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NR. 7/2016 G r at i s Magazin der Hamburger Volkshochschule www.achtmagazin.de Inklusives Wohnen in der HafenCity Geflüchtete lernen Deutsch Die Zeichnerin Isabel Kreitz Hamburgs schönste Tankstelle und vieles mehr Achtung, Nachbarn Sommer im Norden Tom Gaebel 4.7. Hamburg 5.7. Eutin Tom Gaebel singt Sinatra € 20,- bis 49,- / erm. 50% Mariza 19.7. Kiel Die Königin des Fado € 12,- bis 54,- / erm. 50% Sophie Hunger 25.8. Lübeck 26.8. Kiel Supermoon € 35,- / erm. 50% Infos und Karten: Tel 0431-23 70 70 www.shmf.de F SH.–M 28.8. 2.7 2016 Holstein Schleswig- val Musik Festi Intro Editorial Ob Nothilfe in Krisenzeiten oder spontane Kinderbetreuung, in der Nachbarschaft kann man schnelle Unterstützung oder auch ein freundliches Wort finden. Ob in der Großstadt oder auf dem Land, gute Nachbarschaften bieten Heimatgefühl und lehren Toleranz sowie Solidarität. Für manche werden zufällige Nachbarn sogar zu Freunden oder zur Wahlfamilie, die das eigene Leben bunter und glücklicher machen. Manchmal können sie aber auch ihren Mitmenschen das Leben bis zur Unerträglichkeit vermiesen. ACHT fragt nach, welche Bedeutung die Nachbarschaft heute noch hat. Zu diesem Thema forscht auch der Stadtsoziologe Walter Siebel: In seinem Essay zeigt er, wie sich die Nachbarschaft in den letzten Jahren gewandelt hat. Wenn Flüchtlinge neue Nachbarn werden, davon berichten wir in einer Reportage über eine Frau aus Syrien, die nach Hamburg geflüchtet ist. Wir recherchieren, wie sich die digitalen Netzwerke und Apps auf die Beziehungen zwischen den Nachbarn auswirken. In einem Interview erzählt die Raumsoziologin Ingrid Breckner über die Stadtentwicklung in Hamburg und die sozialen Folgen für die Nachbarschaft. ACHT besucht auch eine ungewöhnliche Wohngemeinschaft in der HafenCity: Hier wohnen Behinderte und Nichtbehinderte unter einem Dach. Und wir begeben uns auf einen spannenden und lehrreichen Streifzug durch die Hamburger Partnerstädte. Viel Vergnügen und Inspiration bei der Lektüre wünscht: die Redaktion. PS: Bitte mailen Sie uns Fragen, Anregungen, Meinungen, Lob und Tadel: acht@vhs-hamburg.de inhalt Intro Editorial, Contributors, Impressum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 news Rote Flora, Hamburger Muslime, FC St. Pauli . . . . . . . . 4 Thema Flüchtlingsalltag in Hamburg Ein Tag mit der Syrerin Riham Basali. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 „Die Teilnehmer spiegeln die Situation. . . . . . . . . . . 10 in der Welt wider“ Angelina Stern, Zentrum für Deutsch als Fremdsprache, im Gespräch Die etwas andere WG Eine inklusive Hausgemeinschaft in der HafenCity. . . . . . . . 12 Seid lieb und vernetzt euch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Digitale Netzwerke und Apps sollen Stadtteile stärken Rock ’n’ roll & Kalter Hund. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Die historische Tankstelle am Brandshof „Nachbarschaft kann man nicht planen“ . . . . . 18 Die Stadtsoziologin Ingrid Breckner über die Hamburger Stadtentwicklung 5x5 Fünf Menschen über Nachbarn. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 „Ich suche den individuellen Moment“. . . . . . . . . . 22 Die Zeichnerin Isabel Kreitz über den Kiez und ihre Arbeit Nachbar, komm doch mal rüber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 Elf nachbarschaftliche Tipps Global Ferne nachbarn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .26 Hamburg und seine neun Partnerstädte Glosse Oberstübchen-pogo Die lieben Nachbarn ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 S cience Nachbarschaft heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Über das Phänomen „Nachbarschaft“ „Kampnagel ist ein Dorf“ Intendantin Amelie Deuflhard über Nachbarn . . . . . . . . . . . . . 32 Profil Nerd Christian Biedermann Retro-Nerd. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 Fotos: Julia Knop (Titel), Sören Ingwersen, Julia Knop Contributors Sören Ingwersen, Journalist Sören Ingwersen wollte Musiker, Schauspieler, Schriftsteller werden – aber niemals Journalist und Redakteur. Heute ist er Journalist und Redakteur, fühlt sich pudelwohl und schreibt neidlos über alle, die auf großen und kleinen Bühnen ihr Bestes geben. Als Redakteur des Klassikmagazins concerti und des Magazins der TheaterGemeinde Hamburg sowie als Autor der Hamburger Morgenpost und der Deutschen Bühne ist er seiner Liebe zu Musik und Theater treu geblieben. Besondere Freude bereitet ihm das Schreiben von Opernlibretti und alles, was abseits des üblichen Tagesgeschäfts liegt. Wie das Interview mit der preisgekrönten Comiczeichnerin Isabel Kreitz in der aktuellen Ausgabe von ACHT. 3 Julia Knop, Fotografin Am liebsten ist die Hamburger Fotografin Julia Knop mit ihrer Kamera durch die Welt unterwegs, um Menschen zu fotografieren. Sie ist eine Jägerin auf der Suche nach nur scheinbar banalen Momentaufnahmen, nach Fotos die mehr sind als alltägliche Bilderflut. Ihre Bilder sind in so renommierten Magazinen wie Brand eins, Stern, ZEITMagazin, Süddeutsche Zeitung Magazin, Nido oder Neon erschienen. Deswegen sind wir ganz stolz, dass wir sie für unser Titelthema „Nachbarn“ gewinnen konnten. Für die ACHT hat sie eine nach Hamburg geflüchtete Syrerin, die Zeichnerin Isabel Kreitz und die Bewohner einer Inklusions-WG fotografiert. Dabei hat sie mit ihrer sensiblen Sichtweise und Empathie sehr bewegende Bilder kreiert. I m p r e ss u m Herausgeber: Hamburger Volkshochschule Schanzenstraße 75 20357 Hamburg E-Mail: acht@vhs-hamburg.de www.vhs-hamburg.de Verantwortlich i. S. d. P.: Joachim Sucker, c/o Hamburger Volkshochschule Redaktion: Pawel Sprawka, Kerstin Estherr, Andreas Homann, Dr. Antje von Rein, Hamburger Volkshochschule Mitarbeit: Hans-Hermann Groppe, Hamburger Volkshochschule Artdirektion: Andreas Homann Lektorat: Bernd Kuschmann, Berlin Anzeigen und Vertrieb: Cult Promotion e.K., Agentur für Kulturmarketing, anzeigen@cultpromotion.com Druck: Neef + Stumme Premium Printing GmbH & Co. KG, Wittingen Allgemeine Informationen –> www.achtmagazin.de –> Das neue Gesamtprogramm der Hamburger Volkshochschule liegt ab Anfang Mai vor und ist in allen VHS-Zentren, Bücherhallen und BudniFilialen kostenlos erhältlich. –> Alle Kurse und Informationen unter www.vhs-hamburg.de –> Hotline 4 28 41 42 84 –> Find us on Facebook! 4 News Die Imam Ali Moschee an der Außenalster ist die viertälteste Moschee Deutschlands D i e R o t e F l o r a Hamburger Blick hinter die Kulissen D ie Rote Flora ist eine Konstante der politischen und kulturellen Gegenöffentlichkeit in Hamburg. Im Jahr 1989 besetzten linksautonome Gruppen das alte Varietétheater. Damals protestierten Anwohner und Aktivisten gegen den Plan, die Flora als Spielstätte für das Musical „Phantom der Oper“ auszubauen. Nach anhaltenden Protesten gaben die Veranstalter das Musicalprojekt schließlich auf. Als die Stadt die Protestgruppen dann für sechs Wochen in das halb abgerissene Gebäude ließ, um dort Ideen für eine stadtteilverträgliche Nutzung der Flora zu präsentieren, erklärten die das Haus schlicht für „besetzt“ und blieben. 26 Jahre ist das her. Im Rahmen eines Besuchs besteht die Möglichkeit, hinter die Kulisse einer umstrittenen Hamburgensie zu schauen. Sternschanze, Treffpunkt: Rote Flora, Schulterblatt 71 / Achidi-John-Platz 1, Kurs 3100MMM22, Andreas Blechschmidt, 9,00 €, 3 Ustd., 1 Termin, Sa., 16.4., 14–16.15 Uhr Muslime K irchtürme, Minarette, Synagogen und Tempel – kaum eine andere deutsche Stadt hat eine so große religiöse Vielfalt wie Hamburg. Christen unterschiedlicher Konfessionen, Muslime und Juden leben hier seit Jahrzehnten neben Buddhisten, Hindus, Shintos und anderen religiösen Gruppen – Vielfalt ist in der Hansestadt normal. Dieser religiösen Mannigfaltigkeit widmet sich auch das VHS-Bildungsangebot „Gespräch mit Hamburger Muslimen“: Die Teilnehmer besuchen zwei Moscheen und diskutieren gemeinsam mit Vertretern der muslimischen Gemeinde über Islam in Hamburg und die gelebte konfessionelle Nachbarschaft in Hamburg. Kursbegleitung ist die Islamwissenschaftlerin und Politologin Rubina Ahmadi. Sternschanze, VHS-Zentrum Mitte, Schanzenstraße 75, Kurs 3240MMM16, Rubina Ahmadi, 24,00 €, 8 Ustd., 1 Termin, Sa., 9.4.2016, 10–16 Uhr RECORD: Hamburg Sternschanze, VHS-Zentrum Mitte, Schanzenstraße 75, Kurs 1000MMM83, Mathias Will, 54,00 €, 18 Ustd., 3 Termine, Sa., 21.5., 11–15.30 Uhr, So., 22.5., 10–16 Uhr, Di., 24.5., 18–21.15 Uhr www.vhs-hamburg.de RECORD: Hamburg – die Hansestadt abseits der gängigen Attraktionen filmen, fotografieren und aufnehmen D enkt man an Hamburg, dann fallen einem sofort Reeperbahn, Hafen, Fischmarkt, Speicherstadt, schicke Elbvororte oder buntes Nachtleben ein. Hamburg-Erfahrungen ganz anderer Art bietet der VHSKurs „RECORD: Hamburg“ an: Auf Rundgängen zu ungewöhnlichen Zielen können die Teilnehmer ihre Stadtimpressionen filmen, fotografieren und aufzeichnen mit verschiedenen digitalen Geräten. Dazu können Smart phones, Tablets, digitale Spiegelreflexkameras und andere Geräte bis zum digitalen Mikro eingesetzt werden: Alles ist erlaubt, was sich ohne viel Aufwand mitnehmen lässt. Anschließend werden die digitalen Formate selektiert, bearbeitet und dann die fertigen Ergebnisse getwittert und gebloggt. Fotos: M a r l i e s Sch w a r z i n / p i x e l i o . d e ( F l o r a , R e c o r d ) , B e r n d S t e r z l / p i x e l i o . d e RECORD: Hamburg News Der besondere Verein? FC St. Pauli ist Kult. Der Verein ist längst bundesweit zu einer Marke geworden. So mancher Hamburg-Tourist verlässt die Stadt nicht ohne ein Souvenir mit dem TotenkopfEmblem. Was ist das Besondere an diesem Verein? Wie kommt es, dass der kleine Fußballklub aus dem Hamburger Schmuddelviertel die Herzen von Hunderttausenden Fans in der ganzen Welt erobert hat? Die Antworten darauf gibt Justus Peltzer. Er ist Fanbeauftragter des FC St. Pauli und Mitarbeiter im Fanladen, dem sozialpädagogischen Fanprojekt. Er arbeitet im Dreieck Fans, Verein und Polizei und macht im Rahmen der VHS-Reihe „Alles Hamburg!“ eine Führung durch den Fanladen, die aus der Fanszene finanzierten Fanräume und die Südkurve im Millerntor-Stadion. Fotos: Bernd Sterzl/pixelio.de, T a n j a B i r k n e r St. Pauli, Fanladen St. Pauli, Heiligengeistfeld 1 A, Kurs 3200MMM05, Justus Peltzer, 6,00 €, 2 Ustd., 1 Termin, Do., 7.4., 18–19.30 Uhr ACHT gibt’s auch online – mehr Infos, mehr Bilder: www.achtmagazin.de Prekäre Nachbarschaften Tanja Birkners Fotokunst offenbart intensive Einblicke in fremde Welten am Rande der Gesellschaft P rostituierte, Obdachlose, junge Muslimas: Die Fotografin Tanja Birkner zeigt die versteckten Seiten Hamburgs. Sie bildet Menschen ab, die nicht im Rampenlicht stehen – unverstellt und stolz. „Mich haben schon immer Menschen interessiert. Und dann vor allem die Menschen, die als Außenseiter oder Fremde gelten“, sagt die 44-Jährige. Um sie zu treffen, geht sie an Orte, wo die Menschen nichts haben, wohinter sie sich verstecken könnten – keinen Ruhm, keine Macht, kein Geld. Nur ein „prekäres“, oftmals auch sehr hartes Leben an den Rändern der Gesellschaft. Wie bei ihrem Buchprojekt „Halbe Stunde – Sexarbeit in St. Georg“, das aus Fotos und Texten besteht, die jeweils zusammen präsentiert werden. In den Texten erzählen die gezeigten Frauen und Männer in der Ich-Form aus ihrem Leben. Bei diesem Projekt verbrachte sie mit den Menschen, die sie fotografiert hat, nicht nur ein paar Minuten, Stunden oder Tage. Sie wurde zu ihrer „Nachbarin“ und begleitet sie zwei Jahre lang. So arbeitet Tanja Birkner – sie will nicht zu Gast sein im Leben ihrer Modelle, sie nimmt teil daran. Will nicht nur verstehen, sondern auch nachempfinden, wie sich diese oder jene Existenz anfühlen mag. Dabei hilft ihr auch ihr wissenschaftliches Knowhow: Als studierte Kulturwissenschaftlerin kann sie Alltagssituationen fotografisch dokumentieren, die Motive in ihren Begleittexten gesellschaftlich, kulturell verorten und sie einem breiteren Publikum zugänglich machen. Die Fotografie als teilnehmender Akt, das will Tanja Birkner auch anderen Menschen vermitteln: Sie unterrichtet an der Hamburger Universität die angehenden Ethnologen und gibt Fotografiekurse an der Hamburger Volkshochschule. „Ich möchte, dass meine Schüler nicht nur schöne Bilder machen“, meint Tanja Birkner. „Es ist mir viel wichtiger, dass die Leute, die ich unterrichte, eine Beziehung zu ihren Motiven entwickeln.“ Das Buch „Halbe Stunde – Sexarbeit in St. Georg“ von Tanja Birkner erschien im Sieveking Verlag. Mehr Infos unter: www.tanjabirkner.de Fotografische Exkursionen mit Tanja Birkner, z. B. Nachbarschaft in St. Georg: Kurs 1213MMM20 www.vhs-hamburg.de 5 6 Achtung, Nachbarn „Die Familie Schäfer wohnt jetzt schon seit vier Jahren in der Nummer 25. Haben damals erst einmal eine Party für die halbe Straße gemacht. Housewarming oder so. Kaffee, Kuchen, Bier und abends grillen. Er arbeitet bei einer Versicherung und sie kümmert sich um die Kinder, Haushalt und so. Ganz klassisch eben. Und dann bastelt sie noch, macht so Deko-Sachen. Die verkauft sie entweder auf dem Flohmarkt oder sie verschenkt sie in der Nachbarschaft. Meist mit Flyern gegen die neue Flüchtlingsunterkunft. Von mir aus können die Schäfers auch wieder abhauen.