Die „Tschechei“.

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Die „Tschechei“.
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Source:
brücken - Germanistisches Jahrbuch TSCHECHIEN SLOWAKEI
Location:
brücken - German Language and Literature Studies Yearbook - Czech Republic and
Slovakia
Germany
IssueNr: 17
IssueYear: 2009
Author(s):
Michael Havlin
Title:
Die „Tschechei“. Zur historischen Semantik eines (un-)gebräuchlichen Toponyms
The „Tschechei“. About the historical semantics of (un-)usual toponym
Citation style: Michael Havlin. "Die „Tschechei“. Zur historischen Semantik eines (un-)
gebräuchlichen Toponyms". brücken - Germanistisches Jahrbuch TSCHECHIEN
SLOWAKEI 17:243-261.
http://www.ceeol.com/search/article-detail?id=99863
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Die „Tschechei“. Zur historischen Semantik eines
(un-)gebräuchlichen Toponyms
Michael Havlin
Wer sich in Diplomatie übt, ist auf der sicheren Seite. Das vom Auswärtigen
Amt herausgegebene „Verzeichnis der Staatennamen für den amtlichen
Gebrauch in der Bundesrepublik Deutschland“ empfiehlt für den deutschen Nachbarstaat sowohl als Kurz- als auch als Langform den Ausdruck
„Tschechische Republik“. Allein in Gebrauchstexten sei die nicht-amtliche
Kurzform „Tschechien“ zulässig.1 Ähnlich sehen das die aktuellen Ausgaben der verbreitetsten deutschen Wörterbücher, welche ausschließlich die
Bezeichnungen „Tschechien“ und „Tschechische Republik“ aufführen.2
Lexikographisch erfasst ist dagegen die Variante „Tschechei“ im älteren
Duden, dem mehrbändigen großen Wörterbuch der deutschen Sprache als „nichtamtl. Bez. für die historischen Gebiete Böhmen u. Mähren innerhalb d.
1918 gegründeten Tschechoslowakei.“ (DROSDOWSKI 1995: 3464) Jedoch scheint diese Definition einer sprachgeschichtlichen Überprüfung
nur teilweise standzuhalten.
1. Aktuelles Sprecherverhalten in Deutschland und Tschechien
Verlässt man die obige präskriptive Sprachregelung und wendet man sich
dem Gebrauch der Alltagssprache zu, so lassen sich anhand der OnlineMedien schnell die realen Sprecherpräferenzen in der Verwendung der drei
gebräuchlichsten Benennungen „Tschechien“, „Tschechei“ und „Tschechische Republik“ abschätzen. In der deutschen und in der tschechischen
Version der Internetsuchmaschine Google dominiert an Häufigkeit der gefundenen Seiten die Kurzform „Tschechien“ vor der offiziellen Langform
„Tschechische Republik“. An dritter Stelle findet sich mit immerhin noch
1
2
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Verzeichnis der Staatennamen für den amtlichen Gebrauch in der Bundesrepublik Deutschland.
(Stand 22. April 2009): 9 und Anm. 10. <http://www.auswertiges-amt.de/diplo/de/
Infoservice/Terminologie/Staatennamen.pdf> [22.06.2009].
Während im Wahrig weder „Tschechei“ noch „Tschechien“ geführt werden (WAHRIG-BURFEIND 2008), informiert der Duden darüber, dass „Tschechien“ „kurz: für:
Tschechische Republik“ steht (DUDENREDAKTION 2003: 1613).
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533.000 in Deutschland bzw. 18.700 Einträgen in der Tschechischen Republik der Ausdruck „Tschechei“.
Angaben in Tsd., Prozent gerundet (Suchdatum 01.07.2009):
Beide Suchmaschinen wurden angewiesen nur in „Seiten aus Deutschland“ bzw. in „stránky
pouze česky“[nur Seiten auf Tschechisch] zu suchen.
Google.de
%
Google.cz
%
Tschechei
533
5,3
18,7
7,6
Tschechische Republik
2930
29,3
70,6
28,9
Tschechien
6520
65,3
156
63,6
Gesamt
9983
100
245,3
100
Noch 1994 meinte der Onomastiker Gerhard Koß, dass sich die Verwendung der Kurzformen für den 1993 aus der Teilung der Tschechoslowakei
hervorgegangenen deutschen Nachbarstaat „noch in Fluß befindet, ohne
daß sich eine Kurzform schon im Sprachgebrauch durchgesetzt hat. Tschechien könnte allerdings die größeren Chancen haben“ (KOSS 1997: 452).
Obige Zahlen deuten darauf hin, dass sich Koß’ Prognose sowohl für die
Bundesrepublik als auch für die Tschechische Republik bewahrheitet hat.
Scheinbar fast vergessen sind die anfänglichen Irritationen, welche die vermeintlich neue Bezeichnung „Tschechien“ bei deutschen Muttersprachlern hervorrief (vgl. mit weiteren Belegen: LEMBERG 1993: 111 Anm.
22). Die Hamburger Wochenzeitung Die Zeit argwöhnte in einer Glosse,
dass „Tschechien“ für deutsche Ohren doch „recht spanisch“ klinge.3 Und
die Gesellschaft für deutsche Sprache lobte einen Buchpreis für die Einsendung
einer Kurzform von „Tschechische Republik“ aus, „die sich für den Gebrauch in der deutschen Alltagssprache gut eignet.“4
2. Die „Tschechei“ in Deutschland seit 1993
„Tschechien“ konnte sich seit 1993 als Kurzform sogar in einem solchen
Umfang durchsetzen, dass die Variante „Tschechei“ Gegenstand einer
öffentlichen Sprachkritik wurde. Die amtliche Wirtschaftsförderungsgesellschaft der Bundesrepublik Germany Trade and Invest fordert in ihrer
Broschüre Verhandlungspraxis Kompakt nachdrücklich dazu auf, „das vielen
Deutschen immer noch viel zu schnell von der Zunge gehende Tschechei“
3
4
Tekkalond. Die Zeit, Nr. 4 (22.01.1993: 1/T6).
Der Sprachdienst 37 (1993: 71-72). Es gewann schließlich der Vorschlag „Tschechien“:
Der Sprachdienst 38 (1994: 132, 134-136).
