Süd- euboa
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Süd- euboa
Touristische Geschichten aus G i a l t r a 2011 Reisenotizen aus Süd–Euböa von Ulli Behrens 1 Das Titelbild zeigt die Stadt Kárystos und ihren Hafen, überragt von den Gipfeln und Schluchten des Ochi-Massivs. Dieses Ölbild eines unbekannten Malers hängt im Vorraum des Archäologischen Museums von Kárystos. 2 Inhaltsverzeichnis Seite I. Einleitung mit Gesundheitsempfehlungen für eine gedeihliche Reise in den Süden Euböas II. Zur Gestalt und Gliederung der Insel Euböa III. Zum allgemeinen Charakter des Südens der Insel Euböa: Ein kykladisches Eiland auf einer eher sporadischen Insel IV. 7 10 14 Reisenotizen aus dem Süden Euböas Vom Nutzen einer Reise in den Süden und vom Zweck dieser Reisenotizen 29 V. Die erste Abweichung von der geplanten Route 32 VI. Avlonari und Umgebung 34 Kirchen und Klöster VII. Der nördliche Teil des Südens von Euböa Rizokastro – Dhistos – Zarakas – Mesochoria 43 VIII. Der mittlere Teil des Südens Euböas IX. Nea Stira – Stira – Filaghra – Marmaris 54 Kárystos 64 3 4 Seite 1. Zur mythischen und historischen G e s c h i c h t e der Stadt Kárystos 64 2. Das n e u e K á r y s t o s 76 3. Das a l t e K á r y s t o s 78 4. A u s f l ü g e in der Umgebung von K á r y s t o s Marmor-Steinbrüche – Dragospitia – Schluchten – Kirchen und Klöster am Berge O c h i 83 X. Der äußerste S ü d e n von Euböa 91 XI. Die D i ä t e m p f e h l u n g e n des Arztes D i o k l e s v o n K á r y s t o s 96 Literaturverzeichnis 105 XII. (Die schönste Belohnung: Badebucht am Ende einer langen Wanderung durch die Dhimosari-Schlucht, vgl. S.86/87) 5 . 6 I. Einleitung mit Gesundheitsempfehlungen für eine gedeihliche Reise in den Süden Euböas „Die Fürsorge für die Gesundheit beginnt bereits am Morgen. Die Nahrung sollte beim Aufwachen schon in den Darm gelangt sein. Der junge und der heranwachsende Mann sollten wenig, etwa zehn Stadien (etwa 20 Minuten) vor Sonnenaufgang erwachen, im Sommer jedoch nur fünf Stadien. Man sollte sich jedoch nicht gleich erheben, sondern warten, bis die Schwere und Benommenheit des Schlafs sich verflüchtigt haben. Nach dem Aufstehen sollte man Nacken und Kopf gründlich massieren, um die Steifheit, die das Kissen verursacht hat, zu vertreiben. Danach reibe man den ganzen Körper mit Öl ein.“ Der seine Augen reibende Leser und die mit Olivenöl sich salbende Leserin werden gewiss fragen, was denn diese Anleitung für eine gesunde Weise, mit der man sich am frühen Morgen bedächtig vom Bette erheben sollte, mit der Ankündigung zu tun habe, dass nämlich in diesen Zeilen und auf den folgenden Seiten eigentlich eine Reise-Empfehlung für den Süden Euböas gegeben werden solle. Wenn doch wenigstens ein Bericht vom Norden der Insel und von den blonden Leuten, die dort droben wohnen, angekündigt worden wäre, dann, ja, dann würde man ja wohl noch die Empfehlungen für eine gesunde Ernährung und für eine gut verdauliche Lebensführung verstehen, denn rings um die warmen Bäder von Loutra Aidipsos, Ilia und Gialtra interessieren sich diese Leute des Nordens ja doch für alle Neuerungen, die versprechen, sich durch gesunde Ernährung und eine streng eingehaltene Spezial-Diät Gesundheit, Jugendlichkeit und ein langes Leben erhalten zu können.1 Ja, dort im Norden der Insel Euboea versteht man sehr viel von kalt gepressten Oliven, von Aminosäuren und von rechts oder links drehenden Joghourt-Konzentraten, die, so weiß man dort aus tiefster Überzeugung, für die eigene Blutgruppe dann so besonders förderlich sind, wenn sie sorgfältig auf jeweils besonders geeignete Mondphasen abgestimmt worden sind. Der Nachweis, dass die wohlmeinenden Ratschläge, die das merk1 In der Liste der Erwartungen dürfen natürlich, wenn man nur die einzig richtige Diät beachtet, straffe Schlankheit und Idealgewicht nicht fehlen. 7 würdige Zitat am Anfang dieser Einleitung vorschlägt, doch etwas mit dem Süden Euböas zu tun haben könnten, soll nun nicht argumentativ auf den folgenden Seiten dieser „Geschichten“ geführt werden, sondern dieser Nachweis wird in einer der versteckten Stellen erbracht, die heutzutage bei Arbeiten mit höchstem wissenschaftlichem Anspruch sehr beliebt sind und die, auch wenn sie später gar nicht mehr gefunden werden können, in letzter Zeit in der Öffentlichkeit sehr viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben, nämlich in einer Fußnote.2 Nach dem Aufstehen, der Morgengymnastik und der Körperpflege ist es Zeit für das Frühstück, für das Diokles von Kárystos demjenigen empfiehlt, der sich „wohl befinden will“, eines zu nehmen, „ ... das im Sommer aus einer mäßigen Portion nahrhaften Breis von weißem Gerstenmehl besteht; dazu trinkt er weißen wohlriechenden Wein, der mit etwas Honig und Wasser gut gemischt ist. Oder er nimmt eine Suppe – nicht warm -, aus Stoffen, die nicht blähen, gut verdaulich und nahrhaft sind, entweder allein oder auch mit ein wenig Honig. Wem das warme Brot zum Frühstück nicht behagt, der soll soviel kaltes Brot zu sich nehmen, wie es möglich ist, vor der Nachmittagsgymnastik zu verdauen. Als Zuspeise wird er gekochtes Gemüse zu sich nehmen, zum Beispiel Kürbis oder Gurke, oder was sonst der jeweiligen Jahreszeit angemessen ist, - einfach gekocht. Trinken wird er ziemlich verdünnten Weißwein, bis er keinen Durst mehr hat. Wenn man Durst hat, soll man vor der Mahlzeit reichlich Wasser trinken, ansonsten weniger.“3 Dieses frugale, aber der Gesundheit wohl förderliche Frühstück aus der griechischen Frühzeit steht im magenfreundlichen Gegensatz zu dem morgendlichen Büfett, zu dem sich mancher Grieche oder mancher deutscher Siedler auch in Gialtra niederzusetzen pflegt. Frisches Brot vom Bäcker Jorgos gibt es da oder nach mehr oder weniger geheimen Rezepten oder Backmischungen selbst-gebackenes Brot, 2 3 Das einleitende Zitat stammt von dem griechischen Arzt und Philosophen Diokles, der im 4.Jahrhundert vor Christus in Kárystos, also im Süden Euböas lebte. Zitiert wird er hier aus dem Buch von Klaus Bergdolt, S.42 (vgl. Literaturverzeichnis). Zu weiteren Details aus Diokles´ Lehre, seiner Diätetik, S.96 ff. Diokles von Kárystos, zitiert nach Georg Wöhrle, S. 186 (vgl. Literaturverzeichnis) 8 Eier von freilaufenden Hühnern, die das Glück gehabt haben, nicht überfahren worden zu sein, Butter, Berg-Käse, Esels-Wurst, Toast mit Ahornsirup, Joghourts jeder Sorte, vor allem fettarme, Molke- und Energy-Drinks, fairen Kaffee und ultra-reine Säfte, Müsli, Lauchsuppe und Quiche Lorraine. Nicht nur das moderne Frühstück ist anders als das, was die Alten zu sich nahmen, sondern auch die Aktivitäten, die heutzutage dem Frühstück folgen, unterscheiden sich deutlich von den früheren Lebensgewohnheiten. (Schattiger Platz, an dem man sich nach dem Frühstück zur Ruhe niederlassen könnte.) Abweichend von des Meisters aus Kárystos verführerischer Empfehlung, „nach dem Frühstück soll(e) man nicht viel Zeit vergeuden und sich ein wenig an einem schattigen oder kühlen und windstillen Platz zum Schlafen niederlegen“4, sollten wir hier nicht unsere Zeit mit einem Morgennickerchen vergeuden, sondern uns endlich auf den Weg in den Süden Euböas machen. Zeitig und gestärkt sollte man 4 Vgl. Fußnote 2, a.a.O. S. 186 9 sich aufmachen, denn von Gialtra aus muss man, will man den äußersten Süden Euböas erreichen, an die 300 Straßenkilometer zurücklegen, Umwege oder Abstecher zu einer der schönen Badebuchten noch gar nicht eingerechnet. Vor der Abreise sollten wir jedoch festlegen, wo wir den Süden der Insel überhaupt beginnen lassen wollen, und wir sollten auch versuchen zu beschreiben, wie die Umrisse dieses südlichen Teiles der Insel Euböa geformt sind. II: Zur Gestalt und Gliederung der Insel Euböa Von Nord nach Süd, aber auch von Ost nach West ist Euböa, unsere geliebte und nach Kreta zweitgrößte Insel Griechenlands5, sowohl in ihrer Fläche (3530 qkm) als auch in der Ausdehnung ihrer Länge (ca. 180 km) so groß und zugleich in der Struktur ihrer landschaftlichen Gestalt so mannigfaltig verschieden, dass Geologen und Geographen, Historiker und Politiker eigentlich immer schon wenig Neigung gezeigt haben, die Insel Euböa als klar umrissene Einheit zu betrachten. Sie hatten meist gute Gründe dafür, dieses dem griechischen Festland vorgelagerte Eiland in drei sehr eigenständige Regionen zu unterteilen, in Nord-, Mittel- und Süd-Euböa. Für dieses gliedernde methodische Vorgehen spricht vor allem, dass die genannte Dreiteilung auch schon in mehreren Phasen der griechischen Geschichte bei der jeweiligen Machtverteilung auf der Insel bestimmend gewesen ist. In vorgeschichtlicher Zeit soll zum Beispiel der Volksstamm der Ellopier den Norden der Insel besiedelt haben, die Abanten die Mitte und die Dryopier den Süden. Viel später noch, in der Zeit der fränkischen „Drei-Herren-Herrschaft“ (1205 – 1453), erfuhr die machtpolitische Dreiteilung der Insel dann noch einmal eine besonders markante Ausprägung.6 Bei der geographischen Abgrenzung Südeuböas von der Mitte und vom Norden 5 6 Die zweitgrößte Insel Griechenlands ist eigentlich Zypern. Aber das griechisch-türkische und zugleich europäische Problem der Zugehörigkeit dieser Insel soll hier nicht weiter diskutiert werden. Zur Geschichte der Insel und zu Details der Herrschaft der fränkischen Fürsten auf Euböa sei die Lektüre der „Historischen Geschichten aus Gialtra, 2005“ empfohlen. 10 der Insel folgen wir in diesem Jahresheft weitestgehend der Linienführung und der Argumentation, die der Geologe Alfred Philippson 1951 in seinem Buch über die griechischen Landschaften vorgetragen hat.7 Philippson zog darin die Grenze zwischen den nördlicheren Teilen der Insel und Südeuböa als eine Linie, die von Westen nach Osten zwischen den Orten Aliveri und Achladeri verläuft und die südlich vom Cap Octoniá die Ägäis erreicht. Von einem Reisenden, der schon hundert Jahre vor Philippson die griechischen Landschaften bereiste, wurde der Umriss der Insel Euböa mit der Gestalt eines Vogels verglichen, der Norden mit dessen Kopf, die Mitte mit dem Rumpf und schließlich der Süden mit dem Schwanz. „Südeuboa“, so schreibt er, „Südeubäa unterscheidet sich sehr von den beiden anderen Teilen der Insel. Zunächst durch seine Schmalheit. Wie ein dünner Schwanz hängt es an dem Hauptkörper, 62 km lang, leicht gebogen, erst SSO, dann SO gerichtet mit einer Verdickung am Ende gegen den Kanal Doro hin, der Euböa von Andros trennt. Die Westseite Süd-Euböas ist mit Halbinseln und Küsteninseln zwischen tiefen Buchten wie mit Fransen besetzt; in die Verdickung am Ende dringt von S(üden) her die große Bucht von Kárystos halbkreisförmig ein, zwischen dem Kap Paximádi und dem Kap Mantélo (Geraistós), der Südspitze der ganzen Insel. Die Ostseite Süd-Euböas verläuft in einem einzigen, schwach konkaven Bogen, nur mit kleinen Buchten, die den Schiffen meist keinen Schutz gewähren; es ist die bei den nordöstlichen Stürmen gefürchtete Steilküste der „Höhlungen (ta Koila) Euboeas“, bis zu dem nach NO weit vorspringenden hornförmigen Kap Doro (Kaphereús „der Verschlinger“, neugr. Kaphiréus; im Mittelalter Xylophágos „Schiffsfresser“), seit alters „als einer der für Schiffe gefährlichsten Punkte der griechischen Küsten berüchtigt“8. Der jetzige (italienische) Name für dieses gefährliche Kap, Kap Doro (Goldkap), soll daher stammen, dass das Meer hier zuweilen byzantinische Goldmünzen (von untergegangenen Schiffen) ausspüle. Zwischen Kap Doro und Kap Mantélo ist die von Nord nach Süd gegen den „Kanal Doro“ gerich7 8 Vgl. Literaturverzeichnis: Philippson a.a.O. S. 564 ff. C.Bursian: Geographie von Griechenland, Band II, S.400. Leipzig 1868 11 tete Ostküste Euboeas ebenfalls steil und nur von kleinen Buchten gegliedert. Die Durchfahrt zwischen Euboea und Andros, 10 km breit, ist wegen der hier besonders häufigen, zuweilen nur in dieser Meeresstraße wehenden, stürmischen N- und NO-Winde, der damit verbundenen Strömung (bis zu 7 Seemeilen Stundengeschwindigkeit) und wegen des oft wilden Seegangs sehr gefürchtet, besonders bei Seglern, die in Richtung Nord-Osten fahren (und Euböa umrunden) wollen. Die schmalste Stelle von Süd-Euboea misst auf der Höhe der Stura-Bay lediglich 5,5 km, die größte Breite an der Endverbreiterung der Insel zwischen den Kaps Doro und Mantélo 24 km “.9 (Eine windige Angelegenheit: die Durchfahrt zwischen Euböa und der Kykladeninsel Andros, die rechts im Hintergrund schwach zu erkennen ist.) Der Verfasser dieser Beschreibung von Größe und Umriss des südlichen Euböas hat zusätzlich auch noch eine recht zutreffende Charakterisierung der Oberfläche dieses südlichen Inselteiles Eubäas verfasst und sie mit den weiter nördlich gele9 Philippson a.a.O. S. 565 f. 12 genen Regionen verglichen: „Infolge des Baues aus verschiedenartigen Gesteinen sind die Oberflächengestalt und die Höhen von Nord- und Mittel-Euböa recht abwechselnd. Süd-Euböa wird dagegen von einer einförmigen Rumpffläche mäßiger Höhe überzogen, die in der Querrichtung zertalt ist. Das Plateau fällt steil zu den beiden Küsten ab. Nur in der Verbreiterung am SO-Ende erhebt sich wieder ein höherer Berg, die Ócha (Oche, 1404 m). Hier am Südende ist daher die Bewässerung und Bewachsung stärker, hier nistet die kleine Kulturlandschaft von Kárystos am Fuß der Ócha im Hintergrund der Bucht, während sonst Süd-Euboea im Allgemeinen entwaldet, dürr, unfruchtbar und wenig besiedelt ist von einer ärmlichen albanischen Bevölkerung. Nur auf die nördlichen und mittleren Teile der Insel paßt daher die Beschreibung, die TELLER10 von Euboea gibt: „Nur wenige Gebiete des heutigen Hellas können sich in bezug auf landschaftliche Schönheit mit diesem Eilande messen, das in seinem engen Rahmen die verschiedenartigsten Bilder umschließt, Gemälde von wilder Großartigkeit, wie sie dem höheren Kalkgebirge eigen sind, und Szenerien von weicherem freundlicherem Charakter, wie sie die tiefen schattigen, im herrlichsten Vegetationsschmuck prangenden Talkessel der Schieferregion oder die fruchtbaren, gartenähnlichen Tertiärbecken darbieten.““11 Im Gegensatz zum Verfasser dieses Zitates, der sich anscheinend nur an Landschafts- und Vegetationsformen erfreuen kann, die ihn an den Schwarzwald oder an stimmungsvolle Chormusik erinnern, wie sie zum Beispiel der Romantiker Mendelssohn komponiert hat, „Oh Täler weit, oh Höhen“, im Gegensatz also zu einer allzu sehr an die eigene Heimat gebundenen Weltsicht, soll nun unsere Reise in den Süden Euböas, nur manchmal von guten Ratschlägen unterbrochen, wie man auch essend, trinkend, sich pflegend und Gymnastik treibend die kostbare Reiseund Lebenszeit verbringen könne, erweisen, dass es im Süden Euböas nicht nur die gerade genannten ästhetischen und geologischen Unterschiede gibt, sondern noch 10 11 F.Teller: Der geologische Bau der Insel Euboea. Denkschrift der k. Akademie d. Wiss. Math.-natw. Cl. 40, Wien 1880, S. 129 Philippson a.a.O. S.566 f. 13 viele weitere Merkmale, die dieser Region (ganz im Süden auch die „Karystia“ genannt) einen ganz eigenen Charakter und eine ganz eigene Schönheit geben. Sie zu entdecken, lohnt auch eine lange Anreise. Auf dem kürzesten Weg sind es von Gialtra nach Kárystos etwa 300 km über meist kurvige Straßen, und will man gar über Kárystos hinaus noch weiter nach Süden vordringen und vorher auch noch einige andere Abstecher machen, so wird man für einen kurzen Ausflug vom Norden in den Süden Euböas mit insgesamt 1000 km und mit wenigstens drei Übernachtungen rechnen müssen. (So kahl und braun stellt man sich gemeinhin den ganzen Süden Euböas vor.) III. Zum allgemeinen Charakter des Südens der Insel Euböa. Ein kykladisches Eiland auf einer eher sporadischen Insel Was man vor Antritt einer Reise in den Süden Euböas über diesen etwas abgelegenen Teil der Insel zu hören oder zu lesen bekommt, ist nicht selten das Vorur14 teil, der Süden sei (im Gegensatz zum milden, grünen Norden) kahl und karg und windig, verfüge zwar an einigen Stellen über touristische Bettenburgen, die in Ausmaß und Qualität mit Arenal auf Mallorca zu vergleichen seien, biete sonst aber nur wenig Attraktives. Ein solch negatives Urteil wird man gewiss, wenn man es darauf anlegt, an einigen wenigen Stellen des Südens bestätigt finden können. Insgesamt aber lässt der Süden Euböas den Reisenden, der Neuem und Andersartigem neugierig und aufgeschlossen gegenüberzutreten vermag, zu einem ganz anderen Urteil und zu ganz anderen Eindrücken kommen. (Der Standort dieser Aufnahme (Platanistos) liegt nur wenige hundert Meter von dem Ort entfernt, von dem aus auch das Foto auf S.14 gemacht wurde.) Süd-Euböa ist, das lehrt einem schon ein Blick auf die Landkarte, geophysikalisch deutlich vom übrigen Euböa unterschieden. Der schmale Golf, der sich ab Styra parallel zum Festland sehr schmal nach Norden hin erstreckt, übt dort im Norden klimatisch so gut wie keinen maritimen Einfluss mehr auf die Insel aus, aber im Süden hat dort sowohl die deutlich größere Breite des Golfes als auch 15 die Offenheit dieses Inselteiles gegenüber der Weite der Ägäis mit ihren heftigen, meist aus Nord oder Nordost wehenden Winden einen spürbaren Einfluss auf das Klima. Hier im Süden ist daher die Differenz zwischen den Durchschnittstemperaturen des Winters und denen des Sommers merklich geringer als in den benachbarten Regionen der Insel und des Festlandes. Das führt dazu, dass Süd-Euböa klimatisch den milderen Verhältnissen ähnelt, wie man sie unmittelbar südlich auf der Insel Andros und den anderen Inseln der nördlichen Kykladen vorfindet. Allerdings bewirken die stets sehr heftigen, aber auch sehr trockenen Stürme, die im heißen Sommer, vom Meer kommend, über den Süden Euböas