Ovid, Metamorphosen
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Ovid, Metamorphosen
classica Inhalt kompetenzorientierte lateinische Lektüre I. Einleitung Standards und Kompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ovid: Leben und Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachliche Besonderheiten von Ovids Dichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. 7 8 13 Texte Metamorphosen – Welt im Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Entstehung der Welt und des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Vier Weltalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Apollo und Daphne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Narcissus und Echo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Latona und die Lykischen Bauern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Medea und Iason . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Daedalus und Ikarus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Orpheus und Eurydike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pygmalion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlussbetrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 18 24 28 36 44 48 56 60 64 71 III. Anhang Verena Datené Lernwortschatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Versmaß des Epos: Der Hexameter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wichtige Stilmittel und ihre Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verzeichnis der lateinischen Eigennamen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 91 92 95 Ovid, Metamorphosen Inhalt Anzeige_CLASSICA_Datené_Ovid.indd 1 5 19.06.15 09:48 mox etiam fruges tellus inarata31 ferebat, Die Vier Weltalter flumina iam lactis35, iam flumina nectaris36 ibant, Nach der Entwicklung vom Chaos zum Kosmos und der Entstehung des Lebens auf der Erde durchläuft die Menschheit verschiedene Stadien. Am Anfang herrscht ein paradiesischer Zustand. flavaque37 de viridi38 stillabant39 ilice40 mella41. sponte sua, sine lege fidem rectumque3 colebat. Poena metusque aberant, nec verba minantia4 fixo aere5 legebantur, nec supplex turba timebat iudicis ora sui, sed erant sine vindice2 tuti. Nondum6 caesa suis, peregrinum7 ut viseret8 orbem, 95 montibus in liquidas pinus9 descenderat undas nullaque mortales praeter sua litora norant10; nondum praecipites cingebant oppida fossae11; non tuba derecti12, non aeris cornua flexi12, non galeae13, non ensis erat: sine militis usu 100 mollia securae peragebant otia gentes. Ipsa quoque inmunis14 rastroque15 intacta nec ullis saucia16 vomeribus17 per se18 dabat omnia tellus, contentique cibis nullo cogente creatis19 arbuteos fetus20 montanaque fraga21 legebant 105 cornaque22 et in duris haerentia mora23 rubetis24 et25 quae deciderant patula26 Iovis arbore glandes27. Ver erat aeternum, placidique tepentibus28 auris Mulcebant29 Zephyri30 natos sine semine flores; 24 nec renovatus32 ager gravidis canebat33 aristis34; 1. Die Goldene Zeit: Ov. met. 1, 89–112 (A) Aurea prima sata1 est aetas, quae vindice2 nullo, 90 110 nominaler Abl. abs. – aetas; lex; poena; otium; gens; cogere; legere; ver Anzeige_CLASSICA_Datené_Ovid.indd 2 1 satus (PPP zu serere): entstanden – 2 vindex, icis m.: Rächer, strafender Richter – 3 rēctum: das richtige Handeln – 4 minārī: drohen – 5 fīxō aere: auf einer öffentlich ausgehängten Bronzetafel (mit Gesetzen) 6 Lies: Nōndum pīnus