“ Achtung, Nachbarn Foto: Tim Toppik, Jala /Beide Photocase.De „Wohnen eigentlich schon ewig in der 2a ... Wahrscheinlich sind die auch am längsten hier in der Straße. Die beiden Großen sind schon aus dem Haus, der Jüngste macht eine Ausbildung. Man bekommt nicht viel mit von den Klingmanns, die leben total zurückgezogen. Die Gardinen sind auch immer zu, nicht mal Blumen haben die im Fenster. Irgendwie sieht das immer so dunkel bei denen aus ... und auch ein bisschen schedderig. Aber was klasse ist: Alle helfen! Die einen kaufen ein, die anderen regeln alles mit der Krankenkasse. Oder kochen. Bis Frau Klingmann von der Reha wiederkommt. Vielleicht auch noch danach – mal sehen ...“ 7 8 Achtung, Nachbarn Im letzten Sommer kam die Syrerin Riham Basali mit ihrem Mann Amgad Alghabra nach einer langen Odyssee durch verschiedene Länder nach Hamburg. Doch was ist das jetzt für ein Leben, das sie hier führen? Die ACHT hat sie in ihrem Alltag begleitet. Flüchtlingsalltag in Riham Basali und ihr Mann Amgad Alghabra auf dem Weg von der Flüchtlingsunterkunft in der Schnackenburgsallee zum Kurs Deutschkurs bei Deutschlehrerin Julia Freienberg B evor sich Riham Basali mit ihrem Mann Amgad Alghabra auf den Weg gemacht hat, aßen sie noch etwas zu Mittag: „Joghurt, Eier und نوتيز, aber wie heißt das bloß auf Deutsch?“ Vor sieben Monaten kamen sie aus Syrien nach Hamburg. Nun sitzen sie in der U2 und überlegen. Eine junge Frau, weiße Wollmütze, dunkel geschminkte Augen, hat auf dem Vierersitz nebenan Platz genommen und dreht sich rüber: „Oliven – sie haben Oliven gegessen“, sagt sie. „Ich spreche auch Arabisch, vielleicht kann ich helfen.“ Riham Basali, 27 Jahre alt, wäre bereit, auf Deutsch loszulegen. Doch irgendwer ist da immer, mit dem es noch einfacher geht. Auch in der Flüchtlingsunterkunft Schnackenburgallee, wo sie seit vielen Monaten lebt, spricht sie arabisch. Mit Deutschen hat sie hier, an diesem unmöglichen Ort mitten im Industriegebiet, direkt an der A7, nichts zu tun. Selbst als sie und Alghabra zwei Mal bei Hamburger Familien zum Abendessen eingeladen waren, bei einem sogenannten „Welcome Dinner“, haben sie immer nur englisch gesprochen. Dabei ist Basalis Englisch gar nicht so gut. Im Sommer lernte die junge Syrerin Hamburg in nur drei Tagen das Fahrradfahren. Doch mit der Sprache ist das nun mal nicht so leicht. „Schöne Abende waren das“, sagt Alghabra. Noch wenn er heute davon spricht, merkt man, dass ihn die Essen bei den Hamburger Familien beeindruckt haben. Er zieht sein Smartphone aus der Hosentasche und will unbedingt die Fotos zeigen, die davon auf einer Facebookseite hochgeladen wurden. Auf diesen Fotos sind sie mittendrin in einer Gesellschaft, in der sie bislang unsichtbar sind. Zeigen kann er die Bilder nicht, die Internetverbindung ist hier, an der Bushaltestelle neben der Autobahn am Rande der Stadt, zu schlecht. Riham Basali kramt in ihrer Tasche. Sie trägt enge Jeans, ein blumengemustertes Kopftuch und hat ihre Augenbrauen nachgezogen. Aus dem Portemonnaie holt sie ein HVV-Ticket hervor. Seit sie und ihr Mann das haben, sind sie immerhin mobil. Basali und Alghabra haben Fahrräder, aber jetzt im Winter nehmen sie lieber Bus und Bahn. Auf Basalis Ticket steht, dass es vom 1. Februar bis zum 30. April gültig ist. Seit Februar müssen Flüchtlinge in Hamburg eine verbindliche HVV-Monatskarte kaufen. Die offizielle Begründung des Senats ist, dass Ausgabe und Abrechnung von Einzeltickets für Flüchtlinge bürokratisch zu aufwendig waren. Außerdem hätten Kontrolleure zu oft Flüchtlinge ohne gültigen Fahrschein erwischt. Basali und Alghabra haben Glück, dass sie das Ticket immerhin gebrauchen können, wenn sie zum Deutschkurs an der Messehalle fahren. Drei Mal ist Riham Basali ohne Alghabra zum Kurs gefahren, weil er krank war. Ansonsten ist sie selten allein unterwegs. Es ist zehn Jahre her, dass die beiden in der syrischen Hauptstadt Damaskus heirateten. Wenn da nicht der Kurs wäre, an dem Basali und Alghabra drei Mal die Woche teilnehmen, würden sie das Geld für das Ticket umsonst ausgeben. Auch an diesem Montag machen sie sich wieder zusammen auf den Weg, um im Kurs Deutsch zu lernen. Der Bus fährt von der Schnackenburgallee in der Mittagszeit nur einmal die Stunde. Auf dem Haltestellenschild steht „BAB Auffahrt Volkspark“. Ein paar Meter weiter über der Mülldeponie fliegen Möwen im Kreis. Es ist minus Achtung, Nachbarn 9 5 Grad und Basali ist kalt. „Auch in Damaskus gibt es Tage, an denen es so kalt ist“, sagt Alghabra. Aber das sei dann Text: Marga Lang nur ein Tag und danach werde es wieder wärmer. Es ist der 13. Juli 2015, als Basali und Alghabra nach Fotografie: ihrer 20-tägigen Fluchtroute über den Libanon, die Türkei, Julia Knop Griechenland, Mazedonien, Serbien, Ungarn und Österreich in Hamburg ankommen. Seitdem sind sie hier, in Hamburgs größter Erstaufnahmeeinrichtung, untergebracht, die wegen gravierender Missstände in dieser Zeit immer wieder in den Schlagzeilen war. Basali und Alghabra gingen hier viele Tage, Wochen und Monate verloren. Eine Zeit, in der sie erst in einem der Zelte ausharren mussten. Nach ein paar Monaten konnten sie in einen Container umziehen, wo sie bis heute wohnen. Eigentlich hätten sie schon längst eine richtige Bleibe bekommen sollen. Doch im Herbst wurde mit der Verschärfung des Asylrechts die zulässige Höchstaufenthaltsdauer in einer Erstaufnahmeeinrichtung von drei auf sechs Monate verlängert. Auch diese Frist ist nun bereits ein paar Wochen abgelaufen, Basali und Alghabra warten täglich auf eine Nachricht. „Transit“ ist für sie zu einem magischen Wort geworden. Man versteht es in vielen Sprachen. Sie hoffen, möglichst bald in einem richtigen Haus wohnen zu können, nicht wieder in einem Container, wo sie sich das Bad mit anderen teilen müssen. Der Weg zum VHS-Deutschkurs im Karolinenviertel bei den Messehallen geht über Stellingen und den Tierpark Hagenbeck. Obwohl Riham Basali und Amgad Alghabra hier mehrmals die Woche vorbeifahren, haben sie den Zoo noch nie besucht. Der Eintrittspreis ist für sie mit 20 Euro pro Person einfach zu hoch. Ermäßigungen gibt es keine. „Später, wenn ich Nachricht vom Jobcenter bekomme, will ich mit Basali hingehen“, sagt Amgad Alghabra, „aber ohne Arbeit und mit den 101 Euro, die uns im Monat zum Leben bleiben, ist das nicht drin.“ Weil es so wenig Geld ist, rechnet Alghabra auf den Euro genau: „Pro Person stehen uns 131 Euro zum Leben zu, für Ledige sind es 145 Euro – davon müssen wir aber 29 Euro für die Monatskarte ausgeben.“ Im Kurs packen Basali und Alghabra ihre Deutschbücher aus. Sie sitzen neben anderen Syrern, untereinander ist die Verständigung auch hier kein Problem. Um wieder ins Deutsche reinzukommen, sollen am Anfang alle der Reihe nach etwas sagen. Jeder stellt seinen Nachbarn vor. Als Basali an der Reihe ist, überlegt sie kurz und sagt dann fehlerfrei: „Das ist Amgad, mein Mann, wir sind seit zehn Jahren verheiratet, er ist 31 Jahre alt, kommt aus Syrien und hat keine Kinder.“ Die Deutschlehrerin Julia Freienberg, strubbelige kurze Haare, grauer Kapuzenpullover, geht an die Tafel Gesang der Kulturen – und schreibt „aufstehen“. Letzte Woche haben sie Modal- gemeinsam singen verben gelernt: dürfen, können, mögen, müssen, sollen Zusammen singen, sich und wollen – und den Imperativ. „Den hört man im Deut- bewegen, tanzen, Spaß schen oft falsch“, sagt Freienberg. „Es heißt: Mach das haben, ins Gespräch kommen mit ZugezogeFenster zu, nicht mache.“ Nur ein paar Tage später sterben bei Terroranschlä- nen, Alteingesessenen, gen in Damaskus und Homs wieder 184 Menschen. Die Geflüchteten, Nachbarn, Hoffnung, dass der Bürgerkrieg irgendwann vorbei sein Migranten, Freunden … Jeden Donnerstagnachkönnte, hat Basali aber noch nicht verloren. mittag von 15.30 bis Am liebsten würde sie zurück nach Damaskus gehen. 17.30 Uhr. Keine KosAber bis zu einer möglichen Rückkehr will Basali Deutsch ten, keine Anmeldung. lernen. Das heißt für sie auch: endlich mehr mit Einheimi- Einfach vorbeikommen. schen in Kontakt zu kommen. Noch fällt ihr das schwer, Sternschanze, VHS-Zenaber sie ist überzeugt, es zu schaffen. Wenn es so weit ist, trum Mitte, Schanzenwill sie als Friseurin arbeiten. Da kann man die Sprache straße 75 www.vhs-hamburg.de gut gebrauchen. Intergview: Marga Lang ACHT: Neben dem Eingang der Volkshochschule steht auf einem Schild, dass die Deutschkurse ausgebucht sind. Was bedeutet das für Leute, die die Sprache lernen wollen? Angelina Stern: Dass sie nicht auf eine Kursberatung zu warten brauchen, weil wir bis Mai keine Plätze mehr haben. Für Interessenten ist es frustrierend, zwei Stunden zu warten, um dann gesagt zu bekommen, dass die Kurse voll sind. Deshalb informieren wir darüber. Viele Leute warten aber trotzdem. Welche Kurse betrifft das? Wir haben mit den Standardkursen ein Angebot, das die Stufen von A1 Angelina Stern, Leiterin des Zentrums Deutsch als Fremdsprache (DaF) der Hamburger Volkshochschule „Die teilnehmer spiegeln die Situation in der Welt wider“ Tausende Flüchtlinge, die in den vergangenen Monaten in Hamburg angekommen sind, sollen die deutsche Sprache erlernen. Die gestiegene Nachfrage stellt Anbieter von Integrations- und Deutschkursen derzeit vor echte Probleme. Angelina Stern, die das Zentrum für Deutsch als Fremdsprache der Hamburger Volkshochschule leitet, berichtet aus dem Alltag. Das Zentrum Deutsch als Fremdsprache (DaF) der Hamburger Volkshochschule versteht sich als Bildungsprogramm für alle MigrantInnen in Hamburg und möchte dazu beitragen, die Chancen von MigrantInnen zu verbessern und gleichberechtigte Teilhabe in allen Lebensbereichen zu ermöglichen. Das Angebot besteht aus Deutschkursen aller Stufen (A1 bis C2), Intensiv- und Integrationskursen (A1 bis B1) und DaF-Prüfungen (A1 bis C2), zudem berufsbezogene Deutschkurse im Rahmen des ESF-BAMF-Programms. DaF-Zentrum in Mitte Schanzenstraße 77 20357 Hamburg Tel: 040.42841-3238 E-Mail: daf@vhs-hamburg.de bis C2 abdeckt, das für jeden offen ist, also auch für Flüchtlinge. Auch die Integrationskurse und die Erstorientierungskurse für Flüchtlinge sind ausgebucht, weil wir ein sehr hohes Aufkommen haben. Integrationskurse sind für Flüchtlinge aber nicht freiwillig. Nein, das ist ein Regelprogramm, das auch vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge finanziert wird. Wie viele Menschen kommen in die Beratung des Zentrums für Deutsch als Fremdsprache (DaF)? In der Woche in den zwei Beratungsstellen in der Schanze und in Harburg um die 700 Leute. Wer bietet in Hamburg solche Deutschkurse an? Für Integrationskurse gibt es derzeit 40 Träger – und es sollen noch zehn weitere zugelassen werden. Ist das eine gute Nachricht? Prinzipiell ja, der Bedarf ist sehr hoch. Sprache gilt als Schlüssel zu allem. Fühlen Sie sich für Integration verantwortlich? Wichtig ist mir, dass wir den Leuten die Möglichkeit bieten, einen Kurs zu besuchen. Deshalb sind wir bemüht, unser Angebot auszubauen. Dabei müssen wir professionellen und qualitativ hochwertigen Unterricht anbieten. Wir haben aber ein Ressourcenproblem, weil unsere hoch qualifizierten Kursleitenden uns zum Teil verlassen, weil Schulen bessere Konditionen bieten können. Inwiefern sind die Bedingungen dort besser? Schulen bieten sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse, wir hingegen stellen die Kursleitenden nicht ein. Sie arbeiten bei uns als Honorarkräfte. Dadurch, dass der Bedarf an Schulen jetzt groß ist, wandern sie ab. Das stellt uns vor das Problem, dass wir das Kursangebot nicht weiter ausbauen können. Wir versuchen eher die Lücken zu schließen, die entstehen. Das ist im Moment unser Handicap. Lehrer für Deutsch als Fremdsprache gelten als nicht so gut bezahlt. Wie viel bekommen sie bei Ihnen? Wir bezahlen mit 26 Euro die Unterrichtsstunde besser als der Durchschnitt der Träger. Nur gibt es keinerlei Absicherung für die Kursleitenden: Wenn sie krank werden, verdienen sie nichts. Sie müssen ihre Krankenversicherung und Rente selbst zahlen. Sie müssen also viel arbeiten, um über die Runden zu kommen. Das ist nicht angemessen, wenn man sieht, was von ihnen erwartet wird. Was müssen sie können? Wenn man in einem Kurs mit 20 Menschen unterschiedlichster Nationen zusammensitzt, braucht ein Kursleiter in Deutsch auch eine hohe interkulturelle Kompetenz. Man muss so viel koordinieren und die Leute zügig ans Ziel bringen. Ist das Nadelöhr der Mangel an Lehrkräften oder die Finanzierung? Dass die Leute nicht angemessen bezahlt werden, hängt mit der Finanzierung zusammen, das heißt, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge finanziert die Kurse mit einem Stundenkostensatz, der nicht ausreichend ist, um ein angemessenes Honorar zu zahlen. Ist der aktuelle Bedarf an Deutschlehrern auch eine Chance, dass der Beruf aufgewertet wird? Natürlich, es wird ja jetzt gesehen, wie wichtig der Beruf ist. Es muss aber auch wahrgenommen werden, dass nicht jede/r ihn ausüben kann. Das ist ein Beruf, den man lernen muss. Sonst haben wir qualitativ minderwertige Kurse und das zeigt sich dann auch beim Ergebnis. Nehmen nur Flüchtlinge an diesen Kursen teil? Nein, der Kreis der Berechtigten ist groß, zum Beispiel Personen aus anderen EU-Ländern. Wir hatten schon immer eine hohe Nachfrage. Natürlich ändern sich die Zielgruppen je nachdem, wie die politische Lage ist: Gibt es im Süden Europas Probleme, wie während der Finanzkrise, ist die Zuwanderung aus dem Süden im Vordergrund. Jetzt haben wir viele Flüchtlinge. Die Kursteilnehmer spiegeln die Situation in Europa und der Welt wider. Vermitteln Sie in einem Integrationskurs auch die deutsche Kultur? Natürlich wird Sprache im Kontext vermittelt. Im