hinwegstreichen (die Meltemi-Winde), dass der Inselboden austrocknet und dadurch die ohnehin spärliche Vegetation Schaden nimmt. Die den Süden der Insel dominierende Bergregion des Ochi dient dabei für den Süden der Insel nicht als Schutz vor den Meltemi-Stürmen, denn die Schluchten und Täler diese Bergmassivs, das steil über Kárystos und dem äußersten Süden aufsteigt, wirkt wie eine Düse, die die vernichtenden und manchmal auch lästigen Kräfte der Winde noch verstärken. Zu der im Vergleich zum Norden der Insel geringeren Vegetation des Südens trägt auch die völlig andersartige Struktur des Bodens bei, dessen dominierenden Elemente, vor allem Gneiss, Marmor und Schiefer, weniger fruchtbar sind als die Böden des Nordens und der Mitte Euböas, wo zudem auch die jeweiligen landschaftlichen Formen variantenreicher sind als die des Südens. Hier im Süden dominiert eine relativ gleichförmige und zugleich zerklüftete Bergregion, die meist steil zu den Küsten hin abfällt. Erst nördlich des Styra-Tales beginnt der schmalere und auch flachere Teil des Südens, der dort dann auch klimatisch in seiner Vegetation und in seinem Aussehen Anschluss an die Mitte der Insel findet. Dass allerdings die zur Golfküste hin abfallenden Berghänge Mittlel-Euböas zwischen Halkida und Aliveri so karstig und vegetationslos sind, hat aber wohl weniger mit klimatischen und geologischen Ursachen zu tun als mit Raubbau an der Natur, den 16 hier die Menschen wohl schon seit der Antike betrieben. Die Pflanzenwelt Südeuböas wird von „Phrygana“ oder „Garigue“ dominiert, einer trockenen, dornigen und äußerst widerstandsfähigen Pflanzenwelt, deren einzelne Elemente sich dicht gedrängt als Wölbungen kleiner Kissen sammeln und so Berge und Hänge wie ein endloser Flicken-Teppich überziehen. Im Frühling und im Frühsommer leuchten diese Kissen in vorwiegend gelben, blass rosa-farbigen und grünen Tönen. Erst am Ende eines langen heißen Sommers verliert diese Garigue-Macchia ihre bunte Farbigkeit, nimmt sie die rot-braune Färbung an, wie sie ganz im Süden wohl das ganze Jahr über typisch ist. Der südliche Inselteil Euböas ist also nicht absolut karg und vegetationslos, wenn auch diese für die Kykladen typische Pflanzenwelt, die selten höher als 50 cm aufwächst, wohl nur die degenerierte Schrumpfform einer früheren höher wachsenden Macchia darstellt, wie man sie heute nur noch in Resten auf kleineren unbewohnten Inseln antrifft oder in entle17 genen Teilen bewohnter Inseln. Diese ursprüngliche Macchia hatte zusätzlich zu den übrig gebliebenen dornigen Pflanzenkissen auch Kermes-Eichen, wilde Oliven und Myrte (Myrtus communis). (Für den Süden Euböas typische bodendeckende Distel-Art) Überall aber in Süd-Euböa, wo überaus zahlreich Quellen fließen und schmale Bäche von den Bergen herabrauschen, manchmal auch in etwas breiteren Flusstälern, stehen hohe Platanen, zuweilen auch Oliven, und immer und überall jedoch, oft überraschend auch abseits der wasserführenden Bachläufe wachsen und blühen große, weithin rosa-rot leuchtende Oleanderbüsche. Der Süden Euböas ist also nicht nur karg, sondern weist eine farbige, eine überraschend vielfältige Pflanzenwelt auf. Was dem Süden aber fehlt, sind die für den Norden und für Teile der Mitte der Insel typischen großen Baumbestände an Nadelhölzern, an Fichten, Pinien und Tannen. Dafür aber ist an den wasserreichen Stellen des Südens das 18 wuchernde Grün der Platanen und das Rot des Oleanders besonders intensiv. Zusammen mit der niedrigen „Phrygana“ entsteht dabei für die südliche Oberfläche der Insel eine aparte Vielfalt und eine unerwartete Farbigkeit. Schwarz, als Folge zahlreicher Brände, gehört zu dieser Farbpalette leider auch dazu, wenn auch die Natur sich manchmal schnell zu erholen scheint. (Nach einem Waldbrand: neu aufblühender Oleander) Zu den Farben Grün und Rot tritt häufig auch noch die Farbe Gelb hinzu, nicht nur durch kleine stachelige Ginsterbüsche und niedrige Distel-Kissen, sondern auch durch den Anbau einer Getreidesorte, die auch auf den Kykladen heimisch ist, sonst aber auch nur im Süden Euböas anzutreffen ist, nämlich „smigadi“, eine Mischung aus Gerste und Weizen. Letztlich liegt wohl die Herausbildung dieses gemeinsamen Verfahrens beim Getreideanbau in der Ähnlichkeit begründet, die Boden und Umwelt mit ihren natürlichen Voraussetzungen den Menschen sowohl im Süden Euböas als auch auf den Kykladen-Inseln boten. 19 Doch nicht nur hinsichtlich Geologie, Morphologie und Vegetation besteht zwischen dem Süden Euböas und den südlich angrenzenden Inseln der Kykladen eine enge Verwandtschaft, sondern diese Nähe bewirkt auch Ähnlichkeiten im kulturellen Bereich, was besonders leicht an der Architektur traditioneller Wohngebäude zu erkennen ist. Beim Hausbau nämlich zeigt der Süden Euböas eine größere Verwandtschaft mit den Kykladen als mit den nördlicheren Teilen der eigenen Insel. Dort im Norden Euböas tragen die Häuser, wie auch auf dem nahen Festland, zumeist ein spitzes, ein mit Ziegeln gedecktes Sattel- oder Walmdach, während im Süden, wie auf den Kykladen, Flachdächer dominieren. Auf den kykladischen Inseln liegt der eigentliche Grund für diese flache Bauweise zum einen in der Notwendigkeit, das spärliche und recht seltene Regenwasser besser auffangen, es in unterirdische Zisternen leiten und dort dann speichern zu können, zum anderen an einem Mangel an Bauholz, das für die Konstruktion von spitzen Dächern mit ihren Dachstühlen erforderlich ist. Nun herrscht zwar im Süden Euböas kein Mangel an Wasser, denn hier gibt es zahlreiche Quellen, so dass die Häuser in aller Regel ohne Zisternen auskommen. Dass hier aber trotzdem oft flache Dächer gebaut werden, hat darum gewiss seinen Grund in einer gemeinsamen kykladischen Kultur, zu deren Herausbildung wohl auch das Material gehörte, mit dem man dort wie hier Bauten errichtete, nämlich mit den in der heimischen Natur dominant vorkommenden großen grau-grünen Schieferplatten und -steinen, die sich bestens für dicke und zugleich isolierende Mauern und für breite, flache Dächer eignen. Diese Häuser erhalten dann oft auch einen leuchtend weißen Putz und Anstrich. Bauholz und Ziegel dagegen sind auf den Kykladen-Inseln und im Süden Euböas rar und deshalb für die dort eher einfach lebenden Einwohner zu teuer. Die traditionelle Form, wie man auf den Kykladen und im Süden Euböas Wohnhäuser in weißer Kubus-Form errichtete, wird heute noch häufig, aber nicht durchgehend fortgeführt. In den modernen Touristenzentren wie Nea Stira, Mar20 maris und Kárystos hat sich bei Hotels und Appartements oft die hässlich standardisierte Form des Bauens durchgesetzt, wie man sie überall in Europa antrifft: mehrere Stockwerke hoch, Balkone wie Nistplätze für einfliegende Menschen, Dächer in allen Formen und Anstrichfarben nach der neuesten Mode. Der Tradition eher verpflichtet sind dagegen häufig die einzeln an den Ortsrändern stehenden Privathäuser. (im traditionellen kykladischen Stil errichtete Privathäuser mit Flachdächern in der Nähe von Kárystos) Andere Charakteristika, die Süd-Euböa von den nördlicheren Teilen der Insel unterscheiden, haben ihren Grund in von Menschen gemachten historischen, sozialen oder politischen Prozessen. Dazu gehören wohl auch die mittlerweile abnehmenden sprachlichen Unterschiede, die wohl daher rühren, dass immer wieder, vor allem im Mittelalter von den Venezianern, zahlreiche Albaner nach Süd-Euböa umgesiedelt wurden, nachdem hier nämlich Seuchen, Piratenüberfälle und kriegerische (vor allem osmanische) Aktivitäten die Zahl der einheimischen Einwohner 21 drastisch reduziert hatten. Von solchen sprachlichen Eigenheiten liest man in der entsprechenden Fachliteratur; dem Touristen, des heutigen Griechischs kaum mächtig, fällt diese Besonderheit nicht auf. Wohl aber kann er zumindest erahnen, dass im Süden der Insel die lange türkische Besatzungszeit deutlichere Spuren hinterlassen hat als in anderen Regionen Euböas. Vor allem in der für Handel und Landwirtschaft besonders begünstigten Region um Kárystos herum hatten sich in der Zeit, als hier das osmanische Reich herrschte (1450 - 1830), viele Türken niedergelassen. Zahlreiche Brunnen und Brücken sind aus der bis weit ins 19. Jahrhundert reichenden Zeit der osmanischen Besetzung erhalten, und diese spiegelt sich auch in den Resten der vormaligen Siedlungsstruktur des Südens wider, wo nämlich kleine um ein Zentrum gruppierte Dörfer, „machalas“, und einzelne, weit verstreut liegende, größere Gehöfte jeweils eigene soziale Strukturen entwickelten. Das „Kastro Rosso“ in Kárystos, war, was es heute nicht mehr ist, in türkischer Zeit ein solches Zentrum, um das herum sich zahlreiche selbständige Dörfer scharten. Ihre Selbständigkeit und Bevölkerung verloren sie weitgehend, als ab 1832 der neue griechische Staat begann, drunten am Meer eine neue geometrisch organisierte Stadt, das neue Kárystos, zu bauen und damit ein einziges, ein für den Süden dominantes Zentrum zu errichten. Zu Ehren des ersten griechischen Königs wurde die neue Stadt, damals zunächst mehr in Planung als in Realisierung, bis 1862 „Othonoupolis“ genannt. Ziel dieser Verlagerung vom Castello Rosso an den Golf war es, die bevorzugte Lage in der Nähe verschiedener Meere bzw. Meeresarme stärker als zuvor für ökonomische Zwecke zu nutzen. Heute allerdings beschränken sich im Umfeld von Kárystos Handel und Gewerbe, die Fischerei-Wirtschaft ausgenommen, auf den Tourismus und auf die lokale Versorgung mit Nahrungsmitteln und Baustoffen. Leider ging mit der Verlagerung der Stadt ans Meer und mit der Umstrukturierung seiner Gewerbe viel von dem gepflegten Charme der lockeren Bebauung und der üppigen Gärten und Felder verloren, die sich malerisch an den Hängen und Terrassen des Ochi-Berges und 22 der Burg, des „Castello Rosso“, hinzogen. (Das „Castello Rosso“ von Kárystos, an dessen Hänge sich früher die eigenständigen Dörfer schmiegten.) Berühmt und ertragreich war in der Antike ja auch die Rinderzucht Euböas, was auf vielen antiken Münzen dokumentiert ist, und zahlreiche Rinder grasten damals wohl auch auf den relativ großen Flächen in der Senke von Kárystos. Heute sieht man die berühmten Rinder Euböas nur noch ganz vereinzelt, nämlich auf Verkehrsschildern, die vor Vieh warnen, das eine Straße wohl niemals mehr kreuzen wird. Auch Wein wurde früher rings um die alten Dörfer des alten Kárystos angebaut. Seine Qualität reichte aus, ihn zu exportieren; heute gibt es nur noch ganz kleine Anbauflächen. In der Antike gab es im Süden Euböas außer einer florierenden Landwirtschaft auch Kupfer- und Eisenerz-Bergbau, vor allem aber den Abbau und Export des berühmten, des besonders bei den Römern beliebten Marmors von Stira, Marmari und Kárystos, des von grünen Farbadern durchzogenen „Cipollino 23 Verde“12. Marmor wird im Süden Euböas kaum noch abgebaut, denn die MarmorSteinbrüche sind weitestgehend erschöpft. Um so mehr aber werden die weniger edlen grau-grünen Steine und Platten gebrochen, die überall, nicht nur auf Euböa, als Steinböden, als „Kárystos“ verlegt werden. Werden im Norden Euböas Häuser und Grundstücke gerne mit Mauern aus rötlichem Stein umgeben, so werden im Süden Euböas solche Einfassungen und auch Terrassen aus den dunklen, meist grau-grünen Bruchsteinen der heimischen Steinbrüche errichtet. Für den Süden Euböas sind nun gerade bestimmende Farben und charakteristischen Strukturen beschrieben worden, das Grau-Grün der Steine, das Gelb, Grün, Braun und Rot der Pflanzenwelt und das Weiß vieler Häuser, Farben und Strukturen, wie sie wohl auch auf den benachbarten, den etwas weiter südlich gelegenen Inseln anzutreffen sind und die Südeuböa quasi selber als eine dieser Kykladen-Inseln erscheinen lassen, und so wird der Leser am Ende dieses allge12 Der Marmor von Kárystos hat seinen Namen von dem lateinischen bzw. italienischen Wort „Cipollo“, was „Zwiebel“ bedeutet und darauf verweist, dass das Gestein ähnlich, wie das bei einer weißen Zwiebel durch deren Schalen bewirkt wird, von dünnen „grünen“ („verde“) Adern gefärbt wird. 24 meinen Teiles vielleicht wissen wollen, ob es denn im Süden Euböas nicht einige Besonderheiten gibt, die man allein hier antreffen kann. Einmalig für Griechenland ist hier nicht, wenn man sie leider auch recht häufig als Folge von Waldbränden antreffen kann, die Farbe Schwarz, einmalig aber sind die „Dragospitia“, die „Drachenhäuser“. (Dragospiti bei Kapsala 13) Der Name „Drachenhäuser“ erklärt sich wohl aus der Tatsache, dass die Mauern und Dächer dieser Gebäude aus so schweren Materialien (Steinen und Schieferplatten) und in einem so ungewöhnlichen Stil errichtet worden sind, dass spätere Generationen annehmen mussten, diese Häuser hätten nur von Wesen mit übernatürlichen Kräften erbaut werden können, von „Drachen“ zum Beispiel. Diese scheinbar übermenschlichen Kräfte, die hier am Werk gewesen sein müssen (vor 700 v.Chr.), haben auch in modernen Zeiten Wissenschaftler, gebildete Reisende 13 Vgl. S.57 f. 25 und Entdecker dazu verleitet, recht abstruse Theorien zur Entstehung dieser „Drachenhäuser“ zu entwickeln. Man sah und sieht in ihnen entweder tempelartige Bauten zur Verehrung der Götter oder Schutzbauten für Hirten und ihre Ziegenoder Schafsherden. Als seriös gilt heute allgemein die Annahme, dass diese Häuser in früheren Zeiten den Arbeitern im Bergbau und in Stein-(Marmor-)Brüchen als Unterkunft dienten, wenngleich die Phantasie stärker angeregt wird, wenn man sich vorstellt, die Drachenhäuser seien Behausungen gewesen, in denen Göttervater Zeus jeweils einer seiner zahlreichen Geliebten beigewohnt habe. Folgt man dieser Vorstellung, dann ist es auch nicht mehr rätselhaft, warum diese imposanten Drachenhäuser meist so hoch droben in den Bergen liegen, dass Menschen sie nur mühsam zu Fuß zu erreichen können. Die größten und die am besten erhaltenen „Dragospitia“ liegen hoch über Stira und Kárystos, aber hinter Stira, genauer: südlich von Kapsala (vgl. S. 57) liegt direkt an der Hauptstraße ein kleineres Drachenhaus (Hinweisschild beachten), das recht gut erhalten ist und einen ersten Eindruck von der einzigartigen Struktur dieser seltsamen Gebäude zu geben vermag. Nach diesen anstrengenden, vielleicht sogar etwas ermüdenden allgemeinen Ausführungen über den Süden Euböas, ist es wieder mal Zeit, eine Ruhepause einzulegen, Zeit, etwas zu essen, zu trinken und zu entspannen. Die Ratschläge des Arztes von Euböa, des Diokles von Kárystos, können dabei gewiss hilfreich sein, vor allem seine erste Empfehlung, wenn man sich im heißen Sommer aufmacht, den Süden der Insel zu erkunden: „Man soll so viel trinken, wie es einem jeden angenehm ist.“14 „Nach dem Essen nehmen die mageren Leute, die zu Blähungen neigen und die Speisen schwer verdauen, einfache Dinge zu sich und legen sich sogleich zum Schlafen; die übrigen ruhen, nachdem sie zuvor noch einen kurzen und gemäch14 Zitiert nach Wöhrle a.a.O., S.186 26 lichen Spaziergang gemacht haben. Es ist aber für jeden besser, solange der Magen noch voll ist, sich auf die linke Seite zu legen; ist er weich geworden, sollte man sich nach rechts drehen. Man soll weder zu ausgestreckt noch zu zusammengezogen liegen. Auf dem Rücken zu schlafen, ist für keinen recht gut. Denn wenn man so schläft, kommt es am ehesten zu Atembeschwerden, Erstickungsanfällen, epileptischen Anfällen und Pollutionen. Wach auf dem Rücken zu liegen, ist teils richtig, teils nicht. Denn die Beine und Arme liegen in Körperrichtung und lassen sich gut biegen und strecken, verschränken und öffnen; und da die rechten wie die linken Glieder liegen, werden sie auch nicht voneinander gedrückt. Das Rückgrat aber leidet, weil es die ganze Zeit ausgestreckt ist und man es in / dieser Lage nicht krümmen kann. Nicht unwichtig ist es, sowohl beim Essen als auch, wenn man schläft, Oberbauch und Füße warm zu halten. Leute, die Blähungen haben, sollten erst spät aufwachen und aufstehen, die übrigen mit Tagesanbruch. Für die meisten Gesunden dürfte eine derartige Lebensführung am geeignetsten sein. Daß man im Winter die Spaziergänge vermehren und auch die übrigen gymnastischen Übungen eifriger ausführen muß als im Sommer – indem man sie allmählich steigert, sich aber vor dem Zuviel hütet -, wurde vorher gesagt. Man wird sich aber eher salben als baden, zuweilen kalt baden, aber eher an wärmeren Tagen; warm baden soll man, wenn man erschöpft ist oder eines Ausschwitzens bedarf. Leute mit fleischiger und feuchter Konstitution sollen in der Zeit vom Untergang bis zum Aufgang der Pleiaden nur einmal täglich essen. Die anderen frühstücken mit ein wenig Zukost oder ein bißchen Honig oder süßem Wein, trinken aber nichts außer nach dem Frühstück einen Schluck leichten, ziemlich milden, mäßig verdünnten Weines. Dann sollen sie schlafen, aber nicht lange und sich dabei warm halten. Nach dem Erwachen aber soll man wie im Sommer Geschäfte erledigen, das warme Bad aber lassen, nach der Gymnastik, wenn es dunkel wird, zu Abend essen und sich dabei an einem Feuer warm halten.“15 15 Wöhrle a.a.O., S.187/188 27 Nach dem Erwachen wird unser nächstes bedächtiges Geschäft sein, uns auf eine Rundreise durch den Süden Euböas zu begeben. Der Verfasser wird das, was er gesehen, zu beschreiben versuchen, und der Leser, die geneigte Leserin mag sich aufgefordert fühlen, den Empfehlungen zu folgen und – ganz langsam - eigene Entdeckungen zu machen. 