Indonesien: eine literarische Schatzkammer
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Indonesien: eine literarische Schatzkammer
Indonesien: eine literarische Schatzkammer „Indonesische Literaturen“ und „Moderne Indonesische Literatur“ (Vortrag von Berthold Damshäuser, Universität Bonn) Abstract: Indonesien ist eine literarische Schatzkammer. Es verfügt über vielfältige Literaturen in mehr als hundert verschiedenen Sprachen. Neben mündlich tradierten existieren bedeutende schriftsprachliche klassische Literaturen, zum Beispiel die malaiische sowie die javanische, deren Werken zum Teil weltliterarischer Rang zugestanden werden kann. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist in Indonesien eine moderne in malaio-indonesischer Sprache verfasste Nationalliteratur entstanden, die insbesondere auf dem Gebiet der Lyrik und der erzählende Prosa Meisterwerke hervorgebracht hat. Der Vortrag von Berthold Damshäuser (Universität Bonn) liefert eine Einführung in die literarische Vielfalt Indonesiens von der Vergangenheit bis hin zur Gegenwart. Im Anschluss an den Vortrag besteht Gelegenheit zu Fragen bzw. zu einer Diskussion, auch im Zusammenhang mit Indonesiens Rolle als Ehrengast der Frankfurter Buchmesse im Jahr 2015. ©Berthold Damshäuser Bei Zitaten aus diesem Vortrag muss auf die Quelle hingewiesen werden, also auf: Indonesien: eine literarische Schatzkammer – „Indonesische Literaturen“ und „Moderne Indonesische Literatur“, Vortrag von Berthold Damshäuser, gehalten in der indonesischen Botschaft in Berlin im Januar 2015. Rückfragen an: damshaeuser@t-online.de BERTHOLD DAMSHÄUSER (*1957) lehrt seit 1986 indonesische Sprache und Literatur an der Universität Bonn. Herausgeber von „Orientierungen – Zeitschrift zur Kultur Asiens” und Anthologien moderner indonesischer Lyrik, u.a. von „Gebt mir Indonesien zurück!” (1994). Gemeinsam mit Agus R. Sarjono Herausgeber und Übersetzer der „Seri Puisi Jerman” (Reihe deutscher Lyrik in indonesischer Übersetzung, gemeinsam mit Agus R. Sarjono) Redakteur des indonesischen Literaturmagazins Jurnal Sajak. Mitglied des Nationalen Indonesischen Komitees zur Vorbereitung des indonesischen Auftritts als Ehrengast der Frankfurter Buchmesse 2015. Bei Regiospectra erschien kürzlich das von ihm mitherausgegebene Buch „Wege nach – und mit – Indonesien“. Weitere neue und bevorstehende Publikationen: Zeitgenössische indonesische Lyrik, deutschsprachiges Sonderheft des indonesischen Lyrikmagazins Jurnal Sajak, Jakarta 2015, 2) Denny J.A.: „Das Taschentuch der Fang Yin“, aus dem Indonesischen von Berthold Damshäuser (ein Multimedia-Langgedicht), Jakarta 2015, 3) Sprachfeuer. Eine Anthologie moderner indonesischer Lyrik, Regiospectra-Verlag Berlin Website: http://www.ioa.uni-bonn.de/abteilungen/suedostasienwissenschaft/personen/damshaeuser 1 Indonesien: eine literarische Schatzkammer „Indonesische Literaturen“ und „Moderne Indonesische Literatur“ (Berthold Damshäuser, Universität Bonn) Das Thema meines Vortrags „Indonesien: eine literarische Schatzkammer – „Indonesische Literaturen“ und „Moderne Indonesische Literatur“ ist äußerst umfangreich, und kann in den maximal 45 Minuten, die mir gewährt sind, natürlich nur sehr oberflächlich behandelt werden kann. Mein Vortrag kann nicht mehr sein als eine Einführung, die sich insbesondere an Zuhörer richtet, die noch nichts oder nur sehr wenig über indonesische Literatur bzw. Literaturen wissen. Und das gilt ja für fast alle Nicht-Indonesisten in Deutschland, ja selbst für viele sogenannte Indonesien-Kenner. Die indonesische Belletristik ist eine terra incognita, was sich hoffentlich spätestens im nächsten Jahr ändern wird, wenn Indonesien, der Ehrengast der Frankfurter Buchmesse 2015, sich als Literaturnation und – so bezeichne ich es – als „literarische Schatzkammer“ präsentieren wird. Im Zusammenhang mit den indonesischen Literaturen ist es angebracht, den Begriff „indonesisch“ nicht im politisch-administrativen Sinne zu verstehen, sondern kulturhistorisch. Er verweist dann auf die ethnische und sprachliche Einheit der Völker des indonesischen (früher: malaiischen) Archipels bzw. des malaio-indonesischen Raums, und zwar unter Einschluss der malaiischen Halbinsel bzw. des heutigen Malaysias. Die sprachliche und ethnische Vielfalt des malaio-indonesischen Raums (es gibt dort hunderte verschiedener Völker und Sprachen) ist der Grund dafür, dass von indonesischen Literaturen zu sprechen ist. 2 Analog zur Anzahl der Sprachen und Ethnien gibt es hunderte verschiedener Literaturen. Zu unterscheiden ist zwischen den mündlichen tradierten Literaturen aller indonesischen Völker und den schriftlich fixierten Literaturen der indonesischen Hochkulturen, deren Zahl sich ungefähr auf ein Dutzend beziffern lässt. Die schriftlich fixierten Literaturen der Hochkulturen sind entstanden unter dem Einfluss der indischen Kultur und anschließend unter dem Einfluss des Islams bzw. der arabisch-persischen Kultur. Die bedeutendendsten schriftlich fixierten Literaturen sind: 1) die vorwiegend hinduistisch geprägte javanische Literatur und 2) die vorwiegend islamisch geprägte malaiische Literatur, also die klassischen Literaturen der bedeutendsten indonesischen Kulturvölker, nämlich der Malaien und Javaner, die in malaiischer bzw. javanischer Sprache verfasst wurden. Die hinduistisch-javanische Literaturgeschichte hat ihren Beginn im 10. Jahrhundert nach Christus. Schlussfolgerung daraus: bereits seit über 1.000 Jahren existiert in Indonesien eine schriftlich fixierte Belletristik. Die klassische javanische Literatur, die unterteilt werden kann in die altjavanische Literatur (bis zum 14. Jahrhundert) und die daran anschließende neujavanische Literatur, ist vor dem Hintergrund der ab der Zeitenwende erfolgten Indisierung großer Teile des indonesischen Archipels, insbesondere Javas, erfolgt. Sie ist fixiert in javanischer Schrift, einer Variation der indischen Pallava-Schrift. Diese Literatur ist überaus reich und vielfältig, alle literarischen Genres sind vertreten: Lyrik, Epos, Drama. Nicht wenige Werke können zur Weltliteratur gezählt werden, darunter die Adaptionen der indischen Epen Ramayana und Mahabharata, wie z.B. das vom Dichter Mpu Kanwa im Jahre 1035 abgeschlossene Versepos Arjunawiwaha. 