caesa (dē) suīs montibus … dēscenderat, ut … – 7 peregrīnus: fremd, ausländisch – 8 vīsere: besuchen – 9 pīnus, ūs f.: Pinie (= Holz für den Schiffsbau) – 10 nōrant = nōverant – 11 praecipitēs fossae: tiefe Befestigungsgräben – 12 tuba dērēctī (aeris)/cornua flēxī aeris: Kriegstrompete aus geradem Erz/Horn aus gebogenem Erz – 13 galea: Helm 14 immūnis: frei von Pflichten – 15 rāster, trī m.: Hacke – 16 saucius: verletzt – 17 vōmer, eris n.: Pflugschar – 18 per sē: von sich aus – 19 creātus: gewachsen – 20 fētūs arbuteī: Früchte des Erdbeerbaums – 21 frāga montāna: Bergerdbeeren – 22 cornum: Kornelkirsche – 23 mōrum: Brombeere – 24 rubētum: Brombeerstrauch – 25 Lies: et glandēs, quae dēciderant … – 26 patulus: ausladend, breit – 27 glāns, glandis f.: Eichel 31 inarāta: ungepflügt – 32 renovāre: neu bearbeiten – 33 cānēre: weiß/grau sein (≠ canere: singen!) – 34 arista: Ähre – 35 lac, lactis n.: Milch – 36 nectar, nectaris n.: Nektar – 37 flāvus: goldgelb – 38 viridis, e: grün – 39 stīllāre: tropfen – 40 īlex, icis f.: Steineiche – 41 mel, mellis n.: Honig 1 Gliedern Sie den Text anhand der verwendeten Sachfelder. 2 Arbeiten Sie die sprachlich-stilistischen Mittel heraus, mit denen Ovid den paradiesgleichen Zustand ausgestaltet. 3 a) Benennen Sie die wesentlichen Merkmale der Goldenen Zeit. b) Vergleichen Sie die Darstellung der Goldenen Zeit bei Ovid mit dem Gemälde von Lucas Cranach d.Ä. 4 Welche Entwicklung erwarten Sie nach diesem »goldenen Beginn«? Lucas Cranach d. Ältere, Das Goldene Zeitalter, um 1530, Alte Pinakothek, München (© akg-images) 28 tepēns: lau, warm – 29 mulcēre: streicheln – 30 Zephyrus: Westwind Die Vier Weltalter 25 19.06.15 09:48 565 6. Daphnes Verwandlung: Ov. met. 1, 540–566 (A–B) adnuit35 utque caput visa est36 agitasse cacumen. Apollo verfolgt Daphne immer drängender und ist ihr bereits unmittelbar auf den Fersen. 540 Qui tamen insequitur pennis adiutus Amoris1, ocior2 est requiemque negat tergoque fugacis inminet3 et crinem4 sparsum cervicibus adflat5. Viribus absumptis expalluit6 illa citaeque victa labore fugae spectans Peneidas7 undas 545 »Fer, pater,« inquit »opem! Si flumina numen habetis, Finierat Paean33. Factis modo laurea34 ramis14 1 pennīs adiūtus Amōris: unterstützt von den Schwingen Amors – 2 ōcior: schneller – 3 tergō imminēre: im Nacken sitzen – 4 crīnis, is m.: Haar – 5 adflāre: mit dem Atem streifen – 6 expallēscere, -palluī: erblassen – 7 Pēnēis, -idis Adj. fem.: des Peneus – 8 Lies: Perde figūram, quā … 1 Beschreiben Sie den Moment der Verwandlung. Welche Erzähltechnik wendet Ovid an? 2 Benennen Sie, welches Aition sich in dem Mythos von Apollo und Daphne findet. 3 Die Verwandlung »rettet« Daphne in letzter Sekunde. Werten Sie diese Lösung im Hinblick auf die beteiligten Pesonen. Überlegen Sie auch andere Lösungsvarianten. 4 Vergleichen Sie die Skulptur Berninis mit der Darstellung bei Ovid. 9 torpor, ōris m.: Starre, Lähmung – 10 artūs, uum m.: Glieder – 11 tenuis liber, brī: dünner Bast – 12 praecordia, ōrum n.: Brust – 13 frōns, frondis f.: Laub – 14 rāmus: Zweig – 15 pigra rādīx, cis f.: zähe Wurzel – 16 cacūmen, inis n.: Wipfel – 17 nītor: Glanz 5 Der Anfang dieses Mythos’ war ein Rangstreit zwischen Apollo und Cupido. Welcher der beiden ist Ihrer Meinung nach am Ende überlegen? Beziehen Sie Ihr Ergebnis auch auf die Gattungsfrage (Epos – Elegie, vgl. S. 29 Aufgabe 3). qua8 nimium placui, mutando perde figuram!