28 IV. Reisenotizen aus dem Süden Euböas Vom Nutzen einer Reise in den Süden Euböas und vom Zweck dieser Reisenotizen Die vielfältigen Informationen über den Süden Euböas, die im voraufgegangenen Kapitel dieser „Geschichten“ zunächst in recht allgemein gehaltener Form vorgetragen wurden, mögen erklären, warum es lohnend erscheint, trotz des gängigen Vorurteils, dort im Süden der Insel sei alles entwaldet, dort sei alles karg, dürr, windig, unfruchtbar und meist wenig besiedelt, einen Besuch abzustatten. Dabei wollen diese „Geschichten aus Gialtra 2011“ auch weiterhin nichts anderes, als die Leser und Leserinnen, die von den prangenden Schönheiten des Nordens Euböas verwöhnt sind, behutsam darauf vorzubereiten, sich selber von dem – vom Norden aus gesehen - ärmlichen und abgelegenen Süden Euböas ein eigenes Bild zu machen und sich dort auf eine Entdeckungsreise zu begeben, die vielleicht mehr zu enthüllen vermag, als sie zunächst zu erwarten bereit waren. Zunächst gilt es natürlich, mit dem Auto eine längere Anfahrt zu bewältigen, und wenn man dann auf dem Weg in den Süden der Insel über Prokopi, Halkida schon bis Erétria vorgedrungen ist, empfiehlt es sich, dort unterhalb der alten Akropolis eine erste Rast einzulegen. Da es eingangs schon beim Frühstück jener Diokles von Kárystos gewesen war, der dem zur Fahrt Aufstoßenden Ratschläge für sein Wohlbefinden gegeben hatte, so mögen auch hier im alten Erétria des Arztes Empfehlungen für ein frugales Mittagsmahl dem Reisenden Stärkung und Erfrischung sein, allerdings mit dem warnenden Hinweis, dass Alkohol-Kontrollen damals vor zweieinhalbtausend wohl noch nicht üblich waren. „Zum Essen muß man mit leerem Magen gehen ohne unverdaute Speisereste von der vorherigen Mahlzeit. Das kann man wohl am besten an der Geruchslosigkeit oder am Ausbleiben des Aufstoßens erkennen, an der Weichheit und Unbeschwertheit von Oberbauch und Leibeshöhle, außerdem an einem guten Appetit. 29 Im Sommer ist es vorteilhaft, kurz vor Sonnenuntergang zu essen, und zwar Brot, Gemüse und Maza16. Das Gemüse esse man ungekocht voraus, außer Gurke und Rettich; diese zuletzt. Gekocht nehme man sie aber zu Beginn der Mahlzeit. Von den Felsenfischen soll man die mit reichlichem, lockerem Fleisch essen und von den Knorpelfischen und den anderen die saftigsten, vorzugsweise gekocht. Als Fleisch wähle man aber Ziegen- oder Lammfleisch von gerade ausgewachsenen Schweinen, als Geflügel Hahn, Rebhuhn, Tauben oder junge Ringeltauben. Alles soll einfach gekocht sein. Von den anderen Nahrungsmitteln darf man ohne Bedenken nach Laune nehmen, soweit sie keine den vorigen entgegengesetzten Eigenschaften besitzen. Daß zu jeder Jahreszeit Leute mit einer feuchten Leibeshöhle stopfende Nahrung zu sich nehmen sollten, ebenso die, die eine trockene Leibeshöhle besitzen, abführende, das dürfte jeder zugestehen. Ebenso sollten diejenigen, die beim Wasserlassen Schwierigkeiten haben, harntreibende Nahrung und magere nahrhafte Nahrung zu sich nehmen. Vor dem Essen und noch einige Zeit während des Essens trinke man Wasser; dann gehen Magere zu einem leichten Rotwein über, nach dem Essen zu Weißwein. Beleibtere nehmen bis zum Ende Weißwein, alle aber verdünnten Wein. Man soll soviel trinken, wie es einem jeden angenehm ist.“17 Nachdem die Folgen bewältigt sind, die sich nach einer üppigen Mahlzeit einzustellen pflegen, begebe man sich dann endlich auf die letzten Kilometer der Anfahrt in den Süden. Wir lassen sehr bald hinter Erétria und Aliveri den Süden der Insel an der Linie beginnen, die, wie eingangs beschrieben, Mittel- und Südeuböa trennt, und die Fahrt soll dann im wesentlichen der einzigen Hauptstraße folgen, die über Kárystos hinaus bis an das südöstliche Ende der Insel führt. Auf dem Weg zu den steilen Küsten im Süden wird aber zuvor immer wieder von der küstenfernen Hauptroute abgewichen werden, um dort an den wilden Gestaden 16 17 Im Internet findet man dieses auf eine Speise verweisende Wort lediglich bei Wikipedia und dort nur mit der sehr vagen Bedeutung „spartanische Mahlzeit aus Gerstenbrot“. Diokles zitiert nach Wöhrle a.a.O. S.186-187 30 der Ägäis oder an den ruhigen Ufern des südeuböischen Golfes vielleicht das zu finden, was jeder, der sich auf eine Entdeckungsreise in Griechenland begibt, aufzuspüren hofft: landschaftliche Schönheiten, unberührte weiße Strände, blaues Wasser, malerisch verschachtelte Orte und beeindruckende Relikte aus den vergangenen Epochen einer großen Geschichte, marmorne Säulen und Skulpturen, vielleicht sogar einen klassischen Tempel oder wenigstens das, was von ihm übrig geblieben ist. Begegnungen mit der Antike aber werden, das kann man hier schon am Anfang sagen, auch im Süden Euböas äußerst rar und spärlich sein. Häufiger dagegen werden historische Spuren zu entdecken sein, die an das religiöse Leben im Mittelalter erinnern: spät-byzantinische Klöster und Kirchen zum Beispiel, oder Spuren, die auf Strukturen verweisen, die die weltliche Macht derer sicherten, die hier auf Euböa in noch nicht allzu ferner Vergangenheit herrschten, zum Beispiel die Franken, die Venezianer oder die Osmanen mit ihren jeweiligen Burgen und wehrhaften Türmen. Und natürlich wird in diesen Reisenotizen auch beschrieben und abgebildet werden, welche unerwarteten Reize und Schönheiten die scheinbar so unentdeckten und kargen Küsten, Landschaften, Dörfer und Städte Süd-Euböas zu bieten haben, aber auch das, was der moderne Tourismus aus ihnen gemacht hat. Oberstes Ziel dieser Rundreise aber bleibt, dem Süden der Insel Euböa mehr abzugewinnen als das, was viele, die vom grünen Norden verwöhnt sind, dem vermeintlich armen und kargen Süden an Eigenwert zuzubilligen bereit sind. Denn allzu leicht wird vergessen, dass die schwärmerische Wertschätzung für bestimmte landschaftliche Schönheiten oder dass die Bewunderung für bestimmte historische Ereignisse und Entwicklungen oft auf subjektiven Urteilen, Kategorien und Prämissen beruht. Bei einem kritischen Vergleich des Südens der Insel mit ihrem Norden wird manchmal übersehen, dass auch der Norden und die Mitte Euböas nur wenige, zumal nur wenige gepflegte historische Sehenswürdigkeiten zu bieten haben. Es wird sich erweisen, dass sich daran der Süden wird durchaus positiv messen lassen können. Gewiss, grüne Natur, Wald, Wein, Oliven, 31 Pinien, schöne Strände, heiße Quellen hat der Norden wahrscheinlich zahlreicher zu bieten als der Süden, aber ein Vergleich der archäologischen Relikte, die historisch bedeutsam und immer noch sehenswert sind, fällt nicht so eindeutig zu Gunsten des Nordens aus, denn Burg- und Turmreste aus venezianisch-fränkischer Zeit gibt es im Süden auch, und die Überbleibsel und Spuren aus der Zeit der Antike sind im Norden ebenso selten wie im Süden. Und was aus spätantiker, mittelalterlicher oder türkischer Zeit überdauerte, wurde in jüngerer Zeit hier wie dort oft achtlos abgerissen oder dem Verfall preisgegeben, manche Kirche und manches Kloster aus byzantinischer Zeit, viele Moscheen, Gebäude, Brücken und Brunnen aus der Zeit der Türkenherrschaft. Aber dennoch gibt es sowohl im Norden und in der Mitte Euböas als auch im Süden manche Relikte, manche, wenn auch meist vergessene oder vernachlässigte Sehenswürdigkeiten aus den langen Zeiten, in den Griechenland unter fremdem Einfluss stand. Von dem aber, was baugeschichtlich den Anfang des modernen Griechenlands im 19. Jahrhundert prägte, nämlich dem Klassizismus, ist in der Mitte und im Süden Euböas (Halkida, Erétria, Marmari, Kárystos) mehr erhalten geblieben als im Norden, wo oft, wie zum Beispiel in Loutra Aidipsos, die einstmals prächtigen Häuser und Badeeinrichtungen verfallen oder von einfallslosen modernen Bauten verdrängt werden. V. Der erste Abweichung von der geplanten Route in den Süden Kaum sind, wenn auch sehr allgemein, die Unterschiede zwischen dem Norden und dem Süden Euböas aufgezählt worden und kaum ist weiter oben ausführlich und hoffentlich auch überzeugend festgelegt worden, wo die Linie verläuft, die, natürlich wissenschaftlich fundiert, als die Grenze zwischen Mittel- und Südeuböa angesehen werden muss, kaum ist einleitend auch noch versprochen worden, dass die Erkundung des Südens Euböas entlang der Hauptstraße nach Kárystos 32 erfolgen solle und dass es nur dann und wann Abweichungen von dieser Hauptroute geben werde, kaum ist das und noch einiges mehr gesagt worden, da beginnen nun diese eigentlichen süd-euböischen „Geschichten“ mit Reisenotizen über eine Region, deren Sehenswürdigkeiten und deren geographische Lage sie nun ganz und gar nicht als dem eben erst abgegrenzten Süden Euböas zugehörig ausweisen. Oben-drein erreicht man diese abgelegene Region auch nicht dadurch, dass man einfach der Hauptstraße nach Kárystos folgt und einfach mal von ihr in Richtung einer der Küsten abbiegt. Für diesen methodischen Widerspruch, diesen konzeptionellen Regelverstoß gibt es eigentlich keine Entschuldigung. Es gibt nur eine Erklärung, und die wird gewiss, so schätze ich, von manchem als sehr fragwürdig oder als sehr spezifisch angesehen werden. Also: nur ein ganz klein wenig, wirklich, nur wenige tausend Meter nördlich der Linie, die nach geographischen Prinzipien Süd- und Mittel-Euböa trennt, gibt es eine kleine, eine leicht bergige und schließlich zur Ägäis hin steil abfallende Region, die kaum von Reisenden wahrgenommen wird, denn wer am südlichen Rand MittelEuböas von Aliveri zu den Fähren und Sehenswürdigkeiten von Kimi und dann vielleicht weiter nach Skyros fährt, der lässt diese vermeintlich ganz uninteressante Region meist rechts liegen, und wer sich gar aufmacht, den Süden der Insel zu erkunden, wird nicht gleich am Anfang seiner Expedition einen Abstecher nach links, nach Osten, machen wollen, zumal weder Karte noch Navi für diesen kleinen, meist vergessenen Winkel Euböas, der nicht mehr zur Mitte und auch noch nicht zum Süden der Insel zu gehören scheint, Attraktives verheißen. Doch die Leser und Leserinnen früherer Reise-Notizen und Jahrbücher werden wissen, dass deren Verfasser mit Vorliebe Orte aufsucht, an denen auch ein ehrwürdiges Kloster oder eine alte byzantinische Kirche besucht werden kann. Süd-Euböa aber kann für diese merkwürdige Vorliebe leider nur sehr, sehr wenig bieten, und so mag man es dem Verfasser nachsehen, dass er gleich hier auf den ersten Seiten seiner 33 neuen „Notizen“ weniger seiner eigenen Systematik als viel mehr seiner eigenen Neigung folgen wird, um stolz berichten zu können, dass es in der Abgeschiedenheit einer meist vergessenen Region am Rande Süd-Euböas doch einige Klöster und alte Kirchen zu entdecken gibt und natürlich auch fränkische Türme und Burgen, schöne Strände und reizvolle Landschaften. Denn es bestätigt sich auch hier wieder, dass Klöster und einsame Kirchen vorzugsweise an landschaftlich besonders reizvollen Orten zu finden sind, wo man zur stillen Einkehr bei freundlichen Mönchen oder Nonnen aufgefordert wird und wo nicht nur dem Auge, sondern auch dem Herzen und der Seele Freude und Erquickung gewährt werden. Doch noch vor solcher Seelenspeisung, noch vor weiteren diätistischen Empfehlungen unser Arztes aus Kárystos und noch vor der Beschreibung einzelner Sehenswürdigkeiten im Süden Euböas sei hier noch kurz gesagt, wie der folgende praktische Teil dieser Reisenotizen aufgebaut ist. Einer Route von Nord nach Süd folgend, werden die Reise-Empfehlungen in fünf Abschnitte unterteilt; jedem dieser Abschnitte ist ein Kartenausschnitt vorangestellt, auf dem die im folgenden Text angesprochenen Sehenswürdigkeiten jeweils mit einer Zahl markiert werden. VI. Avlonari und Umgebung Den hier empfohlenen Abstecher in die abgelegene Bergwelt des OchtoniáGebirges mit seinen typischen Vulkan-Kegeln (oxy=spitz) sollte man am besten, wenn man der Haupstraße gefolgt ist, die von Halkida über Aliveri nach Kimi führt, an der (schlecht beschilderten) Abzweigung nach Avlonari beginnen. Den malerisch auf dem Südhang eines Berghanges gelegenen Ort sieht man schon von weitem, vor allem den mächtigen, hohen fränkisch-venezianischen Turm, der mitten im Städtchen direkt neben den Doppeltürmen der Hauptkirche die Dächer der kleinen Stadt überragt. 34 (Avlonari und Umgebung)18 1. Kirche des Agios Demetrios Direkt an dem Abzweig nach Avlonari sei empfohlen, dort einen Blick auf die schöne Kirche des Agios Demetrios (1) zu werfen. Mehr als einen Blick von außen wird man nicht erhaschen können, mehr als ein Foto von der etwas ungewöhnlichen Architektur dieses Kirchenbaus wird man nicht machen können, denn die Kirche ist weiträumig von einem leider meist verschlossenen Zaun umgeben. Es ist leicht zu erkennen, dass sowohl an der dreischiffigen Breite als auch an der Länge und den Dächern der Kirche mehrere Generationen vielleicht über Jahrhunderte erweiternd gearbeitet haben müssen. Vor allem fällt auf, dass Vierung und Kuppel noch nicht zu einer gestalteten Einheit verschmolzen sind, sondern unverbunden auf die Dächer gesetzt worden sind. Die quer zur Dachrichtung stehende, einem 18 Alle Kartenausschnitte in diesen „Geschichten“ sind folgender Landkarte entnommen: Southern Evia 1:100.000, 04-2, Anavasi Verlag, Athen, o.J. www.mountains.gr 35 kleinen Haus mit schönen romanischen Fenstern und runden Einfassungen ähnelnde Vierung ist wohl nur eine Vorstufe zu einer Vierung, denn sie überragt noch nicht die sie tragenden Außenwände und gibt dem Grundriss der Kirche noch nicht die später übliche Kreuzesform. Diese für Kirchen auf Euböa typische Dach-Vierung wird als „Dachtransept“19 bezeichnet. (Agios Demetrios bei Avlonari / Chania) (1) 19 In spätbyzantinischer Zeit und unter der Türkenherrschaft beliebter Bautyp der griechisch-orthodoxen Kirchen. Ab Anfang des 13. Jh. in Griechenland nachweisbare Bauten, vor allem aber auf Euböa. Kirchen und Kapellen mit Dachtransept sind tonnengewölbte, meist einschiffige Bauten. Die Architektur-Historiker haben sie als vereinfachte Kuppelkirchen identifiziert, deren baugeschichtliche Ausbreitung sich eng an byzantinische Sakralbautypen anschließt. Zunächst entstanden sie wohl infolge wirtschaftlicher (Kosten sparender) Überlegungen und unter dem Eindruck westlicher Querschiffbauten vor allem bei der Überdachung der Narthices, d.h. der Kirchenvorbauten, mit einem quer aufgesetzten Tonnengewölbe. Mit den verstärkten westlichen Einflüssen, die dann der 4. Kreuzzug ab 1205 für Griechenland brachte, löste und verselbständigte sich das zunächst auf die Vorhallen beschränkte Gewölbesystems und prägte fortan als Tonnengewölbe oder als kreuzendes Dach das kurze Querschiff zahlreicher orthodoxer Kirchenbauten. 36 Avlonari (und Chania) (2) Malerisch liegt diese etwas größere Ortschaft auf dem Hang eines der Ausläufer des Ochtonia-Bergzuges, überschaut mit seinen drei Türmen, einem hohen, sehr gut erhaltenen Wehrturm aus venezianischer Zeit und den beiden Türmen der Hauptkirche des Ortes, das weite, fruchtbare Tal, das sich von Aliveri nach Nordosten hin bis nach Kimi erstreckt. (Avlonari und Umgebung) Im Ortszentrum werden die Straßen, Gassen und Plätze immer enger, wird die Bebauung immer dichter, und hier dominieren dann auch die schönen klassizistische Bürgerhäuser mit ihrem plastischen Fassadenschmuck und den breiten Balkonen und überhängenden Blumen. Ein schöner, ein stiller Ort, aber länger verweilen wird man hier wohl nicht, zumal wenn noch eine Panorama-Straße lockt und der Besuch von wenigstens zwei orthodoxen Klöstern ansteht. Schließlich steht ja doch die Fahrt zu den Sehenswürdigkeiten im Süden Euböas erst noch bevor, und 37 da hält eine ausgiebige Beschäftigung mit architektonischen und historischen Feinheiten am Rande des eigentlichen Ziels den Reisenden doch allzu sehr auf. (Blick von der Panorama-Straße nach Norden auf die Berge und Täler rings um Avlonari) Die Panorama-Straße von Avlonari über Ochtonia nach Mouteri (3) Von Avlonari folge man der Straße in östlicher Richtung weiter hinauf in die Berge. Ein kleines Schild weist darauf hin, dass bis zum Kloster Lefkón noch 9, bis nach Oktonia noch 13 km zu fahren seien; von dort sind es dann noch weitere 5 km bis hinunter zur Ägäis-Küste. Jeder Kilometer, jeder Meter bietet neue Ausblicke auf die landschaftlichen Schönheiten an der Grenze von Mittel- und Südeuböa. Man blickt in das weite Tal, das nach Kimi führt, sieht auf der gegenüberliegenden Seite die vielgestaltige Bergwelt der Kotilea-Mountains, die man als die südlichen Ausläufer des Dirphis ansehen kann, des höchsten Berges von Euböa (1743m), und man schaut in die Täler und auf die markanten Gipfel der Ochtonia-Berge (bis zu 38 761m hoch), bis man schließlich immer neue Ausblicke auf die Ägäis-Küste bis hinauf nach Kimi und hinüber nach der bereit vorgelagerten Insel Skyros gewinnt. Gleich hinter Avlonari und bei dem Abstecher zum Kloster Lefkón (4) sieht man dann auch die Bergspitze (427m), die sich die Venezianer und Franken aussuchten, um dort eine Burg zu bauen, die die darunter liegenden fruchtbaren Täler weithin beherrschte. Von dieser Burg „Potiri“ (3a) sind nur spärliche Reste erhalten. Statt eines wehrhaften Turmes und starker Mauern steht dort nun mit der Hoffnung auf friedlichere Zeiten eine kleine, unscheinbare Kirche zu Ehren der „Panagia“, der Gottesmutter. („Potiri-Castle“ und Panangia-Kirche südlich von Avlonari) Zu den Ruinen der ehemaligen Potiri-Burg und zu dem alten Gemäuer der Panagia-Kirche führt keine Fahrstraße; tüchtige Wanderer suchen sich entweder einen nicht-gekennzeichneten Weg, der weiter oben am Kloster Lefkón (4) beginnen könnte, oder steigen vom Kloster Sikies (5) steil bergan, um auf diesen ZiegenPfaden in den Genuss weiter Ausblicke zu kommen. Zurück auf der PanoramaFahrstraße zur Ägäis, nachdem man dem Kloster Lefkón (4) einen Besuch abgestattet und der Burg und der Panagia (3a) eine anstrengende Wanderung geweiht hat, wähle man an der Gabelung unmittelbar hinter Ochtonia die linke Straße. Sie führt hinunter