3 Ein weiteres Meisterwerk (aus dem 14. Jahrhundert) ist das Epos Nagara Kertagama über die Geschichte des javanischen Großreiches Majapahit, verfasst von Prapanca. Zu nennen wäre auch das Serat Kalatidha (Eine düstere Zeit) des berühmten Ronggowarsito (1802 bis 1873), einem metrisch strukturierten Langgedicht, in welchem der Dichter, der am Hofe des Sultans von Surakarta lebte und schuf, scharfe Kritik an dem subjektiv beobachteten Sittenverfall seiner Zeit übte. Die klassische javanische Literatur hat großen Einfluss auf Nachbarvölker gehabt (also Sundanesen und Balinesen), aber auch überregionalen Einfluss, z.B. durch die Geschichten über den Ritter Panji, die bis nach Thailand und Kambodscha gedrungen sind. Obwohl sie heute erstarrt ist, lebt die javanische Literatur noch fort, insbesondere im javanischen Schattenspieltheater (wayang kulit). Die Figuren und Helden der hinduistisch-javanischen Epen (z.B. Rama, Sita, Arjuna) sind noch heute fast jedem Javaner wohlbekannt. Die andere bedeutende schriftlich fixierte Literatur ist, wie gesagt, die malaiische Literatur, zu der ich mich etwas ausführlicher äußern werde, da es sich bei dieser zumindest in sprachlicher Hinsicht um den Vorläufer dessen handelt, was wir als „Moderne Indonesische Literatur“ bezeichnen. Die malaiische Literatur erlebte in der Zeit vom 16. bis 19. Jahrhundert eine Phase, die heute als klassisch bezeichnet wird. Unter dem Einfluss des Islam sowie der arabisch-persischen Kultur, entstand eine in arabischer Schrift fixierte Literatur, die Werke von weltliterarischem Rang hervorgebracht hat. Zu nennen sind insbesondere die zum Ende des 15. Jahrhunderts entstandene „Sejarah Melayu“ (Die malaiische Chronik), eine Prosadichtung über die malaiische Geschichte, sowie die Hikayat Hang Tuah, die Geschichte über den malaiischen Helden Hang Tuah, die Anfang des 17. Jahrhunderts entstanden ist. Beide Werke liegen in der hervorragenden deutschen Übersetzung des Malaiologen Hans Overbeck vor. Es besteht 4 also, anders als bei der klassischen javanischen Literatur, deren Werke noch nahezu überhaupt nicht in literarischer deutscher Übersetzung vorliegen, die Gelegenheit, sich durch eigene Lektüre davon zu überzeugen, dass der malaiischen Literatur weltliterarischer Rang zugeschrieben werden kann. Einen Beitrag zur Weltliteratur stellt die ursprünglich gesungene malaiische Gedichtform Pantun dar. Zwar kann ein Pantun aus beliebig vielen Strophen bestehen, doch das klassische besteht nur aus einer vierzeiligen Strophe, wobei die ersten beiden Zeilen (sampiran) ein Bild aus der Natur beinhalten, während die folgenden beiden Zeilen (isi oder maksud) ein menschliches Gefühl zum Ausdruck bringen. Beide Zeilenpaare sind durch parallele Lautfolgen oder Satzstrukturen miteinander verbunden. Die Parallelität von sachlicher Naturdarstellung und Gefühlsausdruck wurde zum Prinzip der Pantun-Tradition. Folgendes Beispiel einer deutschen Übersetzung macht dies deutlich: Bald Regen fällt, bald Sonne scheint; Es lächelt einst, wer jetzo weint. Der deutsche Dichter Adelbert von Chamisso (1781-1838) hat das Pantun im deutschen Sprachraum bekannt gemacht, insbesondere durch seine 1822 veröffentlichte Gedichtsammlung In Malaiischer Form, in der er sich an speziellen, jeweils 5 Strophen umfassenden Formen des malaiischen Pantuns orientierte. Chamisso ist keinesfalls der einzige deutsche Dichter, der sich dem Pantun zuwandte. Im 20. Jahrhundert hat z.B. Oskar Pastior (1927-2006) zahlreiche Pantune verfasst. Und heute gibt es eine Website www.pantun.de , ein Forum deutscher Pantun-Liebhaber, mit hunderten von Pantunen in deutscher Sprache. 5 Auch in Frankreich hat das Pantun viele Bewunderer gefunden, zu den Dichtern, die selbst Pantune verfasst haben, gehören Victor Hugo, Charles Baudelaire und Paul Verlaine. Wie beim Pantun, so sind die meisten Verfasser der Werke der malaiischen Literatur anonym. Es gibt allerdings einige Ausnahmen, ja sogar berühmte Dichter, von denen ich Ihnen drei nennen möchte: 1) Hamzah Fansuri Dieser aus Nordsumatra stammenden Lyriker und Mystiker verfasste im 16. Jahrhundert das berühmten Syair Perahu (Das Schiff-Gedicht), das einen Höhepunkt der indonesischen Sufi-Dichtung darstellt, in der die islamische Mystik (der Sufismus) im Mittelpunkt steht. 2) Raja Ali Haji (1808-1873) Das berühmteste Werk dieses aus dem Riau-Archipel stammenden Dichters ist das Gurindam Dua Belas, ein 12 Gedichte umfassender Zyklus aus philosophisch-didaktischen Gedichten. Raja Ali Haji, der eine Art Universalgelehrter war (Theologe, Historiker, Rechtsgelehrter, zudem auch Politiker), hat sich auch als Verfasser einer Grammatik des Riau-Malaiischen verdient gemacht. Dieser malaiische Dialekt ist die Grundlage der indonesischen Sprache, weshalb Raja Ali Haji zu Recht als „Vater der indonesischen Sprache“ gilt. 3) Abdullah bin Abdul-Kadir Munsy (1797-1854) Dieser Schriftsteller indischer Abstammung, der in Singapur lebte, war der erste Autor, der sich selbst als Individuum in seine literarischen Werke einbrachte, z.B. in seiner 1849 erschienen Autobiographie Hikayat Abdullah. Er gilt als Vorläufer der indonesischen literarischen Moderne, und war ein wichtiges Vorbild für die indonesischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. 