Wilder Westen – bei Cowboys am Lagerfeuer
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Wilder Westen – bei Cowboys am Lagerfeuer
Wilder Westen – bei Cowboys am Lagerfeuer Auf der "Mountain Meadow Ranch" können Städter so ursprünglich wie Cowboys leben – inmitten der Filmkulisse von "Brokeback Mountain". Auf Spurensuche im Waterton Glacier Park in den Rocky Mountains. Von Marc Vorsatz Dan Nelson, 64, ist Cowboy. Ein Cowboy von Berufs wegen. Und wenn er so der untergehenden Sonne entgegen reitet, auf seinem braunen Mustang, mit Cowboyhut und in Leder-Chaps, vor der gewaltigen Silhouette der Rocky Mountains, ja, dann erinnert dieses Bild schon sehr an den legendären Marlboro Mann. Nun gut, Dans Profil ist nicht ganz so markant und seine Schultern sind nicht ganz so breit wie die der Werbe-Ikone. Aber wer Dan mit eigenen Augen reiten sieht, der ist angekommen im Wilden Westen. Es gibt ihn wirklich noch: Von Texas im Süden erstreckt er sich bis hoch in die kanadische Prärie. Und in seiner Mitte, in den Rockies zwischen Alberta und Montana, zeigt er sich von seiner wildesten und schönsten Seite. Es war in den 1990ern, als die 450 Rinder der Nelsons die Familie nicht mehr ernährten. Damals boten sie erstmals Kanutouren und Ausritte für gestresste Städter an. Die Voraussetzungen dafür könnten besser kaum sein. So grenzt die Mountain Meadow Ranch, die seit mehr als 100 Jahren den Nelsons gehört, direkt an den Waterton Glacier International Peace Park. Von der Prärie in die Berge Er ist der einzige Park weltweit, der sowohl Unesco-Weltnaturerbe, Biosphärenreservat als auch ein sogenannter grenzübergreifender Friedenspark ist. Geografisch gesehen liegt die Ranch genau dort, wo die brettflache Prärie in das steil aufragende Gebirge übergeht. Es ist ein leicht hügeliger Übergangsbereich und damit ein ideales Terrain für Hobbyreiter. Und für Filmemacher wie OscarPreisträger Ang Lee, der hier sein Gefühlsepos "Brokeback Mountain" drehte. Ein großartiger Film vor großartiger Kulisse – das spricht sich herum. Inzwischen kommen Brokeback-Mountain-Fans aus Calgary, San Francisco und sogar aus Europa. Ausritte mit American Quarter Horses Sie genießen die Ausritte auf den gutmütigen American Quarter Horses über blühende Bergwiesen, durch dichte Fichtenwälder, über bemooste Bergkuppen und durch glasklare Gebirgsbäche. Immer in der Hoffnung, einen mächtigen Grizzly oder einen blitzschnellen Puma zu sehen. Meist kreuzen jedoch nur Rehe, Elche oder Biber ihren Weg. Die schönste Jahreszeit für Ausritte ist der kurze kanadische Herbst, der den staubig-heißen Sommer verabschiedet und schon den eisigen Winter erahnen lässt. Blockhütten mit Kanonenofen Die Rechnung der Nelsons ging auf: Viele der Städter, die erstmals bei ihnen einen Ausflug gebucht hatten, kamen im Jahr darauf wieder. Daraufhin griff Dan zur Axt und zimmerte einen Steg für seine Kanus und drei rustikale Blockhütten nebst Kanonenofen für die Gäste. Später kam noch ein "Hot Tub" dazu, eine Badewanne mitten im Wald, die wie ein überdimensioniertes durchgesägtes Whiskyfass aussieht. Er ist mit einem patentierten Schnorchelofen ausgestattet, den der Cowboy mit Holzkloben füttert und der seine Bezeichnung dem Ofenrohr verdankt, das einem Schnorchel ähnelt. Nach acht Stunden Ausritt über Stock und Stein gönnt man sich gern ein heißes Bad. Meist hopst gleich die ganze Sippschaft hinein, erst mit acht Leuten ist die Wanne richtig voll. Tellergroße Steaks und Weiße Bohnen Derart entspannt sind die tellergroßen Steaks vom Grill danach einfach unwiderstehlich. Saftig, aromatisch, zart, das Kleinste nicht unter einem Pfund. Dazu gibt es traditionell die obligatorischen Weißen Bohnen und grünen Salat, letzteres als Zugeständnis an die figurbewussten Frauen und ihre Diätpläne. Dan Nelson versteht das nicht, er spricht eine andere Sprache. Am Lagerfeuer erzählt er in seinem tiefen Bass von den Abenteuern, die der Wilden