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bei Geschäftsverhandlungen mit tschechischen Partnern zu unterlassen
(NEUBERT 2007). Und der Autor der sprachpflegerischen Kolumne Wortgefecht der Online-Ausgabe der Tageszeitung Die Welt schließt aus dem Hinweis, dass die „Tschechei“ bei den Nazis sehr „beliebt“ war, darauf, dass in
Deutschland „heute nur noch wenige, nämlich Ewiggestrige und Provokateure“ diesen Ausdruck verwenden würden.5 Insgesamt ist zu nachzuprüfen, ob nicht insbesondere dieser öffentlichen Sprachkritik das numerische
Übergewicht „Tschechiens“ gegenüber der „Tschechei“ geschuldet ist.
Jedoch ist wenigstens teilweise der wohl bewusst überspitzten Sichtung des Welt-Kolumnisten tatsächlich zuzustimmen. In rechtsnationalen
Kreisen hat bis heute die Bezeichnung „Tschechei“ überdauert und wird
gerne als Ausdruck der eigenen weltanschaulichen Abneigung gegen die
Erste Tschechoslowakische Republik und deren Nachfolgestaaten verwendet.6
Zahlreiche rechtsextreme Devotionalienläden führen in ihrem Angebot
eine Doppel-CD von Hitler- und Goebbels-Reden aus dem Jahre 1938
mit dem Label Der Zerfall der Tschechei, welche den „legitimen Zerfall“ [sic!]
des Staates nachweisen soll.7 Und manch konservativer Geschichtswissenschaftler scheut sich auch nicht, die semantisch herabsetzende Bezeichnung „Rest-Tschechei“ anstelle der in der wissenschaftlichen Literatur üblichen Benennung „Zweite tschecho-slowakische Republik“ (KUKLÍK/
GEBHART 2004: druhá Republika [zweite Republik]) im publizistischen
Diskurs zu verwenden.8
Auch zeigt die Beobachtung einiger Sprachforen, dass die „Tschechei“
bisweilen entstehungsgeschichtlich als eine Kurzform des angeblich durch
Hitler verunstalteten Ausdrucks „Rest-Tschechei“ wahrgenommen wird
und deswegen als „Nazi-Deutsch“ von einigen Forenmitgliedern auf
strikte Ablehnung stößt.9 Dagegen berufen sich andere Forenmitglieder
5
6
7
8
9
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KRÜGER, Sönke (24.03.2008): Warum die Tschechen die Tschechei ablehnen. Welt
Online
<http://www.welt.de/vermischtes/wortgefecht/article1829661/Warum_
Tschechen_die_Tschechei_ablehnen.html> [22.06.2009].
So unterteilt der Historiker Schultze-Rhonhof in einer inhaltlich sehr fragwürdigen
Monographie die „erste Tschechoslowakei“ [sic!] in die drei Gebiete „Tschechei, Slowakei und Karpatho-Ukraine“ (SCHULTZE-RHONHOF 2008: 24f).
Online-Shop SHM - Stangl History Militärgeschichte. <http://www.stangl-history.de/deu/
cd2.html> [22.06.2009].
So spricht der Historiker Hans Seidler in seinem Leserbrief nachgerade notorisch
ohne Anführungszeichen von der „Resttschechei“. SEIDLER: Nicht im Zitierkartell
der Geschichtswissenschaft. Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 121 (27.05.2009: 8).
LEO Forum „Czech republic – Tschechei”. <http://dict.leo.org/forum/viewWrongentry.p
hp?idThread=44867&idForum=&lp=ende&lang=de> [22.06.2009].
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auf die tägliche Erfahrung, dass in den neuen Bundesländern und im süddeutschen Dialektraum die „Tschechei“ bis heute umgangssprachliche Realität ist. Auch die bayrische Scherzvariante [?] des Online-Lexikons Wikipedia.de meint, dass sich „Tschechien“ ein wenig „hoppadatschig“ anfühlt:
„Zweng dem sogn vüü Leid a jetzan ollaweu no ‚Tschechei‘.“10
Tatsächlich findet die „Tschechei“ nicht nur ausschließlich bei „Ewiggestrigen und Provokateuren“ Verwendung, sie hat sich scheinbar auch als
eine Art ‚false friend’, als vermeintliches Analogon zu morphologisch ähnlich suffigierten Staatsnamen wie Slowakei, Türkei und Mongolei, im deutschen Sprachbewusstsein eingebürgert: Entsprechend ist die „Tschechei“
immer wieder auf allen gesellschaftlichen Sprachebenen zu hören – nicht
nur bei nicht-deutschen Muttersprachlern und Sprachlernern, sondern
auch bei politischen Eliten wie Bundestagsabgeordneten und Ministerpräsidenten, die eigentlich über die eingangs erwähnte diplomatische Sprachregelung unterrichtet sein sollten.11
Auch im Internet hat ein unbekannter selbsterklärter „Tschechei Fan“
die Domain www.tschechei.de reserviert, um dort harmlose Anekdoten und
ortskundige Informationen rund um das von ihm geschätzte „Urlaubsund Wanderparadies“ zu präsentieren. Interessanterweise wechselt der
Autor auf seinen Seiten ohne festzustellende Präferenz zwischen den Begriffen „Tschechei“, „Tschechien“ und „Tschechische Republik“.12
3. Historische Semantik und Begriffsgeschichte
Worin liegt aber die Diskrepanz zwischen dem präskriptiven und faktischen Sprachgebrauch des Ausdrucks „Tschechei“ begründet, welche
zudem offensichtlich nicht von jedem Sprecher gleichermaßen wahrgenommen und realisiert wird? Eine Erklärung bietet die Betrachtung der
historischen Semantik des Begriffs „Tschechei“. Die historische Semantik
10 Eintrag „Tschechische Republik“: Wikipedia. Die freie Enzyklopädie. <http://bar.wikipedia.org/wiki/Tschechei> [22.06.2009].
11 Deutschlandfunk-Interview mit Peer Steinbrück, NRW-Ministerpräsident, 22.07.2004. Die
Zeit Online <http://www.zeit.de/politik/dlf/interview_042307> [22.06.2009].