Lernprozess werden verschiedene Handlungsfelder aus dem Leben in Deutschland behandelt. Da erfährt man viel über den Alltag, die Sitten und Bräuche, die hier herrschenden Werte, den kulturellen Rahmen, die Geschichte Deutschlands, man lernt, wie dieses Land tickt. Foto: Julia Knop 10 Achtung, Nachbarn Foto: Anatol Kotte, Gestaltung: Felix Wandler Die Netzwelt Von Jennifer Haley Deutsch von Michael Duszat Regie: Ralph Bridle Ausstattung: Mascha Deneke Mit Björn Ahrens, Marco Albrecht, Christian Kohlund, Neda Rahmanian, Annika Schrumpf Premiere 10. April 2016 Vorstellungen bis 16. Mai 2016 Gefördert von Thomas J.C. und Angelika Matzen Stiftung Hamburger Kammerspiele Hartungstraße 9-11, 20146 Hamburg 040 - 41 33 44 0 www.hamburger-kammerspiele.de 12 Achtung, Nachbarn Text: Alessa Pieroth Fotografie: Julia Knop Shanghaiallee 29 In der Inklusiven Hausgemeinschaft Shanghaiallee wohnen 29 Menschen mit und ohne Assistenzbedarf gemeinsam. Sie gestalten ihren Alltag und unterstützen sich dabei gegenseitig. Es gibt sieben Wohnbereiche, jeder Hausbewohner hat ein eigenes Appartement und zusätzlich mit drei Mitbewohnern einen Gemeinschaftsraum mit Wohnküche. Menschen ohne Assistenzbedarf unterstützen gezielt in einem festgelegten Stundenumfang ihre auf Unterstützung angewiesenen Mitbewohner im Alltag und wohnen dafür vergünstigt. Fachkräfte von Leben mit Behinderung Hamburg arbeiten in der Hausgemeinschaft und unterstützen durch pädagogische Betreuung und Pflegeleistungen. Inklusive Hausgemeinschaft Shanghaiallee, Shanghaiallee 15–17, 20457 Hamburg E ine große grüne Tafel hängt in der geräumigen Wohnküche. Fritz und Marco haben das Relikt alter Schultage aufgehängt, kurz nachdem sie dort eingezogen sind. Jetzt werden an ihr keine Matheaufgaben mehr gelöst, sondern Wochenpläne geschmiedet, die das Zusammenleben der ViererWG in der HafenCity regeln. „Uns war von Anfang an klar, dass wir uns besonders strukturieren müssen“, sagt der 28-jährige Marco. „Wir hätten das auch in unsere Kalender reinschreiben können. Aber so können alle gleich sehen, was die Woche ansteht“, findet der 24-jährige Fritz. Seit November 2015 leben die beiden jungen Männer als sogenannte Alltagsbegleiter in Hamburgs erstem inklusiven Wohnprojekt, gegründet von „Leben mit Behinderung Hamburg“, einem Träger der Behindertenhilfe der Stadt. Sie zahlen keine Miete, müssen lediglich für die Nebenkosten aufkommen. Dafür sollen sie einen Teil des Alltags ihrer auf Unterstützung angewiesenen Mitbewohner begleiten – etwa gemeinsam einkaufen, kochen, aufräumen und einen Teil der Freizeit gestalten. Auf den insgesamt rund 90 neu gebauten Quadratmetern leben außer Marco und Fritz auch noch Glen und Patrick. Der 21-jährige Glen ist in seiner Art auffallend ruhig und zurückhaltend. In seinem Alltag bezieht er die anderen WG-Bewohner nicht so stark mit ein und bleibt lieber für sich allein. Der 32-jährige Patrick hingegen ist stärker auf die Unterstützung seiner Mitbewohner angewiesen. Er hat seit seinem sechsten Lebensjahr eine dystonische Störung: Sein ganzer Körper zuckt unkontrolliert, was ihm das Sprechen, Trinken und Essen erschwert. „Die Idee ist, dass die Studenten nicht unsere professionelle Arbeit machen, sondern den Freiraum haben, sich wie in einer normalen Wohngemeinschaft zu begegnen“, erläutert Katrin Meyer, die Leiterin der inklusiven Hausgemeinschaft, das Konzept. Eine kleine Elterninitiative hat es zusammen mit der Geschäftsführung von Leben mit Behinderung Hamburg erarbeitet. Meyer und ihr Team setzen den Plan nun in die Realität um. Das Büro der Pädagogin befindet sich im vierten Stock des Neubaus. Vom Schreibtisch aus kann sie die Hafenkräne sehen. Der kleine Raum hat zwei Türen. Eine führt ins Treppenhaus, die andere direkt in eine Wohngemeinschaft, in der fünf Bewohner mit hohem Hilfebedarf stationär betreut werden. „Das Haus ist so aufgebaut, dass in der Mitte des Stockwerkes die Wohnungen liegen, in denen Menschen mit hohem Hilfebedarf rund um die Uhr betreut werden. In den restlichen fünf von sieben Wohneinheiten leben immer zwei Studenten mit zwei Menschen mit leichten Behinderungen zusammen, die ambulant betreut werden.“ Die insgesamt 19 Zimmer für Menschen mit Hilfebedarf und 10 für ihre Mitbewohner verteilen sich auf drei Stockwerke. Die meisten haben einen eigenen Balkon oder Hafenblick, verfügen über ein eigenes Duschbad und eine Küchenzeile. Beim Interviewtermin mit Fritz, Patrick, Marco und Glen ist die Stimmung gelöst und herzlich. Obwohl das Projekt „forciert“ und ein „Modell“ ist, wie es Katrin Meyer formuliert, fühlt sich das Miteinander hier überhaupt nicht konstruiert an. Die Stimmung ist locker und ent- Schuhchaos – wie in jeder WG ... Auf der alten Schultafel sind die Wochenpläne der WG eingezeichnet spannt. Marco reicht Patrick einen Strohhalm zum Kaffeetrinken und erzählt vom Flohmarkt der Hanseatischen Materialverwaltung, wo die WG Teile ihrer Einrichtung erworben hat. Patrick findet die Einkaufsmöglichkeiten in der HafenCity zu teuer und offenbart seine Leidenschaft für deutschen Hip-Hop – die Beginner und Samy Deluxe. Gerne erinnert er sich an das Tourneeabschluss-Konzert des Hamburger Rappers im Docks, das er besuchte. Auch über das Flüchtlingsheim, das bald in der HafenCity eröffnet werden soll, unterhalten sie sich. Die vier haben einen Ausflug zur Bürgerversammlung zum Thema „Flüchtlinge“ geplant, angeregt von Marco, der in Lüneburg Politikwissenschaft studiert. Kontakte zu den anderen WGs wurden bereits geknüpft, beim Basketballspielen auf dem nahen Bolzplatz oder beim Joggen. An Silvester stieg die erste WGParty mit mehr als 50 Gästen. Das Projekt läuft gut an. Dennoch schließt Katrin Meyer auch ein Scheitern nicht aus: „Neu ist der Umgang mit den Studenten. Da sind wir noch am Entwickeln. Theoretisch kann es auch sein, dass es überhaupt nicht funktioniert. Dann stampft man es vielleicht wieder ein.“ Ein mögliches Problem sieht sie in der Vereinnahmung der Alltagsbegleiter durch ihre Mitbewohner. Neben der Unterstützung behinderter Menschen achtet Meyer als Leiterin der Hausgemeinschaft auch darauf, dass die Studenten nicht überfordert werden und Aufgaben erledigen, die sie nicht machen müssen. Tatsächlich wünscht sich Patrick mehr Zeit mit seinen Mitbewohnern. Der 32-Jährige hat zuletzt allein in einer Wohnung in Osdorf gewohnt, in die er mit seiner Freundin eingezogen war. Für das Wohnprojekt in der HafenCity bewarb er sich, weil er sich in seiner alten Wohnung einsam fühlte. Marco und Fritz kennen sich vom Studium und waren schon befreundet, bevor sie in die Shanghaiallee einzogen. Für Meyer ist das ein Grund, hellhörig zu werden. Für die vier Mitbewohner sind das normale WG-Unstimmigkeiten, über die man reden kann. „Paddy ist halt einfach am meisten da, auch am Wochenende. Dadurch ergibt sich vielleicht ein leichtes Ungleichgewicht“, bewertet Fritz die Situation. Katrin Meyer und die neuen Mieter betonen aber auch immer wieder, dass das Zusammenleben in der Shanghaiallee noch am Anfang steht. Die Flure im Treppenhaus sind noch mit Baustaub überzogen. Hier und da wird laut gehämmert und gebohrt. Das Haus der inklusiven Wohngemeinschaft steht an der Baugrenze. Danach kommt Brachland, denn die HafenCity breitet sich dort noch weiter Richtung Osten aus. Der Bebauungsplan der HafenCity GmbH sieht vor, in den anderen Neubauten ebenfalls soziale Projekte zu integrieren. Es wird auch Raum für andere Träger der Behindertenhilfe geben. Im Netzwerk HafenCity können sich die Anwohner aktiv an der Entwicklung des neuen Quartiers beteiligen. Katrin Meyer sieht das als große Chance gerade für die Bewohner mit Behinderung, von Anfang an den Stadtteil mitzugestalten und sich nicht erst nachträglich mühsam zu integrieren. „Da entsteht noch so viel. Zu sehen, wie das alles zusammenwächst, das wird noch mal sehr spannend.“ Die etwas andere WG Achtung, Nachbarn 13 Seit November gibt es in der HafenCity eine inklusive Hausgemeinschaft. Vier junge Leute — zwei Studenten und zwei Menschen mit Behinderung — berichten über ihre aktive Nachbarschaft. Essen mit Janina Bernhardt, der Betreuerin von Patrick Hausbesuch bei der inklusiven Hausgemein schaft in der Shanghaiallee in der HafenCity. Kurs 3200MMM16 www.vhs-hamburg.de Wirkt wie eine Straßen-Gang, ist aber eine inklusive Wohngemeinschaft: Fritz Hinrichsmeyer, Marco Pawlowski, Glen Goltz und Patrick Wagner Marco und Glen beim gemeinsamen Kochen 14 Achtung, Nachbarn Digitale Netzwerke und Apps sollen Stadtteile stärken und Nachbarschaften zusammenbringen. Das klingt praktisch, ist aber nicht frei von unternehmerischen Interessen. Text: Juliane Löffler Seid lieb und vernetzt euch Foto: suze/photocase.de E s gibt Momente, in denen spürt man die Nachbarschaft sehr analog. Wenn man etwa nachts wach liegt und sich fragt, ob man tatsächlich im Schlafanzug ein Stockwerk nach oben gehen soll, um die Nachbarn zu fragen, ob sie bitte den Bass rausdrehen können. Oder wenn das kleine Nachbarskind im Zweistundentakt ausgedehnte Schreianfälle bekommt, weil es gerade zahnt. Oder wenn man sich fragt, ob die von obendrüber gerade ein Raumschiff bauen oder ihre Wohnung umräumen, oder was zur Hölle es sonst ist, was unbedingt an einem Sonntagmorgen erledigt werden muss. In diesen Momenten wünscht man seine Nachbarn lieber auf den Mond statt in ein gemeinsames Netzwerk. Tatsächlich aber treten seit geraumer Zeit immer mehr digitale Nachbarschaftsplattformen an, um vor allem Großstädter zu vernetzen. Austausch fördern, Zusammenhalt in Stadtteilen stärken, Informationen verteilen, so lauten die Ziele dieser Plattformen, bei denen man über personalisierte Accounts mit seinen Nachbarn in Kontakt kommen kann. Die Vorteile liegen auf der Hand – ich leihe dir meine Bohrmaschine, dafür gehst du mit meinem Hund Gassi, und jemand aus unserer Straße warnt vor Einbrechern. Über die Plattformen kann man sich kennenlernen und der Anonymität der Großstädte trotzen, Straßenfeste organisieren etwa, Hinterhöfe bepflanzen, Müll entsorgen. Das klingt nach Großstadtidylle und es ist einleuchtend, dass sich vieles mit einer App besser und effizienter organisieren lässt. Ähnlich machen es die Carsharing-Plattformen, welche verstanden haben, dass in Großstädten gerade jungen Leuten Zeit, Platz und Geld fehlt – und dass es für sie Sinn ergibt, Gegenstände und Ressourcen zu teilen. Es ist das Prinzip der Sharing Economy. Aber: Wenn das Bedürfnis nach Nachbarschaftskultur tatsächlich so groß ist, was spricht dagegen, sich einfach im Hausflur anzusprechen? Oder ist unsere Kommunikationskultur so digitalisiert, dass wir unsere Nachbarn lieber über eine App kennenlernen möchten? Hinter den Nachbarschaftsnetzwerken steckt noch etwas anderes. Es gäbe wohl all die Plattformen wie WirNachbarn.com, nebenan.de, Do me a favour oder nachbarschaft.net nicht, wenn es sich nicht bezahlt machen würde – auch wenn gerne betont wird, dass es vor allem um die gute Sache geht. Das Geschäftsmodell ist einfach: Sind die kostenlosen Netzwerke erst einmal groß genug, werden sie attraktiv für Werbeanzeigen lokal ansässiger Geschäfte, die ihre Zielkundschaft auf dem Silbertablett präsentiert bekommen. Oder werden kostenpflichtig. Eines der Vorbilder ist das amerikanische Netzwerk Nextdoor, ein Start-up aus San Francisco, dessen Marktwert von Investoren nach rund fünf Jahren auf über eine Milliarde Dollar geschätzt wird. In Deutschland allerdings sind die Netzwerke längst nicht so gewinnträchtig oder populär. Ein Grund dürfte darin liegen, dass in den USA Menschen ihre Nachbarschaft wesentlich schlechter kennen als in Deutschland, wie eine Studie des Marktforschungsunternehmens YouGov herausfand. So schlecht, zeigt die Studie, steht es um die Nachbarschaftsbeziehungen gar nicht. Fast jeder Deutsche kennt zumindest einen Teil seiner Nachbarn. In Deutschland versuchen die Netzwerke trotzdem, mit unterschiedlichen Strategien an das Erfolgsmodell aus den USA anzuknüpfen. Die in Hamburg gestartete App Do me a favour ist eine Art digitales Schwarzes Brett, in dem Nachbarschaftshilfe angeboten und angefragt werden kann, ähnlich funktioniert die Facebook-Gruppe Achtung, Nachbarn 15 Nett-Werk Hamburg. In Berlin gibt es die Plattformen Wir- der Stadt einnehmen, wie man an den Kämpfen um das Nachbarn.com, nebenan.de, Letztere ein ambitioniertes Gängeviertel sehen konnte. Auch das ist ein wichtiger Teil Projekt des erfolgreichen Start-up-Gründers und Unter- von Stadt- und Stadtteilkultur. nehmers Christian Vollmann. Es handelt sich um eine Art Die digitalen Nachbarschaftsnetzwerke jedenfalls Facebook für Nachbarn, aus denen Microcommunities in wollen bislang nicht so recht anlaufen. In der App Do me den Stadtteilen entstehen sollen. Mithilfe von Kategorien a favour findet man hauptsächlich Karteileichen. In Eilwie „Leihen“, „Helfen“, „Sicherheit“ oder „Event“ können bek sucht jemand Hilfe beim Lampeninstallieren, in Marisie sich austauschen. Bisher entstehen die Netzwerke enthal bietet sich jemand als Katzensitter für den „kleivor allem in Hamburg und Berlin, potenziell sind dem nen Tiger“ an, eine andere Anfrage sucht ein Tandem für Wachstum aber über die Großstädte hinaus keine Gren- „seriöse Massagen“. Fast alle Einträge sind unbeantworzen gesetzt. Im Gegenteil – oft ist das Ziel, dass die Netz- tet. Dass es vielleicht gar keine Nachfrage gibt für die werke in ganz Deutschland funktionieren. Es ist der Hype digitale Nachbarschaft, mussten auch die Gründer des um die sogenannte Hyperlokalisierung und der Wunsch, Hamburger Netzwerks Niriu erfahren. 