegründet hat, das Tausende
Mitglieder hat (und zwar überwiegend junge Schriftstellerinnen) und in
fast allen indonesischen Provinzen vertreten ist. Die Sastra Islami (also
die islamische Belletristik) ist äußerst erfolgreich, hunderte von Büchern
erschienen in den letzten Jahren, darunter einige nationale Bestseller.
Dies ist auf jeden Fall ein wichtiges literarisches Phänomen, das ich hier
leider nur am Rande streifen kann. Problematisch erscheint – aus meiner
persönlichen Sicht – die mangelnde literarische Qualität insbesondere
der Prosawerke der Sastra Islami, bei denen es sich zu häufig um triviale
und didaktische Erbauungsliteratur handelt. Anders verhält es sich mit
der Lyrik, insbesondere der sogenannten Puisi Sufi, der islamischsufistischen Lyrik, die an eine jahrhundertlange Tradition anknüpft, die
schon bei dem eingangs genannten Hamzah Fansuri im 16. Jahrhundert
sichtbar ist, sich bei Amir Hamzah in den 30ger Jahren forsetzt, und in
den 80ger Jahren insbesondere in der Lyrik von Abdul Hadi WM (*1946)
einen neuen Höhepunkt erreicht. Eines seiner Gedichte, sicherlich eines
der schönsten indonesischen Sufi-Gedichte überhaupt möchte ich Ihnen
vorlesen: (Übersetzung BD, aus „Gebt mir Indonesien zurück!“)
Herr, wir sind uns so nah
Herr.
Wir sind uns so nah.
Nah wie die Glut dem Feuer.
Ich bin deines Feuers Glut.
Herr.
Wir sind uns so nah.
Nah wie der Stoff dem Gewand.
Ich bin deines Gewandes Stoff.
Herr.
Wir sind uns so nah.
Nah wie der Wind seiner Richtung.
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Wir sind uns so nah.
Und in der Finsternis
bin ich das Licht
deiner Fackel, die verloschen ist.
(1976)
Bevor ich abschließend zur literarischen Gegenwart komme, sei
auf drei große indonesische Romanciers hingewiesen, deren in den 80ger
und 90ger Jahren erschienene Romane auch in deutscher Übersetzung
vorliegen.
1) Y.B. Mangunwijaya (1929-1999): Dieser dem Jesuitenorden
angehörende Schriftsteller legte 1981 den Roman "Burung-burung
Manyar" (Die Webervögel) vor, der als sein bedeutendstes Werk gilt. Am
Beispiel
des
Protagonisten,
eines
Indonesiers,
der
im
Unabhängigkeitskampf auf Seiten der Niederländer steht, setzt sich
dieser historische Roman auch mit der Frage indonesischer Idendität
auseinander.
2) Ahmad Tohari (*1948). Dieser Romancier veröffentlichte 1982
einen Roman bzw. eine Romantrilogie, die aus meiner Sicht zu den
besten Prosawerken der modernen indonesischen Literatur zählt und
sich auch mit den großen Romanen Pramoedya Anata Toers messen
kann. Es handelt sich um die Trilogie Ronggeng Dukuh Paruh (Die
Tänzerin aus Paruh). Erst zwei der drei Bände liegen - zudem in leider
nur mäßiger deutscher Übersetzung - vor, sie erschienen bei Horlemann
unter den Titeln Die Tänzerin von Dukuh Paruk und Komet in der
Dämmerung. In der Trilogie geht es um das tragische Schicksal eines
javanischen Dorfes, dessen als Kommunisten verdächtigte Bewohner
Opfer der Gewaltorgie der Jahre 1965/66 werden. Die Lektüre dieses vor
einigen Jahren auch verfilmten Meisterwerks möchte ich sehr empfehlen.
Es ist zu hoffen, dass demnächst eine Neu- bzw. Gesamtübersetzung der
Trilogie erarbeitet wird.
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3) Umar Kayam (1930-2002). Der wichtigste Roman dieses Autoren
erschien 1992 unter dem Titel "Para Priyayi", in deutscher Übersetzung
liegt er unter dem Titel "Ein Hauch von Macht" vor. Dieses auch aus
soziologischer Perspektive sehr interessante Werk liefert ein Sittenbild
der javanischer Gesellschaft, insbesondere ihrer Oberschicht, den
Priyayi, und ist ebenfalls Pflichtlektüre für jeden IndonesienInteressierten.
