botschaften aus saudi-arabien Wie gefährlich ist diese kunst?
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botschaften aus saudi-arabien Wie gefährlich ist diese kunst?
jäger und gejagte was kann afghanistans armee? Januar / februar 2013 Waffen, Fussball & Milliarden Katar und die Franzosen persische DÜnenrodler Abenteuer in der wüste www.zenithonline.de botschaften aus saudi-arabien wie gefährlich ist diese kunst? DEUTSCHLAND EURO 8,20 | ÖSTERREICH EURO 8,90 | BENELUX EURO 8,90 | SCHWEIZ SFR 13,50 Vorschau PDF 07 Die neue zenith Ab ISSN 1439 9660 januar INHALT JANUAR/ FEBRUAR 2013 Titel: Maha Malluh/Edge of Arabia Foto links: Christelle Alix/Présidence de la République Foto links unten: Edge of Arabia Foto rechts: Daniel Pilar Foto rechts unten: Claudio Sica RUBRIKEN 03 06 12 52 54 80 92 95 102 111 112 114 Hand in Hand? Katar und Frankreich, das war einmal die ganz große Liebe. Nun sitzt ein Sozialist im Präsidentenpalast, der Wasser statt Wein predigt. Ob er wenigstens mal anrufen wird? 70 POLITIK 16 Die Fremden Afghanistans Armee kämpft bislang vor allem mit internen Schwierigkeiten 32 Wem gehört Kuwait? Briefing: Die Konflikte zwischen Regierung und Parlament lähmen das Land 36 Eine rätselhafte Bestie Ein ungeklärter Kriminalfall in Tunesien wirft Schatten auf die neue Regierung 40 Kairo, im Schwarm geplant Sollte die ägyptische Megastadt sich selbst überlassen werden? 46 »Stadtplanung wird zur urbanen Akupunktur« Der britische Städteforscher Charles Landry über Kreativität und Chaos 48 Arabischer Frühling, das Original Vor 25 Jahren begann die erste Intifada der Palästinenser Editorial Unser Bild vom Orient Profile Netzgeflüster Bilanz Der Sekretär Basar Neue Bücher Neue Musik Der kleine Arabist Momentaufnahme Kalender / Ausblick / Impressum 82 Provokant! Die saudi-arabische Künstlergruppe Edge of Arabia spart in ihren Ausstellungen nicht mit wohldosierter Kritik an den Zuständen im Königreich. KULTUR 82 Abdullah, wir müssen reden Gesellschaftskritische Kunst feiert in Saudi-Arabien große Erfolge 94 Der Hüter des Glücks Eine Begegnung mit dem israelischen Schriftsteller Jehoschua Kenaz 96 Bevor die Mullahs kamen Eine neue Anthologie zeigt die Faszination der Deutschen für Persien 96 Zionismus geht nur mit Zion Der israelische Historiker Shlomo Sand hat neue Mythen ausgemacht 98 Zaungäste der Geschichte Beim internationalen Filmfest in Bagdad zeigen sich Glanz und Elend des Iraks 104 Im Sandkasten eines kindlichen Gottes Eine Reise durch die Wüste Lut im Südosten Irans 110 Himmlisches Geflügel Was genau gibt es im islamischen Paradies eigentlich zu essen? Zukunftsmodell? Wenn die Kampftruppen der ISAF abgezogen sind, soll Afghanistans Militär das Land vor den Taliban schützen. Ist die Truppe für diese Aufgabe gerüstet? 16 WIRTSCHAFT 56 Langsam wächst die Wüstenrose Katar lässt sich mit dem Bau seines Nationalmuseums Zeit 60 Die Grünstaatenlösung Der palästinensische Unternehmer Khaled al-Sabawi setzt auf Erdwärme 62 Hochdruck im Treibhaus Katars Baubranche wird zum Vorreiter bei Nachhaltigkeit und Umweltschutz 66 Die besten Freunde des Tigers Myanmar setzt auf Gasexporte, um die politische Öffnung zu bezahlen 68 Das libysche Debakel Berlin und Tripolis streiten sich um unbezahlte Krankenhausrechnungen 70 Die Maitresse des Emirs Leiden Katars Beziehungen zu Frankreich unter dem Wechsel im Elysee? 76 Schatz der Gläubigen Islamische Stiftungen werden zu attraktiven Business Cases 98 Kamera läuft! Im Irak gibt es nach Jahren des Krieges praktisch keine Filmindustrie mehr. Dennoch will eine neue Generation von Filmemachern sich der Welt mit ihren Ideen präsentieren. 6 UNSER BILD VOM ORIENT · ZENITH 06/2012 UNSER BILD VOM ORIENT DIE ZAHL 502 Stimmen Mit diesem Ergebnis gewann der kuwaitische Politiker Nasser Abdullah AlShammari im fünften Stimmbezirk einen Sitz in der Nationalversammlung. Die Wahlen am 2. Dezember waren notwendig geworden, nachdem der Emir das vorhergehende Parlament aufgelöst hatte. Aufgrund des neuen Wahlsystems – jeder Wähler hat nur noch eine Stim- me statt wie früher vier – sowie des Boykotts der Opposition verhalfen mitunter bereits sehr geringe Stimmzahlen zum Einzug in die Volksvertretung. 17 der 50 Sitze gingen an schiitische Kandidaten, die Wahlbeteiligung lag nach offiziellen Angaben bei 38,5 Prozent, laut Opposition bei 27 Prozent. Mehr zur kuwaitischen Innenpolitik auf Seite 32. 2 1 SUDAN 2 TÜRKEI VOR ANKER IM VISIER Seine militärischen Kontakte zu Iran werden für den Sudan zu einer Belastung. Zum zweiten Mal binnen weniger Wochen gingen Anfang Dezember zwei iranische Kriegsschiffe in Port Sudan vor Anker. Israel glaubt, dass auf diesem Wege Raketen in den Gaza-Streifen gelangen. Aber auch die arabischen Golfstaaten, die zu den wichtigsten Investoren im Sudan gehören, sehen dessen enge Beziehungen zum Rivalen Iran mit Besorgnis. Nicht zuletzt ist der Kurs innerhalb der sudanesischen Regierung selbst umstritten: Hardliner erhoffen sich Waffen von Iran, während Moderate die Isolation des armen Landes durchbrechen wollen. Die Verhaftungswelle gegen kurdische Aktivisten und Sympathisanten in der Türkei hält an. Auch im Dezember wurden wieder Dutzende Politiker und Oppositionelle im Südosten des Landes festgenommen; viele gehören der prokurdischen »Partei des Friedens und der Demokratie« (BDP) an. Seit 2009 gab es in der Türkei mehrere Tausend Festnahmen, in der Regel verbunden mit dem Vorwurf, die verbotene »Kurdische Arbeiterpartei« (PKK) zu unterstützen. Auch zehn kurdische Parlamentsabgeordnete in Ankara befinden sich im Visier der Sicherheitsbehörden: Derzeit läuft ein Verfahren, ihre Immunität aufzuheben. 4 3 1 ZENITH 06/2012 · UNSER BILD VOM ORIENT DER SATZ AM RANDE DES ORIENTS »Ich wurde gefragt, welche Erwartungen ich an die ›Freiheitsund Gerechtigkeitspartei‹ richte. Ich antwortete: lediglich zwei Dinge – Freiheit und Gerechtigkeit.« Der neue koptische Papst Tawadros II. Mitte November in einem Interview über sein erstes Treffen mit Repräsentanten der von der ägyptischen Muslimbruderschaft gegründeten Partei. 3 VEREINIGTE ARABISCHE EMIRATE HINTER GITTERN Die Vereinigten Arabischen Emirate gehen weiter gegen Oppositionelle vor. Anfang Dezember wurde laut einem NGO-Bericht im Emirat Sharjah ein 18-jähriger Blogger festgenommen. Mohammed Salem al-Zumer soll in Haft sitzende Online-Aktivisten in Kommentaren unterstützt haben. Erst im November hatten die Emirate die Nutzung des Internets strenger geregelt; Regimekritik ist nun ebenso verboten wie der Aufruf zu öffentlichem Protest. Auch auf der Konferenz der Internationale Fernmeldeunion (ITU) in Dubai im Dezember versuchten die VAE und andere autoritäre Staaten mehr Kontrolle über das Internet zu erlangen. 7 4 LERNEN VON ... DOKTOR ZAIUS Dass die Welt eine »Spaghetti-ähnliche Struktur« aufweise, war nur eine der Weisheiten, die alle Leser staunend vernahmen, als das Time Magazine Ende November sein Interview mit Mohammed Morsi druckte. Ägyptens oberste Nudel zeigte sich auch versiert in amerikanischer Filmkultur: »Vom Winde verweht« habe eine sozialkritische Stoßrichtung, erläuterte er etwa. Noch mehr angetan hatte es ihm der Sci-Fi-Klassiker »Planet der Affen« – die alte Verfilmung natürlich, nicht die neue, die »nicht so gut« sei. Warum? Niemand habe so gut wie Doktor Zaius, Oberster Glaubenshüter der Affenwelt, auf den Punkt gebracht, dass die Menschheit sich ihren Untergang selbst zuzuschreiben hatte. Von dem Orang-Utan könne man lernen, befand Morsi. Fazit: Mehr Spaghettiwestern wagen. OASE DES SCHRECKENS In der Schlacht um Aleppo gab es einen Ort, an dem Hoffnung und Wahnsinn zusammenfielen wie nirgends sonst. Einen Ort, der den Glauben an Götter in Weiß und an die schwindenden Ideale der syrischen Revolution aufrecht erhielt und zugleich den Tod in dieser Jahrtausende alten Stadt anzog. Das Krankenhaus war das letzte verbliebene Feldhospital auf Rebellenseite. Alle Verletzten, alle Sterbenden der Bombardierungen und des Häuserkampfs kamen hierher – jeden Tag mehr als 100 Menschen, zu 80 Prozent Zivilisten. Seit Monaten waren es dort drei Ärzte und einige Pfleger, die deren Körper im Minutentakt zusammenflickten, Schmerzen wegspritzten und sie wieder in die zerschossenen Häuser zurückschickten. Journalisten besuchten das Krankenhaus, einige der eindrücklichsten und grauenvollsten Bilder des Krieges stammen von hier. Das Ärzteteam um den Leiter der Klinik Dr. Osman zählte zu den letzten Helden dieses Bürgerkrieges. Am 21. November traf eine Fliegerbombe das Krankenhaus. In den Trümmern starben nach Angaben des amerikanischen Journalisten Robert King, der den Einschlag selbst miterlebte, mehr als 40 Menschen, unter ihnen auch zwei Pfleger. Ein Seitenflügel, der Büros und das Kühlhaus umfasste, stürzte völlig ein, vom Hauptgebäude steht kaum mehr als die Fassade. Vor den Treppenstufen des Eingangs, wo Mitarbeiter in den Stunden zuvor noch aufgebrachte Angehörige beruhigt oder erschöpft eine Zigarette geraucht hatten, liegen nun Schuttberge. Wo ich kaum einen Monat zuvor mit einem Kollegen übernachtet hatte, klafft nun ein riesiges Loch. Seit Wochen hatte die syrische Armee versucht, die Klinik zu treffen. In der ganzen Umgebung wurden Häuser eingeebnet. »Was sollen wir machen? Weglaufen können wir nicht – die Menschen hier zählen auf uns«, berichtete in einem ruhigen