2010 gestartet das Ozeanische, das das digitale Leben mit sich bringt, ging im Laufe der Zeit das Engagement der 3.000 Mitwieder im analogen Mikrokosmos dingfest zu machen. glieder zurück, die nötige Finanzierung blieb aus. Anfang So sehen das zumindest die Gründerinnen und Gründer. 2015 schloss das Portal. Vielleicht sind es nur die StartVollmann spricht von einem „Social-Impact-Business“ schwierigkeiten einer Form von Vernetzung, die in einiund einem „Effekt auf das Every-Day-Life der Nutzer“. gen Jahren in den Nachbarschaften ganz alltäglich sein Wie nebenbei werden die Nachbarn zu Nutzern. Es wird. Vielleicht zeigt es aber auch, dass man, nur weil man ist nicht der Fakt, dass die Vernetzung der Nachbar- sich vernetzen kann, es nicht unbedingt auch tun muss. schaft digital unterstützt werden soll, der einen stutzig Dass der sogenannte Großstadtdschungel eben auch werden lässt – es ist der Gedanke, dass es kommerziel- dazu da sein kann, um abzutauchen oder sich zurücklen Nutzen abwerfen soll, wenn sich Nachbarn gegensei- zuziehen. Und dass, falls man Hilfe oder Informationen tig unterstützen. Und vielleicht auch die Frage, wie effizi- aus der Nachbarschaft braucht, mehr dazu gehört, als ent wir leben sollen. Ob wir nicht vielleicht ganz ineffizient eine App herunterzuladen. Über alternativen Wohnraum an den Haustüren unserer Nachbarn klingeln wollen, um nachzudenken etwa, indem man sich beispielsweise in etwa gemeinsame Projekte zu organisieren, besonders Gemeinschafts- oder Mehrgenerationenhäusern unterwenn es darum geht, widerständig zu sein. Auch wenn stützt und neue Formen des Zusammenlebens entwisie sich digital organisieren – Netzwerke wie Reclaim your ckeln kann. Oder einfach den Mut zu haben, nebenan auf City leben davon, dass Menschen sehr analog Raum in die Klingel zu drücken. Soziale Netzwerke im Internet – bei der VHS als Kurs unter 2020MMW33 www.vhs-hamburg.de Sitz! 600482 Anzeige CP32016 SHOP LÜNEBURG Fußgängerzone Werkhaus Design und Produktion GmbH | Industriestr. 11 + 13 | 29389 Bad Bodenteich Gr. Bäckerstr. 12 Photohocker 42 x 29,5 x 29,5 cm | 160 Motive 0€ 24--Se,9 t: 59,90€ 3er Gratis Katalog anfordern oder online bestellen Tel. 0 58 24 / 955 -0 | info@werkhaus.de * Gültig für eine Bestellung pro Kunde/Haushalt | Nur einlösbar auf werkhaus.de/shop | Der Gutschein ist nicht mit weiteren Gutscheinen oder Rabattaktionen kombinierbar und ist gültig bis zum 30.05.2016. 16 Achtung, Nachbarn Rock’n’roll & kalter Hund Die historische Tankstelle am Hamburger Brandshof ist eine Anlaufstelle für Retro-Fans: Ob Einrichtung, Mode, Musik oder Kuchen – hier ist alles auf die 50er-Jahre abgestimmt. Text und Fotografie: Beke Zill Die Tankstelle Brandshof am Billhorner Röhrendamm 4 in Rothenburgsort ist unter der Woche von 4.00 bis 18.00 Uhr geöffnet. An den Wochenenden finden die „Offenen Treffen für altes Blech“ von 11.00 bis 17.00 Uhr statt. Am 17. April gibt es von 9.00 bis 16.00 Uhr einen Flohmarkt für Autoteile, Haushalt und Lebensart der 50er- bis 70er-Jahre. D ie grauen Polstersitze quietschen, als Olaf und Sabine Kinzen in ihrem alten Opel Rekord auf den Schotterplatz fahren. Der Motor stottert im Takt der Rock-’n’-Roll-Musik – auch der Wackel-Elvis hinten auf der Hutablage bewegt seine HüfZwar kann man hier nicht mehr tanken, doch das Café, ten gekonnt im Rhythmus der Saxofonklänge, die krat- der „Erfrischungsraum“, und die GTÜ-Prüfstation locken zend aus den Lautsprechern ertönen. Behäbig wie eine inzwischen Autoliebhaber aus ganz Deutschland. Vor Dampflok rollt das Auto auf den Platz und kommt neben allem am Wochenende treffen sich die Oldtimerfreunde den anderen Oldtimern zum Stehen. Kurz noch einmal an zum Staunen, Fachsimpeln und Kaffeetrinken. der Lederjacke gezupft steigt der Hamburger aus seinem Während ihr Mann mit den anderen Besuchern über Wagen. Eine steife Brise weht, der Wind wirbelt den rot- seinen Opel – Baujahr 1959 – spricht, hat sich Sabine weißen Petticoat von Sabine Kinzen hoch, während sie Kinzen vor der Jukebox hingesetzt und genießt ihren Kafdie Tür hinter sich zuknallt. fee. Beim ersten Schluck zeichnet sich ein roter Rand Das Ehepaar dreht die Zeit zurück – sie lassen die ihres Lippenstiftes an der Tasse ab. Zu essen gibt es 50er-Jahre lebendig werden. Zwischen grauen Beton- kalten Hund – ein Kuchen aus Butterkeksen und Schoriesen, Bahnschienen und der Elbe haben sie einen Ort kolade. „Das kommt auch aus der Zeit – und hat ganz in ihrer Heimatstadt gefunden, an dem die Uhr ebenfalls viel Fett“, betont sie. Beim Lachen kommt ihre kleine stehen geblieben ist. Lücke zwischen den Schneidezähnen zum Vorschein. „Wir mögen dieses tolle Ambiente hier. Das ist unser Der Erfrischungsraum wird inzwischen voller, fast jeder Treffpunkt, unsere Basis“, sagt die 53-Jährige, rückt ihre von den etwa 20 Plätzen vor der originalgetreuen Theke rote Schleife in ihrem schwarzen Haar zurecht und blickt ist besetzt. Auch nebenan im Vorzimmer der Werkstatt auf die Tankstelle vor ihr. Das historische Gebäude am schauen sich Gäste die ausgestellten Original-Autoteile Brandshof wurde 1953 gebaut. Wer damals über die Elb- im Regal an. Zwei grüne Ohrensessel, das alte Schnurtebrücken in die Hansestadt kam und zum Großmarkt in die lefon, die handbetriebene Kasse und der Atlas von 1978 Deichtorhallen wollte, der fuhr über den stark befahre- auf der Fensterbank erinnern ebenfalls an die Vergannen Röhrendamm. Anfang der 60er-Jahre wurde dann der genheit. Im Ausstellungsraum und im hellen, halbrunden neue Großmarkt gebaut und die Straße zur Sackgasse. Café ist natürlich Rock ’n’ Roll im Hintergrund zu hören. 1983 wurde der Tankbetrieb endgültig eingestellt. Erst „Das ist eine Musik, die begeisterungsfähig bleibt“, sagt 2010 erweckte Besitzer Alex Piatscheck die alte Retro- die 53-Jährige und erinnert sich, wie sich ihre LeidenTanke im Stil der 50er-Jahre wieder zum Leben. schaft für die 50er-Jahre entwickelte. Achtung, Nachbarn 17 Durch Elvis Presley kam sie zum Rock ’n’ Roll. „Seit ich 14 bin, bin ich Elvis-Fan“, erzählt die gelernte Krankenschwester. Außerdem habe sie schon immer gern Petticoat getragen. Die Kleider seien sehr feminin, das möge sie. Durch Freunde lernte sie Ende der 80er-Jahre dann ihren Ehemann kennen, der die Leidenschaft für den Rock ’n’ Roll mit der Hamburgerin teilt. „In den 50ern war die Welt noch in Ordnung. Es war nicht so hektisch, eher ruhig“, sagt die zierliche Sabine Kinzen und streicht über ihr weißes Kleid, auf dem große rote Blumen aufgedruckt sind. Nachdem Sohn Marcel geboren wurde, blieb jedoch nur noch wenig Zeit für ihr liebstes Hobby. Doch inzwischen tauscht das Paar nach der Arbeit seine Alltagskleidung gegen Petticoat und Nietenjeans. „Seit unser Sohn aus dem Haus ist, knüpfen wir dort an, wo wir aufgehört haben. Back to the roots“, sagt sie, nimmt einen letzten großen Schluck aus ihrer Kaffeetasse und schreitet eleganten Schrittes raus zu ihrem Mann. Vor der Tankstelle werden die Oldtimer bestaunt. Olaf Kinzen ist in seinem Element. Die Nieten an seiner Lederjacke funkeln in der Sonne. Das rot-schwarz karierte Hemd, die enge Jeans, die schicken schwarzen Lackschuhe und seine perfekt gelegten grauen, schon etwas lichten Haare runden sein Outfit ab. Er fühle sich wohl. Jugenderinnerungen würden wach, wenn er die Klamotten trage. Zum Lebensstil passt natürlich auch ihr Auto. „Das sind noch Autos mit Charakter“, betont er. Der gelernte Maschinenschlosser und heutige Beamte bei der Deutschen Bahn kaufte das Schmuckstück in Beigefarben und Alabastergrau 2010 in Herne. „Dieses Modell Ascona wurde nicht in Rüsselsheim, sondern in der Schweiz gebaut und hat eine zweifarbige Lackierung“, erklärt Olaf Kinzen und blickt voller Stolz auf die 45-PS-Limousine, in die er nach dem Kauf noch „etliche Hundert Stunden reingesteckt“ hat. Immer mehr Liebhaber kreisen wie Geier um ihre Beute um die aufgestellten Autos. Der Erfrischungsraum ist gefüllt, draußen an den Tischen vor dem gläsernen Halbrund sitzen meist die Begleitungen und erzählen. In dem Gewusel bahnen sich Olaf und Sabine Kinzen mit ihrem Opel einen Weg zum Ausgang. Der Vierzylinder blubbert, der Fahrer lehnt lässig den Arm aus dem offenen Fenster. Rock ’n’ Roll läuft. Auf der Hutablage steigt der Wackel-Dackel neben Elvis ins allgemeine Kopfnicken ein. Ein zufriedenes Lächeln huscht über Olaf Kinzens blasses Gesicht. Die 50er-Jahre, das sei mehr als ein Hobby. „Das ist ein Lebensgefühl“, sagt er und winkt seinen Oldtimer-Freunden an der Tankstelle zum Abschied. Stilecht in Rothenburgsort: An der alten Tankstelle treffen Olaf und Sabine Kinzen auf Gleichgesinnte Die Zeit zurücktanzen können Sie in den VHSEinführungskursen ins Swing-Tanzen: Kurse 0854WWW09, 0854NNN12 und 0854SHH16 www.vhs-hamburg.de 18 Achtung, Nachbarn „Nach— bar— schaft kann man nicht planen“ Ein Interview mit der Stadt- und Raumsoziologin Ingrid Breckner über Stadtentwicklung in Hamburg und die sozialen Folgen für die Nachbarschaft. „Bei den früheren Großsiedlungen hat man nur das Wohnen geplant, diesen Fehler macht man nicht mehr.“ Foto: Alexandra Falken/photocase.de, privat Achtung, Nachbarn 19 ACHT: Frau Breckner, was macht eine gute Nachbarschaft aus? Ingrid Breckner: Nachbarschaft kann man nicht planen. Sie entsteht weitgehend durch die Bedingungen des Wohnungsmarktes und durch die Bewohner. Ob daraus eine gute Nachbarschaft wird oder nicht, hängt davon ab, ob Menschen Interesse an Nachbarschaft haben. Viele Leute ziehen ja gerade in die Stadt, weil sie die Anonymität schätzen. Nachbarschaft ist immer dann gut, wenn sie eine freiwillige Angelegenheit ist. Wann kann man von Freiwilligkeit sprechen? Wenn das Nachbarschaftliche durch diejenigen selbst definiert werden kann, die da zusammenkommen. Zuziehende aus Kleinstädten oder dörflichen Lebenswelten suchen manchmal nachbarschaftliche Kontakte. Es gibt aber auch Menschen, die froh sind, wenn sie mit Nachbarn nichts zu tun haben: Sie leben in der Stadt, weil sie sich hier ihre Freunde selbst aussuchen können. Ist das soziale Miteinander ein wichtiges Thema in der Stadtplanung? Stadtplaner entscheiden selten darüber, wer konkret in welche Wohnhäuser einzieht. Sie beeinflussen eher, wo gewohnt und wo gearbeitet wird. Da versucht Stadtplanung das Nebeneinander von Wohnen und Arbeiten so zu organisieren, dass möglichst keine Störungen auftreten. Anstatt an der „funktional getrennten Stadt“, die auf den französischen Architekten Le Corbusier und die „Charta von Athen“ zurückgeht, orientiert sich der heutige Städtebau an Nutzungsmischung und versucht dabei auch soziale Erfordernisse zu berücksichtigen. Der öffentliche Raum ist heute von zentraler Bedeutung und muss so gestaltet sein, dass er die Interessen und Praktiken von ganz unterschiedlichen Menschen aufnehmen kann: Da hat der Punk genauso seinen Platz wie die feine Dame, die an ihm vorbeimarschiert. Da muss man gucken, wie das zusammengeht. Wie wichtig ist es, dass Flüchtlinge auch in vermögenderen Stadtteilen leben können? Flüchtlinge können überall wohnen, wo es möglich ist und wo sie die notwendige Unterstützung erhalten. Sozialwohnungen können nur dort gebaut werden, wo bezahlbare Flächen vorhanden sind, für die sich Investoren interessieren. Wenn es niemanden gibt, der sie baut, und niemanden, der die Sozialwohnungen als Folgeunterkunft für Flüchtlinge betreibt – z. B. weil in kleinen, verstreuten Einheiten die Sicherheit kaum zu gewährleisten ist –, bleiben als Alternativen nur Container, Zelte oder die Umnutzung bestehender Gebäude. Ist die HafenCity ein guter Ort, um Flüchtlinge und ihre Familien unterzubringen? Die geplante temporäre Unterbringung auf einem Baufeld, wo in drei Jahren ein Gymnasium entstehen soll, ist durchaus eine Möglichkeit. Es gibt überhaupt keinen Grund, bestimmte Stadtteile nicht in Betracht zu ziehen, wenn geeigneter Platz vorhanden ist. Was können Stadtplaner dazu beitragen, dass Integration gelingt? Stadtplanung ist eher für die Vorbereitung von Baumaßnahmen zuständig. Integration ist eher Aufgabe der Sozial- und Wirtschaftspolitik sowie der Zivilgesellschaft. Was im Moment am stärksten fehlt, ist eine systematische Zusammenarbeit der verschiedenen Ressorts, damit man das Herstellen von Wohnmöglichkeiten und das Integrieren auch wirklich zusammenführt. Es müsste eigentlich bei jedem Projekt detailliert diskutiert werden: Wo baue ich was, wo gibt es im Umfeld Kindergärten, Schulen und Arbeitsmöglichkeiten, wer bietet Deutschkurse an und wer macht die Sozialberatung? Wenn es jetzt darum geht, schnell viele Wohnungen zu bauen, befürchten manche, man könnte die Fehler der Vergangenheit wiederholen, indem man zu große Wohnsiedlungen baut. Eine Großsiedlung hat 10.000 Einwohner und mehr, keine der in Hamburg geplanten Siedlungen soll so viele Bewohner haben. Es geht um Einheiten von einigen Hundert Wohnungen. Man sollte wirklich das Wort Großsiedlung aus der Diskussion streichen. Das halte ich für eine absolut ideologische Irreführung der Bevölkerung und das heizt genau den Konflikt an. Aber ist es nicht auch schwierig, Flüchtlinge dauerhaft in Siedlungen mit 200 bis 600 Wohnungen unterzubringen? Die Stadtentwicklungsbehörde will ja, dass die Quartiere eingebunden werden. Bei den früheren Großsiedlungen hat man nur das Wohnen geplant. Diesen Fehler macht man nicht mehr und ich finde es im Prinzip gut, dass Sozialwohnungen gebaut werden, um