Deutscher Bundestag, 16. Wahlperiode, 32. Sitzung (06.04.2006). Rede des Abgeordneten
Franz-Josef Holzenkamp. Plenarprotokoll 16/32. Aus dem Kontext ist zu entnehmen,
dass in beiden Beispielen der Ausdruck „Tschechei“ in keiner Weise beleidigend gegenüber der Tschechischen Republik verwendet wurde.
12 Alles über die Tschechei. <http://www.tschechei.de> [22.06.2009].
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als eine „Geschichte der Verwendungsweisen und ihrer Konstellationen“
(FRITZ 2006: 14) untersucht den diachronen Bedeutungswandel von
Lexemen bzw. den Wandel von Konnotationen. Aus synchroner Perspektive können sich dabei durchaus Konflikte ergeben, wenn beispielsweise eine früher konnotativ ‚unbelastete Vokabel’ von Sprechern plötzlich
als ‚belastet’ (auch vice versa) empfunden wird. Im Falle der „Tschechei“
scheint die historisch belegte mehrmalige Verwendung dieses Ausdrucks
durch die Nationalsozialisten diese Benennung für einen Teil der Sprecher
verunmöglicht zu haben. Wie bereits Untersuchungen zur „political correctness“ gezeigt haben, bildet die Berufung auf den „Geschichts-Topos“
im öffentlichen Sprachgebrauch ein gewichtiges sprachdiskursives Argument (MAYER 2002: 224f).
Hierbei besteht auch ein fließender Übergang zum historischen Forschungsfeld der Begriffsgeschichte. Diese zielt auf die Ausmessung von
„Dauer, Wandel und Neuheit von Wortbedeutungen“ (KOSSELLECK
1978: 27) jenseits der außersprachlichen Realitäten ab. Zur Beantwortung
der Frage, ob der Ausdruck „Tschechei“ tatsächlich dem spezifischen
„Vokabular des Nationalsozialismus“ (BERNING 2007) zuzurechnen sei,
sollen im Folgenden sowohl die historische Semantik als auch die Begriffsgeschichte jener Benennung untersucht werden.
4. Die „Tschechei“ in der Tschechischen Republik
Insbesondere von tschechischer Seite stößt heutzutage die Kurzform
„Tschechei“ auf starke Ablehnung, worauf explizite Positionierungen
von führenden Vertretern aus Politik, Wissenschaft und Kultur der
Tschechischen Republik hinweisen.
So zeigte sich der kommunistische Politiker Miroslav Grebeníček
(*1947) im Prager Abgeordnetenhaus davon überzeugt, dass der Terminus „Tschechei“ in der deutschen Sprache allgemein als „hanlivý“
[abwertend] empfunden wird und darüber hinaus eine „dunkle
historische Bindung“ besitzt, weil er häufig von den Nazis und
insbesondere Hitler selbst gebraucht wurde. Um das tschechische Volk zu schmähen, hätten angeblich der frühere Außenminister Klaus Kinkel und der frühere bayerische Finanzminister Erwin Huber in ihren öffentlichen Auftritten gerade diese Benennung
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gewählt.13 Auch der Bohemist Alexandr Stich (*1934) bezeichnete den
Staatsnamen „Tschechei“ wegen bestehender „negativer Assoziationen“ in
der tschechischen Bevölkerung mit der Zeit des Dritten Reichs als schlichtweg
„untragbar“ (STICH 2003: 19). Und der deutsch-tschechische Schriftsteller
Ota Filip (*1930) verbat sich auf einer Lesung in äußerst emotionaler Rede
jede „Tschechei“. Immer wenn er diesen Ausdruck höre, so fühle er sich
wie mit der „Peitsche geschlagen“ und müsse erst einmal „ausspucken“.
Wie auch Stich und Grebeníček argumentierte Filip, dass der Missbrauch
des Wortes „Tschechei“ durch die Nationalsozialisten eine werturteilsfreie
Verwendung heute unmöglich gemacht hätte (FILIP 1995: 9).
Allen dreien Beispielen ist gemeinsam, dass sie der Generation angehören, welche die Gräuel des Faschismus in Europa und deren Folgen als
Zeitzeugen miterlebt haben. Dies könnte eine Erklärung für die noch zu
verifizierende Beobachtung darstellen, warum spätere tschechische Generationen scheinbar keine so ausgeprägte emotionale Abneigung gegen den
Ausdruck „Tschechei“ mehr hegen (NEUBERT 2007).
5. Die „Tschechei“ in der Tschechoslowakei ab 1918
Die Berufung auf die Nationalsozialisten, welche die vermeintlich ursprünglich wertfreie Bezeichnung „Tschechei“ missbraucht und somit
in der deutschen Sprache eine politisch korrekte Verwendung unmöglich
gemacht haben, bildet im öffentlichen Diskurs, sowohl in Deutschland
als auch in der Tschechischen Republik, den beherrschenden Topos. Nur
wenige Historiker haben darauf hingewiesen, dass die „Tschechei“ bereits vor dem Jahr 1933 in der deutschen Sprache usuell war (LEMBERG
1993: 110). Unbekannt waren bisher die konnotative Aufladung und die
Verwendungshäufigkeit einer „Tschechei“.
Die Frage eines adäquaten Staatsnamens für die Tschechoslowakei gewann erst während des Ersten Weltkrieges an Bedeutung, als die um Masaryk versammelte Auslandsaktion die Gründung eines eigenständigen Staates zu forcieren begann. Jedoch konnte sich kein Staatsname vollständig
13 Abgeordnetenhaus der Tschechischen Republik. Wahlperiode 1996-1998. 8. Sitzung am
11.02.1997. Rede des Abgeordneten Grebeníček <http://www.psp.cz/cgi-bin/eng/
eknih/1996ps/stenprot/008schuz/s008037.htm> [22.06.2009]. Die Verwendung der
Bezeichnung „Tschechei“ durch die deutschen Politiker Kinkel und Huber konnte
vom Autor des Aufsatzes nicht nachgewiesen werden.
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durchsetzen: „Bohemia“, „Czech state“, „Czecho-Slovak State“ (BENEŠ
1917: 18, 94) uvm. Die Auslandsaktion konnte oder wollte sich nicht auf
eine Bezeichnung festlegen.