6 Neben den beiden großen schriftlich fixierten und klassischen Literaturen des malaio-indonesischen Raums, also der javanischen und malaiischen, existieren weitere solcher Literaturen. Insgesamt gibt es – wie gesagt – rund ein Dutzend schriftlich fixierter Literaturen, darunter die der Balinesen, Sundanesen, Aceher, die der Minangkabau oder auch die der Buginesen, eines Volkes in Südcelebes. Diese Buginesen haben ein Werk geschaffen, dessen in der Universitätsbibliothek Leiden aufbewahrtes Manuskript im Jahre 2011 aufgrund seiner (ich zitiere) „weltweiten Bedeutung und des außergewöhnlichen universellen Wertes“ in das UNESCO-Memory of the World-Register eingetragen wurde. Dabei handelt es sich um La Galigo, ein Epos, dessen Text etwa 300.000 Verse, etwa 6000 Seiten, umfasst, womit dieses Werk vermutlich das längste jemals verfasste literarische Werk überhaupt ist, ungefähr 20 mal so lange wie die Odyssee). Es wurde zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert von anonymen Verfassern geschrieben und erzählt ausgehend von einem Schöpfungsmythos die Abenteuer des großen Kriegers Sawerigading und seiner inzestuösen Liebe zu seiner Zwillingsschwester We Tenriabeng. La Galilo ist der Name eines weiteren Protagonisten. Der amerikanische Regisseur Robert Wilson hat im Jahr 2004 eine Bühnenumsetzung von La Galigo, geschaffen. Ich denke, dass sich aufgrund der bisherigen Ausführungen durchaus nachvollziehen lässt, warum ich Indonesien als „literarische Schatzkammer“ bezeichne. Dass dies bei uns nicht hinlänglich bekannt ist, hat seinen Grund sicherlich auch darin, dass nur wenige Werke der klassischen indonesischen Literaturen in poetischen deutschen Übertragungen vorliegen. Das meiste liegt nur in philologischen von Wissenschaftlern angefertigten Übersetzungen vor. Die indonesischen Literaturen hatten bislang nicht das Glück der chinesischen, arabischen oder indischen Literatur, auch von Dichtern oder dichterisch begabten Personen übersetzt zu werden. Die Übertragungen von Hans Overbeck, die ich nannte, gehören zu den wenigen Ausnahmen. 7 * Heute sind die mündlich tradierten, aber auch die schriftlich fixierten klassischen Literaturen erstarrt und stehen im Schatten der indonesischen Gegenwartsliteratur, die nahezu ausschließlich in der indonesischen Nationalsprache (Bahasa Indonesia) verfasst wird. Literatur in anderen Sprachen, den sogenannten Regionalsprachen, wird fast nicht mehr geschrieben. Ausnahmen sind das Sundanesische, Javanische und Balinesische, die in Ansätzen eine regionalsprachliche moderne Literatur entwickelt haben. Der Begriff „Moderne Indonesische Literatur“ ist deshalb zu Recht wie folgt definiert: Es handelt sich um „indonesische“ Literatur primär in dem Sinne, dass sie in malaiischer Sprache verfasst ist. Malaiisch? Ja, denn – bei der „Bahasa Indonesia“ (übersetzbar als „die Sprache – in Klammern: des Staates – Indonesien“) handelt es sich – wie bereits angedeut - um die malaiische Sprache, die seit vielen Jahrhunderten als lingua franca des indonesischen Archipels das interethnische Kommunikationsmedium gewesen ist und deshalb auch Amtssprache des niederländischen Kolonialstaates wurde. Im Jahre 1928 – im Rahmen des berühmten „Eids der Jungen Generation“ (Sumpah Pemuda) wurde das Malaiische zur Nationalsprache eines zukünftigen und unabhängigen Staates Indonesien proklamiert, und fortan als „Bahasa Indonesia“ bezeichnet. Dies ist also ein politischer Begriff, denn linguistisch betrachtet handelt es sich nach wie vor um das Malaiische, das übrigens auch Nationalsprache des Staates Malaysia ist, und dort als „Bahasa Melayu“ oder „Bahasa Malaysia“ (Sprache Malaysias) bezeichnet wird. Und folglich sind (zumindest) linguistisch betrachtet sind sowohl die „moderne indonesische Literatur“ als auch die „Moderne Malaysische Literatur“ eine Fortführung der traditionellen bzw. klassischen malaiischen Literatur. 8 Bevor wir uns der Frage zuwenden, worin nun die „Modernität“ dessen besteht, was als „Moderne Indonesische Literatur“ bezeichnet wird, möchte ich Ihnen gerne ein berühmtes Gedicht in malaiischindonesischer Sprache vorlesen, damit sie einen Eindruck von der klanglichen Schönheit und Musikalität dieser Sprache erhalten, die man früher auch als das „Italienisch des Osten“ bezeichnet hat. Es handelt sich um ein Gedicht eines der größten indonesischen Lyrikers, nämlich Amir Hamzah (1911-1946). Naik-naik Membubung badanku, melambung, mengawan Naik, naik, tipis-rampis, kudus-halus Melayang-terbang, mengembang-kembang Menyerupa-rupa merona-warni langit-lazwardi. Bertiup badai merentak topan Larikan daku hembuskan badan Tepukkan daku ke puncak tinggi Rangkitkan daku ke lengkung pelangi …. Tenang-tenang anginku sayang Tinggalkan badan di lengkung benang Reda(n)-reda(n) badaiku dalam Ulikkan sepoi sunyikan dendam. Biarkan daku tinggal di sini Sentosa diriku di sunyi sepi Tiada berharap tiada meminta Jauh dunia di sisi dewa. In deutscher Übersetzung klingt das wie folgt: (übersetzt von BD, in: „Orientierungen – Zeitschrift zur Kultur Asien“ 1/1995) 9 Immer höher Mein Körper schwebt empor zum Firmament Immer höher, fein und zart, heilig-hehr Fliegend und webend, fließend und schwebend Dem azurnen Himmel gleich Winde wehen und Orkane wüten Reißen mich fort und werfen mich zu Boden Schleudern mich auf hohe Gipfel Hängen mich hoch oben an den Regenbogen … Haltet ein, ihr lieben Winde Lasst auf diesem Bogen meinen Körper rasten Halt ein, du Sturm in meinem Inneren Wieg mich in den Schlaf und still mein Sehnen Lasst mich hier bleiben Friedvoll und in stiller Einsamkeit Ohne Wünsche, ohne Fragen Der Welt entrückt, den Göttern nah. Was ist nun „modern“ an der indonesischen Literatur, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden ist, oder – anders gefragt: worin unterscheidet sie sich von den traditionellen bzw. klassischen Literaturen. Das radikal Neue, also das Moderne, wird deutlich durch den Gegensatz zu den traditionellen Literaturen Indonesiens, die wesentlich dadurch gekennzeichnet waren, dass 1) Die Persönlichkeit des Autors hinter dem Text verschwand, sowie durch 2) eine Vermischung von fiktionalen Texten und Sachtexten, z. B. historischen, 3) einen stark didaktischen Charakter, insbesondere auch im religiösen Kontext. 