zu den Stränden von Mourteri und zu den Ausblicken auf die Ägäis, auf die weite Bucht von Kimi und auf die im Hintergrund breit vorgelagerte Insel Skyros. Als Rückfahrt und zugleich als Weg zum Start in den Süden sei von 39 Mourteri aus die Route über Orio und Chania empfohlen. Kleine Flussläufe, saftiges Grün, üppige Felder und Gärten begleiten den Reisenden. Kloster Lefkón (4) Auf der Panoramastraße nach Ochtonia/Mourteri zweigt oberhalb von Avlonari nach etwa 5 km recht spitzwinklig eine Nebenstraße zum Kloster Lefkón ab. Die Gründung des Klosters, das heute ein Nonnenkloster ist, muss wohl für die Zeit angesetzt werden, in der in Griechenland sehr viele orthodoxe Klöster gegründet wurden, also in die Zeit zwischen 1000 und 1200. Ursprünglich war das Kloster so wohl der Gottesmutter (Eisóthia tis Theotokous) als auch dem Heiligen Charalampos geweiht, aber nachdem 1835 der auf Euböa hoch verehrte griechische Freiheitsheld N. Kriezotis dem Kloster eine Ikone geschenkt hatte, auf der der Heilige abgebildet war, wurde danach das Kloster nur noch nach diesem Aghios Charalampos benannt, ergänzt um den Namen der Bäume, die für die Umgebung des Klosters charakteristisch sind, schlanke Pappeln, „Lefkón“. Diese Namensänderung erklärt, warum auf Landkarten und in Reiseführern höchst unterschiedliche Namen für das Kloster auftauchen. Von den heutigen Klostergebäuden geht lediglich die zentrale Kirche, das Katholikon, auf ältere Zeiten zurück. In diesem Katholikon begegnet man in einer Renovierungsinschrift des 12. Jahrhunderts den ursprünglichen Klosternamen, denn in die Westwand der jetzigen Kirche, einer spätbyzantinischen Kirche aus dem 14. oder 15. Jahrhundert, wurde rechts von der Tür die alte Inschrift wieder eingemauert. Wenn auch das Ende dieser Inschrift, nämlich „Manuel Komnenu“, nur noch zum Teil lesbar ist, so steht doch fest, dass damit Kaiser Manuel I. (1143 – 1180) gemeint ist und dass das Kloster zu seiner Zeit erneuert wurde. Das heutige Katholikon, eine Kirche mit dem für Euböa typischen Dachtransept, stellt also (nach Gründung um 1000 und der Renovierung um 1200) eine dritte Bauphase dar. Es ist im wesentlichen eine einschiffige, kreuz40 förmige Dreikonchenkirche, auf deren außen dreiseitigen Apsiden statt einer Kuppel eine Quertonne aufgesetzt wurde. (Kloster Charalambos Lefkón) Der viereckige Klosterbau wirkt von außen wie eine abweisende Festung, aber drinnen zeigen freundliche Nonnen den Einlass begehrenden Fremden alles Sehenswerte, sofern sie innerhalb der Besuchszeiten20 anklopfen. Kloster Aghios Iannis Karyes (Karies) (5) Ist man nach der Rundfahrt über die Panoramastraße (3) zum Ausgangspunkt bei Avlonari/Chania und damit zur Hauptstraße von Kimi nach Aliveri zurückgekehrt, so lohnt sich ein kurzer Abstecher zum Kloster Karies. Wenn auch über das Kloster wenig bekannt ist, so erfreut doch seine abgeschiedene Lage südlich und unterhalb der Felskuppe, auf dem die Burg „Potiri“ (3a) stand, zu der vom Kloster aus ein kürzerer, aber auch recht steiler Pfad hinauf führt. 20 Jeden Tag zwischen 9:00 und 12:00 oder 16:00 und 19:00 Uhr 41 Die kleine Kloster-Anlage stammt in ihrem heutigen Zustand wohl aus der Türkenzeit (17. Jhdt.). Zu sehen sind ein kleines Gebäude mit den Klosterzellen, ein kleines Brunnenhaus mit einer eifrig sprudelnden Quelle und das freistehende Katholikon, also die Hauptkirche des Klosters, eine Kreuzkuppelkirche vom Viersäulentypus mit drei außen vorspringenden, dreiseitigen Apsiden. Die vier Säulen und Kapitelle sind Spolien, also Elemente eines deutlich älteren Gebäudes, vielleicht sogar eines ehemaligen Tempels. Einige Gebäudeteile des Katholikons, nicht aber die schlecht erhaltenen Fresken im Innern, dürften auf eine Zeit vor dem 14. Jahrhundert zu datieren sein. (Kloster Karyes bei Sikiés) Weitere Klöster in der Umgebung von Avlonari Für Interessenten an Klöstern und Kirchen hier noch einige Hinweise für Entdeckungen, die man in der Umgebung von Avlonari auch noch machen könnte: 6a 6b 6c 6d 6e 6f Kirche Agia Thekla: kleine byzantinische Kirche aus dem 13.Jahrhundert mit bedeutenden Fresken Kloster Sotiros nördlich von Kimi Nonnen-Kloster Mantzari bei Oxilithos Klosterkirche Agios Demetrios Katarrhaktes Männer-Kloster Moni Metamorphosis (Metochi) nahe Mourteri Kirche (ehemalige Klosterkirche ?) Agios Antonios bei Achladeri 42 Im Süden Euböas werden fast gar keine Klöster zu entdecken sein. Aber immerhin wird man auch zwischen Krieza und Kárystos auf einige Spuren von KlosterAnlagen stoßen können. Einige Hilfen für eine solche Spurensuche im Süden Euböas sind auf Seite 87 ff. aufgelistet. Kann der Inselsüden auch nicht das geistige und geistliche Interesse an orthodoxer Kirchen- und Klostergeschichte stillen, so kann jedoch im Gegensatz dazu ein Abstecher in die Bergwelt um Avlonari herum ein solches Interesse überraschend vielfältig bedienen. Da es aber nun gilt, wie schon Diokles von Kárystos in noch unchristlicher Zeit wusste, jede Einseitigkeit und jede allzu spezielle Neigung zu vermeiden, folgen wir seiner Lehre und wenden das, was er dabei für den Ablauf eines Jahres postulierte, auch auf die Tageszeiten an und wenden uns endlich der ersten Etappe zu, die nun wirklich in den Süden Euböas führen soll. „Am wichtigsten für die Gesundheit ist es, daß nichts über die Natur des Körpers Oberhand gewinnt. Mit dem Wechsel der Jahreszeiten ändere man auch sonst die Lebensführung, indem man allmählich ins Gegenteil schwenkt und nicht plötzlich einen großen Wechsel vollzieht.“21 VII. Der nördliche Teil des Südens von Euböa Rizokastro – Dhistos – Zarakes – Mesochoria Biegt man von der Straße, die von Aliveri nach Kimi führt, in Lepoura (1) in Richtung Kárystos ab, so bewegt man sich fortan im Süden Euböas, wenngleich dessen nördlicher Teil noch nicht die Charakteristika in voller Ausprägung zeigt, die in der Einleitung dieser Reisenotizen als typisch für den Süden der Insel herausgestellt wurden. Die Inselregion zwischen Lepoura (1) und Polipotamos (2) kann eher als Brücke, als Übergang zwischen dem eigentlichen Süden und den hier noch stärker verwandten nördlicheren Teilen der Insel angesehen werden. Zwischen Kimi, Aliveri, Halkida und Istieia fällt, wie in früheren „Geschichten“ dargestellt 21 Wöhrle a.a.O. S.189 43 wurde, die große Zahl an Burgen, Wehr- und Wachtürmen aus fränkisch/venezianischer Zeit auf, und auch hier am Zugang zum Süden passiert man die Ruinen einer einstmals weithin dominierenden Burg und ein größere Anzahl stattlicher Türme, das Rizokastro (3) und die Türme von Koutoumoula (4) und Dhistos (5). Das Rizokastro zwischen Aliveri und Velos (3) Das Rizokastro ist wohl eine der ersten Burgen, die die Franken in den ersten 44 Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts auf einem markanten Felshügel (170 m hoch) südlich von Aliveri errichteten. Aber von der Geschichte der Burg, von ihren Besitzern in fränkisch-venezianischer Zeit, als die Burg nach ihren adligen norditalienischen Besitzern auch „Protino“ genannt wurde, ist genau so wenig bekannt wie von der Lage eines Goldschatzes, den, wie eine Legende berichtet, die Franken hier einst vergraben haben sollen. (Das Rizokastro südlich von Aliveri) Die Türken aber, das weiß man, haben im 15. Jahrhundert die Burg wegen ihrer dominierenden Lage wieder zu einer starken Festung ausgebaut. Diese wurde daher auch im Kampf der Griechen um ihre Freiheit eines der ersten Angriffsziele der Freiheitskämpfer auf Euböa. Unter ihrem Anführer Nikolaos Kriezotis, der seinen Namen übrigens seinem nahen Geburtsort Krieza (6) verdankt, einem kleinen Ort, durch den etwas weiter südlich die Hauptstraße in den Süden Euböas führt, unter diesem Kriezotis eroberten im Sommer des Jahres 1823 die griechi45 schen Freiheitskämpfer das Rizokastro, wurden daraus aber schon im Herbst des selben Jahres wieder von den Türken vertrieben.22 Ähnlich wie die ebenso schön gelegene Burgruine von Phylla (südlich von Halkida) befindet sich leider auch das Rizokastro in einem wenig gepflegten Zustand. Mit dem Auto kommt man den Ruinen des Kastells am nächsten, wenn man die östliche Straße wählt, die von Velos aus heranführt. Bei der Entdeckungsreise in den Süden Euböas empfiehlt es sich, stets der Hauptstraße von Lepoura (1) aus in Richtung Kárystos zu folgen und dann jeweils Abstecher in zunächst östlicher, später dann nordöstlicher Richtung an die Küste der Ägäis zu machen oder, in entgegengesetzter Richtung, Ausflüge an die Buchten und Strände des Südeuböischen bzw. des Pentalischen Golfes. Je weiter man dabei nach Süden vordringt, desto weiter werden am Golf die Buchten und desto größer die an ihnen gelegenen Orte (Nea Stira, Marmari, Kárystos), während im malerischen Gegensatz dazu an der Ägäisseite die kleinen Strandbuchten immer enger und immer weniger zugänglich werden. Dort werden dann auch die an ihnen gelegenen Feriensiedlungen oder -häuser immer kleiner, bis schließlich ganz im Südosten die meisten kleinen Strände nur noch weißen Sand, blaues Wasser und noch nicht einmal eine Taverne bieten. Die ersten kleinen Buchten auf der Golfseite sind die schönen Buchten von Porto Boufalo (7) und Almiropotamos (8). Hier herrscht noch zwischen den einzelnen Häusern kleiner Feriensiedlungen beschauliche Ruhe. Das Pendant an der Ägäis-Seite, Klimaki und Apostoli an der PetriesBucht (9), ist nicht ganz so beschaulich, liegt hier doch der südöstlichste größere Fischereihafen Euböas. Außer landschaftlich attraktiven Küstenregionen hat der nördliche Teil des Südens natürlich auch historisch und kulturell interessante Besonderheiten zu bieten, z.B. 22 Über den weiteren Verlauf des griechischen Befreiungskampfes auf Euböa vgl. S.72 f.). 46 Reste von Mühlen, deren Naturstein-Stümpfe überall die exponiertesten Stellen der Landschaft markieren, oder Reste von Wassermühlen, die noch erkennen lassen, wie man in vor-industrieller Zeit die Kräfte der zahlreichen Wasserläufe zu nutzen wusste. (Die Ferienhaussiedlung Aghios Dhimitrios an der Almiropotamos-Bucht (8)) In Petries zum Beispiel (10), 2 km östlich von Krieza, sind Wehre und gemauerte Bach-Einfassungen für Wassermühlen noch gut zu erkennen, wenn sie auch funktionslos geworden sind. Interessanter und wohl auch einzigartiger ist das, was historisch und kulturell die Ortschaft Dhistos und ihr naher See zu bieten haben. D h i s t o s (11) Was auf Landkarten meist als größerer blauer See eingezeichnet ist, erweist sich in der Wirklichkeit als eine grüne Fläche, nämlich als der Boden eines sumpfigen 47 Talkessels, der je nach Jahreszeit mal feucht ist, mal trocken liegt, vor allem aber keinen natürlichen Abfluss hat. Die kurze Zeit, die diesen „Reisenotizen“ zugrunde liegt, reichte nicht aus, um mehr als nur groben Überblick von Dhistos und seinem See zu erhaschen. Die landschaftlichen, topographischen und siedlungsgeschichtlichen Charakteristika dieser eng begrenzten Region lassen aber erwarten, dass es auch hier, ähnlich wie am Kopais-See23, über viele Jahrhunderte Versuche gab, den See trocken zu legen und intensiv landwirtschaftlich zu nutzen. Herauszufinden, wie die Menschen das machten, könnte wohl einmal Thema eines eigenen Jahresheftes werden; aber bis dahin müssen hier einige Hinweise genügen, wie sie zum Beispiel auch in den kleinen Reiseführern gegeben werden, die die griechischen Tourismus-Behörden herausgegeben haben.24 Folgt man diesen Hinweisen, dann lag das alte Dhistos nicht dort, wo die modernen Landkarten die namensgleiche Ortschaft verzeichnen, sondern am Fuße und auf den steilen Hängen des inselartigen Bergkegels, an den der See von mehreren Seiten dicht herantritt. Das obere Drittel dieses Kegels trug die Befestigungen der antiken Akropolis, später dann im Mittelalter eine Burg, von der heute noch nicht nur die Reste eines venezianischen Turmes zeugen, sondern, verstreut über den ganzen Burgberg, zahlreiche Mauer- und Gebäudereste. Von der alten Ringmauer der Akropolis sind noch die Fundamente von elf quadratischen Türmen zu erkennen, an der Ostseite des Burgberges auch die Reste antiker Wohngebäude. Vielzahl und Vielfalt der ehemaligen Bauten zeigen, wie bedeutend das alte Dhistos mit seiner Landwirtschaft einmal gewesen sein muss, als der wahrscheinlich von seinen Anrainern feinsinnig regulierte Seeboden noch erhebliche Ernten und Erträge sicherte. Man hat, so wird in den genannten Reiseführern angedeutet, im Umkreis des Inselberges Gebäudereste gefunden, die vermuten lassen, dass die Bewohner und Herrscher des alten Dhistos schon frühe Formen feudalen oder genossenschaftlichen Arbeitens pflegten und dass sie für ihren Handel eine Art Karawanserei unter23 24 Vgl. dazu die „Orchomenischen Geschichten aus Gialtra 2010“ Greece, Island of Evia, hrsg. von G.N.T.O., Athen 2005. oder: Griechenland, Insel Euböa, hrsg. von E.O.T., Athen o.J. (www.evia.gr) 48 hielten. Material und Vermutungen also wahrlich zuhauf und gewiss ein Thema für ein ergiebiges Jahresheft. (Der grüne Schilf-See von Dhistos, und auf dem Bergkegel links (östlich des Sees) die alte Akropolis mit den Resten eines venezianischen Turmes) Wie überall auf Euböa markieren auch im Inselsüden oft noch recht gut erhaltene, von den Franken oder Venezianern errichtete Wehr- und Signaltürme strategisch wichtige Geländepunkte. Im Süden der Insel wird die Zahl dieser weithin sichtbaren Insignien fremder Macht ergänzt von zahlreichen friedlicheren Turmbauten, nämlich den Stümpfen alter Getreidemühlen, die die einheimischen Bewohner an Orten errichteten, die den im Süden der Insel kräftig blasenden Winden besonders günstig ausgesetzt sind. Die Windmühlen von Zarakes (12) sind die ersten, die man kaum übersehen kann, wenn man weiter nach Süden fährt. Sie hocken recht einsam auf ihren windigen Hügeln und stehen im Kontrast und in Konkurrenz zu den vielen großen Windkrafträdern, die sich überall in Südeuböa die Berg49 kämme erobert haben und dort in Reih und Glied begonnen haben, alternative Energie zu gewinnen. Der Reisende kann sich ein Bild machen, wie künftig sich bis 2021 auch in Deutschland die Landschaften verändern werden. Zunächst empfindet man die Flügel der großen Räder als störend, aber schon nach kurzer Zeit gewöhnt man sich so an sie, dass man sie genau in der Weise übersieht, wie man das sommerliche Gezirpe der Zikaden überhört. Zur schnellen Gewöhnung trägt gewiss auch die Überzeugung bei, dass der griechische Staat hier in Südeuböa wirklich sinnvolle und nachhaltige Investitionen mit Fördergeldern getätigt hat, im Gegensatz etwa zu den riesigen Explorationen südlich von Kárystos, wo man – wohl bis jetzt vergeblich – gehofft hat, mit der aufwändigen Erschließung eines öden, kargen und abgelegenen Küstenstreifens einen neuen großen Ferienort etablieren zu können. (Alte und – rechts im Hintergrund – neue Mühlen bei Zarakes (12)) Hier bei Zarakes, wo die Insel ihre schmalste Stelle (Taille) hat, lohnt es sich, wenn man Lust auf ein erfrischendes Bad in der blauen Ägäis hat, ein kurzer Ausflug zum nahen Strand, dem Paralia Zarakon (13). Nach drei Kilometern ist er erreicht, und man trifft dort auf eine kleine von Felsen gerahmte Bucht mit Sand, Wellen, zwei bescheidenen Tavernen und einigen einfachen Ferienhäusern. Attraktiver aber, mit wirklich weißem Sand, noch tiefer blauem Wasser und ei50 nem gepflegteren Ambiente, ist die nur wenige Kilometer weiter südlich gelegene Bucht von Limniona (15). Zu ihr biegt man von der Hauptstraße in Richtung Mesochoria (14) ab, einem hübsch am Rande einer kleinen Ebene gelegenen Dorf. (Paralia Zarakon (13)) Hinunter zum Limniona-Strand (15) führt die Straße ab Mesochoria durch ein lauschiges Tal. Auf dieser Fahrt sollte man nicht versäumen, zwei Sarkophage in Augenschein zu nehmen, die in einem kleinen eingezäunten Areal auf einem etwas versteckten Kirchplatz aufgestellt sind, nur etwa 50m rechts von der Fahrstraße (15a). Ein kurzer Halt lohnt sich schon allein deshalb, weil es sonst auf Euböa außerhalb der wenigen Museen kaum etwas wirklich Antikes zu besichtigen gibt und weil das Material der beiden Sarkophage aus eben dem Marmor gemacht ist, für den der Süden Euböas berühmt war, nämlich dem „Cippolino Verde“, wenn sich auch hier im Freien das Grün der Sargplatten in ein normales Grau verdunkelt hat. 51 (Zwei Sarkophage aus Euböas berühmten grünen Marmor, der in Styra, Marmari und Kárystos gebrochen wurde (14)) 52 Die Badebucht von Limniona (15) dagegen leuchtet frisch in all den Farben, die man an einer (relativ) einsamen Bucht an der Ägäis anzutreffen hofft: Weiß, Blau, Türkis-Grün, eingerahmt von markanten Felsen und als Blickfang eine dicht vorgelagerte kleine Felseninsel, an der sich, wenn der Meltemi bläst, die Wellen schäumend brechen. (Der zauberhafte Strand von Limniona (15)) Um zurück zur Hauptstraße zu gelangen, sollte man vom Strand aus die südliche Strecke über Tsakei (16) wählen, einem hübsch über kleinen Terrassen aufsteigenden Dorf mit interessanten Resten älterer Bebauung aus dem frühen 19. Jahrhundert. Sogar die Reste eines älteren Klosters soll es hier geben, des Klosters „Monastery of the Evangelism of the Tsakaians“, und auch eine einzige Nonne soll noch darin leben. Aber der Verfasser dieser wahren Geschichten hat weder diese Nonne noch ihre Behausung aufspüren können25, dafür im Ortszentrum aber noch 25 Vergleiche dazu in diesem Heft auf Seite 87 ff. die Hinweise auf Spuren von Klosteranlagen in Südeuböa 53 einige relativ gut erhaltene Wohnhäuser, die türkischen und klassizistischen Baustil miteinander zu verbinden scheinen. Kennzeichnend für diesen Haustyp ist zum ei-nen die Vielzahl der sorgfältig ausgeführten Zier-Elemente, zum anderen das Material, mit dem kunstvoll gemauert wurde. Das glänzend schimmernde Grün dieser Steine lässt zunächst vermuten, es handle sich um den früher sehr begehrten grünen Kárystos-Marmor, doch es einfaches Gestein, Schiefer oder Gneis, das hier im Süden fast überall vorkommt. (Tsakei, ein kleines Dorf in hübscher Lage und mit älterer Bausubstanz) VIII. Der mittlere Teil des Süden Euböas Nea Stira – Stira – Filaghra – Marmaris Bestand die Beschreibung des nördlichen Teils Südeuböas vor allem aus einer Aufzählung kleinerer Dörfer, kleiner Buchten und einigen Hinweisen auf Beobachtungen, die man rechts und links der Hauptstraße machen kann, so werden im nun folgenden Abschnitt im gleichen Maße, wie die Insel wieder breiter wird, wie ihre Berge höher und ihre Täler, immer quer zur Fahrtrichtung, länger werden, auch die Sehenswürdigkeiten spektakulärer und die Ortschaften, die auf der Fahrt in den Süden besucht oder durchfahren werden müssen, meistens größer sein. 54 Wen es nach der Beschaulichkeit der Limniona-Bucht (VII,15) und der dörflichen Schläfrigkeit von Tsakai (VII,16) danach drängt, endlich wieder in einen größeren und lebhafteren Badeort zu kommen, in dem das touristische Angebot in zahllosen Hotels, Shops und Tavernen von deutschen Speisekarten bis zu kühlem bayrischen Bier reicht und wo das Baden im weiten Meer dem engen Vergnügen gleicht, das man daheim in einem gut besuchten öffentlichen Schwimmbad haben kann, der ist zusammen mit tausenden von TUI-Pauschalreisenden bestens in Nea Stira (1) aufgehoben. 