nächtlichen Moment der junge Apotheker, der freiwillig in der Klinik arbeitete. Nach Ende des Krieges werde man in ganz Syrien Geschichten über diesen Ort erzählen, war er sich sicher. Während wir sprachen, rannten Ärzte und Pfleger barfuß und laut rufend über den aufgerissenen Asphalt vor der Klinik. In den Nachtstunden war ein Fußballspiel das beste Mittel, um das Sterben für einen Moment zu vergessen. Dieses Refugium hat Aleppo nun verloren. Nils Metzger ZENITH 06/2012 · PROFILE DER MASTERPLAN KHALED MESCHAL zieht als Chef des Politbüros der Hamas seit Jahren die Fäden im Nahostkonflikt. Nun hat der »militante Pragmatiker« sich ein ambitioniertes Ziel gesteckt: die Nachfolge von Mahmud Abbas Es war ein triumphaler Einzug, den Khaled Meschal Anfang Dezember zelebrierte. Passend zum 25-jährigen Jubiläum ihrer Organisation feierte die Hamas in Gaza das abermalige Standhalten gegen Israel in der kurzen Wiederauflage des Gaza-Krieges. Der Besuch diente den Islamisten aber noch zu einem weiteren Zweck: der inoffiziellen Inthronisierung ihres ersten Präsidentschaftskandidaten. Lange Zeit zog Meschal, seit 1996 Chef des Politbüros der Hamas, von Damaskus aus die Fäden im Nahostkonflikt. Aufgrund der stetigen Gefahr eines Attentats durch den Mossad – 1997 war ein Giftspritzenanschlag auf ihn spektakulär gescheitert –, konnte er jedoch palästinensischen Boden bislang nicht betreten. Auch deswegen war sein Auftritt in Gaza eine Sensation: Israel schickte weder Raketen noch Agenten – und wertete Meschal damit unwillentlich auf. Der EINE BALLADE ZUM ABSCHIED TZIPI LIVNI hat sich mit Pauken und Trompeten im Jerusalemer Polit-Betrieb zurückgemeldet. Mit einer eigenen Partei will sie bei den anstehenden Wahlen hoch hinaus – doch die Zeichen stehen nicht gut Es musste ganz schnell gehen. Deshalb zog Tzipora Malka Livni, besser bekannt als Tzipi Livni, das Logo ihrer alten Partei »Kadima« aus der Schublade, schrieb pragmatisch-praktisch »Ha-Tnuah – Die Bewegung« darauf und trat damit Ende November vor die Presse. 13 hatte im November erstmalig verkündet, einen »palästinensischen Staat in den Grenzen von 1967« anzuerkennen. Von Israel sprach er nicht. Und doch wird das Thema den 1956 geborenen Physiker interessieren, denn obwohl er seine politische Zukunft während seiner Rede in Gaza offen ließ, positionierte Meschal sich mit den Äußerungen als künftiger Verhandlungsführer. Schon der Gazakrieg im November hatte sein Dogma des »militanten Pragmatismus« bestätigt: Ergebnisse statt Frieden. Seit zwei Jahren liegen die von Fatah-Chef Mahmud Abbas propagierten Friedensverhandlungen auf Eis – der Hamas reichte ein einwöchiges Gefecht, damit UN-Generalsekretär Ban Ki-moon und US-Außenministerin Hillary Clinton sich zumindest indirekt mit ihr an einen Tisch setzten. Seither lädt die PLO den Rivalen regelmäßig zu Sitzungen, und nicht zufällig reiste Abbas mit einem entscheidenden Trumpf zur UN-Abstimmung – der Unterstützung durch Khaled Meschal. Seit geraumer Zeit sucht der 77-jährige Abbas einen Nachfolger; in den eigenen Reihen drängt sich kaum jemand auf. Meschal brächte einen wichtigen Vorteil mit: Sein Umzug von Damaskus nach Katar Anfang 2012 hat ihn gestärkt. Nicht zufällig hatte einen Monat vor Meschal sein neuer Gastgeber, Katars Emir, seine Aufwartung in Gaza gemacht. Die Golfstaaten haben den Glauben an das fragile System von Oslo verloren; sie bauen lieber eine starke Hamas auf, finanziell unabhängig von Israel und vom Westen. Ganz nebenbei würde die Hamas aus Irans Einflusskreis gelöst – ein geringes Opfer für Meschal, für den die Allianz mit Teheran stets ein Zweckbündnis war. Meschals Präsidentschaftskandidatur fiele mit dem lange angekündigten Rückzug aus dem Politbüro zusammen. Das würde auch die latenten Spannungen zwischen ihm und dem zweiten starken Mann der Hamas, Gaza-Premier Ismail Haniyeh, reduzieren. Den könnte Meschal sich auch in der Doppelspitze in Ramallah vorstellen. Es wäre eine triumphale Rückkehr der 2007 von dort verjagten Hamas. Für Meschal wäre es ein pragmatischer Erfolg. Robert Chatterjee Mit alt-neuem Logo zieht sie nun gegen den Willen der übrigen Mitte-links-Parteien, die im gleichen Wählerbecken fischen, ins Rennen um die Wahl zur 19. Knesset am 22. Januar. Sie will den Scherbenhaufen, den Benjamin Netanyahu in ihren Augen hinterlassen hat, zusammenkehren. Und die eigene Karriere wieder ins Rollen bringen, die einst bei der Partei des Premiers – dem konservativen Likud – begann. Mit dessen Ideologie brach die verheiratete Mutter zweier Kinder, die in den vergangenen zwölf Jahren sechs Ministerien leitete, indes 2005 endgültig, als sie ihrem politischen Ziehvater Ariel Scharon aus dem Likud in die neugegründete, zentristische Kadima-Partei folgte. Dort wurde sie jedoch im März 2012 mit Schimpf und Schande aus dem Amt der Vorsitzenden gejagt. Seitdem tüftelte sie an ihrem Comeback. Mit im Gepäck in der neuen Partei hat die 54-Jährige eine beachtliche Anzahl politischer Alphatiere, unter anderem Amir Peretz und Aram Mitzna, zwei Urgesteine der Arbeiterpartei mit hohen Popularitätswerten. Dennoch hat Scharons »Mädchen« kaum Chancen auf Regierungsbeteiligung. Vielmehr scheint es, als erlebe man ein israelisches Remake der Goethe-Ballade vom Zauberlehrling. Was ihr »Meister« Ariel Scharon mit Kadima vollbracht hatte, wird Livni nicht gelingen. Sie wird den Geist, den sie mit der Neugründung gerufen hat, nicht mehr loswerden: eine weitere Zersplitterung der linken Parteienlandschaft. Die Konsequenz wird sein: das Aus im Spiel um die Macht. Dominik Peters 14 INTERVIEW · ZENITH 06/2012 »ICH HABE GEHOFFT, DASS ASSAD RECHT HAT« OMAR KHASHRAM KORRESPONDENT VON »AL-JAZEERA« IN NORDSYRIEN, ÜBER SEINE VERWUNDUNG UND DIE VORWÜRFE GEGEN DEN SENDER INTERVIEW: DANIEL GERLACH Omar Khashram leitet das Büro von Al-Jazeera in Ankara und berichtete für den Sender aus Nordsyrien. zenith traf ihn im Berliner Humboldt-Klinikum, wo er sich nach seiner Verletzung behandeln ließ. und für spektakuläre Videos sogar viel Geld bezahlen? Wir übernehmen wie andere Medien auch Augenzeugenvideos. Aber wir bezahlen nicht dafür. Mir wurde eine Menge angeboten, for free. Hin und wieder habe ich in der Zentrale angefragt, ob wir Aktivisten Honorare zahlen dürfen. Und bekam immer die Antwort: Lass das bleiben. »ICH GLAUBE NICHT, DASS DIE REBELLENARMEE SYSTEMATISCH MORDET UND FOLTERT« kopter-Angriffe. Baschars Offiziere waren sicher wütend auf mich: Sie konnten uns aus der Luft im Park beobachten und gleichzeitig im TV sehen. Ob der Treffer, der mich dann auf der Flucht durch die Straßen im Auto erwischte, mir persönlich galt, weiß ich nicht. Seitdem sieht es mit Vor-Ort-live-Schalten eher schlecht aus für Al-Jazeera. Stimmt es, dass Sie, wie Ihre Kritiker behaupten, oft ohne Prüfung das Material von Aktivisten und Rebellen der Freien Syrischen Armee nehmen Ist Al-Jazeera ein politisches Instrument der Regierung Katars im Syrienkonflikt? Ich habe den Sender nie als Instrument empfunden. Die Redaktion in Doha hat mir nie in meinen Kommentartexten herumgepfuscht. Am Anfang berichteten wir über die Demos in Syrien mit geringem Interesse. Aber dann fing das Regime an, auf Demonstranten zu schießen. Ich kenne Aleppo sehr gut und hoffte zunächst sogar insgeheim: Vielleicht ist der Krieg nur ein Aufstand von ein paar Fanatikern. Dann sah ich selbst, was das Regime anrichtet. Sie zeigen viele Grausamkeiten der Armee, weniger die Grausamkeiten von Rebellen an ihren Gefangenen. Ich denke nicht, dass seitens der Freien Syrischen Armee systematisch gemordet und gefoltert wird. Ich habe viele gefangene Armeesoldaten in Rebellenhaft gesehen, denen es den Umständen entsprechend gut ging. Und da hatten Sie keine Kamera bei sich? Weil unsere Senderpolitik vorsieht, keine Bilder zu verpixeln. Entweder wir zeigen die Gesichter, oder wir verzichten auf das Footage. Bei Gefangenen ist das ein Problem. Mehrere Al-Jazeera-Korrespondenten, unter ihnen Aktham Suliman in Berlin, sind zurückgetreten. Ob das wirklich nichts mit der Senderpolitik zu Syrien zu tun hat? Ich glaube nicht, dass es beim Rücktritt Akthams, der übrigens mein Freund ist, um Syrien ging. Es gab andere Beispiele, etwa Ghassan ben Jeddou, der etwas zu weit ging mit seiner Begeisterung für die schiitische Hizbullah ... ... die mit Baschar al-Assad verbündet ist. Wie dem auch sei: Al-Jazeera ist weder antischiitsch *+$Ƴ*0%(3%0%/$ƎƳƳƳƳƳƳƳƳƳƳƳƳƳƳƳƳƳƳƳƳƳƳƳƳƳƳƳƳƳƳƳƳƳƳƳƳƳƳƳƳƳƳƳƳƳƳƳđ Foto: dge zenith: Herr Khashram, Sie erholen sich immer noch von Ihrer Verwundung: Ende Juli haben Sie in Aleppo Schrapnells in den Leib bekommen. Zur falschen Zeit am falschen Ort? Oder wollte die Armee Sie gezielt ausschalten? Omar Khashram: Wir machten damals für Al-Jazeera eine Live-Schalte aus einem Park nahe der Zitadelle und erlebten drei Heli- 18 POLITIK · AFGHANISTAN · MILITÄR Die Fremden ➢ 2014 wenn die internationalen Truppen abgezogen sind, soll Afghanistans Armee das Land vor den Taliban schützen. Kann das funktionieren? TEXT: JOCHEN STAHNKE · FOTOS: DANIEL PILAR 20 POLITIK · ISR AEL/PALÄSTINA · NAHOSTKONFLIKT Abdul Alim, 25, Usbeke 22 POLITIK · ISR AEL/PALÄSTINA · NAHOSTKONFLIKT Schafik, 25, Paschtune 24 POLITIK · AFGHANISTAN · MILITÄR Nacheinander treten die Männer in das Zelt des Kompaniechefs. Vor einer schwarzen Wolldecke werden sie fotografiert. Solange, bis