Zu Zeiten der österreichischen Monarchie war das Toponym „Böhmen“
das verbreiteste gewesen, wenn auch die Variante „Tschechien“ spätestens
seit 1876 belegt ist (LEMBERG 1993: 111). Nach dem Prager Umsturz am
28. Oktober 1918 zeigte sich, welche orthographische Folgen die fehlende
Festlegung einer Schreibnorm des Staatsnamens in verschiedenen Sprachen
hatte. Zwar wurde in der Unabhängigkeitserklärung vom 18. Oktober 1918
der „československý stát“ [tschechoslowakische Staat] proklamiert,14 auf
der Pariser Friedenskonferenz trat die Prager Regierung jedoch anschließend in französischer Schreibweise mit einem Bindestrich als „État tchécoslovaque“ auf (Conférence de la paix 1923). Auf diese Bindestrich-Variante
beriefen sich auch die Slowaken, welche enttäuscht auf die aus ihrer Sicht
Nicht-Einhaltung des Pittsburger Abkommens reagierten: In diesem Abkommen wurde ihnen ein föderaler „česko-slovenský štát“ in Aussicht gestellt.15 Im Englischen sind mindestens die drei verschiedenen historischen
Schreibarten „Czecho-Slovakia“, „Czechoslovakia“ und „Tchecoslovakia“
anzutreffen. Und auch im Deutschen war die Schreibung des neuen Staates
anfänglich recht uneinheitlich: „Tschecho-Slowakei“, „Tschechoslowakei“,
„Čechoslovakei“, „Tschechoslovakei“ (LEMBERG 1993: 108) oder selten
„Czechoslowakei“ (COUDENHOVE-KALERGI 1921: 342).
Um wenigstens in der tschechischen und slowakischen Sprache Rechtssicherheit über die korrekte Schreibweise herzustellen, beschloss der Prager
Ministerrat am 14. Oktober 1919, dass ausschließlich das Adjektiv „tschechoslowakisch“ ohne Bindestrich zur Staatsbenennung heranzuziehen sei.
Usneseno, aby právní stav, že republika jest „československá“, byl ve všech směrech
přiveden k platnosti a aby ve státní správě, v parlamentě, v žurnalistice, atd. bylo k tomu
působeno, aby stav ten byl bezvýjimečně respektován.
[Beschlossen, dass der rechtliche Zustand, dass die Republik eine „tschechoslowakische“
ist, in jeder Beziehung zur Gültigkeit gelange und dass in der staatlichen Verwaltung, im
Parlament, in der Presse, usw. dahingehend gewirkt werde, dass jener Zustand ausnahmslos respektiert werde.]16
14 Prohlášení československé samostatnosti provisorní vládou [Erklärung der tschechoslowakischen Selbständigkeit durch die provisorische Regierung]. Československá samostatnost, Nr. 13 (26.10.1918: 1-2).
15 Text des Pittsburger Abkommens in: KLIMEK/NOVÁČKOVÁ/POLIŠENSKÁ/
ŠŤOVÍČEK (1994: 123), Vznik Československa 1918.
16 Protokoll der Ministerratssitzung vom 14.10.1919. Národní Archiv Praha. Fond
„Předsednictvo ministerské rady Republiky Československé“, Karton 4365.
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Hier sind die Anfänge einer umfangreichen, politisch-inspirierten tschechoslowakischen Sprachreglementierung zu suchen. Auf eine Senatsinterpellation hin erklärte die Regierung, dass das „unzulässige Bezeichnen der
ČSR [Československá Republika – Tschechoslowakische Republik] mit
allen gesetzlichen Mitteln, die gemäß den Umständen des Einzelfalles zur
Verfügung stehen, verfolgt wird.“17 So verfielen beispielsweise wiederholt
deutschsprachige Zeitungen in der Tschechoslowakischen Republik der
Zensur, weil sie den Ausdruck „Tschechei“ anstelle der korrekten Benennung „Tschechoslowakei“ verwendeten.18
Ob die Bezeichnung „Tschechei“ tatsächlich aus einer Kontraktion
aus „Tschech(o-slowak)ei“ hervorgeht (LEMBERG 1993: 113) oder
vielleicht noch älteren Datums ist, muss bislang ungeklärt bleiben. Die
Konnotationen dieses Ausdruckes waren indes allen Kommunikationsakteuren klar: Die „Tschechei“ figurierte von sudetendeutscher Seite als
eine Art verbales Gegengewicht gegen das verhasste Kollektivadjektiv
„tschechoslowakisch“, welches die Deutschböhmen laut eigener programmatischer Erklärung nie als Nationsbeschreibung für sich annehmen könnten.19
Der sudetendeutsche Staatsrechtler Ludwig Spiegel berichtet hierüber in der Tagezeitung Bohemia: „[…] während ‚Böhmen‘ ein deutsches
Wort ist, bleibt die „Tschechoslowakei“ [für die Sudetendeutschen – MH]
immer eine fremdartige und unschöne Bezeichnung, welche vor der auf
tschechischer Seite als beleidigend empfundenen ‚Tschechei‘ in ästhetischer Hinsicht keinen Vorzug verdient.“20 Und auch der deutschböhmische Politiker Lodgman von Auen setzte die „Tschechei“ in den Titel seines Leitkommentars, in dem er seine Abneigung gegen die tschechisch
17
Senat der Nationalversammlung. Wahlperiode 1920-1925. 105. Sitzung. Drucksache
1237/4. Antwort des Ministerpräsidenten Beneš. 14.01.1922. <http://www.psp.cz/
cgi-bin/ascii/eknih/1920ns/se/tisky/t1237_01.htm> [22.06.2009].
18 Abgeordnetenhaus der Nationalversammlung. Wahlperiode 1920-1925. 107. Sitzung. Drucksache XVI./3201. Interpellation an den Justizminister wegen Beschlagnahme der periodischen Druckschrift Deutsche Zeitung in Olmütz. 23.06.1921. <http://www.psp.cz/
eknih/1920ns/ps/tisky/T3201_04.htm>.
Abgeordnetenhaus der Nationalversammlung. Wahlperiode 1920-1925. 130. Sitzung. Drucksache VII./3410. Interpellation an den Minister des Innern in Angelegenheit der Beschlagnahme des Deutschen Landboten in Karlsbad. 19.07.1922. <http://www.psp.cz/
eknih/1920ns/tisky/T3410_04.htm> [22.06.2009].
