6. Die Frageform der Sprache als Leitprinzip des hermeneutischen

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6. Die Frageform der Sprache als Leitprinzip des hermeneutischen
6. Die Frageform der Sprache als Leitprinzip des hermeneutischen Ansatzes
Literatur ist die Frageform der Sprache. Sie wird deshalb zentrale Sprachlehre im hermeneutischen
Fremdsprachen-/Zweitsprachunterricht, weil ihr Appell vielfach sprachlicher Lehre und sprachlichem Lernen hilfreich wird: Sie spricht als Einzelstimme zum Einzelnen (vgl. Rollenanrede in der
traditionellen Sprachlehre); sie evoziert, braucht und erweitert das sprachliche Vorwissen des Lernenden permanent; sie bildet den Doppelcharakter der Sprache als Medium und Ausdruck vorbildhaft ab (der kommunikative Ansatz reduziert Sprache meistens auf Mitteilungscharakter); sie
provoziert und unterstützt zugleich den kreativen Umgang des einzelnen Lerners mit gelernter Sprache; sie ruft im Klassendialog durch ihre Leerstellen die unterschiedlichen Kompetenzen des einzelnen Lerners selbstverständlich auf und sie wirkt so auf alle zentralen Bereiche und Methoden
der Sprachlehre in eigener Weise unterstützend ein.
Dieser Zusammenhang wird dann erst eigentlich deutlich, wenn man sich traditionelle Verständnisse von Sprachlehre in Erinnerung ruft, die bis heute – sei es nun den einzelnen Lehrenden bewusst oder nicht – auf den Zweitsprachunterricht einwirken. Die Konnotationen, die sich
im Laufe der Geschichte sowohl dem Begriff »Literatur« als auch dem Verständnis von »Sprachlehre« beigefügt haben, machen es schwierig, die sprachlehrende Funktion der Literatur im hermeneutisch orientierten Zweitsprachunterricht sofort in all ihrer Bedeutung zu erkennen. Das liegt
daran, dass sich in der geschichtlichen Entwicklung des Fremdsprachunterrichts das Verständnis
von Sprachlehre ständig gewandelt hat: Die jeweils herrschende Auffassung davon, wie man überhaupt Sprache erwirbt, hat immer dazu geführt, dass sich auch die Sprachlehrmethode entsprechend veränderte. Zwar war Sprachlehre darüber hinaus noch von verschiedenen anderen
Bedingungsfaktoren abhängig (wie z. B. von gesellschaftlichen Veränderungen), für unseren Zusammenhang ist es aber vor allem wichtig, die eigene Relation von Spracherwerbstheorie und
Sprachlehrmethode zu erkennen.
Sprachlehre
i
Der Begriff Sprachlehre wird in den gängigen Nachschlagewerken als Synonym für
➡ Grammatik verwendet und bedeutet daher auch Sprachunterricht.
Die Sprachlehre, d. h. die Vermittlung einer Sprache auf der Basis von bestimmten methodisch-didaktischen Verfahren, wird beeinflusst und geprägt durch die Ergebnisse einer
Reihe von Bezugswissenschaften, wie z. B. Sprachwissenschaft, Psychologie, Pädagogik,
Gesellschaftswissenschaften usw. Neue Erkenntnisse in diesen Wissenschaften bewirken
Veränderungen sowohl in der Didaktik als auch in der Methodik des Sprachunterrichts.
Im Fremdsprachenunterricht zeigen sich im Laufe des 20. Jahrhunderts verschiedene
Sprachlehrmethoden, von denen drei den Fremdsprachenunterricht in Europa entscheidend bestimmt haben: die Grammatik-Übersetzungs-Methode aus dem 19. Jahrhundert, die
audiolinguale Methode aus den 50er und 60er Jahren und der kommunikative Ansatz aus
den 70er und 80er Jahren (vgl. Methoden).
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6.1 Die Frageform der Sprache in Beispielen
Im Übergang von dem seit ungefähr 30 Jahren herrschenden kommunikativen Ansatz der Fremdsprachenlehre zur hermeneutisch orientierten Sprachlehre sind anfängliche Blockaden und Schwierigkeiten normal. Hier wollen die folgenden Beispiele helfen:
Beispiel 1
Literatur im etablierten und im hermeneutisch orientierten Unterricht
Am Beispiel der Kurzgeschichte Das Brot von Wolfgang Borchert zeigen wir im Folgenden eine
Gegenüberstellung des etablierten Literaturunterrichts und der hermeneutisch orientierten Literatur
als Sprachlehre.