der Bataillonskommandeur einen Gesandten schickt, die Ausländer endlich rauszuschmeißen. Der Kompaniechef, dem das Zelt gehört, hat nichts gegen Fotos. Aber was kann er schon ausrichten gegen den Bataillonskommandeur? Der Bataillonskommandeur ist Paschtune. Er verlässt sein Büro nur selten. Zu Kompaniechef Saed Zabur (abgebildet auf Seite 28) pflegt er kein herzliches Verhältnis. Der ist Tadschike. »Ich bin es leid«, sagt Zabur, »dass so etwas eine Bedeutung hat«. Und trotzdem. Ja. Es komme vor, dass eher Paschtunen bevorzugt und befördert werden. Fremde Soldaten kommen in Zaburs Zelt. Fremde Soldaten gehen wieder. Sie wollen gern fotografiert werden. Ihre Gesichter bleiben. Aber es bleiben Gesichter. Aus dem ganzen Land wurden sie für die nationale Armee rekrutiert, streng nach ethnischem Proporz: 40 Prozent seien Tadschiken, 40 Prozent Paschtunen, 12 Prozent Usbeken und der Rest Hazara und andere Minderheiten, heißt es. Nun sollen sie für Afghanistan kämpfen. Aber für welches Afghanistan? Alle sind einander fremd hier in Samangan, in der Gebirgslandschaft zwischen Mazar-i-Sharif und Kabul. Hier, im Norden des Landes, steht ein Lager der Afghanischen Armee, um die Verbindungsstraße abzusichern, die durch die dünn besiedelte Provinz verläuft. Samangan gilt als eine der ärmsten Regionen Afghanistans. Es gibt hier aber kaum Kämpfe mit Taliban, also auch kaum internationale Truppen und Entwicklungshelfer. Saed Zabur, der tadschikische Kompaniechef, kommt aus Kabul. Seine Familie war arm, der Vater Taxifahrer in der Hauptstadt. Zabur hatte gute Noten. Zwei Jahre lang arbeitete er als Mechaniker für japanische Minenräumer. Nach Vertragsende trat Zabur in die Armee ein. Dort durfte er die Kabuler Offiziersschule besuchen. Amerikanische Spezialkräfte entdeckten sein Talent. Des Nachts kämpfte Zabur mit ihnen, wie er gerne erzählt. Dann bekam er eine Kompanie unterstellt im neu gegründeten Verband in Samangan. Jetzt ist er 28 Jahre alt und gilt als Superstar des Bataillons. Reicht sein Talent, um die Dinge zum Besseren zu wenden in dem Land, in dem seit Jahrzehnten Krieg herrscht? Das sich im Kampf gegen die Taliban auf seine eigenen Soldaten verlassen muss, wenn die internationalen Truppen abgezogen sein werden? Die Truppe in Samangan darf bis heute kaum Einsätze durchführen. Der Grund dafür hängt mit den komplexen Machtstrukturen Afghanistans zusammen – und erzählt gleichzeitig viel über die Zustände in dem Land: Nach einem Dekret von Präsident Hamid Karzai unterstehen die Bataillone der Afghanischen Armee dem Gouverneur der jeweiligen Provinz. In Samangan gehört der Gouverneur der Usbekenpartei an. Als ebenso mächtig – wenn nicht mächtiger – gilt der Polizeichef der Provinz. Wenn nun der von Karzai eingesetzte paschtunische Bataillonskommandeur eine Operation plant, können der Gouverneur oder der Polizeichef ihr Veto einlegen. Was sie offenbar häufig auch tun. Denn die großen Regionalpolitiker Nordafghanistans hegen eigene Ambitionen. Für die sogenannte Sicherheit auch in Samangan sorgen daher weniger Saed Zabur und seine Soldaten als vielmehr lokale Milizen unter dem Einfluss ehemaliger Bürgerkriegskämpfer. Noch haben diese Milizen ihre Waffen nicht gegen die regulären Soldaten erhoben. Die machen auf ihren Patrouillen vorsichtshalber aber auch einen Bogen um die umliegenden Dörfer. Zwei Jungs stehen auf einem Lehmhügel vor den ersten Häusern des nächsten Dorfes. Sie beobachten die marschierenden Soldaten. Die Fremden. Auf die Frage, wer in dem Lager da hinten vor den Bergen lebt, antworten sie: »Keine Ahnung. Amerikaner?« Die Amerikaner liefern Afghanistans Armee Uniformen, Waffen und Fahrzeuge. Sie übernehmen außerdem den Sold. In Samangan sind offiziell 999 Soldaten stationiert, auch wenn selten mehr als die Hälfte anwesend ist. Jeden Monat holen sie sich ihr Geld in der örtlichen Kabul-Bank-Filiale in der Kleinstadt Hazrat-e-Sultan ab. Manchmal werde er in er Stadt beschimpft, erzählt ein alter Paschtune, ein einfacher Soldat: »Sie sagen, ich bin Taliban, und soll verschwinden.« Es bleiben die einzigen Besuche außerhalb des eigenen Lagers. Leutnant Mahdi Sawary kommt aus der Provinz Parwan. Sawary gehört den Hazara an, der von den Taliban damals besonders massakrierten schiitischen Minderheit in Afghanistan. Nach der Schule ging Sawary nach Kasachstan. Er suchte Arbeit. Aber auch dort fand er keine. Also schrieb er sich im örtlichen Rekrutierungsbüro der Afghanischen Armee ein. 100 Dollar erhielt man damals allein für die Unterschrift, berichtet er. Damals nahmen sie fast jeden. »Es gibt kaum noch Arbeit anderswo als in der Armee oder der Polizei«, sagt Sawary. Die Mütter haben Angst um ihre jungen Söhne, die einen Beruf suchten und doch nichts anderes fanden als die Armee: »Sie hat sich darüber gefreut«, erzählt Sawary. »Und gleichzeitig geweint.« Als Zugführer bekommt er heute umgerechnet 375 Dollar jeden Monat. Mit dem Geld muss er seine Großfamilie versorgen. Seiner Mutter schickt er jeden Monat 225 Dollar nach Hause. Einer von Sawarys drei Brüdern wurde Ende der 1990er Jahre bei einem Raketenangriff der Taliban zum Krüppel geschossen. Ein anderer flüchtete über Iran bis nach Dänemark. 2011 wurde er von dort wieder abgeschoben. Er kehrte mit Depressionen zurück und verlässt seitdem nicht mehr das Haus, erzählt Sawary. Sein Onkel wurde 2006 ermordet. Er hatte während des Bürgerkrieges in den 1990er Jahren als ranghohes Mitglied der Hazara-Miliz Hizb-e Wadat gewirkt. Sawary erzählt, während der Ausbildung in Kabul sei er einmal von »Kameraden« verprügelt worden. Weil er Hazara sei. »Ich habe zurückgeschlagen, ins Gesicht«, sagt Sawary. Das brachte ihm ein paar Tage Militärgefängnis ein. Aber die Peiniger kamen nicht noch einmal. Heute hätten nur manche seiner Untergebenen Probleme, seine Autorität anzuerkennen, erzählt der Leutnant. Zwei Jahre läuft Sawarys Vertrag noch. Bis dahin wollen die internationalen Truppen weitgehend aus Afghanistan abgezogen sein. Eine der Isaf-Truppe nachfolgende Ausbildungs- und Unterstützungsmission könnte 10.000 amerikanische und auch 1.000 deutsche Soldaten am Hindukusch belassen. 2014 soll Afghanistan auch einen neuen Präsidenten wählen. Hamid Karzai darf nach zwei Amtszeiten nicht wieder antreten. Die dann stattfindende Wahl wollen die Nato-Staaten nicht mehr wie die letzte absichern. Dann liegt es auch an den jungen Kämpfern Afgha(#-.(-źLJ(LJ1&",LJ(# ),'ŻLJ/ LJ1&",LJ#.LJ/"LJ#'',źLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJƀ Jochen Stahnke ist Politikredakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. POLITIK · AFGHANISTAN · POLITIK Afghanistans neues Militär 25 Die »Afghanische Nationalarmee« (ANA) wurde im Dezember 2002 per Dekret von Präsident Hamid Karzai gegründet, nachdem sich ihre Vorläuferstreitmacht während der Herrschaft der Taliban aufgelöst hatte. War ursprünglich eine Kopfstärke von nur 70.000 Soldaten vorgesehen, erfordere die militärische Lage im Land laut Experten deutlich mehr. Die mittlerweile festgelegte – und erreichte – Truppenstärke der ANA liegt bei 195.000 Mann; sie zu halten, wird jedoch durch eine hohe Rate von unerlaubter Abwesenheit und Desertionen erschwert, die 2010 noch bei über 30 Prozent lag. Bezahlt wird die ANA überwiegend aus dem Budget des Pentagon, 2012 mit knapp 13 Milliarden US-Dollar; die Nato zahlt weitere 4 Milliarden US-Dollar. Ein neuer Rekrut erhält einen Sold von umgerechnet 260 US-Dollar im Monat. 28 POLITIK · ISR AEL/PALÄSTINA · NAHOSTKONFLIKT Saed, 28, Tadschike 46 POLITIK · ÄGYPTEN · STADTPLANUNG »Stadtplanung wird zur urbanen Akupunktur« Charles Landry glaubt, dass die Überlebensfähigkeit einer Stadt vom kreativen Potenzial ihrer Bewohner abhängt Nun gibt es Masterpläne, entstanden aus einer starren Bürokratie. Auf der anderen Seite zerfasern die Verantwortlichkeiten. Entstehen damit nicht auch Parallelwelten, die gar nicht zusammenpassen können? Absolut. Ich glaube aber, dass sie zusammenpassen könnten. Dazu braucht es eine Planungsbehörde eines gewissen Typs, mit einer ganz bestimmten geistigen Haltung. Was meinen Sie? Mir geht es darum, wie man plant. Wenn ich durch eine Megacity gehe, habe ich das Gefühl, dass man eigentlich nicht mehr planen kann, weil alles außer Kontrolle ist. Man kann aber über Symboliken arbeiten und hoffen, dass sich das Wesen der Symbole wie ein Virus ausbreitet. Für Kairo hieße das, zu hinterfragen, womit man den Bewohnern zeigen kann, dass man ihnen die Stadt zurückgeben möchte. Das heißt auch, dass Planung neue Aspekte beinhalten muss. Nämlich? Ikonisches Handeln zu verstehen und es auch zu kommunizieren. Sich zu überlegen, welche Nadelstiche man setzen muss und wie diese als Katalysatoren funktionieren könnten. Stadtplanung wird zur urbanen Akupunktur, zu einer ganzheitlichen Behandlung, in der Masterpläne eine generelle Richtung vorgeben. Die Behandlungsmethoden und die Medikamente müssen aber situationsbedingt verabreicht werden. Buches »The Creative City: A Toolkit for Urban Innovators«. Der Brite beschäftigt sich seit mehreren Jahrzehnten mit dem Einfluss von Kultur und Kreativität auf die Entwicklung von Städten. Wie viel Kreativität steckt im Chaos? Jede Stadt ist eine Art Labor, in dem Aufgaben und Probleme gelöst werden. Dabei knallt es in der einen ein wenig lauter als in der anderen. Immer finden aber Reaktionen