Was die 90ger Jahre angeht, so sei auch auf einen weiteren
bedeutenden Prosa-Autor hingewiesen, nämlich Seno Gumira Ajidarma
(*1958), der insbesondere das Genre der Kurzgeschichte bereichert hat.
Einige seiner lesenswerten Kurzgeschichten sind in der Zeitschrift
"Orientierungen" in deutscher Übersetzung erschienen, darunter auch
solche aus seinen wichtigen Sammlungen "Penembak Misterius"
(Anonyme Todesschützen), 1993, und "Saksi Mata" (Der Augenzeuge),
1994, in denen er sich kritisch mit Repression und auch der Ost-TimorProblematik beschäftigt.
*
Der
nächste
große
Einschnitt
in
der
indonesischen
Gegenwartsgeschichte war die politische Wende des Jahres 1998, also
der Sturz Suhartos, das Ende der autoritären "Neuen Ordnung", der
Beginn der "Reformasi“-Ära bzw. die damit einhergehende
Demokratisierung.
Für Kultur, Kunst und natürlich auch für die Literatur bedeutete
diese Wende den Wegfall staatlicher Zensur und die Gelegenheit, fortan
jegliches Thema frei und kritisch zu behandeln. Es lag nahe, dass nun
auch eine literarische Abrechnung mit dem Suharto-System erfolgte,
nicht zuletzt von linksorientierten Schriftstellern, die mehr als 30 Jahre
lang zum Schweigen verurteilt waren. Gleiches gilt für das liberale
Lager, dem eine der wichtigsten Figuren der zeitgenössischen
indonesischen Literatur zuzurechnen ist, nämlich die 1968 geborene Ayu
Utami. Diese legte 1998 einen Aufsehen erregenden Roman vor, Saman,
dessen deutsche Übersetzung unter demselben Titel vorliegt. Darin geht
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es um Missstände des Suharto-Systems, insbesondere um Ausbeutung
der Landbevölkerung, aber gleichzeitig auch – und das ist besonders
wichtig – um Enttabuisierung von Sexualität sowie um feministische
Anliegen. Was dies angeht, so gilt Ayu Utami als wichtigere
Wegbereiterin.
Ayu Utami ist auch einer der vielen Belege dafür, dass weibliche
Stimmen in der indonesischen Gegenwartsliteratur immer deutlicher
vernehmbar sind. Ein weitere Beispiel im Bereich der Prosa ist Laksmi
Pamuntjak (*1971), die den aus meiner Sicht besten indonesischen
Roman der letzten Jahre verfasst hat, nämlich den 2012 erschienenen
Bestseller "Amba", der die Lebensgeschichte der gleichnamigen
Protagonistin schildert, und zwar vor dem Hintergrund der
Kommunistenhatz der Jahre 65/66 und dem Schicksal der
kommunistischen Strafgefangenen in den Lagern auf der berühmtberüchtigten Insel Buru. Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, dass
eine deutsche Übersetzung dieses großartigen Romans demnächst beim
Ullstein-Verlag erscheinen wird.
Die bedeutendste weibliche Stimme der indonesischen Lyrik ist
sicherlich Dorothea Rosa Herliany (*1962). Eine Auswahl ihrer
Gedichte, in denen die Situation indonesischer Frauen ein dominantes
Thema ist, liegt in deutscher Übersetzung vor, und zwar unter dem Titel
"Schenk mir alles, was die Männer nicht besitzen".
Eines dieser Gedichte möchte ich Ihnen nicht vorenthalten, Ihnen
zumindest die letzte Strophe vorlesen:
Vermählung, scharf wie ein Messer
mich hat es verschlagen, ich weiß nicht wohin.
ich drehe mich im Kreise, wie in einem Labyrinth.
endlos lange Reise, ohne Karte, ohne Plan.
und diese Dunkelheit ist die vollkommenste.
ich ertaste den Pfad zwischen
Abhang und Fluss.
ein Seufzen, wie ein Lied. aus meinem Mund
vielleicht. ich hör ein Klagen, es klingt wie
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eine Melodie. aus meinem Mund vielleicht.
doch dies ist das Land, dessen Anderssein
vollkommen ist: dein Körper ist mit Maden übersät.
das stört mich nicht. bis ich ein Ende setze
meiner Lust am Koitus, bevor ein Ende
ich auch dir bereite: ein Messer
stech ich in dein Herz, dein Glied
zerfetze ich, in tiefstem Schmerz.