19 Kommentar: „Nation und Staat“. Prager Tagblatt (03.08.1919: 1-2).
20 Kommentar von Ludwig Spiegel: „Hungaria rediviva“. Deutsche Zeitung Bohemia, Nr.
104 (05.05.1922: 1-2).
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dominierte „naše republika“ [unsere Republik – tschechisches Zitat im
deutschsprachigen Text – MH] deutlichen Ausdruck verlieh.21
In einer parlamentarischen Interpellation gegen die amtliche Zensurtätigkeit, welche einem Erlass folgend, Druckschriften mit den Ausdrücken
„Tschechei“ „Tschechowien“ und „Tschechien“ beschlagnahmen ließ, erklärte Lodgman freimütig, dass der Gebrauch dieser Ausdrücke durchaus
als eine Form der „sprachlichen Abwehr der Fiktion eines tschechoslowakischen Volkes und einer tschechoslowakischen Sprache“ zu verstehen
sei. Das „tschechische Volk oder seinen [sic!] Staat“ zu schmähen werde
dagegen angeblich nicht intendiert.22
Indes wurden die Bezeichnungen „Tschechai, Tschechien, Tschechovien, Tschechenland“ von tschechoslowakischer Seite ausdrücklich als „beleidigend“ empfunden, weshalb die Regierung auch vom Senat aufgerufen
wurde, gegen die Verwendung solcher Bezeichnungen in der deutschen
Presse vorzugehen.23
Aus den Anfangsjahren der Republik sind aber noch weit ausfallendere Ausdrücke als „Tschechei“ zur Schmähung der Tschechoslowakei aus
dem In- und Ausland überliefert. Um die Tschechen als alleinigen Träger
aller Staatsgewalt zu kennzeichnen, sprachen sudeten- und reichsdeutsche
Publizistik und Literatur ausnehmend häufig vom „tschechischen Staat“
(LODGMAN VON AUEN 1920: 11) oder schlicht vom „Tschechenstaat“
(HASSINGER 1925: 173). Weitere belegte degradierende Ausdrücke sind
auch „Zwergstaat“ (ZIMKA 1920: 30), „Gewaltstaat“ (SELIGER 1919: 9),
„Groß-Böhmen“24 oder „Moldaustaat“ (URZIDIL 1925: 517). Besonders
mit den letzten beiden Bezeichnungen suchten die Sudetendeutschen den
21 Kommentar von Lodgman von Auen: „Die staatsrechtliche Stellung der Deutschen in
der Tschechei“. Deutsche Zeitung Bohemia, Nr. 73 (27.03.1921: 1-2).
22 Abgeordnetenhaus der Nationalversammlung. Wahlperiode 1920-1925. 119. Sitzung. Drucksache I./3331. Interpellation an den Justizminister in Angelegenheit des Erlasses
vom 19. Oktober 1921, Z. 44.983, betreffend die Ausdrücke „Tschechei“, „Tschechowien“, „Tschechien“, „von den Tschechen“. 14.12.1921. <http://www.psp.cz/
eknih/1920ns/ps/tisky/t3331_00.htm> [22.06.2009]. Eine Existenz des genannten
Erlasses konnte vom Autor nicht verifiziert werden.
23 Senat der Nationalversammlung. Wahlperiode 1920-1925. 65. Sitzung. Drucksache 913.
Interpellation an die gesamte Regierung, insbesondere an Herrn Ministervorsitzenden, betreffend der beleidigenden Benennung der Tschechoslowakischen Republik
in der deutschen Presse. 02.08.1921. <http://www.psp.cz/eknih/1920ns/se/tisky/
t0913_00.htm> [22.06.2009].
24 Kommentar von Hollerstein-Tetschen: „Republik Groß-Böhmen.“ Deutsche Zeitung Bohemia, Nr. 93 (17.07.1919: 1-2).
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Umstand zu verdeutlichen, dass sie Bestandteil eines deklarierten Nationalstaates der Tschechoslowaken waren, an dessen Teilnahme sie aber bereits die
Wahl des Länder- bzw. Staatsnamens ausschloss. In einem „Großböhmen“
oder einem „Moldaustaat“ – einem übernationalen Vielvölkerstaat verschiedener Sprachnationen entsprechend einem Schweizer Vorbild – hofften sie
dagegen auf eine angemessene politische Beteiligung (HAVLIN 2009).
6. Die „Tschechei“ ab 1933 im deutschen Reich
Im angrenzenden deutschen Reich nahm die sprachgeschichtliche Entwicklung des Ausdrucks „Tschechei“ einen abweichenden Verlauf. Trotz
anfänglicher Unsicherheiten etablierten sich die Kurzform „Tschechoslowakei“ und die Langform „Tschechoslowakische Republik“ recht
früh (LEMBERG 1993: 111f). Freilich verschwand die „Tschechei“
nie vollständig aus der deutschen Sprache.25 Als schwierig erweist sich
die Ausmessung einer vorsätzlich abwertenden Konnotation durch die
Sprecher. Jedoch scheinen sich politische Eliten im Deutschen Reich,
welche mit der Tschechoslowakei aus professionellen Gründen Kontakt
pflegten, durchaus der Tatsache bewusst gewesen zu sein, dass die Benennung „Tschechei“ von tschechoslowakischer Seite als herabsetzend
empfunden wurde. Der langjährige deutsche Gesandte in Prag, Walter
Koch, wunderte sich in seinen Memoiren:
Eine seltsame Empfindlichkeit zeigten die Tschechen gegen das Wort ‚Tschechei‘. Es ist
richtig gebildet aus Cechy und entsprach dem Wort ‚Slowakei‘, wenn man die historischen
Länder im Gegensatz zu dieser nennen will. Aber sein Gebrauch ist verboten und verpönt.
Die Gründe hierfür habe ich bei Nachfrage an zuständiger Stelle nicht erfahren können.