10 Insofern weisen die traditionellen Literaturen durchaus manche Ähnlichkeiten mit der europäischen Literatur des Mittelalters auf. Die modernen indonesischen Dichter erlaubten sich nun, als sich vom Kollektiv lösende Individuen mit den Zwängen der Tradition zu brechen, und es ist vielleicht nicht völlig übertrieben, wenn man dies als einen Sprung aus dem „Mittelalter“ in die „Moderne“ bezeichnet, wobei Moderne hier durchaus eine westliche Konnotation aufweist. Eine solche Betrachtungsweise ist auch nicht abwegig, wenn man sich klarmacht, vor welchem Hintergrund und unter welchen Voraussetzungen die moderne indonesische Literatur entstanden ist. Mitentscheidend war die Einführung eines modernen, das heißt westlichen Bildungssystems durch die niederländische Kolonialregierung. Dadurch kam eine einheimische Elite in Kontakt mit modernem emanzipatorischen westlichen Denken, natürlich auch mit westlicher Belletristik. Zu dieser Elite gehörten die meisten der ersten modernen indonesischen Schriftsteller, und es ist deshalb auch nicht verwunderlich, dass nicht wenige von ihnen Lehrer an Schulen des niederländisch-westlichen Bildungssystems waren oder in anderer Funktion für das niederländisch-indische Kolonialsystem tätig waren, zum Beispiel für das kolonialstaatliche Verlagshaus Balai Pustaka, nach dem sogar eine ganze Generation von Schriftstellern benannt wurde, die sogenannte „Angkatan Balai Pustaka“, die Balai-Pustaka-Generation. Abgesehen vom Faktor „Individualität der Autoren“, gibt es weitere Kennzeichen der Modernität. In thematischer Hinsicht ist dies das Entstehen eines indonesischen Nationalbewusstseins, das sich bereits in den frühen Werken deutlich niederschlägt. Die zumeist jungen Schriftsteller empfanden sich nicht mehr primär als Javaner, Minangkabau, Malaiien etc., sondern als Indonesier, als Menschen einer gemeinsamen Heimat, die sich nach einem unabhängigen Staat Indonesien sehnten. Gleichzeitig setzte sich eine kritische Sicht auf die traditionellen und kollektivorientierten Gesellschaften der indonesischen Völker durch. Kritik am Adat, der Tradition, kennzeichnet die großen Romane der 20ger Jahre, insbesondere das System der Zwangsheirat 11 wird Gegenstand scharfer Kritik, zum Beispiel in dem berühmten Roman „Siti Nurbaya“ von Marah Rusli. In formaler Hinsicht ist die Modernität ablesbar am Bruch mit den strengen Formen der traditionellen Literaturen. Man schreibt jetzt – nach westlichem Vorbild – am liebsten Romane. Lyriker schreiben keinesfalls Pantune, sie schreiben nicht selten lieber Sonette. Ein weiterer in der Forschung lange vernachlässigter Modernisierungsimpuls ging zu Anfang des 20. Jahrhunderts auch von Indonesiern chinesischer Abstammung aus, und zwar in Form einer malaiischen (sprich: indonesischen) Trivialliteratur, in deren Rahmen hunderte von Romanen entstanden. Der bedeutendste sino-malaiische Schriftseller ist der – übrigens nicht-triviale – Kwee Tek Hoay, der neben zahlreichen gesellschaftskritischen Roman auch Schauspiele verfasste. Zu den wichtigsten indonesischen Schriftstellern der Phase vor dem Erreichen der staatlichen Unabhängigkeit im Jahre 1945 gehören unter anderem: - Amir Hamzah, der große frühverstorbene Lyriker, von dem ich gerade ein Gedicht zitiert hatte. - Armijn Pane (1908-1970), Verfasser des wichtigsten Romans der indonesischen Literatur vor der Unabhängigkeit, nämlich Belenggu, der auch in deutscher Übersetzung vorliegt, und zwar unter dem Titel "In Fesseln" (Horlemann-Verlag). In diesem Roman schildert der Romancier eine Dreiecksbeziehung im urbanen Milieu Batavias, dem heutigen Jakarta. Da Pane diese Beziehung, es geht konkret um das außereheliche Verhältnis des männlichen Protagonisten zu einer Sängerin, nicht moralisch verurteilt, löste dieser Roman einen Skandal aus. Ich möchte die Lektüre dieses Werkes sehr empfehlen. - Sutan Takdir Alisjahbana (1908-1995). Bei diesem Philosophen, Linguisten, Romancier und Lyriker handelt es sich um einen der bedeutendsten Intellektuellen, die Indonesien hervorgebracht hat. 12 Leider ist bislang keines seiner literarischen Werke in deutscher Übersetzung erschienen. Armijn Pane und Sutan Takdir Alisyabana sind auch deshalb sehr bedeutend, weil sie im Jahre 1933 gemeinsam die Literaturzeitschrift "Pujangga Baru" (Der Neue Dichter) begründeten und herausgaben. In dieser Zeitschrift, die der zweiten Schrifstellergeneration vor der Unabhängigkeit den Namen gab, nämlich Angkatan Pujangga Baru (Pujangga-Baru-Generation) wurden auch die wichtigsten intellektuellen Debatten der 30ger Jahre geführt, insbesondere die sogenannten "Kulturpolemik" (Polemik Kebudayaan), in der es um die kulturelle Ausrichtung des zukünftigen Indonesiens ging. Debattiert wurde insbesondere die Frage, ob sich Indonesien an der "dynamischen und rationalen westlichen Kultur" oder an "spirituell-kontemplativen asiatischen Kulturen" ausrichten solle. Für die Ausrichtung am westlichen Vorbild sprach sich vehement Sutan Takdir