Westen noch immer schreibt. Geschichten von einsamen Sonnenaufgängen in der Wildnis und von gefährlichen Tieren, von echten Männerfreundschaften und von schweren Abschieden. Ein fast tonnenschwerer Grizzly Eine wie diese zum Beispiel: Der vergangene Winter brach unerwartet früh über Alberta herein. Fast jede Nacht zahlten die Rancher in Mountain View ihren Tribut und verloren Tiere an die Pumas, Bären und Wölfe. Soweit nichts Unnormales. Doch die zunehmende Nähe der Raubzüge zu den Häusern beunruhigte die Familien. Also legten sich die Männer im Schutz der Dunkelheit auf die Lauer. Was sie dann sahen, jagte selbst ihnen einen eiskalten Schauer über den Rücken: Es war ein staatlicher Grizzly mit mindestens 800 Kilogramm Körpergewicht. Mit nur einer Tatze drehte er eine gerissene Kuh um und fraß sie halb auf. Geschichten am Lagerfeuer Nun ist ein richtiger Cowboy ein richtiger Cowboy, weil er zur Tat schreitet und nicht zum Telefon. Also bauten die besorgten Familienväter Käfige und Fallen, legten Schlingen, buddelten tiefe Gruben. Doch alles vergebens, denn Meister Petz schien nicht nur besonders groß, sondern auch recht schlau zu sein. Der flackernde Schein des Feuers lässt Dans Erzählung fast wie eine choreografierte Inszenierung wirken. In der Ferne zerreißt der durchdringende Ruf einer Eule die Stille der Nacht. Als es plötzlich im Unterholz knackt, starren alle Städter unwillkürlich in die Dunkelheit. Allein der Cowboy fährt unbeeindruckt fort. Die Winchester ist immer griffbereit Es gibt Zeiten der Ruhe, und es gibt Zeiten des Sturms, sagen die alten Blackfoot Indianer. Und als der Bär eine tragende Stute im Pferdestall der Nelsons tötete, war es mit der Ruhe endgültig vorbei. Dan ist kein Mann der großen Worte, er sah die Uni von Calgary nie von innen. Aber sein ganzes Wesen lässt einen unfehlbaren Instinkt für Tiere erahnen. So sattelte er noch vor Tagesanbruch Tucson, sein treuestes Pferd. Sie nahmen Fährte auf, während seine alte Winchester griffbereit und geladen in der ledernen Scheide ruhte. Hin und wieder flackerte ein grünes Polarlicht mystisch am Firmament. Es war ein eisiger Morgen. Gegen Mittag ritten sie in den Waterton Lakes National Park, den kanadischen Teil des Waterton Glacier International Peace Parks. Die verschneiten Berge ragen hier viel höher in den strahlend blauen Himmel und kreieren immer wieder neue Panoramen von vollkommener Anmut. Abdrücke im Schnee Die Blackfoots nennen sie ehrfurchtsvoll die Shining Mountains, die Leuchtenden Berge. Zwischen den schroffen Riesen gähnen tiefe Canyons – bewaldet, von Flüssen durchschnitten oder gänzlich mit Wasser gefüllt. Doch Dan hatte für die Schönheit kein Auge, er sah nur die Abdrücke im Schnee. Ob man denn diesen Bären gleich mit einem Gewehr jagen müsse, wirft eine besorgte Tierfreundin aus München ein. Dan kennt solche Einwände und hat Verständnis für die wohlmeinenden Ansichten der Städter. Zumal die Cowboys der Neuzeit ähnlich denken. Wolfsrudel beim Jagdgesang Bei Raubtieren allerdings, die die Scheu vor den menschlichen Ansiedlungen verloren haben und die Familien gefährden, wird kein Pardon gegeben. Also folgte Dan der Spur des Bären. Am Fuße des Mount Blakiston schlug er sein Nachtlager auf. Mit 2910 Metern ist der Mount Blakiston der höchste Berg im Nationalpark. Und irgendwo da oben stimmte ein Wolfsrudel seinen Jagdgesang an. Noch vor Tagesanbruch brach Dan wieder auf. Er durfte die Fährte nicht verlieren. Am frühen Vormittag sah er unten im Tal den Upper Waterton Lake, der sich über die Landesgrenze hinaus bis nach Montana erstreckt. Idylle im Winter Aus dem luxuriösen "Prince of Wales Hotel" strömten die ersten Touristen unbekümmert in die sonnige Winteridylle. Sie wanderten fröhlich mit Schneeschuhen und Skiern über den weiten See, während Tucson, das Pferd, hoch oben am Berg gegen meterhohe Schneeverwehungen ankämpfen musste. Der hohe Schnee hatte allerdings auch sein