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Girasolidarietà Solidarität leben Bezirksgemeinschaft Überetsch-Unterland Sozialsprengel Leifers Branzoll Pfatten in Zusammenarbeit mit dem Dienst für schulische Integration, Italienisches Schulamt 1 Liebe Bürgerinnen und liebe Bürger! Es freut mich, Ihnen die Publikation “Girasolidarietà”. vorzustellen. Dieses Buch möchte den Lesern einen Querschnitt durch das Leben und Erleben von Menschen mit Behinderung, ihrer Familienangehörigen sowie der daran beteiligten Mitarbeiter und Freiwilligen bieten. Ich danke dem Sozialsprengel Leifers-Branzoll-Pfatten und vor allem der Gruppe von Mitarbeitern und Freiwilligen, die mit der wertvollen Unterstützung von Fachleuten der Freien Universität für Autobiografie von Anghiari mit Engagement und Einfühlungsvermögen an diesem Vorhaben mitgewirkt haben. Einen aufrichtigen Dank möchte ich den Akteuren der erzählten Geschichten aussprechen. Ich wünsche Ihnen allen nun eine angenehme Lektüre. Der Präsident der Bezirksgemeinschaft Überetsch-Unterland Oswald Schiefer 2 Liebe Bürgerinnen und liebe Bürger! Seit mehreren Jahren läuft in der Bezirksgemeinschaft Überetsch-Unterland das Projekt „Sprengel unterwegs“, dessen Ziel die direkte und aktive Einbindung von Bürgern ist, die sich an der Planung und Durchführung von konkreten Initiativen für die Gemeinschaft beteiligen möchten. Den Interessen und Maßnahmenbereichen entsprechend wurden mehrere Arbeitsgruppen gebildet. Unter diesen hat die Gruppe „Menschen mit Behinderung“ mit Unterstützung einer Gruppe von Fachleuten der Freien Universität für Autobiografie von Anghiari ein Vorhaben geplant und verwirklicht, das zur Veröffentlichung dieses Buches geführt hat. Vorrangiges Anliegen der Gruppe war es, diejenigen zu Wort kommen zu lassen, die selten Gelegenheit dazu haben. Auf diese Weise wollen wir dazu beitragen, eine andere Kultur der Behinderung zu fördern, indem wir uns als Mitarbeiter, aber mehr noch als Menschen in eine authentische Beziehung einbringen zwischen denjenigen, die zuhören, und denjenigen, die – auf ihre Art und in freizügiger Weise – Begebenheiten und oftmals intime Ausschnitte ihrer Lebensgeschichte erzählen. Ich danke den Menschen dieser Gruppe, die diese wichtige Herausforderung angenommen und damit schließlich die Herausgabe und Vorstellung dieses Buches ermöglicht haben. Ich überlasse Sie nun der Lektüre der Geschichten und empfehle Ihnen, sich ohne „Barrieren“ in diese Welten voller Kraft, Bescheidenheit und Zuneigung entführen zu lassen. Die Direktorin der Sozialdienste der Bezirksgemeinschaft Überetsch-Unterland Dr. Fernanda Mattedi Tschager 3 INHALT 1. EINFÜHRUNG Duccio Demetrio………………………………5 2. GESCHICHTE EINES VORHABENS Maria Grazia Soldati……………………………13 3. METHODISCHE ASPEKTE Lucia Portis……………………..…………… 20 4. GESCHICHTEN • Rauserzählen aus der Spirale: Sonia und Lara aufgeschrieben von Davide…………………… 27 • Die Kraft der Träume: Lara aufgeschrieben von Elena…………………… 43 • Die Geschichte von Monia nach der Erzählung von Paula, ihrer Mutter aufgeschrieben von Ugo………………… …… 51 • Jolanda und Roberto, Reisegefährten aufgeschrieben von Maria Cristina………… …57 • Ein Geist, der das Einfache liebt: Renato aufgeschrieben von Lisa…………………… …68 • Zucchero hat ein anderes Flugzeug genommen aufgeschrieben von Silvia………………………79 5. NACHTRÄGLICH: Ein paar einfache Überlegungen………… ……87 6. NACHWORT Claudio Imprudente……………………………99 4 EINFÜHRUNG Duccio Demetrio, Universität Mailand-Bicocca Präsident und Gründer der Freien Universität für Autobiografie von Anghiari Etwas zur Vorgeschichte Die Idee, Mnemon-Projekte ins Leben zu rufen (das griechische Wort bezeichnet eine Figur, die individuelle Erinnerungen anstelle von anderen aufschreibt), entwickelte sich gleichzeitig mit dem Entstehen der Freien Universität für Autobiografie von Anghiari. Wir wollten nämlich denjenigen, die in die toskanische Ortschaft kamen, um ihre Geschichte niederzuschreiben, nicht nur eine Möglichkeit bieten, von sich zu erzählen, um ein erzählerisches Ego hervorzukehren, das in jedem von uns dazu neigt, unseren tendenziellen Egotismus zu bekunden oder gar zu nähren, das auf jeden Fall hin und wieder verteidigt, gefördert, ermutigt werden muss, wenn es die Geringschätzung ihm gegenüber, die Lieblosigkeit, das geringe Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten krank machen. Vielmehr wollten wir einen Ort erfinden, wo man sich dazu legitimiert fühlen konnte, sich in sich selbst zu sammeln, um unter Heranziehung der Erinnerung sein eigenes Leben zu erforschen, vor allem zum Zweck und aus Gründen der sozialen Solidarität. Das muss immer wieder betont werden, gegenüber etwaigen skeptischen Kritikern, die an einem Syndrom leiden, laut dem das Schreiben auf einen unheilbaren, stets verdächtigen Narzissmus zurückzuführen ist. Die Autobiografie kann zweifellos ein fragwürdiges exhibitionistisches Schauspiel sein, sie kann aber auch – und darum geht es uns – eine unersetzbare Gelegenheit sein, sich in Formen des Denkens, der Reflexivität, des Befragens zu versuchen, die allein wegen der Arbeit an sich selbst, die sie in 5 Gang bringen lohnend sind, da sie einen Selbstlern- und Selbstbildungsprozess auslösen. Für uns also hätten die persönlichen, tagebuchartigen oder memoirenhaften Aufzeichnungen, die in der zweijährigen Schule der Freien Universität angeregt wurden, nur das schwierige und anspruchsvolle (wegen der möglichen Folgen, die das retrospektive oder introspektive Sichbetrachten stets mit sich bringt) propädeutische Moment darstellen sollen, das sicherlich notwendig ist, um zu lernen, wie man von der Selbstanalyse der eigenen Welt zur Neugier für die Welten und Geschichten der anderen gelangt, die so verschieden von den unseren und diesen doch so ähnlich sind. Das autobiografische und biografische Schreiben sollte somit eine Art virtuoses Hin und Her besiegeln (und dieser Verpflichtung blieben und bleiben wir treu), gleichsam eine gegenseitige Abmachung, die den Übergang vom Recht, sich ohne allzu große Nachsicht und Selbstgefälligkeit mit sich selbst zu beschäftigen, und der Pflicht, sich darum zu bemühen, die Geschichten derjenigen zu bewahren, die keinen Zugang zum Schreiben finden konnten oder wollten, erleichtern sollte. Oder die vorher nie gedacht hätten, dass sie – wie Elias Canetti sagte – zu ihrem eigenen Roman werden könnten. Diese berühmte literarische Persönlichkeit wird so zum Symbol eines Lebens, das, wie es auch war oder ist, stets abenteuerliche Züge bewahrt. Allein schon wegen der Wechselfälle, die wir unweigerlich erleben, wegen der Veränderungen, denen wir uns unterzogen haben, wegen der Schlusspunkte, die wir erreicht haben, oder wegen der Horizonte, die für immer unantastbar bleiben werden. Im Grunde haben wir mit dieser Idee, die dann bei jeder Auflage der Schule, und nicht nur hier, aufs Neue unterbreitet wurde, nichts anderes getan, als einen langen und beschwerlichen menschlichen Weg wiederaufzunehmen und zu aktualisieren, der mit der Veranlagung und Neigung 6 zusammenfällt, das individuelle Leben darzustellen, und zwar in seinen einmaligen und gültigen Formen, nicht nur materiell zu leben. Lang, sehr lang bevor Saverio Tutino und ich im Jahr 1998 die Freie Universität gründeten, war es sicherlich bereits „gute Praxis“, sich die Geschichten der Menschen anzuhören, sie aufzuschreiben, sie zum Zeugnis eines Lebens zu machen, aber nicht zu historischen oder literarischen oder später wissenschaftlichen Zwecken. Diese Praxis hatte bereits alle Voraussetzungen, um sowohl unter dem Gesichtspunkt der Anerkennung als auch der Dankbarkeit geschätzt zu werden. Allerdings konnten sich dessen, wie wir wissen, nur begrenzte aristokratische Kreise und privilegierte Schichten jahrtausendelang erfreuen. (Privilegiert waren sie auch deshalb, weil sie die Möglichkeit hatten, Schreiber zu dingen, die bereit waren, das zu schreiben, was derjenige, der bezahlte, am liebsten von sich lesen wollte). Auf jeden Fall, und abgesehen davon, dass dies auch ein einträglicher Beruf war, sind die Versuche, jemand abzubilden, seine Gesichtszüge zu skizzieren und ihm dann die Zeichnung zu schenken (oder zu verkaufen); ein Gedicht zu schreiben, das von den Gefühlen beseelt ist, die eine Person auslöst, und es ihr dann zu widmen (oder zu zerreißen); eine lobende Inschrift ad memoriam zu verfassen (und dann auszulöschen) usw., geleitet von unterschiedlichen Leidenschaften und Interessen, vertrautere und intimere Formen, die auf eine alte Gepflogenheit von großem humanem, humanistischem und humanitärem Wert zurückzuführen sind. Eine dreifache Orientierung Im ersten Fall, weil die Geste des Bewahrens der Erinnerung, des Erscheinungsbildes, der beispielhaften Tat von irgendjemand in ihrer ganzen einfachen Affektivität zu sehen ist; als Symbol einer gebührenden Dankbarkeit. 7 Im zweiten, weil mit diesem Akt, und in einer mehr kulturellen und philosophischen Bedeutung, die ganze Wertschätzung des Subjekts, des Individuums, der Person in ihrer unwandelbaren biografischen Einmaligkeit ausgedrückt werden soll. Und schließlich stellt in der dritten Option – in Wahrheit aber können alle miteinander verflochten zu einer authentischen auto(bio)grafischen Ethik führen – das Erzählen über eine Frau oder einen Mann in schriftlicher Form oder in einer anderen Kunstform, wenn sie nur sehr schlicht und einfach ist, einen Modus dar, der uns zu den Motiven der heidnischen Pietas, der christlichen Caritas und der Compassio, auch des Orients, zurückführt. Also nicht nur in jüngerer Zeit, und keinesfalls nur aus Forschungsgründen oder um die ganze Vitalität einer mündlichen und ungebildeten Kultur zu bezeugen, die sonst kein Andenken hinterlassen würde, gibt es die Biografien oder auch nur die eine oder andere Daseinsbotschaft, die sich vom historiografischen Genre zum unmissverständlichen Zeichen oder Symptom eines Wissens des individuellen Andenkens gewandelt haben, das noch glaubt, dass es wichtig ist, eine Ehrerbietung zu erweisen, die nicht mehr schönrednerisch, lobend, rühmend, vorgetäuscht oder gar eindeutig verlogen, sondern in ihrer Wesentlichkeit und in ihrem Realismus einfach und bescheiden ist. Realismus, den man auf jeden Fall gelegentlich stilistisch umgestalten und verfeinern muss – ohne allerdings die Erzählung zu verfälschen –, aber nur damit eine Erzählung dichter, lebhafter und spannender wird. Kurz und gut, von den sokratischen Dialogen zu den Evangelien bis hin zum Blütenkranz des heiligen Franziskus – um nur einige der bekanntesten Zeugnisse des Denkens oder Glaubens zu zitieren, auch wenn es davon weit atavistischere Spuren gibt – begegnen wir seit Jahrtausenden der überaus wichtigen Funktion, die von Plato in der einen Situation, von den kanonischen oder apokryphen Evangelisten in der 8 anderen ausgeübt wurde, oder auch von Anhängern einer wandernden Gemeinschaft (ganz zu schweigen von Plutarch, Vasari und Tausenden unbekannten Schreibern, Hagiografen, von bedeutenden oder unbedeutenden Geschichten und Taten), nämlich mit der Schrift das zu bewahren, was sonst unweigerlich in Vergessenheit geraten wäre. Was wären wir, auf anderen Ebenen, ohne die sokratische Philosophie, ohne die heiligen Schriften, die beispielhafte Biografien aufleben lassen, die Geschichten Buddhas und vieler anderer, die selbst keine Zeile geschrieben haben? Wenn wir zwischen Wahrheitsgehalt und durch das Schreiben bedingter mythischer Verklärung nicht auf eine Unzahl von Schreibern hätten zählen können, die entweder Kopisten aus Berufung waren oder es zum Vergnügen, aus Leidenschaft oder Liebe zum anderen taten, bis hin zum hartnäckigen Bewahren dessen, was dieser in ihren Augen war oder verkörperte? Schließlich macht uns die Bereitschaft, uns um Erinnerungen „an Stelle von“ zu kümmern, an Stelle ihrer legitimer Urheber, zu Bewahrern von Geschichten, in aller Bescheidenheit unserer Arbeit. Das geschieht – und sollte immer mehr geschehen – bei der Ausführung der alltäglichen oder außergewöhnlichen Aufgaben, für die wir zuständig sind, wenn wir uns beruflich oder als Freiwillige um die anderen kümmern, ein Bemühen, das jene dreifache Bedeutung, die wir erwähnt haben, in sich zusammenfasst. Wir sind mehr human, weil das Schreiben unsere ganze Humanität hervorhebt; wir sind mehr humanistisch, weil wir eine Menschen- und Lebensauffassung haben; wir sind mehr humanitär, weil wir etwas ganz Einzigartiges tun, eine „ergänzende“ Tätigkeit oder etwas, das ausdrücklich darauf ausgerichtet ist, eine neue Art der Pflege – die Pflege des dialogierenden Zuhörens, der Erzählung, ihrer Bewahrung – und Begleitung einzuführen. Sowohl gegenüber dem Menschen, dem wir zufällig oder aufgrund eines ausdrücklichen Hilfeansuchens begegnen, als auch gegenüber 9 denjenigen, die um ihn kreisen und die niedergeschriebenen Worte geschenkt bekommen werden, die sich auf jemand beziehen, den man zu kennen glaubte, und die ihn oder sie zum Protagonisten eines Textes machen, der es uns ermöglichen wird, sie noch näher, noch besser kennenzulernen; oder vielleicht werden wir auch beim Lesen entdecken, dass wir sie im Grunde überhaupt nicht gekannt haben. „Den anderen schreiben“ wird folglich zu einem gleichzeitig beschreibenden, rekonstruierenden, enthüllenden Werk: das nichtsdestoweniger problematisierend ist. Denn weder werden wir, und schon gar nicht wird der andere jemals imstande sein, eine endgültige und sichere Erkenntnis darüber hervorzubringen, was er/wir im Leben war/waren. Eine soziale Praxis, die über sich selbst hinausgeht In viel jüngeren Zeiten bleibt in Italien in diesem Zusammenhang Nuto Revelli, der namhafte Gelehrte, der die Bauernkultur untersuchte, ein unübertroffener Meister in dieser Kunst der Wiedergabe. Neben ihm, dessen Beharrlichkeit als Erforscher und Hüter der Stimmen der mündlichen Welt höchste Anerkennung verdient, gab es noch viele andere, die in einer Art solidarischem Instinkt aufschrieben, was die Menschen über sich berichten wollten. Ganz zu schweigen von der ganzen europäischen literarischen Tradition auf dem Gebiet der Biografie, die heute endlich aufgewertet wird und die sich damit befasst, Porträts in Worten zu sammeln, von bescheidenen oder berühmten Persönlichkeiten, um daraus eine Sammlung zu machen oder sie ihren Erzählern zu verkaufen. Ihnen allen, den bekanntesten und wiederum denjenigen, die im Verborgenen gearbeitet haben, gilt unser Dank. Mit der Gründung der Freien Universität unter dem Einfluss der stetigen Arbeit des Tagebucharchivs von Pieve 10 Santo Stefano, des unersetzlichen Bezugspunktes für jeden, der seine eigenen Aufschreibungen oder die anderer nicht sich selbst überlassen möchte, wollte man – zumindest in unserem Land – einem staatlichen Programm Gestalt und offiziellen Charakter verleihen, das sich diese Traditionen zunutze machen und junge und weniger junge Menschen in eine nicht alltägliche ehrenamtliche Tätigkeit im sozialen und zivilen Bereich einbinden sollte. Eine Tätigkeit, die sich also nicht darauf beschränkte, den Menschen beizustehen, die am meisten Schwierigkeiten haben, die allein sind, krank sind, unter Depressionen leiden, um ihnen unter die Arme zu greifen und eine Hilfe zu bieten, die sich nicht auf ein gutes Wort gründet, sondern auf die uneingeschränkte und niemals zensierbare Wertschätzung ihrer Worte. Das heißt, eine Tätigkeit, die darauf ausgerichtet ist, sie zum Erzählen anzuspornen, zum Gespräch zu ermutigen und sie auch anzuregen, etwas von ihrem Leben und ihrem Tagesablauf in Erinnerung zu bringen; diese Praxis des AufmerksamkeitSchenkens wurde früher von einer Gemeinschaft spontan gegenüber ihren Kranken und Alten angewendet, um sie aus der Trägheit, aus einem Zustand der bedingungslosen Annahme des Unabwendbaren, herauszuholen. Denn wenn das Wort – wie Freud sagte – die Therapie ist, dann gilt das nicht minder für das Schreiben über sich selbst und für die Möglichkeit, dass sich jemand mit uns befasst und nur über uns und über alle, an die wir uns erinnern, schreibt. In einer ununterbrochenen Folge von Erinnerungen und denkwürdigen Bewahrungen. Gerade angesichts der Tatsache, dass diese Formen des physiologischen und spontanen Solidarismus allmählich verloren gehen und sich immer weniger im mündlichen Heraufbeschwören und Bewahren dessen äußern, was die Verstorbenen oder die noch Lebenden verkörpern, erschien es der „mnemonischen Gemeinschaft“ von Anghiari, erschien uns von der Freien Universität richtig, Initiativen wie die hier vorgestellten zu fördern und zu 11 verbreiten, die an die Stelle oder an die Seite dessen treten könnten, was man früher zu tun pflegte. Vielleicht ohne Papier und Bleistift, aber bestimmt mit demselben Geist, derselben humanen und zivilen Berufung. Bei den gesammelten Erzählungen, also den Geschichten von Lara, Monia, Jolanda und Roberto, Riccardo sowie Sonia, handelt es sich um Geschichten des Leidens, aber auch des persönlichen Widerstandes und des Daseinswillens. Sie wurden, wie viele andere, von den Schreiberinnen und Schreibern gut aufbewahrt, die dank des Einsatzes der Fachfrauen Lucia Portis und Maria Grazia Soldati von der Freien Universität in diesem neuen Lehrgang ausgebildet worden waren. Dass man diesen Geschichten eine lyrisch-literarische Form verliehen hat, ohne auf eine pedantische Rekonstruktion von Fakten und Begebenheiten zu achten, ohne auf die strikte Einhaltung der Unterscheidung zwischen dem Wahren und dem Imaginären (nicht Phantasievollen), das vom Schreiben in Szene gesetzt wird, zu bestehen, stellt schließlich eine Art des Denkens und Anerkennens dar, die nichtsdestotrotz vor den vielen parallelen Initiativen verteidigt werden muss, die sich – aus opportunistischen Interessen, die nicht neu sind – gewiss nicht an jene Grundsätze halten, die dagegen von Anfang an unsere Arbeit beseelen. 12 GESCHICHTE EINES VORHABENS Maria Grazia Soldati, Kursleiterin FUA Wissenschaftliche Projektkoordination Das Projekt „Mnemon“, das von einer Gruppe von Forschern, Mitarbeitern und Freiwilligen verwirklicht wurde, die im Sozialsprengel Leifers-Branzoll-Pfatten tätig sind, entsteht aus dem Wunsch heraus, die Lebensgeschichten einiger Menschen zu sammeln und zu erzählen, die in diesem Gebiet leben. Ganz unterschiedliche Geschichten, so wie es die verschiedenen Existenzen sind, die aber durch das gleiche Schicksal verbunden sind: die Lebenssituation, die durch das gekennzeichnet ist, was man Behinderung nennt. Diese Geschichten zeigen, wie diese Menschen im Verlauf der Zeit Mut bekommen haben, nicht zu resignieren, und wie in einigen von ihnen und in ihren Familienangehörigen das Bewusstsein gewachsen ist, dass sie einzigartige und besondere Menschen sind. Die befragten Erzähler sind Menschen mit anderen Fähigkeiten, und genau sie wurden gebeten, von sich zu erzählen, angespornt durch ein Interesse und ein stilles Zuhören, das imstande war, ihre Stimme zum Erklingen zu bringen. Mit Hilfe dieses Echos wollten die Forscher weiters auch jenen vielen Menschen eine Stimme verleihen, die fern von allem Lärm versuchen, mit ihren schwierigen Bedingungen zurechtzukommen – nicht immer aufgefangen von der örtlichen und sozialen Gemeinschaft –, und denen es gelingt, ein würdevolles Alltagsleben zu führen, wenn es durch das Vorhandensein jener Wünsche getragen wird, die jede/r Biograf/in aus den Geschichten heraushören konnte, die ihm/ihr erzählt wurden und die er/sie aufgeschrieben hat. Die Erzähler verleihen nämlich sich selbst Ausdruck, ihrem persönlichen oder familiären Lebenslauf, wobei die einen die Behinderung in persona erleben, die anderen ein Kind oder einen Bruder im Leben begleiten. Mit Hilfe des geschriebenen 13 Wortes eines Mnemons, der ihnen zuhört und zur Seite steht, können wir heute eine Botschaft in Umlauf bringen, Wissen und Erkenntnis schaffen, den Sinn aufzeigen, der diesen Leben gegeben ist, die uns bisweilen sehr fern und anders erscheinen mögen. Die erzählten und dann aufgeschriebenen Worte können einem Erlebnis die Historizität wiedergeben, und darum verpflichtet uns das Mnemon-Vorhaben zu Respekt und Aufmerksamkeit gegenüber denjenigen, die uns aus einer im Vergleich zu den gesellschaftlichen Schönheits- und Vollkommenheitsmodellen anderen und benachteiligten Position zeigen, dass sie in der Lage sind, wertvolle Ressourcen wie den Willen und die Lebenskraft zum Ausdruck zu bringen. Das ist also einer der Gründe, die diese Gruppe von Personen dazu bewogen haben, sich dafür einzusetzen, dass diese Botschaft verbreitet wird: die soziale und kulturelle, vor allem aber ethische Überzeugung, die auch durch den autobiografischen Ansatz und das Sammeln der Geschichten unterstützt wird, dass man der Person, dem menschlichen Wesen, das wir selbst und die anderen sind, im Zuhören und Kennenlernen begegnet. Das ist ein erhabener Grund, weil er uns eine wertvolle neue Sehweise bietet, die es uns ermöglicht, die Welt der Menschen mit anderen Fähigkeiten zu erkunden, indem man ihnen das Wort erteilt. Wir stellen dann fest, dass wenn der Erzähler oder Zuhörer ein Beobachter dieser Welt ist, sich der Schmerz und die Angst vor der Beeinträchtigung in den Gefühlen von Unbehagen, Ohnmacht und Wut gegenüber dem Leben zeigt. Wenn wir aber mit Hilfe der Worte der Akteure in diese Welt eintreten, verändert dieses Gehen unseren Blick gegenüber den Erzählungen über sich selbst. Diese werden nicht vorgetragen, um falsches Mitleid zu erregen, sondern sie werden mit einer Offenheit in Angriff genommen, die nur gegenüber einem interessierten und begierigen Zuhören 14 möglich ist, auch wenn es zuweilen noch verlegen und verunsichert sein kann, ohne dass man es deswegen aufgibt. So soll also durch das Aufschreiben dieser Lebensgeschichten der ganzen Bevölkerung des Sprengels, und nicht nur ihr, eine einfache, aber fruchtbare Lebensbotschaft übermittelt werden: die ethische Kraft dieser Existenzen, die vom Bewusstsein ihres Soseins durchdrungen sind, ihres Andersseins, das ihren Handlungsspielraum einschränkt, nicht aber ihren Wunsch nach Austausch und Begegnung mit den anderen. Das Projekt Mnemon wurde von Duccio Demetrio1 konzipiert und von der Freien Universität für Autobiografie von Anghiari in verschiedenen Ortschaften Italiens gefördert und durchgeführt. Es besteht in der Ausbildung von Freiwilligen und Mitarbeitern, die sich mit dem Sammeln und Aufschreiben der Autobiografien von Menschen befassen, die nicht in der Lage oder imstande sind, das Recht auf Erzählung ihrer eigenen Lebensgeschichte zu verwirklichen. Da jede autobiografische Erzählung nicht nur den Einzelnen menschliche und existenziale Identität und Würde zurückgibt, sondern auch eine entscheidende Funktion der Begegnung und des kulturellen Fortschritts einer Gemeinschaft hat, wird man sich (falls diese Ansicht geteilt wird), um ihre Sozialisation auch in künstlerischen Formen kümmern. Konkret sieht das Projekt vor: 1) die Anfangsausbildung; 2) das Sammeln und Aufschreiben der Geschichten; 3) die Supervision des hervorgebrachten Materials; 4) eine öffentliche Veranstaltung mit Verbreitung der gesammelten Geschichten. 