Stat pro ratione voluntas.26
Und selbst die Nationalsozialisten, welchen die Diffamierung der Bezeichnung „Tschechei“ nachgesagt wird, waren sich noch 1934 der
„Verletzlichkeit der tschechoslowakischen Regierung in diesem Punkt“
bewusst und gaben die Presseanweisung heraus, aus Opportunitätsgründen im reichsdeutschen Zeitungswesen tunlichst den „Ausdruck
Tschechei zu vermeiden“ (TOEPSER-ZIEGERT 1985: 247). Über25 Dies dokumentieren beispielsweise die Akten der Reichskanzlei. ERDMANN (1970:
1129 und 1990: 2416).
26 Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden. Personennachlass Walter Koch (1870-1947). Tagebuch Typoskript – Band II, datiert vom 21.02.1937, S. 79.
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haupt legten die Nationalsozialisten äußerste Sorgfalt in ihrer Wortwahl an den Tag: Der Titel „Karlsuniversität“ dürfe laut Presseanweisung auf keinen Fall für die tschechische Universität gewählt werden,
da sich die „Tschechen“ diesen ausschließlich für ihre „tschechische
Universitaet angemaßt haetten“ (TOEPSER-ZIEGERT 1987: 247).
Weiterhin seien die „Baeder im sudetendeutschen Gebiet“ natürlich
nicht als „tschechische Baeder“ zu bezeichnen und mit Hinblick auf
die Ansprüche der Sudetendeutschen sei größte Vorsicht bei der Verwendung der Adjektive „volksdeutsch“ und „grossdeutsch“ geboten
(PETER 1999a: 295f., 325).
Folglich scheint es kaum Zufall zu sein, dass die aus den Anfangsjahren der tschechoslowakischen Republik stammende BindestrichVariante „Tschecho-Slowakei“ im Laufe der Sudetenkrise des Jahres
1938 eine neue Konjunktur erhielt. Ab Mitte 1938 ist in den Presseanweisungen des nationalsozialistischen Propagandaministeriums fast
nur mehr die Schreibweise „Tschecho-Slowakei“ belegt.27 Entsprechend orientierten sich fortan auch Publizistik und ‚halb-offizielle‘ politische Veröffentlichungen28 des ‚Dritten Reiches‘ an dieser ‚alt-neuen
Schreibweise‘. Mit dem Bindestrich sollte graphematisch die ‚politische
Teilungsfähigkeit bzw. -willigkeit‘ der Tschechoslowakei in einen tschechischen und einen slowakischen Teil zum Ausdruck gebracht werden.
In einer Karikatur der Satirezeitschrift Kladderadatsch, „Das schöne Legespiel“, sitzt beispielsweise der greise britische Premierminister Lloyd
George, der bei der Gründung der Tschechoslowakei mitbeteiligt war,
über einem Puzzle, welches aus den Teilen „tsch“, „echo“, „slo“ „wa“,
„k“, „ei“ besteht und die geographische Gestalt der Tschechoslowakei nachahmt, jedoch sich offensichtlich nicht zusammenfügen lässt.
Georges missmutiger Kommentar lautet: „Merkwürdig, früher ging es
doch immer!“29
Auch der Ausdruck „Tschechei“ erlebte unter den Nationalsozialisten
in den Jahren 1937 bis 1939 eine neue Konjunktur. Sowohl in „Dichtung“
27 Erstmalig in der Presseanweisung 1952 vom 15.07.1938 (PETER 1999b: 655).
28 Vgl. folgende Zeitungsartikel: „Verschweizerung“ – Prags einzige Hoffnung. Der Freiheitskampf, Nr. 128 (10.05.1938). Londoner Hoffnungen auf Prag. Leipziger Neueste
Nachrichten, Nr. 204 (2./3.07.1938). Vgl. die Schreibweise des Titels der beiden zeitgenössischen Propagandaschriften NOWAK (1938): Der künstliche Staat. Ostprobleme der Tschecho-Slowakei. HEISS (1938): Die Wunde Europas. Das Schicksal der
Tschecho-Slowakei.
29 Kladderadatsch, Nr. 40 (02.10.1938: 5).
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und Publizistik30 als auch in bedeutenden internen Akten – wie dem sogenannten Hossbach-Protokoll oder dem Plan „Grün“ für den militärischen Überfall auf die Tschechoslowakei31 – ist die „Tschechei“ eine häufig anzutreffende Benennung neben „Prag“, „Tschechoslowakei“ und der
„Tschecho-Slowakei“. Die Benutzung ist jedoch durch eine starke Uneinheitlichkeit gekennzeichnet und oftmals sind verschiedene Bezeichnungen
oder Schreibweisen vom selben Autor belegt.
Allgemein scheint die Verwendung der „Tschechei“ einer gewissen Sprecher- und Kontextabhängigkeit unterlegen zu haben. Goebbels32 wie auch
Ribbentrop33 bezogen sich in ihren Schriften relativ häufig auf die „Tschechei“, während Hitler selbst diese Bezeichnung – wenigstens öffentlich –
selten zu gebrauchen schien.34 Auch ist festzustellen, dass die „Tschechei“ bei
der internen Kommunikation der Nationalsozialisten um ein Vielfaches häufiger anzutreffen ist als bei der äußeren bzw. öffentlichen Kommunikation.35
30 So reimte der Nazi-Dichter Richard Nordhausen nach dem Münchner Abkommen im
Kladderadatsch, Nr. 40 (02.10.1938: 2):
31
32
33
34
35
[…] Entschloss’ner Zugriff sprengt die Ketten,
die übermütige Tschechei
wird keine Macht der Erde retten.
Das deutsche Brudervolk ist frei! […]
Ebenso bejubelte Nordhausen den deutschen Einmarsch in Prag nach dem 15. März
1939 im Kladderadatsch, Nr. 13 (26.03.1939: 2):
Als in Prag die sterbensbange,
die Tschechei dem Untergange
nahe und im Kern gewankt,
wurde ihr zum Weiterleben
eine Möglichkeit gegeben,
doch sie hat es schlecht gedankt. […]
Im Hossbach-Protokoll vom 5. November 1937 wurden Hitlers Expansionspläne im
Osten festgeschrieben, darunter auch gegen die „Tschechei“, welche mehrmals im
Text erwähnt wird. Akten zur deutschen Auswärtigen Politik. D/I. (1950: 25-32). Im Plan
„Grün“ vom 30. Mai 1938 wurde der militärische Einmarsch in die „Tschechei“ durch
Hitler vorbereitet Akten zur deutschen Auswärtigen Politik D/II (1950: 281-285).
