Fachtagung 2007 - Landesverband donum vitae NRW
Transcription
Fachtagung 2007 - Landesverband donum vitae NRW
Landesverband Frauen beraten/donum vitae NRW e.V. Dokumentation zur Fachtagung 2007 „Sexualität zwischen Traum und Albtraum“ Fachtagung am 17.08.2007 des Landesverbandes Frauen beraten/donum vitae NRW e.V. in der Abtei Königsmünster in Meschede Ansprache im Wortgottesdienst zu Beginn der Fachtagung Pater Marian Reke OSB Inhalt: Ansprache im Wortgottesdienst 1 Pater M. Reke OSB Begrüßung 2 I. Schürholz-Schmidt „Jugendsexualität im Wandel“ 3 Prof. Dr. J. Pastötter „Der ganz normale Schulalltag!“ 8 A. Barsch und O. Schwenner „Lust– oder Angstmacher am elektronischen Lagerfeuer“ R. Wanielik 11 Resolution 13 Landesverband Frauen beraten/ donum vitae NRW e.V. Markmannsgasse 7 50667 Köln Tel. 0221— 0221—3976910 Fax: 0221— 0221—3976912 E-Maill: nrw@donumvitae.org nrw@donumvitae.org www.nrw.donumvitae.org Es gibt in der Bibel Worte, die wie ein Brennpunkt wirken. Sie sammeln das Licht der Frohen Botschaft zu einem glühenden Kern. Wenn wir hörend damit in Berührung kommen, spüren wir, dass uns das Herz brennt. Zu diesen Worten zählt für mich auch die kurze Passage aus dem Römerbrief, die soeben vorgelesen wurde, vor allem der Schluss: „Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. Also ist die Liebe die Erfüllung des Gesetzes.“ Wenn ich das höre oder lese, wird mir warm ums Herz.“ Wie oft aber weht uns in solchen Momenten schon bald ein kalter Hauch an: die ernüchternde Einsicht, dass die Realität doch ganz anders aussieht. Bei der alltäglichen Regelung des konfliktträchtigen Lebens scheinen wir nämlich dem einfältigen Ja der Liebe eher zu misstrauen und setzen dann zur Sicherheit auf das vielfältige Nein des Gesetzes. Dabei könnte alles so einfach sein. Wir brauchten nur die Liebe zu leben, dann wäre alles gut. Das vielfältige und oft verworren scheinende Nein des Gesetzes: „Du sollst nicht..., du sollst nicht..., du sollst nicht...“ sieht Paulus nämlich in dem einfältig klaren Ja der Liebe aufgehoben, also zugleich überwunden und gewahrt. Es ist aber anscheinend gar nicht so einfach, einfach zu sein – einfach zu sein, das heißt sich lieben zu lassen und zu lieben. Ein uralter Zwiespalt, der schon die Stammeltern der Menschheit zum Nein verführte, wie die Bibel erzählt, reißt auch uns hin und her. Gewollt und mehr noch ungewollt geraten wir immer wieder aus der Ja-Spur der Liebe, an die wir uns halten sollen. Paulus hat es erfahren und erkannt: Was ich tun will, nämlich das Gute, tue ich nicht; was ich aber nicht will, das Böse, das tue ich. So schreibt er fast verzweifelt im 7. Kapitel des Römerbriefes. Genau dieser Zwiespalt des Herzens ließ ihn als Pharisäer an das Gesetz glauben, an das Nein gegen das Böse, an das vergebliche Nein, wie er bitter erfahren musste, bis ihm die Einsicht widerfuhr, dass der Kampf des Herzens längst entschieden, wenn auch noch nicht zuende ist; bis es ihm wie ein Licht aufging, dass das Böse allein durch das Gute, das Nein allein durch das Ja überwunden wird. Darum ging es im Damaskuserlebnis des Paulus. Wir aber, denen solche überwältigenden Umkehrerlebnisse zumeist fehlen, wir können es nach und nach lernen in der mühseligen Schule des Vertrauens... Christlicher Glaube ist ein Vertrauen, das sich auf das verborgene ursprüngliche Gutsein der Schöpfung bezieht, das aller Bosheit vorausgeht und sie übersteigt. Der Ursegen des göttlichen Ja steht vor der Ursünde des menschlichen Nein und umfängt sie – wie der barmherzige Vater den verlorenen Sohn in seine Arme schließt. Vertrauen ist aber auch das schlichte Tun dieser Wahrheit, und das führt zum Licht, wie das Johannesevangelium verheißt. So könnte es heller werden – in den Grauzonen des Lebens. Gütig denken, gütig deuten – das wäre ein erster Schritt auf dem Weg, die Wahrheit zu tun, und durchaus keine wirklichkeitsfremde Gesinnung. Gütig denken, gütig deuten ist eine Angleichung an die Gesinnung Gottes, der „in Christus Jesus gütig an uns handelte“, wie es im Epheserbrief heißt. Romano Guardini hat gesagt: „Wie oft wird von der Liebe geredet! Sie fordert dazu heraus, denn sie ist groß und leuchtend. Man sollte es aber seltener tun; es wäre besser für sie - dafür öfter von dem sprechen, was unserer harten Zeit so sehr Not tut, nämlich von der Güte.“ Ein gütiger Mensch ist einer, der es mit dem Leben gut meint. Von Grund auf. Wo immer ihm das Leben begegnet, ist seine erste Regung nicht die, dass er misstraut und kritisiert, sondern achtet, gelten lässt, zum Wachsen hilft. Wie sehr bedarf das Leben solcher Gesinnung – vor allem dieses Menschenleben, das oft so verletzlich ist, so zart wie junges Grün im Frühling. Dass andererseits offensichtliche und heimliche Missstände, die oft kräftig ins Kraut schießen, gesehen und deutlich benannt werden müssen, steht außer Frage und widerspricht der Güte nicht. Gerade Seite 2 Hinter dem Missstand die Not erspüren Im Scheitern kann die bedingungslose und vergebende Liebe Gottes spürbar werden. Dokumentation Fachtagung 2007 in der Präventionsarbeit stoßen Sie, wie ich höre, auf solche Missstande zuhauf. Dennoch heißt ein gütiger Mensch sein vor allem: gütig denken und deuten, also hinter dem Missstand die Not zu erspüren. Vorhin habe ich einen Satz aus dem Epheserbrief erwähnt: „Dadurch, dass Gott in Christus Jesus gütig an uns handelte, wollte er den kommenden Zeiten den überfließenden Reichtum seiner Gnade zeigen.“ Ganz im Sinn dieser Aussage hat die orthodoxe Kirche, die nicht gerade im Verdacht steht, liberalistisch zu sein, das Prinzip der sogenannten oikonomia entwickelt. Darüber schrieb der katholische Pfarrer Stephan Hippler aus Kapstadt in der vorletzten Ausgabe der Wochenzeitung „ Die Zeit“ einen bewegendenden Artikel im Kontext von HIV und Aids, auf den ich mich im folgenden beziehe. Das Wort oikonomia kommt aus dem Griechischen und bedeutet Haushaltung, Vorsorge und beschreibt die Verwirklichung des Mysteriums der göttlichen Liebe, die von Jesus Christus verkündet und vorgelebt wurde und in den Handlungen der Kirche fortwirken will. Dieses Prinzip respektiert die geltenden Regeln der Kirche, aber unter außergewöhnlichen Umständen können sie ausgesetzt werden – nicht, um Präzedenzfälle zu schaffen, sondern um der Menschen und ihrer Nöte willen. In der orthodoxen Kirche wird die oikonomia zum Beispiel beim Scheitern einer Ehe angewandt: Der Bund fürs Leben ist prinzipiell unauflöslich, kann aber auch zerbrechen. In einer solchen Situation wird nach einer Zeit der Buße, das bedeutet nach einer Zeit der oft schmerzlichen Bewältigung und der erneuernden Trauerarbeit, eine weitere Ehe erlaubt. So wird auch im Scheitern die bedingungslose und vergebende Liebe Gottes spürbar. Was aber Gott möglich macht, muss die Kirche in ihrem Tun nachvollziehen – wenn sie vor den Menschen das Zeugnis des liebenden Gottes glaubhaft ablegen will. Wie beim Schwangerschaftskonflikt geht es auch bei HIV und Aids um Prävention und eine ethisch verantwortete Praxis solidarischer Hilfe. Was Stephan Hippler im Blick auf sein unmittelbares Thema schreibt, lässt sich ebenso auf Not und Segen Ihrer Arbeitsfelder bei „donum vitae e.V.