55 (Nea Stira) Wer mehr sehen möchte als knappe Bikinis, Sonnenschirme, übervolle Teller und Krüge und wer anderes hören möchte als Autos, knatternde Mopeds und deutsche Volksmusik, der wird sich schnell ins nahe beschauliche alte Stira (2) aufmachen, und wenn er Stille sucht, schöne Aussichten genießen möchte und einen etwas längeren, steilen und etwas mühsamen Fußmarsch nicht scheut, dann wird er auf 450m hinauf zur alten Akropolis von Stira steigen, zuvor noch zur darunter liegenden Drachenhaussiedlung von Palia Laka (3) und schließlich zu den Ruinen der alten Festung „Armenoi (4)26. Durch deren megalithisches Eingangstor öffnet sich ein weiter Blick hinunter auf Stira, auf den euböischen Golf und hinüber auf das griechische Festland mit seinen markanten Bergen. Die Drachenhaus-Siedlung Pali Laka oberhalb von Stira ist eines der bedeutendsten Beispiele der berühmten 26 Andere Namen sind: Castello dell´ Armena, Armene, Larmane, Larmani, Larmena, Larema, Larmenie. Vgl. auch die allgemeinen Hinweise zu den Burgen und Türmen in Südeuböa auf den Seiten 60 bis 62 56 „Drachenhäuser“27 Südeuböas. Nicht nur über deren Zweck, sondern auch über deren Alter streiten sich die Gelehrten, von denen einige behaupten, dass sie aus der Zeit vor 700 v.Chr. stammen. In dem Gebäude-Komplex von Pali Laka stehen drei Drachenhäuser um einen gemeinsamen Vorhof. Sie befinden sich auf dem Berg über der modernen Stadt Stira, direkt unterhalb der berühmten Akropolis von Stira. (Stira, überragt von den Ruinen der Burg Armenoi (4); und auf dem Sattel darunter die Drachenhöuser (3)) Nachdem der Besucher von Stira aus zunächst eine erste Strecke über eine schwer zu begehende Sandstraße hat bewältigen müssen, führt der weitere Aufstieg zu den Drachenhäusern dann 500 bis 600 m weit über einen ziemlich steilen und mühsamen Weg, der schließlich in einen stufenartig angelegten Pfad übergeht. Wer, was verständlich ist, im heißen Sommer diesen schweißtreibenden Aufstieg zu den Burgruinen und Drachenhäusern oberhalb von Stira scheut, dem sei empfohlen, von Stira aus wenige Kilometer weiter in Richtung Kárystos zu fahren, denn etwa 2 km hinter der nahen Ortschaft Kapsala verweist ein Schild auf ein „Dragospiti“, das direkt an der Straße steht (5). Dieses Haus ist zwar wohl von etwas kleineren Drachen gebaut worden, aber dabei haben diese, wenn auch in kleinerem Maßstab, genau die Bauprinzipien angewandt, die auch ihre großen Artgenossen bei ihren Bauten hoch in den Bergen über Stira und Kárystos reali27 Vgl. die Ausführungen zu den Drachenhäusern auf S.57 f. Und S.68 f. 57 sierten. Schwere graue Natursteine und Platten wurden sorgfältig zu den Seitenmauern von niedrigen Räumen aufgeschichtet, die dann jeweils ein Dach erhielten, bei dem, wie bei den Kuppelgräbern der alten Mykener, schwere Platten von allen Seiten in falscher Kuppeltechnik, der sog. Kragtechnik mit jeweils überstehenden Steinplatten, übereinander geschichtet wurden. Die Mitten der Raumabdeckungen blieben offen, vielleicht weil durch sie Rauch abziehen sollte. Die Laibungen der niedrigen Eingänge, Fensteröffnungen gibt es keine, wurden aus besonders großen Steinblöcken gebildet. (Eingang und Dachkonstruktion des Dragospiti bei Kapsala) Wenn nach dem Drachenhaus die Hauptstraße nach wenigen hundert Metern die nächste Höhe erklommen hat, beginnt, wenigstens für Autofahrer, eine der schönsten Panoramastrecken (6) im Süden Euböas. Hoch über der steil zum Golf hin abfallenden Küste, zudem auf einer besonders gut ausgebauten Straße, fährt man an die 10 km bis in die Nähe von Marmari (7) und kann sich dabei stets neuer spektakulärer Ausblicke auf den Golf, auf die zahlreich vorgelagerten Pentalischen Inseln und auf viele malerische Buchten an der euböischen Küste erfreuen. 58 (Blick von der Panorama-Straße (6) auf die Pentalischen Inseln im süd-euböischen Golf vor Marmari) Zur Struktur einer Entdeckungsreise in den Süden Euböas gehört es, mal rechts oder links, mal nach Osten, mal nach Westen Abstecher von der Hauptroute zu machen, um Eindrücke sowohl von der belebteren Golf- als auch von der touristisch weniger erschlossenen Ägäis-Seite der Insel zu gewinnen. Nach den Ausblikken auf die schönen 13 Pentalischen Inseln im Westen bietet es sich an, nun mal wieder einen Abstecher nach Osten zu unternehmen, und wir wählen dazu eine Fahrt über Chania (8), Ghianitsi (9) zur Badebucht südlich des Kaps Filaghra (10) und zum Kastro gleichen Namens (11). Diese Fahrt führt nicht nur durch ein schönes Tal mit reicher Vegetation und ertragreicher Landwirtschaft, sondern vermittelt auch einen Eindruck von der anstrengenden Länge der parallelen Route, die 10 km weiter südlich vom Mount Ochi durch die Dhimosari-Schlucht hinunter zur Ägäis verläuft und die man, wenn man besser bei Kondition sei und die Sonne 59 nicht mehr gar so heiß scheine, ganz gewiss einmal zu Fuß durchlaufen möchte.28 Das Tal, das über 10 km hinunter zum Cape Filaghra (10) führt, wird am Ende immer breiter. Kurz vor dem Ziel fährt man noch durch das malerisch verstreut an einem Berghang gelegene Bergdorf Ghianitsi (9), das mit seinen flach gedeckten Häusern kykladischen Charme vermittelt, hat danach vielleicht das Glück, im breiten Bachbett (Megalo Rema) zwischen Oleander und Platanen weiße Wildpferde zu erspähen, und sieht dann den unmittelbar vom Strand sich auftürmenden mächtigen Bergklotz, dessen steile Felsen die Burg Filaghra selbst zu sein scheinen. (Cap Filaghra, Burgberg und Badebucht) Das Kastell Filaghra stand einst stolz und dominant oben hoch über dem Kap, doch von dieser Burg sind, ähnlich wie von den anderen Türmen und Burgen zwischen Krieza und Kárystos, nur äußerst spärliche Reste erhalten geblieben, und drum lohnt sich der steile Aufstieg auf die Felsenburg nur für den, der spezielle archäologische Interessen hat, oder einfach nur für den, der von dort oben den weiten, prächtigen Ausblick genießen möchte. Dass die beiden wichtigsten Burgen Südeuböas, sieht man einmal vom „Castello Rosso“ in Kárystos ab, nämlich die Burg „Armenoi“ (4) oberhalb von Stira und die 28 Vgl. dazu die Beschreibung der Wanderroute durch die Dhimosari-Schlucht auf Seite 85/86 (dazu die Karten auf S.76 (16) und S.92 (2)) 60 Burg „Filaghra“ (11) auf dem gerade beschriebenen Kap an der Ägäis, nur als spärliche Ruinen erhalten sind und dass es an der Südwestküste zwischen Stira und Kárystos auf einer Strecke von 20 km Luftlinie keine weitere Festungsruine gibt, liegt nicht nur an den kargen geographischen Bedingungen dieses Gebietes. (Armer Klepper ohne Ritter im Tal vor seiner Burg „Filaghra“) Dass hier im Süden die sonst auf Euböa so auffällig häufigen Burgen und Wehrtürme fehlen, liegt vor allem an einem Vertrag, der im Jahre 1331 zwischen Negroponte, wie die Venezianer damals ihren Stützpunkt auf Euböa nannten, dem heutigen Halkida, und einer marodierenden katalanischen Söldnertruppe geschlossen wurde, die zuvor Kárystos und das „Castello Rosso“ von den Franken erobert hatte. In diesem Vertrag wurde das Verbot ausgesprochen, in dem Territorium zwischen Stira und Kárystos Burgen zu bauen. Neben diesem Verbot, das wohl nicht nur während der zweijährigen Laufzeit des Vertrages und bis zum Tode des Führers der Katalanen, Alfonso Fadrigo, im Jahre 1338 beachtet wurde, sondern auch bis zu dem Zeitpunkt (1365), zu dem die Venezianer das Kastell von Kárystos selber kauften, enthielt der genannte Vertrag noch weitere Bestim61 mungen: die „Niederreißung“ der Mauern von Filaghra und das Verbot für Alfonso Fadrigo, selbst im Gebiet von Kárystos, das dieser Katalane für sich erobert hatte, Burgen zu errichten. All die Klauseln dieses Vertrages ließen die bis dahin bestehenden Burgen zu Ruinen werden und verhinderten den Bau weiterer Forts in Südeuböa für die gesamte venezianische Zeit. Ende des 14. Jahrhunderts ließen dann eigene finanzielle Sorgen Venedigs, der dramatische Bevölkerungsschwund auf der Insel und schließlich 1453 die totale Machtübernahme durch die Osmanen den Gedanken, Festungen in Südeuböa errichten oder wiederherstellen zu wollen, illusorisch und den alten Vertrag hinfällig werden. Wenn also überall, wo in Südeuböa auf ein „Kastro“ hingewiesen wird, nicht unbedingt auch eine sehenswürdige Festung vorgefunden werden kann, so liegt doch die Sache überraschenderweise ganz anders, wenn versprochen wird, man könne dort im Süden Euböas sehr bald das „Paradies“ erreichen. Gemeint sind hier nicht die Versprechen, die von der orthodoxen Kirche für das Ende des Lebens oder von der griechischen Regierung für das Ende der Krise gemacht werden, sondern gemeint sind hier die Erwartungen, die man zu Recht haben darf, wenn ein Verkehrsschild zur nahen Ortschaft „Paradhisi“ (12) weist. Zu dieser vielversprechenden Ortschaft gelangt man, wenn man die Straße, die man zuvor genommen hatte, um an deren Ende das Kap Filaghra (10) zu ersteigen, bis Chania (8) zurückfährt und dort dann nach links abbiegt. Nach nur drei weiteren Kilometern und ganz ohne Eingangskontrolle ist man dann in Paradhisi, einem Ort der Stille und sich sanft im Wind schaukelnder Platanen. Honig fließt hier in einem von zahllosen Blumen umstandenen Bachbett, und auch die erhofften gebratenen Tauben und die auf Spießen lecker zubereiteten Hühner und Hähnchen fliegen dem Eingelassenen hier mundgerecht zu – wenn er für sie bezahlt, denn das südeuböische Paradies ist ein kleiner malerischer Ort, zu dem die Kenner aus Marmari und Kárystos gerne fahren, weil sie wissen, dass es hier lauschige Tavernen und Restau62 rants gibt, deren Speisen vielfältiger und schmackhafter sind als die, die in den Touristenhochburgen an der Küste gereicht werden. (Im Paradies) Der letzte Ort, den man zumindest gesehen haben sollte, bevor man Kárystos, die Hauptstadt Südeuböas, besucht und sich aufmacht, den tiefen Süden und Osten der Insel zu erkunden, ist Marmari (7). Der alte Hafenort, von dem aus früher auch der begehrte grüne Marmor Südeuböas verschifft wurde, ist auf dem einleitenden Kartenausschnitt (S.55 unten links) nicht mehr verzeichnet, aber er ist nicht zu verfehlen, zumal wenn man von Paradhisi (12) kommt und von dort etwa 10 km nach Westen hinunter zur Küste fährt. Auch Marmari ist heute wie Nea Stira (1) und Kárystos eine im wesentlichen vom Tourismus bestimmte Stadt, aber schöner gelegen und weniger überlaufen als Nea Stira, wenn auch seine nähere Umgebung nicht so vielfältig interessant ist wie das 10 km weiter südöstlich gelegene Kárystos. Aber auch Marmari ist geeignet, um von hier aus, mehr wandernd 63 als fahrend, die Abgeschiedenheit des Südens zu erkunden. (Marmari und einige der vorgelagerten Pentalischen Inseln) IX. Kárystos (Die in diesem Kapitel eingefügten Ziffern beziehen sich auf den Kartenausschnitt auf Seite 76) 1. Zur mythischen und historischen Geschichte der Stadt Kárystos Wie die griechischen Regionen auf dem Festland und wie viele andere Inseln der Ägäis hat natürlich auch der Süden Euböas und damit dessen wichtigste städtische Ansiedlung, nämlich Kárystos, das gemeinsame Schicksal aller Hellenen ertragen müssen, d.h. auch die Insel Euböa ist in fast allen Phasen ihrer jüngeren Geschichte ununterbrochen von Fremdherrschaft bedroht oder ihr unterworfen gewesen, von persischen, makedonischen, römischen, byzantinischen, fränkischen 64 oder osmanischen Kaisern, Königen, Herzögen oder Paschas, von marodierenden Generälen oder, nicht weniger schmerzhaft, von Schulden machenden Politikern und ihren Parteien. In einigen geschichtlichen Details aber hat die Geschichte der Stadt Kárystos charakteristische Besonderheiten aufzuweisen, und diese lassen sich zumeist aus den kriegerischen Folgen einer Rivalität erklären, die sich zwischen benachbarten Städten entweder auf Euböa selbst entwickelte (zum Beispiel zwischen Chalkis, Eretria und Kárystos) oder die aus Machtansprüchen entstand, die die großen Städte des nahen Festlandes gegenüber Euböa erhoben (z.B. Athen, Korinth oder Theben). Solche Rivalitäten und Konflikte zwischen engen Nachbarn sind ein Phänomen, das nicht nur immer wieder in der Geschichte der Griechen auftaucht und deren Mythen und Epen kennzeichnet, sondern sie gehören ganz offensichtlich zur Geschichte fast aller Völker, Staaten, Stämme (und Familien). Im Falle von Kárystos waren für die Geschichte und Geschicke dieser Stadt vor allem die Ansprüche kennzeichnend, die das relativ nahe Athen immer wieder erhob und die dabei die Unabhängigkeit von Kárystos wiederholt in Frage stellten. Das imperiale Interesse Athens an Kárystos und an Euböa überhaupt hatte zum einen strategische Gründe, denn Kárystos beherrschte dank seiner Lage ganz wichtige maritime Zugänge nach Attika und Athen, und zum anderen benötigte Athen wegen der kargen Bodenverhältnisse, die sein eigenes Umland kennzeichnen, stets zusätzliche Ressourcen, die die Versorgung der Stadt sichern konnten, und Euböa, vor allem aber das nahe Kárystos mit seiner Landwirtschaft, seiner Viehzucht, seinem Fischreichtum und einigen Bodenschätzen schien aus Athener Sicht immer einen großen Teil dieses Bedarfs decken zu können, ob nun freiwillig oder gezwungen. Im Interesse der Bewohner Euböas dagegen lag es, sich, so gut es ging, ihre Unabhängigkeit zu bewahren, sich gegen Ansprüche und Angriffe zu verteidigen und sich dafür starke Bündnispartner zu suchen. Als Konstante in der wechselvollen Geschichte der Stadt Kárystos erwies sich immer wieder, dass die strategisch exponierte Lage der Stadt und zugleich deren 65 ökonomischen Vorzüge sie oft zum Ziel heftiger militärischer Attacken machten. (Das moderne Kárystos mit Hafen, Kastell und Ochi-Bergen) Es kann daher nicht erstaunen, dass die besonders markanten Punkte in der näheren Umgebung von Kárystos, die die exponierte geographische Lage der Stadt schon immer als besonders attraktiv haben erscheinen lassen, im Laufe der Geschichte einen ausgesprochen symbolischen Charakter angenommen haben und dass ihnen dadurch auch eine herausragende Rolle in der Fülle griechischer Mythen zugeordnet wurde. Im Süden Euböas darf man als besonders herausragend die beiden Gipfel des Ochi-Gebirges (1) ansehen, zu deren Füßen sich die Ebene von Kárystos ausbreitet und von deren Höhen sich fast ganz Griechenland überblicken lässt. Eine der schönsten Beschreibungen dieses herrlichen An- und Ausblickes hat Habbo Lolling verfasst, ein äußerst gebildeter Gelehrter, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Griechenland bereiste und seine Eindrücke ebenfalls in „Reisenotizen“ festhielt. „Unter uns senkt sich das Gebirge 66 über 4000 Fuss in flachem Bogen zur Fruchtebene von Kárystos hinab. Nach r (echts) sieht man alle bedeutenderen Bergspitzen des griechischen Festlandes und des Peloponnes und nur durch den Meeresarm getrennt liegt uns ganz nahe Attika mit seinen feinen Berg- und Küstenformen, nach Süden hin tauchen in zwei langen Reihen scharf umrissen die Kykladen und Sporaden aus den dunklen Fluten und links von ihnen erscheint bei klarer Luft in nebelhaften Umrissen die kleinasia-tische Küste; der Blick umspannt gewissermassen ganz Griechenland diesseits und jenseits des Meeres, dessen religiöser Mittelpunkt lange Zeit das kleine unschein-bare Eiland Delos war.