statt, die von außen betrachtet als »innovativ« erscheinen. Die Zabbaleen, die »Müllmenschen« in Kairo zum Beispiel, die durch das Wiederverwerten von Abfällen ihren Lebensunterhalt sichern. Ist das kreativ? Viele Ideen, die ein Problem lösen, sind kreativ. Funktioniert diese »informelle Kreativität« wie die der Zabbaleen zusammen mit klassischer Stadtplanung? Eigentlich nicht. Die bestehenden Systeme sind dazu zu rigide, darum wird bei uns versucht, diese Rigidität ein wenig zu lockern. Wir schaffen Rahmenbedingungen, verfolgen ethische und moralische Prinzipien, gewähren innerhalb dieses Rahmens aber ein Höchstmaß an Freiraum. Was Kairo angeht, würde ich sagen, die Stadt bräuchte mehr vom Gegenteil: mehr Effizienz, Administration, Klarheit, strategische Planung. In den New Cities rund um Kairo dürfte man sich daher winzig fühlen. Ja, und wenn es dann noch zwei Stunden dauert, um den Arbeitsplatz zu erreichen, dann wird das allmählich zu einer gewissen Art von Hölle. Diese Neustädte sind eigentlich falschherum geplant, völlig losgelöst vom Kern und ohne dem öffentlichen Transport den nötigen Stellenwert zu geben. Man fühlt sich an diesen Orten daher nicht nur winzig, diesen Städten fehlt zudem jegliches Leben. Diese Orte haben keinen »Flow«, können sich nicht bewegen, man kann dort nicht handeln, nicht kommunizieren. Erst wenn das gewährleistet ist, kommt die Kreativität. Wie lässt sich dieser Zustand des »Flow« erreichen? Gute Städte scheinen wenige, aber klare Ziele zu verfolgen. Sie finden Antworten. Darauf, wie die Bewohner ein städtebauliches Projekt beurteilen. Welche kulturellen Eigenheiten berücksichtigt wurden. Und welche Werte in der Planung eines neuen Viertels verinnerlicht wurden. Eine Stadt ist auch auf Werten gebaut. Kann das noch von außen geplant werden? Das ist das Grundproblem: Die meisten Architekten und Planer denken, dass sie die Stadt verstehen, weil sie in der Lage sind, dreidimensionale Räume zu bearbeiten. Eine Stadt ist aber mehr als ein Raum. LJLJƀ Interview: Timour Chafik Foto: Comedia Charles Landry, 1948 geboren, ist Städteforscher und Autor des Ist in diesen Masterplänen ihrer Meinung nach genug Kreativität vorhanden? Nein. Die Welt wird in der Planung immer in einem technischen Sinne erklärt. Sie wird aber emotional verstanden und erfahren, mit den entsprechenden psychologischen Konsequenzen. Darum werden Mediation und Kommunikation auch die Schlüsselaufgaben der künftigen Stadtplanung sein. Das ist etwas anderes als Kartenzeichnen. Eine breite Straße, die man nicht überqueren kann, vermittelt das Gefühl des Verlorenseins. Man fühlt sich klein. 48 POLITIK · PALÄSTINA · INTIFADA Arabischer Frühling, das Original Vor 25 Jahren begann die erste Intifada, der Kampf der Palästinenser für Selbstbestimmung. Das Ergebnis war ernüchternd VON FABIAN KÖHLER A ls Flüchtling geboren. Unter Besatzung aufgewachsen. Durch eine israelische Gewehrkugel getötet. Die Geschichte von Hatem Mohammad Al Sesi klingt wie eine typische palästinensische Märtyrer-Story. Das ist sie auch. Am 9. Dezember 1987 demonstrierte der 17-Jährige im Gazastreifen gegenüber einem israelischen Armeeposten. Am 10. Dezember klebten Plakate mit seinem Foto auf Dutzenden Hausfassaden. 25 Jahre ist es her, dass Al Sesi zum ersten Toten der palästinensischen Intifada wurde. Mehr als 1.000 Menschen sollten ihm in den nächsten fünf Jahren folgen. Das Ziel der arabischen Revolutionäre, damals wie heute: ein Leben in politischer Selbstbestimmung, frei von der Gewalt und Erniedrigung eines despotischen Regimes. Doch schon damals erfüllte sich dies nicht. Die Revolution begann mit einem Autounfall Hatem Al Sesi stammte aus dem Flüchtlingslager Jabaliya, bereits zu jener Zeit einer der am dichtesten bevölkerten Orte der Welt. Gefüllt mit perspektivlosen jungen Menschen, wie gemacht für den Geburtsort des palästinensischen Frühlings. Knapp sechs Kilometer außerhalb des Lagers rammte am 8. Dezember 1987 ein israelischer Militär-LKW zwei palästinensische Taxis. Vier palästinensische Tagelöhner starben. So belanglos das Ereignis in einem Konflikt mit Zehntausenden Toten erscheint, so symptomatisch schien es vielen Palästinensern doch für den Besatzungsalltag: 20 Jahre lang, seit dem Sechstagekrieg 1967, hatte die israelische Besatzung das Leben der Palästinenser im Westjordanland und im Gazastreifen geprägt. Für Zehntausende Palästinenser war die Arbeit in der »Zivilverwaltung« – so der offizielle Euphemismus für die Besatzungsbehörden – oder bei Unternehmen in Israel die einzige Erwerbsmöglichkeit: ohne rechtliche und soziale Absicherung und für Löhne, die meist nicht einmal der Hälfte derjenigen israelischer Arbeiter entsprachen. Hinzu kam die Gewalt der Besatzung: Landenteignungen schafften schon damals Platz für neue israelische Siedlungen. Die Anzahl der Verhaftungen nahm Mitte der 1980er Jahre so stark zu, dass praktisch jede palästinensische Familie mindestens ein Mitglied hatte, das im Gefängnis saß. Immer öfter gingen Palästinenser deshalb auf die Straße. Doch immer wieder gelang es der israelischen Armee, die aufkeimenden Proteste in Tränengas zu ersticken. Der Verteidigungsminister und spätere »Mann des Friedens«, Yitzhak Rabin, galt damals noch als Mann »der eisernen Faust«. Die Beerdigung der vier palästinensischen Gastarbeiter trieb schnell Tausende Bewohner auf die Straße. Drei Jugendliche – unter ihnen Hatem Al Sesi – starben am ersten Tag des Aufstands. Daraufhin ergriffen Demonstrationen den gesamten Gazastreifen. Wenige Tage später flogen auch im Westjordanland Steine und Molotow-Cocktails auf Armee-Jeeps und Wachtürme. Die »Intifada – Abschüttelung« hatte begonnen. Überall gründeten sich lokale Komitees und übernahmen die Koordinierung der Proteste. Regelmäßig legten Palästinenser im ganzen Land die Arbeit nieder, verweigerten Steuerzahlungen und boykottierten israelische Waren. Gebrochene Knochen, ungebrochene Sympathie Israel reagierte mit aller Härte auf die Proteste und lieferte so ungewollt das Material, um das Schicksal der Palästinenser weltweit bekannt zu machen. In den Abendnachrichten liefen die verwackelten Videoaufnahmen eines BBC-Kameramanns: Zu sehen sind is- INTIFADA · PALÄSTINA · POLITIK Links: Ein Erinnerungsplakat für Hatem Al Sesi, den »ersten Märtyrer« der Intifada. Der offene Aufstand der Palästinenser war nicht zuletzt auch eine Propagandaschlacht, die in zahllosen Flugschriften und auf Postern geführt wurde. »Die Intifada geht weiter«, steht auf dem Plakat unten. Vor 25 Jahren machten Palästinenser mit ihrer Rebellion gegen die israelische Besatzung auf sich aufmerksam. Doch statt Demokratie bekamen sie neue Despoten. Nicht die einzige Parallele zwischen der Intifada und dem Arabischen Frühling. 49 50 POLITIK · PALÄSTINA · INTIFADA Steinewerfende Jugendliche waren nicht nur beliebte Motive in den westlichen Abendnachrichten, auch die Palästinenser selbst und ihre Sympathisanten machten sich die Symbolik des vermummten, unzulänglich bewaffneten Straßenkämpfers zu eigen. xxxxxxx »Der Staat liegt in Steinwurfweite – vorwärts, ihr Helden der Intifada«, heißt es auf dem Plakat rechts oben. PLO-Chef Yassir Arafat war von der Erhebung ebenso überrascht wie der Rest der Welt, setzte sich aber bald an die Spitze des Aufstandes. INTIFADA · PALÄSTINA · POLITIK raelische Soldaten, die mit Felsbrocken versuchen, zwei palästinensischen Gefangenen die Arme zu brechen. Zuvor hatte Rabin seine Armee angewiesen, den Demonstranten die »Knochen zu brechen«. Mit gebrochener Hand könne man »eineinhalb Monate lang keine Steine mehr werfen«, rechtfertigte ein israelischer Regierungssprecher die Anordnung. Fotos: The Palestine Poster Project Archives Flugblätter statt Facebook Das alttestamentarische Bild von »David gegen Goliath« diente Medien schon seit der Gründung Israels zur Illustration der Machtverhältnisse im Nahen Osten. Doch erstmals übernahm nun Israel die Rolle des übermächtigen Kolosses, der sich dem mutigen Steinewerfer gegenübersah. In westlichen Ländern wurden die schwarz-weiß karierte Kuffiya und palästinensische Nationalfarben zum Modetrend und die Intifada ein internationales Medienereignis. Wie 23 Jahre später die Revolutionäre in Ägypten und Tunesien bedienten sich die Palästinenser auch damals der Kommunikation über informelle Kanäle: Neben »Märtyrerplakaten« überschwemmten ständig neue Flugblätter die Straßen und versuchten den anfangs spontanen Protesten eine strategische Dynamik zu geben. Eine Woche nach dem Autounfall erschien das erste Flugblatt. Von der »glorreichen Intifada« war hier erstmals auf einem unscheinbaren Zettel der Muslimbruderschaft die Rede. Wenige Wochen später unterzeichnete diese Gruppe ihre Flugblätter mit einem bis dahin unbekannten Akronym: »h–m–s« – eine Ab- kürzung für »Bewegung des islamischen Widerstands« und zugleich das arabische Wort für »Eifer«. Unter dem Namen »Hamas« und unter der Führung des im Rollstuhl sitzenden Scheichs Ahmed Yassin, der Jahre später von einem israelischen Helikopter aus getötet wurde, drängte die bis dahin vor allem als Wohlfahrtsorganisation wahrgenommene und für ihre revolutionäre Apathie verspottete Muslimbruderschaft nun darauf, die Führerschaft im Widerstand zu übernehmen. »Den Traum von Frieden« erreiche man nicht durch »internationale Konferenzen mit dem zionistischen Gebilde«, schrieb sie auf einem ihrer Flugblätter. Damit griff die islamistische Organisation die Befürchtung vieler Palästinenser auf, die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) könne die Opfer der Aufständischen am Verhandlungstisch vergeblich machen. Fünf Jahre dauerte der Aufstand der Palästinenser, bis er schließlich infolge genau solch einer Konferenz für beendet erklärt wurde. Mehr als tausend Palästinenser starben, allein bis zu 30.000 Kinder, so die Kinderrechtsorganisation Save the Children, wurden verwundet. 