“ anwenden. Hier ein Zitat: „Das Zweite Vatikanische Konzil ruft uns Christen auf, die Zeichen der Zeit zu erkennen, und HIV/Aids ist ein solches Zeichen. Die einzige angemessene Antwort der Kirche wäre, die Pandemie nicht mit moralischen Argumenten zu bekämpfen, sondern die infizierten Menschen mit Gottes bedingungsloser Liebe zu umfangen, mit einer Liebe, die nicht nur die Kranken umsorgt, sondern offen ist für alle menschlichen Realitäten. Und die aufhört, betroffene Menschen zu verurteilen. Die Theologen und Bischöfe sollten diesen Weg ehrlich und ernsthaft diskutieren, und zwar schnell, denn unsere Brüder und Schwestern sterben, und wir laufen Gefahr, uns an ihnen zu versündigen. Es darf einfach nicht sein, dass die Kirchendisziplin höher steht als das Recht auf Leben!“ So wie die Güte eine Alltagsgestalt der Liebe ist, kann man Achtsamkeit – das Stichwort dieses Gottesdienstes – eine Alltagsgestalt der oikonomia nennen. Durch Achtsamkeit wächst die Achtung in der Welt, also die Wertschätzung zwischen den Menschen und die Wertschätzung der Dinge. Die einfachste Weise, jemand oder etwas zu achten, ist die achtsame Wahrnehmung dessen, was ist. „Es ist, was es ist, sagt die Liebe.“ Achtsamkeit hat noch einen weiteren herausfordernden und zugleich ermutigenden Aspekt. Im jüdischen Talmud ist er treffend formuliert – als Orientierungshilfe im oft verwirrenden Spiel des Lebens, an die wir uns selber halten, die wir aber auch anderen an die Hand geben können. „Achte auf deine Gedanken, denn sie werden Worte. Achte auf deine Worte, denn sie werden Handlungen. Achte auf deine Handlungen, denn sie werden Gewohnheiten. Achte auf deine Gewohnheiten, denn sie werden dein Charakter. Achte auf deinen Charakter, denn er wird dein Schicksal.“ Könnten diese fünf Sätze vielleicht so etwas wie ein Basistext in der Präventionsarbeit sein? Pater Marian Reke OSB, Abtei Königsmünster Meschede Begrüßung Ingrid SchürholzSchürholz-Schmidt Sie bieten uns Heimat in unserer Kirche. Guten Morgen, meine Damen und Herren. Im Namen des Landesverbandes begrüße ich Sie alle sehr herzlich. Ich freue mich sehr, dass so viele Beraterinnen und Berater, Verwaltungskräfte, Vorstände und Freunde von DV unserer Einladung gefolgt sind. Besonders freue ich mich, dass wir auch in diesem Jahr wieder hier in der Abtei Königs- münster tagen dürfen. Wir bedanken uns bei den Brüdern und Patres, insbesondere bei Abt Dominikus und Prior Marian für die Gastfreundschaft und die liebevolle und großzügige Versorgung. Sie bieten uns nicht nur heute Heimat in unserer Kirche, sondern auch Sicherheit und Reflexion in allen menschlichen und ethischen Fragen, die unsere Aufgaben betreffen. In diesem Sinne war auch die Andacht ein sehr bewusster Einstieg in den heutigen Tag. Dokumentation Fachtagung 2007 Die diesjährige Jahrestagung widmet sich dem Thema Präventionsarbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen, einem brisanten Thema, das unsere Gesellschaft und damit unsere Beratungs- und Sexualpräventionsarbeit zunehmend beeinflusst. Im letzten Präventionsarbeitskreis unserer Beraterinnen wurde deutlich, mit welchem Konfliktpotential unsere Beraterinnen in der Präventionsarbeit an Schulen und Jugendeinrichtungen konfrontiert werden. Auf dem Schulhof werden nicht mehr Fußballbilder, sondern Pornofilme getauscht. Wie tiefgreifend die Veränderungen der Lebenswelt unserer Jugend durch Handy und Internet sind, kann noch niemand absehen. Auch ist die zunehmende Gewaltbereitschaft im Zusammenhang mit Sexualität ein ernstzunehmendes gesamtgesellschaftliches Problem, das unsere Positionierung nach innen und außen einfordert. Es sind dies Probleme, die uns in unserem Engagement für donum vitae als Vorstände, Berater/-innen, Verwaltungskräfte und Förderer betreffen, aber zugleich auch ganz persönlich als Eltern, Großeltern und Verwandte heranwachsender Kinder. Wir stehen in der Verantwortung, kompetente und situationsgerechte Angebote zu vermitteln, die unserem christlichen Leitbild entsprechen. Dieses Leitbild haben wir alle gemeinsam auf der letzten Jahrestagung auf den Weg gebracht und ich freue mich, dass es heute im Anschluss an die Fachtagung von der Mitgliederversammlung verabschiedet werden kann. Ich bedanke mich an dieser Stelle noch einmal für die vielen konstruktiven Beiträge aus den Ortsvereinen, die uns nach der letzt jährigen Tagung erreicht haben. Sie dokumentierten die intensive Auseinandersetzung und hohe Identifikation mit dem Leitbildprozess. Seite 3 Die Anregungen sind in die Endredakion durch unseren Profilausschuss zusammen mit dem Journalisten und Theologen J. Frank, dem Referenten der letzten Jahrestagung, eingeflossen. Herr Frank hat mich ausdrücklich gebeten, an dieser Stelle noch einmal seinen hohen Respekt vor dieser unserer gesamt verbandlichen Leistung zum Ausdruck zu bringen. Ein gutes, tragfähiges Leitbild ist gelungen. Das verdient, meine ich, einen besonderen Beifall. Damit wir auch zum heutigen herausfordernden Thema einen breiten und Leitbild gerechten Konsens finden können, haben wir herausragende Fachleute zu uns eingeladen. Ich begrüße Herrn Professor Dr. Jakob Pastötter, der aus der Sicht des erfahrenen Sexualwissenschaftlers zu uns sprechen wird. Schön dass Sie den weiten Weg aus Bayern nicht gescheut haben. Ich begrüße Herrn Reiner Waniliek, der seine Erfahrungen als Sozialpädagoge und Ausbilder am Institut für Sozialpädagogik in Dortmund einbringen wird. Besonders freue ich mich auch mit Frau Anja Bartsch, Präventionsmitarbeiterin bei donum vitae in Köln und Herrn Oliver Schwenner, Mitarbeiter der BZgA aber zugleich Präventionsmitarbeiter bei DV Köln, Fachleute aus dem eigenen Verband begrüßen zu können. Last but not least begrüße ich Herrn Weitz, der diesen Tag moderieren wird. Er tut dies als Mitglied und Sponsor von DV, aber vor allem aus seiner großen Fachlichkeit als Leiter eines Kommunikationsinstituts. Lieber Herr Weitz. Wir kennen und schätzen ihre Moderation von verschiedenen Bundesverbandstagungen und so übergebe ich Ihnen nun gerne das Wort. Veränderung der Lebenswelt der Jugendlichen durch Handy und Internet Ein tragfähiges Leitbild ist gelungen. Ingrid Schürholz-Schmidt -Vorsitzende- Jugendsexualität im Wandel Beobachtungen, Erklärungen, Lösungsansätze Prof. Dr. Jakob Pastötter Einleitung „Jugendsexualität im Wandel“, das ist das Thema meines Referats. Sie wissen, dass es heute vor allem um einen Einfluss geht, der erst seit sehr kurzer Zeit öffentliches bzw. vor allem veröffentlichtes Interesse hervorgerufen hat: den Einfluss von Pornographie. Noch vor drei Jahren leugnete etwa die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, bzw. die drei (!) Mitarbeiter, die den Themenschwerpunkt Sexualität bearbeiten und leider auch der bayerische Landesverband von Donum Vitae schlicht das Vorhandensein eines Problems. Sie teilten die Auffassung