Wir entnehmen das oben genannte Beispiel der Literaturgeschichte Im Laufe der Zeit von A.
Frassinetti, M. Raimondi und L. D’Angelo (Principato 1997). Nach dem Text mit 19 Fußnoten zu
Vokabeln und deren italienischer Übersetzung sowie einer Abbildung der »Tagesration eines Normalverbrauchers im Sommer 1947« bietet das Lehrbuch folgende Arbeitsanweisungen:
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Etablierter Literaturunterricht nach
Im Laufe der Zeit
Hermeneutischer Ansatz
Text mit Überschrift und Entstehungsdatum
Text ohne Überschrift und Entstehungsdatum:
Die Lernenden sollen frei und offen an den
Text herangehen können und nicht durch
diese Angaben voreingenommen sein.
Vorentlastung des Textes durch Übersetzung
von Vokabeln
Keine aus der Perspektive der Autoren/Lehrenden ausgewählten Vokabeln mit Übersetzung/Erklärung, sondern nur Text:
Verständnisfragen werden entweder im Sinne
der Addition der unterschiedlichen Kompetenzen gemeinsam oder durch Einbringen der entsprechenden Kompetenzen/Schlüsselqualifikationen geklärt.
Verständniskontrolle:
Keine Fragen des Lehrenden, die auf Grund
ihrer Formulierungen Verständnis und Interpretation schon vorbestimmen (vgl. z. B. die
Frage: Wie reagiert die Frau auf seine Lüge?),
sondern Text als Impuls – Warten auf Schülerreaktionen
Acht Fragen (wo, wer, warum, was, wie)
Textanalyse:
Anweisung, die Geschichte in drei Abschnitte
zu unterteilen
Aufforderung, Informationen zu den Lebensbedingungen des Ehepaars zu sammeln
Keine Anweisungen und Arbeitsaufträge, die
willkürlich die Textanalyse auf Aspekte einengen, die aus der Perspektive von Lehrenden
bzw. Lehrbuchautoren vorbestimmt worden
sind (vgl. z. B. Hinweis auf drei Abschnitte)
Von den Reaktionen der Lernenden ausgehen:
Die Lernenden bestimmen die Beschäftigung
mit Aspekten des Textes, die aus ihrer Perspektive interessant erscheinen, die sie persönlich ansprechen.
Der Lehrende fungiert als Moderator, der die
verschiedenen Beiträge ordnet, Zwischenbilanz zieht und schülerorientiert den Dialog
über den Text/die Texte lenkt.
Weitere Impulse als Steuerung, Materialienvielfalt, Dialog zwischen Texten
In der Aufgabenstellung Bezeichnung des Textes als Kurzgeschichte
Die literarische Gattung wird nicht vom Lehrenden vorgegeben, sondern je nach Interesse
und Lernzielbestimmung an geeigneter Stelle
erarbeitet.
Textinterpretation:
Schüler stellen selbst Fragen an den Text (Literatur als Frageform der Sprache)
Im Dialog zwischen Text und Lesern (➡ Addition der unterschiedlichen Kompetenzen) werden diese Fragen diskutiert.
Stark gelenkte Vorinterpretation durch die Formulierungen der Fragen (z. B. Sowohl der
Mann als auch die Frau lügen oder Welche Gefühle verraten die Gesten und die Worte …)
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Stil- und Sprachanalyse:
Stark gelenkte Stil- und Sprachbetrachtung am
Ende der Beschäftigung mit dem Text:
Die Lernenden werden regelrecht auf sprachliche und stilistische Phänomene gestoßen, die
größtenteils losgelöst vom Inhalt untersucht
werden sollen und die Lernenden an einigen
Stellen wohl überfordern.
Stil- und Sprachbetrachtung auf der Basis der
Schülerreaktionen während des gesamten
Lernprozesses und immer im Zusammenhang
mit der persönlichen Stellungnahme zum Text
Nutzung des literarischen Textes für Spracharbeit und Einsicht in Sprache (Literatur als
Sprachlehre)
Beispiel 2 aus der Praxis
Rainer Maria Rilke
Der Panther
Im Jardin des Plantes, Paris
Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, daß er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.
Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.
Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille und hört im Herzen auf zu sein.
Praxisbericht:
1. SCHRITT (2 Stunden)
Ich habe den SchülerInnen den Text ausgeteilt, allerdings ohne den Titel anzugeben. Wir haben
den Text zusammen gelesen. Nachdem alle sprachlichen Schwierigkeiten gelöst worden waren,
haben die SchülerInnen einfach nur ihre ersten Eindrücke geäußert. Vor allem haben sie sich vorgestellt, wer die Hauptfigur sein könnte. Einige haben bald verstanden, dass es ein Tier sein müsste, und haben sich also mit seinem Innenleben beschäftigt. Andere haben hingegen das Gedicht
auf Menschen bezogen, z. B. auf einen jüdischen Deportierten in einem Güterzug.
Dann habe ich ihnen die Aufgabe gegeben, dem Text einen Titel zu geben; einige SchülerInnen haben ihre Wahl begründet, wobei es eine weitere Auseinandersetzung mit dem Text gegeben hat.
Mit diesen ersten Schritten wollte ich den SchülerInnen die Möglichkeit geben, einen persönlichen Zugang zum Text zu finden, indem sie Hypothesen aufstellen und mit ihrer Fantasie und
mit ihren Emotionen frei arbeiten.
Am Ende der zwei Stunden habe ich ihnen dann den Originaltitel und den Titel der Sammlung (»Neue Gedichte») gesagt.
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2. SCHRITT (2 Stunden)
Die SchülerInnen bekamen als weitere Information zum Text den Namen des Dichters. In dieser
Phase haben einige SchülerInnen Fragen gestellt über das Jahr, in dem das Gedicht geschrieben
wurde, und den Ort, d. h. Paris, was ja für eine intensivere Lektüre des Textes wesentlich ist.
Eine Schülerin äußerte die Bemerkung, dass das Gedicht ungefähr in der gleichen Zeit wie der
Impressionismus geschrieben wurde, und hat gefragt, ob Rilke diese Kunstbewegung gekannt hat.
Da habe ich ihnen von der Freundschaft zwischen Rilke und dem Bildhauer Rodin erzählt. Einige
SchülerInnen wussten schon ziemlich viel von diesem Künstler und haben darüber berichtet.
Nun wollte ich die SchülerInnen dazu führen, einen weiteren Schritt im Sinne der hermeneutischen Spirale zu machen und den Text aus der Perspektive der eben erworbenen Kenntnisse noch
einmal zu lesen (Hausaufgabe).
3. SCHRITT (1 Stunde)
Nachdem die SchülerInnen zu Hause die Möglichkeit gehabt hatten, sich noch einmal mit dem Text
zu befassen, haben wir zusammen in der Klasse den Text wiederum besprochen, ihn auf die Situation des Menschen bezogen. Als allerletzten Schritt haben wir dieses Gedicht mit den Skulpturen
von Rodin verglichen.
4. SCHRITT
Die SchülerInnen haben mit meiner Hilfe entschieden, was für einen schriftlichen Text sie verfassen wollten, wobei z. B. folgende Vorschläge gemacht wurden: Kommentar, Dialog zwischen Rilke
und Rodin im »Jardin des Plantes«, Rezension einer Ausstellung, wo Skulpturen von Rodin zu sehen
waren und Texte von Rilke vorgelesen wurden, Plakat etc.
Der Text wurde von den SchülerInnen zu Hause geschrieben und in der Klasse redigiert.
Fazit:
Dadurch, dass die Schüler immer weitere Informationen bekommen haben (voneinander, von der
Lehrenden, vom Text selbst), haben sie das Gedicht immer wieder neu und anders gelesen. Sie
haben verstanden, dass es nicht nur EINE Interpretation gibt, denn sie haben
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andere Interpretationen kennengelernt und zugelassen,
das eigene Urteil hinterfragt,
zu sich selbst Distanz genommen,
auf keine definitive Deutung hingearbeitet,
eine Vielfalt von Materialien benutzt: Gedicht, Zusatzinformationen, Skulpturen/Kataloge von
Rodin, Angaben zur Freundschaft zwischen Rilke und Rodin, Bilder – Impressionismus,
• Interpretationen aus der Sekundärliteratur, aber auch Zusatzinformationen selbst gefunden (dafür
entsprechende Materialien bereitstellen).
