datei öffnen - Europäischen Portfolio der Sprachen
Transcription
datei öffnen - Europäischen Portfolio der Sprachen
Einsatz des Sprachenportfolios im Muttersprachlichen Unterricht (Griechisch, Russisch, Türkisch) Erfahrungsbericht und Anregungen für den Unterricht BLK-VERBUNDPROJEKT: SPRACHEN LEHREN UND LERNEN ALS KONTINUUM erarbeitet von: Ursula Gerling, GeD’in a. D., Wuppertal Marija Vranic, Wuppertal Redaktion: Bettina Gerke, Landesinstitut für Schule, Soest Christiane Groß Diese Publikation wurde im Rahmen des BLK-Verbundprojekts „Sprachen lehren und lernen als Kontinuum – Schulpraktische Strategien zur Überbrückung von Schnittstellen im Bildungssystem“ erstellt und mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung gefördert. Soest 2006 © BLK-Verbundprojekt „Sprachen lehren und lernen als Kontinuum“ Länder des Moduls 3: Brandenburg, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Thüringen 2 BLK-VERBUNDPROJEKT: SPRACHEN LEHREN UND LERNEN ALS KONTINUUM Inhaltsverzeichnis 1. Einsatz des Sprachenportfolios im Muttersprachlichen Unterricht 4 2. Organisatorische Voraussetzungen/Rahmenbedingungen 6 3. Sachliche und inhaltliche Voraussetzungen 9 4. Allgemeine Vorüberlegungen und Übungen zu „Sprachen“ und „Sprachenlernen“ 10 Einführung und Vorstellung des Sprachenportfolios in den Lerngruppen 23 Wege zur Selbsteinschätzung/Umgang mit den Kompetenzstufen des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens 29 7. Kurzprotokolle der Veranstaltungen mit den Lehrkräften 36 8. Vorläufige Erkenntnisse/erreichte und nicht erreichte Ziele 38 9. Anhang: Das Sprachentagebuch – eine Methode, um language awareness zu initiieren 42 5. 6. 3 BLK-VERBUNDPROJEKT: SPRACHEN LEHREN UND LERNEN ALS KONTINUUM 1. Einsatz des Sprachenportfolios im Muttersprachlichen Unterricht Vor vierzig Jahren wurde an vielen Orten in Nordrhein-Westfalen der Muttersprachliche Unterricht (MSU) als Angebot in Italienisch, Spanisch, Portugiesisch und Türkisch zunächst für Kinder aus sogenannten „Anwerberländern“ eingerichtet. Im Laufe der Jahre wurde dieses Angebot auf zwölf Sprachen ausgeweitet. Obwohl es in den letzten Jahren landesweit zum Stellenabbau kam, ist das Sprachenangebot in Wuppertal im vollen Umfang geblieben. Heute machen etwa 2000 Schülerinnen und Schüler davon Gebrauch. Die Einstellung zum Zweitsprachenerwerb und zum Sprachenunterricht allgemein hat sich mit der Zeit verändert. So werden heute Fremdsprachenunterricht, Deutschunterricht und Muttersprachenunterricht nicht als getrennte Fächer, sondern eher als Lernbereiche Sprache betrachtet. Kinder mit Migrationshintergrund nehmen an allen Teilbereichen teil, d. h. wie die deutschen Schülerinnen und Schüler am Deutsch- und am Fremdsprachenunterricht und darüber hinaus freiwillig am Muttersprachlichen Unterricht. Die Sprach(en)kompetenz ist ein wichtiger Bestandteil aller Bemühungen zur Verbesserung des Schulerfolges von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund. Diese Tatsache ist Grund genug, sich darüber Gedanken zu machen, wie diese Kompetenzen vermittelt werden, über wie viel Sprach(en)kompetenz Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund verfügen und wie sie ihre Mehrsprachigkeit wahrnehmen. In diesem Sinne entstand in Zusammenarbeit mit dem Landesinstitut für Schule in Soest und dem Schulamt der Stadt Wuppertal die Idee, das Sprachenportfolio im Schuljahr 2004/2005 im Muttersprachlichen Unterricht als Teilprojekt des BLKVerbundprojektes „Sprachen lehren und lernen als Kontinuum“ unter der Federführung der RAA Wuppertal (Regionale Arbeitsstelle zur Förderung von Kindern und Jugendlichen aus Zuwandererfamilien) auszuprobieren. Beabsichtigt war auch, die Arbeit mit dem Sprachenportfolio vom MSU in die Regelklassen der beteiligten Kinder zu übertragen. Die RAA ist eine kommunale Regeleinrichtung der Stadt Wuppertal. Sie wird personell und finanziell vom Land NRW durch das Ministerium für Gesundheit, Soziales, Frauen und Familie und das Ministerium für Schule, Jugend und Kinder unterstützt. Insgesamt gibt es 27 regionale Arbeitsstellen in NRW.1 Die RAA setzt sich ein für ein interkulturelles Zusammenleben als Chance für die Entwicklung aller Kinder und Jugendlichen sowie für eine gleichberechtigte Teilnahme der zugewanderten Menschen an allen gesellschaftlichen Bereichen, insbesondere im Erziehungs-, Bildungs- und Sozialwesen. Die RAA versteht sich als Unterstützungs-, Beratungs- und Koordinierungseinrichtung. Sie richtet sich – ohne Ein1 Weitere Informationen unter www.raa.de (27.7.2006) 4 BLK-VERBUNDPROJEKT: SPRACHEN LEHREN UND LERNEN ALS KONTINUUM schränkung aufgrund der Nationalität und des ausländerrechtlichen Status – an Kinder, Jugendliche und Eltern, an pädagogische Kräfte, an Vereine und Gruppen und an alle Einrichtungen, die mit Kindern und Jugendlichen aus zugewanderten Familien arbeiten. Sie beteiligt sich an Initiativen des Landes und des Bundes und entwickelt und erprobt neue Ansätze interkultureller Arbeit. In einem ständigen Prozess der Auseinandersetzung entwickelt die RAA ihre Arbeitsansätze ganzheitlich und interdisziplinär in einem multikulturellen Team unter Einbeziehung aktueller Erkenntnisse aus den für die Arbeit relevanten Bereichen. 5 BLK-VERBUNDPROJEKT: SPRACHEN LEHREN UND LERNEN ALS KONTINUUM 2. Organisatorische Voraussetzungen/Rahmenbedingungen Die Gruppe besteht aus sechs Lehrerinnen, die sich bereit erklärt haben, das Sprachenportfolio in ihrem Muttersprachlichen Unterricht einzusetzen und zu erproben. Die Vorkenntnisse über Gebrauch, Sinn und Möglichkeiten des Sprachenportfolios waren nicht sehr ausgeprägt. In zwei Einführungsveranstaltungen zum Thema waren ihnen die Struktur und die Intentionen des Sprachenportfolios vorgestellt worden, aber nähere Kenntnisse waren nicht vorhanden. Von Ende Oktober 2004 bis Mitte Juni 2005 fanden sieben ganztägige Veranstaltungen mit folgenden thematischen Schwerpunkten statt:2 Zeitplan Schuljahr 2004/2005 Oktober 2004 • Erstes Treffen der Gruppe • Vorstellung der Themen und der Arbeitsweisen • Erste Unterrichtsvorschläge zum Einstieg in die Arbeit mit dem Sprachenportfolio Dezember 2004 • Erste Erfahrungsberichte • Übungen und Unterrichtsvorschläge zu den Fertigkeiten Hören – Lesen – Sprechen – Schreiben • Betonen und Herausarbeiten der Zwei- und Mehrsprachigkeit von Lehrkräften und Schülerinnen und Schülern Januar 2005 • Auswahl, Zuordnung und Ausgabe verschiedener Ausgaben des Sprachenportfolios (NRW/Hamburg/Brandenburg) • Berichte und Fragebögen zu den Unterrichtseinheiten März 2005 • Thema Sprachentagebuch: Welche Sprache zu welchen Gelegenheiten mit welchen Kompetenzen? • Sammeln von Vorschlägen für den Einsatz des Sprachentagebuches im Unterricht • Methodenvielfalt im Unterricht: Was wird oft/wenig/gar nicht gemacht? April 2005 • Selbstversuche und vorbereitende Übungen zur Selbsteinschätzung: Hören und Lesen Mai 2005 • Ausführliche Besprechung der Ergebnisse und Schwierigkeiten zur Selbsteinschätzung Hören und Lesen • Vorbereitung zur Selbsteinschätzung Sprechen Juni 2005 • Letzte Sitzung im Schuljahr 2004/2005 • Rückschau auf Ergebnisse, Erfolge, Misserfolge • Perspektiven für das Schuljahr 2005/2006 2 Finanziert wurden diese ebenso wie die Ausstattung der beteiligten Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler mit den gewünschten Modellen des Sprachenportfolios aus Mitteln des BLK-Verbundprojektes „Sprachen lehren und lernen als Kontinuum.