1 Duccio Demetrio, Professor für Erwachsenenbildung und Philosophie der Erziehung an der Universität Mailand-Bicocca und gemeinsam mit Saverio Tutino Gründer der Freien Universität für Autobiografie von Anghiari. 15 Die Anfangsausbildung „Wie wird man zum der eigenen Geschichten“ sieht eine autobiografische Phase vor, in der die Gruppe aufgefordert wurde, das Drehbuch ihres Lebens zu verfassen und mit Hilfe des Schreibens einem Ausschnitt von sich selbst Gestalt zu verleihen. Die Arbeit in der Gruppe hat zudem erlaubt, das Sich-selbst-Zuhören in der Beziehung mit den anderen zu probieren. Ein intensives und tiefes Zuhören, damit es möglich würde, diese Intensität und Tiefe auch mit dem Aufschreiben der Geschichte, einiger Ausschnitte der eigenen Biografie, wiederzugeben. Und so ergeben sich Aufzeichnungen, Reisenotizen wie diese, wenn eine Mitarbeiterin schreibt: „… wie oft hat man mich ersucht, mein Leben Revue passieren zu lassen, in meinen Erinnerungen zu stöbern, an die Vergangenheit zurückzudenken, als Chip und Chap uns in jenem Klassenzimmer festhielten, damit wir von uns erzählten …. und ich schüttelte den Kopf …. Dann kreuzte sich mein Blick mit dem von Sara, von Aisha, von Manuel … wir schlugen die Augen hoch, hoben die Schultern und fragten uns: „Warum bin ich überhaupt hier?“ Und was haben wir gelacht, als der Moment des Einvernehmens kam, und wir stets zusammen ……… glaubst du wirklich, dass ich meine Angelegenheiten dem Erstbesten erzähle …! Vier Jahre sind seit damals und seit jenem Tagebuch vergangen. Natürlich ist mir in diesen Tagen jene Zeit eingefallen. Doch in diesen vier Jahren habe ich einige Sachen gemacht, andere sind mir zugestoßen … der Tod von Marco, Aisha und Dimitri in weniger als einem Monat haben mir einen Schmerz zugefügt, den ich vorher nie gekannt hatte …“ Eine weitere Mitarbeiterin, die zum Schreiben aufgefordert wurde, notiert: „… wenn ich daran denke, warum ich mich heute so entschlossen fühle, kommen mir zwei Momente in den Sinn, die sich mehr oder weniger gleichzeitig zugetragen haben. Auf der einen Seite hatte ich bei der Arbeit, die mich seit jeher sehr und zumeist in angenehmer Weise ausfüllt, ein emotional aufwühlendes Erlebnis (ich wurde von einer Person „angegriffen“, und zwar nicht nur mit Worten), und auf der anderen Seite habe ich in der Partnerschaft eine Harmonie und Stabilität gefunden, die mich schrittweise auch dazu Bewahrer 16 geführt haben, mich von meiner Herkunftsfamilie zu lösen, sodass ich selbstständiger geworden bin. Vielleicht haben mich diese beiden Extreme, das Sich-schlecht-Fühlen (was habe ich falsch gemacht, was habe ich nicht gut gemacht …), wobei ich die Ursachen dafür immer zunächst auf mich konzentrierte und mich in Frage stellte, und die Harmonie und das Glück in der Partnerschaft, dazu bewogen, darüber nachzudenken, wie wichtig es ist, jeder Sache den richtigen Platz zu geben, also auch mir selbst und der Achtung vor mir selbst als der, die ich bin. Vielleicht ist es nur ein Moment unter vielen, doch auch wenn es so wäre, hoffe ich, ein neues und wiedergewonnenes Stück von mir selbst mitzunehmen, das ich bei meinem Tun und in den Beziehungen mit den anderen Menschen, die Teil meines Lebens sind und sein werden, einsetzen kann. Zum Bewahrer seiner eigenen Geschichte werden heißt also, zweifach zuzuhören, sich selbst und gleichzeitig dem anderen. Mit Hilfe dieser relationalen Praxis kann man Gefühlsäußerungen erkennen, das Echo von Worten, ausgelöst in einem selbst durch die Erzählung anderer, Echos und Nachklänge im Zusammenhang mit der eigenen Erfahrung und Lebensgeschichte, Spuren, denen man nachgehen sollte, um noch tiefer in sich selbst einzudringen und imstande zu sein, das, was zu einem selbst gehört, von dem, was zu anderen gehört, zu unterscheiden. Ein zweifaches Zuhören, das notwendig ist, um die Beziehung mit einem kranken und/oder behinderten Menschen zu leben, der imstande ist, tiefe Empfindungen und Gefühle in uns zu mobilisieren, Gedanken, Vorurteile, Verbundenheit, Distanz …… „Wie wird man zum Bewahrer der Geschichten anderer“ hat versucht, die Fähigkeit zum erzählenden Schreiben in Mitarbeitern zutage zu fördern, die täglich in Berufen stehen, in denen kein Platz für derlei Aufzeichnungen vorgesehen ist. Auf der einen Seite wurden die Methoden und die Bedeutung des Sammelns einer Biografie vertieft, auf der anderen Seite wurde die Bindung zu den ausgewählten Erzählern erkundet. 17 War die Ausbildung zum Anhören der Geschichte darauf ausgerichtet, die Tiefe und Dichte der Empfindungen, der Gefühle zu erfassen, so konnte die Auseinandersetzung mit dem Schreiben nur die Suche nach einer Wiedergabe sein, in der auch die emotionale Dimension zutage tritt. Die Erzähler auszuwählen bedeutete für die Forscher, die alle beruflich oder als Freiwillige im Behindertenbereich tätig sind, ihre eigenen Beziehungen zu beobachten und jene Personen zu bestimmen, deren Nähe oder Ferne zu einem näheren Kennenlernen einlud. Es bedeutete, über die räumlichen und zeitlichen Kompetenzen der Erzähler nachzudenken, auf Selbsterinnerungen zu setzen und vorauszuplanen, wie Bruchstücke von Geschichten zusammengesetzt werden sollten und welche anderen Personen (Familienangehörige) einbezogen werden sollten. Es bedeutete ferner, sich anders darzubieten, einen Vertrauenspakt zwischen Personen zu schließen, als Forscher, die da waren, um autobiografische Fragen zu stellen, sich die Geschichte anzuhören, aufzuschreiben, zu gliedern und dann zu einer nachfolgenden Lektüre wiederzukommen … Ein, zwei, drei Treffen, bis zur endgültigen Fassung und der Zustimmung zu ihrer Verwendung für die Allgemeinheit. Es bedeutete, zu beruhigen und mitzutragen („Was macht ihr mit dieser Geschichte? Was machen die Menschen damit? Wozu dient das?“). Eine etappenweise Arbeit, ein komplexer, niemals einfacher, bisweilen mühsamer Ablauf, eine Arbeit der Bindung zwischen dem Forscher und demjenigen, der sich dazu entschließt, seine Lebensgeschichte allen zu schenken. Geben Sie sich nun der Lektüre der Geschichten hin, die, so wie sie niedergeschrieben wurden, eine Überraschung bereithalten – in erster Linie für uns –, ein unvorhergesehenes Element, das wir genau nicht vorhergesehen hatten. Natürlich sind es ganz verschiedene Geschichten, so wie die Leben der Menschen verschieden sind, doch diese Aufzeichnungen haben etwas Darüberhinausgehendes, eine 18 Inhomogenität, über die wir diskutiert und nachgedacht haben; wir haben uns entschlossen, sie zu erhalten. Jede Geschichte ist nämlich zur Botschafterin auch der anderen Fähigkeiten der Biografen geworden, die versucht haben, wie in einem Spiegel auch jenes unsichtbare Gut aus Emotion, persönlicher sowie beruflicher Reflexion und Theorie zu überdenken und aufzuzeigen, die stellenweise auch mit der Erzählung verflochten sind. Ein Vorgang, der vom Wunsch geleitet ist, die Niederschrift dieser Geschichten möge Bewegung und Kultur über das Thema des sozialen Lebens der Menschen mit anderen Fähigkeiten zeitigen, Lebensläufe sichtbar machen, die von Bedürfnissen und Schwierigkeiten durchzogen sind, aber auch von Wünschen und Errungenschaften, um über die stereotype Sehweise hinauszugehen, die das Nichtwissen bei vielen nach sich ziehen kann, indem auch die positiven und nicht nur die negativen Aspekte dieser Lebensläufe hervorgehoben werden. 19 METHODISCHE ASPEKTE Lucia Portis, Kursleiterin FUA Fachfrau für autobiografische Methoden Der Erzählung der Lebensgeschichten als Feldforschung auf dem Gebiet der Ausbildung kommen verschiedene Bedeutungen zu, die vom Individuellen bis zum Kollektiven reichen. Bei der Erzählung der Geschichten verraten die Menschen ihre Bedürfnisse, ihre Wünsche und ihre Leidenschaften, gleichzeitig verraten sie, was sie als Angehörige einer Gemeinschaft oder Gruppe definiert, welches die Symbole dieser Zugehörigkeit sind. Mit Hilfe der Erzählung können wir die Habitus beschreiben und gleichzeitig verändern. Der Habitus besteht in jenen einverleibten Verhaltensweisen, die zu unserer Identität und unserer Zugehörigkeit zu einer Kultur gehören und die wir schwerlich erkennen, wenn wir sie nicht mit Hilfe der Erzählung beschreiben. Genau aus diesem Grund werden die Lebensgeschichten in der Forschung verwendet, weil sie das Verständnis der kollektiven Bedeutungen innerhalb einer Vielzahl von individuellen Erzählungen erlauben. Die Erzählforschung sagt uns viel über das Anderssein, aber auch viel über die Identität. Die Identität ist nicht jenes verwesentlichte Selbst, an das uns die positivistisch geprägte Psychologie gewöhnt hat und das mancher objektiv beobachten zu können glaubte, sondern eine sich verändernde Identität, ein erzählendes, also bewegliches und changierendes Selbst, in der Art von Bruner. Jerome Bruner sagt nämlich, dass die Reflexivität, das Prinzip, welches das Selbst darstellt, „unsere Fähigkeit ist, sich der Vergangenheit zuzuwenden und die Gegenwart im Licht jener Vergangenheit zu verändern oder auch die Vergangenheit im 20 Licht jener Gegenwart zu verändern“2. Die Identität ist also historisch und kulturell, das heißt, in eine Zeit und einen Ort eingebunden. Durch die Erzählung der eigenen Geschichte zeigt und verändert sich die Identität. Die Identität ist das erste Thema, das in der Erzählforschung festgestellt wurde, das zweite ist das Anderssein. Durch die Erzählung der Geschichten verstehen wir den anderen, und zwar den anderen, so wie er vom Erzähler, aber auch vom Zuhörer dargestellt wird. Der Forscher ist niemals ein neutrales und anonymes Wesen, der Forscher ist derjenige, der sich Fragen über die Bedeutungen stellt, die er dem beimisst, was er hört, der sich den anderen vorstellt und mit ihm über die verschiedenen Auslegungen der Geschichte verhandelt. Das Endprodukt, die Erzählbiografie, ein schriftlicher Text, ist immer das Ergebnis des Erzählers und desjenigen, der die Erzählung sammelt. Das dritte Thema betrifft die kollektiven Bedeutungen, die Beschreibung des Habitus. Pierre Bourdieu, ein französischer Soziologe, definiert den Habitus als „die Gesamtheit der einverleibten und psychischen Anlagen, die sozial konstruiert sind“; diese bilden schließlich die kollektiven Vorstellungen. Der Habitus ist durch die Gesellschaft strukturiert, gleichzeitig aber strukturiert er die Wirklichkeit; er ist ein Begriff, der individuelle Merkmale und soziale Merkmale eng miteinander verknüpft. Die Erzählung gibt uns heute eine immer unbeständigere und sich verändernde Wirklichkeit wieder. Die Worte, die wir verwenden, um die Welt zu beschreiben, sagen uns viel über 2 Jerome Bruner, La ricerca del significato, Bollati Boringhieri, TORINO 1992, S. 108. Dt.: Sinn, Kultur und Ich-Identität. Zur Kulturpsychologie des Sinns, Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag, 1997. Orig.: Acts of Meaning, Cambridge: Harvard University Press, 1991. 21 die Einverleibung, das heißt, über unsere auch körperliche Wahrnehmung der Wirklichkeit. In diesem Sinn werden die Geschichten zum Spiegel unserer Zugehörigkeit, unseres Habitus, unserer Einverleibung. Wir können die Erzählforschung verwenden, um kennenzulernen, um zu interpretieren, aber auch um in der Gemeinschaft zum Nachdenken über die eigenen Zugehörigkeitssymbole, die eigenen Stereotype und Vorurteile anzuregen. Die Erzählforschung steht innerhalb des erzählenden Denkens in Gegensatz zum paradigmatischen Denken, das definiert und erklärt, die typische Sprache der Wissenschaft, während das erzählende Denken das Verfassen von Geschichten als Modelle für die Interpretation der Wirklichkeit bevorzugt. Bei der Erzählung geht der Verstand mittels Zuschreibung von Bedeutungen vor, unterstreicht dadurch die semantischen Aspekte und wandelt die Erfahrung in eine zusammenhängende Geschichte um. Beim Verfassen der Geschichte verbindet der Verstand die Elemente im Verhältnis zu einer Aktion, zur Absichtlichkeit, zu den Mitteln und Motivationen, gemäß einem Netz, das die Folgerichtigkeit der Geschichte nachdrücklich betont und versucht, das Verhältnis zwischen den einzelnen Teilen und dem Ganzen wiederherzustellen. Der autobiografische Ansatz Die autobiografische Ausrichtung bei der Erwachsenenbildung entsteht in den 1990er-Jahren in Mailand, und zwar im Rahmen der von Prof. Duccio Demetrio koordinierten Forschungsgruppe „Condizione adulta e processi formativi“ (Situation der Erwachsenen und Bildungsprozesse) der staatlichen Universität. 22 Es sind mehrere Gründe, die die Gruppe zur autobiografischen Praxis sowohl im Bildungs- als auch im Forschungsbereich bewogen haben: Das Interesse für eine wissenschaftliche Dimension des Erwachsenenalters und der Erwachsenenidentität, ausgerichtet auf die empirische und hermeneutische Dimension, die fruchtlose Verallgemeinerungen vermeiden soll Die Konzeption der Entwicklung und des Lernens als dynamischer Prozess und Möglichkeit zur Veränderung Die Bedeutung, die Fähigkeit zum biografisch bedeutsamen autonomen Lernen zu erkennen Das Erfordernis, die Forschung und die Position des Forschers von einer neuen Seite zu betrachten, und zwar als denjenigen, der bei der Erzählpraxis seine Subjektivität ins Spiel bringt Das Bewusstsein der Wechselseitigkeit von Forschung, Bildung und Erleben.3 Der autobiografische Ansatz stellt also das Interesse für die Lebensgeschichten, für die Bedingungen und Erkennungsprozesse, die die Erzählung in einer Bildungs- und Erziehungsperspektive ermöglichen, in den Mittelpunkt: ein autopoietischer Prozess, in dem man Ereignisse, Entscheidungen und Gefühle ordnet und ihnen Sinn verleiht, ein Lernprozess, der an den zentralen Zusammenhang Erfahrung-Erkenntnis gekoppelt ist, und gleichzeitig, parallel, ein Prozess der Wiederlancierung der eigenen Projekte sowie der Öffnung und Neugier gegenüber der Subjektivität des „anderen“. Der autobiografische Prozess wickelt sich also zwischen zwei unterschiedlichen Momenten ab: einem selbstreflexiven Verfahren (autobiografische Erkundung), das auf die eigene Geschichte zurückblickt und aus dieser den Sinn begreift, 3 Micaela Castiglioni, La ricerca in educazione degli adulti. L’approccio autobiografico, Edizioni UNICOPLI, Milano 2002. 23 einen organisierten und komplexen Text hervorbringt, der ein Medium verwendet (eine schriftliche Autobiografie, eine mündlich erzählte Lebensgeschichte, ein Erzählinterview), und einem zweiten, „rechtsgeschäftlichen“ Verfahren, einer auf verhandelter Interaktion beruhende Arbeit über die kollektiven Bedeutungen, bei der die Gruppe, die am Prozess der Bildungsforschung und/oder -arbeit beteiligt ist, Sinn und Bedeutungen der Erlebnisse entdeckt, hervorhebt, lanciert, vergleicht (ein griechischer Chor, der die Höhepunkte unterstreicht). Die individuelle Geschichte wird zu einer in ihren Kontext (zeitlicher, sozialer, kultureller, gemeinschaftlicher Kontext) eingebetteten Geschichte, gleichzeitig wirft sie das Licht ihrer ursprünglichen Einzigartigkeit auf den Kontext. Der autobiografische Ansatz betrachtet die Forschung als Prozess der gemeinsamen Schaffung von Bedeutungen, in dem alle Beteiligten zu Akteuren werden: Forscher und Gesprächspartner, Fachleute und „Bürger“. Der Prozess hat die Merkmale der Aktionsforschung, das ist eine Art der Forschung, die in dem Moment, in dem sie durchgeführt wird, Veränderungen herbeiführen möchte. Das Grundmerkmal der AF ist nämlich, dass sie die den Erwerb von Kenntnissen (wobei vorwiegend qualitative Instrumente wie Tiefen- oder Erzählinterviews, Fokusgruppen, örtliche Tische, Foren usw. verwendet werden) mit der Durchführung von Aktionen verbindet, die sich gleichzeitig auf die soziale Wirklichkeit auswirken, die Objekt/Subjekt der Untersuchung ist. 24 Besonderheiten und Phasen der autobiografischen Forschung Die autobiografische Forschung ist, wie gesagt, durch die aktive Einbeziehung aller am Prozess beteiligten Akteure gekennzeichnet. Die verschiedenen Phasen sind folgendermaßen aufgegliedert: 1) Die gemeinsame Ausarbeitung des Projekts mit allen Akteuren, die durch Sensibilisierungsaktionen einbezogen werden können. 2) Ausbildung der Geschichtensammler, unterteilt in zwei Stufen: eine erste Stufe, die mehr im Hinblick auf das Selbst und die eigene Geschichte strukturiert ist; eine zweite Stufe, die mehr im Hinblick auf das Sammeln der Geschichte des anderen strukturiert ist. 3) Überwachung des Sammelns von Geschichten Am Ende des Ausbildungsganges werden die Teilnehmer aufgefordert, die Gesprächspartner zu bestimmen, um ihre Geschichten zu sammeln und sie im Zuge der verschiedenen Erzählgespräche zurückzugeben. Während des gesamten Ablaufs werden sie von einem Fachmann für autobiografische Methoden betreut. 4) Veröffentlichung Die gesammelten Geschichten werden analysiert und durch eine Publikation nutzbar gemacht, die allen zur Verfügung gestellt wird, die die Bedeutung des Erlebens begreifen wollen, sowie auch noch durch andere Mittel und Ausdrucksformen, um der Allgemeinheit die Möglichkeit zu geben, sich die aus der Forschung hervorgegangenen Erkenntnisse anzueignen (Bühnenperformances, Fotoausstellungen als Begleitung zu den Texten, Internetseiten). 25 Das Endergebnis sollte neben den Erzähltexten auch innerhalb der Gemeinschaft Wissen und Bewusstsein über die kulturellen und sozialen Besonderheiten im Hier und Jetzt hervorbringen, und es sollte zu Überlegungen über die eigenen Stereotype anregen: die Geschichten legen uns nahe, diese auszuräumen, weil im anderen gleichzeitig Geheimnis und Transparenz, Verschiedenheit und Ähnlichkeit vorhanden sind. 26 RAUSERZÄHLEN AUS DER SPIRALE aufgeschrieben von Davide, Schulbetreuer Vorwort Der ersehnte Augenblick ist gekommen. Aus der Erinnerung stellen sich Gedanken, Absichten und Orte ein, die dazu geführt haben, dass das Erlebnis, von dem ich nun berichte, einen Wert erhält, der über die Worte hinausgeht, deren tiefer Sinn sich um eine Spirale aus Empfindungen, Blicken, Gefühlen und Wünschen rankt. Nun geht es darum, über die Empfindungen zu reden, die ich im Verlauf eines Weges erlebt habe, an dessen Ende Sonia der ganzen Welt das wertvolle Zeugnis eines Lebens schenkt, das sie in einem komplexen Umfeld wie dem der Behinderung verbracht hat, das aus Hindernissen, aus einem Auf und Ab besteht. Zu Beginn möchte ich euch sagen, dass unsere Erfahrungen als Interviewer, Aufschreiber und Bewahrer der folgenden Geschichten tiefe Veränderungen in der Seele von uns „Zuständigen“ ausgelöst und uns eine erhöhte Sensibilität gegenüber den Menschen verliehen hat, denen seit der Geburt das Recht auf soziale Partizipation vielfach verweigert wird, da sie als anders etikettiert und deshalb stigmatisiert sind. Mein Wunsch ist, dass diese Biografie auch für euch Leser zu einer verändernden Erfahrung werden möge, angefangen mit dem Kennenlernen und Aufarbeiten einer Erscheinung, die Verständnislosigkeit, Missverständnisse, Ängste und Vorurteile verursachen kann: das Anderssein. 27 Mit meiner Arbeit möchte ich euch einfach nur einige Schlüssel an die Hand geben, mit deren Hilfe es möglich ist, mit der Wirklichkeit zu interagieren, von der die Menschen mit besonderen Bedürfnissen umgeben sind, jenseits vom Vorurteil, das häufig unsere Köpfe und demnach auch unsere Fähigkeit zur rationalen Analyse der Erscheinungen, die uns umgeben, blockiert. Das Zeugnis von Sonia, die Stimme der Erfahrung, Mutter eines Mädchens mit anderen Fähigkeiten, ist eine Gelegenheit, um über uns selbst, die anderen und das Verhältnis nachzudenken, das wir zum Anderssein aufbauen konnten, das es in jedem von uns gibt. Das Mittel, das uns nun hilft, an diesem Abenteuer teilzuhaben, ist das Zuhören: die erste Erfahrung während eines Gesprächs zum Sammeln einer Lebensgeschichte ist jene des Zuhörens, danach die Ausarbeitung und nun erneut das „Zuhören“. Ich lese und höre die mit Erfahrung ausgemalten Worte, die Empfindungen, die in mir widerhallen. Eigentlich werden die Möglichkeiten des „Zuhörens“ immer mehr durch andere Formen der Interaktion ersetzt. Wir leben in einer Gesellschaft, die von Durcheinander, von Chaos, Lärm und virtueller Kommunikation gekennzeichnet ist, infolgedessen gelingt es uns häufig nicht einmal mehr, uns selbst zu hören, geschweige denn die anderen. In diesem Zusammenhang unterbreitet uns Alessandro Bosi 4: „Gibt es in einer Welt von Worten einen Platz fürs Zuhören? Wir werden zum Reden erzogen, werden ständig zum Mitreden aufgefordert, werden danach beurteilt und bewertet, was wir zu sagen haben – sind wir da mit dem Zuhören überhaupt vertraut? Fähig, dem anderen zuzuhören, aber auch uns selbst, der Umwelt, in der wir leben und den Dingen, die uns umgeben? Zuhören können ist Kultur und damit eine Veranlagung, ja sogar eine Fähigkeit“. 4 A. Bosi, A. Campanili, La cultura dell’ascolto nel presente, Unicopli 1997, S. 13. 28 Die Absicht, die dieser Arbeit zugrunde liegt, besteht also nicht nur darin, den Menschen mit besonderen Bedürfnissen, die vielfach ausgegrenzt sind, Öffentlichkeitsresonanz zu verschaffen, sondern auch darin, einen Raum zu schaffen, in dem man sich aufhalten und zuhören kann, um der Verflachung, der die Erinnerungen im Lauf der Zeit ausgesetzt sind, ihre Dreidimensionalität wiederzugeben5, und zwar dank ihres Wiederauftauchens aus den Tiefen, die sie manchmal erdrücken. Die Lebensgeschichte Ich erinnere mich gut an die Fülle von Gefühlsregungen, die ich an jenem Abend nach dem Treffen mit Sonia mit nach Hause genommen habe. Wenn ich an dieses Erlebnis zurückdenke, spüre ich noch immer die Flut von Vibrationen in mir hochsteigen. Sonias Worte, ihre Blicke und ihre Bewegtheit hallen immer noch wider: es ist, als ob ihre Geschichte in mich eingedrungen wäre und sich in einem Winkel meiner Innenwelt breit gemacht hätte. Im Leben ist die Tiefe unserer Gewissheiten, oder Überzeugungen, wenn ihr wollt, im Allgemeinen durch das Auftreten eines günstigen Moments bestimmt: der Augenblick, in dem man sie übernehmen kann, um sie sich zu eigen zu machen. Das ist die Absicht, die meiner Arbeit zugrunde liegt. Nach zehn Jahren Erfahrung im Sozialbereich, zuerst als Behindertenbetreuer und jetzt als Schulbetreuer, stellt die Begegnung mit Sonia eine jener Etappen dar, die meinen beruflichen und persönlichen Werdegang im Verlauf meines Lebens am meisten geprägt haben. Ihre Erzählung als Mutter, die Stimme ihrer als Kämpferin gelebten Erfahrung, verantwortungsvoll und stets auf das Recht der behinderten Menschen bedacht, in der Gesellschaft, 5 Andrea Rossi. Der Satz ist der Doktorarbeit „Storie di vita nelle tossicodipendenze“ (Geschichten vom Leben in Drogenabhängigkeit), S. 82, entnommen. 