Alisyahbana aus, der in diesem Zusammenhang sogar empfahl, man möge die statische Vergangenheit tilgen und deshalb auch Bauwerke wie den buddhistischen Borobudur-Tempel am besten abreißen, während Armin Panes Bruder, der Dramatiker Sanusi Pane, für eine Ausrichtung an sogenannten "östlichen" Werten plädierte. Amir Hamzah und Armijn Pane sprachen sich für eine Synthese aus, sprachen wörtlich von einer "Synthese aus Faust und Arjuna". Die gerade genannten Schriftsteller stammen übrigens alle aus Sumatra, sind Malaien (Amir Hamzah) oder Minangkabau (Pane und Takdir). Sie sind durchaus repräsentativ, was die ethnische Herkunft der meisten indonesischen Schriftsteller vor der Unabhängigkeit angeht. Grund ist die Tatsache, dass ihre Muttersprache Malaiisch bzw. ein malaiischer Dialekt war. Erst in den fünfziger Jahren schwand die Dominanz der sumatranischen Schrifsteller, als sich immer mehr Javaner, Sundanesen, Balinesen etc. der malaio-indonesischen Sprache als literarisches Medium bedienten, das heißt also einer Sprache, die nicht ihre Muttersprache war. 13 Ich komme jetzt auf die postkolonialen Entwicklungen der modernen indonesischen Literatur zu sprechen. Ich möchte dies mit einer weiteren Gedichtrezitation einleiten, nämlich der des wohl bekanntesten indonesischen Gedichts überhaupt, des 1943 verfassten Gedichts "Aku" (Ich) von Chairil Anwar. In diesem nämlich kulminieren gewissermaßen die Entwicklungen hin zur Moderne, die ich Ihnen bereits dargelegt habe, insbesondere die Entwicklung zur Individualität und der damit einhergehende Ausbruch aus Kollektivität. Für diese paradigmatische Wende steht schon der für viele Indonesier durchaus provozierende Titel des Gedichts, also Aku = Ich. Die Ablehnung des Kollektives findet Ausdruck findet in der Zeile : Ich bin ein wildes Tier, das verstoßen ward aus seinem Rudel. Aber hören Sie selbst: (Übersetzung BD, in « Gebt mir Indonesien zurück !, Horlemann-Verlag) ICH Wenn meine letzte Stunde naht Soll niemand mich beweinen Auch du nicht Wozu die Tränen und die Klagen Ich bin ein wildes Tier Das verstoßen ward‘ von seinem Rudel Auch wenn Kugeln meine Haut durchbohren Stürm‘ ich doch weiter wütend voran Renne trotz Wunden und Gift Renne Bis aller Schmerz und alles Leid vergehen Dann ist mir erst recht alles egal Leben will ich noch tausend Jahr‘. Chairil Anwar (1922-1949), der neben Amir Hamzah als bedeutendster moderner Dichter gilt, hat die indonesische Literatur nicht nur thematisch revolutioniert, er hat auch in formaler Hinsicht innovativ 14 gewirkt, insbesondere durch die in seinem Werk endgültig vollzogene Abkehr von den Vorbilder der tradionellen Dichtung. In seinem Werk wird die malaiische Sprache modern und frei gehandhabt, sie entwickelt sich zum modernen Indonesischen. Chairil Anwar wird der Angkatan 45, der Generation von 1945, der ersten postkolonialen Schrifststellergeneration zugerechnet, der auch zwei weitere sehr bedeutende Schriftsteller angehören, nämlich die Romanciers Mochtar Lubis und Pramoedya Ananta Toer. Pramoedya Ananta Toer (1925-2006) ist der international bekannteste indonesische Schriftsteller, der, so heißt es, auch mehrmals Kandidat für den Literatur-Nobelpreis gewesen ist. Er hat meisterhafte Romane hinterlassen, von denen eine ganze Reihe in zum Teil leider nur mäßigen deutschen Übersetzungen vorliegen (fast alle sind beim Horlemann-Verlag erschienen), nämlich unter anderem: Die Familie der Partisanen Mensch für Mensch Die Braut des Bendoro Garten der Menschheit. Kind aller Völker Spur der Schritte. Haus aus Glas Bei den vier letztgenannten Titeln handelt es sich um die vier Bücher der Buru-Tetralogie, seines berühmtesten Werks, das nach der Insel Buru benannt ist, auf der Pramoedya viele Jahre als politischer Gefangener verbringen musste, da ihm unterstellt wurde, an dem „Putschversuch“ des Jahres 1965 mitgewirkt zu haben, für das die Soeharto-Regierung die kommunistische Partei (PKI) verantwortlich machte. Seine bitteren Erfahrungen als Gefangener hat Pramoedya in autobiographischen Aufzeichnungen verarbeitet, die ebenfalls in deutscher Sprache vorliegen: Stilles Lied eines Stummen. Aufzeichnungen aus Buru. Die Lektüre der Romane von Praemodya sind ein Muss für jeden Indonesien-Interessierten, denn bei diesen handelt es sich um eine 15 tiefgründige literarische Auseinandersetzungen mit indonesischer Geschichte und Gesellschaft. Dasselbe gilt für Mochtar Lubis (1922-2004), den anderen großen Romancier der „Generation von 1945“, der zudem auch einer der bedeutendsten Journalisten Indonesiens war. Auch von ihm liegen einige Romane in deutscher Übersetzung vor, nämlich: Dämmerung in Jakarta Tiger, Tiger! Straße ohne Ende Im Bezug auf Pramoedya und Mochtar Lubis ist sicherlich erwähnenswert, dass Mochtar Lubis im Jahre 1995 dem ihm im Jahre 1959 verliehenen internationalen Magsaysay-Preis zurückgab, und zwar als Protest gegen die Verleihung desselben Preises an Pramoedya, die 1995 erfolgte. Als Grund für seine spektakuläre Handlungsweise gab er an, dass er nicht damit einverstanden sei, dass Pramoedya als jemand, der jahrelang die Meinung und künstlerische Freiheit anderer unterdrückt habe, diese Auszeichnung erhalte. Dieser Vorfall deutet an, dass die literarische Szene in Indonesien von heftigen ideologischen Auseinandersetzungen gekennzeichnet war, und das gilt insbesondere für die Zeit bis 1965/66. Diese Auseinandersetzung verlief zwischen dem Lager der sogenannten „Universalen Humanisten“ auf der einen und den „Sozialistischen Realisten“ auf der anderen Seite. Pramoedya stand im Lager der „Sozialistischen Realisten“, das in ideologischer Nähe zur kommunistischen Partei Indonesiens, der PKI, stand. Die „Universalen Humanisten“ wiederum wandten sich gegen jede ideologische Bevormundung von Kunst und Literatur und waren überwiegend „Anti-Kommunisten“. Ab Beginn der sechziger Jahre und spätesten nach der Proklamation eines antikommunistischen „Kulturmanifests“ gerieten sie unter dem Druck der immer mächtigeren PKI in eine schwierige, ja sogar gefährliche Lage, wurden mit Berufsverboten belegt oder auf sonstige Weise mundtot gemacht. 