Zelte und Container allenfalls kurzfristig zu nutzen. Das fällt der Stadt am allermeisten auf die Füße, wenn das zum Dauerzustand wird. Warum wird diese Debatte denn so hitzig geführt? Weil die Menschen oft nicht sagen, was sie eigentlich denken. Hinter dem Argument der Größe verstecken sich auch andere Motive. Welche? Ein Argument, das ich immer wieder höre, ist, dass die Leute Angst haben, dass ihre Immobilienpreise fallen. Das war auch ein Argument, das im Prozess in Harvestehude vorgetragen wurde. Gibt es irgendwelche Zahlen, die eine Auswirkung auf den Immobilienpreis belegen? Ich habe keine Befunde dazu. Es gab in Hamburg aber auch schon Proteste gegen Kindergärten und gegen Hospize mit ähnlichen Argumenten. Es gibt halt Leute, die die Vielfalt der Stadt nicht aushalten. Die sollten vielleicht besser in ländliche Räume ziehen, da haben sie vielleicht am wenigsten Berührung mit Andersartigkeit. In der Stadt gehört das Miteinander von Unterschiedlichkeit zum konkreten Leben dazu! Über welche Unterschiedlichkeit sprechen wir – von sozialer Mischung? Wenn man von Mischung spricht, muss man auch sagen, was und wer da eigentlich gemischt werden soll. Es gibt Ideologien, die davon ausgehen, je homogener, desto besser. Es streiten sich aber auch Leute in reichen Vierteln, lassen sich auch scheiden und schlagen vielleicht auch ihre Kinder, das kriegt man nur nicht so mit. Was macht einen gewachsenen Stadtteil aus? Das ist ein Stadtteil, der sich auseinandersetzt, der offen ist für Vielfalt und wo Vielfalt miteinander ausgetragen wird, wo man auch miteinander darüber diskutiert, wo man gegenseitig versteht, warum der andere etwas macht. So stabilisieren sich Stadtteile – und es sind nicht umsonst die Stadtteile, die besonders begehrt sind. Interview: Lena Kaiser Fotografie: Alexandra Falken Prof. Dr. Ingrid Breckner forscht und lehrt an der HafenCity Universität Hamburg Stadtund Regionalsoziologie. Sie wurde 1954 in Mediasch, Rumänien, geboren. Die Schwerpunkte ihrer Arbeit liegen im Bereich Suburbanisierung, soziale Stadt und Strategien integrierter Stadtentwicklung. Blicke auf Wilhelmsburg mit dem Oberbaudirektor Jörn Walter bei der VHS: Kurs 3101MMW02 www.vhs-hamburg.de SCHLOSSFESTSPIELE S C H W E R I N 2 0 16 des Mecklenburgischen Staatstheaters Schwerin AIDA Oper von Giuseppe Verdi | Open air 8. Juli –14. August 2016 n Hamburg! o v e d n tu S e in Nur e Schwerin Achtung, Nachbarn 21 5x Acht stellt 5 Menschen 5 Fragen Sie sind keine Freunde und gehören nicht zur Familie. Und dennoch können sie uns den Alltag erleichtern oder das Leben vermiesen: unsere Nachbarn. Wir haben fünf VHS-Kursleiter nach ihren Nachbarn und Nachbarschaftserfahrungen gefragt. Welche Welche wie würden Welches Nachbarn sind Ihnen die liebsten? Nachbarn sind für Sie die schlimmsten? ist das Verhältnis zu Ihren Nachbarn, unternehmen Sie auch was gemeinsam? Sie eine Flüchtlingsunterkunft in Ihrer Nachbarschaft begrüSSen? Thema bieten Sie im Rahmen der VHSReihe „Alles Hamburg!“ an? Bei ragazza e. V. schätze ich die Nachbarn, die allen hier im Stadtteil lebenden Menschen mit Toleranz und Verständnis begegnen und sich für eine Vielfalt in St. Georg einsetzen. Menschen, die Antworten auf soziale Problemlagen in einer Verschärfung von Repression und Verdrängung suchen. Diese „Nachbarn“ finde ich am unverträglichsten. Wir als Verein organisieren regelmäßig einen „Tag der offenen Tür“ – es ist eine tolle Gelegenheit, mit unterschiedlichen Menschen aus dem Stadtteil in Kontakt zu treten. Mir fehlten häufig der Gedanke der Mitmenschlichkeit und die Chancen durch Zuwanderung. Mir macht eine Flüchtlingsunterkunft in der Nachbarschaft weder Angst noch würde ich sie ablehnen. Ich biete eine Veranstaltung zum Thema „Drogenkonsum und Sexarbeit“ an – die Veranstaltung findet im ragazza in St. Georg statt. Der Prophet Mohammed sagte: „Der Engel Gabriel empfahl mir so oft die gute Behandlung des Nachbarn, dass ich beinahe dachte, er würde ihn vielleicht zum Erben einsetzen.“ Die keine Rücksicht auf andere nehmen und nur ihre Vorteile sehen. Die nicht verzeihen können. Der Prophet Mohammed sagte: „Einer, dessen Nachbar nicht sicher ist vor seiner Bosheit, der glaubt nicht.“ Mit unseren Nachbarn unternehmen wir öfter etwas, z. B. gemeinsam einkaufen und kochen. Oder die Kinder in die Schule bringen. Aber auch im Urlaub Blumen gießen und auf das Auto aufpassen. Ja, selbstverständlich. Es muss eine gute Mischung geben in der Gesellschaft. Die Vielfalt macht unser Leben bunter und lebendiger. „Interkulturelle Kommunikation“, es geht in dem Kurs darum, wie verschiedene Kulturen sich gegenseitig bereichern und Vorurteile abgebaut werden können. Die Streithähne und die Radikalinskis – aber Gott sei Dank wohnen sie nicht in meiner Straße. Im Gegenteil – meine Nachbarn sind weltoffen und hilfsbereit. Aleksandra Jeszke-Zillmer, Sprachlehrerin Am liebsten sind mir jene Nachbarn, die immer ein Quäntchen Zeit für einen kurzen Schnack haben – stehen bleiben oder vom Fahrrad absteigen und ungefragt, einfach von sich aus, das Neueste berichten. Seit 25 Jahren organisieren wir gemeinsam ein Straßenfest, das zwei Tage dauert – ein Treffpunkt für Familien und Ehemalige, von denen einige wieder in unsere Straße zurückgezogen sind. In einer unmittelbaren Entfernung befindet sich bereits eine Unterkunft für Flüchtlinge. Wir und viele Nachbarn engagieren uns in der Kinderbetreuung, Hausaufgabenhilfe und Freizeitgestaltung. Ich biete eine 4-stündige Bustour zu Stätten der polnischen Kultur und Geschichte in Hamburg an, mit vielen Begegnungen mit Menschen aus Polen, die hier Fuß gefasst haben. Die Tadellosen. Von meiner Seite des Hauses aus gesehen: sehr gut. Fragen Sie meine Nachbarn, ob sie der gleichen Meinung sind. Ja, wir halten gemeinsam das Haus am Leben. Lieber wäre mir, sie zögen in die freien Wohnungen im Haus, in der Nachbarschaft und der Stadt. Was ist kulturell möglich in Bergedorf. Ein KulturoptionenStadtrundgang, der für jeden Bezirk Geltung hat. Huug van’t Hoff, Schriftsteller Alle Menschen sind interessant. Es ist langweilig, nur nette Nachbarn zu haben, da sie wenig zum Nachdenken und Geschichtenspinnen anreizen. Als Autor mag ich die Abwechslung von Charakteren. Nicht neugierig, grüßen, nehmen Pakete an und machen Hinterhof-Flohmärkte oder -Feste. Welche mit Suchtproblemen, welche, die ihren Müll tagelang vor der Haustür stehen lassen, Post klauen und superlaut Musik hören und im Hausgang rauchen. Ich hatte auch schon nette Nachbarn, mit denen ich was unternommen habe, meistens beschränkt sich der Kontakt jedoch aufs Grüßen auf dem Flur. Ich würde es begrüßen, wenn geflüchtete Menschen in ganz normale Wohnungen kommen und nicht zusammengepfercht in einem Haus leben müssten. Schwarze deutsche Perspektiven, afrodeutsche Geschichte, Alltagsrassismus. Ich habe das Buch „Anleitung zum Schwarzsein“ für schwarze Leserinnen geschrieben, um ein positives Selbstbild zu geben. Svenja Korte-Langner, Sozialpädagogin F o t o s : F r a n k Uf e r Ph o t o g r a p h y , N o e l - R i ch t e r , P r i v a t ( 3 ) Mohammed Khalifa, Sprachlehrer Anne Chebu, Journalistin 22 Achtung, Nachbarn Isabel Kreitz gehört zu den besten Comiczeichnerinnen Deutschlands, ihr Atelier hat sie auf St. Pauli. Ein Gespräch über Rohrkrepierer, Kiez und Nachbarschaft „Ich suche den individuellen Moment“ Was will man mehr: Isabel Kreitz wurde mit vielen renommierten Preisen ausgezeichnet und arbeitet mit Blick auf den Hamburger Hafen ... Achtung, Nachbarn 23 A uf der Arbeitsplatte ein Meer von Buntstiften und Tuschefarben. Säuberlich geordnete Mappen, Bildbände und Magazine in den Regalen. Durch das Fenster des Pfarrhauses der St.-Pauli-Kirche, in dem die Comiczeichnerin Isabel Kreitz ihr Büro hat, schaut man über die Elbe bis zum Trockendock 11. Bei Plätzchen und Tee erzählt die 48-jährige Hamburgerin von ihrer im letzten Jahr erschienenen Graphic Novel „Rohrkrepierer“ und weshalb das Wort „Nachbarschaft“ auf St. Pauli eine ganz besondere Bedeutung hat. ACHT: Frau Kreitz, weshalb haben Sie den Roman „Rohrkrepierer“ des Hamburger Autors Konrad Lorenz als Vorlage für Ihre gleichnamige Graphic Novel gewählt? Die Geschichte eines Jungen, der unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg auf St. Pauli aufwächst. Isabel Kreitz: Einerseits haben mich die Lausbubengeschichten dazu bewogen, die mein Vater mir früher oft erzählt hat. Andererseits liegt mir die Gegend hier sehr am Herzen, die ich als sehr angenehm, interessant und offen empfinde. Ich arbeite seit viereinhalb Jahren hier und habe auf St. Pauli ein Willkommen erlebt wie sonst noch nirgends in Hamburg. Knüpft man auf St. Pauli schneller Bekanntschaften als anderswo? Bekanntschaften schon. Mit Freundschaften dauert es wie überall etwas länger. Aber ich fühle mich hier sauwohl. In Altona hat es zehn Jahre gedauert, bis ich mal ein Wort mit meinen Nachbarn gewechselt habe. Hier haben mich die Leute schon nach drei Mal Zigarettenkaufen im Kiosk wiedererkannt. Das macht einfach Spaß. Der Kiez als Ort sozialer Zusammengehörigkeit, wie man den Begriff etwa in Berlin verwendet? Ich denke, dass der Kiez in Hamburg schon sehr einzigartig ist. Hier gab es immer ein Kommen und Gehen, durch den Hafen, die Seeleute. Hier war das Rotlichtviertel. Obwohl inzwischen von der Seefahrt nichts mehr übrig ist und das Rotlichtviertel sich zugunsten einer Partykultur zurechtgeschrumpft hat, hat sich diese Offenheit doch in Teilen erhalten. Ich hoffe, dass mein Buch auch dazu beiträgt, den ursprünglichen KiezGedanken am Leben zu erhalten. Wobei Ihr Buch ja noch einen anderen Aspekt von Nachbarschaft veranschaulicht: die Enge … Die Wohnung, in der ein Großteil der Geschichte spielt, ist in der Tat eine Art Kabäuschen. Am meisten hat mich dabei interessiert, wie Kalle damit klarkommt, in einem Frauenhaushalt aufzuwachen, in dem seine Mutter und Oma ständig streiten. Die Kindheit mit diesen beiden starken Frauen macht ihn gewissermaßen zum Seemann, weil er irgendwann erkennt, dass er es dort nicht länger aushält. Ein Gefühl der Enge kann ja auch entstehen, wenn Nachbarn einem zu dicht auf die Pelle rücken. Im Buch gibt es eine Frau, die den ganzen Tag mit einem Fernglas aus dem Fenster schaut, Schulschwänzer ermahnt oder bei Straßenschlägereien die Polizei ruft. Ist diese Art Nachbarin typisch für St. Pauli? Hier in St. Pauli kenne ich so eine Person nicht. Aber in den engen Straßenzügen von Altona, wo ich früher gewohnt habe, habe ich so etwas erlebt. Da sah man in den gegenüberliegenden Fenstern Personen – meistens in Schiesser Feinripp mit Hosenträgern, Zigarette und Kaffeetasse –, die den ganzen Tag auf die Straße geglotzt haben. Auffällig ist, dass sich in Ihrem Buch die Huren im positiven Sinne nachbarschaftlich verhalten. Sie greifen helfend ein, wenn Schuljungen in der Herbertstraße in Bedrängnis geraten oder jemand ausgeraubt werden soll. Gibt es diese Art von Solidarität zwischen Sexarbeiterinnen und Anwohnern auch heute noch? Ich nehme an, dass heute kaum noch bürgerliche Familien auf dem Kiez wohnen und es dieses Nebeneinander nicht mehr gibt. Das ist vielleicht ohnehin eine idealisierte Vorstellung. Ich muss mich auf den Autor Konrad Lorenz verlassen, dass das damals so war. Worauf verlassen Sie sich noch bei Ihrer Arbeit? Wie gehen Sie bei der Recherche vor? Konrad Lorenz hat mir netterweise die gesamten Fotoalben seiner Familie überlassen. Dadurch wusste ich, wie die wichtigsten Personen des Buches aussahen, und konnte ihre Bilder als Vorlage nutzen. Ich habe aber auch andere Bilder aus der alten Hamburger Zeit zu Hilfe genommen, zum Beispiel von Herbert Dombrowski, einem Fotografen, den ich sehr schätze. Ihre Schwarz-Weiß-Zeichnungen sind sehr detailreich. Man sieht sofort, dass Sie viel Zeit darauf verwenden … Manchmal tue ich vielleicht etwas zu viel des Guten. Das liegt an meiner Arbeitsteilung – Storyboard, Vorzeichnung, Reinzeichnung – und daran, dass ich versuche, mich bei jedem Arbeitsschritt noch einmal selbst zu überraschen. Dann verliere ich mich oft in Details und zeichne jeden Backstein aus, weil es gerade so viel Spaß macht. Ihre Bilder wirken fast wie realistische Schnappschüsse … … weshalb einige Leute sagen, meine Figuren sehen hässlich aus. Dabei wehre ich mich nur gegen die Idealisierung von Gesichtszügen, die im Comicbereich ja häufig vorkommt, wo ein Gesicht mit möglichst wenigen Linien auskommen soll. Ich suche aber nicht nach dem idealen, sondern dem individuellen, zufälligen Moment. Die Aneinanderreihung solcher Momente erzeugt eine Nachbarschaft von Einzelbildern, die nicht wie im Film als Fluss, sondern als separate Einheiten wahrgenommen werden. Wie stellen Sie sicher, dass diese „Nachbarn“ miteinander kommunizieren, dass die Bilder sich im Kopf des Lesers zu einer Handlung verbinden? Das war bei diesem Buch ein größeres Problem als bei anderen Büchern, weil es eine Fülle notwendiger Schnitte gibt. Teilweise habe ich ganze Seiten eingefügt, um diese Schnitte weicher zu machen, damit man nicht sofort in die nächste Szene geworfen wird. An anderen Stellen fand ich es aber auch besonders reizvoll, dass man ganz plötzlich in einer anderen Szene landet. 