29 in der wir leben, als vollwertige Bürger betrachtet zu werden, hat in mir jenen Motivationsschub verstärkt, der für alle unabdingbar ist, die beruflich im Sozialbereich tätig sind. In diesem Sinn vermittelt die folgende Lebensgeschichte allen Lehrern, Müttern, Vätern, öffentlichen Verwaltern, Bürgern und Jugendlichen eine klare Botschaft. Diese Botschaft zu beachten ist schlicht eine Frage des Lebens oder Todes der Seele, des Stillstandes oder der Bewegung, des Mutes oder der Angst. Ich entschuldige mich bei allen, die beim Lesen dieser Zeilen eine übermäßige Strenge wahrnehmen könnten. Ich lade aber dazu ein, darüber nachzudenken, warum es häufig geschieht, dass man dem Anderssein den Rücken kehrt, obwohl man weiß, dass wir früher oder später alle jemand brauchen werden. Gute Lektüre! … Lara und Sonia … Lara, die Tochter von Sonia, wurde freudig begrüßt, wie alle Neugeborenen. Die Mutter wusste nicht, dass Lara mit großen Problemen zur Welt gekommen war, wie sich später herausstellte. Niemand hatte ihr etwas gesagt. Der Vater, der über die Situation unterrichtet war, hatte diese verheimlicht, um Lara und seiner Frau ein unbeschwertes Heranwachsen zu ermöglichen. In der ersten Zeit hatte Sonia nichts bemerkt und erzählt uns: „Gott sei Dank, wenn ich gewusst hätte, dass Lara in ihrem Leben nicht gehen oder sprechen können würde, wäre ich wahrscheinlich verzweifelt und hätte meine Reaktion auch dramatisch sein können“. Nachdem ihr die tatsächliche Situation bewusst geworden war, hat Sonia weiterhin ein ganz normales Leben geführt und Lara alles tun lassen, was ein gesundes Kind tun würde. Lara führte sogar ein aktiveres Leben als viele ihrer Altersgenossen und wuchs mit einem Lebensprojekt auf, das ihr Glück behütet hat und behütet. 30 Die Mutter lässt sie alles tun, was ein Kind in ihrem Alter macht, vielleicht auch ein bisschen mehr: Lara ist auf Rutschen gestiegen, auf Schaukeln, hat gerodelt, mit zwei Monaten hat sie bereits geschwommen. In den ersten Lebensjahren stimuliert Sonia ihre Tochter sehr, unbewusst, denn damals wusste sie nicht, wie wichtig das war; sie hat es erst im Lauf der Zeit begriffen. In diesem Zusammenhang wendet sie sich an junge Eltern, die das Gleiche durchmachen wie sie, und fordert sie auf, nicht den Mut zu verlieren. Sonia schlägt vor, die eigenen Kinder mit jeder Art von Anreiz zu stimulieren, auch wenn er banal oder mühsam erscheinen mag; einen Baum beobachten, auf Wörter, Geräusche achten: „Mein Glück war es, dass ich verstanden habe, wie wichtig meine ständige Gegenwart war, so habe ich meine Arbeit aufgegeben. Das Erste, was man fast immer aufgeben muss, wenn ein behindertes Kind zur Welt kommt, ist die Arbeit; das Kind braucht eine konstante Rehabilitation, es stehen zahlreiche ärztliche Untersuchungen, Verpflichtungen usw. an …“ Der Stress für ihre Familie ist beträchtlich: von der Verzweiflung zum Nicht-wahrhaben-Wollen, von der Wut zur Frustration, von der Angst, dass sich der Gesundheitszustand des eigenen Kindes verschlechtert, zur Hoffnung. Sonia gesteht uns, dass es schwierig ist: „Ich glaube, anstelle der Haut wächst dir Leder … ja, ja … Leder wächst dir. Es ist ein mühsames Gepäck fürs Heranwachsen: man verbittert mit der Zeit, weil man ständig zu kämpfen gezwungen ist. Wie gern würde ich nur Mutter sein, aber das geht nicht, weil du dich um alles kümmern und über alles gut informiert sein musst, was dein Kind betrifft. Fast immer war ich es, die Vorschläge machen, sich über die Neuheiten bezüglich der technischen Hilfsmittel für das Haus, für die Schule usw. informieren musste …“ Sie ist der Meinung, dass die Beratung, vor allem die fachärztliche, Aufgabe der Institutionen sein sollte: es sollte kompetente Personen geben, die dafür zuständig sind, die Familie zu entlasten und ihr zu helfen, unbeschwerter zu leben. 31 In diesem etwas beschwerlichen Lebensabschnitt wurden viele Energien investiert. Es ist schön zu wissen, dass Lara und ihre Familie in diesen Jahren vielen Menschen begegnet sind: „Ich habe viele nette Leute kennengelernt!” erzählt uns Sonia. „Andererseits aber gibt es Familien, die wegen der schweren Behinderung – sowohl körperlich als auch geistig – ihres Kindes viele ehemalige Freunde verloren haben. Das ist grausam! Du musst nicht nur diese schmerzliche Erfahrung in Angriff nehmen, du musst auch mit der Gleichgültigkeit und Ignoranz der anderen fertig werden“. Die wichtigste Person für Sonia in diesen Jahren war ihre Mutter. Nun, da sie nicht mehr ist, erinnert sie sich mit großer Sehnsucht an sie und wendet sich in ihrer Erzählung an mich, mit zitternder, vor Ergriffenheit erstickter Stimme: „Da waren ich und sie, meine Mutter, mit der Zuneigung vieler Freunde, richtiger Freunde, die ich seit dreißig Jahren habe und die immer noch meine Freunde sind. Wir haben andere kennengelernt … viele, viele gute Freunde“. „Das ist Laras Verdienst, denn sie ist ein sympathisches junges Mädchen, eines, das man einfach gern hat, und das war ein wichtiger Aspekt, der neue Freundschaften hat entstehen lassen. Dann meine Brüder, Laras Onkel, die sie alle ein bisschen vergöttern, und ich weiß, dass ich jederzeit auf sie zählen kann. Diese besonderen Kinder hast du noch mehr lieb, nicht weil ich es sage, sondern weil sie es sagen“. Unter den Spezialisten, Physiotherapeuten, Logopäden und Neuropsychiater haben Lara und ihre Familie häufig aufmerksame und hilfsbereite Personen vorgefunden: „Unsere Kinder sind ein bisschen auch ihre Kinder“, versichert sie. Ihre Kraft und ihr Verantwortungsgefühl haben Sonia veranlasst, immer auf die Bedürfnisse ihrer Tochter bedacht zu sein, sich zu informieren und in den verschiedenen Situationen einzugreifen: “Ich muss die Erste sein, die versteht, was zu tun ist und was mit meiner Tochter geschieht, ob es Ergebnisse gibt oder nicht; darum gehöre ich zu jener Kategorie Eltern, die ständig in alles ihre Nase stecken. 32 Das Vertrauen baust du dir mit der Zeit auf, du spürst es, und ich hatte das Glück, Personen zu begegnen, die es sich zu verdienen wussten. Wir Eltern müssen fast jedes Jahr neues Vertrauen zu irgendjemand aufbauen: es wechselt der Schulbetreuer, der Stützlehrer, der Klassenlehrer. Wir müssen das Vertrauen regelmäßig wieder aufbauen! Das ist nervenaufreibend, denn kaum hast du dich an jemand gewöhnt und weißt, wie er arbeitet, und stellst dich auf ihn ein … zack! … kommt ein anderer. Verstehst du, die Kontinuität, von der so viel die Rede ist, ihre Wichtigkeit. Ich hatte jedenfalls Glück, ich habe immer klar meine Meinung gesagt, und das hat man geschätzt. Ich habe keine besonderen Ansprüche, ich möchte nur sagen, dass man bei unseren Kindern nicht mit der Zeit spielen darf: die Zeit bestimmt den Grad der Selbstständigkeit, der erreicht wird; ob er größer oder kleiner ist, hängt von der Schnelligkeit und Ernsthaftigkeit der Maßnahmen für unsere Kinder ab. Wenn zum Beispiel in der Schule ein Computer einen Monat ausgeschaltet bleibt, weil eine Steckdose fehlt, macht mich das wütend: wenn eine Steckdose fehlt, gebe ich dir bis morgen Zeit, denn das Kind muss mit dem Computer arbeiten. Bei solchen Missständen ärgere ich mich, gerate ich in Streit!“. Steckdosen! Die Tatsache, dass es im Erziehungsbereich zu solchen Situationen kommen kann (die Steckdose! Das ist nur eines von vielen Beispielen), ruft Zorn und ungläubiges Staunen hervor. Ist das Problem generell auf fehlende Motivation, Sensibilität, Begeisterung für den Sozialberuf zurückzuführen? Jeder von uns suche sich seine Antwort: ich sage nur, dass die Verantwortung des Bürgers eine individuelle und unbestreitbare Verantwortung ist und dass die Qualität der schulischen und sozialen Integration eines der wesentlichen Elemente einer Zivilgesellschaft darstellt. Das Problem betrifft die für die Integration verantwortlichen „Personen“, weniger ihre Berufsausbildung, ihren Studientitel, ihr politisches und religiöses Credo: es bräuchte nur ein Minimum an Menschenverstand, um sehr viel auszurichten, 33 und vielleicht ist es zu idealistisch zu denken, dass im Erziehungsbereich diese wertvolle Zutat von vornherein gegeben ist. Sehen wir nun, was im sozialen Leben der befragten Familie im Kontakt mit den Menschen, in den täglichen Beziehungen passiert. Sonia berichtet uns von einer ganzen Reihe von Situationen, die mich an verschiedene Episoden in Fernsehserien erinnern, die einem tragikomischen Sciencefictionroman im Stil des Bologneser Schriftstellers Stefano Benni entnommen sind. Ist es etwa die Ausbildung, die wir genossen haben, das Erbe einer bis zum vorigen Jahrhundert vorherrschenden katholischen Kultur, durchtränkt mit Angst und Weltgerichten, die uns unfähig machen, die andersartigen Menschen in die Arme zu schließen? Kinder haben sehr viel weniger Vorurteile als Erwachsene, das wissen wir alle! Wo liegt also die Grenze zwischen Natur und Kultur, zwischen Spontaneität und Konstrukt, zwischen Wirklichkeit und Fantasie? Und weiter, was bedeutet Normalität? Und Abnormität? Im Vergleich zu wem und was? Und du, lieber Leser, traust du dir zu, zu bestimmen, unter welche der beiden Kategorien du fällst? Und doch, wenn wir auf der Straße einem Behinderten begegnen, ist einer der ersten Gedanken: „Der ist nicht normal“, behindert, armer Teufel, Pech gehabt. Also, wo ordnen wir uns ein? In die Welt der Normalen? Habt ihr gewusst, dass man den Begriff „behindert“ überall dort verwenden kann, wo eine Person wegen des Vorhandenseins einer „Barriere“ ein bestimmtes Ziel nicht erreichen kann? Wenn sich zum Beispiel der Bürgermeister ein Bein gebrochen hätte (wir wünschen es ihm selbstverständlich nicht), könnte er in Ermangelung eines Aufzugs nicht die Treppe hochsteigen, also sein Haus nicht betreten. In diesem Fall wäre der Bürgermeister ein Behinderter. 34 In unserer Kultur jedoch sind die Behinderten nur diejenigen, die eine körperliche Beeinträchtigung aufweisen, und sie werden für immer stigmatisiert: die Situation der Behinderung stellt ein Hindernis dar, das in dem Augenblick überwunden werden kann, da es auftritt. Alle können im Leben Behinderte sein, ein, zwei, drei Mal … Den chronisch oder akut Behinderten gibt es nicht, weil der Begriff der Behinderung zeitlos ist, vorausgesetzt, wir verwechseln ihn nicht mit dem Begriff der Krankheit. Warum also verwenden wir diesen Begriff weiterhin nur für Personen mit Down-Syndrom oder im Rollstuhl? Die Gefahr besteht darin, dass man beleidigt! Die Behinderung, die Einschränkung, kann Teil des Lebens aller sein, jeden Tag, mehrmals am Tag. Ich halte es für angebracht, auch über diese Fragen nachzudenken, um damit zu beginnen, den Akzent auf jene Aspekte zu legen, die mit dem Begriff „Andersfähigkeit“ verbunden sind: hier geht es nicht darum zu sagen, was besser und was schlechter ist, welcher Begriff richtig und welcher falsch ist. Es ist schlicht eine Frage von … Ändersfähigkeit: andere Fähigkeiten. In dieser Aussage kann es keine negative oder positive Konnotation geben, es gibt nur die Zuerkennung einer „anderen Fähigkeit“, jeder hat seine. Genau diese Zuerkennung erlaubt den Menschen die Ausbildung einer sozialen Identität: jemand, der sich auf Holzbearbeitung versteht, wird in der Gesellschaft als Tischler angesehen, jemand, der zeichnen kann, wird als Maler angesehen; wird jemand, der blind oder tetraplegisch ist und sich aufs Schreiben versteht, zuerst als Schriftsteller oder als Behinderter gesehen? Welches ist seine soziale Identität? Was zählt mehr, wenn man ihn betrachtet, ihm eine soziale Rolle zuweist: seine Behinderung oder seine Fähigkeit? In unseren Augen ist klar, dass zuerst der körperliche oder sensorische Mangel auffällt, also das Fehlen eines Körpergliedes oder der Sehkraft. Wenn wir aber andere 35 Schlüssel verwenden würden, könnten wir uns fragen, was im Leben eines Menschen mit anderen Fähigkeiten vorhanden ist, nicht nur, was fehlt oder nicht funktioniert. Ich schließe meine Überlegungen mit der Feststellung, dass wir zuallererst Menschen sind, mit Fähigkeiten, mit einer sozialen Identität, die uns die anderen zuerkennen, mit einer persönlichen Identität, die wir uns selbst zuerkennen. Im Prozess, der den Menschen dazu bringt, sich eine persönliche Identität zu schaffen, sind wir also alle verantwortlich. Im Licht dieser Betrachtung ist nun der geeignete Moment gekommen, um über die Aussage von Sonia bezüglich des Verhältnisses zu den Dorfbewohnern nachzudenken: „Was ich in der Beziehung zu den Menschen suche, ist die Normalität“, sagt sie uns. „Ich war erschüttert, wenn ich auf den Spielplatz ging und einem Alten begegnete, der zu Lara sagte: „Du bist aber ganz schön verwöhnt, warum isst du dein Keks nicht allein, warum hältst du deinen Schnuller nicht allein und warum hast du so einen komischen Kinderwagen“; oder: „Du bist so groß und hast schon so große Zähne, und du kannst noch nicht gehen?“ „Ich habe einen Lastwagen voller Frustrationen in dieser Hinsicht. Das war es, was mich am meisten störte; mit den jungen Leuten passierte das nicht so häufig. Dann gab es auch die kleinen Kinder, die sich fragten, warum Lara im Rollstuhl saß: es störte mich sehr, wenn der Vater oder die Mutter das Kind wegzerrte und zu ihm sagte: „Ich sage es dir, wenn wir zu Hause sind, es hat etwas am Bein“. Das machte mich zornig, weil es mit den Kindern leicht wäre, über das Anderssein zu reden, auf natürliche Art. Wenn ich persönlich erklären konnte, warum Lara nicht tat, was sie taten, verstanden sie das Problem und gingen mit Laras Schwierigkeiten ganz natürlich um. Diese Dinge habe ich jetzt überwunden, doch damals waren sie eine schmerzliche Erfahrung für mich. Den Kindern aber erklärte ich es, wenn sich die Gelegenheit bot, denn die Kinder wollen verstehen. Ich beantwortete ihre Fragen und sagte ihnen, dass Lara auf ihre Art und Weise spielt, und sie spielten mit ihr. Mit 36 den Kindern fiel es mir leicht, während es mit den Alten … lassen wir das … ich lächelte oder ging weg. Lara ist immer sehr schön gewesen, sehr hübsch, oft aber passierte es, während wir spazieren gingen, dass sich manche fast unverfroren umdrehten und ich dachte: „Zum Teufel, sei doch ein wenig …“, doch die Alten sind halt so, andererseits sind es nicht viele Jahre, seit die Behinderten aus dem Haus gehen. In den Tälern, so hört man, ist es noch schlimmer, da gilt so was als von Gott geschicktes Unglück, während wir junge Eltern mit unseren kleinen Kindern immer spazieren gingen. Heute gibt es mehr Bewusstsein gegenüber der Behinderung und ein Behinderter geht ganz normal aus dem Haus. Weißt du, wie oft sie mich eine Unglückliche genannt haben? Wir haben es aber nicht nötig, uns als … die Ärmsten bezeichnen zu lassen! Das Mitleid brauchen wir nicht! Ein Blick von oben Die Aussage von Sonia bezüglich „Mitleid“ erinnert mich an die Worte in einem Buch, das ich vor einiger Zeit im Zuge der Abfassung meiner Dissertation gelesen habe. Der Autor ist Erving Goffman und der Titel des Buches lautet „Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität“6. Ich nehme die Gelegenheit wahr, um einige Betrachtungen dieses bekannten und angesehenen Sozialwissenschaftlers des vergangenen Jahrhunderts einzuflechten. Der „Mangel an Gesundheit“, der häufig einhergeht mit dem Verlust sozialer Chancen wie zum Beispiel Arbeit, erleidet nicht selten einen zusätzlichen Schaden: die Demütigung durch die vielen täglichen Interaktionen, in denen man zunächst nicht als Mensch behandelt wird, sondern im Hinblick darauf, was der eigene Zustand darstellt. Der Blick der anderen hat keine Zeit, sich beim Vor- und Nachnamen 6 Erving Goffman, Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1967. Orig.: Stigma. Notes on the management of spoiled identity, Englewood Cliffs, N. J.: Prentice-Hall, 1963. 37 eines jeden aufzuhalten: die Beeinträchtigung und die daraus resultierende Behinderung haben die Oberhand. Nur wenn die Absicht und das Interesse vorhanden sind, dem Menschen zu begegnen, ist man in der Lage, über die „schwer verträgliche“ Wirkung des ersten Etiketts hinauszugehen. Nur so erwirbt man in den Augen des anderen nach und nach die wirkliche Identität und wird ein bisschen weniger „krank“, ein bisschen weniger „bedauernswert“, ein bisschen weniger „behindert“: der Mangel bedingt die gesellschaftliche Distanz, die zumindest am Anfang da ist. Die Beziehungen werden von dem geregelt, was am offenkundigsten ist: die Blindheit zum Beispiel, die den Menschen vor unseren Augen verbirgt. Nur im Lauf der Zeit und mit dem Kennenlernen des Individuums wird das Verhalten gegenüber jenem „Blinden“ nicht mehr von dem bestimmt, was seine fehlende Sehkraft in uns hervorruft. Wenn aber die soziale Vorstellung eines Phänomens an das Vorurteil gebunden ist und zu Ausgrenzung und Misskredit führt, ist das erste Zeichen, das die „Andersartigen“ in der Beziehung spüren, ein Gefühl der Diskriminierung. „Respekt“ im Sinne einer Einstellung und Haltung der Achtung gegenüber der Würde oder dem Wert eines Menschen sowie Behandlung als „Berechtigter“; keinesfalls eine Leistung, die als Zugeständnis, Entgegenkommen, gleichsam als unter der Hand erwiesene Gefälligkeit aufgefasst wird, die auf der einen Seite „Überlegenheit“ und auf der anderen „Mitleid“ und Bedauern durchblicken lassen kann, zwei Seiten derselben Medaille, die „Diskriminierung“ heißt. Das Interview mit Sonia geht weiter, und nun stelle ich ihr die meiner Meinung nach spannendste Frage, deren Beantwortung voll und ganz die Absicht erreicht, die realen Aspekte aufzuzeigen, die das Leben der Menschen mit anderen Fähigkeiten betreffen. 38 Was lehrt uns Laras Leben? Sonia antwortet: „Es passiert mir häufig, dass ich Menschen begegne, die sich wundern, wie viel Energie wir haben. Immerzu etwas organisieren, Lara in den Rollstuhl setzen und aus dem Rollstuhl heben, an die 15 Mal täglich, sie zum Skifahren, Schwimmen, ins Kino, zu einer Ausstellung bringen usw. … und sie fragen sich: „Woher nehmen die bloß diese ganze Energie?“ Nun … ich muss sagen, dass ich davon überzeugt bin, dass wenn einem diese besonderen Kinder geschenkt werden, dann wird uns auch die Kraft geschenkt, sie in bestmöglicher Weise aufzuziehen. Ich bin auch überzeugt, dass diese Kinder Familien geschenkt werden, die dann zu besonderen Familien werden. Ich möchte, dass unsere Erfahrung als Beispiel für alle jene dient, die oft unzufrieden sind, die sich wegen einer Kleinigkeit entmutigen lassen. Sie sollten das Leben mit mehr Gelassenheit und Vertrauen angehen, sie sollten sich bewusst werden, wie glücklich sie sein können, auch nur gesund zu sein. Alle anderen Probleme lassen sich lösen, man muss es nur wollen und keine Angst haben, sie anzugehen. Wir fühlen uns glücklich, wir schimpfen selten darüber, was uns zugestoßen ist. Wir werden allenfalls dann traurig, wenn wir an die Leiden denken, die Lara wegen ihres Zustandes durchmacht, für sie ist es mühsam, mit den vielen Unterschieden fertig zu werden, mit denen sie täglich zu kämpfen hat; sie wird niemals Moped oder Auto fahren, eigenständig in die Diskothek gehen können …; sie wird immer jemand haben, der für sie entscheidet, und sei es auch nur in geringem Umfang, wobei zumindest die Hoffnung besteht, dass sie auf Menschen trifft, die sie gern haben, die ihre Entscheidungen respektieren, die sie liebevoll auf dem Lebensweg begleiten, der ihr zugewiesen wurde. Ich bin überzeugt, dass sich viele ein wenig besser fühlen, wenn sie darüber nachgedacht haben, wie der Tag eines Behinderten und seiner Familie abläuft. Das Unglück der anderen hilft dir, dein eigenes als weniger schwer zu empfinden. Das habe ich oft gemerkt! Manche sagen zu mir: „Ich weiß nicht, wie ihr das macht“ … man schafft es, man schafft’s … natürlich sind die Tage schwer wie 39 Ziegelsteine, ab und zu habe ich Mühe, mich um alles zu kümmern, was im Lauf des Tages anfällt, doch der Mensch passt sich an alles an … wenn du einen Menschen in den Dschungel schickst, kommt er zurecht. Wir haben nette Familien kennengelernt, wirklich nette Familien. Daran denke ich: dass unsere Erfahrung ein positives Beispiel für die anderen sein kann. Als Lara klein war und man noch nicht wusste, welche Probleme sie hatte, sagte einmal jemand, ein Arzt, den ich nicht besonders hoch achtete, zu mir: „Diese besonderen Kinder haben die Gabe, das Leben positiv zu verändern, und das Leid, das ihr in diesem Moment durchmacht, wird euch helfen, bessere Menschen zu werden“ … Ich erinnere mich, dass mir diese Worte damals im Hals stecken blieben. Im Lauf der Jahre habe ich feststellen können, dass es tatsächlich so ist. Das Leiden macht dich zu einem besseren Menschen, … du verstehst Dinge, die du vorher nicht verstanden hast. Auch ich habe mich darüber gewundert … … nicht das schöne Leben verändert dich, sondern das Leiden. Bevor ich diese biografische Arbeit abschließe und wir die letzte Antwort Sonias bezüglich des Vorurteils der Menschen gegenüber der Behinderung hören, möchte ich euch das bemerkenswerte Zeugnis einer Person unterbreiten, die an multipler Sklerose leidet: in den meisten ihrer Worte finde ich den Sinn dieser unserer Arbeit wieder. Sowohl der gesunde Geist als auch der gesunde Körper können gelähmt sein. Die Tatsache, dass die „normalen“ Menschen in der Lage sind, sich zu bewegen, zu sehen, zu hören, bedeutet nicht, dass sie sehen oder hören. Es kann sein, dass sie vollkommen blind gegenüber den Dingen sind, die ihr Glück zerstören, taub gegenüber den Bitten der anderen um Freundlichkeit und Zuneigung. Wenn ich an die „Normalen“ denke, fühle ich mich nicht mehr gelähmt oder invalide, als sie es sind. Vielleicht bin ich in meinem Kleinen ein Instrument, um ihnen die Augen zu öffnen über die Schönheiten, die uns umgeben: ein warmer und 40 herzlicher Händedruck, eine Stimme, die ungeduldig darauf wartet, einen Gruß auszusprechen, die Frühlingsbrise, die Musik zum Anhören, eine Geste inniger Freundschaft. Diese Leute sind wichtig für mich und es freut mich zu wissen, dass ich ihnen helfen kann7. Die letzte Frage, die ich Sonia stelle, lautet: Welches ist die erste Barriere in unseren Köpfen, die beseitigt werden müsste, und welches sind die Vorurteile der Menschen gegenüber dem Anderssein? „Die erste Barriere, die es wegzuräumen gilt, ist sicher die Angst, die pure Unwissenheit. Wenn du nicht weißt, wie du einer behinderten Person gegenübertreten sollst, verhalte dich auf die natürlichste Art und Weise, die es gibt, so wie du dich einem Freund gegenüber verhalten würdest, der nicht behindert ist, denn du hast es nicht mit einer gefährlichen oder ansteckenden Krankheit zu tun. Stellen wir uns nicht zu viele Fragen, wenn wir jemand sehen, der anders ist als wir, nehmen wir ihn so, wie er ist! Ich glaube, dass von allen Formen des Andersseins die Behinderung diejenige ist, die am meisten Angst macht. Mir fällt ein, wie ich am Meer war – Lara war gerade auf die Welt gekommen – und noch nicht wusste, welche Probleme wir mit ihr bewältigen mussten: Im Restaurant befand sich eine Gruppe Jugendlicher mit geistigen Behinderungen. Tja, in jenem Augenblick habe ich gebetet, dass nicht auch wir zu jener Schar dort gehörten … Ich wollte mich wirklich abgrenzen, diese Welt war so fern von mir. Darum wundere ich mich nicht, dass es so schwer ist, jemand an sich heranzulassen, der niemals etwas Derartiges durchgemacht hat. Wenn ich nämlich junge Menschen wie dich sehe, möchte ich verstehen, was dahinter ist; denn nur wenn du eine entsprechende Erfahrung hast … einen Schulkameraden, einen Bruder, Onkel, kommst du dieser Welt näher. Die Behinderung ist noch so weit entfernt von der Normalität. Meiner Meinung nach steckt immer eine Erfahrung dahinter, die dir jene 7 Ebd., S. 12 (it. Ausg.). 