16 Pramoedya war zumindest einer der geistigen Mittäter, da er sich an der Hetze gegen die „universalen Humanisten“ aktiv beteiligte. Die Auseinandersetzung zwischen „sozialistischen Realisten“ und „Universalen Humanisten“ fand in den Jahren 1965/66 ein blutiges Ende, und zwar in Form der brutalen Niederschlagung des Kommunismus, bei der Hunderttausende Menschen ermordet wurden. Zehntausende gerieten für Jahre in politische Gefangenschaft, darunter viele linke Künstler und Schriftsteller, wie z.B. Pramoedya Ananta Toer. Die literarische Linke war somit für Jahrzehnte ausgeschaltet. Die politische Wende der Jahre 1965/66, also die Entmachtung des linksgerichteten Präsidenten Sukarno und die Etablierung der sogenannten „Neuen Ordnung“ unter Soeharto, hat in der Literatur zu einem Schub von Innovationen geführt, die in Zeiten der Dominanz des rigiden und unpluralistischen sozialistischen Realismus nicht möglich war. Es etablierte sich die sogenannte Generation von 1966, deren bedeutendste Vertreter ich Ihnen im folgenden nennen möchte, und zwar verbunden mit Hinweisen auf vorliegende Übersetzungen ins Deutsche: Im Bereich der Prosa, also des Romans und der Kurzgeschichte, die in Indonesien ein sehr populäres Genre ist, sind insbesondere folgende Autoren zu nennen: - der aus Sumatra stammende Iwan Simatupang (1928-1970), - die Javaner Budi Darma (*1937) und Danarto (*1940), - der Balinese Putu Wijaya (*1944), der auch als Dramatiker große Bedeutung hat. Leider liegen die Romane dieser vier Autoren noch nicht in deutscher Übersetzung vor. Einen Eindruck von ihrer Prosa kann man sich bislang nur durch die Lektüre ihrer Kurzgeschichten machen, von denen deutsche Übersetzungen u.a. in der Zeitschrift „Orientierungen Zeitschrift zur Kultur Asiens“ enthalten sind. 17 Die vier genannten Autoren entwickelten eine sich auch am nouveau roman orientierende Ästhetik, entdeckten das Groteske und Absurde, zum Teil – insbesondere bei Danarto – unter Bezugnahme auf die javanische Mystik. Ihre Werke spiegeln zum Teil einen Trend der modernen indonesischen Literatur der siebziger Jahre wider, der dadurch gekennzeichnet war, dass eine introspektiv auf das Individuum ausgerichtete Sichtweise dominierte und in deren Rahmen gesellschaftspolitische oder gar ideologische Themen immer mehr in den Hintergrund traten. Dominantes Thema war die „condition humaine“. Dasselbe galt für die Lyrik, zu deren Innovation ab 1966 insbesondere folgende Dichter beitrugen: 1) Sutardji Calzoum Bahri (*1942), der mit seinen sprachmagischmystischen, am malaiischen Mantra orientierten Texten, die teilweise an den Dadaismus erinnern, sehr viele Nachahmer bzw. Imitatoren fand. 2) Sapardi Djoko Damono. Der 1940 geborene Sapardi, der auch einer der bedeutendsten Literaturwissenschaftler Indonesiens ist, hat durch sein umfangreiches lyrisches Werk bis in die Gegenwart größten Einfluss auf die indonesische Lyrik, insbesondere auf deren prosaischen Charakter. 3) Subagio Sastrowardoyo (1924-1995), für den insbesondere komtemplativ-philosophische Gedichte charakteristisch sind. 4) Taufiq Ismail (*1935), einer der produktivsten indonesischen Lyriker, der in den Jahren 1965/66 mit politischen Protestgedichten bekannt wurde, dann aber experimentelle, zum Teil „absurde“ Gedichte verfasste, um dann später – und zwar bis heute – insbesondere religiöse, das heißt islamische inspirierte Gedichte verfasste. 5) Goenawan Mohamad (*1941): Dieser einflussreiche Lyriker zählt zu den zu bedeutendsten indonesischen Intellektuellen, ist auch journalistisch tätig gewesen, z.B. als Mitbegründer des Nachrichtenmagazins Tempo ist. Dort veröffentlicht er seit Jahrzehnten literarische 18 Essays, von denen eine Auswahl in leider unzureichender deutscher Übersetzung erschienen ist, und zwar unter dem Titel Am Rande bemerkt. Die kurzen Informationen, die Ihnen hier zu diesen Lyrikern geben kann, sind natürlich nicht allzu ergiebig. Einige ihrer Gedichte liegen aber bereits in deutscher Übersetzung vor, so dass Sie sich durch eigene Lektüre einen Eindruck verschaffen können. Ich verweise in diesem Zusammenhang auch auf die Anthologie moderner indonesischer Lyrik „Sprachfeuer“ die demnächst bei Regiospectra/Berlin erscheinen wird. Die Tatsache, dass die indonesische Belletristik der siebziger und achtziger Jahre, zumindest was die Publikationen angeht, sich in einem auffälligen Maße von Politik- und Gesellschaftskritik fernhält, muss sicherlich im Zusammenhang mit dem autoritären Herrschaftssystem der sogenannten Neuen Ordnung unter Suharto gesehen werden, das von Zensur sowie Einschüchterung kritischer Stimmen gekennzeichnet war. Allerdings gab es eine prominente Ausnahme, nämlich den neben Pramoedya Ananta Toer wohl bedeutendsten indonesischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, nämlich den Lyriker und Dramatiker Rendra (1935-2009), der – wie es heißt – ebenfalls mehrere Male Kandidat für den Literaturnobelpreis gewesen ist. Rendra war nicht nur ein großer Schriftsteller, er war auch ein politischer Aktivist, der in seinen Werken scharfe Kritik am System der Neuen Ordnung übte und deshalb auch mehrere Male verhaftet wurde. Auszüge aus seinem lyrischen Werk liegen in deutscher Übersetzung vor, und zwar unter dem programmatischen Titel