2012 haben Sie den Max-und-Moritz-Preis als beste deutschsprachige Comic-Künstlerin erhalten, um nur eine von vielen Auszeichnungen zu nennen. Kann eine Comiczeichnerin heute noch etwas von Wilhelm Busch lernen? Die schwungvolle, leichte Linienführung! Da gibt es bei mir immer eine Diskrepanz zwischen Vor- und Reinzeichnung. Aber ich arbeite daran, dass dieser Schwung auch in den Reinzeichnungen erhalten bleibt. Man lernt ja mit jedem Buch dazu. Von daher habe ich noch Hoffnung. (lacht) Interview: Sören Ingwersen Fotografie: Julia Knop Isabel Kreitz, geboren 1967 in Hamburg, besuchte die Fachhochschule für Gestaltung, Hamburg und die Parsons School, New York. Seitdem zeichnet sie: neben eigenen Geschichten wie „Die Sache mit Sorge“ (Sondermann-Preis 2008), Literaturadaptionen u. a. von Erich Kästner. Die Graphic Novel „Haarmann“ bekam den Sondermann-Preis 2011, 2012 erhielt sie den Max-und-MoritzPreis. Ihr neues Buch „Rohrkrepierer – Eine Jugend auf St. Pauli“ basiert auf dem Roman von Konrad Lorenz über dessen Jugend in den 50er-/60er-Jahren. Comics – Cartoons – Bildgeschichten Entwicklung einer eigenen Comicfigur lernen in der VHS mit Calle Claus. Kurs 0216MMM02 www.vhs-hamburg.de 24 Hallo Zukunft Immer mehr Menschen wollen keine Großstadt-Anonymität. Sie rücken zusammen – ob im Mietshaus, beim Hofflohmarkt oder im Gemeinschaftsgarten. Wir stellen einige spannende Projekte, Initiativen und Stiftungen vor, die der nachbarschaftlichen Stimmung zuträglich sein können. Hallo Frau Nachbar Der Nachbarschaftsmarkt „Hallo Frau Nachbar“ sorgt mehrmals im Jahr für beste Unterhaltung und nachbarschaftliches Flair im Schanzenviertel. Der Markt ist ein Treffpunkt für die gesamte Nachbarschaft, ein Ort zum Frühstücken, Kaffeetrinken, Mittagessen und ideal geeignet für den entspannten Klönschnack mit den Nachbarn. Livemusik und ein Kinderprogramm sorgen zusätzlich für Spaß und Unterhaltung. „Hallo Frau Nachbar“ setzt sich für eine soziale Nachbarschaft ein: Auf dem Markt gibt es einen Nachbarschafts-Stammtisch, an dem Nachbarn den Initiatoren ihre Projekte und Ideen vorstellen können. Zehn Prozent der Erlöse des Marktes werden für Verbesserungen im Quartier bereitgestellt. www.hallofraunachbar.blogspot.de schiedene Pflanzensorten, fünf Bienenvölker, vier Komposthaufen und eine Wurmkiste. Allen voran ist das Gartendeck ein Ort, an dem gemeinschaftliche Strukturen wiederbelebt werden: Nachbarn lernen sich kennen, gärtnern gemeinsam und gestalten auf diese Weise den ganzen Stadtteil mit. Alle sind herzlich eingeladen, vorbeizukommen und mitzumachen. www.gartendeck.de Aus der altehrwürdigen ViktoriaKaserne wird eine Genossenschaft Das Gartendeck auf St. Pauli: nachbarschaftliches Gärtnern Gartendeck Das „Gartendeck“ ist ein ursprünglich temporär angelegter urbaner Garten in der Großen Freiheit, zwischen St.-Pauli-Druckerei und dem Indra: 1.100 m2 Dachfläche, 400 m2 Grünstreifen, rund 650 Bäckerkisten, ein Container, zwölf Schaufeln, zwei Schubkarren, 172 ver- fux eG – die Genossenschaft Die ehemalige Viktoria-Kaserne in Hamburg-Altona ist ein gemeinschaftlich betriebener Produktionsort für Kunst, Kultur und Gestaltung, Gewerbe und Bildung, kleine Firmen sowie soziale Organisationen. Durch ein offenes und kostenfreies Angebot von Ausstellungen, Lesungen, Konzerten, Vorträgen und Diskussionen kommuniziert die Genossenschaft mit der Stadt und dem Stadtteil. Offene Werkstätten und verschiedene Workshops bieten darüber hinaus auch ein Angebot, aktiv zu werden. fux eG kooperiert mit verschiedenen Hochschulen sowohl aus Hamburg als auch überregional und tauscht sich regelmäßig mit Gruppen verschiedenster Disziplinen aus. www.fux-eg.org Linie Fünf „Linie Fünf“, hier ist der Name das Programm: Es ist ein Informationsund Diskussionsportal, bei dem es um die Sammlung, Diskussion und Bewertung von Vorschlägen für neue Strecken, Linien und Haltestellen in Hamburg geht. Bestehende und neue Ideen sollen in breiter Fülle gesammelt Stadtkuratorin Hamburg „Stadtkuratorin Hamburg“ ist ein von der Kulturbehörde initiiertes Projekt zur Aktualisierung und Neuausrichtung des Programms „Kunst im öffentlichen Raum“. Mit Sophie Goltz beschäftigt Hamburg die bundesweit erste Stadtkuratorin für Kunst im öffentlichen Raum. Ziel aller Aktivitäten ist es, die Möglichkeiten von Kunst im städtischen Raum in Hamburg neu auszuloten und von Hamburg aus eine Diskussion um europäische wie globale Kunst und Kultur anzuregen. Die Stadtkuratorin soll zudem neue Formate der Ausstellung, der Kunstproduktion ermöglichen und dabei die nachbarschaftlichen Graswurzel-Initiativen berücksichtigen. www.stadtkuratorin-hamburg.de Stilbruch „Lieber gebraucht als teuer“ – so lautet das Motto des Sozialkaufhauses „Stilbruch“. Es gilt für Möbel, Hausrat, Bücher, Platten und CDs, Elektroartikel, Fahrräder und Klamotten. Die beiden Filialen (in Altona und Wandsbek) des Kaufhauses sind ein Paradies für Schnäppchenjäger, Sammler und alle, die gern stöbern gehen. Für Nachschub bei „Stilbruch“ sorgen die rund 20 Möbelwagen der Sperrmüllabfuhr. Was vor 16 Jahren als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme des Arbeitsamtes entstanden ist, ist zu einem profitablen Unternehmen der Hamburger Stadtreinigung geworden. „Stilbruch“ bietet zudem Arbeitsplätze für Langzeitarbeitslose. www.stilbruch.de Nachbarschaftshaus Jenkelweg Nachbarn treffen, Kurse besuchen, sich austauschen, gemeinsam feiern – all das und mehr können die Bewohnerinnen und Bewohner des Quartiers Jenkelweg – Archenholzstraße. Im Nachbarschaftshaus gibt es neben einer Betreuerloge und Toiletten einen Gemeinschaftsraum mit Küchenzeile. Hier steht ausreichend Raum für unterschiedliche Ideen zur Verfügung. Jeden Dienstag von 16.30 bis 18.30 Uhr bietet die Lawaetz-Stiftung hier ihre Quartierssprechstunde an. Die muslimische Frauengruppe kommt im Nachbarschaftshaus regelmäßig zum „Dialog in Deutsch“ zusammen und lädt außerdem Kinder und Jugendliche zum Kochen, Backen und Basteln ein. Weiterbildung für Senioren, eine Boule-Gruppe, Hausaufgabenhilfe und Gesundheitskurse ergänzen das Angebot des Hauses. Jenkelweg 20, 22119 Hamburg steg (Stadterneuerungs- und Stadtentwicklungsgesellschaft Hamburg) Der Name steg steht seit über 26 Jahren für nachhaltige Quartiersentwicklung. Projekt- und Stadtentwickler, Stadterneuerer und -planer sowie Architekten arbeiten hier unter einem Dach. Die steg ist bei unzähligen Projekten und Bauvorhaben Hamburgs ein Mittler vor Ort. Sie organisiert das Sanierungsgeschehen, mittelt zwischen Anwohnern, Verwaltung und Investoren. Ziel ist oft, dass städtische Investoren noch mehr private Initiativen auslösen, um so in einem Stadtviertel durch Neubau und Sanierung neuen Schub zu bringen. Bei der Realisierung von Projekten, wie z. B. dem Gesundheitszentrum St. Pauli im ehemaligen Hafenkrankenhaus oder der Alten Rinderschlachthalle, fließen auch die Visionen und Wünsche von Bürgern, Nachbarn und Nutzern ein. steg@steg-hamburg.de Ambulante Hilfe Hamburg e. V. Die Ambulante Hilfe Hamburg e. V. betreibt seit 1984 die älteste Hamburger Beratungsstelle für Wohnungslose und von Wohnungslosigkeit Bedrohte. Hier bekommen Besucher auch Informationen zu den Rahmenbedingungen der Hilfe für Wohnungslose. Die Ambulante Hilfe Hamburg e. V. ist auch als Gesellschafter beteiligt an der Initiative „Neue Wohnung“, die mit verschiedenen Projekten Unterbringungen für Obdachlose anbietet. www.wohnungslose.de Johann Daniel Lawaetz-Stiftung Die Lawaetz-Stiftung ist eine 1986 von der Freien und Hansestadt Hamburg gegründete gemeinnützige Stiftung, um sozial und wirtschaftlich benachteiligten Personengruppen Zugänge zum Arbeits-, Ausbildungsund Wohnungsmarkt zu ermöglichen. Die Lawaetz-Stiftung fördert Wohnund Mietergruppen, die mit Eigenleistung alte Gebäude instand setzen und damit bezahlbaren Wohnraum erhalten oder schaffen. Viele Projekte der Stiftung richten sich an obdachlose Menschen, denen Wohnmöglichkeiten angeboten werden. www.lawaetz.de Werkstatt Vielfalt Mit dem Programm „Werkstatt Vielfalt“ unterstützt die Robert Bosch Stiftung Projekte, die dazu beitragen, Menschen aus unterschiedlichen sozialen, kulturellen oder religiösen Milieus miteinander in Kontakt zu bringen. Die Projekte der „Werkstatt Vielfalt“ wollen Brücken zwischen unterschiedlichen Lebenswelten bauen. Wird eine Projektidee in die „Werkstatt Vielfalt“ aufgenommen, erhält sie nicht nur eine finanzielle Förderung: Die Projektverantwortlichen holen sich bei einer Projektwerkstatt Tipps von Fachleuten, tauschen Erfahrungen aus und geben Anregungen zur Weiterentwicklung des Programms. www.bosch-stiftung.de Fotos: Lia Darjes, ACHT Nachbar, komm doch mal ruber! und später zu einer gemeinschaftlich entwickelten Nahverkehrsstrategie zusammengefasst werden, die den Entscheidungsträgern und allen mit Planung, Bau und Betrieb des ÖPNV befassten Institutionen und Unternehmen als Inspirationsquelle vorgelegt werden soll. www.liniefuenf.de FALSC Anzeige 4 19, / o w t r o f t r a m s Tag 95 50 km frei Den neuen smart bei STARCAR günstig mieten: 0180/55 44 555 (0,14 Euro pro Minute aus dem Festnetz; maximal 0,42 Euro pro Minute aus den Mobilfunknetzen) Eine Werbung der STARCAR GmbH, Verwaltung Süderstraße 282, 20537 Hamburg S ’ D R I W R E U TE E I S N N E NUR, W . N E K R H PA 26 Global D as Feuerwerk ist spektakulär, die Zahl der es nicht, Projekte und Aktionen mit viel Geld zu unterstütSchaulustigen riesig: Wenn jedes Jahr Ende zen, sondern Ansprechpartner für Vereine, Firmen oder Mai in Hamburg das Kirschblütenfest gefei- Schulen zu liefern oder an die entsprechenden Fachbeert wird, säumen Zehntausende von Zuschau- hörden zu verweisen. „Wir können nur mit kleineren BeiText: ern die Ufer auf beiden Seiten der Außenalster, um die trägen unterstützen“, sagt Ram. Ein Teil seines Etats ist Heinrich Oehmsen Pyroschau zu erleben. Seit 1968 gibt es das Kirschblü- fest gebunden, wie zum Beispiel für die ständigen tenfest. Es ist der Dank der japanischen Firmen für die Vertretungen, die Hamburg in Shanghai, St. PetersGastfreundschaft, die ihnen in Hamburg zuteilwird, und burg und in León unterhält. Viele Aktivitäten laufen ein gutes Beispiel für eine friedliche gemeinsame Feier. zwischen Bürgern und Organisationen der PartnerVerbunden ist dieses Fest mit der Wahl einer Kirschblü- städte, ohne dass die Staatskanzlei davon Kenntnis tenprinzessin und neuerdings sogar einer Königin. Zwei hat. „Jeder kann ohne Weiteres nach Marseille oder Jahre lang wird die 25 Jahre alte Laura Gräwert den Titel nach Dresden reisen. Da muss die Stadt nichts untertragen und eine Sonderbotschafterin der Hansestadt stützen“, sagt Ram. Anders sei es bei Projeksein. Außerhalb Japans werden nur noch in Washington ten mit Shanghai und St. PetersD. C. und in Honolulu auf Hawaii solche Königinnen gekürt. burg: „Vieles funktioniert erst, Für Politik und Wirtschaft in Hamburg ist diese Kirschblü- wenn es den offiziellen Segen Hamburgs ferne Nachbarn tenmajestät ein Türöffner in höchste japanische Kreise. der Partnerschaft bekommt.“ Die Geschichte der Ham„Der Erste Bürgermeister einer Stadt wie Hamburg oder Wie verbunden die Hamburger Bevölkerung burger StädtepartnerWirtschaftsvertreter würden nie einen Termin beim japaihren Partnerstädten ist, hat sich in der Vergangenschaften beginnt in den 50er-Jahren: Die ersten nischen Premierminister oder bei den Chefs großer Kon- heit immer wieder bei Katastrophen gezeigt. Als Anfang zerne bekommen. Doch eine Kirschblütenkönigin besitzt der 90er-Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetbeiden Partnerschaften in Japan höchsten Stellenwert“, sagt Uwe Ram, in der union die Versorgungslage in Leningrad immer verheemit St.Petersburg (damals noch Leningrad) Senatskanzlei Leiter der Abteilung Internationale Zusam- render wurde, stellte der Senat 4,5 Millionen Mark an 1957 und Marseille 1958 menarbeit. Soforthilfe bereit. Es gründeten sich Initiativen, die Güter fielen in die Zeit des Eine der Aufgaben von Ram und seinen Mitarbei- zusammenstellten und per Lkw nach Russland brachKalten Krieges. Die tern ist die Betreuung der neun Partnerstädte, mit denen ten. Bis heute existiert die „Paket-Brücke“ des ArbeiBeziehungen zu einer Hamburg sich seit den 50er-Jahren verknüpft hat. Eine ter-Samariter-Bundes, die unter anderem soziale Prosowjetischen und einer besondere Bindung gibt es zu Osaka, mit 2,6 Millio- jekte zugunsten von Straßenkindern ins Leben gerufen französischen Stadt nen Einwohnern die drittgrößte Stadt Japans. Seit 1987 hat. Auch andere Städte konnten auf Hilfe der Hamburger hatten vor allem eine gehört die Hafenstadt zu den Partnerstädten Hamburgs. bauen: Als in Nicaragua 1998 der Hurrikan „Mitch“ das Bedeutung für die Die Partnerschaft zwischen Hamburg und Osaka ergibt mittelamerikanische Land verwüstete, sprangen die hieAussöhnung. Erst in Sinn, denn beide Städte sind traditionell die wichtigs- sigen Bürger mit Spenden und Hilfsaktionen genauso ein den späten 80er-Jahren schloss Hamburg die ten Handelszentren ihrer Länder. Das Kirschblütenfest wie 1995 nach einem Erdbeben in Kobe, bei dem 6.000 nächsten Partnerschafist Ausdruck dieser engen Verbindung. Doch auch China, Menschen den Tod fanden, oder im August 2002, als ten. Diese folgten zwei und hier besonders Shanghai, hat in den vergangenen Dresdens Innenstadt überflutet wurde. Richtungen: zum einen Jahren einen großen Platz in den Beziehungen zur HanIn diesem Jahr stehen die Städtepartnerschaften „Entlang der Elbe“ – sestadt eingenommen. Das hängt mit der Öffnung Chi- ganz im Zeichen des Jubiläums mit Shanghai. Vor 30 JahDresden (1987) und Prag nas zum Westen zusammen, aber auch mit Shanghais ren wurden Beziehungen zu der bedeutendsten chinesi(1990), zum anderen Bedeutung als Hafen. „Partnerstädte werden für Ham- schen Handelsstadt geknüpft. Mit 24 Millionen Einwoh„Hinaus in die Welt“ – burg immer wichtiger“, sagt Wolfgang Schmidt, Staatsrat nern ist Shanghai auch die bevölkerungsreichste MetroShanghai (1986), Osaka in der Senatskanzlei. „Städte haben fast überall auf der pole in China. Eine offizielle Delegation wird im Sommer (1987), das nicaraguWelt mit ähnlichen Herausforderungen zu kämpfen. Des- nach Hamburg kommen, im November läuft wieder das anische León (1989), Chicago (1994) und halb ist es sinnvoll, sich auszutauschen und von Partner- Festival „China Time“ mit Konzerten, TheateraufführunDaressalam in Tansania städten zu lernen.