des selbsternannten Sexualrevolutionärs Günter Amendt, dass Porno nur was für alte Männer sei. Teenager tun so was nicht. Dabei war es schon vor 30 Jahren so: Jugend- liche klärten sich nicht mit der „Sex Front“ oder dem „Sex Buch“ von Herrn Amendt, sondern mit Pornofilmen auf – auch, weil die ohne Ideologie [pseudomarxisitsche Sexualheilslehren, die aus der Mottenkiste von Wilhelm Reich und Herbert Marcuse] auskamen. Es ist schon erstaunlich, was manche Erwachsene glauben, dass es Jugendliche interessiert bzw. interessieren muss, nur damit ihre eigene Weltanschauung bestätigt wird. Als 1975 das generelle Pornographieverbot fiel und zeitgleich Betamax und VHS begannen, um die Kaufkraft der Konsumenten zu konkurrieren, war es jedenfalls vorbei mit den neugierigen Blicken in Wäschekataloge. Kein hastiges Blättern nach „Stellen“ in der Bibliothek der Eltern – lesen Sie einmal wieder mit roten Ohren Leviticus Kapitel 18 - und die freudige Erregung über Spiegel und Stern mit Zunehmende Gewalt im Zusammenhang mit Sexualität Jugendliche klären sich mit Pornofilmen auf. Seite 4 Der nahtlose Übergang vom Doktorspiel zum TeenagerKuschelsex ist aufgebrochen. Gang bang und Cum Shot sind die coolen Schockerwörter von heute. wissenschaftlicher Einfluss von Pornographie Erwachsene haben einfach weggeschaut. Dokumentation Fachtagung 2007 ihrem „einmal pro Woche muss mindestens auch eine Nackte drinnen sein“-Konzept. Weder Eltern noch Mediziner noch Sozialarbeiter nahmen diese Entwicklung zur Kenntnis, hielten und halten bis heute lieber am Mythos vom nahtlosen Übergang vom Doktorspiel zum Teenager-Kuschelsex fest. Jugendsexualität schien sich für sie geglückt aus sich selbst heraus zu entwickeln – Der Film, die „ Blaue Lagune“ sprach genau deshalb so viele Erwachsene an. Und bestätigten uns das nicht auch die (allerdings wenig repräsentativen) Umfragen unter Jugendlichen? Aber davon das Problem ist also nicht neu. Teenager wussten sich schon immer zu helfen, wenn pubertäre Wünsche vom Schweigen der Erwachsenen begleitet wurden. Aber zwei Dinge haben sich verändert: zunächst das Schweigen. Das ist erst beim zweiten Hinhören wiederzuerkennen. Heute erscheint das Tabu Sexualität nämlich nicht mehr als still und verklemmt, heute wird geschwätzt. Ausgesagt wird so wenig wie damals, aber die Quantität hat exorbitante Ausmaße erreicht. Und die Kinder und Jugendlichen reagieren darauf, setzen mit ihrem neu erworbenen Porno- und Rap-Wissen noch eins drauf: Gang Bang und Cum Shot sind die coolen Schockerwörter von heute. Und die zweite Variable, die sich geändert hat: Die technische Verfügbarkeit von Pornographie hat ein nie für möglich gehaltenes Ausmaß angenommen. War der Videorekorder schon ein Quantensprung, sind wir heute aufgrund Internet und Handy rund um die Uhr und an jedem möglichen Ort Pornographie ausgesetzt. Und hier im Kloster darf man es ja vielleicht sagen: Es hat schon etwas Apokalyptisches an sich. Sehen wir uns zunächst die wirtschaftliche Seite des Einflusses von Pornographie auf den Wandel der Jugendsexualität an: I. Beobachtungen: 1. Das Porno-Universum expandiert: Statistiken 1-6 2. Stapelweise Jugendstudien zur Sexualität und Aufklärungsbroschüren, trotzdem weiter großes Rätselraten. Die Jugendsexualität hat sich gewandelt. Hat sie sich gewandelt? Diese Frage ließe sich eigentlich nur beantworten, wenn es mindestens zwei vergleichbare Studien gäbe: Damals – heute. Aber die gibt es nicht. Vor dreißig Jahren war Pornographie schlicht noch kein Thema. D.h., unter Jugendlichen war sie sehr wohl ein Thema, aber die Erwachsenen haben damals einfach weggeschaut. Aber gibt es heute nicht Studien, die uns einen Einblick verschaffen, in das, was Jugendliche sehen und hören? Erst im letzten halben Jahr sind doch gleich drei Studien veröffentlicht worden: - Generation P? - Et kvantitativt studie af nordiske unges forhold til pornografi Anette Dina Sørensen og Vigdis Saga Kjørholt - Pornography and sex among adolescents in Iceland, Guethbjörg Hildur Kolbeins - Pornographie und neue Medien. Eine Studie zum Umgang Jugendlicher mit sexuellen Inhalten im Internet, Christine Altstötter-Gleich für Pro Familia Rheinland-Pfalz Bevor sie sich jetzt ans Internet setzen, in der Hoffnung, endlich Antwort auf ihre Fragen zu erhalten, muss ich sie leider schon wieder enttäuschen. Es handelt sich nicht um Studien, die etwas mit der Realität von Kindern und Jugendlichen zu tun haben. Sie beziehen sich auf Tausende ausgewertete Fragebögen und behaupten „verlässliche Aussagen machen zu können“, kommen aber dann zu Ergebnissen, die so unterkomplex wie generalisierend sind. Im Fazit der Pro-Familia-Studie steht, dass die Jugendlichen „doch recht auskunftsfreudig“ gewesen seien und „relativ große Offenheit“ gezeigt hätten. Die Erkenntnisse sind vorsichtig und bescheiden formuliert: , „könnte es sein“, „möglicherweise“, „legt die Vermutung nah“, „ist unter Umständen zu erwarten“ – all dies schwächt den angeblich „ verlässlichen Einblick in den Umgang dieser Gruppe mit der Thematik und dem Medium“ ab. Tatsächlich werden die Defizite dieser Studien auch von den Durchführenden ziemlich deutlich ausgeprochen, allerdings etwas verschämt in den letzten Sätzen: “So bleibt zum Beispiel ungeklärt, welchen Motiven Kinder und Jugendliche folgen, wenn sie sexuelle Inhalte im Internet aufsuchen. Von Interesse wären auch Aspekte wie zum Beispiel die Frage, wie sich der Konsum sexueller Inhalte auf die Entwicklung der eigenen Sexualität und den Umgang mit ihr auswirkt. Fragen wie diese hätten den zeitlichen Rahmen der hier vorgestellten Untersuchung jedoch gesprengt und eine Erweiterung des Fragebogens hätte viele Kinder und Jugendliche überfordert, was zu kaum mehr verlässlichen Informationen geführt hätte.“ Um es anders zu formulieren: Quantitative Studien erklären nicht, was Kinder und Jugendliche bewegt und wie sie selbst, die sich in einem Veränderungsprozess befinden, auf eine sich ständig verändernde Umwelt reagieren. Und noch ein Wort zu den Umfragemethoden: Jugendliche zu befragen, erfordert ein besonderes Maß an Sensibilität. Unabhängig vom Thema steht jeder Forscher/in in der Pflicht, über seine Rolle zu reflektieren, objektiv zu sein, keinerlei Druck oder Einfluss auf die zu Befragenden auszuüben. Leider sprechen die genannten Studien aber ethische und moralische Aspekte überhaupt nicht an. Ich sehe dagegen, dass wir ein Problem mit Pornographie haben, weil ihre mediale Allzeitverfügbarkeit für alle und jeden und deshalb auch für Kinder und Jugendliche auf ein soziales Experiment hinausläuft, dessen Ergebnisse jetzt schon prognostiziert werden können: Die Simplifizierung der Verschränkung von sozialer und sexueller Interaktion zu einer Dokumentation Fachtagung 2007 reinen Kicksexualität, die mehr der Konsumierbarkeit eines Schokoriegels gleicht als der Entdeckungsreise, die sie für uns Menschen sein könnte, stellt eine große Herausforderung dar. Pornographie dreht das Verhältnis von Gelegenheit und Aktion um, die Gelegenheit