120.000 Palästinenser verschwanden in israelischen Gefängnissen. Geheimverhandlungen zwischen Israel und der PLO führten schließlich zur Unterzeichnung der sogenannten »Prinzipienerklärung über die vorübergehende Selbstverwaltung« durch Yitzhak Rabin und PLO-Chef Yassir Arafat. Noch ein Despot mehr Als »Sieg der Intifada« feiert dieser am 1. Juli 1994 den Abzug der israelischen Armee aus dem und seinen Einzug in den Gazastreifen. Auch im Flüchtlingslager Jabaliya jubelten Palästinenser, als Arafat vom »ersten freien palästinensischen Boden« redete und das Versprechen eines Palästinas der »Demokratie, Freiheit und Gleichheit« abgab. In den Jahren darauf wurden wieder Tausende Palästinenser aus politischen Gründen inhaftiert. Doch dieses Mal verschwanden sie in den Zellen der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA), die im Zuge des Oslo-Prozesses gegründet worden war. Immer wieder sorgten Skandale um Folter und Korruption innerhalb der PA für Ernüchterung und erschütterten den Glauben der Palästinenser an ihre Führung. Bis heute regiert die Autonomiebehörde mit präsidentiellen Dekreten von Arafats Nachfolger Mahmud Abbas am palästinensischen Parlament, nicht aber an den Vorgaben der israelischen Militärverwaltung vorbei. Statt die israelische Besatzung »abzuschütteln«, bekamen die Palästinenser ein zweites despotisches Regime hinzu. 18 Jahre sollte es dauern – 18 Jahre, nachdem der Tod von Hatem Al Sesi den ersten Arabischen Frühling ausgelöst hatte –, bis die Bewohner des Flüchtlingslagers Jabaliya am 26. Januar 2006 die Möglichkeit zu demokratischen Wahlen erhielten. Für die meisten von ihnen verblieb damals wie heute nur ei(LJ1Y"&,LJ&.,(.#0żLJ#LJ-&'#-.(źLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJƀ 51 WIRTSCHAFT · BILANZ MIT DER GELIEBTEN DURCHGEBRANNT Der US-amerikanische Mineralölkonzern ExxonMobil kappt seine verbliebenen Bande mit Bagdad und kündigte an, seine milliardenschwere Beteiligung am irakischen Ölfest »West Qurna« nahe Basra verkaufen zu wollen. In Zukunft will sich das Unternehmen allein auf seine Konzessionen in der autonomen nordirakischen Provinz Kurdistan konzentrieren. Zwischen beiden Landesteilen waren in den vergangenen Monaten zahlreiche Konflikte um die Verteilung der Ölressourcen ausgebrochen, die trotz wiederholter Verhandlungen nicht beigelegt werden konnten. Kurdistans Ölminister Ashti Hawrami drückte gegenüber der Financial Times sein Bedauern darüber aus, dass Firmen gegenwärtig nicht im gesamten Land gleichzeitig Geschäfte machen könnten. Tatsächlich scheint in seiner Administration aber die Schadenfreude zu überwiegen. Noch im April sagte Kurdistans Präsident Massoud Barzani der Nachrichtenagentur AP, eine Exxon-Präsenz sei so viel wert wie »zehn US-Divisionen«. 21 MILLIARDEN $ NEUE SCHULDEN RETTUNGSSCHIRM FÜR JORDANIEN ? Mit Inflation und steigenden Treibstoffpreisen bei gleichzeitig sinkenden Steuereinnahmen haben viele der arabischen Staaten zu kämpfen. So dreht sich auch bei den aktuellen Beratungen für den jordanischen Staatshaushalt 2013 alles um die Frage, wo man den Rotstift ansetzt: Die Ankündigung, Benzinsubventionen im Wert von 1,1 Milliarden US-Dollar zu streichen, haben Ende November bereits zu wütenden Protesten in der Hauptstadt geführt. Ein im August vom Internationalen Währungsfonds bereitgestellter Zwei-Milliarden-Dollar-Kredit reicht kaum aus, um die Löcher im Etat zu stopfen, die entstanden, nachdem Ägypten seine preiswerten Gasausfuhren wegen der gespannten Sicherheitslage auf dem Sinai drosseln muss- te. In diesem Jahr musste das Königreich bereits fast 21 Milliarden Dollar neue Schulden aufnehmen. Die Kommentarspalten der arabischen Zeitungen fordern nun ein Eingreifen der Golfstaaten, auch um die Versorgung der tausenden syrischen Flüchtlinge in Jordanien zu verbessern. Bislang erhielt Amman jedoch nur Hilfsangebote aus dem Iran: Der iranische Botschafter in Jordanien, Mustafa Zadeh, bot eine kostenlose Versorgung mit Öl über die nächsten 30 Jahre an, berichtet die Tageszeitung Al-Hayat. Im Gegenzug sei man an »Vertragsabschlüssen mit Blick auf den Pilgertourismus interessiert«. Ein Sprecher der jordanischen Regierung reagierte reserviert und nannte das Angebot »ungewöhnlich«. PIRATEN MACHEN WEITER URLAUB Die EU-Antipirateriemission »Atalanta« vor der Küste Somalias bleibt auf Erfolgskurs. In den Vorjahren hatte mit Ende der Regenzeit im November auch die Aktivität der Kaperer wieder zugenommen – dies ist bislang ausgeblieben. 2011 hatte insbesondere die Zahl der privaten Sicherheitsteams auf Frachtschiffen zugenommen, was laut EU-Marinestabschef Peter Olive entscheidenden Einfluss auf das Gelingen des Einsatzes hat. Viele der beteiligten Nationen sind inzwischen auch dazu übergegangen, Soldaten an Reedereien zu vermieten. Da nie mehr als sieben Schiffe gleichzeitig im Einsatz sind, kann nur so das riesige Seegebiet abgedeckt werden. Verzeichnete die EU im vergangenen Jahr 176 Angriffe, waren es bis Anfang Dezember lediglich 34. Foto: Royal Navy / Crown Copyright 54 BILANZ · WIRTSCHAFT ERBAULICHE AUSSICHTEN UAE KATAR GRÖSSTE WACHSTUMSCHANCEN AUF DER ARABISCHEN HALBINSEL NACH SEKTOREN 38,8% 72,3% ENERGIE Quellen der Statistiken: Pinsent Masons ZUGÄNGLICHSTER MARKT DER MENA-REGION Die Baubranche der arabischen Halbinsel hat ein durchschnittliches Jahr hinter sich. Während die Auswirkungen der Finanzkrise 2009 langsam überwunden sind, verängstigten Proteste und politische Instabilität viele Investoren. Das kommende Jahr soll besser werden. Eine Branchenumfrage der britischen Wirtschaftskanzlei Pinsent Masons ergab aber auch Ungewöhnliches: So glaubten 90 Prozent der Befragten, dass Katar nicht über die nötige Infrastruktur verfügt, um seine ehrgeizigen Bauprojekte erfolgreich durchzuziehen – auch die Attraktivität des Standorts Abu Dhabi schätzten 83 Prozent negativ ein, wohingegen Dubai an Beliebtheit wieder zulegt. Der größte Verlierer sei in diesem Jahr aber eindeutig Bahrain. TRANSPORT 51,1% MÜLLBESEITIGUNG 21,3% WOHNUNGEN 19,1% ÖFFENTLICHE GEBÄUDE 21,3% WASSER & ABWASSER 34% iTUNES IM NAHEN OSTEN DIE HEIDEN MISSIONIEREN Seit dem 4. Dezember gibt es Apples digitale Vertriebsplattform iTunes nun auch offiziell in weiten Teilen des Nahen Ostens. Bislang konnten Nutzer etwa in Israel, Ägypten oder Saudi-Arabien das Programm zwar installieren, nicht jedoch auf das Musikangebot zugreifen - was auch daran liegt, dass Apple für jeden Markt ein eigenes Preismodell entwickelt und Vertriebsrechte einholen muss. Viele Softwarehersteller zögern noch immer, in die MENA-Region zu inves- tieren, da illegal erstellte Kopien vorherrschen und nur ein entsprechend geringer Markt für teure Originalprodukte besteht. Im Umkehrschluss bleibt den meisten Kunden aufgrund fehlender Vertriebsnetze auch nur der Griff zum illegalen Download, zumal die Rechtslage in vielen Staaten unklar ist. Somit möchte Apple mit seiner iTunes-Expansion auch Mentalitäten ändern. Gelingt es den Kaliforniern, öffnet sich ihnen ein völlig unerschlossener Markt. 55 95,7% OMAN 46,8% SAUDI-ARABIEN 10,6% ÄGYPTEN 8,5% KUWAIT 6,4% IRAK 2,1% GRÖSSTE WACHSTUMSCHANCEN / LÄNDER SAUDI-ARABIEN 47% KATAR 22% VAE 15% IRAK 6% ANDERE 10% 62 WIRTSCHAFT · K ATAR · IMMOBILIEN Hochdruck im Treibhaus Katar pflegt ein Image als regionaler Vorreiter beim Thema Nachhaltigkeit und Umweltschutz. Verwirklicht hat es noch nicht allzu viel von seinen hehren Plänen. Nun will sich die Bauindustrie an die Spitze der Bewegung setzen VON CHRISTOPH DREYER IMMOBILIEN · K ATAR · WIRTSCHAFT ƀLJį,LJ#(LJ(ŻLJ-LJ#(LJ#-'LJ*Y.",-.LJ#LJ$Y",&#"LJ UN-Klimakonferenz beherbergte und damit die Aufmerksamkeit der weltweiten Umweltschutz-Community auf sich zog, hatte Katar ein objektives Problem. Ungeachtet aller Klimaschutzrhetorik – einschließlich des kühnen Versprechens, ausgerechnet in der Golfregion in zehn Jahren die erste CO2-neutrale Fußball-WM abzuhalten – gibt das reiche Emirat bei den harten Klimafakten bislang kein gutes Bild ab: In der weltweiten Rangliste für den größten »ökologischen Fußabdruck«, die die Umweltorganisation WWF alle zwei Jahre veröffentlicht, ist das Land 2012 wieder auf den ersten Platz vorgerückt. Dabei mangelt es Katar keineswegs an originellen Ideen. Der Prototyp eines mit Solarenergie gekühlten Fußballstadions ist so ein Fall, die prominent im Sheraton-Park an der Corniche von Doha platzierten Leihfahrräder ein anderer. Beide machen sich stets gut in Powerpoint-Präsentationen über eine grüne Zukunft; doch in der staubigen Realität Dohas setzen sie weitgehend unbeachtet und vor allem ungenutzt eine trübe Patina von Wüstensand an. Was sich vor Ort ganz praktisch beim Thema Nachhaltigkeit bewegt, spielt meist weit unterhalb der Ebene prestigeträchtiger Großprojekte – und könnte längerfristig doch zu einem grundlegenden Wandel