Seit kurzem muss Rosa Herliany auch als bedeutende Prosaautorin
wahrgenommen werden, denn vor einigen Monaten erschien ihr
großartiger Roman mit dem Titel Isinga - Roman Papua erscheinen. In
diesem Werk, das ich bereits lesen durfte, setzt sich Rosa Herliany –
insbesondere am Beispiel der Isinga, der Frauen und Mütter Papuas –
mit Leben und Leiden der indigenen melanesischen Bevölkerung in der
indonesischen Provinz Papua auseinander. Es ist davon auszugehen,
dass dieser Roman in Indonesien die öffentliche Diskussion über die
Papua-Politik der indonesischen Regierung befeuern wird.
Zum Ende meiner Ausführungen möchte ich Ihnen noch ein
weiteres Gedicht vorstellen, und zwar eines der führenden
zeitgenössischen indonesischen Dichter, nämlich Agus R. Sarjono
(*1962), von dem unter dem Titel "Frische Knochen aus Banyuwangi"
ebenfalls eine Gedichtsammlung in deutscher Sprache vorliegt.
Dieses Gedicht mag manche von Ihnen überraschen, es trägt
nämlich den Titel Paul Celan, und hat natürlich diesen großen Lyriker
deutscher Sprache zum Gegenstand. Ich lese Ihnen einen Teil des
Gedichts vor, das repräsentativ dafür ist, dass indonesische Schriftsteller
sich intensiv mit Weltliteratur auseinander setzen, sich in Dialog und
Auseinandersetzung mit dieser begeben:
Paul Celan
Im blutenden Herz der Geschichte
stieß ich auf Paul Celan. Er lehrte die Mutter
der Zeit und auch die Saat der Nacht zu gehen. Doch
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hemmte die Zeit und die Nacht eine Flut schwarzer Milch.
Darin trieben leidvoll die Leichen von Frauen
mit aschenem Haar. Die Schärfe jener Axt,
das ist der Herzog der Leere!
Der vermählt den güldenen Tod mit liebenden Lippen,
die Leiche der Lust mit der Gruft allen Lachens,
die schlanken Hüften des Leids mit roten Wangen des Lebens,
er flicht sie zu Paaren,
so wie er das verwebt, was nicht dein Aug,
was auch nicht meines, auch nicht seines,
er fügt’s aneinander im Flechtwerk des wehenden Tuches,
das düster ist, dunkel wie Mohn
und Gedächtnis.
Was lässt sich abschließend sagen? Natürlich muss ich Sie in erster
Linie um Verständnis dafür bitten, dass meine Ausführungen von
ungeheurer Oberflächlichkeit gekennzeichnet sind. Zu viele Werke
wurden nicht genannt, zu viele Namen wichtiger Schriftstellerinnen und
Schriftsteller wurden verschwiegen. Ich hoffe aber, dass Sie dennoch
eine Vorstellung von indonesischen Literaturen und Moderner
Indonesischer Literatur entwickeln konnten, und nun auch
nachvollziehen können, dass Indonesien in der Tat eine literarische
Schatzkammer ist.
Allein in der modernen indonesischen Literatur, so bin ich mir
sicher, spiegelt sich Indonesien, spiegelt sich auch seine Identität wider,
die man als Synthese aus Animismus, Hinduismus, Islam und westlicher
Moderne definieren könnte. Charakteristisch für Indonesien ist ja ein
Synkretismus, und Sie können dies in vielen einzelnen Werken der
Literatur, und zumindest in der Literatur als Ganzem spüren. Es ist ein
faszinierender Synkretismus, der dort zum Ausdruck kommt, und es ist
ein grundsätzlich von großer Toleranz gekennzeichneter, wobei dies ja
für indonesische Mentalität und Kultur insgesamt gilt.
In diesem Jahr, auf der Frankfurter Buchmesse, wird der Ehrengast
Indonesien sich, seine Kultur und insbesondere sein Literatur sicherlich
auch in diesem Sinne präsentieren. Und auch unter Beweis stellen, dass
indonesische Kultur nicht nur traditionell und exotisch ist, keinesfalls
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nur durch Tanzkunst, Gamelanmusik und Schattenspiel beeindruckt,
sondern seit langer Zeit schriftsprachliche Literaturen von Weltrang
hervorgebracht hat, und seit mehr als hundert Jahren auch eine moderne
Schriftkultur besitzt.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
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