“29 Der Gebirgszug, von dessen Höhen aus man diese phantastische Aussicht genießen kann, heißt „Ochi“, trägt also als Namen ein Wort, das man sonst nur aus zumeist negativ besetzten Zusammenhängen kennt. Doch der Name des Berges hat eine ganz andere Bedeutung, hat eine ganz andere Etymologie, heißt nicht „nein“, sondern eigenlich „ja“. Das Wort „ochi“ stammt nämlich von dem altgriechischen Wort „ocheuo“, und das benennt nicht nur ein mehr oder weniger zufälliges Zusammentreffen, sondern meint auch den Austausch heftiger (sexueller) Leidenschaften beim Zusammensein frisch verliebter Personen. Die Personen, die sich einst hier auf dem Berge „Ochi“ trafen, um Hochzeit zu feiern und ihre Flitterwochen zu genießen, waren, so weiß es der Mythos, keine Menschen, sondern Götter, die höchsten Götter selber: Zeus und Hera. Das Zusammentreffen des Göttervaters Zeus mit der schönen Hera wird von den Menschen natürlich als delikate Geschichte erzählt, und in dieser hier vom Berge Ochi werden die bekannten Verfahren, Verkleidungen, Masken und Tricks, mit denen Zeus seine zahlreichen Geliebten so häufig zu verführen vermochte, um eine weitere aparte Variante ergänzt. Auf seinen Streifzügen durch die Bergwelt Euböas hatte Zeus eines Tages, so wird erzählt, die junge, schöne und damals noch wenig zänkische Hera entdeckt, die dort in der Abgeschiedenheit der Bergwelt Euböas von der klugen 29 Habbo Lolling (vgl. Literaturverzeichnis) a.a.O., S. 426 67 Nymphe Macri beschirmt, aufgezogen und in der weiblichen Kunst unterwiesen wurde, mit Männern nicht allzu gefällig umzugehen.30 Es kann daher nicht verwundern, dass die jungfräuliche Hera die ersten Annäherungsversuche des von Liebe entflammten Zeus´ schroff abwies und dass dieser daher ein weniger verfängliches Verfahren aushecken musste, um die Aufmerksamkeit oder gar die Nähe und Liebe der scheuen Jungfrau zu gewinnen. Zeus verwandelte sich diesmal nicht in einen Schwan, nicht in einen Stier, sondern in einen kleinen, in einen scheinbar nur Wärme suchenden Vogel. Hera hätte, wäre sie Mitteleuropäerin gewesen und wäre sie vertraut gewesen mit den betrügerischen Angewohnheiten, die man diesem Vögelchen nachsagt, das sich ihr da zitternd näherte, gewarnt sein müssen, denn Zeus näherte sich ihr doch tatsächlich in Gestalt eines äußerlich doch so unscheinbar wirkenden - Kuckucks. Die mitleidige Hera nahm das kleine Geschöpf erst in ihre Hand, drückte es dann liebevoll an ihren Busen und setzte es dann wohl auf ihren Schoß, und da war es nun kein Wunder mehr, dass Zeus sich dort sehr bald als des Kuckucks Kern zu erkennen gab und dass er es sogar verstand, die Gunst der jungen Frau zu erwerben. Beide taten sehr bald alles, was dem nahen Berg fürderhin seinen treffenden Namen „Ochi“ geben sollte. Dieser Hochzeit des höchsten Gottes und der mit ihm eigentlich verschwisterten höchsten Göttin entsprangen einige Kinder, Ares (Feuer), Hebe (Jugend), Eleitheia (Geburt) und Hephaistos (Feuer), aber ihre Ehe, als deren sorgende Göttin Hera später verehrt wurde, war wegen der zahlreichen Eskapaden des Herrn Gemahls weniger glücklich, und ihre Nebenbuhlerinnen und deren Kinder (u.a. Herakles) verfolgte Hera mit hasserfüllter Imbrunst. Wegen dieser für Götter und Menschen gleichermaßen typischen Geschichte wurden früher die Gebäude, die Drachenhäuser, und Gebäudereste, die man droben auf dem Gipfel des Ochi fand und immer noch sehen kann (2), von einigen 30 Für viele Stellen und Orte auf Euböa ist nachgewiesen worden, dass an ihnen die Göttermutter Hera besondere Verehrung genoss. Auch der höchste Berg Euböas, der Dirphis, wurde in alten Zeiten mit Hera in Verbindung gebracht. 68 Archäologen mit einem Tempel für Hera in Verbindung gebracht. Heute allerdings wird diese These kaum noch vertreten. Ganz unbestritten aber ist, was zahlreiche Bodenfunde zu belegen vermögen, dass Süd-Euböa in vorgeschichtlicher Zeit nicht nur von den Göttern geschätzt, sondern auch von Menschen besiedelt und kultiviert wurde. Genaue Kenntnisse und präzise prähistorische Daten gibt es aber für Süd-Euboa, und das gilt auch für ganz Griechenland, erst aus der Zeit deutlich nach Homer, also aus der Zeit der Frühklassik, einer historischen Epoche, die man gemeinhin ab etwa dem Jahre 500 vor Christus beginnen lässt.31 Homer (um 800) weiß in seiner „Ilias“ immerhin zu berichten, dass Schiffe aus dem Süden Euböas am Kriegszug gegen Troja teilgenommen haben und dass viele der von Ilion siegreich zurückkehrenden Griechen schließlich doch noch am Cap d´Oro, der ge-fürchteten nordöstlichen Ecke Euböas, gestrandet sind und dort ihren Tod gefun-den haben. Genaueres über die Geschichte der Stadt Kárystos weiß man aber erst aus der Zeit der Perserkriege.32 Deren Anlass war ja der von Athen und an-deren griechischen Städten unterstützte Aufstand der Griechen in Kleinasien ge-gen die Perser gewesen, und nachdem der erste persische Rachefeldzug unter dem Prinzen Mardonios im Jahre 492 schon am Berge Athos mit dem Untergang der Flotte geendet hatte, schickte König Dareios zwei Jahre später, also im Jahre 490 v.Chr., Datis und Artaphernes mit einem neuen Heer über See nach Erétria (Euböa) und Athen. Die Leute von Kárystos widersetzten sich zunächst der persischen Aufforderung, sich zu ergeben, mussten sich dann aber der persischen Übermacht beugen, die zuvor schon die Stadt Erétria völlig zerstört hatte. Die Perser drangen dann aber nicht weiter bis nach Athen vor, denn in der Schlacht von Marathon wurden sie, wie man ja von dem Olympia-Läufer weiß, der die Siegesnachricht nach Athen trug, von den Griechen geschlagen. Als zehn Jahre später die Perser unter ihrem neuen König Xerxes sich nochmals an einer Eroberung 31 32 Vgl. die tabellarische Übersicht aller Epochen der griechischen Geschichte in den „Geschichten 2010“, S.27 Die „Thermischen Geschichten 2009“ berichten recht ausführlich von den Kriegszügen der Perser gegen die Griechen, vor allem von der berühmten Schlacht an den Thermopylen, 480 v.Chr. 69 Griechenlands versuchten, verbündeten sich die Leute von Kárystos mit ihnen, denn den Karystiern schien es günstiger zu sein, eher vom fernen Persien als vom nahe gelegenen Athen abhängig zu sein. Zunächst ging diese Strategie auf: die Perser durchbrachen die griechische Schiffsblockade am Cap Artemision (NordEuböa), siegten an den Thermopylen, eroberten, plünderten und zerstörten Athen, verloren dann aber die zwei letztlich entscheidenden Schlachten, nämlich die Seeschlacht von Salamis und die Landschlacht bei Platäa (479). An der Seeschlacht von Salamis nahmen auch Schiffe aus Kárystos auf persischer Seite teil. Die Perser mussten sich nach ihren Niederlagen dauerhaft nach Kleinasien und dann noch weiter nach Osten zurückziehen, aber Kárystos war jetzt ohne einen starken Verbündeten und sah sich der Rache der siegreichen Griechen unter ihrem Feldherrn Themistokles schutzlos ausgesetzt. Was zuvor Athen hatte erleiden müssen, erlitt nun Kárystos selber: es wurde erst geplündert und dann zerstört. Nachdem die Stadt langsam wieder aus ihren Ruinen neu erstanden war und nun glaubte, aus der eigenen Geschichte gelernt zu haben, schloss sie sich bei den nächsten beiden Kriegen nicht wieder den Aggressoren an, die zunächst aus dem Norden gegen Hellas herandrängten, aus Makedonien, und einige Zeit später dann aus dem Westen, aus dem Römischen Reich. Aber wie zuvor befand Kárystos sich schließlich doch jeweils wieder auf der falschen Seite, also auf der Seite der Verlierer, und wurde mehrmals bitter dafür bestraft, dass es sich diesmal aktiv am griechischen Widerstand beteiligt hatte. Im Jahre 338 v.Chr. kam Kárystos zunächst unter mazedonische, ab 198 v.Chr. dann unter römische Herrschaft. Unter der Herrschaft der Römer gewann Kárystos nur langsam seinen Wohlstand zurück, vor allem dank seiner Lage und dank des grün durchzogenen Marmors, der an den Hängen des Ochi-Gebirges gebrochen wurde und den die Römer so sehr schätzten. Aus diesen ersten Jahrhunderten nach Christi Geburt gibt es von Dion Crysostomos33 eine anschauliche Darstellung des auch damals schon recht hinterwäldlerischen Dorflebens in den abgeschiedenen Teilen Süd-Euböas. Aus der spät33 Dion Chrysostomos: Euboeische Idylle. Zürich und Stuttgart (Artemis-Verlag) 1959 70 römischen Zeit (300–600 n.Chr.) und der byzantinischen Epoche (600–1200) gibt es aus dem Süden Euböas nur wenige Informationen. Schon früh in spätrömischer Zeit wurden die Marmorbrüche aufgegeben, und in den Jahrhunderten danach sorgten Piraten und der Einfall fremder Heere dafür, dass eigentlich ganz Euböa ohne Einfluss auf die geschichtliche Entwicklungen in Griechenland blieb. Erst mit der Herrschaft der Franken, jenen Kreuzrittern aus dem weströmischen Reich, die zunächst Konstantinopel (1204) geplündert und dann fast ganz Griechenland für sich okkupiert hatten, wird wieder ein Einblick in die Strukturen möglich, die die Franken und die mit ihnen auf Euböa konkurrierenden Venezianer seit 1205 dort errichteten.34 (Reste der fränkisch-venezianischen Wasserleitung an der Nordseite des „Castello Rosso“) Kárystos wurde zum Stammsitz der Familie des Ravano della Carceri, eines Adligen aus Verona, der zusammen mit zwei Brüdern die „Drei-Herren-Herrschaft“ 34 Für ein detailliertere Übersicht über die Geschichte Euböas, vor allem über die Zeit der Franken, sei hier auf die „Geschichten 2005“ verwiesen. 71 über Euböa ausübte. Ravano war es auch, der auf dem Montofoli-Hügel von Kárystos das „Castello Rosso“ auf den Fundamenten einer älteren Burg erbauen ließ (3). Aber viel Freude hatten die Herren und Herrinnen auf ihrer Burg nicht, denn immer wieder gab es Erbstreitereien mit den Familien der Brüder, die weiter im Norden Euböas residierten, in Halkida und Oreie, und zum anderen machte immer wieder die Handelsrepublik Venedig oder machten marodierende Kriegerhorden Ansprüche auf Kárystos geltend. Ritter Likarios, der sich in den Dienst der aus Konstantinopel vertriebenen byzantinischen Restmacht gestellt hatte, eroberte 1276 das Castello Rosso, und ihm folgte 1319 Don Alfonso Fadrique mit seiner Horde schlecht bezahlter katalanischen Söldner. Doch die neuen Herren der Burg machten sehr bald die Erfahrung, dass der Unterhalt der Burg stets mehr Kosten verschlang als aus der Region herauszuziehen war. Diese Erfahrung machten auch die Venezianer, die im Jahre 1365 den Katalanen die Burg von Kárystos abkauften, nachdem sie von ihnen vorher schon (1342) die Burg von Larmena (Stira) erworben hatten. Den von den Venezianern schon sehr bald angestrebten Wiederverkauf der teuren Burg versalzten ihnen die Osmanen, die nämlich schon sehr bald im 15. Jahrhundert begannen, das griechische Festland und die ägäischen Inseln zu bedrängen, und die schließlich im Jahre 1470 ganz Euböa (und ganz Griechenland) für sich eroberten und bis 1830 (1833) besetzt hielten. Ohne die Leistungen der griechischen Freiheitskämpfer schmälern zu wollen, waren es doch am Ende die Großmächte England, Frankreich und Russland, die am Beginn des 19.Jahrhunderts durchsetzten, dass die Osmanen sich aus dem südlichen Teil Griechenlands35 zurückziehen mussten, damit 1830 der neue griechische Staat ausgerufen werden konnte. Um so erstaunlicher, dass die Türken ihren Einfluss auf Euböa noch drei Jahre länger behaupten konnten als auf dem südlichen Festland. Das lag vor allem daran, dass hier auf Euböa der Anteil der türkischen Bewohner besonders hoch war und die Türken zunächst nicht bereit waren, auf ihre Privilegien aus der 35 Nur alles, was südlich des Breitengrades verläuft, an dem Lamia liegt, also auch ganz Euböa, gehörte zunächst zum neuen Königreich der Griechen. Dessen Ausdehnung nach Norden und schließlich auch Nordosten und damit das nahezu vollständige Zurückdrängen der Türken vollzog sich schrittweise bis in das erste Viertel des 20. Jahrhunderts. 72 langen Zeit der Besetzung zu verzichten. In der Umgebung von Kárystos lebten um das Jahr 1800 herum etwa 1600 türkische Familien, die sich als Herren über 400 griechische Famlien fühlen durften. Zur Struktur der türkischen Herrschaft gehörte es, dass die Türken, die einen größeren Landbesitz ihr Eigen nannten, jeweils einer griechischen Familie oder mehreren griechischen Bauern kleinere Höfe auf ihren Grundstücken zugestehen mussten. Als Gegenleistung mussten die Griechen die Hälfte ihrer Ernte an die Türken abliefern und zudem ihren Herren, wann immer sie bei ihnen mit ihrem Gefolge erschienen, das bestmögliche Gastrecht einräumen. (Niedriger Eingang zu einem Drachenhaus auf dem Berge Ochi) Daraus entstand eine Unsitte, von der das Londoner „Penny Magazine“ noch 1833 Folgendes zu berichten wusste: Die türkischen Großgrundbesitzer pflegten regelmäßig mit ihren Frauen und Kindern, mit Dienern und Kumpanen von Hof zu Hof zu ziehen und dort jeweils ihre griechischen „Gastgeber“ zu zwingen, ihnen alle Wünsche zu erfüllen. Die einzige Möglichkeit, die Türken daran zu hindern, auch 73 noch mit ihren Pferden in die Häuser der Kleinbauern einzufallen, bestand für diese Griechen schließlich nur noch darin, so wird erzählt, die Türen ihrer Häuser so niedrig zu bauen, dass die ungebetenen „Gäste“ nur gebückt eintreten konnten, große Tiere aber überhaupt nicht mehr. Auch heute noch kann man auf unserer Insel, auch in derem Norden, zahlreiche Gebäude finden, in die nur äußerst niedrige und enge Eingänge hineinführen. Auch die alten Drachenhäuser hatten, wenn auch wohl aus einem anderem Grund (Windschutz ?), diese Form eines abweisenden Zugangs. Die zahlenmäßige Überlegenheit der im Süden Euböas siedelnden Türken und ihre über viele Jahrhunderte dominierende soziale Stellung kann wohl erklären, warum die vollständige Übergabe der Insel an den neuen griechischen Staat sich erst nach einer Verzögerung von drei Jahren (1830-1833) vollzog und es dazu auch noch eines erneuten energischen Druckes der Großmächte bedurfte. Schon in der entscheidenden Phase des griechischen Freiheitskampfes (1820 – 1830) war es den tapferen griechischen Freischärlern wiederholt nicht gelungen, die starke türkische Festung Kárystos mit ihrem „Castello Rosso“ zu erobern, obwohl sich an diesen Versuchen einige der berühmtesten griechischen Freiheitskämpfer beteiligten, zum Beispiel, um nur einige Namen zu nennen, Nikolaos Kriezotis, Ilias Mavromichalis, Odysseas Androutsos, Georgios Gennadios. Das alte Kárystos war eine Ansammlung von recht eigenständigen Dörfern gewesen, die sich fernab vom Meeresufer zu Füßen des Ochi-Gebirges und rings um die alte Akropolis, dem späteren „Castello Rosso“, erstreckten. Von der alten Struktur sind noch die Dörfer erhalten geblieben, die heute die unscheinbaren (und kaum besuchten) Vororte von Kárystos sind, die aber früher Teilzentren der eigentlichen Stadt waren: Lala, Kalivia, Nikasi, Grabia, Mili, Aetos, Metochi (4). 74 (Das einst schwer einzunehmende, heute aber verfallende „Castello Rosso“) Das moderne Kárystos mit seinem Zentrum drunten am Hafen ist eine künstliche Neugründung, die 1835, also bald nach der Befreiung, der erste griechische König, Otto I., Sohn des bayrischen Königs Ludwig I., 1835 in Auftrag gab. Die Planung für sein neues „Othonopolis“ übertrug er dem bayrischen Ingenieur Birbach, der für die neue Stadt am Ufer des Meeres ein geometrisches Straßenraster entwarf, das Ähnlichkeiten mit den Planungen aufweist, die ein anderer deutscher Architekt, Leo von Klenze, in der neuen Residenzstadt Athen realisierte.36 Erst 1862 erhielt das neue „Othonoupolis“, das an der Stelle des Hafens der alten Stadt erbaut worden war, den Namen des Ortes zurück, zu dem auch immer schon der Hafen und das Hafenkastell „Bourtzi“ (6) gehört hatten: „Kárystos“. 36 Vgl. Architektonische Geschichten 2007, S. 30-57 75 2. Das neue Kárystos (5) Auch von dem neuen Kárystos, das in der ersten Hälfte des 19. Jahrunderts als „Othonoupolis“ in der Nähe des Hafen errichtet wurde (5), ist nur wenig von dem erhalten geblieben, was ursprünglich geplant und gebaut wurde: das Raster der parallel zum Ufer verlaufenden Straßen mit ihrer senkrecht dazu verlaufenden Achse, die breit als Platz drunten am Ufer beginnt und dann, schmaler werdend, vor dem etwas höher gelegenen Rathaus endet. Von den eleganten klassizistischen Häusern, die zunächst diese eigentlich sehr schöne städtische Achse säumten, sind nur ganz wenige Bauten erhalten geblieben. Die allermeisten mussten, wie so oft in Griechenland, den Rastern recht einfallsloser moderner Häuser weichen. Im klassizistischen Stil ist auch noch das Archäologische Museum. Es steht unten an der Uferstraße in einem kleinen Park, schräg dem alten Hafenturm „Bourtzi“ gegenüber (6). Die kleine Sammlung, die im Museum recht lieblos präsentiert 76 wird, lohnt eine weite Anfahrt nicht. (Klassizistische Relikte im Zentrum von Kárystos) „Bourtzi“(6), der kubische, zweistöckige, in einem recht gutem Zustand erhaltene Festungsturm befindet sich direkt am Ufer, und zwar etwa 500m östlich des Hafens von Kárystos. Der massige Turm mit seinen Zinnen und Pechnasen wurde zum Schutze der venezianischen Hafenanlagen im 13. Jahrhundert erbaut. Seine mächtigen Mauern bestehen im unteren Teil aus antiken Spolien, aus Marmorblöcken und Medaillons, die von einem römischen Mausoleum stammen, das sich wohl im Ortsteil Evraiika befand, dem alten Handelszentrum der Stadt. („Bourtzi“, der alte Festungsturm am Hafen von Kárystos (6)) 77 2. Das alte Kárystos (3,4) Das Zentrum, die Akropolis des alten Kárystos war der steile Burgberg unterhalb der dahinter aufsteigenden Berge des Ochi-Gebirges, ein Burgberg, der heute noch nach seiner mittelalterlichen Befestigung „Castello Rosso“(3) heißt und der auch heute noch, obwohl das Castello zur Ruine verfallen ist, mit seiner abweisenden steinernen Strenge Zeugnis von seiner einst fast uneinnehmbaren Dominanz ablegt. (Das „Castello Rosso“, bei dem heute mehr grauer als – wie früher – roter Stein dominiert.) Um den Burgberg herum und an den nahen Hängen des Ochi-Berges liegen wie aufgereiht die locker bebauten Dörfer, die bis in die späte Türkenzeit die Ortskerne der Stadt Kárystos waren (4). Die dörfliche Bebauung, die sich früher noch höher den Burgberg („Montofoli“) hinaufzog, ist deutlich zurückgegangen, seitdem der Stadtkern von Kárystos im 19. Jahrhundert ans Meer verlegt worden 78 war und seitdem nach dem Abzug der Türken (1835) die Burg ihre Funktion verloren hatte. Schade, dass die Burg zu einer Ruine verfallen ist. Noch am Beginn des vorigen Jahrhunderts konnte man sie noch als weitestgehend intaktes Bauwerk erleben, denn sie war auch im