beitragen. Ein Beispiel dafür ist das wachsende Interesse der Baubranche am Thema Umwelt- und Klimaschutz. Den institutionellen Rahmen dafür bildet der »Rat für Grünes Bauen« (Qatar Green Building Council, QGBC). Der 2009 gegründete Zusammenschluss leistet im Wesentlichen unspektakuläre Grundlagenarbeit. In Fachvorträgen informiert er über Möglichkeiten zum Wassersparen, den Umgang mit kompostierbarem Abfall oder das Pro und Contra wiederverwertbarer Baustoffe. Das Ziel: nachhaltige Ideen ins Gespräch zu bringen, zu informieren, Interessierte zu vernetzen und ihnen mit Fachwissen beratend zur Seite zu stehen. Die meisten Baufirmen in Katar sind halbstaatlich. Man kann sie also zwingen, nachhaltig zu bauen Doch die Ambitionen der Industrievertreter reichen weiter. Um überhaupt ein Bewusstsein für Umwelt- und Nachhaltigkeitsthemen in der Öffentlichkeit zu schaffen, gehen sie bewusst an die Basis. Bei regelmäßigen Schulbesuchen ermutigen sie die Kinder etwa, zu Hause und in der Schule den Wasser- und Stromverbrauch zu messen. »Wir wenden uns an die Kinder, um durch sie auch die Gewohnheiten der Erwachsenen zu ändern«, sagt Mohamed Jaber, der den Bildungsausschuss des QGBC leitet. Und das ist dringend nötig. »Im Vergleich zu Europa hat Katar in Umweltfragen noch viel nachzuholen«, räumt Alex Amato ein, bis vor wenigen Monaten Partner bei der Bau-Consultingfirma Davis Langdon Qatar und jetzt hauptamtlicher Nachhaltigkeitschef des QGBC. »Aber sie sind dabei. Und sie holen nicht nur auf, sondern haben in Teilen die Chance, weltweit führend zu werden.« Gerade den unvorteilhaft hohen Kohlendioxid-Ausstoß Katars führt Amato als gutes Beispiel dafür an, wie sich mit relativ geringem Aufwand das Bewusstsein für Klimafragen in der Wirtschaft schärfen ließe. Einerseits, so argumentiert der passionierte Experte für Ökobilanzen, benachteiligten die gängigen CO2-Rankings Katar, weil sie nicht nur den Konsum, sondern auch die Produktion eines Landes berücksichtigten – eine fatale Bewertungsmethode für einen Staat, der einen Großteil seines Einkommens aus dem Erdgasexport erzielt. Deshalb wirbt Amato dafür, auf eine Berechnungsmethode umzustellen, die den Emissionsanteil der Exporte herausrechnet (dafür allerdings auch den der Importe einbezieht), wodurch Katar auf einen Schlag seinen Spitzenplatz unter den CO2-Emittenten verlieren würde. Durch diesen statistischen Kniff, so Amato, würde nämlich der Blick darauf gelenkt, an welchen Stellen sich Katar tatsächlich einen überproportionalen Ausstoß an Treibhausgasen leistet. »Wie groß ist zum Beispiel der CO2-Fußbdruck der ganzen Nahrungsmittel, die nach Katar eingeflogen werden? Wie groß ist der CO2-Fußabdruck all der Baustoffe für Katars schnell expandierendes Infrastrukturprogramm?«, fragt er. »Werden das die wahren Problemfelder sein, wenn das CO2 der Öl- und Gasproduktion für den Export aus der nationalen Bilanz herausfällt? Im Moment wissen wir es einfach nicht.« Erst mit diesem Wissen, betont Amato, ließen sich aber realistische Ziele zur Emissionsreduzierung festlegen – auch um vermeidbare Energiekosten zu sparen und damit letztlich im ureigenen wirtschaftlichen Interesse des Landes. Speziell in der Bauindustrie, so nun das Argument des QGBC-Funktionärs, könnten selbst kleine Unterschiede in den Klimaeigenschaften der verwendeten Materialien große Wirkung auf den Ausstoß an Treibhausgasen entfalten – wegen der langen Lebensdauer von Bauprojekten, aber auch weil speziell am Golf oft in großen Dimensionen gebaut wird. Als gutes Anwendungsbeispiel führt er die zunehmende Durchsetzung des katarischen Zertifizierungssystem QSAS an, das eine differenzierte Bewertung von Bauprojekten nach ihrer Klima- und Umweltverträglichkeit erlaubt. Bis jetzt ist die Anwendung des Systems zwar freiwillig – mit der Ausnahme von Wasser- und Energieverbrauch bestimmter Regierungsgebäude und Bauten über einer bestimmten Größe. Bis zum Jahr 2015, zeigt sich Amato überzeugt, sei aber damit zu rechnen, dass die QSAS-Zertifizierung schrittweise verbindlich vorgeschrieben werde. Darüber hinaus versucht Katar zunehmend, die mittlerweile in GSAS (Global Sustainability Assessment System) umbenannte Zertifizierung auch über die eigenen Grenzen hinaus als Standard zu etablieren. »Nehmen Sie nur einmal die klare und unzweideutige Botschaft, die das an Hersteller von Baustoffen und -produkten sendet: dass die Nachhaltigkeitseigenschaften ihrer Materialien und Produkte als CO2-Äquivalent gemessen werden und dass dies bei den Spezifikationen für jedes Projekt berücksichtigt wird«, sagt Amato. Als 63 64 WIRTSCHAFT · K ATAR · IMMOBILIEN Voraussetzung werde dazu erst einmal nur ein Benchmarking-System benötigt, das jedem in der Branche die Klimaeigenschaften verschiedener Produkte aufzeige. »Das wird ausreichen, um die Hersteller zur Verbesserung ihrer Produkte zu bewegen.« Für denkbar hält er längerfristig sogar die Einführung eines Emissionsrechtehandels, bei dem Unternehmen mit einem bestimmten CO2-Budget haushalten müssten – was für die Golfregion einer kleinen Revolution gleichkäme. »Es gibt die Chance, in einigen Dingen Vorreiter zu werden«, sagt Amato mit Blick auf die Rolle Katars bei solchen Neuerungen. Als wenig erfolgversprechend schätzt er dagegen negative Anreize wie Strafzahlungen bei Überschreitung bestimmter Grenzwerte ein: »Man muss akzeptieren, dass dies eine ganz andere Gesellschaft als in Europa oder Kanada ist. Man macht das mit anderen Mitteln.« Positive wirtschaftliche Anreize seien dagegen unentbehrlich, um den zur Durchsetzung von Nachhaltigkeitsstandards nötigen Kulturwandel zu erreichen. »Man muss die Unternehmen dazu bringen, ein Geschäft daraus zu machen.« Lee Allen ist einer derjenigen, die diesen Schritt bereits vollzogen haben. Ausgebildet ist er als Landschaftsarchitekt, aber seine Abteilung bei der Architektur- und Bauberatungsfirma Atkins beschäftigt sich zunehmend mit Nachhaltigkeitsfragen. »Das ist dabei, unser Kerngeschäft zu werden«, sagt Allen. Beim Green Building Council steht er dem Interessenverband für »grüne Infrastruktur« vor – worunter erst einmal alles zu verstehen ist, was außerhalb von Gebäuden liegt und geeignet ist, deren negative Umwelteffekte auszugleichen: Parkplätze, Straßen, Parks, Plätze, Naturraum. Den Grundgedanken erläutert Allen so: »Was das Gebäude wegnimmt, gibt die Landschaft – die grüne Infrastruktur – zurück.« Eine fatale Bewertungsmethode für einen Staat, der sein Einkommen aus dem Gasexport erzielt Als einfaches Beispiel dafür, wie der bewusste Einsatz von grüner Infrastruktur zu nachhaltigen Lösungen führen kann, nennt er den Umgang mit Regenwasser. Traditionell wird es durch Gullys ins Abwassersystem und letztlich hinaus ins Meer geleitet – oft unbehandelt und womöglich sogar unter Einsatz kostbarer Energie für große Pumpanlagen. »Wenn man nun die Straßen als grüne Infrastruktur und nicht als schwere Infrastruktur behandelt, kann man das Regenwasser in der Straßenmitte oder auf einem Parkplatz managen, indem man es ihm ermöglicht zu versickern. Man kann es sogar einer Art Bio-Aufbereitung oder -Filterung unterziehen und natürliche Systeme nutzen, die die Qualität des Wassers verbessern, bevor es zurück ins Grundwasser läuft.« Das bringt gleich mehrfachen Nutzen: Weil das Regenwasser einer nützlichen Verwendung zugeführt wird, muss weniger Meerwasser aufbereitet werden. Entsprechend weniger Ener- gie wird verbraucht, es entstehen keine Klimagase, und im Idealfall profitieren von dem Wasser sogar Lebensräume für Pflanzen und Tiere. Die Schlüsselerkenntnis für solche Lösungen besteht darin, dass eine Infrastruktur mehr als nur eine Verwendung haben kann: Ein Straßenbelag kann durchlässig sein und das Wasser in den Boden sickern lassen. Eine Gebäudehaut kann mit Solarzellen belegt sein und damit zugleich die Sonnen- und Hitzeeinstrahlung im Innern reduzieren. Durch Versickerung gefiltertes Brauchwasser kann Solarzellen vom Wüstensand reinigen und kühlen. Längst werden solche Erkenntnisse auch in der Praxis angewandt. Atkins etwa arbeite in öffentlichem Auftrag daran, die Seitenstreifen der Straßen in Katar für alternative Fortbewegungsarten zu nutzen, berichtet Allen. Ein wichtiger Schritt dabei sei es, für Schatten zu sorgen, um trotz des heißen Klimas Bewegung im Freien etwa für Fußgänger erträglich zu machen. Ein anderes Beispiel ist der gezielte Ausbau der Radwege in Doha. Schon jetzt gibt es laut Allen 50 Kilometer davon, auch wenn es derzeit noch an Verbindungen zwischen den Teilstücken mangele. Für alle neuen Straßenprojekte seien begleitende Radwege überdies zwingend vorgeschrieben. Große Hoffnungen setzt der Planer in diesem Zusammenhang auf Fahrräder mit elektrischem Hilfsmotor: Sie ermöglichen das Radeln auch bei heißen Temperaturen und sorgen zudem durch den Fahrtwind für Kühlung. Zur grünen Infrastruktur gehöre außerdem, den Übergang zwischen verschiedenen Verkehrsmitteln zu ermöglichen – etwa durch Fahrradparkplätze und Radverleihe an den Bahnhöfen der künftigen Metro in Doha. Dass es in Katar an Bewusstsein für die Klimaproblematik mangele, lässt Allen jedenfalls nicht gelten: Obwohl es bislang keine gesetzliche Vorschrift zum nachhaltigen Bauen gebe, sei es an vielen Stellen längst Praxis. Auch in den Baubeschreibungen seien immer öfter Elemente nachhaltiger Gestaltung vorgesehen. Zudem spiele eine Eigenheit des katarischen Markts dem politisch gewünschten Wandel in die Hände: »Die meisten Baufirmen hier sind halbstaatlich – was bedeutet, dass man sie automatisch dazu bringen kann, nachhaltig zu bauen.