41 Sensibilität verliehen hat, welche dir die Angst nimmt; die Sensibilität, diese Formen des Andersseins auf natürliche Art und Weise zu erleben. Wir brauchen Menschen wie dich, Vereinigungen, Freiwillige. Man muss sich etwas überlegen, um die einen näher an die anderen heranzubringen. Die Behinderten sind die Ersten, die Freunde suchen. Wenn ich mich umschaue, dann sind die Behinderten von zwanzig Jahren aufwärts häufig zu Hause eingeschlossen und haben nur wenig gesellschaftliche Alternativen. Mit Schaudern denke ich daran, dass Lara niemals eine Verliebte sein wird, deren Gefühle erwidert werden, dass sie nicht die Lebenserfahrungen machen kann, die wir alle gemacht haben. Wissen, dass sie vielleicht ein Leben in Einsamkeit verbringen wird. Wenn sie ständige Freundschaften hätte … Wenn jemand kommt und zu ihr sagt: „Gehen wir Samstag aus?“, schminkt sich Lara, kleidet sich an, organisiert sich, hat eine unglaubliche Freude. Sie fragt mich oft, warum sie nicht ausgehen kann wie die anderen … … nun, das erwarte ich mir von den Nichtbehinderten: Menschlichkeit, Freundschaft! Lara fragt mich, warum sie nur mit Behinderten Umgang haben darf, sie möchte gesunde Leute kennenlernen, normale Leute. Das ist ein Kummer, der mein Herz bedrückt: außer der Behinderung auch noch die Einsamkeit. Unsere Kinder haben das Recht, in einer vereinten Familie zu leben, die ihnen die Kraft gibt, in eine freudvolle Zukunft zu blicken; ein Recht, das übrigens allen Kindern der Welt zusteht. Lara freut sich ständig, jeden Tag, auch wenn manchmal … … aber noch viel zahlreicher sind die Freuden, die sie uns schenkt … Ein herzliches Dankeschön für die Unterstützung bei der Abfassung: Alessandro Colombi, Emil Girardi, Lorena La Rocca, Elena Lorenzani, Kathrin Steinmann, Giovanna Mengarda, Nicola Laurora (Autor der Spirale) und Vanessa Macchia. 42 DIE KRAFT DER TRÄUME aufgeschrieben von Elena, Schulbetreuerin Lara ist ein hübsches junges Mädchen von 16 Jahren, die dichten, lockigen roten Haare lassen sich nur mit Mühe bändigen, das Lächeln ist verschmitzt und gewinnend. Die Augen aufmerksam, auch wenn der Blick manchmal ihrem Willen entgleitet, die Bewegungen sind mühsam, bisweilen unkontrolliert, aber sie sind imstande, im Verein mit ihrem hellen und ansteckenden Lachen die Stimmung, die Gemütsverfassung, die Gefühle auszudrücken, die sie empfindet. Die Worte kommen ihr mühsam, aber kraftvoll über die Lippen, sie sind überlegt, abgewogen, ehrlich, direkt: sie vermitteln das Bild einer Kämpferin. Am Anfang bin ich etwas verlegen, ich komme nicht umhin mich zu fragen, ob es richtig ist, in ihrem jungen Leben zu stöbern. Es genügt ein Augenblick und sie räumt meine ganze Unsicherheit beiseite. Ihr sympathisches Wesen bewirkt, dass ich mich sofort wohlfühle, und sie erzählt von sich, einfach, unbefangen, aufrichtig. Als ich ihr Haus verlasse, nehme ich tausend Eindrücke mit, gehen mir viele Gedanken durch den Kopf. Jenes Mädchen, das mich kaum kannte, hat mir ihr Herz geöffnet, hat nicht nur meine Fragen beantwortet, hat mich zur Hüterin ihrer größten Träume gemacht, Träume, die mich zuerst aus dem Konzept gebracht und verwirrt und dann berührt haben. Träume einer Heranwachsenden, die gezwungen ist, im Rollstuhl zu sitzen, einem Rollstuhl aber, der die Funktion ihrer Beine übernommen hat, der dazu dient, ihren Körper aufzunehmen, nicht aber ihre Gedanken, ihren Kopf. Der Kopf ist auf eigene Faust unterwegs, kann träumen, kann denken, erlaubt ihr zu studieren, zu lernen, ihr Leben zu planen. Ihre Gedanken sind nicht unbeweglich wie ihr Körper, sondern sie fliegen hoch hinaus, oft fliegen sie den Noten 43 eines Liedes hinterher und kreisen mit der Fantasie, leicht wie eine Libelle. Auf dem Nachhauseweg, mit der Aufzeichnung unseres Gesprächs in der Tasche und in den Ohren noch Laras Stimme, spüre ich den Wunsch, jedem, der mir über den Weg läuft, von meiner Begegnung mit diesem besonderen Mädchen zu erzählen. Ich möchte ihnen jenes Gewirr von Gefühlen mitteilen, das Laras Worte in mir zurückgelassen haben. Mein Leben ist um eine neue Erfahrung reicher geworden, die sich an jene anschließt, die mir durch all die anderen besonderen Kinder zuteil geworden ist, denen ich dank meines Berufes begegnet bin. Das kann ich natürlich nicht, aber ich tue es mit Hilfe dieser Zeilen, damit jeder, der sie liest, ihre Welt kennenlernen, erkunden und sich damit auseinandersetzen kann, die Energie, die sie über ihre Worte zu vermitteln vermag, in seine Seele einfließen lassen kann. Es ist nicht schwer, in ihre Welt einzutreten, jene unsichtbare Mauer zu überwinden, die uns von den Behinderten trennt. Es genügte, ihr in die Augen zu schauen, mit ihr zu reden und ihr zuzuhören, um zu entdecken, dass sie, obwohl bewegungsunfähig, fliegen kann. Ich wünsche allen, dass sie jene Mauer aus unbegründeten Ängsten überwinden und in bescheidener und natürlicher Art und Weise auf die Menschen mit einer Behinderung zugehen, weil hinter dem, was sichtbar ist, eine Welt voll reicher Normalität steckt. Lara Ich betrete Laras Haus auf Zehenspitzen, ihre Mutter Sonia empfängt mich mit einem herzlichen Lächeln. Hinter der milden und sanften Erscheinung steckt eine starke, mutige und entschlossene Mutter. Seit jeher steht Sonia an vorderster Linie im täglichen Kampf zur Verteidigung der Rechte ihrer Tochter, um ihr ein normales Leben zu garantieren; das bestmögliche Leben. 44 Ihre Gegenwart flößt mir Sicherheit ein, ich gehe davon aus, dass wir uns zu dritt unterhalten werden; ich sehe sie als wertvolle Verbündete, die mir helfen kann, die Worte ihrer Tochter ganz genau zu verstehen. Lara sieht mich aus ihrem Rollstuhl an, schenkt mir ein Lächeln, ist bereit für das Gespräch und bittet die Mutter, sich zu entfernen. Meine Sicherheit wankt, sie aber ist entschlossen; die Mutter darf nicht dabei sein! Sie will ihr Leben allein erzählen. Ich ahne, dass die Kraft und Entschlossenheit ihrer Mutter jetzt in ihre junge Seele eingemeißelt sind. Erinnerungen „Ich heiße Lara, bin 16 alt und lebe mit Mutter, Vater und einem kleinen Hund namens Luckj, der mir viel Gesellschaft leistet. Ich erinnere mich, dass die Mutter die Strengere war, als ich klein war, Vater war stets auf meiner Seite, er verteidigte mich, beschützte mich, aber ich sah ihn nur abends nach der Arbeit. Mutter hingegen war immer da, immer anwesend, immer auf meine Bedürfnisse bedacht, immer darum besorgt, mich zu beschützen. Als ich klein war, brauchte ich sie öfter … sie half mir bei allem Möglichen. Jetzt wird es mir zu viel! Auch wenn ich noch auf Hilfe angewiesen bin, ziehe ich es vor … würde ich es vorziehen, mir von jemand anderem helfen zu lassen, einem Außenstehenden, einem Freund. Ich erinnere mich, dass Mutter immer da war … “ Lara wiederholt mehrmals ein Wort, das ich nicht verstehe. Ich tue, als ob nichts wäre, fahre fort, stelle ihr eine andere Frage, doch sie besteht darauf, wiederholt das Wort noch einmal und immer wieder. Endlich verstehe ich: „Leider“. Leider war die Mutter immer da, leider bin ich auf ihre Hilfe angewiesen. Ich erinnere mich nicht, wie es war, als ich klein war, doch jetzt wird mir dieses Bedürfnis zu einer unerträglichen Last. Ich hätte so gern eine Schwester gehabt, ich habe immer darunter gelitten, dass ich keine Schwester hatte, habe die Gesellschaft vermisst, die sie mir hätte leisten können. 45 Als ich klein war, gaben sich vor allem meine Eltern mit mir ab, immer sie! Auch im Kindergarten, erinnere ich mich, waren immer Erwachsene um mich. Aus der Grundschule erinnere ich mich gern an meinen Deutschlehrer Markus. Mir gefiel Deutsch sehr gut, ich hatte ein Talent dafür, und er hatte eine interessante Unterrichtsmethode; er verwendete Puppen. Mit meinen Kameraden verstand ich mich nicht besonders gut, denn ich wollte und will mich weniger auf die Kameraden konzentrieren, sondern mehr darauf, was ich tun und lernen muss. So ist es jetzt, aber so war es auch, als ich klein war. Ich hatte eine Freundin, die meine Freundschaft jedoch nicht erwiderte: sie hieß Jessica, ich fragte sie, ob sie mit mir spielen wollte, aber sie sagte immer Nein! Ich habe eine persönliche Erinnerung an Lara in der Grundschule: fröhlich und im Schulhof während der Pause von Kindern umgeben. Ich sage es ihr und sie fragt mich, engelgleich: „Erinnerst du dich an Daniele?“ „Ich erinnere mich an ihn“, antworte ich ihr. „Daniele schob immer meinen Rollstuhl, aber nicht, weil ich ihm gefiel, sondern weil es ihm gefiel, mit ihm herumzufahren“. Diese Aussage bringt mich in Verlegenheit, ich zögere, verspüre das absurde Bedürfnis, sie vor diesen ihren Gedanken verteidigen zu müssen. Ich versuche sie davon zu überzeugen, dass es wahrscheinlich nur eine Vorstellung von ihr selbst ist, die jetzige Wahrnehmung einer fernen Erinnerung. „Nein! Das dachte ich auch, als ich klein war. Ihm gefielen Autos sehr und er hatte das Gefühl, eines zu steuern. Das ist alles. Jetzt ist es nicht mehr so, aber als wir klein waren, war es so“. Pläne Laras Jetzt ist durch das mühsame, ernsthafte und engagierte Studium am Liceo Classico-Linguistico gekennzeichnet. 46 „Es war meine Entscheidung, mich am Gymnasium einzuschreiben, schon seit der ersten Klasse Mittelschule war ich entschlossen, diese Schule zu besuchen, ich habe mich von niemand beeinflussen lassen. Ich möchte es wirklich schaffen, erfolgreich Sprachen zu lernen. Wenn ich groß bin, möchte ich Dolmetscherin werden oder mit Hunden arbeiten. Ich würde gern Behinderten-, Blinden- oder Rettungshunde abrichten. Wie Kommissar Rex. Ich habe mir immer einen deutschen Schäferhund gewünscht; meinen Luckj mag ich, aber er kann mir nur Gesellschaft leisten. Ein abgerichteter Hund könnte mir behilflich sein, mir die Sachen bringen … Außerhalb der Schule habe ich Freunde, in der Schule aber keine; das interessiert mich nicht, ich muss mich auf das Studium konzentrieren, auf die Prüfungen, ich will mich nicht ablenken lassen“. An dieser Stelle bitte ich Lara, sich ihre Zukunft vorzustellen. „Ich träume davon, eine Familie zu haben, zwei Kinder, eine Arbeit. Ich möchte wegziehen, vielleicht nach Deutschland in eine Großstadt. Die Großstadt ist meine Hoffnung, ich glaube, da ist alles leichter, leichter machbar. Hier muss ich für alles nach Bozen fahren, das Auto benutzen, und das heißt, von jemand abhängig sein. Ich aber möchte alles allein machen“. Während ich Lara zuhöre, die mir von ihren Lebensplänen erzählt, tauchen in meinem Kopf die wunderbaren Protagonisten aus dem Buch von Candido Cannavò „E li chiamano disabili8“ auf. Chirurgen, Schriftsteller, Sportler, Tänzer, Wissenschaftler, Manager, Journalisten, alle vereint durch denselben nachteiligen Ausgangspunkt, wie Lara grausam von der Natur bestraft. Und vereint durch dieselben Vorsätze, die sie ihr wechselvolles und häufig beschwerliches Leben selbstbewusst meistern ließen und zu Zielen geführt haben, die eine olympische Medaille verdienen würden. ……… „Ich will nicht auf Hilfe angewiesen sein!“ Leidenschaften Die Freizeit ist die Zeit der Träume, der Wünsche, der Leidenschaften, so ist es bei allen. Und so ist es auch bei Lara. 8 Candido Cannavò, E li chiamano disabili, Rizzoli 2005. 47 „Meine große Leidenschaft, eine wirklich starke Leidenschaft, ein Traum … ist der klassische Tanz. Seit drei Jahren erweckt der Tanz unbeschreibliche Emotionen in mir, kein anderes Interesse ist derart stark. Ich kenne die ganze Theorie über den Tanz, doch mit der Theorie kann man recht wenig anfangen. Um Tanz zu lehren, muss man Vorführungen machen, und das kann ich nicht, das werde ich nie können“. Dieser Traum trifft mich unvorbereitet, ich versuche die Aufmerksamkeit anderswohin zu lenken. Prompt unterbricht sie mich. „Zurzeit träume ich von nichts anderem, als zu tanzen; leider werde ich es nie tun können … aber ich habe mich damit abgefunden“. Ich versuche es noch einmal, hake mit anderen Fragen nach, doch sie lässt nicht locker und fährt fort: „Wenn ich jemand tanzen sehe, werde ich eine andere, ich habe verstanden, dass das meine Welt ist, es ist das, was ich in diesem Augenblick tun möchte“. Schließlich fange ich mich, bemerke meinen kindischen Versuch, sie von ihren Träumen abzubringen und vor ihnen zu schützen, und mir wird bewusst, dass Lara 16 Jahre alt ist und wie alle Gleichaltrigen in einer Welt lebt, die voll von vielleicht unerfüllbaren Träumen und Wünschen ist, so wie es die meisten Träume von Heranwachsenden sind. Wichtige Träume, weil sie ihr junges Leben erfüllen, und da zeige ich ihr endlich ohne Zögern mein ehrliches Interesse für diese ihre Leidenschaft. „Ich sehe mir immer die Tanzsendungen an, aber nicht nur im Fernsehen, ich habe den größten italienischen Tänzer tanzen gesehen, einen von der Scala. Meine Eltern haben mich zu einer Vorführung von ihm mitgenommen, als Belohnung für die Versetzung, ich hätte gern mit ihm gesprochen, ihm gratuliert, doch es ist mir nicht gelungen. In einer Bozner Diskothek habe ich auch Kledj kennengelernt … er hat mich auch geküsst. Nichts begeistert mich mehr, als wenn ich gute Tänzer tanzen sehe, eine so große Leidenschaft habe ich noch nie verspürt, sie ist auch größer als mein Interesse für Sprachen. Wenn ich jemand tanzen sehe, empfinde ich eine große Freude … danach bin ich ein wenig traurig. Letzten Sommer habe ich in Apulien eine wunderbare Tänzerin kennengelernt …“, sie sagt einen Namen, den ich nicht verstehe; ich denke, dass es nicht wichtig ist, aber 48 offensichtlich täusche ich mich, denn sie beharrt darauf. Mehrmals wiederholt sie vergeblich den Namen, schließlich ruft sie genervt die Mutter zu Hilfe, die aus einem anderen Raum – wobei sich die starke Bindung zu ihrer besonderen Tochter zeigt – sofort herüberruft: „ROSSELLA“. Ihr Gesicht öffnet sich zu einem Lächeln, ihre Augen leuchten und sie fährt fort: „Rossella habe ich letzten Sommer in Apulien kennengelernt, ich machte dort mit meinen Eltern Ferien. Es war sehr aufregend für mich, sie tanzen zu sehen … sie kennengelernt zu haben. Sie hat mir ein gutes Gefühl gegeben. Sie kannte mich nicht und hat mit mir geredet wie mit einem normalen Menschen und sie hatte kaum Probleme, mich zu verstehen, auch wenn ich französisch mit ihr sprach. Das Französische ist, wie du wissen wirst, die Sprache des Tanzes“. Es freut mich, dass sie mich für eine Expertin auf diesem Gebiet hält, und ich habe eindeutig das Gefühl, dass ich ab jetzt, jedes Mal, wenn ich jemanden tanzen sehe, unweigerlich an unsere Begegnung werde zurückdenken müssen, an ihren Traum, ihre ansteckende Begeisterung. Schmerzliche geistige Barrieren „Dank Rossella habe ich mich als normales Mädchen gefühlt, auch wenn ich diese Arbeit niemals werde machen können, sie hat mit mir geredet und mich verstanden. Es gibt eine starke Bindung zu ihr, sie hat mir vorgeschlagen, ihre Vorführung zu besuchen, ich werde hingehen! Seit ich sie gesehen habe, ist es für mich zu einer fixen Idee geworden. Dank ihr habe ich mich normal gefühlt und ich habe mir das nicht erwartet“. Geschieht das nicht oft? Ich wage es. Ihre Antwort kommt prompt, direkt, sie tut weh wie eine Ohrfeige. „Es passiert fast nie. Die Leute lassen mich spüren, dass ich anders bin. Sie erschrecken vor mir, das sehe ich an ihrem Verhalten. Sie sehen mich nicht an, sie reden nicht mit mir“. Mir fällt ein reizendes Märchen ein, das ich gerade meinem Sohn vorlese: „Il principe del lago”9, geschrieben von einem 9 CLAUDIO IMPRUDENTE, Il principe del lago, Erickson 2001. 49 außergewöhnlichen Menschen, einem Kämpfer in seiner vollständigen Bewegungslähmung, der dem Leben trotzt und Tag für Tag wichtige Zeichen darin hinterlässt, mit einer Zähigkeit, Kraft und Intelligenz, die mein Vorstellungsvermögen übersteigen. Claudio Imprudente schließt sein Märchen mit folgenden Worten: „ … Ich hatte vor jemand Angst, den ich nicht einmal kannte, nur weil ich sah, dass er nicht so war wie ich, und deshalb stellte ich ihn mir schlimmer vor“. „Am ersten Schultag redete niemand mit mir, es sprechen mich nur diejenigen an, die mich kennen. Oder sie reden mit mir, als ob ich ein kleines Kind wäre, nur weil ich im Rollstuhl sitze. Das geht mir sehr auf die Nerven … weil ich weiß, dass ich nicht normal bin, aber eine Sache ist es, wenn ich mir das sage, eine andere, wenn mir die anderen das sagen“. Wie viel Weisheit und Reife in diesen Worten, die zwar sehr schmerzhaft sind, jedoch mit großer Würde ausgesprochen werden. Erneut treffen mich ihre Aussagen, tun mir weh, und ich fordere sie auf, ihren Aufruhr hinauszuschreien, zu verlangen, dass man sie ansieht und anhört. Sie starrt mich ernst an und entgegnet prompt: „Ich glaube nicht, dass ich etwas Sonderbares an mir habe!“ Ich auch nicht, Lara, du hast nichts Sonderbares an dir, aber zweifellos hast du etwas, was dich zu einem ganz besonderen Menschen macht. Es ist kein Zufall, dass mir deine Geschichte die großartigen Persönlichkeiten wieder ins Bewusstsein ruft, die Candido Cannavò dargestellt hat. Sie hatten den Mut, sich mit keiner Einschränkung abzufinden, und sie haben die Behinderung zu einer Herausforderung gemacht, die sie bestanden haben. So wie sie, hast auch du uns etwas geschenkt: Die Kraft deiner Träume 50 DIE GESCHICHTE VON MONIA nach der Erzählung von Paula, ihrer Mutter aufgeschrieben von Ugo, Freiwilliger Seit vielen Monaten beteilige ich mich begeistert an einem Projekt, dessen Ziel es ist, die Lebensgeschichten behinderter Menschen und ihrer Familien zu sammeln. Diese sollen veröffentlicht werden, um die Leute für die Probleme der Behinderung in allen ihren Aspekten zu sensibilisieren. Insbesondere für die Schwierigkeiten, die die Menschen mit Behinderung und ihre Familien Tag für Tag bewältigen müssen, um ein möglichst normales Leben führen zu können. Deshalb habe ich Monia und ihrer Mutter vorgeschlagen, ihre jeweiligen Lebensgeschichten zu erzählen. Obwohl es einige Unsicherheiten gab, haben beide zugestimmt … Ich hatte Monia und ihre Mutter anlässlich eines Theaterprojekts kennengelernt, das vom örtlichen Sozialsprengel gefördert und organisiert worden war. Im Rahmen dieses Projekts waren wir viele Monate lang mit den Vorbereitungen für eine Theateraufführung beschäftigt, an der sich zahlreiche Behinderte beteiligten, die Gäste des Wohnheims „Zum Mohren“ waren, und zwar zusammen mit einigen Mitarbeitern des Wohnheims und anderen behinderten Menschen, die in der Familie leben, mit ihren Familienangehörigen, sowie einigen Freiwilligen, zu denen auch ich gehörte. Durch die Beteiligung an jenem Theaterprojekt lernte ich Monia und ihre Mutter kennen, da ich gemeinsam mit ihr auftrat. Monia ist ein sanftes und freundliches Mädchen von etwa dreißig Jahren, eher zurückhaltend und anscheinend ohne Probleme. Das Einzige, das ich bei ihr in der ganzen Zeit festgestellt habe, die wir mit dem gemeinsamen Proben verbrachten, war ihre große Schüchternheit und eine gelegentliche Schwierigkeit, sich auf Italienisch auszudrücken. Ich hatte dies 51 auf die Sprache zurückgeführt, da sie zu Hause deutsch spricht. Monias Mutter Paula, die Mutter von Monia, ist eine sehr entschlossene, sichere und überaus gesprächige Frau. Sie kündigt mir gleich an, dass sie die ganzen Schwierigkeiten und Bitterkeiten deutlich machen möchte, die sie in Kauf nehmen musste, ohne aber die persönlichsten und intimsten Aspekte ihres Lebens durchblicken zu lassen. Das Verhältnis zu den Sozial- und Gesundheitsdiensten Als Monia klein war, musste ich mit beträchtlichen Schwierigkeiten fertig werden, zuerst bei der Bestimmung ihres Krankheitsbildes und dann, um die für die Behandlung erforderlichen Medikamente zu bekommen. Leider gab und gibt es auf diesem Gebiet immer noch viel Bürokratie, sodass ich mich für eine konkrete Hilfe sogar im Ausland umsehen musste. Erst in Deutschland habe ich das Verständnis und die Hilfe gefunden, die sowohl für die Erstellung der Diagnose als auch für die Beschaffung der für die Behandlung erforderlichen Medikamente notwendig waren. Die Geburt Monias Als Monia auf die Welt kam, war sie ein hübsches Kind, völlig normal, scheinbar gesund und sehr lebhaft. Ich hatte damals eine sehr gute Stelle als Dekorateurin in einer Keramikfabrik, ich hatte bereits jemand gefunden, der Monia betreut und mir damit ermöglicht hätte, weiterzuarbeiten. Somit stellte ich mir, mit zwei Einkommen im Haus, meinem und jenem meines Mannes, ein ruhiges und unbeschwertes Dasein vor. Erst nach mehreren Monaten, als ich aufhörte, sie zu stillen, traten die ersten Anzeichen ihrer Krankheit auf: die Kleine hatte häufig Kontraktionen und erschien immer weniger lebhaft, doch die Kinderärzte, an die ich mich wandte, stellten das als unbedeutend hin, sie verstanden nicht, und dabei handelte es sich um die ersten Anzeichen einer heimtückischen Stoffwechselkrankheit mit dem Namen „Phenylketonurie“. Eine Krankheit, die bei verspäteter Behandlung 52 zu schweren Hirnschäden beim Kind führt, während sie bei rechtzeitiger Diagnose mit Hilfe einer geeigneten Ernährung und von Medikamenten unter Kontrolle gehalten werden kann. Unerfahrenheit und Leichtfertigkeit Noch heute quäle ich mich wegen der Unerfahrenheit und Leichtfertigkeit, mit der meine Tochter von einigen Ärzten behandelt wurde. Mit 15 Monaten war Monia sehr steif geworden, sie hatte Schwierigkeiten, sich zu bewegen, fühlte sich bisweilen wie ein Klotz an, und wenn man sie nicht stützte, fiel sie seitlich um. Ich erinnere mich stets daran, wie ein Primar aus Parma, wohin wir wegen einer sicheren Diagnose gefahren waren, eines Tages zu mir sagte: „Liebe Frau, Sie sind noch jung und können weitere Kinder bekommen, denn das ihre wird keine zwei Jahre alt werden“. Ungefähr so: Schaffen Sie sich ein neues Auto an, denn dieses hier ist kaputt und zum Verschrotten. Für mich waren jene Worte wie ein Stockhieb, ein fürchterlicher Schlag ins Herz. Ich hatte immer auf eine Lösung gehofft, doch in jenem Augenblick war jede Illusion dahin. Die Sonne verfinsterte sich für mich. Ich trat ans Fester und mir schien, die Sonne würde erlöschen. In Wahrheit ist für mich die Sonne heute noch verschleiert. Als sie dann verstanden, dass sie sich geirrt hatten, verschwand auch die Krankengeschichte. Diese Vorfälle haben unser Leben erschüttert. Mein Mann wollte den Rechtsweg beschreiten und Schadenersatz fordern, aber auch hier sind wir nur auf verschlossene Türen gestoßen. Wir haben uns auch an einen Rechtsanwalt gewandt, aber auch er konnte nichts erreichen und das Ganze wurde archiviert. Später erfuhr ich, dass man im Ausland mit der Forschung weiter vorangeschritten war, also wollte ich nichts unversucht lassen und wandte mich an die Universitätsklinik von Innsbruck in Österreich. 