zum Sex ist immer günstig, gleichsam strukturell in der Erzählung verankert. Es genügt, einfach nichts dagegen zu haben. Dass das nichts mit unserem Alltag zu tun hat, ist offensichtlich, aber es hat noch nicht einmal etwas mit Sexualität zu tun, wie männliche MöchtegernPornodarsteller immer wieder aufs Neue erleben: Selbst wo es uneingeschränkte Wahlfreiheit gibt, verweigert sich dann eben die körperliche Ausführungskraft: Von hundert ohne Frage hoch motivierten männlichen Bewerbern für pornographische Filme kann oft nicht ein einziger vor laufender Kamera Performanz bringen, wie eine US-Kollegin in ihrer Studie schreibt. Warum führt Pornographie in unserer Gesellschaft ein so, wie ich es nenne, „omnipräsentes Schattendasein“? Seite 5 II. Erklärungen dazu: 1. Desolate Wissenschaftslandschaft Wir haben gesehen, dass Pornographie einen bemerkenswerten Zuwachs erfahren hat. Daher sollte man meinen, dass es eine Fülle von wissenschaftlichen Untersuchungen gibt. Die gibt es aber nicht. Sie gibt es nicht, weil es keine Wissenschaft gibt, die sich damit auseinandersetzt. Oder wie man es von Kollegen immer wieder hört: „Wer an der Uni etwas werden will, der tut so etwas nicht.“ Alles was es gibt, sind Einzelstudien von unterschiedlichen Fachdisziplinen. Weshalb haben wir in Deutschland aber keine universitäre oder wenigstens institutionelle Sexualwissenschaft? [Sexualwissenschaft wurde bereits vor der Wende zum 20. Jahrhundert weltweit zuerst in Deutschland als eigenständige Wissenschaftsdisziplin begründet: Namen wie Magnus Hirschfeld, Iwan Bloch, Albert Moll, Max Marcuse und Helene Stöcker stehen für eine Entwicklung, die zu den ersten Weltkongressen und der Gründung eines sexualwissenschaftlichen Institutes in Berlin bereits im Jahr 1919 geführt hatten. 1933 wurde diese Einrichtung jedoch geschlossen, die umfassende Bibliothek zerstört, Wissenschaftler in die Emigration getrieben. schung“ der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums HamburgEppendorf von Hans Bürger-Prinz neu institutionalisiert (seit 2002 „Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie“, weil man sich von der sozialwissenschaftlichen Forschung wieder trennte). 1973 erfolgte die Gründung des „Instituts für Sexualwissenschaft“ des Klinikums der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/M. Schwerpunkt beider Einrichtungen war die medizinischpsychiatrisch orientierte Sexualpathologie. Die Vergangenheitsform wurde gewählt, weil auch Frankfurt seit letztem Jahr abgewickelt wurde. An der Universität Koblenz-Landau gab es seit den 80er Jahren eine sexualpädagogische Forschungsstelle, die der empirischen Jugendforschung verpflichtet war, die allerdings mit Emeritierung des Leiters Norbert Kluge 2002 wieder geschlossen wurde. Die „Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung“ (BZgA) hat 1992 das Referat für Sexualaufklärung, Verhütung und Familienplanung eingerichtet und gibt entsprechende Expertisen an Wissenschaftler verwandter Fachdisziplinen in Auftrag. Diese werden in einer eigenen Schriftenreihe veröffentlicht, zu der auch Aufklärungsbroschüren gehören. Seit dem Wintersemester 2001/02 wird an der Fachhochschule Merseburg ein in Deutschland einmaliges viersemestriges Postgradualstudium zur Sexualpädagogik und Familienplanung angeboten. Aber auch findet keine wissenschaftliche Forschung und Auseinandersetzung mit den sexualwissenschaftlichen Arbeiten im internationalen Rahmen statt. An den Universitäten Berlin und Kiel gibt es kleine Fachbereiche, die sich mit Fragestellungen aus sexualmedizinischer Perspektive beschäftigen. In der Konsequenz erreichen Sexualwissenschaft und Sexualpädagogik in Deutschland nicht international etablierten, empirischanalytischen Standard. Dazu trägt bei, dass auch sexualpädagogische Beratungseinrichtungen - wie „Pro Familia“ oder das 1988 gegründete „Institut für Sexualpädagogik“ (ISP) in Dortmund - die internationale Fachliteratur nur sporadisch zur Kenntnis nehmen. Aber dazu kann der Herr Kollege Reiner Wanielik vielleicht noch etwas mehr sagen. Zu diesen universität-strukturellen Problemen kommt noch ein normatives, wertbezogenes Problem: Im öffentlichen Bewusstsein gibt es Sexualwissenschaft daher erst seit der Veröffentlichung der sog. „Kinsey-Reports“ durch den amerikanischen Biologen Alfred Kinsey in den 40er und 50er Jahren. Grundlage bildeten Tiefeninterviews mit mehr als 10.000 amerikanischen Männern und Frauen, durch die die Kenntnisse über das reale Sexualverhalten des Menschen zum ersten Mal auf eine wissenschaftlich-empirische Basis gestellt werden konnten. In Deutschland wurde die Disziplin dagegen erst 1959 mit dem „Institut für Sexualfor- 2. Kindheit und Jugend interessiert nicht wirklich Das ist meine Erfahrung als Erzieher von 11 bis 17-jährigen Gymnasiasten und Mitglied in verschiedenen Vereinen. Kinder und Jugendliche scheinen in unserer Gesellschaft überspitzt formuliert: für Erwachsene ausschließlich zu interessieren, um sich in Ihnen zu reflektieren oder um mit Ihnen zu konkurrieren. Selbst die erziehungswissenschaftliche Verhaltenforschung interessiert sich – wenn der Kalauer erlaubt ist – nur außerordentlich ver- Pornographie erfährt einen bemerkenswerten Zuwachs. Sexualwissenschaft und Sexualpädagogik erreichen nicht international etablierten Standard in Deutschland. Kindheit und Jugend interessiert nicht wirklich. Seite 6 Der Erwachsene hat die Verpflichtung, Kindern und Jugendlichen das Irreale und Problematische zu erklären. Dokumentation Fachtagung 2007 halten für alles, was nach der Kindergartenzeit passiert. Ich will hier nur für diese Dinge sensibilisieren, denn hier scheint mir eine wichtige Voraussetzung für den Umgang mit Jugendlichen, die Pornographie konsumieren, verborgen zu liegen. Zunächst aber zu den Argumenten, weshalb es alles andere als gleichgültig ist, ob sich Kinder und Jugendliche mit Pornographie konfrontiert sehen. III. Lösungen: 1. Verantwortung akzeptieren, oder: ohne Interesse geht es nicht. Slides (1) Wie „wirkt“ Pornographie, aber: Es gilt im Einzelnen festzustellen, „was“ Kinder und Jugendliche „warum“ sehen. Pornographie hat mit Macht zu tun. Über Menschenbild und sexualitätsbezogene Wertvorstellungen von Mitbürgern aus anderen Kulturkreisen informieren (2) Auch Pornographie ist ein zu interpretierender Text, aber: der Erwachsene hat die Verpflichtung, Kindern und Jugendlichen das Irreale und Problematische zu erklären, anstatt sich darauf zurückzuziehen, wie wir es immer wieder hören: „Das ist doch nur Sex, das ist doch ganz natürlich.