Freiheitskampf der Griechen unbesiegt geblieben, weil die Türken sie bis zu ihrem Abzug stets weiter befestigt und immer instand gehalten hatten. (Blick von den Ruinen des „Castello Rosso“ hinunter auf Kárystos und den süd-euböischen Golf) Wenn auch die Mauern und Bollwerke der Burg verfallen sind wie so vieles, was die Griechen an die lange Zeit der Besetzung durch die Türken hätte erinnern können, so führt doch immerhin eine gute Straße hinauf zum Burgberg, auf dem man wie in einem Park die Burgruinen besichtigen und eine prächtige Aussicht genießen kann. Schaut man oben von der Burg nach Westen hinunter, so erkennt man drunten im Tal auch noch die Reste des venezianischen Aquadukts, über dessen Bögen früher Wasser für die Burg und für die umliegenden Dörfer mit 79 ihren Gärten und Feldern herangeführt wurde. Das Foto auf Seite 78 zeigt unten links die wenigen erhaltenen Elemente des früheren Aquadukts.37 Eigenes Wasser in einem eigenen rauschenden Bachlauf hat auch heute noch das Dorf Mili (8), das sich auch heute noch im Osten der Burg hoch die Berghänge hinaufzieht. Es lohnt sich, nach der Besichtigung der Burg die Rückfahrt nach Kárystos mit einem Abstecher nach Mili zu verbinden, einem Dorf, das mit seinem Bach, seinen alten Wassermühlen, seinen Gärten, Bäumen, Pflanzen und Blumen noch immer den bezaubernden Charme ausstrahlt, den es vor 200 Jahr auch schon als türkisches Dorf gehabt haben muss. Nicht weit von der Stelle, bei der die Straße, die von Milli nach Kárystos führt, die Ebene erreicht, zweigt in einer spitzwinkligen Kurve eine schmale Straße nach rechts in Richtung Burgberg ab. Ein leicht zu übersehendes Schild weist auf ein Ziel hin, das man über diese schmale Straße erreicht und das man unbedingt besucht haben sollte, wenn man noch einen nostalgischen Blick auf die hohe ländliche Garten- und Wohnkultur werfen möchte, die in den Dörfern am Fuße des „Castello Rosso“ seit Jahrhunderten gepflegt wurde und von der man soeben auch schon in Milli einen ersten Eindruck hat gewinnen können. (Sprudelnde Bäche, saftige Natur in Mili) 37 Siehe auch Foto auf S. 71 80 Das Ziel, zu dem das gerade bezeichnete unscheinbare Schild an der Straße führt, heißt „Montofoli Garden“(9). Für diesen Garten findet man auch noch andere Namen, z.B. „Garden of the Pasha“ oder „Kakkobas“ oder „Konstantinides´s Estate“, und jeder dieser Namen verspricht, was die Wirklichkeit hält, nämlich einen Einblick in eine üppige, in eine orientalisch anmutende Gartenwelt. Am besten erläuft man sie sich zu Fuß, über Treppen, Terrassen, Mauern und Wege, die den Besucher zu reich bepflanzten Gärten, kleinen Weinfeldern, stattlichen Wohnhäusern, zu Relikten der Vergangenheit geleiten (Säulen-Trommeln, Kapitellen, alten Marmor-Blöcken), und immer wieder öffnen sich zwischen Blumen und rankenden Pflanzen bezaubernde Ausblicke auf die Stadt, ihren Hafen, das Meer und, auf der anderen Seite, auf das Kastell und die steilen Hänge der Ochi-Berge. Im Haupthaus der Gärten kann man den Wein kosten und kaufen, der hier auf fruchtbarem Boden besonders gut gedeiht. Und vielleicht sollte man hier, wenn die Sonne drunten hinter dem Hafen von Kárystos im Meer versinkt, in einer der nahen Tavernen die Hauptmahlzeit des Tages zu sich nehmen und dabei den guten Ratschlägen des schon mehrmals zitierten einheimischen Doktors folgen. (Montofoli: in den Gärten des Paschas) 81 (Haupthaus der „Montofoli Gardens“) „Im Sommer soll sie (die Hauptmahlzeit) kurz vor Sonnenuntergang eingenommen werden und aus Brot, Gemüse und Hafergebäck bestehen. Zu Beginn esse man rohes Gemüse mit Ausnahme von Gurken und Pferderettich, da man diese besser am Schluß der Mahlzeiten zu sich nimmt. Gekochtes Gemüse wird dagegen am Anfang gegessen. Weitere empfehlenswerte Speisen sind gekochter Fisch, Ziegenund Schaffleisch, vornehmlich von jungen Tieren, und Schweinefleisch von Tieren mittleren Alters. ... Vor dem Essen trinke man Wasser und etwas später noch etwas mehr davon. Dünne Menschen sollen dunklen, dickflüssigen Wein trinken, nach der Mahlzeit dagegen Weißwein. Dicke sollten immer Weißwein trinken; alle müssen den Wein mit Wasser verdünnen. ... Dünne, zu Blähungen neigende Menschen, die eine schlechte Verdauung haben, sollten sich gleich nach dem Essen zum Schlafen niederlegen, während andere vor der Nachtruhe noch einen kurzen, langsamen Spaziergang machen sollten.“38 38 Diokles von Kárystos, zitiert nach Bergdolt a.a.O. S.43 82 (In Paradhisi: Wagen mit Rohmaterial für das empfohlene Hafergebäck) 3. Ausflüge in der Umgebung von Kárystsos Marmor-Steinbrüche, Dragopspitia, Schluchten, Klöster und Kirchen am Berge Ochi Den aufmerksamen Leserinnen und Lesern dieser „Reisenotizen“ wird nicht entgangen sein, dass deren Verfasser dem Besuch des alten Kárystos den Vorzug gegenüber dem neuen gibt. Daher empfiehlt er allen, die ihm in den Süden Euböas nachreisen wollen, bei einer Übernachtung in Kárystos oder auch bei mehreren Übernachtungen ein Hotel zu wählen, das außerhalb des unruhigen neuen Kárystos liegt und nahe den Zentren der alten Hauptstadt des Südens. Diese Bedingung erfüllt das „Karystos Country Hotel Aegean“ (11). Es liegt wenige hundert Meter östlich der Zufahrten zum „Montofoli Garden“ und nach „Milli“39. 39 www.aegeanhotel.com; info@aegeanhotel.com; 0030 22240 27350 oder 27351 (ca.70 – 90 € p.DZ) 83 Das genannte Hotel eignet sich auch als Ausgangspunkt für Ausflüge und Wanderungen in die interessante Welt der Ochi-Berge, zu ihren Höhen, Tälern, Schluchten, Kirchen und Klöstern. Die folgenden Hinweise basieren meist nicht auf eigenen Erfahrungen, sondern referieren häufig Informationen, wie sie in den Büchern des Literaturverzeichnisses zu finden sind. Vier Touren werden vorgeschlagen: drei Wanderungen von verschiedener Länge und unterschiedlichem Anspruchsniveau hinauf zum Ochi und dazu ein Ausflug zu Kirchen und Klöstern in der näheren Umgebung von Kárystos. Die erste Wanderung führt hinauf zu den „Kolones“ (12), Säulen aus dem begehrten Cippolino-Verde-Marmor, die in römischer Zeit, wahrscheinlich im ersten oder zweiten Jahrhundert n.Chr., in einem Steinbruch oberhalb von Milli herausgearbeitet, dann aber nicht mehr, aus welchen Gründen auch immer, abtransportiert worden waren. Will man diese Säulen sehen und zudem vom Steinbruch aus eine besonders schöne Aussicht genießen, so fahre man zunächst mit dem Auto hinauf bis zu den letzten Häusern von Milli. (Marmor-Steinbruch und Kolones oberhalb von Mili)40 (Im Hintergrund links: Kárystos und seine Bucht, rechts der Montofoli-Burgberg mit dem „Castello Rosso“) Wer ein geländegängiges Auto fährt, der kann dieses die immer schlechter werdende Straße noch ein kleines Stück weiter hinauf bis zu einem hohen stählernen 40 Bildquelle: C.N.T.O., S.57, vgl. Fußnote 24 84 Strommast quälen. Von dort muss es dann zu Fuß weiter gehen. Über den steilen Weg und mit festem Schuhwerk erreicht man den Steinbruch und die „Kolones“ nach 30 bis 40 Minuten. Wer sich einen noch längeren Aufstieg zutraut, erreicht nach etwa drei Stunden das Bergfreundehaus (13) auf einem Bergsattel unterhalb der höchsten Gipfel des Ochi-Gebirges. (Eine Säule, die einst von den Marmorbrüchen am Ochi herabgeschleift wurde und heute vor dem Archäologischen Museum in Kárystos liegt.) Ein anderer Weg hinauf zu dieser Berghütte (13) führt unten zunächst westlich um das „Castello Rosso“ herum. Auf diesen Weg, anfangs ist er noch Straße, weisen kleinen Holzschilder mit der Aufschrift „Dhimosari“. Nach den letzten Häusern, die zum Ortsteil Ghrabia gehören, wird die Straße immer schlechter, und nur mit einem äußerst robusten Geländewagen kann man diese Strecke (14) fahrend bis zur Berghütte bewältigen. Zu Fuß braucht man zwei bis drei Stunden, für die Mühen belohnt von schönen Ausblicken und weiter oben vom Anblick seltener oder unerwarteter Pflanzen und Bäume, von Kastanien und Tannen zum Beispiel. Wer 85 erwägen sollte, droben am Mount Ochi in 1000 m Höhe übernachten zu wollen, dem sei empfohlen, sich zuvor über diese Möglichkeit bei der Stadtverwaltung von Kárystos zu erkundigen.41 Von der Herberge geht es nur noch zu Fuß weiter hinauf zum Gipfel des Mount Ochi (1399m) (1), zu den Drachenhäusern bzw. zum Tempel der Hera42 (2). Sie erreicht man nach etwa 45 anstrengenden Minuten. Ob man nun wie Zeus bei der Göttin Hera geschlafen hat oder bei seiner eigenen in der bescheidenen Herberge oder frisch von Kárystos zum Ochi heraufgekommen ist, der dritte und sehr oft empfohlene Wanderweg führt von der Herberge (13) oder vom Bergeinschnitt Petrokanalo (14) über 10 km nach Norden durch die Dhimosari-Schlucht (16)43 hinunter zu der einsamen, sehr schönen Badebucht „Kalerghou“ oder „Kallianos“ (17) an der Ägäis. (In der wasser- und felsenreichen Dhimosari-Schlucht)44 Zur Beschreibung dieses gut begehbaren und gut ausgeschilderten Wanderweges, der früher auch Hauptroute zu den entlegenen Dörfern im Südosten der Insel war, 41 42 43 44 Tel.: 0030 22240 22246 Vgl. S. 67 f. Vgl. auch die Karte auf Seite 92, Ziffer 16 Bildquelle: E.O.T., S.55, vgl. Anmerkung 24 86 wird gerne der griechische Schriftsteller Zappas bemüht. So sei es auch hier: „Als ich durch diese dicht bewachsene Schlucht von angenehmer Kühle und Vogelgesang ging, kam es mir in den Sinn, sie „Karystisches Tempital“45 zu nennen, da sie an Schönheit, fließenden Wassern und grünem Reichtum jenes Thessalische Tempital übertrifft.“46 Der Pfad durch die Dhimosari-Schlucht war früher einer der Hauptwege (eher: Eselspfade), der die entlegenen Dörfer, Siedlungen und Einzelgehöfte der KavoDoro-Region untereinander verband und der die Verbindung zum Hauptort und Hafen der gesamten südeuböischen Region, Kárystos, herstellte. (Kloster „Timotheos kai Mavra“) Die vierte und letzte Empfehlung für einen Ausflug in die Umgebung von Kárystos 45 46 Das thessalische Tempi-Tal (auch Tempe-, Tembe-, Tembi-Tal) liegt nördlich von Larissa an den südlichen Ausläufern des Olymps. Durch dieses Tal fließt, von Thessalien (den Meteora-Klöstern) kommend, der Fluss Pinios, der, kurz bevor er in die Ägäis mündet, eine malerische Engstelle zwischen den Bergmassiven des Olymps und des Ossa durchfließen muss. Heute führen die Eisen- und die Autobahn (Larissa – Thessaloniki) durch das Tempi-Tal. Tassos Zappas: Euböika III, Athen 1984, S. 119 87 gilt den nicht leicht aufzuspürenden Kirchen und Klöstern an den südlichen Hängen des Ochi-Berges.47 Am leichtesten zu finden ist das Kloster, das den Heiligen „Timotheos kai Mavra“ (18) geweiht ist, aber es ist leider auch ein Kloster, zu dem es sehr schwer ist, eingelassen zu werden. Dass das Tor zu diesem Kloster meist verschlossen ist, liegt vielleicht daran, dass niemand mehr dort wohnt und es nur noch an bestimmten orthodoxen Feiertagen geöffnet wird. Das Kloster liegt rechts und am Beginn der Straße, die von Kárystos hinauf nach Milli (8) führt. Von den nahen Montofoli Gärten (9) hat man noch den besten Blick auf die zahlreichen kleinen blauen Kuppeln des Klosters, die zusammen mit der bukolischen Kultur der Gärten des Pashas dieser Idylle am Fuße des Castellos orientalisches Flair geben. Das zweite Kloster, von dem es heißt, es lohne einen Besuch, obwohl es sich nur um die Reste eines ehemaligen Klosters handelt, liegt oberhalb des Dorfes Metochi (19), ungefähr 5 km östlich von Kárystos. Schon der Ortsname „Metochi“ verweist darauf, dass man sich hier auf ehemals klösterlichem Gebiet befindet, denn ein Metochion ist ein Wohnkomplex mit einem Kirchengebäude und wirschaftlichen Bauten, das zu einem meist weiter entfernten Hauptkloster gehört. Ein solches Metochion wurde häufig von einem „Mutterkloster“ zu wirtschaftlichen Zwecken fernab auf dem Lande errichtet. Oft entwickelte sich ein solches Metochion zu einem selbständigen kleinen Kloster mit eigenen Mönchen oder Nonnen. Das ehemalige Kloster „Hagios Georgíos Mauru“, steil oberhalb vom Dorfe und der Hauptstraße, die von Kárystos kommt, hat seinen Beinamen „Mauru“ (mavro = schwarz) von einer schwarzen Georgs-Ikone, die immer noch in der früheren Klosterkirche verehrt wird und die den schwarzen Mutter-Gottes-Ikonen gleicht, wie sie in vielen katholischen und orthodoxen Kirchen anzutreffen sind. Der Ortsname Metochion entstand wahrscheinlich erst nach 1635, als nämlich das damals schon verlassene und verfallende Georgskloster mitsamt seinen Grundstücken von dem 47 Besondere Verdienste um die Entdeckung von Klöstern, deren Beschreibung und ihre historische Einordnung hat sich Johannes Koder erworben. In seinem Buch „Negroponte“ (vgl. Literaturverzeichnis) geht er auch auf die wenigen Klosteranlagen in Südeuböa ein (S.153 – 155). 88 damaligen Bischof Makarios von Kárystos dem Zoodochos-Pighi-Kloster auf Andros als Metochion übergeben wurde. Das Gründungsdatum des ursprünglichen Georg-Klosters ist für das Jahr 1260 durch eine Stiftungsinschrift über dem Seiteneingang an der Südwand des erhaltenen Katholikons belegt. Wenn auch einige Zeilen oder Wörter dieser Inschrift fehlen oder unleserlich geworden sind, so erschließt sich jedoch ihr Inhalt immer noch: „Dieser ungewöhnliche Ort, den ihr alle seht, war ein unbebauter, hässlicher, missgestalteter Wohnplatz wilder Tiere und Vögel; doch mit der Zustimmung der heiligen Dreifaltigkeit und der Unterstützung des Mönches Kyprianos wurde diese Stätte zu einer Kirche heiligen Namens. Die ihr sie hier seht, preist Gott und den Behüter der Stätte, Georg, den göttlichen Märtyrer. - Im Jahre 6768.“ (Blick von Metochi (19) aus hinauf zu den Gipfeln des Mt.Ochi) Überträgt man die Jahreszahl 6768, die nach dem alten jüdischen Kalender berechnet ist, in unsere gregorianische Zeitrechnung, so ergibt sich das Jahr 1260. Freilich bietet dieses Gründungsdatum des Klosters keinen Anhaltspunkt für das Alter des jetzigen Kirchenbaus, da die alte Inschrift offenbar von der älteren 89 Kirche übernommen wurde. Das erhaltene Katholikon ist der Rest einer Doppelkirche, deren nördlicher Teil in den Berghang hineingebaut war. Erhalten ist nur noch die freistehende südliche Kirche mit Dachtransept und einer außen halbrunden Apsis. Da die jetzige Kirche nur die südliche Hälfte der ursprünglichen Doppel-Anlage darstellt, ist sie mit einem südlich abfallenden Pultdach gedeckt. Um die Kirche herum liegen die Reste der ehemaligen Klostergebäude. Bei der zweiten Kirche in der Umgebung von Kárystos, von der es heißt, sie sei sehenswert, ist noch nicht einmal sicher, ob es sich auch bei ihr um eine ehemalige Klosterkirche handelt. Die gut erhaltene Taxiarchen-(Erzengel-Michael-)Kirche in Kalivia (20) (1-2 km westlich des „Castello Rosso“) steht zwar inmitten etlicher Ruinen, aber ob diese Ruinen einmal zu einem Kloster gehört haben, ist doch mehr als zweifelhaft, denn diese Baureste stehen direkt am Rande des Dorfes, und das ist normalerweise kein Ort für ein separat und einsam gelegenes Kloster. So ist die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass diese byzantinische Kirche keine Klosterkirche war und dass die Ruinen lediglich die Reste ehemaliger Dorfhäuser sind. Die Taxiarchis-Kirche ist eine Kreuzkuppelkirche vom Viersäulen-Typus. Ihr Altarraum läuft östlich in drei relativ flache, außen dreiseitige Apsiden-Nischen aus. Der westlich angesetzte Narthex (der Vorraum) - durch drei Türen mit dem Kirchenhauptraum verbunden – ist mit einer Dachkonstruktion, einem Dachtransept, versehen, wie sie sonst auf Euböa nur die eigentlichen Haupträume tragen. Wegen der isidomen Mauerung mit Ziegeleinfassung, die die Architektur der TaxiarchenKirche prägt, darf man annehmen, dass der Bau der Kirche in die zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts zu datieren ist. Deutlich später wurde an die Südseite der Kirche noch eine Nikolaos-Kapelle angebaut. Zählt man die vergebliche Suche nach dem Ein-Nonnen-Kloster in Tsakei48 noch hinzu, so muss man leider feststellen, dass die Zahl der ehemaligen und gegen48 Vgl. S. 53 90 wärtigen Klöster, die man im Süden Euböas aufspüren kann, ungleich kleiner ist als die Vielzahl der Klöster, die in der in der Mitte und im Norden der Insel anzutreffen ist. Dass im Süden die Klöster so rar sind, mag vor allem darin begründet sein, dass dort gerade in den Phasen des Mittelalters, in denen es zu den zahlreichen Neu-Gründungen von griechischen Klöstern kam, die einheimische Bevölkerung, die in den entlegenen Dörfern des Südens ohnehin nicht sehr zahlreich war, durch Kriege, Pirateneinfälle, Seuchen und Missernten so stark dezimiert war, dass es keine familiären Reserven mehr für einen Dienst in der Kirche gab. Eine Rolle mag auch gespielt haben, dass die dezimierten Einheimischen sich einer Mehrheit von Fremden gegenüber sahen, die man, zum Teil zwangsweise (zum Beispiel durch die Venezianer), im bevölkerungsarmen Südeuböa angesiedelt hatte. Hinzu kam noch, dass gerade in der ökonomisch interessanten Umgebung von Kárystos über Jahrhunderte die Zahl der Besatzer (Osmanen/Türken) die Zahl der besetzten Einheimischen deutlich überstieg. Wie gut, dass wir am Anfang unserer Reise und dieser „Reisenotizen“ den Abstecher zu den Klöstern in der Umgebung von Avlonari gemacht haben. X. Der aüßerste Süden von Euböa Dieses Kapitel wird das kürzeste der zahlreichen Kapitel dieser „Reisenotizen“ sein, denn der äußerste Süden der Insel mit seinen abgelegenen kleinen Ortschaften, seiner geringen Bevölkerungsdichte, seinem kleinen und oft nur schwer passierbarem Straßen- und Wegenetz, mit seiner abweisenden Bergwelt, seinen steilen Küsten, tiefen Schluchten und nur wenigen einsamen Badebuchten, dieses archaisch und unberührt wirkende Inselende hat natürlich auch keine Klöster, keine großen Kirchen und keine Attraktionen zu bieten, die Touristenströme anziehen könnten, malerische Fischerorte zum Beispiel oder alte Tempel oder Orakel91 stätten. Bedenkt man, dass von den auf der Karte eingezeichneten Straßen und Wegen höchsten diejenigen einigermaßen komfortabel befahren werden können, die rötlich 92 gefärbt sind, so wird schnell klar, dass das Erkunden der Region bis hin zum Kap d´Oro (Cape Kafireas) (1) nur Off-Road-Spezialisten und geübten Wanderern empfohlen werden kann, Reisenden also, die nach Möglichkeit auch noch ein Faible für Entlegenes, für Ursprüngliches und Einsames haben sollten. (Typische Landschaft im Süden Euböas) Historiker und Archäologen, die sich für die historische Frühzeit interessieren, werden beim Durchforschen des Insel-Endes ebenso auf ihre Kosten kommen wie individuell Reisende, deren höchstes Glück es ist, ganz allein an einem einsamen weißen Strand ins tiefblaue Meer springen zu können (2)49. Archäologisch interessant sind wohl am südlichen Kap die Ausgrabungen, die dort die Spuren des antikes Ortes Gerestos freilegen (3), ferner in Kastri (4) die vermuteten Spuren eines befestigten Hafens, von dem aus vielleicht einst einige griechische Schiffe 49 Ende des Wanderweges durch die Dhimosari-Schlucht, vgl. S. 85-87 93 gen Troja ausgelaufen sind. In Platanistos (5) soll es Spuren einer antiken Siedlung (Bergbau ?) mit Namen „Elliniko“ geben, von der eine große Mauer aus quadratischen Steinblücken erhalten geblieben ist. (Wasser- und pflanzenreiches Bachbett bei Platanistos (5)) Die Hänge der weiter nördlich gelegenen „Archamboli Gorge“ (6) beschreibt Habbo Lolling so, wie man sich wohl auch sonst die „schauerlichen“ Täler und Hänge dieser Region vorstellen muss: „Obgleich man auf den südl. gegenüber liegenden Bergabhängen zahlreiche antike Stützmauern findet, welche beweisen, dass dies Land einmal nicht wie jetzt den Hirten ausschliesslich überlassen war, kann in dieser schauerlichen Einöde doch nie eine irgendwie bedeutende Ortschaft gelegen haben; wahrscheinlich lagen auf den schwer zugänglichen Felsterrassen von Ar-champolis die Vorrathsräume und Wohnungen der Sklaven und Arbeiter, welche bei dem Gewinnen (es sind noch stollenartige Gänge vorhanden) und Ausschmel-zen der metallhaltigen Stoffe verwandt wurden, von denen wir jetzt 94 noch zahlreiche Schlackenhaufen in der Nähe des Meeres vorfinden.