53 Zynismus und Unverständnis Ich erinnere mich an die Pilgerfahrten, die mich von Pontius zu Pilatus und wieder zurück führten, um meine Rechte geltend zu machen, an die langen Wartezeiten vor den Ämtern, um die erforderlichen Genehmigungen zu erhalten, damit Monia in Österreich behandelt werden konnte, wo ich zum Glück Freunde hatte, und dann die Kämpfe um Rückerstattung der extrem hohen Kosten für Medikamente und Diätprodukte, die für ihre Gesundheit wesentlich sind, ohne die sie nicht leben könnte. Dort erhielt ich endlich die ganze Unterstützung, die es sowohl für die Behandlung als auch für die Rehabilitationstherapien brauchte, und konnte mich so mit mehr Ruhe und Gelassenheit um meine Tochter kümmern. Trotz des gemeinsamen europäischen Marktes sind die Dinge auch heute noch gleich oder haben sich nur wenig geändert. Die diätetischen Produkte, die sie zum Überleben unbedingt braucht, sind extrem teuer und schwierig zu besorgen. Eine schwierige Entscheidung Meine Tochter brauchte damals – und braucht immer noch – meine ganze Bereitschaft und Zuwendung, was mein Mann nicht immer verstand. Irgendwann haben wir uns getrennt, auch weil sich unsere Beziehung mit der Zeit verschlechtert hatte; statt zu einer Hilfe, war er mir eine zusätzlichen Last geworden; er schien auch wegen meiner Hingabe eifersüchtig zu sein. Es kam immer häufiger zu Streitereien zwischen uns, auch Monia litt darunter und versuchte oft, von zu Hause wegzurennen, sich dieser Situation zu entziehen. Nun muss ich allein mit dieser Situation fertig werden, ich kann auch nicht auf meine Verwandten zählen, die weit weg wohnen. Leider ist diese Krankheit sehr selten, und meines Wissens gibt es in unserer Region keine Organisationen oder Vereine, die uns beraten oder behilflich sein könnten. Die einzige Möglichkeit, die uns bleibt, ist die, uns an die öffentliche Hand zu wenden, und somit muss ich mich jedes Mal, wenn ich eine ärztliche Leistung benötige oder Arzneimittel brauche, auf einen Kampf einstellen. 54 Vor vier Jahren ist zum Beispiel ein neues Diätprodukt auf den Markt gekommen, das die Einnahme des Wirkstoffs durch Briefchen ermöglichte, die einfacher zu handhaben waren als das ekelhafte Pulver in der großen Dose, die man immer mitnehmen musste. Ich habe mir eine Packung verschreiben lassen, die ich in München bestellt habe. Sie kostete damals eineinhalb Millionen Lire, eine Summe, die ich mir von meiner Schwester geliehen habe. Ich war überzeugt, dass sie mir von der Sanitätseinheit rückerstattet werden würde, aber stattdessen haben sie mir geantwortet, dass jenes Produkt nicht auf der Liste stehe, und daher: ein Papierkrieg, ich wurde monatelang von einem Büro ans andere weitergereicht, ohne dass ich etwas erreicht hätte. Mit der Ausflucht: „Der Wirkstoff ist in jenem Produkt enthalten, das sie bereits einnimmt“, so sagte man mir. Ich könnte ein Buch schreiben, wenn ich all die Schwierigkeiten aufzählen wollte, auf die ich jedes Mal stoße, wenn ich etwas bekommen möchte. Eine schwierige Jugend In dem Maße, wie Monia heranwuchs, wuchsen auch ihre Probleme, insbesondere jene im Zusammenhang mit der Eingliederung in die Schule, wo sie vielfach keine Lehrer angetroffen hat, die imstande oder bereit waren, auf ihre Probleme einzugehen. Das war auch später bei den mit dem Jugendalter zusammenhängenden Problemen der Fall, nämlich den Beziehungen zu den Kameraden, mit denen sie sich auseinandersetzte, und dann als junge Frau, als ihr meine mütterliche Freundschaft nicht mehr genügte und sie ihre Freundschaften auf die jungen Leute ihres Alters ausweiten wollte. Monia fürchtete sich vor der Konfrontation mit ihren Altersgenossen, sie fühlte sich nicht angenommen, vielleicht lag es auch an ihrer Unsicherheit und Schüchternheit. Heute arbeitet Monia als Kellnerin in einer Bar in Auer, die Arbeit gibt ihr die Möglichkeit, ihre ganzen Fähigkeiten zum Ausdruck zu bringen; leider sind die Arbeitszeiten seit einiger Zeit sehr anstrengend, das führt bei Monia zu einem Stresszustand und zu Unsicherheit. Die Schwierigkeiten hören niemals auf Vor Kurzem habe ich erfahren, dass die medizinische Forschung in Deutschland neue Medikamente und Diätprodukte entwickelt hat. 55 Leider ist unser Gesundheitswesen jetzt der Ansicht, dass die Voraussetzungen, um sich ins Ausland zu begeben, nicht mehr gegeben sind, und folglich würden sie mir die entsprechenden Ausgaben nicht mehr zurückerstatten. Ich bin aber überzeug, dass es hier bei uns noch viele Lücken auf diesem Gebiet gibt, und auch Monia, die jahrelang in München behandelt wurde, möchte ungern wechseln. Außerdem glaube ich, dass es hier bei uns keine anderen vergleichbaren Fälle gibt, mit denen man sich beraten und auseinandersetzen könnte, zudem kennen wir den Ort, die Klinik und die Ärzte sehr gut, da sie viele Jahre lang unser Bezugspunkt waren. Wir waren für lange Zeit dorthin gezogen, um uns die ständigen Fahrten zu ersparen, und außerdem wohnen einige meiner Verwandten und Freunde dort. Ich hoffe, dass meine Unannehmlichkeiten anderen nützen, denen das gleiche Schicksal widerfahren ist wie uns, dass sie vor allem aber dazu dienen, die Mediziner und Politiker anzuspornen, an die Lösung der unzähligen Probleme heranzugehen, die uns bedrücken. 56 JOLANDA UND ROBERTO, REISEGEFÄHRTEN aufgeschrieben von Maria Cristina, Erzieherin Der Stille eine Stimme geben und Angst haben, sie zu hören, wissbegierig, aber unfähig, mit Gefühlen umzugehen, die durch das Teilen des Schmerzes hervorgerufen werden, bereit für die Auseinandersetzung, aber zu wenig stark, um sie durchzustehen, das ist der rote Faden, der meinen Prozess des Kennenlernens von Jolanda und Roberto geleitet hat. Kein einfaches Leben, eine Geschichte, die so anders und so gleich ist wie die vieler anderer, mit gedämpfter Stimme erzählt, mit Würde und äußerster Nüchternheit, heiter und gelassen. Jolanda und Roberto, authentische Persönlichkeiten, miteinander vereint durch eine starke, untrennbare und einzigartige Bindung, wie sie nur jene zwischen Mutter und Sohn sein kann, haben eine Geschichte erzählt, ihre Geschichte, teils die gleiche und teils eine andere im Hinblick auf Intensität, Nuancen, Wahrnehmungen und Gefühle. Jolanda, eine zierliche und melancholische Frau, war imstande, die Prüfungen des Lebens in Angriff zu nehmen, das Schöne in den kleinen Dingen zu sehen, das Alltägliche und Einfache zu schätzen. Ruhig und gefasst hat sie sich von mir befragen lassen und mir erlaubt, die Erinnerung an die Vergangenheit, die Gewissheit der Gegenwart und die Ungewissheit der Zukunft zu teilen. Roberto, heiter und zuversichtlich gegenüber dem Leben, hat mir die Möglichkeit geschenkt, in seine einfache Welt einzutreten, und mir erlaubt, mit dem Geist und mit der Fantasie dorthin zu fliegen, wo alles möglich ist und jeder und alles die gleiche Würde und Daseinsberechtigung hat. Danke, danke von Herzen, Reisegefährten, dass ihr mir die Türen zu einer parallelen, deshalb aber nicht getrennten Dimension geöffnet habt, dass ihr mich für würdig befunden habt, den Schatz eines intensiv gelebten und hart erkämpften Lebens zu bewahren. 57 DAS RAUNEN EINES LEBENS … Etwas früher als ausgemacht, wie es sich gehört, ist sie zur Verabredung gekommen. Sie hat sich nicht ankündigen lassen, hat weder Vertraulichkeiten gestattet noch gesucht, hat auf einem Stuhl Platz genommen, etwas im Hintergrund, und geduldig auf den Beginn dessen gewartet, worin sie einige Zeit vorher eingewilligt hatte. Nachdem ich sie in einem gemütlichen Ambiente habe Platz nehmen lassen, hat sie ihre Tasche auf den Boden gestellt und begonnen, eine Geschichte zu erzählen, mit gedämpfter Stimme, mit einer streckenweise entwaffnenden Natürlichkeit und Nüchternheit: ihre Lebensgeschichte und die ihres Sohnes Roberto. Ich habe 1962 geheiratet, mit 22 Jahren, ebenso wie mein Mann. Wir hatten nie darüber gesprochen, Kinder zu haben, ich bin aber fast sofort schwanger geworden. Ich weiß nicht, ob mein Mann darüber begeistert war, aber die Tatsache, dass es ein Junge war, hat ihn meiner Meinung nach irgendwie mit Stolz erfüllt. Ich erinnere mich jedenfalls gut daran, dass ich während der gesamten Schwangerschaft ein Gefühl von Einsamkeit hatte. Vielleicht habe ich deshalb ungeduldig darauf gewartet, dass Roberto zur Welt kommt. Ich habe neun Monate lang davon geträumt, ihn in den Armen zu halten, und war davon überzeugt, dass ich ihn gut aufziehen und ihm die richtigen Dinge beibringen würde. Ich hatte jedoch nie irgendwelche Erwartungen in Bezug auf ihn, die werden immer enttäuscht, die Kinder gehen ihren eigenen Weg. Der Lebensgefährte Mein Mann ist jemand, der sich gern als „ganzer Kerl“ sieht. Er ist ein guter Mensch, einfach und wortkarg, wie meine Schwiegermutter, die ihre Gefühle nicht gern zeigt. Ich erinnere mich nicht daran, dass sie jemals einen ihrer Söhne spontan aus eigenem Antrieb in die Arme geschlossen hätte. 58 Ich glaube, er ist nie imstande gewesen, Verantwortung für etwas zu übernehmen. In gewissem Sinne ist er immer ein Feigling gewesen, bereit zu einem Spaß, aber wenn es ernst wird … Roberto kommt auf die Welt Als Roberto geboren wurde, war er ein Kind wie alle anderen, er aß viel und nahm zu. Die ersten Monate waren schwierig, nachts war ich immer wach, weil er häufig weinte; ich habe es aber gern getan, ich fühlte mich natürlich als Mutter. Ich erinnere mich, dass mich die Leute, denen ich beim Spazierengehen begegnete, häufig nach seinem Alter fragten: er war sehr frühreif. Plötzlich sein wahres Leben ……… An einem warmen Julinachmittag, Roberto war acht Monate alt, wollte ich ihn ankleiden, um spazieren zu gehen, da habe ich gemerkt, dass etwas nicht stimmt. Er hatte den Blick starr ins Leere gerichtet und es gelang mir überhaupt nicht, seine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. In wenigen Minuten waren wir im Krankenhaus. In jenen Tagen lag mein krebskranker Vater im Sterben und ich, die ich gelernt hatte, den Schrecken dieser Krankheit zu fürchten, wollte nur beruhigt werden, dass es sich um keinen Tumor handelte. Die Ärzte sprachen von einem epileptischen Anfall und diese Antwort vermochte mich irgendwie zu beruhigen. Nach ungefähr einem Monat kam ein zweiter Anfall und Roberto bekam Medikamente verschrieben, die imstande waren, die Situation zu stabilisieren und das erneute Auftreten von Anfällen zu verhindern. Die Schwierigkeit einer Beziehung Mein Mann erwies sich von Anfang an als ungeeignet, seine Vaterrolle einzunehmen, und als unfähig, das Problem unseres Sohnes realistisch zu betrachten. Er hat die Aufgabe, „das Kind“ zu betreuen, an mich delegiert. Alles, was er getan hat und was er stets tun wird, ist, ihn zu den Kontrolluntersuchungen zu begleiten, zumindest solange wir ein Auto hatten. 59 Ich kann nicht sagen, ob er sich seiner schämt oder ob die Beziehung zu Roberto ein Gefühl der versäumten Selbstverwirklichung wachruft. Mit Sicherheit ist es ihm nie gelungen, eine bedeutungsvolle Beziehung herzustellen. Er hat es ein paar Mal versucht, ohne dass es ihm jedoch gelungen ist, bis zum Letzten zu gehen. Robertos Grenzen Als Roberto drei Jahre alt ist, legt mir der Vergleich mit den anderen Kindern den Verdacht nahe, dass er mit der kognitiven Entwicklung in Rückstand ist. Ich merke es vor allem an seinen unzulänglichen kommunikativen Fähigkeiten. Anfangs habe ich die Schuld für seine „mentale Abgestumpftheit“ den Medikamenten zugeschrieben, die er einnahm, man brauchte aber nur zuzusehen, wie er mit den anderen Kindern spielte und mit Gegenständen hantierte, oder zu versuchen, ihm das Sprechen beizubringen, um zu verstehen, dass einiges mehr nicht stimmte. In diesem Alter deuten die Ärzte an, dass es sich um eine leichte Hirnschädigung handeln könnte, sie banalisieren aber das Ganze und richten das Augenmerk auf die epileptischen Anfälle. Die Kategorie der „anderen“ Erst 15 Jahre später, als Roberto eine Niere transplantiert wurde, konnte ich mir eine Vorstellung von der Komplexität seiner Krankheit machen. Bei dieser Gelegenheit wurde bei ihm eine Form von tuberöser Sklerose diagnostiziert, eine Krankheit, die die Weichteile angreift, eine Krankheit, die ihn in die Kategorie der „anderen“ verbannt hat und für immer verbannen wird. Im Vergleich mit den anderen Müttern sind nämlich „jemandes Kinder“ stets nur die „normalen“ Kinder gewesen. Nichtwissen erlaubt zu träumen … 18 Jahre lang habe ich nicht die Kraft und den Mut gefunden, Fragen zu stellen, eine Schädigung hieß für mich gar nichts … ich hatte Angst, dass er einen Hirntumor haben könnte. Das Nichtwissen erlaubte mir vielleicht zu träumen … 60 Robertos Bewusstwerdung Fünf Jahre nach der Geburt von Roberto kam meine erste Tochter zur Welt und kurz darauf die zweite. Mit dem Heranwachsen verschlimmern sich seine Probleme, sodass mich die kleinere Schwester bereits mit fünf Jahren eines Tages schamhaft fragt, was beim Bruder nicht stimmt. Als meine Töchter, obgleich jünger, eine nach der anderen Roberto in Bezug auf die Lernfähigkeit ein- und überholen, hat er selbst begonnen, sich seines geistigen Zurückbleibens bewusst zu werden. Die Schwierigkeit, zu leben Als wir einmal im Krankenhaus während einer Dialysesitzung über die Sterilisation unseres Kätzchen sprachen, um zu vermeiden, dass sie Junge bekam, hat mich Roberto gefragt, ob er und seine Schwestern je geboren worden wären, wenn man mich sterilisiert hätte. Auf meine Frage, ob es seiner Ansicht nach richtig gewesen wäre, mich zu sterilisieren und ob es für ihn einerlei gewesen wäre, auf der Welt zu sein oder nicht, antwortete er, dass es für ihn besser gewesen wäre, wenn er nicht geboren wäre, dann hätte er nicht leiden müssen. Nach diesem Vorfall fühlte ich mich lange Zeit schlecht. Das Verhältnis zu den „anderen“ Es war immer schwierig: Von klein auf hielten ihn die anderen Mütter wegen bestimmter Verhaltensweisen, die nur ich verstehen konnte, für ein böses Kind. In der Schule zeigte er sich bisweilen aggressiv und lebhaft, während es ihm nicht gelang, mit seinen kleinen Freunden eine positive Beziehung aufzubauen, sodass er allmählich ausgeschlossen und ausgegrenzt wurde. Er spielte mit ihnen, aber man spürte, dass es nicht ehrlich war. Roberto wächst heran … In der Jugend traten bei ihm Ängste und Phobien auf, die ich in der Kindheit nie bemerkt hatte. Ich glaube, dass die Verantwortung dafür meiner Schwiegermutter zuzuschreiben ist, die seine Krankheit nie akzeptiert, ihn immerzu angespornt und angeregt und dadurch in Stresssituationen gebracht hat, ohne zu verstehen, dass Roberto 61 zerbrechlich war und beschützt werden musste. Außer ihr und meinem Mann, der keine Gefühlsbindung zu ihm aufbauen konnte und wollte, scheint der Rest der Familie Robertos Krankheit problemlos zu akzeptieren, insbesondere mein Bruder, der ihn stets mit Geschenken und Aufmerksamkeiten überhäuft hat. Die Schule, das waren andere Zeiten! Die Schulgeschichte Robertos war durch Schwierigkeiten und Verzögerungen gekennzeichnet. Trotz der Befürchtungen der Direktorin bezüglich der Unzulänglichkeiten Robertos und nur dank der Hartnäckigkeit einer Kinderbetreuerin ist es mir gelungen, ihn im Kindergarten unterzubringen. Er war vier Jahre alt. Nach zwei Jahren waren wir wieder so weit wie vorher. Zu jener Zeit gab es nämlich die sogenannten „Sonderklassen“; diese waren aber für die schulische Eingliederung von Kindern mit Schulproblemen, auf keinen Fall aber von solchen mit kognitiver Retardierung bestimmt, wie sie Roberto hatte. Obwohl seine verbleibenden Fähigkeiten eindeutig größer waren als der Durchschnitt seiner anderen Kameraden, ist es mir also gelungen, ihn in ein Vorschulprojekt mit anderen Kindern einzugliedern, die unter schweren Formen von Behinderung litten. Erst im Alter von neun Jahren kann Roberto endlich ganztags in eine „Sonderklasse“ in Bozen eingegliedert werden, die er bis zum Alter von 13 Jahren besucht hat. Nach der Grundschule haben wir Roberto in die Berufsschule eingeschrieben, anschließend haben wir ihn in eine geschützte Werkstätte eingegliedert, die er bis zum Alter von 18 Jahren besucht hat, als bei ihm eine schwere Nierenerkrankung diagnostiziert wurde. Es hätte schlimmer kommen können … Mit der Zeit, während mein Sohn allmählich heranwuchs und seine Grenzen offenbar wurden, hat meine Enttäuschung gegenüber den Erwartungen als Mutter der Resignation Platz gemacht. Ich kann nur sagen, dass ich mich trotz des Unglücks für glücklich halte, denn es hätte schlimmer kommen können. Ich habe immer gedacht, dass 62 ihm alles in allem solch schwierige Situationen erspart bleiben würden, in die andere Jungen seines Alters häufig gerieten. Ich habe mich immer akzeptiert gefühlt, obwohl mir einige Vorfälle im Verlauf der Kindheit Robertos die konkrete Möglichkeit vor Augen geführt haben, dass er demütigenden und diskriminierenden Verhaltensweisen seitens gefühlloser oder ganz einfach boshafter Menschen ausgesetzt werden könnte. Ich bin nicht mehr imstande zu träumen! Nun, da ich älter werde und meine Töchter groß sind und eine eigene Familie haben, beginne ich daran zu denken, dass wenn ich und mein Mann einmal nicht mehr sein werden, ich mir wünschen würde, dass sich jemand um Roberto und um seine ganzen großen und kleinen Anliegen kümmern würde. Ich denke vor allem an die ständigen Untersuchungen zur Kontrolle der Augen, des Herzens, der Nieren … Ansonsten bin ich nicht mehr imstande zu träumen! Die Kraft des gemeinsamen Mittragens Ein großer Trost ist für mich die Mitgliedschaft im Verein der Eltern von Kindern, die an Invalidität verursachenden Krankheiten leiden; das gibt mir moralischen und psychologischen Rückhalt. Unsere „ersten vierzig gemeinsamen Jahre“ Die Bilanz dieser vierzig Jahre? Alles in allem positiv. Ich kann mir mein Leben ohne meinen Sohn nicht vorstellen. Roberto hat seine Vorzüge und seine Fehler: Er ist unglaublich ordentlich, manchmal pedantisch und fast krankhaft, immer peinlich genau. Momentan ist die Arbeit alles für ihn. Darin verwirklicht er sich und findet seine kleinen Befriedigungen. Und dann ist er immer fröhlich, Mamma mia, welch eine Kraft! Eine ungewisse Zukunft Ich kann mir seine Zukunft nur schwer vorstellen: die Desillusionierung erlaubt mir nicht, mich irgendwelchen Hoffnungen hinzugeben, und deshalb denke ich, dass unser Schicksal unbestimmt bleibt. 63 Zu Hause wird dieses Thema nicht angesprochen. Ich glaube, für Roberto ist es normal zu denken, dass er weiterhin so leben wird wie bisher, in einer wattierten, behüteten, gefilterten Welt. Im Übrigen geht das klar aus seinen Worten hervor, wenn er sagt: „Ich bin als Stubenhocker geboren und ich möchte das auch weiterhin bleiben …”. ICH BIN ALS STUBENHOCKER GEBOREN … Ich heiße Roberto, bin 42 Jahre alt und im Zeichen der Waage geboren. Seit 1982 wohne ich in Leifers, vorher lebte ich in Sankt Jakob und noch früher, als ich ganz klein war, wohnte ich in Steinmannwald, bei der Carmen. Meine Familie bestand vormals aus fünf Personen: meinem Vater, der jetzt 65 Jahre alt ist, meiner Mutter, die gleich alt ist, meinen beiden jüngeren Schwestern und mir. Als sie ihre Lebensgefährten fanden, hat sich die Situation zu Hause geändert, sie sind weggezogen und ich bin mit Mutter und Vater im Haus geblieben. Als ich klein war und in Sankt Jakob wohnte, spielte ich im Hof. Ich fuhr gern Fahrrad, spielte Tischfußball mit dem Sohn einer Nachbarin und Verstecken mit meinen Schwestern. Ich verbrachte viel Zeit mit ihnen, wir spielten, bis wir genug hatten; ab und zu aber „ließen sie mich frei“, dann turnte ich auf einigen Brettern herum, die sich im Feld daneben befanden. Mit meinen Schwestern verstand ich mich recht gut, sie schauten auf mich und beschützten mich; ich hatte Spaß mit ihnen. Ich erinnere mich nicht an besondere Spiele mit Vater oder Mutter, ich spielte häufig allein. Ich erinnere mich aber, wie ich mit der Spielzeugeisenbahn mitten in der Küche spielte, das machte mir großen Spaß! Als ich klein war, hatte ich immer ein gutes Verhältnis zu meinen Eltern. Wenn ich brav war, waren sie lieb zu mir, dagegen waren sie etwas „ungeschickt“, das heißt, sie schlugen mich, wenn ich mich „ziemlich schlecht“ benahm. Wie zum Beispiel damals, als ich allein zu Hause war und zu einem Nachbarn ging, um fernzusehen. Bei ihrer 64 Rückkehr hat sich Mutter dermaßen geärgert, dass sie mir eine Ohrfeige verpasste und sagte, dass wir auch einen Fernseher hatten. Sie war nicht besorgt, aber sie wollte nicht, dass ich zu fremden Familien nach Hause ging. Nach einigen Jahren Kindergarten habe ich im Alter von neun Jahren begonnen, die Sonderschule Don Bosco zu besuchen. Es war eine Grundschule, aber meine Mutter nannte sie Sonderschule, und so bezeichnete auch ich sie, wie soll ich sagen, in derselben Weise. Es war eine Sonderschule, weil es da andere Jungen wie mich gab, die in der gleichen Situation waren wie ich. Ich sehe mich als normale Person, ich bin aber behindert, und zwar in dem Sinn, dass ich auch körperliche Probleme habe, zum Beispiel Epilepsie, und deshalb bin ich nicht selbstständig. Die Krämpfe haben eingesetzt, als ich klein war, ich habe also begonnen, eine Untersuchung nach der anderen zu machen, auch eine Menge Medikamente einzunehmen, ich war häufig in verschiedenen Krankenhäusern und wurde mehrmals operiert. Zur Schule fuhr ich mit einem Kleinbus der Provinz; er war gelb und trug auf einer Seite die Aufschrift „Schulbus“. Auch am allerersten Schultag bin ich mit dem Kleinbus zur Schule gefahren, allein, Mutter hat mich nicht begleitet. Mein Klassenzimmer war groß mit nackten Wänden; darin gab es wenige Bänke, die ein L bildeten, eine Tafel, auf die wir auf Anweisung der Lehrerin Dinge schrieben, und ein Pult auf einem Podest. Wir waren zu viert in der Klasse und auch meine Kameraden hatten Probleme, da sie dieselbe Schule besuchten, eine Sonderschule eben. Mein liebster Kamerad war Bruno, einer, der keine bösen Streiche spielte. Während der ganzen Jahre in der Grundschule hatte ich nur zwei Lehrer: eine Lehrerin und einen Lehrer, sie waren Mann und Frau und hatten Kinder. Sie hatten mich ziemlich gern, sie grüßten mich auch, wenn sie das Klassenzimmer betraten. Die Lehrerin war freundlich und liebevoll, ab und zu, wenn ich an die Tafel ging, streichelte sie mich. Ich habe schöne Erinnerungen an meine Sommerferien, vor allem an die Ausflüge nach Mailand, wo ich Onkel und den Großvater besuchte, Verwandte meines Vaters; ich hatte auch einen Vetter. 