Erstmalig findet sich die Benennung „Tschechei“ im Goebbels-Tagebuch am 11.10.1935
(HERMANN 2005: 308). Mit der Eskalation der Sudetenkrise schrieb Goebbels später
nahezu täglich über „Prag“ oder über die ihm verhasste „Tschechei“.
Akten zur deutschen Auswärtigen Politik. D/II. (1950: 247, 743).
Soweit dem Autor bekannt ist, sprach Hitler erst auf seiner Nürnberger Kongressrede am 12.
September 1938 öffentlich von einer „Tschechei“, bzw. von dem „abnormalen Gebilde
der Tschecho-Slowakei“ oder von einem „tschechischen Staat.“ (VOLZ 1939: 293-302).
Auch lassen sich institutionelle Unterschiede feststellen: Soweit die publizierten Aktendokumentationen einen Vergleich erlauben, fiel im Auswärtigen Amt (Akten zur deutschen Auswärtigen Politik D/I-D/III) ungleich häufiger die Bezeichnung „Tschechei“ als
in der Reichskanzlei (Akten der Reichskanzlei. Regierung Hitler I-V).
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7. Die „Tschechei“ bzw. „Rest-Tschechei“ nach dem
‚Münchner Abkommen‘
Auch nach dem Münchner Abkommen fand die Benennung „Tschechei“
weiterhin Verwendung im Sprachgebrauch der Nationalsozialisten. Dabei
lässt sich jedoch eine leichte semantische Verschiebung feststellen: Während die „Tschechei“ vor dem 29. September 1938 als ‚pars pro toto‘ überwiegend die gesamte geographisch-politische Einheit der „Tschechoslowakei“ bezeichnete, etablierte sich im kurzen Zeitraum der Existenz der
zweiten „Tschecho-Slowakischen Republik“36 der Ausdruck „Tschechei“
als verbales Gegenstück zur zweiten Republikhälfte „Slowakei“. So wurde
im Auswärtigen Amt notiert, dass die „Tschecho-Slowakei“ ein föderativer
Staat sei, in dem sich „die Tschechei, die Slowakei und die Ukraine […]
Verfassungen“ gegeben haben.37 Aber auch hier war der Gebrauch heterogen: Die „Tschechei“ konnte sich je nach Sprecher sowohl auf die
tschechisch-mährischen Gebiete beziehen, wie auch auf die gesamte Republik der „Tschecho-Slowakei“, manchmal aber auch auf die frühere, im
Münchner Abkommen untergegangene „Tschechoslowakei“.
Daneben ist auch die historische Variante „Rest-Tschechei“ oder auch
„Rest-Tschecho-Slowakei“ wiederholt belegt.38 Interessanterweise hat
sich der Ausdruck „Rest-Tschechei“ in der deutschen Historiographie
als nicht-offizielle Bezeichnung der Zweiten Republik durchsetzen können, obwohl sie beispielsweise in den Akten des Auswärtigen Amtes selbst
verhältnismäßig selten anzutreffen ist.39 Ein Grund mag die Verwendung
in einem von Hitler persönlich gezeichneten historischen Schlüsseldokument sein, welches die „Rest-Tschechei“ im Titel trägt: „Erledigung der
Rest-Tschechei“.40
36 Durch die föderative Verfassungsänderung wurde am 23. November 1938 auch der
Staatsname offiziell geändert, welcher nun offiziell mit Bindestrich geschrieben wurde:
Republika Česko-Slovenská (KUKLÍK/GEBHART 2004: 88f).
37 Akten zur deutschen Auswärtigen Politik. D/III. (1951: 176).
38 Erstmalig wohl bereits vor dem Münchner Abkommen in einer Aufzeichnung des Auswärtigen Amtes „über die wirtschaftlichen Vorbereitungen für den Fall einer vorläufigen deutschen Militärbesetzung des sudetendeutschen Gebietes“ vom 24. September
1938. Akten zur deutschen Auswärtigen Politik. D/II. (1950: 731-733).
39 Immer wieder ist deutschsprachigen Übersichtsdarstellungen, die sich an ein breiteres
Leserpublik wenden, zu entnehmen, dass die Wehrmacht am 15. März 1939 nicht
die „Zweite tschecho-slowakische Republik“, sondern die „Rest-Tschechei“ besetzte.
(Benz 2000: 163), (Schulze 2007: 209).
40 Akten zur deutschen Auswärtigen Politik. D/III. (1951: 90f).
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Schließlich verschwanden jedoch unter dem militärischen Druck des Dritten Reiches alle Varianten aus dem offiziellen Sprachgebrauch: Bereits am
dritten Tag nach Unterzeichnung des Münchner Abkommens notierte Goebbels in seinem Tagebuch: „Abends beim Führer […] Sein Entschluß,
einmal die Tschechei zu vernichten ist unerschütterlich. Und er wird ihn
auch verwirklichen. Dieses tote und amorphe Staatsgebilde muss weg“
(Richter 1998: 127).
Nach dem Einmarsch deutscher Truppen in Prag, sollten alle älteren
Bezeichnungen und die damit verbundenen Erinnerungen an die tschechoslowakische Staatlichkeit getilgt werden: Der Unterstaatssekretär im
Auswärtigen Amt, Ernst Woermann, teilte dem japanischen Botschaftsrat
mit, dass die „bisherige Tschechei“ von nun an unter dem „Schutz des
Reichs“ stehe. „In der Proklamation des Führers [Erlass des Führers und
Reichskanzlers über das Protektorat Böhmen und Mähren vom 16. März
1939 – MH] seien statt Tschechei bereits die Länder Böhmen und Mähren
genannt.“41 Auch Goebbels hielt fest:
Wir ordnen an, daß der Name Tschechoslowakei nicht mehr gebraucht wird. Wir reden nur
noch von Böhmen und Mähren als urdeutschen Gebieten. Ich lasse unsere geschichtlichen
Ansprüche auf diese Gebiete im Einzelnen darlegen und fixieren. Das muß alles seine
Ordnung haben. (RICHTER 1998: 286).