“50 Der Natur- und Badefreund wird Gefallen finden an dem wasserreichen Bachbett, das von Panochori (7) nach Platanistos (5) herunterkommt. Riesige Platanen wach-sen hier, und das Bachbett überspannen immer wieder abwechslungsreiche Brük-kenkonstruktionen, oder es wird gesäumt von traditionellen Wassermühlen. Über haupt erstaunt immer wieder, wie viel Wasser durch die Täler und Schluchten der meist kahlen, felsigen Berge fließt und wie reich und grün die Pflanzenwelt ist, die dort unten dann wie in einer Oase gedeiht. Meist enden diese Wasserlaüfe, nachdem sie zuvor kleine Wasserfälle gebildet haben, in malerischen sandigen Buchten am Meer. Dort bereitet das Baden höchstes Vergnügen, wenn nicht gera-de der starke Nordost-Wind hohe Wellen aufgebaut und gefährliche Strömungen erzeugt hat. ( Potami – Bucht (8)) 50 Lolling a.a.O. S.428 95 XI. Die Diät-Empfehlungen des Arztes Diokles von Kárystos Auf einigen Etappen der in diesem Heft beschriebenen Entdeckungsreise in den Süden Euböas haben die Leser und Leserinnen dieser „Geschichten“ hoffentlich nicht nur von den vor ihnen aufgetischten verbalen und optischen Genüssen zehren können, sondern auch davon, dass ihnen bei dieser Lektüre dann und wann ein kluger Mann, ein Philosoph und Arzt, von dem man weiß, dass der vor einigen Jahren selbst in Kárystos gelebt hat, wohlmeinende Ratschläge mit auf den Weg gab und erläutert hat, wie man durch rechtes Verhalten und richtige Ernährung seine Tage, und seien es auch nur die anstrengenden Tage einer Kultur-Rundreise, gesund und munter durchstehen könne. Die Rezepte dieses Mannes sind auf den voraufgegangenen Seiten immer wieder mal als Zitate eingestreut worden, und nun sollen sie hier im letzten Abschnitt ein wenig auf ihre Bestandteile und Zutaten hin untersucht werden, wobei hier einfach unterstellt wird, dass vor allem bei den Leserinnen ein vitales Interesse daran besteht, eine Diät kennenzulernen, deren Empfehlungen nicht nur die sonst übliche Haltbarkeitsdauer von höchstens einem einzigen Jahr überschreiten, sondern sich wohl gar über Jahrhunderte bewährt haben. Dieses Wundermittel soll hier nun nicht in Form einer teuren Tinktur, einer wohlriechenden Salbe oder eines leidlich schmeckenden Drinks verkauft, sondern ganz kosten- und rezeptfrei als hoffentlich anregender Exkurs angeboten werden. Die Diät, die Herr Diokles schon im 4. Jahrhundert vor Christus in Kárystos und später dann auch in Athen anzubieten hatte, war mehr als eine Diät im heutigen Sinne, sie war eine humane Diäthetik im eigentlichen Sinne, also eine umfassende Lehre vom richtigen Lebenswandel überhaupt. Die moderne Konsumgesellschaft hat diese Lehre von der Diäthetik meist nicht nur sprachlich verkürzt, sondern hat sie auch inhaltlich lediglich auf Rezepte für gesunde Ernährung reduziert, hat sie eben, wie man das gemeinhin zu sagen pflegt, auf Diät gesetzt. Würde man 96 der Werbung der heutigen Lebensmittelindustrie folgen, die ihre Produkte ja immer häufiger mit angeblich gesundheitsfördernden Zusatzstoffen anreichert, so dürfte man erwarten, dass deren Verzehr wenigstens einem Schlaganfall vorbeuge und dass er das Risiko für überhöhten Blutdruck, Hautalterung, Osteoporose, Diabetes, Fettleibigkeit oder Alzheimer mindere.51 Eine so umfassende Ernährungsgläubigkeit war den Menschen der Antike fremd. Zur Zeit des Diokles von Karystos glaubte man vielmehr, dass man in Anwendung der hippokratischen Theorie von den Selbstheilkräften der Natur das Ziel verfolgen müsse, alle Kräfte, die im Menschen wirksam sind oder auf ihn einwirken, in eine gesund erhaltende Balance zu bringen. Der Realisierung dieses Anspruches und damit einer umfassenden Gesundheit nähere sich der Mensch nur, wenn es ihm gelinge, stets das rechte Maß einzuhalten und sich dabei zugleich mit den gesellschaftlichen Ansprüchen zu arrangieren. Sechs Faktoren hatte Hippokrat52 ausgemacht, von denen er annahm, dass sie die körperliche Natur des Menschen bestimmten und dass der Mensch auf sie durch maßvolles Agieren Einfluss nehmen könne: Licht und Luft (1), Speise und Trank(2), Bewegung und Ruhe(3), Schlaf und Wachen(4), Absondern und Ausscheiden(5) sowie seelische Affekte(6). Schon diese Aufzählung macht deutlich, dass die neu-modische Auffassung, man könne das Erreichen und Erhalten von Gesundheit allein auf Formen der Ernährung reduzieren, zu einfach gedacht ist. Zugleich wussten die Ärzte und Philosophen der Antike, dass das Leben des Menschen verarme, wenn er sich allein auf die physischen Aspekte seiner Gesundheit fixiere, denn die psychischen, die sozialen und vor allem die ethischen Aspekte seiner Existenz und Daseinsgestaltung würden dabei völlig unberücksichtigt bleiben. Von den ursprünglich wohl sehr zahlreichen und umfänglichen Schriften des Diokles von Kárystos sind nur wenige Fragmente erhalten geblieben, nicht viel mehr 51 52 Diese schöne Aufzählung moderner Heilsversprechen der Lebensmittelkonzerne verfasste Jan Grossarth in seinem kritisch-ironischen Artikel „Die Bakterienkultur“, der in der FAZ am 26.03.2011 auf Seite 13 erschien. Hippokrat(es) ist der wohl berühmteste Arzt Griechenlands. In seinem Wirken und in seinen Schriften wusste er wissenschaftliches Denken mit gediegener medizinischer Kunst und Erfahrung, mit guter Beobachtungsgabe und hohem ärztlichen Ethos zu verbinden. Er wurde um 460 v.Chr. auf der Insel Delos geboren und starb im Jahre 375 in Larissa. 97 als das, was in diesen „Geschichten“ als Zitate eingestreut worden ist. Aber aus Zitaten und Hinweisen anderer medizinischer Autoren, vor allem aus späteren griechischen und römischen Quellen kann man sich doch ein recht umfassendes Bild von seinen Lehren machen und von der großen und nachhaltigen Wirkung, die seine Diäthetik auf die Zeitgenossen und auf die Methodik der medizinischen Wissenschaft der folgenden Jahrhunderte gehabt hat, zum Teil noch bis ins 18. Jahrhundert. (Alte Mühle bei Tsakei (S.53 f.(16)) zur Herstellung des von Diokles empfohlenen Frühstück-Müslis) Die nachhaltige Wirkung der Lehren des Diokles von Kárystos beruhte wohl vor allem darauf, dass er in ihnen nicht nur Rezepte für die alltäglichen Formen der Aufnahme und Entleerung von Speisen und Getränken gab, fürs Schlafen und Wachen, für Ruhe, Bewegung und Sexualverkehr, sondern auch darauf einging, wie klimatische und jahreszeitliche Faktoren, wie optische und akustische Einflüsse sowohl auf den gesunden als auch den kranken Menschen einwirken. Noch innovativer und nachhaltig wirksam war, dass Diokles in seine Gesundheitslehre Aspekte der Wirkung einbezog, die von der Umwelt, der Gesellschaft und sogar der Religion ausgehen. Damit fügte er erstmals einer Lehre von der richtigen 98 Lebensweise auch eine „philosophisch-kulturhistorische Dimension“ hinzu.53 In der Einleitung zu diesen „Geschichten 2011“ sind die erhaltenen Fragmente der Schriften des Diokles von Kárystos noch weiter fragmentiert worden, drum sei hier nun das größte der erhaltenen Fragmente noch einmal zusammenfassend referiert. In diesem größten der überlieferten Fragmente beschreibt Diokles seine Lehre von einer gesunden Diät und einer der Gesundheit förderlichen Lebensgestaltung in Form einer Schilderung, die anschaulich beschreibt, wie ein ganzer Tag exemplarisch ablaufen sollte. Bei seinen Empfehlungen berücksichtigt Diokles zugleich, dass sowohl für die verschiedenen Altersstufen des Menschen als auch für die verschiedenen Jahreszeiten jeweils besondere Verhaltensweisen angezeigt seien. Ausführlich behandelt Diokles zunächst die einzelnen Phasen eines Sommertages, so wie sie ein Erwachsener in aller Regel durchlaufen sollte, und jeder dieser einzelnen Phasen eines Sommertages fügt er dann seine abweichenden Empfehlungen für jüngere und ältere Leute und für die Erfordernisse in der kälteren Jahreszeit hinzu. Die Vorschriften für seine Diät und eine gesunde Lebensführung lässt Diokles mit dem Augenblick des Erwachens beginnen. Da ja das ganze Leben des antiken Menschen sich im Rahmen des natürlichen Tages abspielte, empfiehlt auch Diokles, den Tageslauf mit dem Erwachen kurz vor Sonnenaufgang zu beginnen und ihn abends mit der Hauptmahlzeit zu beschließen. Diese solle im Sommer kurz vor Sonnenuntergang eingenommen werden, im Winter naturgemäß etwas später. Danach sollten Menschen von schwächerer Konstitution sich dann sofort zur Ruhe begeben, Kräftigere erst nach einem kurzen, langsamen Spaziergang. Am Morgen solle man nicht gleich und jäh nach dem Erwachen erheben, sondern warten, bis 53 Klaus Bergdolt: Leib und Seele (vgl. Literaturverzeichnis), S. 41-45 99 die Schwere des Schlafs aus den Gliedern gewichen sei. Sodann gelte es, Kopf und Hals an den Stellen zu reiben, die in der Nacht dem Druck des Kopfkissens ausgesetzt gewesen seien. Nach dieser ersten Hals- und Kopfmassage solle man noch vor der Entleerung des Darms den ganzen Körper mit ein wenig Öl einreiben, wobei man im Sommer dem Öl etwas Wasser beimische und beim Einreiben alle Gelenke beuge. Ein Bad sofort nach dem Aufstehen wird von Diolkles nicht verordnet, man solle aber Gesicht und Augen, nachdem Hände mit kühlem, sauberem Wasser gereinigt worden seien, sorgfältig abwaschen. Dieser ersten morgendlichen Reinigungsprozedur folgen in den Empfehlungen des Arztes aus Kárystos genaue Einzelheiten über die Pflege von Zähnen, Nase, Ohren, Haaren und Kopfhaut. Letztere müsse für die Perspiration, also für die gute Durchlüftung des Kopfes, elastisch und rein gehalten und dabei zugleich abgehärtet werden. Dann begebe sich der, der möglicherweise etwas zu tun habe, an seine Arbeit, nachdem er zuvor einen kleinen Imbiss zu sich genommen habe sollte. Wer aber Muße habe, der solle vor oder nach dem ersten Frühimbiss einen Spaziergang einschieben, dessen Intensität und Dauer sich aber nach der Konstitution und dem Befinden des Einzelnen richten könne. Nach der morgendlichen Bewegung, die aber, wenn sie nach dem Morgenimbiss erfolge, keineswegs besonders lang und schnell sein dürfe, erledige man sitzend seine häuslichen Angelegenheiten oder beschäftige sich sonst irgendwie, bis es Zeit sei für die eigentlichen Leibesübungen. Dazu sollten Jüngere sich ins Gymnasion begeben, Ältere und Schwächere in ein Bad oder an einen anderen sonnigen Platz, und zwar zum erneuten Salben. Im Gymnasium oder an den anderen Plätzen, die man für seine Leibesübungen aufgesucht habe, sollten sich Maß und Schwierigkeit der Übungen nach dem jeweiligen Alter richten. Für Ältere genüge mäßiges Reiben des Körpers und ein wenig Bewegung, dann aber ein Bad. Sich selbst zu reiben, sei besser als die Massage durch andere, weil diese Selbst100 bewegung die Gymnastik ersetzen könne. (Überraschend ruhige Badestelle unmittelbar neben dem Hafenkastell „Bourtzi“ in Kárystos) Erst auf diese intensive Körperpflege des Vormittags folge dann das richtige Frühstück, das aber nicht blähend sein sollte und so leicht, dass es bereits vor der Nachmittagsgymnastik verdaut sei. Unmittelbar nach Tisch folge ein kurzer Nachmittagsschlaf an einem dunklen, kühlen, nicht zugigen Platz, darauf etwas häusliche Beschäftigung und ein Spaziergang, und danach sollten sich nach einer erneuten kurzen Ruhepause die Leibesübungen der zweiten Tageshälfte anschliessen. Mit der abendlichen Hauptmahlzeit solle schließlich der Tag beschlossen werden. Wenn es in dieser Beschreibung eines normalen Tageslauf auch so aussieht, als ob es für die Menschen, die Diokles mit seiner Diäthetik berät, nur Schlaf, Essen und Gymnastik geben dürfe, und der Mensch eigentlich nur dazu da sei, sich aus101 schließlich um seine Gesundheit zu kümmern, so wissen wir aus einigen anderen Fragmenten seiner Lehre und aus medizinischen Schriften seiner Zeitgenossen, dass der empfohlene Tagesablauf so, wie er beschrieben ist, nur einen Idealfall darstellen soll und dass Diokles durchaus die Notwendigkeit sah, dass jeder einzelne Mensch seinen ganz individuellen Kompromiss zwischen der ärztlichen Idealforderung und seinen tatsächlichen sozialen Lebensumständen finden müsse. Gleichwohl wird man sehen müssen, dass sich des Diokles´ Gesundheitsempfehlungen wohl primär an diejenigen Bürger der griechischen Stadtstaaten (poleis) des 4. Jahrhunderts v.Chr. richteten, die wohlhabend waren und denen daher ein Höchstmaß an Muße möglich war, an Muße für die Bildung des Geistes und an Muße für die Pflege des Körpers. Wenn also auch heute noch die politische Struktur jener Stadtstaaten idealisierend mit dem Begriff „Demokratie“ in Verbindung gebracht wird, so darf man jedoch nicht übersehen, dass die griechische Polis auch in ihrer vermeintlich demokratischen Form eine soziale Aristokratie war und dass eben für deren privilegierte Elite wohl auch solche Gesundheitsempfehlungen verfasst worden sind, wie sie gerade als die des Diokles von Kárystos referiert worden sind. In den heutigen Demokratien dagegen würde kaum einer ihrer Bürger, sei er nun Arbeitgeber oder Arbeitnehmer, Rentner oder Pensionär und sei er nicht gerade einer aus der Kaste der sich privilegierenden Oligarchen, kaum einer würde in den Rahmen von Tagesabläufen passen, wie er, wenn auch idealtypisch, weiter oben für das alte – ich betone: natürlich nur für das alte – Griechenland skizziert worden ist. Nachdem hier so viel über Muße, Gesundheit und beschaulicher (männlicher) Bürgerlichkeit geschrieben worden ist, soll abschließend nun noch ein Zitat von einem anderen griechischen Arzt des 4. Jahrhunderts vor Christus angefügt werden, ein Zitat, in dem ein Rezept angesprochen wird, wie der Mensch der größten Gefahr entgehen könne, die ihm nämlich durch einen exzessiven Versuch drohe, Gesund102 heit allein durch Essen und Trinken erreichen zu wollen. Wahre Gesundheit, so möchte man dieses Rezept - auch im Blick auf allzu ausgedehnten Fernsehkonsum - ergänzen, finde der wahre Mensch nur durch innere und äußere Balance, durch die strenge Wahrung eines edlen Ebenmaßes aller seiner Fähigkeiten und Eigenschaften. „Drei Dinge aber beachte, wenn du dich volltrinkst: Erstens: Trinke keinen schlechten schlechten und unverdünnten Wein, und iß kein Naschwerk dazu. Zweitens: Wenn du genug hast, leg dich nicht hin, bevor du nicht mehr oder weniger gründlich erbrochen hast. Drittens: Wenn du reichlich erbrochen hast, wasche dich kurz ab und lege dich zur Ruhe.“54 (Heftig sich erbrechendes Wasser kurz vor der Potami-Bucht ganz im Süden Euböas) 54 Mnesitheos von Athen (um 380 v.Chr.), zitiert nach Bergdolt a.a.O., S. 45 103 104 XII. Literaturverzeichnis Bartlett, W.B.: An Ungodly War. The sack of Constantinople & the Fourth Crusade. Guildford (Sutton Publishing) 2000 Bergdolt, Klaus: Leib und Seele. Eine Kulturgeschichte des gesunden Lebens. 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Mythos und Wirklichkeit. – Sehenswürdigkeiten im Umkreis der Thermopylen 2010 „Orchomenische Geschichten aus Gialtra“ Zur Geschichte des bereits von den Mykenern erstmals trockengelegten Kopais-Sees. Sehenswürdigkeiten an seinen ehemaligen Ufern 2011 „Touristische Geschichten aus Gialtra II“ Reisenotizen aus Südeuböa Der Arzt und Diäthetiker Diokles von Kárystos Alle Jahreshefte wurden auch im Internet veröffentlicht; sie können auf der Website nachgelesen oder auch von dort heruntergeladen und ausgedruckt werden. www.gialtra.de 107 108