65 Ich fuhr gern dorthin, denn im Freien gab es einen sehr geräumigen Hof und dort konnte ich herumlaufen, und auch wenn ich hinfiel, tat ich mir nicht weh. Die Mittelschule habe ich nicht gemacht, nach der fünften Klasse Grundschule habe ich sofort die Berufsschule besucht. Ich weiß nicht, welchen Kurs ich besucht habe, von diesen Dingen verstehe ich nichts, ich weiß nur, dass ich mit Holz gearbeitet habe; ich habe ein Xylofon aus Buchenholz gemacht, das jetzt im Keller steht. Nach kurzer Zeit habe ich zu arbeiten begonnen, zuerst in einer geschützten Werkstätte in der Fagenstraße und dann in der Romstraße. Seit 19. März 2001 arbeite ich in der geschützten Werkstätte „Der Kirschbaum“ in der Schloss-Weinegg-Straße. Ich mache Montagearbeiten, und in letzter Zeit habe ich auch Makramee gemacht. Meine Arbeit gefällt mir, ich lerne viele neue Dinge und kann Geld verdienen; die Mitarbeiter verstehen mich und sind sympathisch, ich komme daher sehr gut mit ihnen aus. Zu Hause habe ich ein eigenes Zimmer, es ist nicht sehr groß, „aber ich kann durchaus darin schlafen“. Es verfügt über ein Bett, einen Stuhl, einen Schrank und ein kleines Möbelstück, in dem ich die Tasche verstaue, die ich ins Schwimmbad mitnehme, ein Fußballfeld und die Tribüne, die ich verwende, um Fußballspiele zu simulieren. Dann ist da noch eine Art Fritteuse, sie ist aber nicht eingeschaltet, sie dient zum Kartoffelkochen. Ich weiß nicht, wie sie in meinem Zimmer gelandet ist, wahrscheinlich hat sie Mutter abgestellt. An den Wänden hängen Bilder, die ein Fußballfeld darstellen, die Muttergottes und den Papst. Mit den Dingen, die ich allein machen kann, komme ich zurecht, während mir bei denen, die ich nicht schaffe, meine Mutter hilft. Es gefällt mir, wenn sie mich morgens weckt, damit ich zur Arbeit gehe, und mir das Frühstück ans Bett bringt. Meine Freizeit verbringe ich immer zu Hause, indem ich Kreuzworträtsel löse und Patiencen lege. Ab und zu treffe ich mich mit meinem Freund Giacomo zum Pizzaessen, auch wenn wir uns jetzt schon seit einer Weile nicht mehr sehen, oder ich nehme an Tätigkeiten des Vereins teil, in den ich mich zusammen mit meiner Mutter eingeschrieben habe. 66 Wenn ich zu Hause bin, sehe ich gern fern und höre normale Musik, das heißt jene, die nicht zu laut ist. Von den Sängern mag ich Albano Carrisi sehr gern, wenn ich ihn das Lied „È la mia vita“ singen höre, bin ich gerührt. Meine Zukunft? Ich habe keine Ahnung, wo ich in der Zukunft sein werde, und noch weniger, was ich machen werde, ich denke, ich werde weiterhin in der Werkstätte arbeiten wie bisher und mit Mutter und Vater zusammenleben. Allein etwas zu ändern ist sicher nicht möglich, da ich immer von jemand begleitet werden muss; ich sehe keine Möglichkeit, selbstständig zu sein. Nein, ich denke, dass ich immer so weitermachen werde wie bisher, das heißt, wie soll ich sagen … ich bin als Stubenhocker geboren und möchte das auch weiterhin bleiben. E va il mio pensiero se ne va seguendo un volo che già sa in quale cuore andare e arriverà E va é la mia età che se ne va e quanto amore via con lei è questa vita che passa e dove andrà (“E’ la mia vita” – Albano Carrisi) 67 EIN GEIST, DER DAS EINFACHE LIEBT aufgeschrieben von Lisa, Sozialassistentin Ich habe Renato vor etwa zwei Jahren bei einem kleinen Theateranimationsprojekt für behinderte Menschen, deren Eltern und Freiwillige kennengelernt. Die Gruppe bestand aus ungefähr zwanzig Personen, die sich mehrere Monate lang einmal wöchentlich abends mit Ausdauer und Bescheidenheit getroffen haben, um eine kleine und flotte Vorstellung auf die Beine zu stellen und sie der Gemeinschaft darzubieten. Wenn ich abends „im Proberaum“ zur Gruppe stieß, war ich gewöhnlich müde; am Schluss bin ich heiter und mit einem unbeschwerten Lächeln auf den Lippen nach Hause zurückgekehrt, ich war glücklich, mit einer Gruppe von Freunden eine spielerische und unterhaltsame kurze Zeit geteilt zu haben. Nach Überwindung eines anfänglichen Moments der Verlegenheit haben sich alle Teilnehmer geöffnet und in ihrer Fröhlichkeit und Bescheidenheit gezeigt. Ein Junge, der mich besonders beeindruckt hat, war Renato; er war ein Farbtupfer in der Gruppe! Immer wieder gab er brummelnd provozierende Aussagen und Sprüche von sich und wartete auf die Reaktion des glücklichen Adressaten, mit verschmitztem und aufmerksamem Blick, er war genau und gewissenhaft wie wenige, die ich kenne. Lieber Renato, liebe Lucia, ich danke euch dafür, dass ihr mir erlaubt habt, in euer Leben einzutreten, euch zuzuhören und dann denjenigen, die es hören wollen, zu erzählen, was für eine reiche persönliche und familiäre Geschichte Menschen mit Behinderung haben, was für eine ausgeprägte persönliche Identität, bestehend aus Wünschen, Meinungen, Vorlieben, Beziehungen und Gefühlen, die etwas Wertvolles darstellen. 68 Ich möchte mit meinen Äußerungen nicht oberflächlich erscheinen oder die tatsächlichen Schwierigkeiten schmälern, die die Behinderung für diejenigen, die sie persönlich erleben, und für die Familienangehörigen mit sich bringt, aber meine kurze Erfahrung hat mir ermöglicht, eine Seite dieser Realität kennenzulernen, die heute noch wenig bekannt ist und die es meiner Meinung nach der Mühe wert ist, entdeckt zu werden. Die Kommunikation mit dem behinderten Menschen ist vielfach komplex, ebenso ist es nicht leicht, innezuhalten und sich die Geschichte eines Familienangehörigen anzuhören, denn häufig verhindert die Angst, die schmerzliche Erfahrung zu teilen, eine authentische und gegenseitig bereichernde Beziehung. Ich werde versuchen, das getreu wiederzugeben, was ich sammeln konnte. Ich habe mich dafür entschieden, eine einzige Geschichte zu erzählen, und zwar mittels der für mich unauflöslichen Verflechtung zweier verschiedener Interviews, jenes von Renato und jenes von Lucia, der älteren Schwester. Mein Bemühen ist darauf ausgerichtet, jenes Gefühl der Sympathie zu vermitteln, das ich gespürt habe, als ich euch kennenlernte. Ja! Denn nachdem ich beide kennengelernt habe, habe ich gemerkt, dass euch ein gemeinsames Element verbindet: die Authentizität und die Heiterkeit des Gemüts. 69 Ein Geist, der die Natur und die einfachen Dinge liebt „Da kann man etwas lernen“ „Ich bin aber ein Junge; und das genieße ich auch!“ So hat Renato begonnen, mir von sich zu erzählen. Als ich ihn nach dem Alter fragte, hat er zunächst ein wenig „herumgeblödelt“, seine Gedanken gesammelt und mir gesagt, dass er 34 Jahre alt ist. Beim Erzählen verwendet er häufig Dialektausdrücke, aber als ich ihn darauf aufmerksam mache, verneint er entschieden: „Nein, ich spreche italienisch, spreche ich“. Er achtet sehr auf die Fragen, die ich ihm stelle; manchmal beeilt er sich zu antworten, und manchmal bereitet es ihm mehr Mühe. Häufig gibt er mir dann die Frage weiter und ich muss antworten. Das scheint mir richtig, oder? In einer Beziehung muss es einen gerechten Austausch geben; ich bin mit ihm einverstanden. „In jenen Jahren wurden nicht gerade viele gründliche Untersuchungen gemacht“. Neben Lucia besteht Renatos Familie aus dem Schwager, „der mit dem Moped Gerichtsakten herumfährt“, dem dreijährigen Enkelkind, Lucias Schwiegermutter, dem Onkel und dem Bruder Franco. Renatos Eltern leben nicht mehr; „sie sind im Himmel und schauen herab“, seit nunmehr etwa elf Jahren. Um Renato und seinen ebenfalls behinderten Bruder kümmern sich Lucia und der Onkel. Lucia ist nach der Heirat nach Bozen gezogen und lebt eine halbe Fahrstunde von Renatos jetzigem Wohnort. Da die Eltern typische Dorfbewohner waren und sich zwischen Büros und in der Stadt nicht gut auskannten, hat sie sich seit jeher um alles gekümmert, was Renato betrifft: „Die Schulversammlungen, Bürogänge, das Invaliditätsverfahren, die Verschlechterung … aber schon, als die Eltern noch lebten. 70 In jenen Jahren wurden nicht gerade viele gründliche Untersuchungen gemacht. In der Bescheinigung über die Zivilinvalidität steht geschrieben: … Gehirnerkrankung und Schwierigkeit, mit anderen Beziehungen zu unterhalten. Sehen wir es aber an einem praktischen Beispiel: wenn er 10.00 € hat, dann weiß er, dass es 10.00 € sind, er hat aber keine Vorstellung vom Wert. Oder, ich weiß nicht … die Quarzuhr kann er lesen, aber eine andere nicht, oder … er liest nur das, was er kennt. Körperlich hat er nur – ich weiß nicht, ob man es jetzt sieht – ein Bein und einen Arm, die etwas kürzer sind …“ Für Lucia ist der Bruder ein ziemlich verschlossener Typ, etwas schüchtern, er ist viel allein, methodisch und genau. Und wenn ihm dann jemand Vertrauen einflößt, den lässt er nicht mehr los. Die beiden Brüder besuchen sich nach Möglichkeit einmal in der Woche, ansonsten verkehrt Renato mit der Schwester „telefonisch oder über den Anrufbeantworter“. Auch der Bruder Franco lebt in einer Wohneinrichtung; Renato bedauert es, dass dieser häufig Tabletten und Tropfen einnehmen muss, die dazu führen, „dass er abmagert und dahindöst; so ist er nicht mehr der Franco, der er einmal war.“ „Zu jener Zeit studierte man“ Renato erinnert sich, dass er, als er klein war, Holz sammeln ging, und als er mir das sagt, weist er mich darauf hin, dass er kräftige Muskeln hat, die man gut sehen kann. Er erinnert sich auch, dass er mit seinen Familienangehörigen häufig Pilze sammeln ging; er hat aber keine besonderen Erinnerungen an Vater und Mutter. Einmal, an einem Feiertagsmorgen … „wurde ich gestochen“. „Hilfe, Hilfe!“ hat er geschrien, als er in ein Vespennest getreten ist. „Was für Schmerzen“, erinnert er sich. „Fieber, Blut“; er musste sich desinfizieren und im Bett bleiben. Ungefähr zehn Jahre lang fuhr die ganze Familie nach auswärts, um an Märschen teilzunehmen, an Marathonläufen, 71 „keine Leistungswettkämpfe aber“, Wanderungen; „und da war die Familie wirklich vereint“, erinnert sich Lucia. Renato wandert und fährt immer noch gern mit Auto und Bus. Vor Jahren haben sich er und seine Familie auch einmal verirrt, weil man wegen des Nebels die Straßenschilder nicht mehr sehen konnte. Renato kann sich nicht mehr an die Grundschule erinnern, die er in einem Wohnheim außerhalb der Provinz besucht hat, und „außerdem“, meint er, „kann ich mich doch nicht an alles erinnern he!”. Dagegen erinnert er sich noch an den Namen der Mittelschule, die er in Leifers mit Unterstützung eines Erziehers besucht hat: die „Fabio Filzi“. Wir rechnen gemeinsam nach und stellen fest, dass mehr oder weniger zwanzig Jahre vergangen sind. Renato gesteht, dass er Herrn Filzi nicht kennt, aber er erinnert sich, wie es in der Schule aussieht: es waren an die zwanzig Jugendlichen in der Klasse und „zu jener Zeit studierte man, das waren schöne Zeiten“. Er schrieb gern die Aufgaben in das Heft; er erinnert sich, dass die Lehrkräfte ab und zu außerhalb der Schule rauchten, weil man drinnen nicht rauchen darf: „Das Gesetz schreibt das vor!“ Nach der Mittelschule hat er die Berufsschule besucht, den Tischlereikurs. „Es machte mir große Freude zu lernen, wie man mit Holz arbeitet, und ich habe sehr gern in der Mensa zu Mittag gegessen”. Heute noch nennt er Vor- und Zunamen einiger Schulkameraden. Er ist der Ansicht, dass er ein guter Schüler war, dass er sich bemüht hat und Spaß gehabt hat, zum Beispiel beim Schweigespiel. Um die Wahrheit zu sagen: Es fällt mir schwer zu glauben, dass Renato beim Schweigespiel gut war: er ist dermaßen geschwätzig! Im Lauf der Zeit hat es Phasen gegeben, wo Renato sehr aggressiv war; oft hat er sich, wenn er seine Krisen bekam, an Lucia oder an Gegenständen abreagiert. „Und dann … wumm! war alles vorbei, als ob nichts geschehen wäre. Jetzt scheint sich das beruhigt zu haben …“ 72 Eine sehr schwierige Entscheidung: werden sie verstehen? Seit mehreren Monaten lebt Renato gemeinsam mit anderen Jugendlichen, die so wie er betreut werden müssen, in einer geschützten Wohnung in Neumarkt. Vorher hat er einige Jahre in einem Wohnheim für behinderte Menschen in Leifers gelebt. Lucia erinnert sich an die Zeit, als sie vor mehr als acht Jahren und mehr oder weniger allein die Entscheidung getroffen hat, Renato und seinen Bruder Franco in entsprechenden Einrichtungen zur Aufnahme behinderter Menschen unterzubringen. Sie musste eine wichtige Entscheidung im Hinblick auf die Zukunft ihrer Geschwister und auf ihre eigene treffen. Die Mentalität jener Jahre: „Du schiebst sie ab. Du lässt sie im Stich“ machte die Entscheidung nicht einfach. Außerdem war auch der Onkel sehr stark in diese Entscheidung mit einbezogen, hatte er doch jeden Lebensabschnitt mit ihnen geteilt. „Es war nicht leicht“. Renato und der Bruder haben dann langsam „ihr neues Leben begonnen und mir ist bewusst geworden, dass es auch gut für sie war. Auch wenn ich nicht geheiratet hätte, wenn ich mit ihnen zu Hause geblieben wäre, was hätten sie machen können? Sie mussten Umgang mit anderen Menschen haben, Reisegefährten, eine Beschäftigung haben, eine Wohnung, verschiedenen Tätigkeiten nachgehen, wie normale Jugendliche“. Das Leben in der Gemeinschaft Das Leben Renatos ist durch den ständigen Wechsel zweier Phasen bestimmt. Von Montag bis Freitag Abend lebt er mit anderen Jugendlichen und unter Betreuung der Mitarbeiter in einer geschützten Wohnung, während er das Wochenende beim Onkel in einem anderen kleinen Dorf in der Gegend verbringt. 73 Wenn er sich in der Wohnung aufhält, wird der Tagesablauf Renatos vom Rhythmus der Arbeit in der Werkstätte und durch die Hausarbeiten geregelt, wie: „Duschen, Essen zubereiten, Tassen in die Spülmaschine einräumen, den Tisch säubern, Recycling, einkaufen, den Wochenplan vorbereiten, der bei den Sitzungen beschlossen wird … dann gehen wir zusammen zum Arlecchino Eis essen, oder wir gehen Pizza essen …“ Renato ist ein Naschmaul, er muss aber auf die Ernährung achten. Der Onkel sagt immer: „Du musst etwas weniger essen, Renato, nicht immer das Gleiche. Entweder den ersten Gang oder das Hauptgericht“. Für ihn geschieht alles normal; er ernennt seine Lebensgefährten unterschiedslos unter Gästen und Mitarbeitern, von denen er auch einige Geheimnisse kennt … Renato geht zudem früh am Abend schlafen, da man morgens frisch sein muss, schön munter. Das Haus ist groß; in seinem Einzelzimmer verfügt er über ein Einzelbett, einen Schrank, Pantoffeln, Zahnpasta. „Ich habe alles, ich habe auch Licht“ . Ja, er fühlt sich wohl, „außer damals, als jener Typ da war, der einem auf die Nerven ging, und jetzt ist er nicht da! Silvio nahm den Fernseher in Beschlag, die Fernbedienung, dann teilte er auch Fausthiebe aus … sage ich!“ Vieles macht er allein, während ihm bei anderen Tätigkeiten die Mitarbeiter helfen, wenn er darum ersucht. Renato gibt mir zu verstehen, dass in der Wohnung im Allgemeinen ein gutes Klima herrscht; jeder erledigt etwas und manchmal hilft man sich. Ab und zu regt sich jemand auf, das geht dann aber vorbei. Er hat mir erzählt, wie er einmal, als er eines Abends in das Wohnheim zurückkehrte, so nervös war, dass er nicht aus dem Kleinbus aussteigen wollte und dass ihn drei Personen festhalten mussten, er wollte sich aber nicht so benehmen. Jetzt, sagt er, geht er ins Freie und macht drei Schritte, wenn er sich nervös fühlt. 74 Renato fragt sich, was aus dem Wohnheim geworden ist, es tut ihm ein wenig leid, weil sich einiges geändert hat, und ihm fehlen die Köche. Letztlich aber, versichert er, würde er, wenn er in einem Wohnheim wäre, jetzt darum ersuchen, in eine Wohnung ziehen zu können, um dort zu leben. Wichtige Beziehungen Wie bereits gesagt, verbringt Renato das Wochenende beim Onkel und hilft ihm bei den häuslichen Angelegenheiten wie Tassen spülen, Vogelhäuser säubern, ihn daran zu erinnern, die Tabletten einzunehmen und das Gebiss einzusetzen. Außerdem hat er eine wichtige Aufgabe, die ihm sehr am Herzen liegt: Flaschen, Kartone, Zeitungen, Plastik sammeln, alles was ihm der Onkel und Freunde im Dorf herrichten, und den Müll zu trennen. Für ihn ist das „Bewegung, ein Zeitvertreib“, und er nimmt diese Aufgabe sehr genau. Renato weiß, dass ihn am Wochenende Freunde aus dem Dorf besuchen kommen und ihm ist sehr daran gelegen. Als ein Dorfbewohner vor einiger Zeit aufgehört hat, ihn zu besuchen, hat er darunter gelitten und ist nervös geworden. „Wenn man eine Kette loslässt, wenn ein Stück fehlt, leidet Renato darunter und reagiert manchmal in unangenehmer Weise darauf. Zu Hause hat es Probleme gegeben, da waren wir, kurzum, nicht mehr imstande …… Renato hatte eine nervöse Phase, zerschlug Gläser …, da ist er dann eine Zeit lang nicht mehr nach Hause gekommen und im Wohnheim geblieben. Der Onkel besuchte ihn oder die Betreuer brachten ihn auf Besuch zum Onkel“. Eine Arbeit aussuchen können, die einem gefällt Renato fährt jeden Morgen mit dem Kleinbus zur Arbeit in eine geschützte Werkstätte. Er gehört zur Naturgruppe, die sich um die Sauberhaltung von Grünflächen kümmert, die ihr von den umliegenden Gemeinden zugewiesen werden: Parks, Grünanlagen, Rasenflächen. Er ist gern im Freien; er sammelt Müll auf (Papier, Zigaretten usw.) 75 und muss Handschuhe tragen „sonst!“. Er lädt den Müll in den Schubkarren „und dann muss man Pause machen, muss man“. Renato macht die Werkstätte Spaß. Früher fuhr er nach Bozen, und er langweilte sich ein wenig, weil es so viel Verkehr auf den Straßen gab, dass man lange in der Kolonne steckte. Dort kümmerte er sich um die Menüs und verteilte BoBo, eine kleine Stadtzeitung. Er bleibt nicht gern im Haus. Er hat sich selbst für die Naturgruppe entschieden, und vielleicht wird er andere Gruppen ausprobieren, um neue Sachen zu lernen, neue Leute kennenzulernen und weil es sonst, wie er sagt „immer nur derselbe Scheiß ist“. Für Renato heißt Arbeit Praxis, Konzentration, auch Respekt und Ernsthaftigkeit. „Wichtig ist, dass man ihn einbezieht“ Renato findet nur schwer etwas, was ihm überhaupt nicht gefällt, während er mehrere Dinge aufzählt, die er gern macht oder machen würde: Angeln gehen, Müll einsammeln, Fernsehen, Fußball, Schwimmen und Turnen. Er würde auch noch gern BoBo verteilen und hat dem dafür Verantwortlichen mitgeteilt: „Wenn ich kann, komme ich, ich stehe zu deiner Verfügung“. Als er im Wohnheim war, ging er mit einem Freiwilligen zur Messe und zum Turnen. „Wichtig ist, dass man ihn einbezieht. Man muss auf ihn zugehen, dann beteiligt er sich“, meint Lucia. Ein schlimmes Abenteuer, an das sich sowohl Renato als auch Lucia erinnern, und zwar wegen der Angst, die jeder von ihnen auf seine Weise ausgestanden hat, hat sich vor einigen Jahren ereignet. „Um Äpfel zu essen“, hat sich Renato in den Feldern verirrt. „Man hat auch die Carabinieri und die Feuerwehr gerufen, um ihn zu suchen, und am späten Abend haben ihn die Hunde schlafend unter einem Baum gefunden. Es war ziemlich frisch, es war im Oktober“. 76 Lucia erinnert sich, dass man damals sehen wollte, ob Renato in der Lage war, sich ein wenig eigenständig zu bewegen. „Wir haben ihn den ganzen Tag gesucht, und damit war der Versuch gestorben! Erledigt! Jetzt wird er ständig begleitet …“ Das scheint die einzige schlimme Erinnerung Renatos zu sein; zu den schönen Erfahrungen zählen dagegen die Prämierung als Gruppe für einen Marsch, einige Theateraktivitäten und das Pilzesammeln. „Jeder kann einmal die Nerven verlieren“ Als ich Renato frage, ob es etwas gibt, was er gern tun würde und was er zurzeit nicht tut, wiederholt er alles, was er bereits tut. Es sind alles einfache Sachen. Erst als ich insistiere, sagt er mir, dass er sich die Zukunft nur schwer vorstellen kann; ihm passt es so, wie es zurzeit ist: „Trinken, essen, mich wohlfühlen“. Auch Lucia stellt sich vor, dass „es weder Fortschritte noch Rückschritte geben wird. Er ist angekommen“. Sie ist guter Dinge, und wenn alles weiterhin so verläuft wie bisher, ist sie glücklich für Renato. „Es war hart, es hat viele Probleme gegeben, aber jetzt muss ich sagen, dass er mir überhaupt nicht so behindert erscheint. Gut, es hätte anders sein können. Es ist aber so gekommen“. Wenn sie vielleicht in einer anderen Lebensphase und nicht jetzt an ihren ganzen Weg zurückgedacht hätte, hätte sich Lucia vielleicht nicht so gelassen an ihre Erfahrung erinnert und sie bejaht. Jetzt aber sieht sie alles in einem positiven Licht. Der Anfang war beschwerlich … aber jetzt ist sie zufrieden. Sie würde die gleichen Schritte nochmals tun, ohne große Angst vor den Leuten. Und zum Glück hat sie dieses Engagement mit dem geliebten Menschen teilen können. „Renato geht es in letzter Zeit wirklich gut, er hat sich wirklich verändert, er ist wirklich ruhig. Vorher war er ziemlich nervös, er zog dich an den Haaren, war aggressiv. Vielleicht hatte er es satt, denn so viele Jahre im Wohnheim …, eine Werkstätte, die ihm nicht gefiel …. Jetzt scheint er begeistert zu sein. 77 Probleme wird es geben, ich mache mir keine Illusionen, dass es immer so bleiben wird, …… aber im Moment erscheint er mir ruhig und es passt; ich möchte nicht, dass sich etwas ändert. Und schließlich kann jeder einmal die Nerven verlieren“. „Es wäre nicht schlecht, wenn er etwas mehr unternehmen würde, zum Beispiel Meeraufenthalte … Stätten besuchen und Leute kennenlernen … Und wenn sich die Leute mehr auch mit Menschen wie Renato abgeben würden, sich angewöhnen würden, sie kennenzulernen ……” (Renato, eine Wohngenossin, ein Auto und ein kleines Viereck …) 78 ZUCCHERO IST IN EIN ANDERES FLUGZEUG GESTIEGEN Aufgeschrieben von Silvia, Erzieherin Ich habe Davide vor einigen Jahren im Zuge meiner Arbeit kennengelernt. Das Erste, was mich an ihm beeindruckte, war sein lachendes Gesicht und seine Lust, etwas von sich zu erzählen, trotz seiner Schüchternheit und seiner Schwierigkeiten. Davide ist eine herzliche Person, der es gelungen ist, mir ihre Lebensbegeisterung, ihre Leidenschaften, ihre Erinnerungen zu vermitteln … Er hat jeden seiner Sätze nicht nur mit dem Mund, sondern auch mit Augen, Händen, Körper und Herz gesprochen. Ich habe mich entschlossen, Davide zu treffen, ein Stückchen seiner Geschichte anzuhören und Teile davon aufzuschreiben, weil er mir während unserer Begegnung etwas offenbart hat, was man nur schwer erklären kann … seiner Geschichte mit gebanntem Blick und offenem Herzen zuhören, um alle Facetten eines lebensnahen Daseins zu erfassen, um die Schönheit der alltäglichen kleinen Gesten, der Dinge und Menschen, denen ich begegnet bin, auszukosten. Ich hoffe, dass ich mit diesen Aufzeichnungen Davide die Gelegenheit gebe, seine Erinnerungen, die Gefühle und Bilder seines vergangenen und gegenwärtigen Lebens zu bewahren. Indem ich seine mündlichen Erzählungen schriftlich festhalte, möchte ich, dass Davide eines Tages seine persönliche Geschichte aufarbeiten, aufwerten und weitergeben kann. Eine Geschichte, die erwiesenermaßen einen Reichtum darstellt, den jeder zur allgemeinen Verfügung stellen muss. Die Erzählungen tun demjenigen gut, der sie schreibt, sie tun demjenigen gut, der sie hört, und ich hoffe, dass sie auch demjenigen guttun, der sie erzählt hat. 79 Danke, Davide, für Deine Solidarität. Mein Hobby Im Alter von zwei Jahren habe ich begonnen, Schlagzeug zu spielen, ich hatte ein kleines, ein Spielzeugschlagzeug, es sah aber wie ein richtiges aus, hatte einen guten Klang und ich spielte viel darauf. Als ich Grundschule ging, haben mir Papi und Mami zu meinem Geburtstag am 4. Januar ein richtiges Schlagzeug geschenkt und wir sind in ein Geschäft gegangen, um es zu kaufen. Vor Kurzem habe ich mir ein neues gekauft, mit einem schöneren Klang; es steht unten im Arbeitszimmer. Das andere war ich nicht mehr imstande zu stimmen, und da habe ich mir gesagt: „Ich kaufe mir ein etwas besseres Schlagzeug“. Ich habe allein spielen gelernt, ich habe ein wenig probiert und dann habe ich gesagt: „Papi, ich möchte Schlagzeugunterricht nehmen!