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Beispiel 3 aus der Praxis
Günther Eich
Inventur
Dies ist meine Mütze,
dies ist mein Mantel,
hier mein Rasierzeug
im Beutel aus Leinen.
so dient es als Kissen
nachts meinem Kopf.
Die Pappe hier liegt
zwischen mir und der Erde.
Konservenbüchse:
mein Teller, mein Becher,
ich hab in das Weißblech
den Namen geritzt.
Die Bleistiftmine
lieb ich am meisten:
Tags schreibt sie mir Verse,
die nachts ich erdacht.
Geritzt hier mit diesem
kostbaren Nagel,
den vor begehrlichen
Augen ich berge.
Dies ist mein Notizbuch,
dies meine Zeltbahn,
dies ist mein Handtuch,
dies ist mein Zwirn.
Im Brotbeutel sind
ein Paar wollene Socken
und einiges, was ich
niemand verrate,
• Das Gedicht – in Teile zerschnitten – wird von den Schülern in Kleingruppen zusammengesetzt:
Jede Gruppe erstellt ein zusammenhängendes Gedicht und begründet die Reihenfolge.
• Zentrale Frage der Schüler: Wer ist das lyrische ICH?
• Fast alle denken an einen Clochard, bis jemand auf den Bleistift stößt: Aussteiger, Schriftsteller;
dann »Tornister«: also könnte es ein Soldat im Krieg sein.
• Gespräch über Aussteiger, z. B. Hippies
• Gespräch über Krieg
• Schüler wollen Informationen über »die Stunde Null«.
Beispiel 4 aus der Praxis
Peter Handke
Was ich nicht bin, nicht habe, nicht will, nicht möchte – und was ich möchte, was ich habe
und was ich bin
(Satzbiografie)
Was ich NICHT bin:
Ich bin kein Spielverderber
Ich bin kein Kostverächter
Ich bin kein Kind von Traurigkeit.
Was ich ERSTENS, ZWEITENS und
DRITTENS nicht bin:
Ich bin erstens kein Träumer, zweitens kein
Einsiedler und drittens kein Bewohner des
Elfenbeinturms.
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Was ICH nicht bin:
ICH bin kein Stimmvieh.
Was ich LEIDER nicht bin:
Ich bin leider kein Held
Ich bin leider kein Millionär.
Was ich GOTTSEIDANK nicht bin:
Ich bin gottseidank kein Automat
Ich bin gottseidank keiner, mit dem man
machen kann, was man will.
Was ich SCHLIESSLICH nicht bin:
Ich bin schließlich kein Hampelmann
Ich bin schließlich kein Irrenwärter
Ich bin schließlich kein Müllabladeplatz
Ich bin schließlich kein Wohltätigkeitsverein
Ich bin schließlich kein Seelentröster
Ich bin schließlich keine Kreditanstalt
Ich bin schließlich nicht euer Fußabstreifer
Ich bin schließlich kein Auskunftsbüro.
Was ich ZWAR nicht bin, ABER AUCH nicht bin:
Ich bin zwar kein Feigling, aber auch kein
Lebensmüder
Ich bin zwar kein Verächter des Fortschritts aber
auch kein Anbeter alles Neuen
Ich bin zwar kein Militarist, aber auch kein
Verfechter eines faulen Friedens
Ich bin zwar kein Anhänger von Gewalt,
aber auch kein Prügelknabe
Ich bin zwar kein Schwarzseher, aber auch kein
blauäugiger Utopist.
Was ich WEDER NOCH bin:
Ich bin weder ein Nationalist noch ein
Gleichmacher
Ich bin weder ein Anbeter der Diktatur noch ein
Verteidiger einer falsch verstandenen
Demokratie.
…
(HANDKE 1975:23 f.)
Beispiele von Schülerarbeiten: Kommentar von Elena und Laura im Vergleich:
Laura versucht in der traditionellen Vorgangsweise das Gedicht zu interpretieren und sich in den
Autor hineinzuversetzen. Elena hingegen wird durch das Gedicht angeregt, über sich selbst und
ihre Verhaltensweisen zu reflektieren.