Gutes, bot er doch Sichtschutz. Dan war an der Staatsgrenze zu den USA angekommen, die seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 nicht mehr so einfach überschritten werden darf, auch nicht im grenzüberschreitenden Waterton Glacier International Peace Park. Ein Grizzly schert sich nicht um Grenzen Es gibt zwar offizielle Übergänge, die hätte er mit seinem großkalibrigen Repetiergewehr jedoch nicht passieren können. Ein Grizzly hingegen schert sich nicht um Grenzen. Ein echter Cowboy auch nicht. Und so nahm Dan gegen Abend die Going To The Sun Road, die im Winter unbefahrbar und geschlossen ist.Gerade 80 Kilometer ist sie lang, und es gibt wohl keine zweite Straße auf der Welt, die auf so kurzer Distanz so viele Ausblicke von fast berauschender Schönheit freigibt. Was die Rockies an Superlativen zu bieten haben, hier kommt alles geballt zusammen: eiszeitliche Gletscher, Wasserfälle, reißend im Sommer, erstarrt im Winter, glasklare tiefe Gebirgsseen, Schwindel erregende Steilwände und gähnende Schluchten, eine schier unendliche Anzahl von erodierenden Gipfeln, die sich irgendwo in den Wolken verlieren und von schneeweißen Bergziegen bevölkert werden. Weiter durch die Rockies Dichte Urwälder, durch die Wolfsrudel, Bären und Pumas, Vielfraße, Elche und Rehe streifen, dazu eine vielfältige Flora, verteilt auf vier Klimazonen. Doch für all das Schöne hatte Dan jetzt keinen Sinn. An dieser Stelle seiner Erzählung angekommen, legt Dan eine Pause ein. Er besitzt offenbar einen unfehlbaren Instinkt für Dramaturgie. Im Kreis seiner Zuhörer ist kein Laut zu hören, nur das Knistern der Holzscheite stört die Stille. Nach einigen Minuten fährt Dan fort: Nach der kurzen Nacht nahm er wieder die Verfolgung auf, immer höher führte ihn der Weg. An der kontinentalen Wasserscheide Die Krone des Kontinents, wie der Glacier Park auch genannt wird, zeigte sich immer lebensfeindlicher. Er passierte den Triple Divide Peak, eine kontinentale Wasserscheide, von der das Wasser entweder zum Pazifik, zum Atlantik oder zum Nordpolarmeer geleitet wird. Längst hatte er die Baumgrenze unter sich gelassen. Dan spürte instinktiv, dass er dem Grizzly ganz nah war. Der felsige Weg wurde immer enger und enger. Linker Hand gähnte ein Abgrund ins Nichts. Nun wurde es selbst dem Cowboy mulmig. Doch zum Wenden war es viel zu spät. Ein Meter reichte Tucson dafür einfach nicht. Und selbst so ein gutes Pferd wie dieses war nicht bereit, rückwärts zu laufen. Dans Stimme klingt jetzt fast gebrochen. Ganz leise spricht er in die Stille. Und im schwachen Schein der roten Glut rinnt tatsächlich eine einzelne Träne über sein kantiges Kinn. Er ist am Höhepunkt seiner Erzählung angekommen: Dans und Tucsons Weg war von einem Felsvorsprung versperrt. Der Bär wurde nie wieder gesehen Der Grizzly hatte das Hindernis meistern können, Tucson konnte es nicht. Dan wusste das und sein Pferd auch. Eine unendliche Zeit starrten Ross und Reiter auf den kalten Stein. Längst hatte ein eisiger Schneesturm ihre Wimpern vereist. Als sich die Nacht ankündigte, sattelte Dan Tucson ein letztes Mal ab. Die Zuhörer am Lagerfeuer hängen an Dans Lippen. Niemand sagt ein Wort. Als die Glut fast erloschen ist, fragt jemand ganz leise, was denn aus dem Bären geworden sei. Er wurde nie wieder gesehen in Alberta, antwortet Dan. Aber im Frühjahr sei ein riesiger Grizzly drüben in Montana zur Strecke gebracht worden, gerade als er in ein Pferdegehege steigen wollte. Und Tucson? Dan lässt sich mit seiner Antwort Zeit. Er habe ihm einen Gnadenschuss versetzt, sagt er dann leise. Tucson sei in die Schlucht gefallen. Vielleicht konnte so eine Puma-Mama ihre Jungen durch den Winter bringen. Dan weiß, dass Tucsons Seele ihr neues Zuhause in den Leuchtenden Bergen gefunden hat. Der Cowboy löscht die restliche Glut und sagt dann voller Ernst: Wenn seine Zeit einmal gekommen ist, werde er mit Tucson durch die ewigen Jagdgründe reiten.