“, da ist er mit mir nach Leifers gefahren, wo ich das Schlagzeug gekauft habe, und ich habe ihn gefragt: „Hör zu, kannst du mir Stunden geben?“. Wir haben uns geeinigt und wenige Zeit später bin ich zu diesem Freund gegangen, Samstag Nachmittag, gegen drei, halb vier, um Stunden zu nehmen. Das Schlagzeug gefällt mir als Instrument sehr gut, ich spiele nichts anderes ... im Augenblick, noch nicht! Kindheitserinnerungen Als Kind spielte ich mit Spielzeugautos. Als ich neben Tompsen wohnte, ging ich in den Hof, zuerst spielte ich allein und dann mit Freunden, ich habe auch viel mit dem Traktor gespielt, einem aus Plastik, ich bin damit durch den Hausflur gefahren. Ich erinnere mich, wie ich vor einigen Jahren, bevor es kalt wurde, als ich einmal mit dem Fahrrad eine Runde drehte, die Gangschaltung einlegte, losließ und zack! … lauter Unterlegscheiben und Bestandteile überall … ich habe alles verloren und kein einziges Teil wiedergefunden! Ich habe gesucht, aber vergebens. Es ist auch meine Oma gekommen, wir sind hinuntergegangen, um zu suchen, aber wir haben nur 80 ein Stück der Unterlegscheibe gefunden … die Kette und der Rest … dahin. Meine Familie Hier im Haus lebe ich mit Papi, Mami und Giada. Ab und zu streite ich mit Vater, wenn ich zum Beispiel mit den Schuhen die Treppe hinaufgehe, falls ich etwas im Zimmer vergessen habe, etwa die Brieftasche oder das Handy … um schnell zu machen, gehe ich hinauf, ohne mir die Schuhe auszuziehen … und er schimpft mit mir. Meine Schwester Giada ist 7 Jahre alt … in ein paar Tagen, am 29. Oktober, wird sie 8 … mein Gott, wie schnell die Zeit vergeht! In Mutters Zimmer sind einige Fotos von ihr, als sie klein war. Mit ihr habe ich nicht viel gespielt, weil sie zu klein war. Manchmal streiten wir, unser Verhältnis kann man zwischen gut und schlecht bezeichnen, ab und zu tut sie etwas, was sie nicht darf, wie auf die Möbel klettern, dann halte ich sie fest, aber sie macht es trotzdem. Ein anderes Mal tut sie etwas, was mich nicht ruhig lässt, spielt mit dem Gas, aber ich darf sie nicht einmal berühren, sonst schreit sie schon: „Los … lass mich in Ruhe!” Im Haus ist auch meine Katze Mina. Von meinen Eltern lässt sie sich nicht gern anfassen, sie will immer in meiner Nähe sein, bei ihrem Herrchen, so wie sich der Hund sein Herrchen wählt, hat sie mich gewählt. Wenn ich nicht zu Hause bin, weint sie, und nach einer Weile erträgt sie Vater nicht mehr, dann öffnet er das Fenster und schickt sie in den Garten! Diese Katze ist eine besondere Katze, sie bleibt bei mir, ruft mich, kennt meine Zeitpläne, sie hat gelernt, dass ich am Abend zu einer bestimmten Zeit ins Zimmer gehe, nach der Zigarette, dann ruft sie mich: „Miau, miau, …“ bis ich komme, dann geht sie hinauf … und ich auch! Jetzt ist Mina nicht hier, sie ist oben im Zimmer, vielleicht ist sie müde. Vorher war sie hier im Wohnzimmer, denn wenn es klingelt, kommt sie herunter, um zu sehen, wer da ist … sie ist neugierig! Als ich klein war, hatte ich andere Katzen, sechs oder sieben, glaube ich … die erste Katze hieß Leo, sie war ein wenig schrecklich, aber sehr lieb, sie strich immer um die Leute herum und war nicht aggressiv, aber wenn du sie geärgert hast, dann hat auch sie dich geärgert. 81 Dann hatte ich noch eine andere Katze, auch die hieß Leo, weil die erste gestorben war. Wo ich vorher wohnte, gab es Felder und Giftköder … ich habe sie unter meinem Bett gefunden … tot … jaja … sie war wirklich tot. Mein Haus Eine Zeit lang habe ich in Bozen gewohnt, dann sind wir hierher nach Branzoll gezogen. Das erste Haus stand im Dorf, und zwar dort, wo jetzt der Lidl ist; es war groß, aber die Zimmer waren klein. Jenes von Mutter war etwas größer als meines, denn der Schrank passte leicht hinein. Hier dagegen wohne ich in einer Mansarde, ich habe ein eigenes Schlafzimmer, wo eine Menge Pflanzen stehen. Ich mag Pflanzen gern, ich bin nämlich Gärtner, drei Jahre lang habe ich die Landwirtschaftsschule in Pfatten besucht. Den Hausgarten pflege ich: wenn es Abend wird, gieße ich ihn, denn wenn die Sonne scheint, darf man die Pflanzen nicht gießen, sonst verbrennen sie. Jetzt ist es nicht mehr so heiß und man kann trotzdem ein wenig gießen, abends aber kannst du ihnen Wasser geben, so viel du willst. Im Garten räume ich auf, esse Trauben, diejenigen, die ich kaufe, schmecken mir nicht, mir schmeckt das Obst, das direkt vom Baum kommt und frisch ist, da fühle ich mich sicher, da gibt es keine Chemie, keine Gifte, das Obst kommt aus meinem Garten, ich kann es beruhigt essen. Dann habe ich noch Äpfel, Pflaumen, Pfirsiche, eine weitere Weinrebe, kleine Aprikosen, Kaki, zwei Feigenbäume und einen Kirschbaum. Die Schulzeit Mein Kindergarten war in Leifers, neben der Mittelschule. Ich erinnere mich, wie Mutter am ersten Tag eilig weggegangen ist … ich wollte bei ihr bleiben … anfangs habe ich sehr geweint, dann aber wollte ich nicht mehr weggehen. Ich spielte viel mit Freunden, ich erinnere mich aber nicht mehr an die Kindergärtnerin, wir haben auch ein Lied gesungen … jenes mit den „papaveri alti alti“ … an das erinnere ich mich! 82 Die Grundschule habe ich hier in Branzoll besucht. An den Mauern der Schule sind noch die Zeichnungen zu sehen, die wir Kinder an einem Nachmittag gemacht haben … es war vier Uhr, halb fünf … ich habe sie nur ausgemalt, sie haben gezeichnet. Es sind blaue Fische zu sehen, eine Giraffe und die ganzen Tiere. Sie sind noch dort … das ist komisch! Ab und zu gehe ich in die Schule, um die alten Schuldiener zu grüßen, und schaue auch in meine alten Klassenzimmer rein. Ich erinnere mich an einen langen Gang … wenn ich jetzt vorbeischaue, ist er kurz, er ist klein geworden … oder ich vielleicht groß! Die Bänke sind nicht die von damals, nun gibt es neue. In der Schule war ich nicht immer mit meinen Kameraden zusammen, manchmal ging ich mit einem Betreuer, der sich nur um mich kümmerte, in ein anderes Zimmer. Wir machten alles gemeinsam, man spielte, man schrieb und sprach miteinander. Die Lehrerin hieß Ornella, sie war auf Draht, auch die Kameraden waren das. Wir waren 19 in der Klasse, darunter auch die Tochter meiner Lehrerin, und wir beide waren immer zusammen. Sie heißt Marlene, wir hören uns immer noch fast täglich, wir sind Freunde geblieben, auch wenn wir voneinander entfernt sind. Marlene studiert in Padua, sie möchte Ärztin werden … so habe ich verstanden. Die Mittelschule habe ich in Leifers besucht … ich erinnere mich auch an den einen oder anderen Kameraden, einer ist vor einigen Tagen gestorben, er war krank. Er war kleiner als ich, aber er war in meiner Klasse … es hat mir sehr leidgetan. Die Lehrer waren alle nett, ich erinnere mich besonders an den Mathelehrer, mit ihm habe ich alles gelernt, Rechnungen, schreiben, er hat eine Menge Dinge von mir verlangt. Am meisten gefallen hat mir der Naturkundeunterricht: Experimente durchführen und ins Labor gehen, wo man sich ein wenig als Chemiker versucht hat. Nach der Mittelschule habe ich drei Jahre lang die Landwirtschaftsschule in Pfatten besucht: dort habe ich gelernt, Traubensaft herzustellen, Essig und Wein, man hat mir gelernt, Pflanzen zu schneiden, den Garten und die Blumen im Haus … und dergleichen mehr. 83 Die Freizeit Am Wochenende spiele ich Schlagzeug oder pflege den Garten. Ich kann nur samstags spielen, weil meine Freunde studieren oder zur Schule gehen und daher nachmittags beschäftigt sind. Ein Freund arbeitet donnerstags nachmittags nicht, so wie ich, und ab und zu treffen wir uns, um gemeinsam zu spielen. Vor einigen Jahren habe ich zusammen mit einer Gruppe von Freunden eine CD gemacht. Wir haben gesagt: „Versuchen wir, unsere erste CD aufzunehmen!”. Wir haben uns geeinigt, und nach einem kleinen Treffen haben wir den Versuch gestartet … ich würde gern eine weitere machen. Jene CD habe ich behalten! Abends, wenn die Freunde keine Schule haben, oder im Sommer, gehen wir Pizza essen, manchmal bleiben wir auch bis halb zwei oder zwei Uhr aus. Ansonsten verbringe ich den ganzen Tag hier im Haus, sehe fern, entspanne mich auf dem Diwan oder trommle ein wenig auf dem Schlagzeug herum. Die Ferien Letztes Jahr bin ich in den Ferien ans Meer gefahren, nach Cattolica in der Provinz Rimini, wo ich einige Freunde kennengelernt habe, wir haben uns unterhalten und Freundschaft geschlossen … du rufst mich an, ich ruf dich an! Mir gefällt es auch im Gebirge. Wenn ich zu meiner Tante gehe, die ein Stückchen in den Bergen wohnt, nehme ich mir ein paar Pullover mit, weil es dort immer feucht und darum frisch ist. Ich würde gern nach Frankreich fahren, wo der Eiffelturm steht, da bin ich noch nie gewesen! Meine Tante war vor Kurzem dort, sie hat fast ganz Frankreich bereist und ist auf den Eiffelturm gestiegen … und sie hat mir auch ein T-Shirt mitgebracht! Die Reise nach Kalifornien Ich dagegen war fast einen Monat lang in den Vereinigten Staaten, in San Francisco in Kalifornien, wo die Filme gemacht werden. Ich bin mit der Landwirtschaftsschule dort gewesen, um zu sehen, wie’s dort aussieht und welche Rebsorten sie haben. Ich habe auch ein Foto neben einem amerikanischen Polizeiwagen gemacht, weil ich einen 84 italienischen Polizisten getroffen habe, der in jener Gegend wohnt und mir erlaubt hat, ein Foto neben seinem Wagen zu machen. Es war wirklich schön, ich wäre gern noch ein wenig länger dort geblieben, es ist ganz anders als hier, die Gärten, die Felder und die Straßen sind viel größer. Ich bin auch in eine Straßenbahn gestiegen, ich bin nie mit einer solchen gefahren … ich hatte ein wenig Angst, weil in der Straßenbahn musst du ein wenig gebückt stehen, die Straßen sind steil … rauf und runter … wenn dir etwas runterfällt, rutscht es weg! In San Francisco habe ich bei einer amerikanischen Familie gewohnt, sie waren alle sehr sympathisch und freundlich. Ich habe sehr gut gegessen, immer spät gefrühstückt, mit Speck, Eiern und Fruchtsaft, nicht nur Milch, sie haben einen anderen Rhythmus, zu Mittag aß man dann aber nichts mehr. Dort musste ich ein bisschen englisch sprechen … meine Tante hat es mir vor der Abreise ein wenig beigebracht: „thank you very much“, das kann ich! Anfangs ist es mir nicht eingefallen und ich konnte es nicht sagen, dann habe ich es mir auf ein Stück Papier geschrieben, ich habe es immer wieder wiederholt, und am Ende hat sich mir der Spruch eingeprägt und ich konnte ihn sagen! Einer meiner Kameraden wohnte bei einer Familie außerhalb der Stadt, auf dem Land, und neben dem Haus war auch ein Pferdestall. Auch ich hätte gern in einem solchen Haus gewohnt, auch weil ich Pferde sehr gern mag, von klein auf. Als ich nach Amerika abreiste, sagte mir meine Tante, dass auch Zucchero, der Sänger, in jenen Tagen dorthin fliegen würde, und ich habe gedacht: „Ich fliege am selben Tag wie Zucchero, vielleicht treffe ich ihn im Flugzeug!”, aber er ist in ein anderes Flugzeug gestiegen … Er ist nach Amerika geflogen, um seine CD aufzunehmen, er macht alles in den Vereinigten Staaten, er hat dort ein Haus außerhalb der Stadt, dort kann er Krach machen, wie er will, ohne jemand zu stören. Zu Hause habe ich alle CDs von Zucchero, ich habe ihn auch live gesehen, als er in Bozen war … live ist es etwas anderes, das ist viel schöner! 85 Was ich arbeite ... Zurzeit arbeite ich hier in Branzoll unter dem Haus, ich sage unter dem Haus, weil es unterhalb ist … abwärts. Ich arbeite in einem Supermarkt, wo ich Aranciata, Getränke, Wasser, Bier, Wein, Essig, Öl, Bohnen, Sugo, Nudeln, Mehl, Essiggurken in die Regale stelle … alles Lebensmittel, die es braucht, während sich um die frischen Sachen und das Joghurt der Direktor kümmert, weil er das machen will. Ich komme mit allen Kollegen gut zurecht, heute Morgen hat es Probleme mit dem alten Direktor gegeben, wenn er da ist, muss man mehr arbeiten … alles muss unter Kontrolle und in Ordnung sein. ... und was ich gern arbeiten möchte! Ich würde gern etwas anderes machen … als Straßenarbeiter tätig sein. Mein Hausnachbar arbeitet in Auer, er macht Teer, bringt die Straßen in Ordnung und pflegt die Bäume und Sträucher neben der Etsch, dort wo der Fahrradweg ist. Wenn es schneit, fährt er mit dem Schneeräumgerät und räumt den Schnee und das Eis weg. Letztes Jahr, oder vielleicht vor zwei Jahren, hat er mich zur Arbeit mitgenommen und ich habe zuschauen können, was er macht. Ich kenne viele Leute, die diese Arbeit machen … ich bin nicht gern in einem geschlossenen Raum, dort fehlt mir die Luft. Ich würde auch gern als jemand arbeiten, der die Asche aus den Kaminen entfernt … als Kaminkehrer … denn er trägt immer einen Arbeitsanzug und hat schmutzige Hände. Mir gefallen jene Arbeiten, wo man richtig schmutzig wird, mit Staub und Öl. Mein Cousin, der in Vicenza wohnt, ist Karosseriemechaniker, er ist immer voller Schmieröl und ich bin immer dort und helfe … so habe auch ich immer schmierige Hände! 86 NACHTRÄGLICH: Ein paar einfache Überlegungen Zum Abschluss der Arbeit ein paar einfache Überlegungen, mit denen die wesentlichen Punkte hervorgehoben werden sollen, die unserer Meinung nach die verschiedenen Leben verbinden, von denen berichtet wurde. Diese Erzählfragmente, die bereits im Textkorpus der einzelnen Geschichten enthalten sind, werden noch einmal unter einer Überschrift präsentiert, die unseres Erachtens auf die Komplexität verweist, von der diese einzigartigen Existenzen, aber auch der Lebensablauf der Familiengemeinschaft, in die sie eingebunden sind, durchdrungen sind. Die Kernpunkte, die ausgemacht wurden, beziehen sich auf Ereignisse, die den Lebensablauf markieren, mit den damit verbundenen Emotionen, den besonderen Beziehungen, die aufgebaut oder aufrechterhalten werden müssen, wie auch den Widersprüchen, die sich in den Existenzen all derer bilden, die von einer Behinderung betroffen sind. Diese Kernpunkte sind: • Geburt und Diagnose • Das Verhältnis zu den Sozialund Gesundheitsdiensten • Gruppe für gegenseitige Hilfe und Solidarität: Ressource oder Mangel? • Normalität und Alltag • Freundschaft und soziale Beziehungen • Träume und Wünsche Die Komplexität, die aus der Analyse der verschiedenen Kernpunkte deutlich wird, soll insbesondere allen jenen vermittelt werden, die beruflich oder als Freiwillige in die Welt der Menschen mit anderen Fähigkeiten eintreten. Diese Kernpunkte stellen die Spuren eines Erkenntnisprozesses dar, eines noch nicht abgeschlossenen, 87 sondern offenen Prozesses, der von einer Gruppe in Angriff genommen wurde, die an die Aufwertung der autobiografischen Erzählung als Zugang zum Wissen von und über sich selbst geglaubt hat, eines Reifungsprozesses der gesamten Gemeinschaft. Geburt und Diagnose „Gott sei Dank, wenn ich gewusst hätte, dass Lara in ihrem Leben nicht gehen oder sprechen können würde, wäre ich wahrscheinlich verzweifelt und hätte meine Reaktion auch dramatisch sein können“. Das Erste, was man fast immer aufgeben muss, wenn ein behindertes Kind zur Welt kommt, ist die Arbeit; das Kind braucht eine konstante Rehabilitation, es stehen zahlreiche ärztliche Untersuchungen, Verpflichtungen usw. an …“ Als Monia auf die Welt kam, war sie ein hübsches Kind, völlig normal, scheinbar gesund und sehr lebhaft. Ich hatte damals eine sehr gute Stelle als Dekorateurin (…) Ich stellte mir ein ruhiges und unbeschwertes Dasein vor. Erst nach mehreren Monaten, als ich aufhörte, sie zu stillen, traten die ersten Anzeichen ihrer Krankheit auf, (…) doch die Kinderärzte, an die ich mich wandte, stellten das als unbedeutend hin, sie verstanden nicht, und dabei handelte es sich um die ersten Anzeichen einer heimtückischen Stoffwechselkrankheit mit dem Namen „Phenylketonurie“ „Liebe Frau, Sie sind noch jung und können weitere Kinder bekommen, denn das ihre wird keine zwei Jahre alt werden“. Ungefähr so: Schaffen Sie sich ein neues Auto an, denn dieses hier ist kaputt und zum Verschrotten. In jenen Jahren wurden nicht gerade viele gründliche Untersuchungen gemacht. In der Bescheinigung über die Zivilinvalidität 88 steht geschrieben: … Gehirnerkrankung und Schwierigkeit, mit anderen Beziehungen zu unterhalten. Sehen wir es aber an einem praktischen Beispiel: wenn er 10.00 € hat, dann weiß er, dass es 10.00 € sind, er hat aber keine Vorstellung vom Wert. Oder, ich weiß nicht … die Quarzuhr kann er lesen, aber eine andere nicht, oder (…)” Als Roberto geboren wurde, war er ein Kind wie alle anderen, er aß viel und nahm zu. Die ersten Monate waren schwierig, nachts war ich immer wach, weil er häufig weinte; ich habe es aber gern getan, ich fühlte mich natürlich als Mutter. Ich erinnere mich, dass mich die Leute, denen ich beim Spazierengehen begegnete, häufig nach seinem Alter fragten: er war sehr frühreif. An einem warmen Julinachmittag (…) habe ich gemerkt, dass etwas nicht stimmt. Er hatte den Blick starr ins Leere gerichtet und es gelang mir überhaupt nicht, seine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen (…) Erst 15 Jahre später (…) ist es mir gelungen, mir eine Vorstellung von der Komplexität seiner Krankheit zu machen (…) eine Krankheit, die ihn in die Kategorie der „anderen“ verbannt hat und für immer verbannen wird. Überlegungen Die Geburt eines Kindes stellt ein freudiges Ereignis dar und bringt gleichzeitig enorme Veränderungen für die Familie mit sich. Es ist ein Übergang vom Traum zur Wirklichkeit, der sich als schwierig erweist, wenn er vom Auftreten einer Behinderung begleitet ist. Welches Lebensprojekt wird hinfällig und welches neue Lebensprojekt zeichnet sich angesichts dieser neuen Realität ab? Die Stellung einer Diagnose ist entscheidend. Auf der einen Seite erlaubt sie, wenn sie sorgfältig und frühzeitig erfolgt, Maßnahmen in die Wege zu leiten, die für die Lebensqualität der behinderten Person und der Familie erforderlich sind, auf 89 der anderen Seite kündigt sie eine komplexe Realität an, die reich an bedeutungsvollen und vielfach widersprüchlichen Herausforderungen und Emotionen ist. Das Verhältnis zu den Sozial- und Gesundheitsdiensten (…) Unsere Kinder sind ein bisschen auch ihre Kinder (…) Ich muss die Erste sein, die versteht, was zu tun ist und was mit meiner Tochter geschieht, ob es Ergebnisse gibt oder nicht; darum gehöre ich zu jener Kategorie Eltern, die ständig in alles ihre Nase stecken. Das Vertrauen baust du dir mit der Zeit auf, du spürst es, und ich hatte das Glück, Personen zu begegnen, die es sich zu verdienen wussten. (…) Wir müssen das Vertrauen regelmäßig wieder aufbauen! Als Monia klein war, musste ich mit beträchtlichen Schwierigkeiten fertig werden, zuerst bei der Bestimmung ihres Krankheitsbildes und dann, um die für die Behandlung erforderlichen Medikamente zu bekommen. Leider gab und gibt es auf diesem Gebiet immer noch viel Bürokratie (…) Nach der Mittelschule hat er die Berufsschule besucht, den Tischlereikurs. „Es machte mir große Freude zu lernen, wie man mit Holz arbeitet, und ich habe sehr gern in der Mensa zu Mittag gegessen”. Seit mehreren Monaten lebt Renato gemeinsam mit anderen Jugendlichen, die so wie er betreut werden müssen, in einer geschützten Wohnung in Neumarkt (…) Lucia erinnert sich an die Zeit, als sie vor mehr als acht Jahren und mehr oder weniger allein die Entscheidung getroffen hat, Renato und seinen Bruder Franco in entsprechenden Einrichtungen zur Aufnahme behinderter 90 Menschen unterzubringen. Sie musste eine wichtige Entscheidung im Hinblick auf die Zukunft ihrer Geschwister und auf ihre eigene treffen. Die Mentalität jener Jahre: „Du schiebst sie ab. Du lässt sie im Stich“ machte die Entscheidung nicht einfach. Überlegungen Eines der entscheidenden Bedürfnissen einer Familie mit einer behinderten Person ist jenes, auf die sozial- und Gesundheitsdienste bauen zu können, denn sie sind es, denen die sich anvertrauen müssen, um anderen grundlegenden Erfordernissen nachkommen zu können, die das Alltagsleben aufwirft und auferlegt. Jeder Mensch ist, abgesehen von seinen Fähigkeiten, ein soziales Wesen, das Bedürfnisse auf relationaler Ebene, vor allem aber ein starkes Verlangen nach Normalität äußert. Gruppe für gegenseitige Hilfe und Solidarität: Ressource oder Mangel? Ich glaube, anstelle der Haut wächst dir Leder … ja, ja … Leder wächst dir. Es ist ein mühsames Gepäck fürs Heranwachsen: man verbittert mit der Zeit, weil man ständig zu kämpfen gezwungen ist. Wie gern würde ich nur Mutter sein, aber das geht nicht, weil du dich um alles kümmern und über alles gut informiert sein musst, was dein Kind betrifft. Fast immer war ich es, die Vorschläge machen, sich über die Neuheiten bezüglich der technischen Hilfsmittel für das Haus, für die Schule usw. informieren musste …“ „Ich habe viele nette Leute kennengelernt!” erzählt uns Sonia. „Andererseits aber gibt es Familien, die wegen der schweren Behinderung – sowohl körperlich als auch geistig – ihres Kindes viele ehemalige Freunde verloren haben. Das ist grausam! Du musst nicht nur diese schmerzliche Erfahrung in Angriff nehmen, du musst auch mit der Gleichgültigkeit und Ignoranz der anderen fertig werden“. 