“ (3) Sexualität (im Porno) hat viel mit Macht zu tun, und es hilft nichts, das vor Kindern und Jugendlichen zu verschleiern. (4) Pornographie negative Emotionen - auch das muss in der Sexualaufklärung angesprochen werden. (5) Pornographie zeigt Fetischsexualität, aber: Das eigentlich spannende bei einer Beziehung ist die Beziehung. Der Sex ist – und das ist Ihnen ohne Frage bewusst – eigentlich sekundär. Statistik 2 Gesamtumsatz von Pornofilmen in Milliarden US $ Quelle: Adult Entertainment Guide, 2006 Zum Vergleich: In Deutschland wurden 2003 mit Pornofilmen knapp 450 Millionen Euro (615 Millionen $) umgesetzt. Quelle: GÜFA 2. Wissenschaft reflektiert Sexualität Worin könnte nun der Lösungsbeitrag von Wissenschaft und Praktikern liegen? Im einzelnen müssen wir: 1) eine Standortbestimmung heutiger Sexualität durch die Einordnung in ihre soziohistorische Entwicklung vornehmen; 2) neben biologischen Grundlagen die ethischen, psychologischen und soziologischen Grundlagen des menschlichen Sexualverhaltens vermitteln; 3) das bis heute fortwirkende Phänomen der sog. Sexuellen Revolution untersuchen und besonders ihre bald erfolgte Kommerzialisierung kritisch hinterfragen; 4) das von BZgA, der Industrie und auch Beratungsinstitutionen publizierte Aufklärungsmaterial einer kritischen Überprüfung unterziehen und in die weiterführende internationale sexualwissenschaftliche Literatur einführen; 5) den kritischen Umgang mit den in den Massenmedien vermittelten sexualitätsbezogenen Themen unterstützen und entsprechende Analysemethoden vorstellen; 6) sowie über Menschenbild und sexualitätsbezogene Wertvorstellungen von Mitbürgern aus anderen Kulturkreisen informieren. Sie sehen: Es gibt großen Handlungsbedarf. Vielleicht erreichen wir aber mit der Diskussion um Pornographie und des Wandel der Sexualität immerhin, dass beides ernst genommen wird: Die Allgegenwart und Einflussnahme der Medien generell kritischer zu hinterfragen – und Kinder und Jugendliche in ihrem Anspruch wahrzunehmen, dass ihnen von uns die Welt erklärt wird, um sie für begreifbar zu machen. Prof. Dr. Jakob Pastötter, Sexualwissenschaftler Gesamtumsatz in Milliarden $ Dokumentation Fachtagung 2007 Seite 7 Ausleihe nach Geschlecht Women with Womenless than 1% Ausleihe von Pornofilmen nach Geschlecht (USA) Men with Men 7% Women Alone 2% Women with Men 19% Men Alone 71% Primäre Sexuelle W irkungsweisen von Pornographie 1. Identifikation Aktion ist eine W iederspiegelung der Sexualität des Konsum enten. 2. Phantasie Funktion Erzeugt einen ”halluzinatorischen Effekt" oder ”akustischen W all”: Diese bewirken Fiktion von Anwesenheit des Konsum enten in "phantasm atischer" Handlung. 3. Erregungsfunktion Psychologische und neurologische Veränderungen finden statt. Primäre sexuelle Wirkungsweisen von Pornographie Sekundäre Sexuelle W irkungsweisen 1. Entlastungsfunktion Durch das Betrachten erwünschter/unerwünschter Aktionen. 2. “Lernfunktion” W ie machen “es” andere. 3. Unterhaltungsfunktion Schaulust am Bizarren, Hässlichen etc. Akrobatischen, Noch-nie-Gesehenem , Schönen, Persönlichkeitsbezogene Faktoren Persönlichkeitsbezogene Faktoren Was führt beim einzelnen dazu, Pornographie zur sexuellen Stimulierung zu konsumieren? Weil sie so wirkt, wie sie wirkt: auf vielen verschiedenen Ebenenen (siehe vorhergende Slide). Als wichtige Voraussetzung: Eine Einübung in die audiovisuellen Mechanismen von Pornographie (wie sie etwa durch Musikclips erfolgt) muss vorhanden sein. Der Wunsch muss bestehen, die Realität zugunsten einer Phantasiewelt hinter sich zu lassen. Aus der Perspektive des Pä Pädagogen: Die mangelnde Interpretationsfähigkeit bei gleichzeitiger elementarer Stimulierung machen es Kindern und Jugendlichen unmöglich, die Fiktionalität als solcheund das dahinterstehende Wertesystem wahrzunehmen, zu analysieren und einzuordnen. Aus der Perspektive der Pädagogen Seite 8 Wertesysteme der Pornogrphie Dokumentation Fachtagung 2007 D as W ertesystem der P ornographie 1: D a s is t d ie p h a n ta sie rte M a c h t d e r M ä n n e r: M ä n n e r b e w irke n , d a ss F ra u e n vo r G e fü g ig ke it u n d L u st stö h n e n . D as W ertesy stem dder er P ornog raph ie 2: ertesystem ornographie D a s ist d ie p h a n ta sie rte M a ch t d e r F ra u e n : M ä n n er un te rlie g en de r un w id e rsteh lich e n A n zie hu n g sk ra ft d er F rau , o b s ie w o lle n o de r nic ht. Das Wertesystem der Pornographie 3: Pornographie steckt voller negativer Emotionen: Feindseligkeiten, Demütigungen, Rachegelüsten; sie inszeniert Unterwerfung und Beherrschung sowie Kampf um die Kontrolle. Aber: Gegen wen sich die Gewalt auch richtet, sie wird immer durch die Lust des Opfers geleugnet. Das Wertesystem der Pornographie 4: Enthumanisierende Reduktion: Körperöffnungen sind das Substitut für Frauen, Penisse das Substitut für Männer. Damit wird Sexualität zur reinen Fetischsexualität. Denn: Der Wunsch von Jugendlichen, die gerade entdecken, wie kompliziert die Welt und die zwischenmenschlichen Beziehungen sind, ist: Sexualität “ganz einfach” haben zu können, ohne das anstrengende Drumherum von Beziehung. Dokumentation Fachtagung 2007 Seite 9 Der ganz normale Schulalltag!? Anja Barsch und Oliver Schwenner Einleitung zum Thema und Film (Anja Barsch) Zu Beginn möchte ich Ihnen gerne meinen Eindruck der Entwicklung in der sexualpädagogischen und präventiven Arbeit in Köln näher erläutern: Wir arbeiten seit vielen Jahren mit allen Schulformen, von der Berufsschule, über Gymnasium und Realschule bis hin zu Gesamtschule, Hauptschule und auch Förderschule. Unser Schwerpunkt sind die Jahrgangsstufen 7 bis 9, und unsere Schüler / die Jugendlichen sind zwischen 12 und 15/16 Jahren alt. Wir arbeiten sowohl gemischt- als auch getrenntgeschlechtlich, in der Regel im Rahmen eines Projekttages; entweder in der Schule vor Ort oder aber extern. In Köln-Vingst z.B., einem Stadtteil mit schwacher sozialer Struktur und hohem (Ausländer-) Anteil an Mitbürgern mit Migrationhintergrund, sind wir in enger Kooperation mit der ortsansässigen Gemeinde und können dort die Räumlichkeiten für die umliegenden Schulen nutzen. Dadurch können wir mit den Schülern in einem persönlicheren Rahmen, außerhalb des schulischen Umfeldes, in einer vertrauensvollen (und intimen) Atmosphäre arbeiten. Dies unterstützt den Bildungsprozess für das notwendige Vertrauen und Empathie, wodurch den Schülern der Einstieg in die sehr persönliche Thematik „Liebe, Freundschaft und Sexualität“ erleichtert wird/werden soll. Unser Eindruck/unsere Erfahrung der letzten Jahre ist, dass die Schüler zwar in der Schule im Biologieunterricht über die Anatomie und Physiologie (biologischen Abläufe) der menschlichen Sexualität und Fruchtbarkeit, sowie über Verhütung unterrichtet werden, aber trotzdem die Wissenslücken und Unsicherheiten bei den Jugendlichen meistens erschreckend groß sind. Die Schüler beziehen das vermittelte Wissen nicht auf sich persönlich und ihren eigenen Körper. Für sie bleibt es oft ein abstrakter Ablauf/Prozess an der Schultafel, der allenfalls für den Bio-Test gelernt, aber danach genauso schnell wieder vergessen wird. Zwar fühlen sich die meisten Jugendlichen aufgeklärt (77% der Mädchen / 72% der Jungen, BzgA-Studie 2006), bei näherem Nachfragen zeigt sich aber die große Unsicherheit und das „Halbwissen“, welches unter Gleichaltrigen - in der Peergroup – oder im Internet oder Jugendzeitschriften versucht wird, zu kompensieren. Jetzt kommt seit einigen Jahren