“ 6 BLK-VERBUNDPROJEKT: SPRACHEN LEHREN UND LERNEN ALS KONTINUUM Das Engagement der beteiligten Lehrkräfte muss an dieser Stelle ausdrücklich erwähnt werden: Sie erhielten keine Vergütung oder Entlastung für diese zusätzlichen Arbeiten, sondern wurden lediglich teilweise von ihrem Unterricht am Nachmittag freigestellt. Dabei musste beachtet werden, dass nicht zuviel Unterricht ausfiel. Teilnehmerinnen: Susan Kadioglu GGS Marienstraße Wuppertal Kl. 4 15 Schü- Juniorportfolio lerinnen aus Brandenu. Schü- burg3 ler Ayse Topal Hauptschule Nocken Wuppertal Kl. 9 20 Schülerinnen u. Schüler Europäisches MSU Türkisch Sprachenportfolio aus Hamburg4 Marina Haas GGS Distelbeck Wuppertal Kl. 4 bis 6 20 Schülerinnen u. Schüler Europäisches Sprachenportfolio aus Hamburg Eleni Provatou Panagiota Andreou KGS WichKl. 3 linghauser Str. Wuppertal MSU Türkisch MSU Russisch Diese Gruppe bleibt über das Schuljahresende 2004/2005 hinaus zusammen. 28 Schü- Juniorportfolio lerinnen aus Brandenu. Schü- burg ler MSU Griechisch HS Gewerbe- Kl. 5 16 Schü- Europäisches schulstr. Wup- (gelerinnen Sprachenportmischte pertal u. Schü- folio NRW5 Grupler MSU Griechisch Auch diese Gruppe wird im kommenden Schuljahr weitergeführt. pe) Senol Kakil RS Neue Friedrichstr. Wuppertal Kl. 8 und 9 15 Schü- Europäisches lerinnen Sprachenportu. Schü- folio NRW ler MSU Türkisch Bei der Auswahl und Zuordnung der unterschiedlichen Modelle des Sprachenportfolios war wichtig, dass immer zwei Kolleginnen mit dem gleichen Sprachenportfolio arbeiten konnten, um gemeinsam vorbereiten und Probleme besprechen zu können. 3 4 5 Dieses Modell ist über http://www.learn-line.nrw.de/angebote/egs/info/portfolio/index.html (27.07.2006) herunterzuladen. Das in Hamburg entwickelte Portfolio der Sprachen (Sekundarstufe I) ist über Diesterweg zu beziehen: Schülermaterial: ISBN 3-507-71205-9, Lehrerpaket ISBN 3-507-71206-7 Informationen zum nordrhein-westfälischen Modell (Sekundarstufe I) unter: http://www.learn-line.nrw.de/angebote/portfolio/ (27.07.2006) 7 BLK-VERBUNDPROJEKT: SPRACHEN LEHREN UND LERNEN ALS KONTINUUM Der Muttersprachliche Unterricht findet am Nachmittag statt. Die Kolleginnen kommen in ihre Stammschulen, wenn die deutschen Kolleginnen und Kollegen und die deutschen Kinder nach Hause gegangen sind. Die Kinder kommen nicht nur aus den Stammschulen, sondern auch von anderen Schulen. Die Teilnahme am MSU ist freiwillig, die Kinder werden von ihren Eltern angemeldet. Wechseln die Kinder von der Grundschule zu einer weiterführenden Schule, so wechseln sie möglicherweise auch den Ort und die Lehrperson für den MSU. Alle Kolleginnen und Kollegen, die in Wuppertal Muttersprachlichen Unterricht erteilen, werden von Frau Marija Vranic betreut, z. B. im Rahmen von regelmäßig stattfindenden Dienstbesprechungen. Als abgeordnete Lehrerin koordiniert sie bei der RAA Wuppertal den MSU in zwölf Sprachen, an dem etwa 2000 Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund teilnehmen. Frau Vranic hat die Kolleginnen zur Teilnahme an diesem Projekt motiviert. Sie hat auch die organisatorische Verantwortung, z. B. Absprachen mit dem zuständigem Schulrat treffen, verschicken der Einladungen und Raumbeschaffung für die Sitzungen. Diese organisatorischen Voraussetzungen werden bei der Auswertung der Arbeitsergebnisse zu beachten sein. 8 BLK-VERBUNDPROJEKT: SPRACHEN LEHREN UND LERNEN ALS KONTINUUM 3. Sachliche und inhaltliche Voraussetzungen Da das Sprachenportfolio im Muttersprachlichen Unterricht eingesetzt und bearbeitet werden sollte und nicht, wie sonst üblich, im Fremdsprachenunterricht, waren einige sachliche Voraussetzungen neu und die Rahmenbedingungen anders als bei den Klassen, in denen das Sprachenportfolio bislang eingesetzt wurde. Die Lehrerinnen, bis auf eine, unterrichten keine Fremdsprache, sondern ihre Muttersprache. Sie sprechen zwar Deutsch, leben seit Jahren oder gar Jahrzehnten in Deutschland, betrachten aber Deutsch als ihre Zweitsprache. Die Unterrichtssprache im MSU ist die jeweilige Muttersprache. Da nun das Sprachenportfolio auf Deutsch ist und auch auf Deutsch ausgefüllt wird, findet die deutsche Sprache plötzlich Eingang in den MSU. Der Unterricht wird zweisprachig. Für die Lehrerinnen ist das eine neue Situation und eine neue Herausforderung. Die Kinder, die sie unterrichten, sind zweisprachig, manchmal sogar mehrsprachig. Bei der Arbeit mit dem Sprachenportfolio geht es also um die jeweiligen Muttersprachen, um Deutsch und um schulisch vermittelte Fremdsprachen wie Englisch. Für die Kinder ist wiederum neu, dass ihre MSULehrerin plötzlich auch Deutsch mit ihnen spricht. Die Lehrerinnen wissen über den Stand der Deutschkenntnisse ihrer Schülerinnen und Schüler bislang nur wenig. Sie wissen auch nicht genau, ob Deutsch oder die jeweilige „Muttersprache“ die „erste“ Sprache für die Kinder ist. Vor allem die Tatsache, dass die Lehrerinnen keine Fremdsprachenlehrerinnen im klassischen Sinne sind, erfordert eine besondere Art der Vorbereitung und Einarbeitung in das Sprachenportfolio. Auf die Zweisprachigkeit der Kinder wird in besonderer Weise einzugehen sein. Die Kinder sind keine Sprachlernanfänger, sie beherrschen zwei Sprachen, wahrscheinlich unterschiedlich gut und haben andere Sprachlernerfahrungen als Schülerinnen und Schüler, die einsprachig aufwachsen und erst in der Schule Sprachlernerfahrungen machen. Um diese Voraussetzungen und Rahmenbedingungen angemessen zu berücksichtigen, wird in den folgenden Arbeitsschritten immer der Grundsatz gelten: „Erst selber machen, dann die Kinder machen lassen.“ Alle Übungen und Aufgaben werden die Lehrerinnen also zuerst an sich selbst ausprobieren, bevor sie daran mit den Kindern arbeiten. 9 BLK-VERBUNDPROJEKT: SPRACHEN LEHREN UND LERNEN ALS KONTINUUM 4. Allgemeine Vorüberlegungen und Übungen zu „Sprachen“ und „Sprachenlernen“ „Sprachenvielfalt“: Eine erste Abfrage unter den Kolleginnen ergab, dass alle außer Deutsch und der Muttersprache noch eine oder mehrere Sprachen gut, ein bisschen oder nur sehr rudimentär „konnten.“ Dabei stellte sich heraus, dass Sprachen aus der Kindheit, die in der Nachbarschaft gesprochen wurden, noch präsent waren, z. B. Albanisch. Daraus ergab sich für den Unterricht die Arbeit an Blatt 1 (siehe Abbildung 1, Figur aus dem Hamburger Sprachenportfolio). Die Ergebnisse waren sehr vielfältig. Die Kinder hatten großen Spaß am Ausmalen, wobei sie sehr gut unterscheiden konnten, welchen Anteil die Sprachen haben, ob viel oder wenig Farbe gebraucht wurde. Abbildung 1 aus: Hamburger Sprachenportfolio 10 BLK-VERBUNDPROJEKT: SPRACHEN LEHREN UND LERNEN ALS KONTINUUM Daran anschließend erfolgte die Aufgabe, Wörter, Sätze sowie Redewendungen in den einzelnen Sprachen aufzuschreiben. Hier stellte sich heraus, dass die Kinder oft nur Wörter oder Sätze sprechen konnten, aber kein Schriftbild zur Verfügung hatten. Es ergab sich auch, dass bei vielen Kindern mehr als nur zwei Sprachen in der Familie vorkommen, wie z. B. Kurdisch in türkischen Familien oder Ukrainisch in russischen Familien. Diese Sprachenvielfalt fand dann später beim Ausfüllen der Biografie erneut Beachtung und Dokumentation. Zu den Fertigkeiten Verstehen, Sprechen, Schreiben: In einem eher theoretischen Exkurs wurden den Kolleginnen die verschiedenen sprachlichen Fertigkeiten in ihrer ganzen unterschiedlichen Ausprägung bewusst gemacht und diskutiert. So wurde im Gespräch deutlich, dass 1. Verstehen sich sowohl hörend als auch lesend vollziehen kann und 2. weder Hören und Verstehen noch Lesen und Verstehen als Kompetenzen voneinander zu trennen sind. Beim Sprechen verdeutlichte sich der Unterschied von alleine, mit „einem Partner“ oder mit „mehreren“ zu sprechen.6 Bei der Fertigkeit Schreiben wurden die Unterschiede von verschiedenen Formen des gebundenen Schreibens, vom Abschreiben bis hin zum freien Schreiben diskutiert. Dieser ausführliche Exkurs erwies sich als notwendig und für den Unterricht als sehr förderlich, wie die nachfolgenden praktischen Unterrichtsbeispiele zeigen werden. Zwei Fragestellungen rückten in den Vordergrund und beschäftigten die Lehrerinnen und die Schülerinnen und Schüler über einige Wochen: • In welcher Sprache höre, spreche, lese und schreibe ich? Und was? • Wann und mit wem benutze ich welche Sprache? Hier wurde die Zwei- bzw. Mehrsprachigkeit der Lehrerinnen und der Schülerinnen und Schüler besonders deutlich. In den Klassen 3/4 und 5 kam das „Kopfblatt“ zum Einsatz, in den höheren Klassen wurde das Blatt „Das mache ich“ ausgefüllt (siehe Abbildungen 2, vier Beispiele). 6 Der Gemeinsame europäische Referenzrahmen (GeR) unterscheidet zwischen zusammenhängendem Sprechen einerseits und der Teilnahme an Gesprächen andererseits. 11 BLK-VERBUNDPROJEKT: SPRACHEN LEHREN UND LERNEN ALS KONTINUUM Abbildungen 2 12 BLK-VERBUNDPROJEKT: SPRACHEN LEHREN UND LERNEN ALS KONTINUUM 9. Klasse Schülerbeispiel 1: Das mache ich: Sprache Hören Lesen Sprechen Schreiben 1. Deutsch in der Schule im Unterricht im Kaufhaus im Fernsehen Musik Radio Internet Werbung Zeitung Schule Bücher Lexikon Einladung mit den Freunden mit Lehrern zu Hause im Unterricht Brief schreiben SMS schreiben Hausaufgaben Plakate 2. Türkisch zu Hause im Türkischunterricht im Laden im Fernsehen Musik Zeitung Romane Einladung Bücher Schule Internet mit Türkischlehrerin mit Freunden in der Umgebung zu Hause Plakate Briefe schreiben SMS schreiben Hausaufgaben 3. Englisch Musik im Englischunterricht im Fernsehen Internet Bücher Texte Werbung im Unterricht Hausaufgaben im Unterricht Schülerbeispiel 2: Enes B.7 Das mache ich: Sprache Hören Lesen Sprechen Schreiben 1. Türkisch Ich höre Türkisch, wenn ich Türkisches Kanal aufmache und wenn ich Türkisches Lied höre oder wenn jemand mit mir Türkisch redet Türkisch lese ich in der Klasse wenn ich Türkisch habe. Zu Hause spreche ich Türkisch meistens mit meinen Eltern, Geschwistern, Bekannten Oder bei den Eigentlich spreche ich Türkisch mit fast allen Türken. Ich schreibe Türkisch wenn es nötig ist z. B. in einer Türkischunterricht. 2. Deutsch Deutsch höre ich so zusagen am meisten, weil ich in Deutschland lebe. Weil ich auf einer Deutschen Schule gehe. Im Fernsehen höre ich am meisten Deutsch. Ich lese nur Deutschebücher wenn wir in der Klasse Deutsch lesen. Ich spreche Deutsch, weil in Deutschland auf einer Deutschen Schule gehe. Deswegen spreche ich Deutsch häufig. Ich schreibe Deutsch in der Klasse sehr häufig viel mehr als Türkisch, denn Deutsch zu schreiben ist in Deutschland sehr wichtig. 3. Englisch Englisch höre ich im Fernsehen. Aber am meisten von mein Englischlehrer Ich lese Englisch am meisten in Englischkurs in der Schule. In Bücher, Plakate und vieles mehr. Ich spreche Englisch sehr selten, nur in der Klasse wenn wir Englisch haben. Ich schreibe Englisch nur in der Klasse. Weil unser Englischlehrer uns Aufgaben gibt. 7 Normverstöße wurden aus Gründen der Authentizität nicht korrigiert. 13 BLK-VERBUNDPROJEKT: SPRACHEN LEHREN UND LERNEN ALS KONTINUUM Schülerbeispiel 3: Das mache ich: Nazite - Nasli Sprache Hören Lesen Sprechen Schreiben 1. Türkisch Türkisch Unterricht Eltern Freunde(nin) Buch (Nemo Türkisches Lesebuch Eltern Türkische Lehrerin Türkisch Hausaufgaben Brife 2. Deutsch Deutsch Lehrerin Deutsche Freunde(nin) Deutsches Buch (Kunterbunt) Westdeutsche Zeitung Deutsche Lehrerin Freunde(nin) Schwestern Bruder Deutsche Unfhele Deutsche Briefe 3. Englisch English Lehrerin Englisches Pirpils Book Actiwidi Book Englisch Lehrerin Englisch Unterricht Diese Unterrichtssequenzen und die entsprechenden Arbeitsblätter wurden teils in der Muttersprache, teils in Deutsch durchgeführt und ausgefüllt, so wie die Lehrerinnen es für richtig hielten. Häufig wollten die Schülerinnen und Schüler diese Aufgaben lieber in Deutsch als in der Muttersprache erledigen, berichteten die Kolleginnen. Nach den Feststellungen: „Das sind meine Sprachen“ und „Das mache ich in meinen Sprachen“ kam nun der dritte Schritt: „Das kann ich in meinen Sprachen.“ Natürlich ging es noch nicht um die Selbsteinschätzungen nach den Kompetenzstufen, wie sie im GeR festgelegt sind und im Sprachenportfolio vorkommen. Die Fragestellung hieß: „Was kann ich in meinen Sprachen gut oder nicht so gut?“ Die Abbildungen 3 zeigen fünf Beispiele (Maus in der 3. und 4. Klasse, Tabelle in den höheren Klassen): 14 BLK-VERBUNDPROJEKT: SPRACHEN LEHREN UND LERNEN ALS KONTINUUM Abbildungen 3 3. Klasse 3. Klasse 15 BLK-VERBUNDPROJEKT: SPRACHEN LEHREN UND LERNEN ALS KONTINUUM Und nun überlege, was du können musst, um eine Sprache „gut“ zu können. 1. Gesprochenes hören und verstehen Beispiele: 2. Geschriebene Texte lesen und verstehen Beispiele: 3. _______________________________________________________________ Beispiele: 4. _______________________________________________________________ Beispiele: 5. _______________________________________________________________ Beispiele: 16 BLK-VERBUNDPROJEKT: SPRACHEN LEHREN UND LERNEN ALS KONTINUUM 17 BLK-VERBUNDPROJEKT: SPRACHEN LEHREN UND LERNEN ALS KONTINUUM 18 BLK-VERBUNDPROJEKT: SPRACHEN LEHREN UND LERNEN ALS KONTINUUM Um herauszufinden und bewusst zu machen, wann und wie oft die Schülerinnen und Schüler sich in welcher Sprache bewegen, wurden sie angeregt ein „Sprachentagebuch“ zu führen. Die Schülerinnen und Schüler wurden aufgefordert darzustellen, sei es geschrieben, sei es grafisch, welchen Anteil welche Sprache im Bereich Hören, Lesen, Sprechen und Schreiben im Laufe eines Tages oder einer Woche hat. Alle Schülerinnen und Schüler wählten eine grafische Form, wobei die jüngeren Kinder sich eher einen Tag lang und die älteren Schülerinnen und Schüler ein paar Tage lang beobachteten. Die Lehrerinnen, die selbst eine Beschreibung zum Gebrauch ihrer Sprachen gemacht hatten, waren zunächst skeptisch, ob die Schülerinnen und Schüler diese Aufgabe erledigen wollten oder konnten. Die Ergebnisse waren überraschend, die Schülerinnen und Schüler waren mit großer Begeisterung bei dieser Arbeit und lieferten vielfältige Produkte ab, die zahlreiche Gesprächsanlässe boten und von den Schülerinnen und Schülern erläutert und kommentiert wurden (siehe Abbildungen 4, vier Beispiele). Es zeigte sich, den Berichten der Lehrerinnen folgend, dass die Schülerinnen und Schüler sehr bewusst mit ihrer Zweisprachigkeit umgehen. Abbildungen 4 Gudrun Oynat. 