91 Vor Kurzem habe ich erfahren, dass die medizinische Forschung in Deutschland neue Medikamente und Diätprodukte entwickelt hat. Leider ist unser Gesundheitswesen jetzt der Ansicht, dass die Voraussetzungen, um sich ins Ausland zu begeben, nicht mehr gegeben sind, und folglich würden sie mir die entsprechenden Ausgaben nicht mehr zurückerstatten. Ich bin aber überzeug, dass es hier bei uns noch viele Lücken auf diesem Gebiet gibt (...) „Es wäre nicht schlecht, wenn er etwas mehr unternehmen würde, zum Beispiel Meeraufenthalte … Stätten besuchen und Leute kennenlernen … Und wenn sich die Leute mehr auch mit Menschen wie Renato abgeben würden, sich angewöhnen würden, sie kennenzulernen …” Ein großer Trost ist für mich die Mitgliedschaft im Verein der Eltern von Kindern, die an Invalidität verursachenden Krankheiten leiden; das gibt mir moralischen und psychologischen Rückhalt. Überlegungen Das starke Verlangen nach Normalität seitens der Menschen mit besonderen Bedürfnissen und ihrer Familien kollidiert häufig mit einer Wirklichkeit, die durch die Schwierigkeit gekennzeichnet ist, Beziehungen herzustellen, die frei von Ängsten, Vorurteilen und übertriebenen Skrupeln sind. Die Geburt eines Kindes mit Behinderung ist ein einschneidendes Ereignis für die Familie, jedes Mitglied ist in dramatischer Weise davon betroffen. Der Vater nimmt, auch infolge des Kulturmodells, eine eher marginale Rolle in der Betreuung und Erziehung ein, während die Mutter zweifellos am stärksten eingebunden ist. Ihr Alltagsleben wird voll und ganz davon betroffen und verändert. Sie gibt vielfach ihre Arbeit auf, sie begleitet das Kind bei der Diagnose, Behandlung und Rehabilitation, sie in erster Linie durchlebt rund um die Uhr das Gefühl des Schmerzes, der Ohnmacht und der Schuld. Gemeinsam mit dem Kind muss sie unzählige Male auf das Erleben von Normalität verzichten. 92 Auch das Eheleben kann tief greifenden Veränderungen unterworfen werden und der Weg, den die Familie einschlägt, kann nicht geradlinig verlaufen, kann durch den ständigen Wechsel von Emotionen im Zusammenhang mit der ontologischen Entwicklung des Kindes bestimmt werden. In diesem komplexen Verlauf entwickelt die Familie eigene Strategien und Korrekturen, um ein Gleichgewicht zu finden. Die soziale Integration kann in diesem Verlauf eine Hilfe sein. Sie wird mittels externer Unterstützungsmaßnahmen verwirklicht, zum Beispiel einer Gruppe für Eltern, Freizeittätigkeiten für die Kinder; diese Unterstützungsmaßnahmen beeinflussen das Leben der Familien in maßgebender Weise. Dagegen ist man ohne sie zur Einsamkeit, zur Frustration und Trostlosigkeit verdammt. Normalität und Alltag „Dank Rossella habe ich mich als normales Mädchen gefühlt … sie hat mit mir geredet und mich verstanden“ „Ich glaube nicht, dass ich etwas Sonderbares an mir habe“ „Ich weiß, dass ich nicht normal bin, aber eine Sache ist es, wenn ich mir das sage, eine andere, wenn mir die anderen das sagen“. Beim Erzählen verwendet er häufig Dialektausdrücke, aber als ich ihn darauf aufmerksam mache, verneint er entschieden: „Nein, ich spreche italienisch, spreche ich“. Der Tagesablauf Renatos wird vom Rhythmus der Arbeit in der Werkstätte und durch die Hausarbeiten geregelt, wie: „Duschen, Essen zubereiten, Tassen in die Spülmaschine einräumen, den Tisch säubern, Recycling, einkaufen, den Wochenplan vorbereiten, der bei den Sitzungen beschlossen wird … dann gehen wir zusammen zum Arlecchino Eis essen, oder wir gehen Pizza essen …“ 93 Ich sehe mich als normale Person, ich bin aber behindert, und zwar in dem Sinn, dass ich auch körperliche Probleme habe, zum Beispiel Epilepsie, und deshalb bin ich nicht selbstständig. Zur Schule fuhr ich mit einem Kleinbus der Provinz; er war gelb und trug auf einer Seite die Aufschrift „Schulbus“. Auch am allerersten Schultag bin ich mit dem Kleinbus zur Schule gefahren, allein, Mutter hat mich nicht begleitet. Meine Freizeit verbringe ich immer zu Hause, indem ich Kreuzworträtsel löse und Patiencen lege. Wenn ich zu Hause bin, sehe ich gern fern und höre normale Musik, das heißt jene, die nicht zu laut ist. Ich erinnere mich, wie Mutter am ersten Tag eilig weggegangen ist … ich wollte bei ihr bleiben … anfangs habe ich sehr geweint, dann aber wollte ich nicht mehr weggehen. Im Garten esse ich Trauben, diejenigen, die ich kaufe, schmecken mir nicht, mir schmeckt das Obst, das direkt vom Baum kommt und frisch ist … Überlegungen Jedes der erzählten Leben stellt eine Normalität im Verhältnis zum Kontext dar, der den Erzähler umgibt, und bestimmend sind die signifikanten Beziehungen, die dieser hat. Die Normalität ist für alle eine Konstruktion, unabhängig davon, ob unterschiedliche Fähigkeiten vorliegen. Die Wahrnehmung, die jeder innerhalb eines Systems von sich hat, und vor allem diejenige, die das konstruierte System dem Einzelnen vermittelt, kann das Anderssein schaffen oder unterstreichen. Für einige der befragten Personen ist die Normalität durch die Übereinstimmung mit dem Kontext gegeben, mit dem sie täglich in Beziehung stehen. 94 Die erzählten Geschichten werden nämlich täglich erlebt, und zwar mittels unterschiedlicher, deshalb jedoch nicht einschränkender Interpretationscodes. Das Leben wartet häufig mit Situationen und Ereignissen auf, die nur durch die Art und Weise, wie sie der Mensch erlebt und sich mit ihnen in Beziehung setzt, zu einer Quelle der Behinderung werden. Es gibt mehrere Normalitäten, und keine davon kann als positiv oder negativ betrachtet werden. Wir sollten nach Möglichkeit imstande sein, jeder von uns, ohne Masken und soziale Konstruktionen zu leben. Freundschaft und soziale Beziehungen „Die Leute lassen mich spüren, dass ich anders bin. Sie erschrecken vor mir, sie sehen mich nicht an, sie reden nicht mit mir“. „Daniele schob immer meinen Rollstuhl, aber nicht, weil ich ihm gefiel, sondern weil es ihm gefiel, mit ihm herumzufahren“. „Außerhalb der Schule habe ich Freunde, in der Schule aber keine; das interessiert mich nicht“ Für ihn geschieht alles normal; er ernennt seine Lebensgefährten unterschiedslos unter Gästen und Mitarbeitern, von denen er auch einige Geheimnisse kennt … Das Wochenende verbringt Renato beim Onkel und hilft ihm bei den häuslichen Angelegenheiten (…) Außerdem hat er eine wichtige Aufgabe, die ihm sehr am Herzen liegt: Flaschen, Kartone, Zeitungen, Plastik sammeln, alles was ihm der Onkel und Freunde im Dorf herrichten, und den Müll zu trennen. Ab und zu treffe ich mich mit meinem Freund Giacomo zum Pizzaessen, auch wenn wir uns jetzt schon seit 95 einer Weile nicht mehr sehen, oder ich nehme an Tätigkeiten des Vereins teil, in den ich mich zusammen mit meiner Mutter eingeschrieben habe. Die Lehrerin war auf Draht, auch die Kameraden waren das. In der Klasse war auch die Tochter meiner Lehrerin, wir waren immer zusammen. Wir hören uns immer noch fast täglich, wir sind Freunde geblieben, Samstags spiele ich Schlagzeug, meine Freunde studieren oder gehen zur Schule und sind daher nachmittags beschäftigt. Ein Freund arbeitet donnerstags nachmittags nicht, so wie ich, und ab und zu treffen wir uns, um gemeinsam zu spielen. Wenn die Freunde keine Schule haben, oder im Sommer, gehen wir Pizza essen, manchmal bleiben wir auch bis halb zwei oder zwei Uhr aus. In den Ferien am Meer habe ich einige Freunde kennengelernt, wir haben uns unterhalten und Freundschaft geschlossen … du rufst mich an, ich ruf dich an! Überlegungen Die sozialen Beziehungen entstehen durch die Begegnung zwischen zwei Teilen, und maßgeblich ist, wie sich jeder beteiligte Teil einbringt und den anderen mit einbezieht. In der Gegenüberstellung mit den anderen stellt sich jeder dar und definiert seine persönliche Identität. Freundschaft bedeutet, eine auf Zuneigung, Achtung und Vertrauen gegründete Bindung herzustellen. Wenn derjenige, der anders ist, tagtäglich mit dem Gefühl von Unbehagen und Angst, die er im anderen hervorzurufen spürt, kämpfen muss, wie kann er ihm da mit Freundschaft begegnen, wie kann er dieses kostbare Gefühl aufkommen lassen? Die Angst schlägt in die Flucht, die Angst führt dazu, dass man sich versteckt; zwischen dem, der flüchtet, und dem der 96 sich versteckt, ist die Leere, da kann es zu keiner Begegnung kommen, kann keine Freundschaft entstehen. Diese Leere tut weh, lastet auf dem Menschen mit besonderen Bedürfnissen, erstickt ihn und hindert ihn daran, die Schönheit und Lebenskraft dieser leidvollen Welt zu entdecken, einer Welt, die aber voller Mut, Willenskraft und Ressourcen ist, die für uns alle wertvoll sind. Träume und Wünsche „Ich träume davon, eine Familie zu haben, zwei Kinder, eine Arbeit in einer Großstadt“. „Meine große Leidenschaft, eine wirklich starke Leidenschaft, ein Traum … ist der klassische Tanz. Der Tanz weckt unbeschreibliche Emotionen in mir“ „Ich träume davon, zu tanzen; leider werde ich es nie tun können … aber ich habe mich damit abgefunden“ Renato fragt sich, was aus dem Wohnheim geworden ist, es tut ihm ein wenig leid, weil sich einiges geändert hat, und ihm fehlen die Köche. Letztlich aber, versichert er, würde er, wenn er in einem Wohnheim wäre, jetzt darum ersuchen, in eine Wohnung ziehen zu können, um dort zu leben. Als ich Renato frage, ob es etwas gibt, was er gern tun würde und was er zurzeit nicht tut, wiederholt er alles, was er bereits tut. Es sind alles einfache Sachen. Erst als ich insistiere, sagt er mir, dass er sich die Zukunft nur schwer vorstellen kann; ihm passt es so, wie es zurzeit ist: „Trinken, essen, mich wohlfühlen“. Meine Zukunft? Ich habe keine Ahnung, wo ich in der Zukunft sein werde, und noch weniger, was ich machen werde, ich denke, ich werde 97 weiterhin in der Werkstätte arbeiten wie bisher und mit Mutter und Vater zusammenleben. Nein, ich denke, dass ich immer so weitermachen werde wie bisher, das heißt, wie soll ich sagen … ich bin als Stubenhocker geboren und möchte das auch weiterhin bleiben. Wir haben gesagt: „Versuchen wir, unsere erste CD aufzunehmen!” … und wir haben den Versuch gestartet … ich würde gern eine weitere machen. Ich würde gern etwas anderes machen (…) ich bin nicht gern in einem geschlossenen Raum, dort fehlt mir die Luft. Mir gefallen jene Arbeiten, wo man richtig schmutzig wird … Ich war fast einen Monat lang in den Vereinigten Staaten … es war wirklich schön, ich wäre gern noch ein wenig länger dort geblieben! Überlegungen Schwierige oder leichtere Wünsche, unerfüllbare Träume, die dem Leben Farbe verleihen. Die Welt der Menschen mit Behinderung verläuft parallel zu jener und ist gleich wie jene der Nichtbehinderten, die ebenfalls von mehr oder weniger wichtigen Wünschen angetrieben werden und sich von oft schwer zu verwirklichenden Träumen tragen lassen. Der Unterschied liegt im benachteiligten Start, im mühsamen, steilen Weg voller Hindernisse, den sie beschreiten müssen, aber oft gehen sie als Sieger durchs Ziel, und die Wünsche erfüllen sich, die Träume werden wahr. 98 NACHWORT Claudio Imprudente Die Lektüre dieses Buches bestärkt mich in einer Sache, von der ich mich in diesen letzten Jahren überzeugt habe: die Behinderung darf nicht nur als Studienobjekt seitens eines Wissenschaftswissens (Pädagogik, Medizin, Rehabilitation usw.) betrachtet werden, sondern als Blick auf die Wirklichkeit, als Standpunkt, von dem aus die Ereignisse unseres Lebens betrachtet und schließlich erzählt werden. Diese Überlegung ist sehr wichtig, weil sie eine Reihe von Kenntnissen und Sehweisen wiedereinsetzt und die spezialistische Selbstgettoisierung verlässt, unter der die sogenannte „Welt der Behinderung“ leidet, eine Welt, die meiner Meinung nach als unbewohnt zu betrachten ist. Die Behinderung ist nicht ausschließlich einer Kategorie von Menschen zugeordnet, darf nicht nur von den „Sachverständigen“ angegangen werden, die Integration ist nicht das Ergebnis eines ausschließlich technischgesetzgeberischen Prozesses. So kommt zum Beispiel wieder die Würde des Elternwissens zur Geltung, gleichberechtigt gegenüber dem Wissen des Pädagogen oder des Psychiaters, und es entsteht das, was letzthin als Pädagogik der Eltern bezeichnet wird und nichts anderes ist als die Pädagogik des Vertrauens, die Pädagogik derjenigen, die in das Lebensprojekt des Kindes investieren, in seine Geschichte, und zwar so viel wie möglich. Doch neben dem Elternwissen kann es noch andere Kenntnisse geben, andere Sehweisen, andere Geschichten zu erzählen, wie zum Beispiel jene des Trainers, des Arbeitskollegen, des Fans, des Alltagsmenschen, der von Mal zu Mal verschiedene Rollen innehat. Das sind wesentliche Figuren, weil sie die Menschen mit Behinderung nicht in die übliche Dialektik/Dyade Erzieher-Erzogener, BetreuerBetreuter, Therapeut-Therapierter einbinden, sondern in andere, allgemeinere Rollen, die allen gehören: Eltern-Kind, Trainer-Trainierter, Kollege-Kollegin usw. Schließlich die 99 Würde und Unabdingbarkeit des Wissens derjenigen, die ihre Situation in persona erleben und von einem internen Gesichtspunkt aus erzählen können: anhand dieser Erzählung definiert man sich zwangsläufig neu, setzt sein Selbstbild in Bewegung, versteht man es besser, stellt man es sich selbst gegenüber. Bewahrer der eigenen Geschichten und jener der anderen zu sein ist wirklich eines der ersten und wichtigsten Ziele des menschlichen Wesens als solches, das ein „homo politicus“ und folglich zugleich ein sprechendes, dialogierendes und erzählendes Wesen ist. Alle meine Bücher sprechen über mich zunächst zu mir selbst, es sind Geschichten, die ich erlebe und mit Hilfe des Vergrößerungsglases der Erinnerung wieder erlebe, es sind Geschichten, die mir ein Selbst zurückschicken, das in Bewegung ist, sich in Entwicklung befindet (Verbesserung oder Verschlechterung? Wer weiß?), immer aber unter dem vitalen Zeichen der Veränderung. Das Projekt „Calamaio“ (Tintenfass), das 1986 vom „Centro Documentazione Handicap“ in Bologna ins Leben gerufen wurde (für weitere Informationen siehe: www.accaparlante.it), besteht aus einem Team von Animateuren, Menschen mit und ohne Behinderung, und sein Hauptzweck besteht darin, sich mit Schulkindern zu treffen und sie zu erziehen, den Federhalter ins Tintenfass einzutauchen und das weiße Blatt zu beschmieren, Geschichten zu erzählen, die häufig nicht erzählt werden und in früheren Zeiten in Vergessenheit geraten sind. Die Behinderung wurde lange, sehr lange, viel zu lange in die Vorgeschichte verbannt, die, wie schon das Wort sagt, die Geschichte vor der Geschichte ist, die Nichtgeschichte, weil man sich nicht daran erinnert, weil sie nicht in der Erinnerung und im Gedächtnis der Nachfahren festgehalten ist, das Zeitalter, in dem das menschliche Wesen, obwohl es existierte, die Ereignisse seines Lebens nicht festhielt, wo die Menschheit quasi als einheitlicher Block erscheint, keine Einzelpersönlichkeiten hervorstechen, es 100 keine Namen gibt, an die man sich erinnert, es keine einmaligen Menschen gibt (wie oft habe ich sagen hören: „In jener Klasse ist das behinderte Kind“ oder: „Man weiß, dass die Mongoloiden die Musik lieben“ usw.). Es ist ein wesentlicher Tatbestand, dass die Entstehung der Schrift, die Entstehung der Stadt und die Entstehung der Geschichte praktisch zusammenfallen. Leider ist die derzeitige Geschichte vieler Menschen mit Behinderung noch eine Vorgeschichte, und auch dieses Buch trägt dazu bei, sie dieser zu entreißen. Von sich zu erzählen und die Geschichte eines Menschen mit Behinderung zu erzählen bedeutet also in erster Linie, seine Einmaligkeit zu bekräftigen, sein nicht kategorisierbares Sein, sein Mehr-Sein (als ein stereotypes und bereits festgelegtes Bild, als eine einzige Rolle). Der Mensch mit Beeinträchtigung hat es sehr schwer, als Person als solche akzeptiert zu werden, sowohl weil er „in seiner Beeinträchtigung versteckt“ ist, also mit seiner Beeinträchtigung identifiziert wird, als auch weil seine Situation als etwas Überraschendes erscheint, da sie irgendwie widersprüchlich, paradox ist. Für die Griechen ist jemand, der nicht in der Polis ist, der nicht zur Stadt gehört, der nicht deren Sprache spricht, der außerhalb von ihr steht, entweder ein Tier oder ein Gott. Das Menschsein des Menschen mit Behinderung ist eine Tatsache, die theoretisch von allen anerkannt und akzeptiert wird, aber im konkreten Alltag ist es nicht so. Für das Kollektivbewusstsein tut sich der Behinderte schwer, auf der menschlichen Ebene zu bleiben, und gleitet mal auf die tierische, mal auf die göttliche Ebene ab. Im Allgemeinen betrachtet man den Behinderten als jemand, der mehr leidet, ja in gewisser Hinsicht als das Symbol des Leidens, das, wie wir wissen, ein Begriff ist, dem in der christlichen Lehre eine sehr wichtige und häufig missverstandene Rolle zukommt. Leider ist die Auffassung noch sehr verbreitet, die im Behinderten jemand sieht, der für die Sünden der Menschheit büßt (und in der archaischeren Vorstellung für die Verfehlungen der Familie), der direkt in 101 den Himmel kommt, nachdem er dieses Jammertal verlassen hat. Wenn also der Weg des Leidens ein Weg ist, der zu Gott führt, dann hat natürlich ein Mensch mit Behinderung weniger mit der zeitlichen Ebene zu tun, als vielmehr mit der kommenden Welt, dann verweist die Wahrnehmung des Behinderten weniger auf das Hier und Jetzt, als vielmehr auf das Jenseits. Da haben wir ein erstes Paradox: welcher Welt gehört der Behinderte an? Als ob das nicht genug wäre, gibt es neben dieser Tendenz – sagen wir mal – nach oben, eine Tendenz nach unten, die den Behinderten erdrückt, ihn auf die „irdischen“ Fakten verflacht. Seine Körperlichkeit fällt nämlich viel stärker auf als die der Nichtbehinderten (man braucht nur an die primären Funktionen wie zum Beispiel Essen oder Trinken denken, die häufig problematisch sind und sofort ins Auge fallen); seine tierische Natur – aber vielleicht wäre es besser, von Körperlichkeit zu sprechen (die tierische Natur hat mit der Seele zu tun, während der behinderte Körper als stumpf, matt, ohne innere Energiebahnen empfunden werden kann) – tritt in den Vordergrund. Die tierische Natur, die zwar in jedem Menschen vorhanden ist, aber durch Erziehung und Anstandsregeln domestiziert, aufgewertet und sublimiert wird, wird beim Behinderten zu einem unliebsamen Gast, weil sie viel zu oft ertragen und nicht verstanden wird. Kehren wir zu der griechischen Aussage zurück: Wer nicht in der Polis ist, ist entweder ein Tier oder ein Gott. Wir haben gesehen, dass der Behinderte zwei gleichzeitig wirkenden Tendenzen ausgesetzt ist, die in jedem Fall seine menschliche Dimension negieren. Der Mensch ist ein Wesen, bei dem sowohl die tierische Gegebenheit als auch die rational-göttliche Komponente harmonieren. Der Mensch ist Teil der Natur, gehört zur Natur, gleichzeitig aber ist es, als ob er sie von außen betrachtete, und zwar gerade dank der Fähigkeit bzw. menschlichen Dimension schlechthin: des Selbstbewusstseins. Der Mensch befindet sich auf halbem Weg zwischen dem 102 Tierischen und dem Göttlichen, und in diesem Zwischenbereich hat er seine Stadt, seine Gemeinschaft gebaut, in der es wesentlich ist, den Logos, die Sprache zu teilen, um dazuzugehören. Wenn diese gemeinsame Teilhabe für den Behinderten problematisch ist, ist die Verbannung aus der Stadt unausweichlich. Dieses Buch gibt der Gemeinschaft die Dimension des Behindert-Seins zurück, weil es der Erzählung, dem Wort die Würde zurückgibt. Das H (für Handikap) wird von einem stummen zu einem sprechenden Buchstaben (darum haben wir 1981 die Zeitschrift HP – „Accaparlante“, das sprechende H gegründet, dessen Untertitel l’handicap fuori dalla riserva [das Handikap außerhalb des Reservats] lautete). Mit Hilfe von Büchern wie diesem kehren die Menschen mit Behinderung und ihre Familien in die Gemeinschaft zurück, finden den Mut, um sich neu zu definieren, aus der Identifikation mit der Beeinträchtigung herauszukommen. Die Debatte über die Terminologie, die verwendet werden soll (Behinderte, Menschen mit anderen Fähigkeiten usw.) ist sehr wichtig im Hinblick darauf, was sie bedeutet. Bei einer Begegnung mit der Bevölkerung von Ghilarza in Sardinien habe ich mich als andeutungsweise gleich definiert … worauf begeisterter Beifall und großes Gelächter folgten. Dieses Ringen um Selbstverständnis seitens der Menschen mit Behinderung ist sympathisch. Mancher definiert sich als Vogelscheuche, wie Carlo Marongiu in seinem Buch, in dem er erzählt, wie er die neurologische Krankheit erlebt hat, die dazu geführt hat, dass er vollständig gelähmt ist. Ein sehr schönes und tief gehendes Buch, in dem sich auch der wunderbare Satz findet: „Ich glaube, dass die Schwere einer Krankheit nicht nur nach den körperlichen Schäden beurteilt werde sollte, die sie beim Menschen hervorruft, sondern auch nach der Fähigkeit des Individuums, auf diese Krankheit körperlich und geistig zu reagieren“ (S. 28, aus Pensieri di uno spaventapasseri [Gedanken einer Vogelscheuche], Ghilarza, 2002). 103 Vielleicht entspringt der Wunsch, aus den Schemas auszubrechen, sich als Mensch mit anderen Fähigkeiten zu bezeichnen, oder jemand anderen als schwer nichtbehindert zu bezeichnen, gerade der Sehweise desjenigen, der die Tatsache, eine Beeinträchtigung zu haben, nicht als eine statische, sondern als eine in Bewegung befindliche Situation betrachtet, die sich je nach der Perspektive ändert, deren Schwere nicht definiert und nicht definitiv ist. Die Schwere auch einer schrecklichen Krankheit wie jener von Marongiu, die er selbst ohne Zögern als die Verfluchte bezeichnet, ist nicht so groß, als dass sie nicht Platz für die „Leichtigkeit“ der Selbstironie ließe, für die Würde, sich nicht mit der Krankheit zu identifizieren, sondern mit einem Menschen, der Feuerwehrmann gewesen ist, der Ehemann, Vater oder Gläubiger ist, und der darüber hinaus auch unter jener Krankheit leidet. Es ist die letzte Freiheit des menschlichen Wesens, das imstande ist, einen Abstand zwischen sich selbst und der Notwendigkeit, zwischen dem Gedanken und den Dingen zu setzen. „Ein Berg ist ein Berg und ein Millimeter ist ein Millimeter. Das sind zwei ganz verschiedene Dinge, aber für mich gibt es keinen Unterschied.“ (Ebenda, S. 29) Zum Schluss möchte ich allen die für mich wichtigste Botschaft dieses Buches weitergeben, nämlich Bewahrer von etwas und von jemand zu sein, Bewahrer der eigenen Geschichten im Wissen, dass unsere Geschichte das Ergebnis der Verflechtung vieler Geschichten ist, und Bewahrer der Geschichten der anderen zu sein, weil diese auch unsere widerspiegeln und beleuchten. 104 Dank Für diese Arbeit möchten wir außer den Fachleuten von der Freien Universität für Autobiografie von Anghiari, die uns mit viel Geduld unterstützt haben, noch weiteren Personen danken. Unser Dank gilt Dr. Antonio Gualtirolo, der dieses Projekt in die Wege geleitet hat, und Frau Dr. Liliana Di Fede Mosca, die dessen Durchführung geleitet hat. Ein herzliches und besonderes Dankeschön geht vor allem an die befragten Personen für ihren überaus wertvollen und persönlichen Beitrag und dafür, dass sie uns erlaubt haben, in ihr Leben zu treten, um anderen zu ermöglichen, etwas Anderes und Neues aus der Welt der Menschen mit anderen Fähigkeiten kennenzulernen. Davide, Elena, Lisa, Maria Cristina, Silvia und Ugo 105 Bezirksgemeinschaft Überetsch-Unterland F.-Innerhofer-Straße 15 I-39055 Leifers (BZ) Tel. +93 0471 950653, Fax +39 0471 950692 E-Mail: distretto.sprengel@bzgue.org www.bzgcc.bz.it September 2006. Grafisches Konzept: Stefano Boragine – Sozialsprengel Leifers (BZ) 106