eine (gleichzeitig) zunehmende emotionale Verwahrlosung und Gewaltbereitschaft bei den Jugendlichen hinzu. Möglicherweise fehlt den Jugendlichen, sowohl durch fehlende positive Vorbilder, als auch auf Grund mangelnder Ansprache und Begleitung im Elternhaus und näheren Umfeld, die Orientierung. Sie haben enorme Schwierigkeiten in dieser Umbruchphase, die die Pubertät für sie bedeutet, ihre Gefühle und Bedürfnisse zu benennen und zu reflektieren. Wir erleben zunehmend Konflikte und Gewalt in Form von verbalen und körperlichen Übergriffen. Hinzu kommt die immer größere Flut von Sexualität jeglicher Form in Presse und Medien: Sei es in der Werbung, in den Jugendzeitschriften oder im Internet und auf Foto-Handys. (Übersättigung durch sexualisierten Alltag!) Die Grenzen verschwimmen und Scham und Respekt treten zunehmend in den Hintergrund. Durch Pornos und Songtexte von populären Rappern, wie Sido und Bushido, wird ein menschenverachtendes und frauenfeindliches Bild vermittelt, was das reale Leben und Erleben von Liebe, Partnerschaft und einer respektvollen und verantwortungsvollen Sexualität total verzerrt und ausblendet. Um Ihnen einen kurzen Einblick in die Welt der Jugendlichen, mit denen wir (in Köln) sexualpädagogisch arbeiten, geben zu können, möchten wir Ihnen Ausschnitte aus einem Film zeigen, der am 2. Mai 2007 um 22:00 Uhr im WDR bei Frau TV lief. Wir haben im Vorfeld die Erlaubnis der Redaktion dieser Sendung beim WDR eingeholt, um Ihnen im Rahmen dieser Veranstaltung / Fachtagung diesen Film zeigen zu dürfen. Wir laden Sie nun ein, sich einzulassen auf eine brisante Thematik, mit der wir in unserem Arbeitsalltag zunehmend konfrontiert sind. (Hinweis: Den Film bitte durchaus kritisch ansehen und die Färbung wahrnehmen und berücksichtigen) Film Auszug aus der Reportage „sexuelle Verrohung“ innerhalb der Sendung FrauTV, gesendet am 02. Mai 2007 im WDR (Video - Podcast unter: http://www.wdr.de/tv/frautv/ archiv2007/archiv2007.phtml) Film +Jungenthematik (Oliver Schwenner) Hintergrund zum Film: Der Film vermischt auf unkritische Weise die Aspekte soziale Brennpunkte, Jugendclique, Mediennutzung, Sexualität, Pornografie, Gewalt, jugendliche Sexualstraftäter zu einer gefährlichen Gemengelage an deren Ende die Gleichung „Pornografie = Sexualstraftäter“ herauskommt. Sicherlich hat jeder der einzelnen Aspekte seine Berechtigung auf einen kritischen Dialog. Dieser findet aber in der Reportage nicht statt. Wir haben einen Auszug aus dem sozialen Brennpunkt gewählt, weil dieser u.a. die Zielgruppe von Jugendlichen beschreibt und ihren Sprach- und Verhaltenskodex wiedergibt, mit dem wir in der praktischen Arbeit umgehen. Die gezeigte Handypornografie betrifft im Übrigen das gesamte Schulsystem und ist kein Alleinstellungsmerkmal für soziale Brennpunkte. Flut von Sexualität in Presse und Medien Scham und Respekt treten in den Hintergrund. Schüler beziehen das vermittelte Wissen nicht auf sich persönlich und ihren eigenen Körper. Zunehmende emotionale Verwahrlosung Fehlende positive Vorbilder und mangelnde Aussprache aus dem Elternhaus Handypornographie betrifft das gesamte Schulsystem und ist kein Alleinstellungsmerkmal für soziale Brennpunkte. Seite 10 Dokumentation Fachtagung 2007 Was sehen wir in diesem Film? Weibliches Geschlecht; Degradierung zu Lustobjekt Jungengruppen übertrumpfen sich mit „machohaftem“ Verhalten = gleich Macht in der Gruppe. Bei pornographischen Handyfilmen kann der Einzelne sich nur schwer entziehen. Gruppendruck und Neugier Starke Verunsicherung Schwierigkeiten mit der eigenen Körperwahrnehmung Sexualpädagogische Arbeit mit männlichen Mitarbeitern ist äußerst sinnvoll. Jedenfalls kein differenziertes Bild der Jungenrolle. Dargestellt wird eine Jungenclique ohne Grenzen!? Mit mangelndem Schamgefühl, einer deutlichen Abwertung des weiblichen Geschlechts verbunden mit der Degradierung zum sexuellen Lustobjekt. Respektlosigkeit vor dem Menschen in seiner Gesamtheit ist sichtbar. Ein sich produzieren und explorieren vor den anderen Cliquenmitgliedern. Was zeigt die Praxisarbeit? Viele Jungengruppen zeichnen sich dadurch aus, dass sich ihre Mitglieder durch „ machohaftes“ Verhalten übertrumpfen wollen, was zu einer Potenzierung der Grundstimmung führen kann, nicht muss. Gerade das Thema Sexualaufklärung, Liebe und Partnerschaft ist hierfür wie geschaffen, denn wer hier „kompetent und potent“ erscheint, verfügt auch häufig über die größte Position/ Macht in der Gruppe. Sexualität und sexuelles Handeln suggeriert „Kompetenz“, um einen möglichen Vorsprung vor den Mädchen zu sichern?! Sexuell übergriffiges Verhalten wird als Macht und „Potenz“ interpretiert. Sowohl die Jugendlichen im Film, wie auch in der Praxis zeigen ein gegenseitiges verbales und körperliches Anmachen, um dem Druck standzuhalten und in der Gruppe das „ Gesicht zu wahren“. Hinzu kommt die psychische Komponente. Bei der Vorführung von Handyfilmen mit gewalttätigem und/oder pornografischem Material kann sich der Einzelne nur schwer entziehen. Ein Selbstschutz funktioniert nicht. Tut er es doch sind Ausgrenzungen oder Diffamierungen aus der Clique, Klasse oder Gruppe in unterschiedlichster Form denkbar. Neben dem Gruppendruck ist auch die Neugier ein wesentlicher Faktor Auf der anderen Seite erleben wir stark verunsicherte Jugendliche, die große Schwierigkeiten mit ihrer eigenen Körperwahrnehmung, des Fühlen und Spürens haben und mit dem Wort Sinnlichkeit nichts assoziieren können. Es gibt kleine Aufwärmübungen, welche dies deutlich machen. Hier hat sich allerdings zu vergangenen Jahrzehnten nicht viel geändert. Denn die Kontaktaufnahme zwischen Jungen funktioniert seit Generationen über körperliches Gerangel und Geschubse, weil dies so gelernt wurde. Das besondere Merkmal sozialer Brennpunkte ist die Tatsache, dass diese Jugendlichen mit ihren Erlebnissen, Erfahrungen und besonders ihren vielen Fragen stark in die Öffentlichkeit drängen. Sie suchen nach Antworten, nach Rückmeldungen auf vermeintliche Provokationen, um sich zu reiben. Andere Werte oder Positionen, die sie bislang nicht erfahren haben und mit denen sie sich auseinandersetzen können. Wo sind die Vorbilder, die Identifikationsfiguren oder die möglicherweise fehlende Vaterrolle? Offensichtlich fehlt es einigen Jungen an der Wahrnehmung eigener und fremder Grenzen. Wenn ich keine Grenze gesetzt bekomme, kann ich auch mein eigenes Verhalten nicht als grenzüberschreitend wahrnehmen (auch eine der zutreffenden Aussagen in der Reportage). Auf der anderen Seite kann auch die ganz bewusste Grenzverletzung einen Aufforderungs-Charakter enthalten, wie ganz aktuell der öffentliche Pornografiekonsum: „Ist das die Sexualität, wie sie in eurer Erwachsenenwelt gelebt wird?“ „Muss ich das draufhaben?