« Selbst der Finanzdistrikt West Bay mit seinen planlos wuchernden Hochhäusern, der bislang eher notorisch für eine unnachhaltige Bauweise stand, hält Allen nicht für einen hoffnungslosen Fall, was den intelligenten Einsatz grüner Infrastruktur angeht. »Ich weiß, dass es geschehen wird und schon in Arbeit ist«, sagt er. Entscheidend sei, was zwischen den Gebäuden geschehe: welche Verkehrsinfrastruktur es dort gebe, wie der öffentliche Raum genutzt werde, wie viel davon für Autospuren zur Verfügung stehe. »Weil Katar die Fußball-WM hat, musste es sich festlegen. Das Land ist in der einzigartigen Lage, nicht von Etatschwankungen beeinflusst zu werden, und es hat einen Plan«, sagt Allen. Und wagt eine kühne Prognose: »Ich halte es für möglich, dass Doha innerhalb der kommenden 4"(LJ ",LJ#(LJ,LJ(""&.#!-.(LJ.Y.LJ-#(LJ1#,źƌLJLJLJLJLJLJLJƀ 76 WIRTSCHAFT · GOLFSTA ATEN/ÄGYPTEN · ISLAMISCHE FINANZEN Schatz der Gläubigen Islamische Finanzinstitutionen wollen modernes Anlagemanagement für jahrhundertealte religiöse Stiftungen, die Awqaf, einführen. Der Plan: bisher kaum genutztes Kapital anzapfen – in einer Zeit, in der die Forderungen nach Transparenz und öffentlicher Überwachung immer lauter werden VON FREDERIK RICHTER 1 ISLAMISCHE FINANZEN · GOLFSTA ATEN/ÄGYPTEN · WIRTSCHAFT ƀLJ/ LJ,LJ/"LJ("LJ(/(LJ-"Y .-')&&(LJ1(.LJ-#"LJ#LJ angeschlagene Finanzindustrie der Golfstaaten einer uralten islamischen Institution zu: den awqaf. Muslime spenden schon seit Jahrhunderten solchen wohltätigen Stiftungen Geld und Land, auf dem dann Moscheen oder Krankenhäuser entstanden sind. In alten Zeiten haben sie Brunnen gebohrt, um Nachbarn und Reisenden eine lebensrettende Erfrischung schenken zu können. Awqaf (der Plural des arabischen Wortes waqf ) sind islamische, fromme Stiftungen, die solches wohltätige Kapital sammeln. Ihr Verwendungszweck darf nicht verändert werden, ganz ähnlich wie bei Stiftungen im westlichen Teil der Welt. Auch können sie als Familien-Treuhandfonds fungieren. Aber anders als beispielsweise die Gründungsschenkung der Harvard University oder die Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung, die ihr Kapital in der Absicht investieren, ein jährliches Einkommen für Projekte zu generieren, haben Awqaf in der Golfregion die meisten ihrer Einlagen in Immobilien gesteckt: eine ausgefeilte Anlagenwirtschaft ist meistens nicht vorhanden. In Ägypten, dessen autoritäre Regierung nach dem Putsch von 1952 wohltätige Aktivitäten unter ihre Kontrolle gebracht hat, sind Vermögen im Wert von mehreren Milliarden US-Dollar wegen des jahrzehntelangen Missmanagements durch Bürokraten verfallen. Einige islamische Bankiers wenden sich nun den Awqaf zu, um in diesem Sektor endlich einen professionellen Umgang mit den Einlagen einzuführen. John Sandwick, Gründer und Manager der Safa Investment aus Genf, hat ein Scharia-gemäßes Investitionsuniversum von ungefähr 50 bis 55 Milliarden Dollar Umfang identifiziert und analysiert. Das ruht still in allen möglichen Anlagearten: Die Manager lagern im Normalfall einen großen Teil ihrer Investitionen in festverzinslichen Anlagen und Bargeld sowie nur einen kleinen Anteil in Alternativen wie Immobilien – eine Aufteilung, die von vielen Investoren vom Golf bestenfalls einmal umgekehrt wurde, wenn sie das meiste ihres Geldes in den Immobilien- und den örtlichen Aktienmarkt steckten. Sandwick plant, die neuesten Werkzeuge des konventionellen Anlagemanagements zu nutzen, wie etwa das »gain to pain ratio«-Prinzip, um islamische Anlagen zu managen. »Software zur Portfolio-Optimierung hilft uns, Anlagen zuzuweisen. Niemand zuvor hat diese Analysetiefe auf islamische Anlagen angewandt«, sagt Sandwick, der sich mit dem saudischen Dienstleister Wafa Investments zusammengetan hat, und fügt hinzu: »Das ist eigentlich ganz normal für Versicherungen, Stiftungen oder Pensionsfonds – aber niemand hat das schon einmal im islamischen Raum getan.« Schätzungen über die genaue Marktgröße sind schwer zu finden. USAID, die amerikanische Entwicklungshilfeagentur, geht davon aus, dass Muslime weltweit zwischen 250 Milliarden und 1 Billion Dollar jährlich spenden. Andere Schätzungen beziffern den Wert der Awqaf allein in Saudi-Arabien auf 1 Billion Saudi-Rial, umgerechnet 266 Milliarden Dollar. Sich um diesen riesigen Markt zu kümmern, betrachten einige als Hoffnung für die strau- »Software zur Portfolio-Optimierung hilft uns, Anlagen zuzuweisen. Niemand zuvor hat diese Analysetiefe auf islamische Anlagen angewandt« 77 BILLION SAUDI-RIAL (RUND 266 MRD. US-DOLLAR) AUF DIESEN WERT WERDEN DIE AWQAF IN SAUDIARABIEN GESCHÄTZT chelnde islamische Finanzindustrie, die sich nach der globalen Finanzkrise noch nicht wieder aufgerappelt hat. Die Investitionshäuser am Golf wurden von dem regionalen Immobiliencrash 2009 schwer getroffen, nachdem sie zwischen 2002 und 2008 von Vorauszahlungen für Immobiliengeschäfte gelebt, doch keine kleineren, aber nachhaltigeren Einkommensströme entwickelt hatten. Heute sind viele aus dem Geschäft ausgestiegen, und ihr Kapital hat sich in Luft aufgelöst, während eine Handvoll Investoren in Saudi-Arabien ihre Lizenzen einfach den Regulierungsbehörden zurückgegeben haben. Daneben sind die Bankengroßmärkte am Golf beherrscht von den islamischen Abteilungen der globalen konventionellen Geldhäuser, deren größere Kapitalbasen ihren Kunden auf dem Kredit- und Anleihemarkt geringere Leihzinsen bescheren. Lokale Häuser können hier kaum mithalten. Dabei spielt die jüngste Modernisierung und Institutionalisierung von Awqaf in Saudi-Arabien der Industrie in die Hände. In der Dekade seit den Anschlägen des 11. September 2001, die die Terrorismusfinanzierung ins Scheinwerferlicht gezogen haben, hat Riad alle Awqaf gezwungen, sich registrieren zu lassen, um die Geldflüsse von islamischen wohltätigen Einrichtungen besser überwachen zu können. »Vor dem 11. September war immer mal wieder ein Fremder gekommen und hatte sich an meinen Kunden, einen reichen Scheich, gewandt«, erinnert sich Sandwick. »Ein paar Minuten später würde der Fremde ein paar Tausend Rial aus der Tasche ziehen und seinem Gegenüber in die Hand drücken. Ich fragte dann, wer denn das gewesen wäre. ›Nur jemand, der Geld für palästinensische Kinder sammelt oder für Moscheen in Indonesien‹, würde mir der Scheich dann sagen. Wenn diese Leute mal etwas geben, dann geben sie richtig.« Heute gehören zu den saudischen Awqaf einige der größten philanthropischen Stiftungen der Welt, wie etwa die »König-Faisal-Stiftung«, die Schenkung der »King Abdullah University for Science and Technology« oder der »Safa Trust«, der von der Familie von Sulaiman bin Abdul Aziz Al-Rajhi gestützt wird, dem Gründer von Al-Rajhi, der größten islamischen Bank am Golf. Es gibt aber auch noch eine Unzahl kleinerer Awqaf in Saudi-Arabien, deren Investitionsverhalten die Raffinesse abgeht. »Das Fehlen eines einheitlichen Berichtswesens und das Scheitern vieler Awqaf-Organisationen daran, Finanzberichte aufzustellen, schränkt ihre Rechenschaftsfähigkeit gegenüber Gründern, Begünstigten und anderen Teilhabern ein«, befand 2011 Mohamad Hisham Dafterdar, ein Berater des Investmenthauses Bahraini Islamic, in einer Stellungnahme für die bessere Regulierung des Sektors. 78 0,2 WIRTSCHAFT · GOLFSTA ATEN/ÄGYPTEN · ISLAMISCHE FINANZEN »Niemand hat eine Ahnung, welche Besitzstände das Awqaf-Ministerium hat – und dahinter steckt Absicht« PROZENT MAGERES JÄHRLICHES ZINSEINKOMMEN ERWIRTSCHAFTEN ANGEBLICH ÄGYPTENS ISLAMISCHE SCHENKUNGEN John Sandwick meint, dass neben einer diversifizierten Anlagenverteilung jenseits von Immobilien islamisches Assetmanagement auch höhere Einkünfte erzielen würde als eine konventionelle Anlagenverwaltung, die herkömmliche Banken wie Julius Bär oder Credit Suisse anbieten. Westliche Finanzinstitute seien häufig die einzigen, an die sich wohlhabende Muslime wenden können, die nicht mehr in Immobilien und den regionalen Aktienmarkt anlegen möchten. Aber sie böten meist Derivat-basierte Produkte an, die grundsätzlich mit islamischem Recht unvereinbar sind, das Zinsen und Spekulation verbietet. »Nach der Lehmann-Pleite brauchten konventionelle Banken 26 Monate, um sich zu erholen, und schrieben tiefrote Zahlen. Safa Investment benötigte nur 9 Monate bei halb so großen Verlusten. Wenn die Märkte zusammenbrechen, fallen islamische Märkte nicht so tief«, sagt Safa-Chef Sankwick. Vorhandene Daten zeigen aber tatsächlich keinen vollständigen Kreislauf von »boom and bust«, sie spiegeln nur die globale Finanzkrise und den folgenden Wirtschaftsabschwung wider, der bislang noch nicht überwunden wurde. In diesem Zeitraum haben Bankpapiere und hochverschuldete Unternehmen, in die islamische Geldgeber nicht investieren, besonders stark gelitten, was für eine natürliche Verzerrung der Daten zugunsten islamischer Investitionen sorgt. Im nächsten Aufschwung allerdings könnten ebendiese Investitionen größere Profite erzielen als andere – wenn auch strenggläubige islamische Investoren auf einen Teil der Gewinne wieder verzichten werden. Ein weiterer großer Markt der Awfaq-Industrie ist Ägypten. Dort wird die Revolution