« Vix prece finita torpor9 gravis occupat artus10, mollia cinguntur tenui11 praecordia12 libro. In frondem13 crines, in ramos14 bracchia crescunt; 550 pes modo tam velox pigris radicibus15 haeret, ora cacumen16 habet: remanet nitor17 unus in illa. Hanc quoque Phoebus amat positaque in stipite18 dextra sentit adhuc trepidare novo sub cortice19 pectus conplexusque20 suis ramos14 ut membra lacertis 555 18 stīpes, stipitis m.: Stamm – 19 cortex, icis m.: Rinde – 20 conplectī, plector, plexus sum: umarmen – 21 lignum: Holz K oscula dat ligno21; refugit tamen oscula lignum21. Cui deus »At quoniam coniunx mea non potes esse, arbor eris certe«, dixit, »mea! Semper habebunt te coma22, te citharae23, te nostrae, laure24, pharetrae25. Tu ducibus Latiis aderis, cum laeta triumphum 560 vox canet et visent longas Capitolia26 pompas27. Postibus Augustis28 eadem fidissima custos ante fores29 stabis mediamque tuebere30 quercum31. Utque meum intonsis32 caput est iuvenale capillis, tu quoque perpetuos semper gere frondis honores!« 33 Paeān: Beiname Apollos als Heilgott – 34 laurea: Lorbeerbaum – 35 adnuere, nuī: zunicken, zustimmen – 36 vīsa est: sie schien 22 coma: Haar – 23 cithara: Kithara (antikes Zupfinstrument), Leier – 24 laurus, ī f.: Lorbeer – 25 pharetra: Köcher – 26 Capitōlia (poet. Pl.): das Kapitol – 27 pompa: Festzug – 28 postēs Augustī: Türpfosten am Palast des Augustus (zur Ehrung des Augustus mit Lorbeer geschmückt) – 29 foris, is f.: Tür, Eingang – 30 tuēbere = tuēberis (→ tuērī) – 31 media quercus: Eichenkranz (in der Mitte über der Tür aufgehängte Auszeichnung) – 32 intōnsus: ungeschnitten Aition Unter einer aitiologischen Erzählung versteht man eine meist mythische Erklärung des Ursprungs von Naturphänomenen, Lebewesen, Städten, Bräuchen etc. (griech. αἴτιον = Ursache). Giovanni Lorenzo Bernini, Apoll und Daphne, um 1622 (© bpk/Hermann Buresch) 34 Abl. abs. – vis; vincere; labor; opem ferre; crescere; sentire; osculum; coniunx; arbor Anzeige_CLASSICA_Datené_Ovid.indd 3 Apollo und Daphne 35 19.06.15 09:48 nunc sorbere37 fretum38, nunc reddere, cinctaque saevis 2. Pflicht oder Neigung? Ov. met. 7, 38b–73 (B) 65 Medea ist hin- und hergerissen, ob sie Iason, dem Fremdling, helfen soll, das Goldene Vlies zu erlangen. Auf der einen Seite steht die frisch aufgeblühte Liebe, auf der andern das Pflichtgefühl gegenüber ihrem Vater und der Heimat. Scylla39 rapax canibus Siculo latrare40 profundo41? Nempe20 tenens, quod amo, gremioque42 in Iasonis haerens per freta38 longa ferar; nihil illum amplexa43 verebor — Prodamne ego regna parentis, atque ope nescio quis1 servabitur advena2 nostrā, 40 ut per me sospes3 sine me det lintea ventis4 virque sit alterius, poenae5 Medea relinquar? 1 nescio quis: irgendein – 2 advena m./f.: Fremdling – 3 sospes, pitis: gerettet – 4 lintea ventīs dare: die Segel setzen, abfahren – 5 poenae (Dat. finalis): um bestraft zu werden aut, siquid metuam, metuam de coniuge solo. – Coniugiumne putas44 speciosaque45 nomina culpae 70 non ea nobilitas animo est8, ea gratia formae, 45 ut timeam fraudem9 meritique10 oblivia11 nostri. Et dabit ante fidem, cogamque in foedera testes12 esse deos. Quid tuta times? Accingere13 et omnem pelle moram14! Tibi se semper debebit Iason, te face sollemni15 iunget sibi perque16 Pelasgas17 50 servatrix urbes matrum celebrabere turbā. Ergo ego germanam18 fratremque patremque deosque et natale solum19 ventis ablata