Zweifelsohne enthielten die Ausdrücke „Tschechei“ und „Rest-Tschechei“
bei den Nationalsozialisten eine bewusst abwertende Konnotation. Angesichts der historisch aber nur mittleren Beleghäufigkeit und der Konkurrenz weiterer viel stärker pejorativerer Bezeichnungen, welche für die
Tschechoslowakei in den Jahren 1938/1939 in Umlauf kamen, scheint
es jedoch insgesamt fraglich, ob die „Tschechei“ tatsächlich einem ‚historisch kontaminierten‘ „Vokabular des Nationalsozialismus“ (BERNING 2007) zuzurechnen ist: „Vielvölker-Republik“,42 „Zwangsstaat
[…] Polizeistaat“,43 „Monsterstaat, Krokodilstaat“ (PETER 1999c: 848),
„Mosaik, Vampir, Blinddarmstaat“,44 „Tschechenpack“ (FRÖHLICH
2000a: 374), „Drecksstaat“ (FRÖHLICH 2000b: 330), „Raubstaat“45 oder
„Staatskadaver“ (RICHTER 1998: 93).
41
42
43
44
45
Akten zur deutschen Auswärtigen Politik. D/III. (1951: 242).
Blick über den Grenzkamm. Chemnitzer Neueste Nachrichten, Nr. 162 (14.07.1938).
Von Sonntag zu Sonntag. Dresdner Neueste Nachrichten, Nr. 249 (23./24.10.1937).
Kladderadatsch, Nr. 41 (09.10.1938: 4).
Kladderadatsch, Nr. 40 (02.10.1938: 2).
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Die „Tschechei“. Zur historischen Semantik eines (un)gebräuchlichen Toponyms 257
8. Zusammenfassung
Das Toponym „Tschechei“ ist in der deutschen Sprache trotz einer jahrelangen Sprachpflege in der Bemühung um eine „political correctness“
immer noch präsent. Ausgehend von der Sprecherintention lassen sich
4 Gruppen differenzieren: 1) Sprecher, die den Ausdruck „Tschechei“
ohne sprachgeschichtliche Reflexion als morphologisch richtig (vgl. Slowakei, Türkei, Mongolei) empfinden (insbesondere Deutschlerner und
Ausländer). 2) Sprecher, die dem Ausdruck „Tschechei“ aus regionalen
und dialektalen Gewohnheiten den Vorzug geben. Dabei können sie sich
auch der politisch-historischen Implikationen dieses Begriffs bewusst
sein. 3) Sprecher, die die Benennung „Tschechei“ als nationalsozialistisch geprägten Begriff empfinden und auf die Verwendung der von
Wörterbüchern und dem Äuswärtigen Amt empfohlenen Kurz- „Tschechien“ bzw. Langform „Tschechoslowakische Republik“ Wert legen.
4) Sprecher, welche die Bezeichnung „Tschechei“ aus weltanschaulichen
Gründen als bewusst abwertend gegenüber dem deutschen Nachbarstaat benutzen und auch despektierlich verstanden sehen wollen.
Diese verschiedenen Verwendungsweisen lassen sich auch auf die bislang unklare Begriffsgeschichte des Toponyms „Tschechei“ zurückführen.
Wie gezeigt wurde, galt bereits in der Ersten Tschechoslowakischen Republik der Ausdruck „Tschechei“ von tschechoslowakisch-staatlicher Seite
– wie übrigens interessanterweise auch der Ausdruck „Tschechien“ – als
verpönt. Seine Verwendung wurde durch eine umfängliche Zensur in der
ČSR unterdrückt. Von sudetendeutscher Seite, wo der Ausdruck anscheinend seinen Ursprung findet, richtete sich die „Tschechei“ als ‚Protestbezeichnung‘ sowohl gegen die ČSR als Staatswesen als auch gegen die
Tschechen als ‚dominante Volksgruppe‘.
Im deutschen Reich war man sich dieser Sprachgepflogenheiten des
Nachbarstaates ČSR offensichtlich bewusst und inhibierte noch 1934 gegen den Gebrauch des Ausdrucks „Tschechei“ im deutschen Zeitungswesen. Erst in den Jahren 1937 bis 1939, als sich die Tschechoslowakei im
Fadenkreuz der nationalsozialistischen Propaganda wiederfand, führten
Presse und Publizistik die Schreibweise „Tschecho-Slowakei“ bzw. die
Ausdrücke „Tschechei“ und – nach dem Münchner Abkommen – „RestTschechei“ ein. Diese Benennungen finden sich auch in zahlreichen persönlichen und amtlichen Dokumenten nationalsozialistischer Politiker
und in staatlichen Akten wieder.
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Eine Analyse der ‚historischen Semantik‘ zeigt, dass der Ausdruck
„Tschechei“ in der gesamten Zwischenkriegszeit sowohl von tschechoslowakischer als auch deutscher Seite überwiegend als konnotativ herabsetzend empfunden wurde. Die damit emotional verbundene Ablehnung der
Benennung „Tschechei“ wurde in der Tschechoslowakei und nachfolgend
Tschechischen Republik tradiert, obgleich bei jüngeren Generationen der
Widerstand gegen die Bezeichnung „Tschechei“ zu verblassen scheint.
Diese Sichtung erfordert jedoch weitere Erhebungen.
Insgesamt zeichnen sich Orthographie und Benennung des Staates „Tschechoslowakei“ in der deutschen Sprache durch eine große Heterogenität
aus. Verschiedene Schreibweisen und Varianten, darunter eine Vielzahl an
pejorativen Ausdrücken nationalsozialistischer Provenienz, sind belegt.
Angesichts seiner Bedeutungsgeschichte ist der Ausdruck „Tschechei“, obgleich er während des Dritten Reichs ein mittlere Verwendungshäufigkeit
aufweist, nicht als Teil eines genuinen „Vokabulars des Nationalsozialismus“
(BERNING 2007) zu verstehen und stellt aufgrund seiner Verwendungsweise und seines Ursprungs im sudetendeutsch-tschechoslowakischen Binnendiskurs begriffsgeschichtlich kein ‚Nazi-Deutsch‘ dar. Allerdings empfiehlt
es sich aufgrund der Analyse der ‚historischen Semantik‘ des Ausdrucks
„Tschechei“, dass heute der deutsche Sprecher die im political-correctnessDiskurs als unbelastet geltende Kurzform „Tschechien“ wählt.
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