Weltliche Gesänge und Pamphlete. * Wir nähern uns nun der literarischen Gegenwart Indonesiens. Für diese ist eine Entwicklung relevant, die seit Beginn der 80ger Jahre deutlich zu beobachten ist und häufig als „Islamisierung“ Indonesiens bezeichnet wird. In Indonesien wird seit einigen Jahren auch eine Sastra Islami, eine islamische Belletristik propagiert, die durchaus missionarischen Charakter hat. Eine Protagonistin dieser „Bewegung“ ist die 19 Schriftstellerin Helvy Tiana Rosa (*1970), die 1997 überdies ein literarisches Netzwerk (Forum Lingkar Pena) gegründet hat, das Tausende Mitglieder hat (und zwar überwiegend junge Schriftstellerinnen) und in fast allen indonesischen Provinzen vertreten ist. Die Sastra Islami (also die islamische Belletristik) ist äußerst erfolgreich, hunderte von Büchern erschienen in den letzten Jahren, darunter einige nationale Bestseller. Dies ist auf jeden Fall ein wichtiges literarisches Phänomen, das ich hier leider nur am Rande streifen kann. Problematisch erscheint – aus meiner persönlichen Sicht – die mangelnde literarische Qualität insbesondere der Prosawerke der Sastra Islami, bei denen es sich zu häufig um triviale und didaktische Erbauungsliteratur handelt. Anders verhält es sich mit der Lyrik, insbesondere der sogenannten Puisi Sufi, der islamischsufistischen Lyrik, die an eine jahrhundertlange Tradition anknüpft, die schon bei dem eingangs genannten Hamzah Fansuri im 16. Jahrhundert sichtbar ist, sich bei Amir Hamzah in den 30ger Jahren forsetzt, und in den 80ger Jahren insbesondere in der Lyrik von Abdul Hadi WM (*1946) einen neuen Höhepunkt erreicht. Eines seiner Gedichte, sicherlich eines der schönsten indonesischen Sufi-Gedichte überhaupt möchte ich Ihnen vorlesen: (Übersetzung BD, aus „Gebt mir Indonesien zurück!“) Herr, wir sind uns so nah Herr. Wir sind uns so nah. Nah wie die Glut dem Feuer. Ich bin deines Feuers Glut. Herr. Wir sind uns so nah. Nah wie der Stoff dem Gewand. Ich bin deines Gewandes Stoff. Herr. Wir sind uns so nah. Nah wie der Wind seiner Richtung. 20 Wir sind uns so nah. Und in der Finsternis bin ich das Licht deiner Fackel, die verloschen ist. (1976) Bevor ich abschließend zur literarischen Gegenwart komme, sei auf drei große indonesische Romanciers hingewiesen, deren in den 80ger und 90ger Jahren erschienene Romane auch in deutscher Übersetzung vorliegen. 1) Y.B. Mangunwijaya (1929-1999): Dieser dem Jesuitenorden angehörende Schriftsteller legte 1981 den Roman "Burung-burung Manyar" (Die Webervögel) vor, der als sein bedeutendstes Werk gilt. Am Beispiel des Protagonisten, eines Indonesiers, der im Unabhängigkeitskampf auf Seiten der Niederländer steht, setzt sich dieser historische Roman auch mit der Frage indonesischer Idendität auseinander. 2) Ahmad Tohari (*1948). Dieser Romancier veröffentlichte 1982 einen Roman bzw. eine Romantrilogie, die aus meiner Sicht zu den besten Prosawerken der modernen indonesischen Literatur zählt und sich auch mit den großen Romanen Pramoedya Anata Toers messen kann. Es handelt sich um die Trilogie Ronggeng Dukuh Paruh (Die Tänzerin aus Paruh). Erst zwei der drei Bände liegen - zudem in leider nur mäßiger deutscher Übersetzung - vor, sie erschienen bei Horlemann unter den Titeln Die Tänzerin von Dukuh Paruk und Komet in der Dämmerung. In der Trilogie geht es um das tragische Schicksal eines javanischen Dorfes, dessen als Kommunisten verdächtigte Bewohner Opfer der Gewaltorgie der Jahre 1965/66 werden. Die Lektüre dieses vor einigen Jahren auch verfilmten Meisterwerks möchte ich sehr empfehlen. Es ist zu hoffen, dass demnächst eine Neu- bzw. Gesamtübersetzung der Trilogie erarbeitet wird. 21 3) Umar Kayam (1930-2002). Der wichtigste Roman dieses Autoren erschien 1992 unter dem Titel "Para Priyayi", in deutscher Übersetzung liegt er unter dem Titel "Ein Hauch von Macht" vor. Dieses auch aus soziologischer Perspektive sehr interessante Werk liefert ein Sittenbild der javanischer Gesellschaft, insbesondere ihrer Oberschicht, den Priyayi, und ist ebenfalls Pflichtlektüre für jeden IndonesienInteressierten. Was die 90ger Jahre angeht, so sei auch auf einen weiteren bedeutenden Prosa-Autor hingewiesen, nämlich Seno Gumira Ajidarma (*1958), der insbesondere das Genre der Kurzgeschichte bereichert hat. Einige seiner lesenswerten Kurzgeschichten sind in der Zeitschrift "Orientierungen" in deutscher Übersetzung erschienen, darunter auch solche aus seinen wichtigen Sammlungen "Penembak Misterius" (Anonyme Todesschützen), 1993, und "Saksi Mata" (Der Augenzeuge), 1994, in denen er sich kritisch mit Repression und auch der Ost-TimorProblematik beschäftigt. * Der nächste große Einschnitt in der indonesischen Gegenwartsgeschichte war die politische Wende des Jahres 1998, also der Sturz Suhartos, das Ende der autoritären "Neuen Ordnung", der Beginn der "Reformasi“-Ära bzw. die damit einhergehende Demokratisierung. Für Kultur, Kunst und natürlich auch für die Literatur bedeutete diese Wende den Wegfall staatlicher Zensur und die Gelegenheit, fortan jegliches Thema frei und kritisch zu behandeln. Es lag nahe, dass nun auch eine literarische Abrechnung mit dem Suharto-System erfolgte, nicht zuletzt von linksorientierten Schriftstellern, die mehr als 30 Jahre lang zum Schweigen verurteilt waren. Gleiches gilt für das liberale Lager, dem eine der wichtigsten Figuren der zeitgenössischen indonesischen Literatur zuzurechnen ist, nämlich die 1968 geborene Ayu Utami. Diese legte 1998 einen Aufsehen erregenden Roman vor, Saman, dessen deutsche Übersetzung unter demselben Titel vorliegt. Darin geht 22 es um Missstände des Suharto-Systems, insbesondere um Ausbeutung der Landbevölkerung, aber gleichzeitig auch – und das ist besonders wichtig – um Enttabuisierung von Sexualität sowie um feministische Anliegen. Was dies angeht, so gilt Ayu Utami als wichtigere Wegbereiterin. Ayu Utami ist auch einer der vielen Belege dafür, dass weibliche Stimmen in der indonesischen Gegenwartsliteratur immer deutlicher vernehmbar sind. Ein weitere Beispiel im Bereich der Prosa ist Laksmi Pamuntjak (*1971), die den aus meiner Sicht besten indonesischen Roman der letzten Jahre verfasst hat, nämlich den 2012 erschienenen Bestseller "Amba", der die Lebensgeschichte der gleichnamigen Protagonistin schildert, und zwar vor dem Hintergrund der Kommunistenhatz der Jahre 65/66 und dem Schicksal der kommunistischen Strafgefangenen in den Lagern auf der berühmtberüchtigten Insel Buru. Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, dass eine deutsche Übersetzung dieses großartigen Romans demnächst beim Ullstein-Verlag erscheinen wird. Die bedeutendste weibliche Stimme der indonesischen Lyrik ist sicherlich Dorothea Rosa Herliany (*1962). Eine Auswahl ihrer Gedichte, in denen die Situation indonesischer Frauen ein dominantes Thema ist, liegt in deutscher Übersetzung vor, und zwar unter dem Titel "Schenk mir alles, was die Männer nicht besitzen". Eines dieser Gedichte möchte ich Ihnen nicht vorenthalten, Ihnen zumindest die letzte Strophe vorlesen: Vermählung, scharf wie ein Messer mich hat es verschlagen, ich weiß nicht wohin. ich drehe mich im Kreise, wie in einem Labyrinth. endlos lange Reise, ohne Karte, ohne Plan. und diese Dunkelheit ist die vollkommenste. ich ertaste den Pfad zwischen Abhang und Fluss. ein Seufzen, wie ein Lied. aus meinem Mund vielleicht. ich hör ein Klagen, es klingt wie 23 eine Melodie. aus meinem Mund vielleicht. doch dies ist das Land, dessen Anderssein vollkommen ist: dein Körper ist mit Maden übersät. das stört mich nicht. bis ich ein Ende setze meiner Lust am Koitus, bevor ein Ende ich auch dir bereite: ein Messer stech ich in dein Herz, dein Glied zerfetze ich, in tiefstem Schmerz. Seit kurzem muss Rosa Herliany auch als bedeutende Prosaautorin wahrgenommen werden, denn vor einigen Monaten erschien ihr großartiger Roman mit dem Titel Isinga - Roman Papua erscheinen. In diesem Werk, das ich bereits lesen durfte, setzt sich Rosa Herliany – insbesondere am Beispiel der Isinga, der Frauen und Mütter Papuas – mit Leben und Leiden der indigenen melanesischen Bevölkerung in der indonesischen Provinz Papua auseinander. Es ist davon auszugehen, dass dieser Roman in Indonesien die öffentliche Diskussion über die Papua-Politik der indonesischen Regierung befeuern wird. Zum Ende meiner Ausführungen möchte ich Ihnen noch ein weiteres Gedicht vorstellen, und zwar eines der führenden zeitgenössischen indonesischen Dichter, nämlich Agus R. Sarjono (*1962), von dem unter dem Titel "Frische Knochen aus Banyuwangi" ebenfalls eine Gedichtsammlung in deutscher Sprache vorliegt. Dieses Gedicht mag manche von Ihnen überraschen, es trägt nämlich den Titel Paul Celan, und hat natürlich diesen großen Lyriker deutscher Sprache zum Gegenstand. Ich lese Ihnen einen Teil des Gedichts vor, das repräsentativ dafür ist, dass indonesische Schriftsteller sich intensiv mit Weltliteratur auseinander setzen, sich in Dialog und Auseinandersetzung mit dieser begeben: Paul Celan Im blutenden Herz der Geschichte stieß ich auf Paul Celan. Er lehrte die Mutter der Zeit und auch die Saat der Nacht zu gehen. Doch 24 hemmte die Zeit und die Nacht eine Flut schwarzer Milch. Darin trieben leidvoll die Leichen von Frauen mit aschenem Haar. Die Schärfe jener Axt, das ist der Herzog der Leere! Der vermählt den güldenen Tod mit liebenden Lippen, die Leiche der Lust mit der Gruft allen Lachens, die schlanken Hüften des Leids mit roten Wangen des Lebens, er flicht sie zu Paaren, so wie er das verwebt, was nicht dein Aug, was auch nicht meines, auch nicht seines, er fügt’s aneinander im Flechtwerk des wehenden Tuches, das düster ist, dunkel wie Mohn und Gedächtnis. Was lässt sich abschließend sagen? Natürlich muss ich Sie in erster Linie um Verständnis dafür bitten, dass meine Ausführungen von ungeheurer Oberflächlichkeit gekennzeichnet sind. Zu viele Werke wurden nicht genannt, zu viele Namen wichtiger Schriftstellerinnen und Schriftsteller wurden verschwiegen. Ich hoffe aber, dass Sie dennoch eine Vorstellung von indonesischen Literaturen und Moderner Indonesischer Literatur entwickeln konnten, und nun auch nachvollziehen können, dass Indonesien in der Tat eine literarische Schatzkammer ist. Allein in der modernen indonesischen Literatur, so bin ich mir sicher, spiegelt sich Indonesien, spiegelt sich auch seine Identität wider, die man als Synthese aus Animismus, Hinduismus, Islam und westlicher Moderne definieren könnte. Charakteristisch für Indonesien ist ja ein Synkretismus, und Sie können dies in vielen einzelnen Werken der Literatur, und zumindest in der Literatur als Ganzem spüren. Es ist ein faszinierender Synkretismus, der dort zum Ausdruck kommt, und es ist ein grundsätzlich von großer Toleranz gekennzeichneter, wobei dies ja für indonesische Mentalität und Kultur insgesamt gilt. In diesem Jahr, auf der Frankfurter Buchmesse, wird der Ehrengast Indonesien sich, seine Kultur und insbesondere sein Literatur sicherlich auch in diesem Sinne präsentieren. Und auch unter Beweis stellen, dass indonesische Kultur nicht nur traditionell und exotisch ist, keinesfalls 25 nur durch Tanzkunst, Gamelanmusik und Schattenspiel beeindruckt, sondern seit langer Zeit schriftsprachliche Literaturen von Weltrang hervorgebracht hat, und seit mehr als hundert Jahren auch eine moderne Schriftkultur besitzt. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! 26