relinquam? Nempe20 pater saevus, nempe est mea barbara tellus, frater adhuc infans21; stant mecum vota sororis, 55 maximus intra me deus22 est! Non magna relinquam, magna sequar: titulum23 servatae pubis Achivae24 notitiamque25 soli melioris et oppida, quorum hic quoque fama viget26, cultusque artesque locorum, quemque27 ego cum rebus, quas totus possidet orbis, 60 Aesoniden28 mutasse29 velim. Quo coniuge felix et dis cara ferar30 et vertice31 sidera tangam. Quid, quod32 nescio qui33 mediis occurrere34 in undis dicuntur montes ratibusque35 inimica Charybdis36 50 Dixit, et ante oculos rectum pietasque pudorque 6 ingrātus: der Undankbare – 7 in illō (est): er hat – 8 esse + Dat.: haben – 9 fraus, fraudis f.: Betrug – 10 meritum: Verdienst – 11 oblīvium: Vergessen – 12 testis, is m./f.: Zeuge – 13 accingere! (Imper. Pass.): Rüste dich! – 14 mora: Verzögerung – 15 fax sollemnis: Hochzeitsfackel – 16 Lies: perque Pelasgās urbēs (tū) servātrīx ā turbā mātrum celebrāberis – 17 Pelasgus: griechisch constiterant, et victa dabat49 iam terga Cupido. 18 germāna: Schwester – 19 solum: Boden; Land 20 nempe: doch, allerdings – 21 īnfāns, ntis: kleines Kind – 22 maximus deus: = Amor – 23 titulus: Ehrenname, Ruhm – 24 pūbēs Achīva: die achivische (= griechische) Jugend – 25 nōtitia: Kenntnis – 26 vigēre: stark sein; blühen – 27 quemque Aesoniden: et Aesoniden, quem … – 28 Aesonidēs, Akk. -en: Aesons Sohn = Iason – 29 mūtāre cum: eintauschen gegen – 30 ferrī: genannt werden – 31 vertex, icis m.: Scheitel, Haupt 32 Quid, quod: Was ist mit der Tatsache, dass … – 33 nescio quī montēs: irgendwelche Felsen, (i. e. die Symplegaden) – 34 occurrere: aneinanderprallen – 35 ratis, is f.: Schiff – 36 Charybdis: Meerungeheuer, gewaltiger Strudel Konj. im HS; Imperativ – prodere; vir; relinquere; occidere; pellere; sequi; metuere Anzeige_CLASSICA_Datené_Ovid.indd 4 inponis, Medea, tuae? – Quin46 adspice, quantum adgrediare47 nefas48, et, dum licet, effuge crimen!« Si facere hoc aliamve potest praeponere nobis, occidat ingratus6! Sed non is vultus in illo7, 37 sorbēre: einsaugen – 38 fretum: Meer –39 Scylla: Meerungeheuer, umgürtet mit wilden Hunden – 40 lātrāre: bellen – 41 Siculum profundum: das sizilische Meer – 42 gremium: Schoß – 43 amplectī, plector, plexus sum: umarmen – 44 putās: erg. id – 45 speciōsus: wohlklingend – 46 quīn: doch lieber – 47 adgredī, gredior, gressus sum: hier: vorhaben – 48 nefās n.: Frevel S 49 terga dare: sich zurückziehen, fliehen 1 Soll Medea Iason helfen? Stellen Sie in einer Tabelle Medeas Argumente dafür und dagegen zusammen. Belegen Sie mit Versangaben. 2 Analysieren Sie, wie die stilistische Gestaltung die Argumentation unterstützt. 3 Cupido gibt sich geschlagen: Bewerten Sie das Ergebnis von Medeas Monolog. 4 Was verrät der Wunsch in V. 42 f. über Medea? 5 Erklären Sie die Wertbegriffe, die Medea in V. 72 als Richtschnur vor Augen stehen. 6 Was würden Sie Medea in ihrem existentiellen Konflikt sagen? Verfassen Sie einen Brief an Medea, in dem Sie ihr beratend beistehen. NcI übersetzen Nach Verben des Sagens steht im Lateinischen der AcI. Wenn das Verb des Sagens im Passiv steht, wird daraus ein NcI: AcI NcI Vates dicunt Medeam Iasonem amare. Die Dichter sagen, dass Medea Iason liebt/liebe. Medea Iasonem amare dicitur. Man sagt, dass Medea Iason liebt/liebe. Medea liebt – wie man sagt – Iason. Medea soll Iason lieben. Medea und Iason 51 19.06.15 09:48