9a Sprachgebrauch im Alltag! Deutsch: Türkisch konsumat Reden yazmat Schreiben deumate Lesen Pazastesi Montag Sali Dienstag Garbamba Mittwoch Peesenibe Donnerstag Wie man hier deutlich sehen kann, gebrauche ich im Alltag mehr die „Fremdsprache“ als meine Muttersprache. Ich denke, dass es nicht nur bei mir dieser Fall ist. Bei vielen ausländischen Schülern ist es bestimmt auch so.8 8 Im Gespräch könnte geklärt werden, in welchen Situationen Deutsch bzw. Türkisch verwendet wurde (z. B. Unterricht, Pause, Mittagessen, Hausaufgaben usw.). Wichtig wäre auch zu erfahren, auf welcher Basis die Schülerin ihre Einschätzung vorgenommen hat: Hat sie Situationen notiert und ihren Sprachen zugeordnet oder hat sie die Zeitanteile der jeweiligen Sprache gemessen oder geschätzt? Das Thema „Sprachentagebuch“ wird im Schuljahr 2005/2006 und damit im zweiten Teil des Berichts aufgegriffen und ausführlich dargestellt. 19 BLK-VERBUNDPROJEKT: SPRACHEN LEHREN UND LERNEN ALS KONTINUUM Klasse 1, Grundschule 20 BLK-VERBUNDPROJEKT: SPRACHEN LEHREN UND LERNEN ALS KONTINUUM Klasse 5, Hauptschule9 9 Der Beitrag „Das Sprachentagebuch – eine Methode, um language awareness zu initiieren – Beispiele aus dem Muttersprachlichen Unterricht“ zeigt Deutungsversuche für die Darstellungen auf Seite 20 und 21 (vgl. Anhang). 21 BLK-VERBUNDPROJEKT: SPRACHEN LEHREN UND LERNEN ALS KONTINUUM 22 BLK-VERBUNDPROJEKT: SPRACHEN LEHREN UND LERNEN ALS KONTINUUM 5. Einführung und Vorstellung des Sprachenportfolios in den Lerngruppen Nach diesen vorbereitenden Übungen und Aufgaben wurde das Sprachenportfolio schließlich in den Gruppen eingeführt. Die Kolleginnen hatten untereinander abgesprochen, welche Seiten sie innerhalb der vorgegebenen Zeit (4 Wochen bis zur nächsten Sitzung) mit ihren Gruppen in ihrem Sprachenportfolio bearbeiten wollten. Nach der Einführung in den Gruppen füllten die Lehrerinnen einen Protokollbogen aus (Abbildungen 5, drei Beispiele). Die mündlichen Berichte und Kommentare der Lehrerinnen über die Einführung des Portfolios zeigten übereinstimmend das Erstaunen der Kinder, dass sie und nicht auch ihre „deutschen“ Klassenkameradinnen ein Sprachenportfolio bekommen. Zitat einer Schülerin der 3. Klasse: „Die anderen können ja gar keine Sprachen, nur ihr Deutsch und die paar Worte Englisch.“ Zitat einer älteren Schülerin: „Das ist gut, da habe ich den anderen endlich mal was voraus.“ 23 BLK-VERBUNDPROJEKT: SPRACHEN LEHREN UND LERNEN ALS KONTINUUM Abbildungen 5 24 BLK-VERBUNDPROJEKT: SPRACHEN LEHREN UND LERNEN ALS KONTINUUM 25 BLK-VERBUNDPROJEKT: SPRACHEN LEHREN UND LERNEN ALS KONTINUUM 26 BLK-VERBUNDPROJEKT: SPRACHEN LEHREN UND LERNEN ALS KONTINUUM Wie die Protokollbögen zeigen, hatten die Schülerinnen und Schüler keine Schwierigkeiten beim Ausfüllen der ersten Seiten. Die Arbeitsblätter, die bisher bearbeitet worden waren, bilden die ersten Beiträge zum Dossier. Eine Kollegin arbeitete noch weitergehend: Abbildung 6 Es war mit den Lehrerinnen vereinbart worden, dass die Arbeit am und mit dem Sprachenportfolio in den Unterricht integriert und zwangloser Bestandteil des Unterrichts sein sollte. Die Übungsformen, Arbeitsblätter, alles, was im Zusammenhang mit dem Sprachenportfolio steht, sollte Bereicherung und Anregung des Sprachunterrichts sein. Ein weiterer Lehrerfragebogen (Abbildung 7) diente dazu, den Stellenwert dieser Arbeit zu betonen. Die Lehrerinnen fanden es wichtig, immer wieder Rückmeldungen zu geben, auch in kurzer schriftlicher Form und nicht nur mit den mündlichen Berichten, die fester Bestandteil jeder Arbeitssitzung waren. Dieser Austausch wurde immer wichtiger und gab immer wieder neue Anregungen. Die Lehrerinnen haben im schulischen Alltag wenig Möglichkeiten, sich untereinander über ihre Arbeit auszutauschen und voneinander zu lernen. 27 BLK-VERBUNDPROJEKT: SPRACHEN LEHREN UND LERNEN ALS KONTINUUM Abbildung 7 28 BLK-VERBUNDPROJEKT: SPRACHEN LEHREN UND LERNEN ALS KONTINUUM 6. Wege zur Selbsteinschätzung/Umgang mit den Kompetenzstufen des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens In den Einführungsveranstaltungen waren den Lehrerinnen die Kompetenzstufen und der Referenzrahmen vorgestellt worden und sie waren über den Unterschied von Bewertung und Beschreibung sprachlicher Leistungen informiert worden. Die Bedeutung war allen theoretisch klar. Als nun nach der Einführung der Sprachenportfolios in den Lerngruppen über die ersten Versuche zur Selbsteinschätzung diskutiert wurde, stellte sich heraus, dass doch noch eine allgemeine Unsicherheit bestand, wie sprachliche Leistungen den Kompetenzstufen zuzuordnen sind. Die Kolleginnen wollten selbst ausprobieren, wie sich die einzelnen Stufen in ihrer sprachlichen Beschreibung unterscheiden, um Sicherheit bei der Zuordnung zu gewinnen. Nur, wenn sie selbst die Kompetenzstufen richtig anwenden könnten, wären sie in der Lage, das auch den Schülerinnen und Schülern zu vermitteln. Bei den nachfolgenden Übungen wurden die Formulierungen der Kompetenzstufen aus dem Europäischen Portfolio der Sprachen aus Nordrhein-Westfalen benutzt. Hören und Lesen: Die Kolleginnen sollten A1 bis C2 diesen Beispielen zuordnen. Abbildung 8 Hören10 1. Ich verstehe das Wesentliche von kurzen, klaren und einfachen Durchsagen im Radio oder von anderen Tonträgern, wenn langsam und deutlich gesprochen wird. 2. Ich kann Radio-, Fernsehsendungen und Spielfilmen folgen, wenn in normalem Tempo und deutlich gesprochen wird und keine Dialektfärbungen vorkommen. 3. Ich kann kurze Anweisungen, Aufforderungen und Fragen verstehen und darauf reagieren. 4. Ich kann aus dem Zusammenhang und mit Hilfe von Gesten, Mienenspielen und Reaktionen der anderen Gesprächsteilnehmer schließen, was im Detail zur Diskussion steht und worin sich die Sprecher unterscheiden. 5. Ich verstehe jede Art gesprochener Sprache unabhängig vom Sprechtempo, Umgebungsgeräuschen und Dialektfärbungen. Und ich kann dabei idiomatische Wendungen und Metaphern aus dem Zusammenhang deuten. 6. Ich kann aus Radio- und Fernsehsendungen die für mich wichtigen Informationen entnehmen, wenn es um mir vertraute Themen geht. 10 vgl. NRW-Portfolio, Anhang, S. 26-27. 29 BLK-VERBUNDPROJEKT: SPRACHEN LEHREN UND LERNEN ALS KONTINUUM Lesen11 1. Ich lese und verstehe Artikel, Erzählungen, Gedichte und Liedtexte auch dann, wenn ich nicht vorher weiß, um was es darin geht. 2. Für mich bedeutet das Lesen von Texten in der Fremdsprache keine besondere Anstrengung, auch wenn sie abstrakt oder inhaltlich und sprachlich komplex sind, z. B. Sachbücher. 3. Sobald ich literarische Texte in der Fremdsprache lese, verliere ich weder den roten Faden noch meine Geduld, wenn ich nicht jedes Wort auf Anhieb verstehe. 4. Ich kann mir zurechtlegen, worum es in den Texten geht, die nicht im Lehrbuch stehen (z. B. in Prospekten und in der Werbung. 5. Ich kann Texte meiner Mitschülerinnen und Mitschüler verstehen und deren Inhalt kommentieren. 6. Ich kann geschriebene Anweisungen verstehen und befolgen, auch Anmerkungen zu meinen eigenen Arbeiten. In Partnerarbeit suchten die Lehrerinnen nun Sprachbeispiele zu den Kompetenzstufen A1 und B1 (Hören) und A2 und B1 (Lesen) in ihrer Muttersprache. Im Unterricht führten die Lehrerinnen besonders eine Übung durch, die den Schülerinnen und Schülern offenbar besonderen Spaß machte: Sie verteilten Kärtchen mit Aufträgen, die ein anderes Kind durchführen musste und damit beweisen sollte, dass es den Auftrag verstanden hatte. Dabei gab es durchaus komplizierte Verstehensaufträge zu erfüllen. Dieses Spiel wurde in Deutsch und in der Muttersprache gemacht. Als Erkenntnis kam heraus, dass einige Schülerinnen und Schüler Verstehensdefizite hatten, die den Lehrerinnen noch nicht aufgefallen waren. Die Kollegin, die auch Englischlehrerin ist, machte diese Übung auch mit englischen Beispielen. Beispiele: 1. „Nimm dein Mathebuch, geh zu deiner Freundin, lege es auf den Tisch.