Laura:
Für mich hat Peter Handke einen originellen Text gemacht. Er hat nämlich geschrieben, was er nicht ist.
Aber ich denke, dass er ganz selbst sicher ist. Nur eine Person, die sich gut kennt, kann diesen Text
schreiben. Peter Handke ist eine positive Person, er ist nicht ein Mann, der immer traurig ist oder alles
schwarz sieht. So glaube ich, dass er optimistisch ist. Er ist auch sehr realistisch, weil er zweimal sagt, dass
er kein Träumer und kein blauäugiger Utopist ist. Ich denke, dass das gut ist, weil eine Person in ihrem
Leben träumen muss, aber sie soll vor allem an die Wirklichkeit denken. wir können verstehen, dass er
eine normale Person ist, weil er kein Held und kein Milliönar ist. Aber er möchte ein Held und ein Millionär sein, weil er das Wort »leider« schreibt. Für Peter Handke ist der Respekt sehr wichtig, weil er sagt,
daß er nicht ein Mann ist, mit dem man machen kann, was man will und daß er kein Fußabtreter ist. Er
will, daß die anderen ihn respektieren, so denke ich, daß er auch die Leute mit Respekt behandelt.
Schließlich ist für mich Peter Handke auch ein bißchen egoistisch, weil er sagt, daß er kein Wohltätigkeitsverein, kein Seelentröster und kein Auskunftsbüro ist.
Elena:
Für mich hat Peter Handke diesen Text geschreiben, um uns etwas zu sagen. Ich glaube, dass er über seinen Charakter sprechen will. Er sagt nicht, was er wirklich ist: er schreibt nur, was er nicht sein will oder
was er nicht ist. Wir müssen allein über seinen Charakter und über ihn nachdenken, wir können uns mit
ihm vergleichen oder wir müssen über ihn reden, um die verschiedenen Meinungen zu vergleichen. Ich
glaube, dass er diesen Text geschreiben hat, weil jemand ihn kritisiert. Auch ich verteidige mich, wenn
man mich kritisiert. Ich sage z. B., dass ich kein Feigling bin. Manchmal verteidige ich mich auch, wenn
jemand die Wahrheit sagt. Wenn meine Freunde, z.B., eine Sache über mich sagen, die ganz richtig ist,
verteidige ich mich, weil ich manchmal die Wahrheit nicht annehme.
Das kann kindisch sein, aber ich glaube, dass für alle die Wahrheit manchmal weh tut. Peter Handke hat
für mich einen schönen Text geschrieben. Wir können über diesen Text nachdenken. Ich glaube, dass wir
immer sagen können, was wir nicht sind; es ist schwieriger zu sagen, was wir wirklich sind.
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Beispiel 5 aus der Praxis
Gottfried Benn
Was schlimm ist
Wenn man kein Englisch kann,
von einem guten englischen Kriminalroman zu hören,
der nicht ins Deutsche übersetzt ist.
Bei Hitze ein Bier sehn,
das man nicht bezahlen kann.
Einen neuen Gedanken haben,
den man nicht in einen Hölderlinvers einwickeln kann,
wie es die Professoren tun.
Nachts auf Reisen, Wellen schlagen hören
und sich sagen, dass sie das immer tun.
Sehr schlimm: eingeladen sein,
wenn zu Hause die Räume stiller,
der Café besser
und keine Unterhaltung nötig ist.
Am schlimmsten:
nicht im Sommer sterben,
wenn alles hell ist
und die Erde für Spaten leicht.
(BENN 1978:280)
1. Hypothesen zur Überschrift bilden lassen
2. Welche Bilder entstehen im Kopf der Leser/Lerner durch das Gedicht?
Schüleräußerungen zu den einzelnen Abschnitten:
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Ein Kriminalromanleser, der gerne liest
Ein sensibler Mensch
Ein Säufer, wahrscheinlich ein Deutscher
Ein Literat, der schöne Gedanken hat, aber sie nicht äußern kann und Angst vor den Kritikern hat
• Ein Pessimist, der die Wunder der Natur nicht sieht, weil er nur die negativen Aspekte sehen
will (ein bisschen wie Leopardi)
• Ein gelangweilter Mensch, der auf die Aktivitäten der anderen neidisch ist
3. Ein Parallelgedicht schreiben lassen
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