“ gen, Diskussionen, Lesungen und Filmvorführungen aus (2010). Die ersten Städtepartnerschaften schloss die Han- dem Reich der Mitte. Anfang des Jahres gab es bereits sestadt bereits in den 50er-Jahren mit Leningrad, heute bei den Lessingtagen ein Gastspiel des Shanghai DraSt. Petersburg, und Marseille. „Es ging damals um die matic Arts Center. „Die Masse“, ein kritisches Stück des Überwindung der Gräben, die durch den Zweiten Welt- jungen Autors Nick Yu Rong Jun, war der Auftakt an kulkrieg entstanden waren. Menschen, die sich gegenseitig turellen Veranstaltungen im Jubiläumsjahr. „Das Thakennengelernt haben, sind weniger in der Gefahr, aufei- lia Theater pflegt seit Jahren gute Kontakte nach China. nander zu schießen“, erläutert Uwe Ram diesen histori- „Wir haben dort gerade mit unserem ,Ring‘ gastiert, ,Die schen Beginn der Städtepartnerschaften. Auch mit Dres- Masse‘ ist das aktuellste Beispiel für ein Gastspiel einer den ging Hamburg 1987, zwei Jahre vor der damals noch chinesischen Theatergruppe in Hamburg“, sagt Sandra nicht abzusehenden Öffnung der Grenzen, eine Partner- Küpper, Dramaturgin am Thalia Theater. schaft ein. Prag folgte 1990, in den späten 80er-Jahren Neben den kulturellen und persönlichen Begegnunhatte man bereits Kooperationen mit Shanghai, Osaka gen dienen die Städtepartnerschaften besonders dem und León in Nicaragua geschlossen, die jüngsten Part- Austausch auf Expertenebene. Im vergangenen Jahr gab nerschaften wurden mit Chicago (1994) und Daressa- es zum ersten Mal das Urban Partnership Forum, bei dem lam in Tansania (2010) vereinbart. Als Partner wurden vor Vertreter aus Dresden, Prag, St. Petersburg und Hamburg allem dynamische Metropolen gesucht, mit denen man drei Tage lang über städtische Großprojekte diskutierten. sich auf Augenhöhe begegnen konnte und die eine ähn- In diesem Jahr werden Gäste aus Shanghai, Osaka und Alle Sprachen unserer Partnerstädte – liche große Bedeutung wie Hamburg haben, aber keine Chicago erwartet. Gesprochen werden soll über Handel Hauptstädte sind. Prag ist die Ausnahme. und Wirtschaft, die Bedeutung und die Auswirkungen für auch Swahili – kann man Geld kostet die Hansestadt die Partnerschaft ver- die jeweiligen Metropolen. „Miteinander reden, voneinanan der Volkshochschule lernen. gleichsweise wenig. Nur 445.000 Euro sind im aktuellen der lernen“ ist das Credo dieser Veranstaltung, eine Forwww.vhs-hamburg.de Haushalt eingestellt. Die Aufgabe von Rams Abteilung ist mel ganz im Sinne jeder Städtepartnerschaft. St. Petersburg 1957 Marseille 1958 Shanghai 1986 Dresden 1987 Osaka 1987 León 1989 Prag 1990 Chicago 1994 Daressalam 2010 Ferne Nach— barn Hamburg hat neun Partnerstädte in aller Welt. Die ACHT begibt sich auf einen Streifzug und nimmt die metropolitanen Begegnungen genauer unter die Lupe. Global 27 28 Glosse Oberstübchen—Pogo Text: Thomas Glatzer Ärger? Wenn Sie Ihre Nachbarn richtig ärgern wollen, dann üben Sie Stepptanz: Kurs 0851ROF05 www.vhs-hamburg.de W ohnungssuche in Hamburg ist kein Spaß. Besichtigungstermine mit über hundert Konkurrenten sind der Normalfall, bezahlbaren Wohnraum in den attraktiveren Vierteln zu finden ist so wahrscheinlich, wie in den Harburger Bergen ein Edelweiß zu entdecken. Meine Freundin und ich hatten eines Tages nach ca. 99 Besichtigungsterminen dieses unverschämte Glück: 3-Zimmer-Altbau mit Schnörkelstuck und Balkon, sonnendurchflutetes oberstes Stockwerk, unter 1.000 Euro warm. Wir überschütteten die Maklerin mit Blumen und Worten des Dankes. Ein klitzekleiner Haken an der Sache offenbarte sich uns erst, nachdem der Mietvertrag unterschrieben war und wir unseren Abstellraum unterm Dach ansehen wollten. Hier oben gab es zwei Türen. Eine davon besaß eine Klingel. Und es standen drei Paar Schuhe davor. Ein ausgebautes Dachgeschoss befand sich exakt oberhalb unserer Räumlichkeiten. Keine Schallisolierung, aber immerhin schluckte ein dickfloriger Teppichboden den gröbsten Lärm, mit der Kleinfamilie gab es in der Folgezeit keinen Stress. Klar, so ein Altbau hat dünne Wände. Wenn Oma Voss nebenan Punkt 20 Uhr den Fernseher einschaltete, brüllte ein unsichtbarer Jan Hofer seine TagesschauTexte wie durch ein Megafon auch in unser Wohnzimmer. Na und? Wir werden schließlich alle alt. Hin und wieder eine rauschende Party im Erdgeschoss? Egal, wir waren schließlich auch mal jung. Schwamm drüber – leben und leben lassen! So hausten und arbeiteten wir glücklich und zufrieden in unseren geliebten vier Wänden. Hier würden wir ewig wohnen bleiben, dachten wir. Bis Holzmichel in unser Leben trat. Oder besser gesagt, darauf herumtrampelte. Die Maklerin teilte uns mit, der neue OberstübchenMieter sei Waldorflehrer, Werken und Musik. Holzmichel, ein grobschlächtiger Geselle, und seine Frau renovierten selbst. Erste Amtshandlung: Bodenbelag komplett rausreißen. Schnell wurde klar, dass dieser Teppich in Sachen Akustik unser bester Freund gewesen war. Fortan konnte man jedes Geräusch vom Fallen einer Stecknadel aufwärts klar und deutlich vernehmen. Wir forderten den Vermieter auf, für wirksame Schallschutzmaßnahmen zu sorgen. Der Mann stellte sich taub. Genau das gelang uns fortan überhaupt nicht mehr. Holzmichel hatte Sommerferien, die nächsten sechs Wochen waren geprägt von 14-stündigem Einsatz von Hammer, Hobel, Bohrmaschine und anderem schweren Gerät. Gekrönt wurde das Ganze durch ein infernalisches Finale mit der Schleifmaschine. Der Tag nach der Lackierung war der letzte unbeschwerte Tag in unserem Leben. Danach folgte dauerhafte Eskalation. Holzmichel trug auf den ollen Dachbodendielen konsequent klobige Holzbotten nach Art holländischer Käseverkäufer. Er arbeitete nur halbtags und widmete sich dann ausgiebig seinen Hobbys: Holzbearbeiten und Musizieren. Klarinette, Bass und Bongos. Letztere gern erst nach 22 Uhr. Sonntags kam dann die gesamte Verwandtschaft aus dem norddeutschen Flachland zu Besuch. Eine Art Großfamilie Flodder mit Bibel und Gesangbuch. Gemeinsam trällerten und flöteten sie christliche Lieder. Hosianna! Nach wenigen Monaten waren Holzmichels zu viert. Die Zwillinge – Rosemaries Baby im Doppelpack – wuchsen schneller heran als altersüblich, sie brachten gefühlt das dreifache Gewicht eines normalen Kleinkindes auf die Waage, sie brüllten ohne Pausentaste und konnten mit sechs Monaten bereits laufen und Pogo tanzen. Ihr Erzeuger bastelte für sie einen hölzernen Radwagen und plumpes Schuhwerk. Oder waren es Hufeisen? Ab jetzt lief Ben Hur, rund um die Uhr. Am Wochenende begann das Programm spätestens morgens um 6 Uhr. Wir versiegelten unsere Ohren präventiv mit Ohropax, doch der wattierte Geräuschpegel sank nur geringfügig. Bei dumpfen Schlägen wie 20-fachem Zuknallen einer Tür oder 60-minütigem Wettspringen der Racker vom Stuhl versagte das Produkt seinen Dienst. Natürlich richteten wir freundliche und später auch weniger freundliche Worte an die Familie. Die lapidare Antwort: „Wir wollen doch auch nur leben.“ Weder Vermieter („Tja, Kinder halt“) noch Mieterverein („Genaues Lärmprotokoll mit Zeugen erstellen, ein Prozess kann aber Jahre dauern, bei geringen Erfolgsaussichten“) wollten oder konnten helfen. Wir waren drauf und dran, den besten Rat („Zieht endlich weg!“) zu befolgen, als uns Familie Holzmichel damit zuvorkam. Halleluja! Inzwischen hat der Vermieter einen Trittschallschutz einbauen lassen und die Maklerin hat das Casting deutlich verbessert. Die neue Mieterin ist Primaballerina und schwebt auf Zehenspitzen durch die Wohnung. Himmlisch! Geschenke mit MÄHwert! Jetzt bestellen: EinZiegartige Geschenke, die Gutes tun. 30 Science Nach— bar— schaft heute Sie sind keine Freunde und gehören nicht zur Familie. Und dennoch können sie uns den Alltag erleichtern oder das Leben bis zur Unerträglichkeit vermiesen: unsere Nachbarn. Der Stadtsoziologe Walter Siebel spürt seit Jahrzehnten dem Phänomen „Nachbarschaft“ nach. Text: Walter Siebel Stadtleben Mit der Volkshochschule städtische Lebensräume intensiver kennenlernen: Polnisches Leben in Hamburg: Kurs 3240ROF10, Fotoexkursion: Hausboote in Hamburg, Kurs 1213NNN02, und „Von der Speicherstadt bis St. Pauli - ein Architekturspaziergang mit der Kamera“, Kurs 1214MMM01. www.vhs-hamburg.de N achbarschaft hat ein Janusgesicht. Sie kann Quelle von Freundschaften oder ständigen Ärgers sein. Der Streit zwischen Nachbarn kann erbitterter ausgefochten werden als Scheidungskonflikte. Nachbarschaft ist eine wichtige Ressource zur Bewältigung des Alltags. Aber Nachbarschaft kann auch zur Falle werden. „Schlechte“ Nachbarschaften sind schlechte Adressen, durch die Benachteiligte zusätzlich benachteiligt werden. Wer in einem „Ausländerghetto“ wohnt, der ist abgestempelt. Nachbarschaft ist auch ökonomisch relevant. Eine „gute“ Nachbarschaft bedeutet hohe, eine „schlechte“ niedrige Preise für Immobilien. In vormodernen Gesellschaften waren die Nachbarn denselben Nöten und Zwängen unterworfen. Man war zur Bewältigung des eigenen Alltags aufeinander angewiesen. Heute machen Wohlstand, moderne Kommunikations- und Verkehrsmittel und die sozialen Netze des Wohlfahrtsstaates nachbarliche Hilfssysteme weitgehend überflüssig. Die Differenzierung der Berufe, die Individualisierung, die Pluralisierung der Lebensstile reduzieren heute auch die sozialen Gemeinsamkeiten unter den Nachbarn. Dadurch wachsen die Konfliktmöglichkeiten. Da man Nachbarn anders als Freunde und Verwandte, zu denen man Kontakte hält oder eben nicht, nur durch Umzug auswechseln kann, werden die Kontakte zu Nachbarn bewusst auf der Ebene einer vorsichtig-höflichen Distanz gehalten. Die wichtigste Norm gutnachbarlichen Verhaltens ist die Distanznorm. Es lassen sich aber drei Gruppen benennen, die Interesse an intensiveren Nachbarschaftsbeziehungen haben. In den 1970er- und 80er-Jahren entstanden zahlreiche Projekte geplanter Nachbarschaften, initiiert insbesondere von den Frauen. Diese wollten nachbarliche Hilfsnetze organisieren, um Hausarbeit, Kindererziehung und Berufstätigkeit besser vereinbaren zu können. Hinzu kam das Interesse, Isolation und Anonymität zu vermeiden. So fügten sich sehr praktische Überlegungen zur Entlastung der berufstätigen Frau durch Zusammenarbeit im Wohnbereich und das Interesse an mehr Kommunikation zu einem Idealbild gelungener Nachbarschaft. Diese Nachbarschaften haben umso besser funktioniert, je höher die soziale und kulturelle Homogenität der Beteiligten war, also auf Basis einer sehr feinkörnigen sozialen Segregation. Das hat gute Gründe. Je mehr und je privatere Lebensbereiche man miteinander teilt, desto wichtiger wird es, dass die Teilnehmer in Fragen der persönlichen Überzeugung, des Geschmacks, des Lebensstils und in ihren materiellen Möglichkeiten einander ähneln. Fotos: zettberlin/photocase.de, Privat Die Pluralisierung der Lebensstile reduzierten die Gemeinsamkeiten auch unter Nachbarn, wodurch Konfliktmöglichkeiten wachsen Science 31 Nachbarschaft ist auch für Zuwanderer von großer und der Nachbarschaft. Das leistungsfähigste dieser drei, Bedeutung. Auch die Deutschen, die nach Amerika aus- das Verwandtschaftssystem, wird aber durch den demogewandert sind, haben zuerst die Nähe zu Landsleuten in grafischen Wandel und die Veränderungen der Lebensden „little Germanys“ der amerikanischen Städte gesucht. weisen geschwächt: Das Einzelkind zweier EinzelkinLandsmannschaftliche Nachbarschaften bilden Puffer der hat nach dem Tod seiner Eltern keinerlei direkte Verzwischen dem eingewanderten Individuum und der Auf- wandte, und Ähnliches gilt für die kinderlose Witwe und nahmegesellschaft, Brückenköpfe vertrauter Heimat in den lebenslangen Single. Also bleiben nur Freundschaft der Fremde, in denen der Schock der Migration gemildert und Nachbarschaft, beides Systeme, die über lange Zeitwird. Zuwanderer, die noch nicht vollständig in Markt und räume aufgebaut sein müssen, um sich als verlässliche sozialstaatliche Netze integriert sind, sind besonders auf Netze eines humanen Alters bewähren zu können. informelle Hilfsnetze angewiesen, und solche Netze bilZuwanderer sind einander wichtige Nachbarn. Typisch den sich in der Regel leichter unter Menschen mit ähnli- für alle Einwanderungsstädte ist deshalb ein Mosaik chen Orientierungen. Der Zugewanderte findet hier erste „urbaner Dörfer“, in denen Einwanderer Übergangsräume Informationen über die noch fremde Umgebung, materi- zwischen Heimat und fremder Gesellschaft finden könelle Hilfen, Schutz vor Isolation oder auch nur Menschen, nen. Der demografische Wandel kann dazu beitragen, mit denen er sich verständigen kann, weil sie dieselbe dass Menschen wieder mehr und schon sehr früh in das Sprache sprechen. soziale Kapital einer funktionierenden Nachbarschaft Auch die Alterung der Bevölkerung wird die Bedeu- investieren, ähnlich wie das in den Projekten gemeinsatung von Nachbarschaften stärken. Je älter man wird, men Wohnens junger Familien der Fall ist. Nachbarschaft desto mehr ist man auf Hilfe angewiesen. Viele Hilfen las- verschwindet keineswegs, aber sie nimmt neue Formen sen sich professionell organisieren, nicht aber das, was an. Früher war Nachbarschaft Schicksal, heute ist sie alte Menschen am dringendsten benötigen: Achtung wählbar, früher war Nachbarschaft eine räumliche Tatsader Person, Vertrauen und Liebe. Das sind Qualitäten che, die sich sozial organisiert, heute ist sie eine soziale menschlicher Beziehungen, die gebunden bleiben an die Tatsache, die sich räumlich organisiert. informellen Netze der Verwandtschaft, der Freundschaft Prof. Dr. Walter Siebel wurde geboren 1938 und ist seit 1975 Universitätsprofessor für Soziologie mit Schwerpunkt Stadt- und Regionalforschung an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Seit 1978 leitet er dort die Arbeitsgruppe Stadtforschung. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Regionalund Stadtforschung, der Wohnsoziologie, den Zusammenhängen von sozialem und räumlichem Wandel sowie Integrationsfragen. Anzeigen NACH DEN TEXTSAMMLUNGEN VON MARC-UWE KLING BÜHNENFASSUNG UND REGIE HANS SCHERNTHANER BÜHNE SONJA ZANDER KOSTÜME ANNE SPITZER MIT KATRIN GERKEN ■ JOHANNES MERZ ■ STEPHAN MÖLLER-TITEL ■ ROBERT ZIMMERMANN u.a. Marc-Uwe Kling, Kleinkünstler, der nicht Kleinkünstler genannt werden möchte, lebt mit einem kommunistischen Känguru zusammen, das auf Nirvana und Schnapspralinen steht. Das ungewöhnliche Duo nimmt uns mit in seinen Alltag – mal bissig, mal verschroben, dann wieder liebevoll ironisch und stets völlig absurd. PREMIERE 17. APRIL 2016 VORSTELLUNGEN BIS 19. JUNI 2016 TICKETS 040. 39 90 58 70 ■ WWW.ALTONAER-THEATER.DE 32 Profil Text: Maike Dugaro Fotografie: Marcelo Hernandez „Kampnagel ist ein Dorf“ Seit 2007 wohnt Intendantin Amelie Deuflhard mehr auf Kampnagel als in ihrer Wohnung und wundert sich trotzdem manchmal, wie viel ihre Nachbarn über sie wissen. Amelie Deuflhard ist eine Theaterproduzentin und Intendantin. Sie ist 1959 in Stuttgart geboren und hat Romanistik, Geschichte sowie Kulturwissenschaften in Frankfurt, Tübingen und Montpellier studiert. Von 2000 bis 2007 war sie die künstlerische Leiterin und Geschäftsführerin der Sophiensæle in Berlin. Seit 2007 ist sie die Intendantin von Kampnagel. Sie unterrichtet auch an verschiedenen deutschen sowie europäischen Hochschulen, u. a. an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg, der Kunstuniversität Graz und der Zeppelin Universität in Friedrichshafen. Benefizkonzert von „Bildung für Alle! e.V.“ (www.bildung-fuer-alle. eu), dem Förderverein der Hamburger Volks hochschule, am 6. April 2016 auf Kampnagel: „VHS klingt wunderbar!“ Beginn: 20.00 Uhr, 15,00 €/erm. 10,00 €, Karten unter Telefon 040.270949-49 oder www.kampnagel.de ACHT: Frau Deuflhard, wenn ich Ihre Nachbarin wäre, was wüsste ich über Sie? Amelie Deuflhard: Meine Nachbarn zu Hause wissen relativ wenig über mich. Sie kennen mich aus der Zeitung. Aber zu Hause erleben sie mich nie. Früher, in Berlin, konnte man anhand des Schuhhaufens vor der Tür darauf schließen, wie viele Kinder ich habe. Heute – mit den Kindern aus dem Haus – nehme ich meine Schuhe rein. Ich habe allerdings noch ein Haus auf dem Land in Brandenburg. Da wissen meine Nachbarn so einiges über mich. Zum Beispiel, dass ich von 2003 bis 2005 den dekonstruierten Palast der Republik bespielt habe – das weiß man sogar auf dem Dorf. Gibt es Stadt-Land-Unterschiede? Ja. Auf dem Land wissen immer alle, was man macht, ohne dass ich weiß, woher. So dörflich ist in Hamburg nur Kampnagel. Wenn ich hier aus meinem Büro im dritten Stock herunterlaufe mit einem Koffer in der Hand, wissen die Techniker unten längst, wo ich hinfahre. Was bedeutet denn Nachbarschaft für Sie? Im besten Fall sind Nachbarschaften Solidargemeinschaften. Das ist natürlich in der Stadt manchmal etwas schwierig, aber es gibt doch viele Häuser, in denen das sehr gut funktioniert. Sie haben in Stuttgart, Berlin und Hamburg gelebt. Wie unterschiedlich haben Sie Nachbarschaft erlebt? Hamburg ist die einzige Stadt, in der ich Klebezettel mit wüsten Beschimpfungen von Nachbarn an meiner falsch geparkten Vespa finde. Aus Stuttgart dagegen ist mir die Kehrwoche noch gut in Erinnerung. Erfreulicherweise hat einer meiner Mitbewohner das sehr ernst genommen und immer erledigt. Und unsere sehr alte Hausbesitzerin hat uns jede laute Party nachgesehen. Sie war sehr schwerhörig. Hatten Sie einen Lieblingsnachbarn? Ein Lieblingsnachbar war sicher der Junge, mit dem ich als Jugendliche mal zusammen war. Und eine Familie mit jüngeren Kindern mochte ich auch sehr gerne. Denen habe ich nämlich oft Nachhilfe gegeben und gutes Geld damit verdient. Und bei denen konnte man entgegen den schwäbischen Sitten auch immer etwas ausleihen, wenn einem mal etwas gefehlt hat. Das mag ich überhaupt sehr bei Nachbarn, wenn man sich da einfach etwas leihen kann. Wie wäre Ihr idealer Nachbar? Der ist tolerant, freundlich. Man kann mal ein Glas Wein zusammen trinken. Man kann rübergehen, ohne dass man eingeladen wird. Man unterhält sich, egal ob am Zaun oder im Treppenhaus. Auf Kampnagel sind Sie selbst eine ideale Nachbarin. 2014 nahmen Sie kurzerhand sechs Flüchtlinge auf in der ecoFAVELA Lampedusa-Nord. Wie kam es dazu? Im Sommer 2014 kamen Hamburger Künstler und Aktivisten auf mich zu, die sich für die LampedusaFlüchtlinge eingesetzt haben, und baten mich um eine Halle als Massenschlaflager im Winter. Ich konnte mir das zwar vorstellen, fand es aber ein schlechtes Signal, dass man noch eine Massenunterkunft schafft. Mein Vorschlag war, lieber etwas zu bauen, das eine andere Art von Wohnen abbildet und symbolische Wirkung hat. Zusammen mit der Architektengruppe „Baltic Raw“ haben wir dann die „ecoFAVELA“ entwickelt. Was war Ihnen selbst das Wichtigste an diesem Projekt? Die Funktion von so einer Art sozialer Skulptur ist, dass man im Experimentellen etwas anders zeigen kann, das auch für die Realität übertragbar wäre. Es ging eben nicht nur um Unterbringung. Es ging um Austausch, ums Ankommen, ums Beschäftigen, ums Selber-KünstlerWerden. Daraus haben sich tolle Projekte entwickelt. Und keiner der Nachbarn rund um Kampnagel hat sich daran gestört. Alle wollten helfen. Warum war Kampnagel der ideale Raum dafür? Weil es ein offener, internationaler Raum ist. Einer unserer Bewohner hat mal zu mir gesagt: Das Tolle auf dem Gelände hier ist, dass niemand denkt, dass ich ein Flüchtling bin. Ich könnte genauso gut ein Künstler sein. Trotzdem haben Sie auch Gegenwind bekommen. Die AfD zeigte Sie an, die Staatsanwaltschaft ermittelte, und bald galten Sie als Mutter Courage von Kampnagel. Können Sie damit etwas anfangen? Natürlich nicht. Zum Glück haben wir aber so viel mehr Unterstützung bekommen als Gegenwind. Das war das richtige Projekt zur richtigen Zeit. Ist Widerstand eine Antriebsfeder für Sie? Ja. Widerstand spornt mich an und gibt mir Kraft. Wenn die Leute sich an einem Thema reiben, weiß ich, dass wir am richtigen Projekt arbeiten. Sie haben den Traum, irgendwann eine ganze Stadt als Theater zu bespielen, weil die Einwohner einer Stadt Ihre liebsten Darsteller sind. Wie genau stellen Sie sich das vor? Partiell machen wir das ja schon. Ich möchte nicht nur gerne an vielen Orten in der Stadt spielen, sondern damit auch eine Haltung zeigen. Ich will einen realen Dialog mit der Stadt, ihren Problemen und den Menschen, die dort leben. Und da nur ein kleiner Teil der Bevölkerung an Kunstorte geht, will ich mit der Kunst an ungewöhnlichen Orten noch mal andere Menschen erreichen. Was wäre Ihrer Meinung nach heute das Wichtigste im Umgang mit unseren neuen Nachbarn aus Syrien, Afghanistan oder dem Irak? Dass wir sprechen und zuhören. Dass wir verstehen, dass wir auch immer etwas von ihnen lernen können. Profil 33 Intendatin Amelie Deuflhard: „Kampnagel ist ein offener, internationaler Raum.“ 34 Nerd Christian Biedermann, Retro—Nerd Dank Christian Biedermann hat der Kiosk im Naturbad Kiwittsmoor die stärksten Pommes — wie der Flyer rechts beweist. Frische Infos aus Ihrer Volkshochschule bietet der VHS-Newsletter: www.vhs-hamburg.de/ newsletter Besuchen Sie uns auch auf Facebook: www.facebook.com/ vhsHamburg 1 Nach 20-minütigem Anstehen am Freibadkiosk konnte ich mir als Kind mit 40 Pfennig ein Süßigkeiten-Vermögen kaufen. Küfa KolaRundlutscher, Esspapier, Leckmuschel und manchmal Frigeo Knusperpuffreis … Solche Retro-Produkte kann man heute bei Ihnen am Kiosk im Naturbad Kiwittsmoor auch kaufen, warum? Es gibt einfach Produkte, die für mich ins Freibad gehören. Und das, woran wir uns früher erfreut haben, sollte man den Kindern heute nicht vorenthalten. 2 Was erzählen Sie den jungen Käufern – warum ist Caramac besser als Twix, Mars und Milky Way und woher beziehen Sie Ihre Ware? Das ist alles eine Soße, es macht dick und ist von Firmen, deren Politik ich nicht gutheiße. In einem Kiosk kommt man um deren Produkte allerdings nicht herum. In manchen Fällen fühle ich mich wie der Handlanger von Unilever & Co. Man kann aber im Kleinen Alternativen schaffen und diese entsprechend vertreten. 3 Wollen Sie damit das „Heile-Welt-Gefühl“ der „alten Bundesrepublik“ transportieren? Ach ja, die gute alte Zeit ... Ich sehe ein volles Freibad, Familien mit Sonnenschirmen und Kühltaschen, die sich mit Sonnenmilch eincremen. Sowie dicke Männer mit Schnurrbart, die im Klappstuhl sitzen und Dosenbier trinken. Ich wüsste nicht, warum die Welt damals besser gewesen sein soll. Die Frage ist doch immer, was man draus macht. Einen Grund, festzustellen, dass die Welt schlecht ist, findet sich immer. Und mag die Welt auch schlecht sein, seine eigene Welt sollte man sich schön machen. 4 Würden Sie einem dicken Kind sagen, dass ein Riegel Caramac 170 kcal hat? In die Verlegenheit würde ich nicht kommen, da mir das besagte Produkt dahinschmelzen würde, bevor es verkauft werden kann. Aber es ist schon so, dass man bei übergewichtigen Stammgästen hier und da Aufklärungsarbeit leisten kann. Es ist halt immer eine Frage des Maßes. Wenn sich „Dickie“ zum dritten Mal Pommes mit extra Mayo holt, grenzt das irgendwo an Körperverletzung, wenn man nicht auf Alternativen hinweist. Es gibt Kinder, die wissen gar nicht, was gesunde Ernährung ist, da zu Hause nicht mehr gekocht wird. 5 Ist da also bei Kindern noch was zu machen? Bei Kindern ist in vielerlei Hinsicht eine ganze Menge zu machen. Einstellung und Verhaltensweisen sind noch nicht so manifestiert wie bei Erwachsenen. Man könnte auch sagen, sie sind noch nicht so verdorben. 6 Wie reagieren die jungen und älteren Freibadbesucher auf Ihr Outfit und Ihr Kiosk-Konzept? Letztendlich versuche ich mit dem Kiosk und dem Drumherum das Ganze ein bisschen bunter, schöner zu machen. Kinder finden alles Bunte toll, viele Erwachsene auch. Sicher gibt es auch Besucher, die sich fragen, was das soll. Was meine Erscheinung betrifft, das würde ich nicht überbewerten. Ich bin sicher, der ein oder andere erwartet ein anderes Wesen hinter dem Schnurrbart. Es ist schön, Leute überraschen zu können. Kinder interessiert das kaum. Die denken nicht in Schubladen und haben ganz andere Sachen im Kopf, zum Beispiel Pommes. 7 Was bedeuten Ihnen Ihr Look und Ihr Job? Die Freiheit, nicht der Norm entsprechen zu müssen. Außerdem ist es so, dass ich in meinen Beschäftigungen einen Sinn sehen muss. Und natürlich muss man an etwas glauben. 8 Freibad und Pommes gehören irgendwie zusammen. Was machen gute Pommes aus? Es ist wie mit allen Dingen. Wenn man seine Sache mit Liebe macht, wird’s schön und die Pommes gut. Alle mögen es schön – und gute Pommes! Fragen: Kerstin Estherr A C H T U N G ! Die nächste Ausgabe von Acht erscheint Ende Juni 2016 Fotos: Christian Biedermann Christian Biedermann 1976 in Hamburg gebo ren,veranstaltet er rund um den Kiez Partys oder Afterhours, arbeitet einmal im Monat auf einer Erwachsenenparty als Cocktailmixer und hatte zwei harte Jahre als Geschäftsführer und Partner mit einer Bar auf St.Pauli. Im Sommer verkauft er im Naturbad Kiwittsmoor Retro-Süßig keiten und die besten Pommes, im Umkreis von 500 Metern. In den Wintermonaten kocht er an der HFBK den Kaffee und trägt dazu bei, dass das Hamburger Nachtleben hier und da, ein bisschen bunter erscheint. Kontakt: Anzutreffen im Salon Rasputin, bei Frl. Wunderlich oder unter PommesPerle.de 9. APRIL ’16 18 BIS 2 UHR www.langenachtdermuseen-hamburg.de MUSEEN SIND UNSERE SPEZIALITÄT! Entdecken Sie alle Angebote der Hamburger Museen für Erwachsenen- und Jugendgruppen, Schulklassen und Kitas sowie Museumsgeburtstage und Ferienprogramme! Persönliche Beratung und Buchung: Tel. 040 428 131 0 info@museumsdienst-hamburg.de www.museumsdienst-hamburg.de Geburtstag feiern in Hamburgs Museen MUSEUMS� GEBURTSTAGE Jetzt druckfrisch beim Museumsdienst bestellen oder online als PDF herunterladen! DEICHTORHALLEN INTERNATIONALE KUNST HAMBURG UND FOTOGRAFIE TALENTSCHUPPEN DIE DEICHTORHALLEN HAMBURG BIETEN: FOTOGRAFIE-WORKSHOPS, VORTRÄGE UND FÜHRUNGEN FÜR ERWACHSENE KLUB DER KÜNSTE EIN SPRUNGBRETT IN KREATIVE BERUFE FÜR 16–23-JÄHRIGE KUNSTLABOR ZU DEN AKTUELLEN AUSSTELLUNGEN FÜR 12–18-JÄHRIGE ERHALTEN SIE UNTER: FERIENKURSE FÜR 8–18-JÄHRIGE WEITERE INFORMATIONEN TELEFON 040/32103-140, -142 KUNSTVERMITTLUNG@DEICHTORHALLEN.DE FÜHRUNGEN FÜR JUGENDLICHE WWW.DEICHTORHALLEN.DE/KULTURELLEBILDUNG PARTNER DER DEICHTORHALLEN FOTO: HENNING ROGGE KULTURPARTNER