“ 2. „Geh zur Tür, öffne sie mit deiner linken Hand, geh hinaus, schließe sie mit deiner rechten Hand.“ 3. „Steh auf, stelle dich auf deinen Stuhl, spring herunter, laufe dreimal um den Tisch und singe ein türkisches Lied dabei.“ 4. „Hüpfe viermal auf dem rechten Fuß und fünfmal auf dem linken Fuß. Dreh dich dreimal um und setz dich wieder hin.“ Diese Beispiele können auch in der jeweiligen Muttersprache erfolgen. 11 vgl. NRW-Portfolio, Anhang, S. 28-29. 30 BLK-VERBUNDPROJEKT: SPRACHEN LEHREN UND LERNEN ALS KONTINUUM Die Kolleginnen berichteten, wie sehr diese Übung dazu beitrug, den Kindern zu verdeutlichen, was es heißt, „etwas zu verstehen.“ Sie haben immer wieder die Beobachtung gemacht, dass Kinder leicht sagen: „Das habe ich verstanden“, besonders bei Arbeitsaufträgen und dann doch die Aufgabe nicht richtig erfüllten. Im weiteren Verlauf der Diskussion über Hörverstehensaufgaben wurden auch schwierigere Aufgabenbeispiele genannt, wie z. B. richtig oder falsch antworten nach dem Hören einer Geschichte bis hin zum Nacherzählen eines Textes. Bei diesen Hörbeispielen wurden Durchsagen auf dem Bahnhof ebenso nachgestellt wie Durchsagen in der Schule oder Beiträge im Radio. Die Lehrerinnen berichteten, dass im Hinblick auf die Kompetenzstufen die Kinder selbst sagten, ob sie eine Aufgabe z. B. „gut“ oder „nicht so gut“ verstanden und dann erledigt hatten. Sprechen: Jede Kollegin bekam eine Karte mit einer Sprechanweisung auf Deutsch. Beispiele: 1. Du fragst eine Freundin, ob sie mit dir zu einem Konzert einer bestimmten Gruppe fahren will. Die Freundin hat keine Lust, überrede sie, suche Argumente, mach ihr den Ausflug schmackhaft. 2. Erzähle über eine Fernsehsendung (Film/Buch), die du kürzlich gesehen hast. Du willst sie dem Gegenüber empfehlen oder ihm davon abraten. 3. Sage, wer du bist, wo du wohnst, wo du zur Schule gehst. Sprich über deine Familie, deine Freizeit und über deinen Schulalltag. 4. Du bist in der Post und möchtest ein Päckchen in die Türkei schicken. Du willst wissen, was der grüne Zollzettel bedeutet, was du darauf schreiben sollst. Du fragst, was das kostet, ob es per Luftpost geht und wie lange es unterwegs ist. Die Kollegin musste diese Anweisung nun auf Deutsch ausführen, die anderen Kolleginnen beurteilten auf der Abbildung 9 die Leistung, wobei die Pfeile auch eingetragen werden sollten. Diese Übung lässt sich ohne Probleme auf den Unterricht übertragen, wobei unterschiedliche Leistungsanforderungen leicht einzubringen sind. 31 BLK-VERBUNDPROJEKT: SPRACHEN LEHREN UND LERNEN ALS KONTINUUM Abbildung 9 gut Î nicht so gut Ó Miteinander sprechen Ich kann sagen, wer ich bin, wo ich wohne und zur Schule gehe. Ich kann auch über meine Familie, meine Freizeit, Freunde und über meinen Schulalltag etwas sagen. Ich kann mitteilen, wie alt ich bin, wann ich Geburtstag habe, wo etwas liegt, wie viele Dinge ich habe oder sehe und wann etwas stattfindet. 12 A1 sehr gut Ò Ich kann knapp und genau darstellen, was ich vorhabe oder was mir zu einem Stichwort oder Bild einfällt, und ich kann das auch begründen oder näher erläutern. Ich kann erzählen oder berichten, was ich erlebt, gelesen, beobachtet oder mit Anderen unternommen habe. B1 Ich kann nicht nur etwas mitteilen oder erfragen, sondern auch zeigen, ob ich damit einverstanden bin oder einen anderen Vorschlag oder eine andere Meinung habe. A2 Ich kann an Kiosken, in Geschäften, an Post- oder Bahnschaltern verständlich machen, was ich haben oder erfahren möchte. Schreiben: Das Einschätzen der sprachlichen Teilfertigkeit Schreiben erfolgte durch die Zuordnung der nachstehenden sechs Beispiele zu den Kompetenzstufen. Diese Übung fiel den Lehrerinnen schwer, weil sie sich oft der deutschen Sprache nicht so sicher waren, aber die Übertragungsmöglichkeiten auf die Muttersprache waren klar. 1. Ich heiße Johanna Müller. Ich habe braune Auge und braun Haar. Ich bin nur 1,50 m klein und 12 Jahre alt. Ich bin nicht sehr dünn. 2. Ich heiße Johanna Müller, bin Schülerin der 6. Klasse an der Gesamtschule Barmen in Wuppertal. Wuppertal liegt in NRW und ist eine Großstadt. Ich spiele Handball im Verein und gehe einmal in der Woche zum Schwimmtraining, weil ich gerne gut schwimmen will, um an Wettkämpfen teilnehmen zu können. 12 vgl. NRW-Portfolio, Anhang, S. 30 32 BLK-VERBUNDPROJEKT: SPRACHEN LEHREN UND LERNEN ALS KONTINUUM 3. Liebe Oma, ich habe dein Geburtstagspäckchen erhalten. Ich freue mich sehr über den Pullover, denn rot steht mir gut. Er passt wie angegossen. Ich bedanke mich sehr für alles, auch für die 20 Euro, die ich noch in der Tasche gefunden habe. Wir haben eine richtige Party gefeiert mit 12 Freunden und Freundinnen. Herzliche Grüße Deine Enkelin Johanna 4. Die Bildcollage, die vor mir ist, ist schön. Die Farbe ist bunt, aber nicht so hell. Ich sehe Häuser und Tiere, nicht aber Mensche. Es soll ein Dorf sein. 5. Was machst du für ein Hobby? Was ist Lieblingsmusik? Bis du gerne in Deutschland? Wie oft fährst du nach Türkei? Sind deine Freunde Türkisch oder Deutsch? 6. Meine Oma wohnt in Griechenland in einem kleinen Dorf direkt am Meer. Sie ist sehr alt und hat immer schwarze Kleidung. Sie sitzt am Haus und macht das Essen. Ich habe sie gern. 33 BLK-VERBUNDPROJEKT: SPRACHEN LEHREN UND LERNEN ALS KONTINUUM Abbildung 10 sehr gut Ò gut Î nicht so gut Ó Schreiben 13 Ich kann einen Steckbrief mit kurzen und wenigen Angaben z. B. zu Augenfarbe, Größe, Alter usw. vervollständigen. Ich kann über mich selbst schreiben, wer ich bin, wo ich wohne, woher ich komme und was ich gern mag oder tue. A1 Ich kann auf einer Postkarte wenige kurze und vorgeübte Sätze schreiben. Ich kann aufschreiben, was ich über eine andere Person weiß, wo er/sie wohnt, woher er/sie kommt. Ich kann einfache Sätze schreiben und sie mit und/aber/denn verbinden. Ich kann mich in einem Brief oder auf einer Postkarte bedanken, entschuldigen oder mitteilen, was der Empfänger wissen oder tun soll. A2 Ich kann kurze Notizen zu Bildern und Collagen für andere Mitglieder meiner Lerngruppe schreiben. Ich kann mich selbst, meine Familie, meine Hobbys, meine Schule usw. in vollständigen Sätzen kurz vorstellen. Ich kann in einem persönlichen Brief eine Reise, ein Wochenende, ein Erlebnis, eine Feier schildern. Ich kann Fragen für ein Interview aufschreiben und das Ergebnis der Befragung in einem Text zusammenfassen. Ich kann mir Notizen und Stichworte über einen Text oder zu einem Vortrag machen, um darüber zu berichten. 