“ Wo die reale Vertrauensperson fehlt, welche im Idealfall der Vater ausfüllt, treten im Jugendalter neue Idole/Projektionsflächen an dessen Stelle. Inszeniert und gesteuert durch die Medialisierung, idealtypisch und perfekt modelliert, aber nicht real greifbar. Besitzen Jugendliche eine Vertrauensperson, so ist zumindest eine Auseinandersetzung über Einstellungen und Ansichten möglich. Das eigene Werte- und Normsystem kann reifen, was für eine gesunde und selbst bestimmte Sexualität sehr wichtig ist. In diesem Zusammenhang möchte ich auf Untersuchungsergebnisse der aktuellen Studie zur Jugendsexualität 2006 der BZgA hinweisen. Lediglich ein Drittel (34 %) der Jungen geben den Vater als Vertrauensperson für sexuelle Fragen an, aber 42 % die Mutter. Und in Abhängigkeit des Bildungshintergrundes der Mutter geben ebenfalls 1 Drittel der Jungen an keine Vertrauensperson für sexuelle Fragen zu haben. Berücksichtigt man, dass durch vorgelebtes Verhalten im Elternhaus eine unbewusste Prägung erfolgt und dass in der Mehrzahl Frauen an der Sozialisation im Elternhaus und Bildungssystem wirken, halte ich eine sexualpädagogische und präventive Arbeit für Jungen durch männliche Mitarbeiter für äußerst sinnvoll. Abschluss (Anja Barsch) Durch Pornokonsum: • Hemmschwelle bei Jugendlichen herabgesetzt • Abnehmendes Schamgefühl (sich selbst und anderen gegenüber!) • Respektlosigkeit gegenüber dem Mitmenschen (in seiner Ganzheit) • Frauen werden zum „Lustobjekt“ degradiert und darauf reduziert, dem Willen des Mannes gefügig und hörig zu sein Zum Film noch ergänzend von mir: • Frauen kommen in dem Film kaum zu Wort • Aber: auch Mädchen „legen nach“, vor allem an Haupt- und Förderschulen! Dokumentation Fachtagung 2007 Unsere Verpflichtung und Verantwortung als christlicher Anbieter ist es, die Jugendlichen ganzheitlich in ihrer Entwicklung und Entfaltung positiv zu fördern und zu begleiten – als Vorbild und Ansprechpartner! Seite 11 ...und zwar „angst- und sanktionsfrei!! (siehe internes Präventionskonzept !) Anja Barsch, Oliver Schwenner, PräventionsmitarbeiterIn OV Köln Als christlicher Anbieter haben wir Vorbild und Asprechpartner zu sein! ...Unter Berücksichtigung aller vier Aspekte der Sexualität • Identitätsaspekt • Beziehungsaspekt • Lustaspekt • Zeugungs- und Fortpflanzungsaspekt (Fruchtbarkeitsaspekt) Lust– oder Angstmacher am elektronischen Lagerfeuer? Was treiben Jugendliche mit den Medien und die Medien mit den Jugendlichen? Reiner Wanielik Mediennutzung Jugendlicher Von den Jugendlichen in Deutschland zwischen 12 und 19 haben so gut wie alle, nämlich 96 Prozent, mindestens einen Computer zu Hause. 85 Prozent haben Internet-Zugang, ein Drittel surft vom eigenen Zimmer aus. Das ergab eine Studie der Stuttgarter Landesanstalt für Kommunikation. Eine Untersuchung des Hamburger Instituts für Jugendforschung hat gezeigt, dass 71 Prozent der Jugendlichen zwischen 12 und 24 Jahren den Computer mehr als einmal pro Woche nutzen. Mehr als die Hälfte dieser InternetNutzer ist über 10 Stunden pro Woche online, ein Drittel mehr als 15 Stunden. Der Stuttgarter Studie zufolge rangiert für Mädchen die Bedeutung des Computers derzeit noch hinter Fernsehen, Radio und Büchern. Für Jungen ist er dagegen längst der wichtigste Zeitvertreib. »Vor dem Computer hat man nicht so ein schlechtes Gewissen wie beim Fernsehen«, .»Am Computer hat man immer das Gefühl, man macht was. Manchmal ist es abends echt schwer, ihn auszumachen.« So Originaltöne von Jungen aus der Studie. Und wenn sie denn lernen mit Hilfe des www oder eine Recherche zum Thema 50 Jahre Europa vornehmen, dann wäre es für viele Erwachsene ja auch gut. Aber weil es ein weltweites Netz ist, sind dort viele interessante Dinge zu sehen und zu hören, wenn ich denn auf die richtige URL Adresse gehe. Erotik und Sex mit einem Mausklick, z.B. durch www.kaktuz.com oder anderen gerade unter Jungs gut bekannten Adressen. Erwachsene, die als Kinder und Jugendliche Computer und Internet nicht kannten, haben oft Mühe sich mit der im Internet abgebildeten Sexualität und der sexualisierten Kommunikation in Chaträumen anzufreunden. Jugendliche gehen meist lockerer damit um. Durch breitere Informationszugänge erhalten sie einen größeren Wissenshorizont, der ihnen bei Entscheidungen über ihr Leben und Lieben behilflich sein kann. Doch Wissen ist nicht unbedingt das, was bei erotischer Kommunikation hilft. Das haben viele Erwachsene bei ihren ersten erotischen Gehversuchen in Partnerschaften vielleicht am eigenen Leibe erfahren. Ich jedenfalls habe mich als 14 Jähriger aus allen vorhandenen Quellen versucht kundig zu machen, um im unsicheren Terrain der Sexualität und Erotik etwas Sicherheit zu gewinnen. Mit zugegebenermaßen bescheidenem Erfolg bei der Umsetzung. Das war 1971 und das Informationsangebot war bescheiden und lückenhaft. Alexandra Klein ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der pädagogischen Fakultät in Bielefeld und Autorin verschiedener Publikationen zum Thema Internet und Sexualität. Sie sieht im Internet folgende Bedeutung für Jugendliche: «Die Hinwendung zu medialen Angeboten kann als Tribut an die Defizite bei der Bearbeitung sexualitätsbezogener Themen interpretiert werden, da sie sich auf eine Art und Weise mit den Themen auseinander setzen, die von Jugendlichen akzeptiert wird.“ Dank dieser Akzeptanz wird das Medium als gute Informationsquelle betrachtet. Durch das Aufwachsen mit dem Internet lernen die Jugendlichen darüber hinaus, zwischen Realem und Fiktivem besser zu unterscheiden als Erwachsene, die in ihrer Jugend diese mehrdimensionalen Medien nicht kannten. Das Jugendalter ist eine Phase der Suche nach Identität und Persönlichkeitsentfaltung. In dieser Phase des Übergangs vom Jugend- zum Erwachsenenalter hat das Internet für manche Jugendliche offensichtlich eine wichtige Funktion bei der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben. Wissen ist nicht unbedingt das, was bei erotischer Kommunikation hilft. Die Hinwendung zu medialen Angeboten kann als Tribut an die Defizite bei der Bearbeitung sexualitätsbezogener Themen interpretiert werden. Für manche hat das Internet eine wichtige Funktion bei der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben. Seite 12 Neue Rollen werden gefahrlos erprobt — hilfreich für Persönlichkeitsentwicklung Pädagogische Arbeit zum Thema Pornographie ist also ein wahrhaftiger Eiertanz, bei dem sich PädagogInnen fachliche Unterstützung holen sollten. Begrenzte Kontrollmöglichkeiten Sie müssen also lernen, mit sexuellen Inhalten in Medien umzugehen Eine aktive Auseinandersetzung mit diesen Normen, Werten und Begriffen muss von der Seite der Erwachsenen und der Jugendlichen geleistet werden. Die Erziehungshaltung muss eine fragende sein Dokumentation Fachtagung 2007 Die differenzierten Kommunikationsmöglichkeiten des Internet, der Chats, und auch von einigen Computerspielen, werden von Jugendlichen genutzt, um neue Rollen gefahrlos zu erproben und bisher weniger bekannte Aspekte der eigenen Identität zu entdecken. Dies geschieht nicht unbedingt bewusst, aber trotzdem sind elektronische Medien und Plattformen für Jugendliche ein Hilfsmittel, dass hilfreich für ihre Persönlichkeits- und Identitätsentwicklung sein kann. Die Studie „Pornographie und neue Medien“ (Pro Familia LV Rheinland-Pfalz, 2006), erbrachte durch eine Befragung eine beeindruckende Menge an Erfahrungen von Kindern und Jugendlichen mit sexuellen Inhalten im Internet. Die Autoren konstatieren, „...dass sexuelle und pornographische Inhalte im Internet in großem Umfang von Kindern und Jugendlichen konsumiert werden. Sie treffen auf diese Inhalte selten per Zufall sondern sie suchen sie meist aktiv auf und nutzen dabei neben Suchmaschinen vor allem Tipps aus ihrem Freundeskreis. Das bedeutet, dass das Wissen um diese Inhalte längst Bestandteil der Erfahrung von Kindern und Jugendlichen ist.