13 vgl. NRW-Portfolio, Anhang, S. 32 34 B1 Ich kann in einem Text erläutern, was mit einer Zeichnung, einer Bildcollage gemeint ist. BLK-VERBUNDPROJEKT: SPRACHEN LEHREN UND LERNEN ALS KONTINUUM Abbildung 11 Sprachliche Leistungen Beispiel Deutsch: Russisch: Englisch: Ich --------------- Aldi Deutsch: Russisch: Englisch: Ich gehe zu Aldi Deutsch: Russisch: Englisch: Ich gehe mit meiner Mutter zu Aldi. Deutsch: Russisch: Englisch: Ich gehe jeden Mittwoch mit meiner Mutter zu Aldi. Deutsch: Ich gehe jeden Mittwoch mit meiner Mutter zu Aldi, um Wurst und Milch einzukaufen, weil es dort billig ist. Russisch: Englisch: Und nun bilde eine neues Beispiel Deutsch: Ich ----------- Fußball Schreibe auf die Rückseite oder auf ein neues Blatt. Achte auf gute Schrift und die Rechtschreibung. Dieses Blatt soll den Schülerinnen und Schülern dabei helfen, ein Gefühl dafür zu entwickeln, dass man einen Gedanken oder eine Tatsache nur sehr kurz und rudimentär ausführen kann, aber auch sehr differenziert. Es wurde auch für Türkisch und Griechisch zur Verfügung gestellt. Dieses Beispiel brachten die Lehrerinnen ohne eigene Vorübung in den Unterricht ein, und der Erfolg war groß. Die Schülerinnen und Schüler arbeiteten offenbar mit großem Spaß an dieser Aufgabe und fanden auch eigene Beispiele, wie man sprachliche Leistungen gut, besser und noch viel besser produzieren kann. Interessant waren einige Schülerkommentare aus der 4. Klasse: „Bei der Arbeit mit diesem Blatt habe ich richtig gemerkt, was man in Sprachen alles machen kann.“ „Ich habe gemerkt, dass ich das in Deutsch besser kann als in Türkisch.“ „Bis ich das in Englisch kann, muss ich noch viel lernen.“ „Man kann was gut sagen und nicht so gut, das ist ein Unterschied.“ 35 BLK-VERBUNDPROJEKT: SPRACHEN LEHREN UND LERNEN ALS KONTINUUM 7. Kurzprotokolle der Veranstaltungen mit den Lehrkräften Eingangs wurde erwähnt, dass sich die Lehrkräfte zu sieben Terminen ganztägig getroffen haben. Die folgenden Kurzprotokolle dokumentieren die jeweiligen thematischen Schwerpunkte. 1. Sitzung Ausführliche Vorstellung der Teilnehmerinnen über Schule, Klassenzusammenstellung, Stundenplan, persönliche Daten, Sprachenvielfalt Informationsaustausch über vorhandenes Wissen zum Sprachenportfolio Sammeln der Wünsche für die nächste Sitzung (Kompetenzstufen, unterschiedliche Portfolio-Typen, Zusammenarbeit mit Partnerin klären, Unterrichtsstunden zum Portfolio gemeinsam planen) Unterrichtsvorschlag für die erste Stunde besprechen: „Mehrsprachigkeitsperson“ nach Hamburger Portfolio. Die Lehrerinnen stellen ihre persönliche Mehrsprachigkeit vor (Kopf, Körper, Hand ... welche Sprache ist zuständig?). Möglichkeiten, die Figur farblich zu gestalten, mit Flaggen für Sprachen, Farben, Grafik werden vorgeschlagen. Der Fantasie der Schülerinnen und Schüler soll viel Raum gelassen werden 2. Sitzung Berichte aus dem Unterricht Beispiele der „Mehrsprachigkeitsperson“ werden vorgestellt (siehe Abbildung 1). Die Schülerinnen und Schüler haben mit großer Begeisterung gearbeitet, die Lehrerinnen haben viel über die Sprachen der Schülerinnen und Schüler und ihrer Familien erfahren, in fast jeder Familie kommen mehr als zwei Sprachen vor. Aufgabe: Die Schülerinnen und Schüler sollen kurze Sätze in den Sprachen aufschreiben, die sie kennen. Ausführlicher, eher theoretischer Exkurs über „Verstehen“ (Hören und Lesen), Sprechen (allein, miteinander) und Schreiben (gebunden, frei). „Wo und in welchen Lebenssituationen wird welche Sprache gesprochen?“ „Welche Sprache hat welche Aufgaben?“ Zum Beispiel Deutsch im Umgang mit der Bürokratie. „In welcher Sprache wird was gehört, gesprochen, gelesen?“ Die Lehrerinnen hatten sich diese Fragen noch nie so bewusst gestellt. Umsetzung für den Unterricht In Sprachpartnerschaften bereiteten die Lehrerinnen nun Stunden vor: Ziel „Die Schülerinnen sollen die verschiedenen Fertigkeiten erkennen und zuordnen, was sie in welcher Sprache oft/manchmal/nie machen und mit wem sie in welcher Sprache kommunizieren.“ Es entstehen Ideen für Arbeitsblätter (siehe Abbildung 2 „Das mache ich...“). Aufgaben für die nächste Sitzung: Sprachbeispiele sammeln lassen/U-Stunde wie besprochen durchführen/die drei Portfolios (NRW/Hamburger/Brandenburger Junior) durchsehen und sich einarbeiten, Fragen dazu sammeln. 36 BLK-VERBUNDPROJEKT: SPRACHEN LEHREN UND LERNEN ALS KONTINUUM 3. Sitzung Ausführlicher Bericht zu den beiden Stunden (siehe Abbildungen 2) Durchsicht der drei Portfolio-Typen, Unterschiede besprechen, Zuordnung, wer mit welchem Portfolio arbeitet Worauf beim Ausfüllen der ersten Seiten geachtet werden muss: Erst sicher stellen, dass alle Schülerinnen und Schüler verstanden haben, was zu tun ist, Schülerinnen und Schüler müssen lernen, erst nachzudenken, dann zu schreiben, lieber zweimal fragen als voreilig ausfüllen, sauber schreiben Die Portfolio-Partnerinnen einigen sich, welche Seiten sie bearbeiten lassen, Protokollbögen (siehe Abbildung 5) werden ausgegeben. Vorbereitungen für die nächsten Stunden Anregungen zum Führen eines Sprachentagebuches vortragen, die Idee wird von den Lehrkräften nicht sehr begeistert aufgenommen. Vorbereitung einer Stunde in Sprachpartnerschaften mit dem Ziel: „Die Schülerinnen und Schülern sollen einschätzen, welche der vier Fertigkeiten sie wie gut können und was sie in welcher Sprache noch besser machen müssen.“ 4. Sitzung Sprachentagebuch war in den Klassen ein großer Erfolg (siehe Abbildungen 4) Ergebnisse der Stunde: „Das kann ich“ werden vorgestellt (siehe Abbildungen 3) Praktische Übung für die Kolleginnen aus dem NRW-Portfolio S. 16 bis S. 19 zur Methodenvielfalt. Die Lehrerinnen sollen sich überprüfen, ob und welche Materialien sie noch nie oder schon oft im Unterricht eingesetzt haben. 5. und 6. Sitzung Vorbereitende Übungen zur Selbsteinschätzung (siehe Kapitel 6 und Abbildungen 8-11). Diese Übungen wurden sehr ausführlich gemacht, um den Lehrerinnen Sicherheit im Einschätzen von sprachlichen Leistungen zu geben, auch und gerade, was das Deutsche angeht. 7. Sitzung Es ist die letzte Sitzung in diesem Schuljahr. Berichte über das Ausfüllen der ersten Seiten zur Selbsteinschätzung. Da in den letzten Wochen der MSU häufig durch andere Schulaktivitäten ausfallen musste, sind die Ergebnisse spärlich und es liegen noch keine ausgefüllten Seiten vor. Vorläufige abschließende Berichte der Kolleginnen zu der Arbeit insgesamt (siehe Kapitel 8) 37 BLK-VERBUNDPROJEKT: SPRACHEN LEHREN UND LERNEN ALS KONTINUUM 8. Vorläufige Erkenntnisse/erreichte und nicht erreichte Ziele Vom Unterschied der drei gewählten Modelle des Sprachenportfolios Mit aller Vorsicht, da der Beobachtungszeitraum sehr kurz ist, lässt sich sagen, dass ab der 5. Klasse das NRW-Portfolio gut einsetzbar ist, wiewohl hier und da sprachliche Schwierigkeiten zu bewältigen sind. Es gibt aber für die zwei- und mehrsprachigen Schülerinnen und Schüler genügend Material, um ihre Sprachleistungen zu dokumentieren. Auch die Hamburger Ausgabe (Sekundarstufe I) ist gut einsetzbar, besonders für Hauptschülerinnen und Hauptschüler, da sie im Ganzen etwas einfacher zu handhaben und nicht so umfangreich ist. Die Grundschulausgabe aus Brandenburg ist nicht so zufriedenstellend, da sich die Aufgaben zur Selbstbeobachtung und zum „Können“ auf Englisch im Anfangsunterricht beziehen und für die Schülerinnen und Schüler natürlich viel zu leicht sind, wenn das Sprachenportfolio in ihrer Herkunftssprache oder in Deutsch ausgefüllt werden soll. Hier wären ergänzende Aufgaben für Kinder mit Migrationshintergrund nötig, damit speziell auf deren sprachliche Befindlichkeiten eingegangen werden kann. Zusammenfassende Feststellung Die Schülerinnen und Schüler haben das Sprachenportfolio sehr gut angenommen und arbeiten mit großem Interesse und großer Sorgfalt daran. Die Lehrerinnen sind von dem unterrichtlichen Wert der Arbeit mit dem Portfolio überzeugt und erkennen den positiven Einfluss auf ihre Alltagsarbeit. Für Kinder mit Migrationshintergrund ist das Sprachenportfolio eine ausgezeichnete Möglichkeit, sich mit ihrer Zwei- oder Mehrsprachigkeit auseinander zu setzen und deren Wert zu erkennen. Die Möglichkeit, über sich selbst zu schreiben, sich selbst zu beobachten, zu erkennen, was sie schon gut oder noch nicht so gut in ihren Sprachen können, scheint einen Motivationsschub auszulösen, jedenfalls bis zum jetzigen Stand der Arbeit. Es ist eigentlich längst überfällig, dass sich Kinder mit mehrsprachigem Hintergrund mit ihren Sprachen nicht streng getrennt, sondern in einer Gleichzeitigkeit beschäftigen, die es ermöglicht, ihre Fähigkeiten zu vergleichen und zu erkennen, was sie in ihren unterschiedlichen Sprachen noch lernen müssen. Abschließend einige Zitate von Schülerinnen und Schülern zum Sprachenportfolio: Ali (4. Klasse): Das Portfolio hat mir viel beigebracht, wie viel ich in Türkisch, Deutsch und Englisch weiß. Das Portfolio kann mir helfen, meine Sprachen zu zeigen und ist gut für meine Zukunft. Nazife (4. Klasse): Das Portfolio hat uns beigebracht in Deutsch, Türkisch und Englisch Erfolg zu haben. Wir können zeigen wie wir auf alle Arten lesen, schreiben und sprechen. In der 9. Klasse kriege ich einen Sprachen-Pass, dann kann ich gute Arbeit finden und 38 BLK-VERBUNDPROJEKT: SPRACHEN LEHREN UND LERNEN ALS KONTINUUM heiraten (Erläuterung der Lehrerin ist, dass sie den Mädchen einmal erklärt hat, dass sie erst einen Beruf brauchen und dann heiraten). Öghuzhan (4. Klasse): Früher habe ich gesagt, dass ich mehrere Sprachen gut kann. Durch das Portfolio habe ich bemerkt, dass ich doch noch nicht alles so gut kann, und was ich noch lernen muss. Mit dem Sprachen-Pass kann ich später besser Arbeit finden, weil die Leute dann sehen, ob ich viele Sprachen kann. Bis dahin habe ich besser gelernt. Zitate von Lehrerinnen: • Den Kindern ist ihre Zweisprachigkeit bewusster geworden. • Die Kinder zeigen, dass sie sich in beiden Sprachen wohl fühlen. • Die Kinder denken und sprechen in beiden Sprachen und wechseln von einer in die andere Sprache, das haben sie im MSU bislang nicht getan, weil es nicht notwendig war, durch die Arbeit mit dem Portfolio sind beide Sprachen nebeneinander gerückt, die Kinder finden das sehr gut und es macht ihnen offenbar Spaß. • Die Schülerinnen und Schüler lernen, schnell selbständig zu arbeiten. • Sie werden motiviert an ihren Schwächen zu arbeiten, weil sie selbst herausgefunden haben, welche sie haben. • Sie haben Lust an mehrsprachigen Projekten zu arbeiten. • Andere Schülerinnen und Schüler, die noch kein Portfolio haben, wollen nun auch eins. • Je öfter sie mit dem Portfolio gearbeitet haben, umso leichter ging es, sie verstanden schneller, was zu tun ist. • Für die Seiten 9 und 10 im NRW-Portfolio haben sie den Anhang zu Hilfe genommen, sich gegenseitig geholfen und unterstützt, was sie sonst nicht oft machen. Über das Vorhaben, die deutschen Fremdsprachenlehrerinnen und Fremdsprachenlehrer für das Portfolio der Sprachen zu interessieren Bis zum Ende dieses Schuljahres konnte noch von keiner der MSU-Lehrerinnen ein Gespräch über das Sprachenportfolio mit den deutschen Kolleginnen und Kollegen geführt werden. Zum einen liegt das daran, dass die meisten MSU-Lehrerinnen in die Schule kommen, wenn die deutschen Kolleginnen nach Hause gehen. Eine Kollegin prägte den sehr passenden Ausspruch: „Mit dem Hausmeister kann ich über das Portfolio reden, den sehe ich.“ Hier schwingt auch ein wenig Verbitterung mit, dass die deutschen Kolleginnen und Kollegen so wenig Anteil nehmen, Interesse zeigen oder gar Fragen zum MSU haben. Zum anderen lassen die gelegentlichen gemeinsamen Konferenzen keinen Raum für solche Gespräche, da es dann meistens um Zeugnisse oder andere schulorganisatorische Dinge geht. Das ist enttäuschend, zu39 BLK-VERBUNDPROJEKT: SPRACHEN LEHREN UND LERNEN ALS KONTINUUM mal vor Beginn des Projektes mit den Schulleiterinnen und Schulleitern eine ausführliche Informationsveranstaltung durchgeführt wurde, um z. B. auch so banale Dinge zu erreichen, dass in den einzelnen Schulen ein abschließbarer Schrank zum Aufbewahren der Sprachenportfolios zur Verfügung gestellt wird. Die Idee, über den MSU das Sprachenportfolio auch in den anderen Sprachenunterricht zu bringen, hat sich bislang nicht verwirklichen lassen. Die Schülerinnen und Schüler werden zwar immer wieder aufgefordert, ihren deutschen Lehrkräften vom Sprachenportfolio zu erzählen, sie berichten aber vorläufig nur von Desinteresse oder Ablehnung. Nun ist allerdings der Zeitraum auch sehr kurz, denn die Schülerinnen und Schüler arbeiten erst seit wenigen Wochen mit dem Sprachenportfolio. Hier bleibt mit Geduld abzuwarten, ob nicht doch im Laufe des nächsten Schuljahres ein zunehmendes Interesse aufgebaut werden kann, zumal dann Arbeiten im Dossier gezeigt werden können. Fortführung des Portfolios beim Übergang von der Grundschule in die weiterführenden Schulen Wie weit das Sprachenportfolio, das in den Grundschulgruppen eingeführt wurde, in den weiterführenden Schulen im nächsten Schuljahr kontinuierlich weitergeführt werden kann, lässt sich jetzt natürlich noch nicht sagen. Ob die deutschen Lehrerinnen und Lehrer an den weiterführenden Schulen ein Interesse daran haben, sich die mitgebrachten Sprachenportfolios wenigstens anzusehen, ist nicht vorhersehbar. Zweifel sind angebracht. Allerdings ist es noch zu früh, um ein endgültiges Urteil zu fällen. Vielleicht bringen Beharrlichkeit und stetiges geduldiges Hinweisen auf die Nützlichkeit des Sprachenportfolios doch noch einige positive Rückmeldungen. Ist an einer weiterführenden Schule die Diskussion um die Kompetenzstufen und den Referenzrahmen eröffnet, ist auch ein erwachendes Interesse am Portfolio nicht unwahrscheinlich. Es könnten auch Strategien mit den MSU-Lehrerinnen erarbeitet werden, die helfen, bei den deutschen Kolleginnen Interesse zu wecken. Der Weg über die Schülerinnen und Schüler ist erfolgversprechend. Ausblicke: Was es noch zu tun gibt! Der Umgang mit den Kompetenzstufen und die Einübung der Selbsteinschätzung haben gerade erst begonnen und müssen weiter beobachtet und begleitet werden. Noch ist nicht klar geworden, wie genau die Schülerinnen und Schüler die unterschiedlichen Fertigkeiten in ihren unterschiedlichen Sprachen beschreiben können. Die Möglichkeiten, sprachliche Arbeiten im Dossier zu sammeln, sind nur am Rande angesprochen worden, indem die Schülerinnen und Schüler aufgefordert wurden, alle erledigten Blätter zu sammeln. Hier ist noch systematische Arbeit zu leisten, besonders im Hinblick auf Arbeiten, die die Kinder aus dem Englischunterricht einbringen können. Vielleicht gelingt es auch, dabei die Aufmerksamkeit der deutschen Lehrerinnen und Lehrer zu gewinnen. Außerdem wären Themen und Projekte anzuregen, die der Zwei- und Mehrsprachigkeit der Schülerinnen und Schüler gerecht wür- 40 BLK-VERBUNDPROJEKT: SPRACHEN LEHREN UND LERNEN ALS KONTINUUM den, zumal sich hier und da zeigte, dass die Kinder großen Spaß daran haben, ihre Sprachen gleichzeitig zu benutzen (siehe Abbildung 6, Protokoll einer Lehrerin). Um das Einbringen des Sprachenportfolios in den „Regelunterricht“ zu erreichen, müssten mit den MSU-Lehrerinnen Strategien erörtert und erprobt werden. Für das Grundschul-Portfolio wäre eine Erweiterung um Aufgaben für Kinder mit Migrationshintergrund denkbar, zumal im Rahmen des BLK-Verbundprojektes an einem neuen gemeinsamen Prototyp für ein Sprachenportfolio gearbeitet wird. Die Beschränkung auf den Englischunterricht genügt hier nicht. Die außerschulisch erworbenen Sprachen müssen auch in der Grundschule Beachtung finden und sollten sich nicht nur auf deren Nennung beschränken, wie es in der Sprachenbiografie der Fall ist. Schließlich braucht die Verwirklichung der Idee, das Portfolio für den Übergang von der Grundschule zur weiterführenden Schule zu nutzen, Zeit. Eines steht jedoch schon fest: Alle sechs Lehrerinnen wollen unbedingt mit dem Sprachenportfolio weiterarbeiten. Eine Kollegin weiß bereits, dass sie das Portfolio auch in den Gruppen einführen wird, die das Sprachenportfolio noch nicht haben. Sie hat die Einwilligung der Eltern und deren Zustimmung bereits eingeholt. Für die Eltern ist natürlich von besonderem Interesse, dass die Sprachenvielfalt ihrer Kinder dokumentiert wird. Auch die anderen Kolleginnen denken über einen erweiterten Einsatz des Sprachenportfolios nach. Deutlich wurde in der Endbesprechung, dass die Lehrerinnen noch Hilfe und Unterstützung brauchen und wollen, um erfolgreich weiter zu arbeiten. Sie sind auch bereit, ihr Wissen und ihre Erfahrung an andere MSU-Lehrerinnen und MSU-Lehrer zu vermitteln, brauchen aber noch mehr Sicherheit. Zwei Kolleginnen berichteten von Kolleginnen, die sich sehr für die PortfolioArbeit interessieren und auch gerne an den Sitzungen teilnehmen würden. Eine Kollegin brachte es auf den Punkt: „Wenn wir im nächsten Jahr nicht weitermachen können in der Gruppe, dann war das herausgeschmissenes Geld, wie bei einem Kleid, das man auch nicht halbfertig anziehen kann.“ 41 BLK-VERBUNDPROJEKT: SPRACHEN LEHREN UND LERNEN ALS KONTINUUM 9. Anhang: Das Sprachentagebuch – eine Methode, um language awareness zu initiieren (Bettina Gerke) Beispiele aus dem Muttersprachlichen Unterricht Language awareness ist eines der zentralen Stichwörter, wenn man sich mit dem Arbeiten am Sprachenportfolio, insbesondere mit der Sprachenbiografie beschäftigt. Das Führen von Sprachentagebüchern ist eine gute Möglichkeit, Schülerinnen und Schüler zur Auseinandersetzung mit dem Anteil, den verschiedene Sprachen an ihrer gesamten sprachlichen Identität haben, anzuregen und auf diese Weise ihre Sprachbewusstheit zu erhöhen. Der Sprachvergleich sollte nicht auf den Vergleich des Deutschen mit den schulisch vermittelten Fremdsprachen reduziert bleiben, sondern – insbesondere angesichts des Anteils, den Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund an unseren Schulen ausmachen – Herkunftssprachen und außerschulisch erworbene Fremdsprachen einschließen. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang darauf, dass das Portfolio ein Portfolio der Sprachen ist, keinesfalls also auf den Einsatz im Englischunterricht beschränkt bleiben sollte. Die folgende Darstellung (Abbildungen 12, zwei Beispiele) stützt sich auf Beispiele aus dem Muttersprachlichen Unterricht (MSU) an Grund- und weiterführenden Schulen in Wuppertal, in denen verschiedene Modelle des Sprachenportfolios im Rahmen des BLK-Verbundprojektes „Sprachen lehren und lernen als Kontinuum – Schulpraktische Strategien zur Überbrückung von Schnittstellen im Bildungssystem“ eingesetzt wurden. Die Kinder hatten den Auftrag, eine Woche lang darüber Buch zu führen, wie oft sie ihre jeweilige Herkunftssprache (= Sprache des MSU) im Vergleich zum Deutschen nutzen. Dabei sollte nach den sprachlichen Fertigkeiten differenziert werden: Wann sprichst/hörst usw. du welche Sprache? Die Art der Darstellung blieb den Kindern überlassen. Dabei war zu beobachten, dass die Schülerinnen und Schüler lieber aufmalen statt aufschreiben wollten. 42 BLK-VERBUNDPROJEKT: SPRACHEN LEHREN UND LERNEN ALS KONTINUUM Abbildungen 12 5. Klasse, Hauptschule 43 BLK-VERBUNDPROJEKT: SPRACHEN LEHREN UND LERNEN ALS KONTINUUM 4. Klasse, Grundschule Es ist interessant zu beobachten, auf welch unterschiedliche Weise die Aufgabe bewältigt wurde und wie aussagekräftig die Darstellungen sind: Sie erlauben ein differenziertes Bild über den Gebrauch von jeweiliger Herkunftssprache und Deutsch und belegen, dass schon junge Lernende dazu in der Lage sind, über Sprache zu reflektieren. Auffällig ist, dass in beiden Beispielen je eine Fertigkeit fehlt: im ersten Beispiel das Schreiben, im zweiten Beispiel das Lesen. Das erste Beispiel zeigt, dass die Herkunftssprache Griechisch für die mündliche Kommunikation, insbesondere für das Sprechen bevorzugt wird und Deutsch überwiegend in der Fertigkeit Lesen eine Rolle spielt. In fünf von zwölf Kuchendiagrammen wurden die beiden Sprachen nahezu gleichrangig verwendet, jeweils zweimal beim Sprechen und Hören, einmal beim Lesen. Offensichtlich wurde im Untersuchungszeitraum nicht geschrieben. Die Erklärung dafür könnte sein, dass Ende März 2005 Osterferien waren. Das zweite Beispiel gibt auf sehr bildhafte, differenzierte und kindgerechte Weise – Eishörnchen mit jeweils drei Sorten Eiscreme – Auskunft über die Sprachverwendung. Die „Eiskugeln“, die im Türkischen nur partiell ausgemalt sind, ergeben zusammen mit der Kolorierung der entsprechenden „deutschen Eiskugeln“ in der über- 44 BLK-VERBUNDPROJEKT: SPRACHEN LEHREN UND LERNEN ALS KONTINUUM wiegenden Mehrheit ein Ganzes und damit Auskunft über den Anteil der jeweiligen Sprache an der gesamten Sprachaktivität des Kindes in der untersuchten Teilfertigkeit. Auffällig ist, dass die geschilderte Struktur nicht immer durchgehalten wird, z. B. FREITAG/CUMA. Hier ergibt der Vergleich der türkischen mit der deutschen Eistüte in keinem Fall ein Ganzes. Das legt den Schluss nahe, dass das Kind – vielleicht unbewusst – auch das Verhältnis der drei untersuchten sprachlichen Fertigkeiten zueinander innerhalb der jeweils betrachteten Sprache verdeutlichen wollte: Am Freitag beispielsweise wurde in Türkisch viel zugehört, wenig geschrieben und durchschnittlich viel gesprochen. Aus der Darstellung ist ebenfalls ersichtlich, dass Schreiben in der Herkunftssprache Türkisch an vier Tagen eine zentrale Rolle spielt, wohingegen im Deutschen nicht geschrieben wurde und Hören und Sprechen zu gleichen Teilen die sprachliche Aktivität des Kindes ausmachten. Gelesen wurde in keiner der beiden Sprachen. Auf die Brisanz dieser Befunde soll an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden. Leider war ein Einbeziehen der ersten schulisch vermittelten Fremdsprache in dem dargestellten Rahmen nicht möglich, da das Sprachenportfolio nur im MSU eingesetzt wurde und die Lehrkräfte, die MSU erteilten, kaum Berührungspunkte mit den übrigen Lehrkräften hatten, weil dieser – da klassenübergreifend – nachmittags stattfinden musste. Der abgestimmte Einsatz des Sprachenportfolios in allen sprachlichen Fächern ist jedoch die erstrebenswerte Variante: Schon in der Grundschule sollten daher Sprachtagebücher, wie die beispielhaft vorgestellten, auch Auskünfte darüber zulassen, welchen Stellenwert Englisch bzw. die erste schulisch erworbene Fremdsprache neben Deutsch und einer potentiellen Herkunftssprache für die Kinder hat. 45