“ Sexuelle Sozialisation Die überwiegend positive Haltung von Jugendlichen den neuen Medien gegenüber setzt sie in besonderem Maße den verschiedenen Einflüssen von sexualisierten Bildern, Chats und Videos aus. Eine differenzierte Wahrnehmung von Bildern, die pornografischen, erotischen oder auch künstlerischen Charakter haben, kann von Jugendlichen kaum und von Kindern meist gar nicht geleistet werden. Die Einschätzung darüber, was was ist und wie das Gesehene, Gelesene und Gehörte zu bewerten sei, ergibt sich erst durch die sexuelle Sozialisation der Jugendlichen. Sie müssen also lernen, mit sexuellen Inhalten in Medien umzugehen. Sie mit Verboten und Sanktionen davon abzuhalten, hieße Entwicklungsaufgaben nicht ernst nehmen und sich im übrigen auch aus dem Kontakt mit den Jugendlichen zu verabschieden. Eine aktive Auseinandersetzung mit diesen Normen, Werten und Begriffen muss von der Seite der Erwachsenen und der Jugendlichen geleistet werden. Viele Jugendliche besitzen diese Fähigkeit noch nicht ausreichend und benötigen Unterstützung. Die unterschiedlichen Sozialisationen sowie unterschiedliche kognitive Fähigkeiten führen bei Jugendlichen zu einem sehr heterogenen Umgang mit Informationen über Sexualität, wenn das Internet benutzt wird. Ein Junge, der kaum deutsch spricht, wenig Reflexionsmöglichkeiten über irritierende Medienerfahrungen hat und in dessen Elternhaus Sexualität eher tabuisiert ist, wird anders mit den Bildern umgehen als ein Mädchen, welches eine differenzierte Gesprächskultur in Familie und Freundeskreis kennt und in dessen Elternhaus die Themen Erotik und Sexualität nicht ausgegrenzt sind. (Sexual-)Pädagogische Begleitung Der aktiven Auseinandersetzung mit Jugendlichen mediale Inhalte steht leider oft eine gewisse Ahnungslosigkeit und Unkenntnis z.B. pornografischer Medien auf Seiten von Erwachsenen und nicht selten bei Pädagoginnen entgegen. Mit dem Pauschalurteil frauenfeindlich oder gewaltverherrlichend wird eine aktive Auseinandersetzung oft verhindert. Rechtliche Regelungen stehen Bemühungen von Erwachsenen das Thema mit Jugendlichen anzugehen ebenfalls im Weg. Schließlich macht sich strafbar, wer Jugendlichen Zugang zu pornographischen Medien verschafft. Die absurde Situation entsteht, dass die Zielgruppe von Präventionsarbeit, die Jugendlichen also, oft mehr von Inhalten, Strukturen und Vertriebswegen pornographischer Medien weiß, als die um Diskurs bemühten Erwachsenen. Pädagogische Arbeit zum Thema Pornographie ist also ein wahrhaftiger Eiertanz, bei dem sich PädagogInnen fachliche Unterstützung holen sollten. Begrenzte Kontrollmöglichkeiten begrenzen auch die Möglichkeiten, Jugendlichen bestimmte Medieninhalte und Bewertungen vorzuschreiben. Die den Heranwachsenden zugestandene Selbständigkeit hat in den letzten Jahrzehnten deutlich zugenommen. Diese Veränderung wird - negativ ausgedrückt - auf zunehmendes Desinteresse der Eltern an Erziehungsfragen oder - positiv verstanden - auf eine verbreitete emanzipatorische Erziehungshaltung, deren Ziel die Selbstständigkeit der Heranwachsenden ist, zurückgeführt. Unabhängig von konkurrierenden Erklärungsmodellen bekommt die Autonomie von Jugendlichen speziell durch das Medium Internet eine neue Dimension. Die Folge für die sexualpädagogische Begleitung von Jugendlichen ist, dass die Erziehungshaltung eine fragende sein muss. ‘Anfragen’ meint, die vorhandenen Medienkompetenzen und (sexuellen) Medienerfahrungen von Jugendlichen grundsätzlich anzuerkennen und durch Nachfragen, die Selbst-Bestimmung von Jugendlichen zu fördern. Wenn sich aus den Anfragen Diskussions- bzw. Informationsbedarf ergibt, kann dieser fruchtbare pädagogische Moment für eine vertiefende Bearbeitung des Themas genutzt werden. Ansonsten bleibt den Jugendlichen das Signal der Erwachsenen: Ich interessiere mich für deine Erfahrungen und ich bin ansprechbar, auch zum Thema Sexualität. Fragen für eine medienpädagogische Arbeit am Thema Pornographie könnten sein: • Welche pornographischen Bilder bzw. Filme hast du schon im Internet gefunden? • Was sind deiner Meinung nach pornographische Bilder? • Werden deiner Meinung nach Männer und Frauen in pornographischen Medien unterschiedlich dargestellt? Dokumentation Fachtagung 2007 • Wie bewertest du Darstellungen schwuler und lesbischer Sexualität? • Welches waren die 'heftigsten' sexuellen Bilder, die du bisher im Internet gefunden hast? Seite 13 • Was sollte gegen die Verbreitung von Pornographie im Internet deiner Meinung nach getan werden? Reiner Wanielik, Dipl. Sozialpädagoge, Autor • Woran lässt sich feststellen, ob die Darstellerinnen und Darsteller sich freiwillig ablichten lassen? • Wie schätzt du die Möglichkeiten ein, pornographische Bilder von Kindern, anderen Gewaltdarstellungen oder Sexualität mit Tieren im Internet zu finden? Resolution Pornographie und Gewalt in der Jugendsexualität Positionierung des Landesverbandes Frauen beraten/donum vitae NRW e.V. 1. Wir, Frauen beraten/donum vitae NRW e.V. sehen es aufgrund unseres christlichen Selbstverständnisses als Aufgabe an, das Thema Pornographie und Gewalt in der sexualpädagogischen Arbeit anzusprechen und uns einer ethischen Wertevermittlung zu stellen. Ethische Wertevermittlung 2. Wir entwickeln dazu eine eigene Haltung, an der sich Kinder und Jugendliche im Sinne von „wer bin ich und wo will ich hin“ orientieren können, hin zu einer eigenen sexuellen Identität. Wer bin ich, wo will ich hin? 3. Ein Leitfaden mit eindeutigen Definitionen und Zielen ist die Grundlage unseres Handelns, durch den das Präventionskonzept erweitert wird. 4. Um Kinder und Jugendliche erreichen zu können, müssen wir wissen, mit welchen Medien sich junge Menschen beschäftigen und wovon sie sich angezogen fühlen. Es gilt einen kritischen Umgang mit diesen Medien und eigene Deutungsmuster zu entwickeln. Kritischer Umgang mit den Medien 5. Zum wirksamen Umgang mit Pornographie und Gewalt gehört eine intensive Elternarbeit, die Eltern ermutigt, sich diesem Thema zu öffnen und Handlungsmuster zu erlernen, die über die konkreten Angebote an Eltern hinaus in einem Flyer mit typischen Fragen und qualifizierten Antworten dargelegt sind. Intensive Elternarbeit 6. In der sexualpädagogischen Arbeit sind männliche Mitarbeiter auch hinsichtlich dieser Thematik wichtig. Entsprechende qualifizierte Fortbildungen sind für alle sexualpädagogischen MitarbeiterInnen unverzichtbar. Fortbildungen