des letzten Jahres höchstwahrscheinlich der behördlichen Kontrolle der Stiftungsanlagen ein Ende bereiten. Staatliche Versuche, alle Awqaf unter Kontrolle zu bringen, gehen bis in die Zeit von Muhammad Ali zurück, der das Land in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts beherrschte. Die Generäle, die 1952 die Macht übernahmen, verstärkten noch den Klammergriff des Staates um die islamischen Stiftungen Ägyptens. Deren Anlagen wurden jahrzehntelang dank Misswirtschaft und Korruption – Markenzeichen der Militärherrschaft – extrem vernachlässigt, bis Hosni Mubarak durch den Aufstand des letzten Jahres gestürzt wurde. Assets, die vom Ägyptischen Ministerium für die Awqaf verwaltet werden, schätzt man auf Hunderttausende Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche bis hin zu Grund und Boden, auf dem Hotels in Kairos Stadtzentrum stehen. Beobachter sagen, das Ministerium besitze vermutlich immer noch beste Immobilienstücke am Bosporus und auf den griechischen Inseln, zurückgehend auf osmanische Zeiten, als Teile Griechenlands von ägyptischen Beamten verwaltet wurden. Aber kaum etwas weiß man genau. Eine Stiftungsurkunde (Waqfiyya) von Haseki Hürrem Sultan über die Einrichtung der Haseki-HürremSultan-Moschee, einer dazugehörigen Rechtsschule (Madrasa) sowie einer Suppenküche in Jerusalem. Foto: Museum of Turkish and Islamic Arts »Eine Taktik des Ministeriums war es, sich in Anonymität zu hüllen. Näher betrachtet, hatten wir 50 Jahre lang keine Information darüber, womit das Ministerium sich beschäftigt. Niemand hat eine Ahnung, welche Besitzstände die Behörde hat – und dahinter steckt Absicht«, erklärt Mahmoud Sabit, ein ägyptischer Landeigentümer, dessen Familienschenkung unter der Vernachlässigung der vom Militär kontrollierten Bürokratie wiederholt gelitten hat. Anfang dieses Jahres brachen Diebe in das Mausoleum der Familie ein und stahlen eine wertvolle Koranausgabe. Nach ähnlichen Vorfällen bei anderen religiösen Stätten unter Verwaltung einer waqf stritt sich der Awqaf-Minister routinehaft mit der An- 79 Das Awqaf-Ministerium soll beste Immobilienstücke am Bosporus und auf den griechischen Inseln besitzen, zurückgehend auf osmanische Zeiten tiquitätenbehörde darüber, wer dafür verantwortlich zu machen wäre, nicht für die Bewachung der Stätten gesorgt zu haben. Eine Schenkung von Sabits Familie aus dem Jahr 1954 umfasste eine Moschee, eine Schule und zugehöriges, am Nilufer liegendes Land. Alles wurde vom Staat übernommen, als die Generäle nach dem Putsch Gamal Abdel Nassers ihre Herrschaft auch über die Wirtschaft Ägyptens ausbauten. »Sie rissen die Schule ab und bauten dann ein sechsstöckiges Wohnhaus für Apparatschiks, die im Awqaf-Ministerium arbeiteten, angeblich um das Einkommen der Moscheeschenkung zu erhöhen«, sagt Mahmoud Sabit. »Aber natürlich haben sie niemals auch nur etwas für Unterhalt und Wartung gezahlt.« Die Tage scheinen nun gezählt, wo Regierungsbürokraten die frommen Anlagen ohne nennenswerte Überwachung verwalten können. Die Muslimbruderschaft, deren Kandidat Mohamed Morsi die Präsidentschaftswahlen in diesem Jahr gewonnen hat und die selbst schon seit Jahrzehnten Graswurzel-Wohltätigkeitsorganisationen leitet, hat großes Interesse bekundet, das Awqaf-Ministerium zu übernehmen. Das Verwalten der Einrichtungen für das Gemeinwohl zählt als Schlüsselressort, um der Partei Legitimität zu sichern, während sie versucht, den politischen und wirtschaftlichen Einfluss der Armee zu beschränken. Sabit denkt aber, dass die Bürokraten des vorigen Regimes den Kampf nicht einfach aufgeben, auch wenn die Spitzenbeamten ausgetauscht werden. »Das Ministerium ist ein kaum zu unterschätzender Gegner. 50 Jahre lang haben die sich korrumpieren lassen, und jetzt stecken ihre Taschen voller Geld. Das wird irgendwann eine schwere Auseinandersetzung zur Folge haben«, sagt er voraus. Auf welchen Gesamtwert sich die ägyptischen Awqaf belaufen, ist unklar. Sprecher der Muslimbruderschaft zitierten jüngst einen Bericht des Awqaf-Ministeriums selbst, als von Schenkungen von 82 Milliarden Dollar die Rede war, die angeblich nur 0,2 Prozent jährliche Zinsen erwirtschaften. Heute möchte die Bruderschaft ganz eindeutig die islamische Finanzindustrie in Ägypten fördern. Zu lange wurde sie vom vorigen Regime kleingehalten, um die Islamisten einzuhegen. Es bleibt aber abzuwarten, in welchem Maß die Muslimbrüder ein Interesse daran haben, einen Sektor voll transparent zu machen, den sie auch für ihre eigenen Patronagenetzwerke nutzen könnten – ganz wie das abgelöste Regime. Es gibt dennoch Spielraum, Kapital aufzubauen, das über Jahrzehnte vernachlässigt worden war. Safa-Investment-Gründer Sandwick findet: »Ich halte den islamischen Finanzmarkt in Ägypten für einen schlafenden Riesen. In ihm steckt riesiges Po.(4#&LJ į,LJ#(LJ(-.Y(#!-LJ(&!('(!'(.źƌLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJƀ 98 KULTUR · FILM · IR AK Szene aus dem Film »The Well – Water Voices from Ethiopia«, dem Gewinner der Sektion »Human Images«. Foto: Claudio Sica Zaungäste der Geschichte Jahrzehntelang wurden Filme in Irak als Propagandainstrument missbraucht. Der Regisseur und Produzent Dirk van den Berg sah als Juror beim »4. Baghdad International Film Festival« eine neue Generation von Filmemachern, die dem Land seine Identität zurückgeben könnte IR AK · FILM · KULTUR »Welcoooome tooo Baghdaaaad!«, ruft der schwer bewaffnete irakische Soldat in unseren verbeulten Toyota-Minibus hinein. Dann lassen wir den Checkpoint, bestehend aus zwei Humvees und einem seltsam bunt bemalten Panzer, hinter uns und fahren vom Flughafengelände auf der vierspurigen Schnellstraße am Tigris Richtung Bagdader Innenstadt. Hier werden mein Kollege Herbert Gehr und ich die nächsten Tage verbringen, als Jurymitglieder des 4. Baghdad International Film Festivals (BIFF). Als eine der wenigen Initiativen, die versuchen, den Irak aus seiner kulturellen Isolation herauszuholen, wurde das Festival 2004 von Taher Alwan und Ammar Alarady ins Leben gerufen, beide damals Professoren an der Bagdader Akademie der Künste. Bei der zweiten Auflage 2005 explodierten während des Eröffnungstags 20 Autobomben in der Stadt. »Panzer patrouillierten durch die Straßen, und trotzdem kam das Publikum«, erzählt Alwan. Seither hat Bagdad sich sehr verändert. In diesem Jahr will das BIFF zum ersten Mal wirklich international sein mit 300 Filmen und Gästen aus aller Welt. »Das Festival wird zu fast 100 Prozent von westlichen Institutionen finanziert«, sagt Hella Mewis, eine deutsche, in Kairo lebende Kulturmanagerin, die seit Jahren im Irak aktiv ist und für die internationale Koordination des BIFF verantwortlich zeichnet. Als das Mohammed-Video für Unruhe sorgte, hatten die Botschaften und Kulturinstitute zwar Bedenken, offiziell als Sponsoren aufzutreten, wollten das Festival aber auch nicht platzen lassen. »Kurz vor dem Druck des Katalogs fanden wir eine pragmatische Lösung: Alle westlichen Logos und Grußworte wurden wegelassen«, erzählt Mewis. Ein Kraftakt war es nicht nur, das Budget des Festivals zu sichern – eine Summe, die bei der Berlinale für eine einzige Abendveranstaltung ausgegeben werden würde –, auch um den Austragungsort wurde monatelang gerungen. Sicherheitskriterien spielten eine große Rolle, aber der Ort sollte auch angemessen sein, idealerweise ein Kino. Derer gab es einmal annähernd 250 im Irak; das größte und vielleicht schönste war das »Samiramis Movie Theater« mit 1.800 roten Plüschsesseln auf drei Etagen im Bagdader Viertel Bab al-Sharqi. Aber seit der Schließung des ehemaligen Prachtbaus im August 2007 gibt es in der 7,5-Millionen-Einwohner-Stadt Bagdad kein größeres Lichtspielhaus. Die Entscheidung für ein Hotel als Austragungsort war alles andere als ideal, aber sie war die einzig mögliche. »Trotz der Entwicklung unserer Wirtschaft und großer Budgets im Staatshaushalt ist der irakische Film noch immer auf private Initiative angewiesen«, sagt Taher Alwan in seiner Eröffnungsrede. »Das Ziel, diese Arbeit in eine von den Institutionen getragene Industrie umzuwandeln, bleibt unerreicht.« Als Teil dieser Aufgabe versteht Alwan vor 99 allem die zum ersten Mal stattfindende Festivalreihe »New Horizons – Iraqi Filmmakers« mit 25 irakischen Filmen – von denen kein einziger mit offizieller staatlicher Unterstützung entstanden ist. Daneben besteht das fünftägige Festivalprogramm aus den Sektionen langer und kurzer Spielfilm, Dokumentarfilm und den Spezialprogrammen »Arab Women Filmmakers« und »Human Images«. Partnerschaften mit dem renommierten Kurzfilmfestival von Clermont-Ferrand und Mexiko runden das Programm ab. Etliche der in den kommenden fünf Tagen gezeigten Spiel-, Kurzund Dokumentarfilme sind seit zwei oder mehr Jahren auf dem internationalen Festival-Parkett unterwegs und damit nicht mehr ganz taufrisch. Trotzdem versteht man, warum Direktor Taher Alwan diesen Weg eingeschlagen hat: Der Irak hungert nach Kultur, das BIFF kann durch den Medienrummel eine breite Öffentlichkeit erreichen und dazu beitragen, dass die bis dato völlig desinteressierte Politik sich eines Besseren besinnt. Das Konzept nimmt in Kauf, dass die Qualität der Filme hinter der Quantität zurücksteht – dennoch scheint es aufzugehen: Zur Eröffnungszeremonie sind in letzter Minute überraschend viele Politiker erschienen, neben dem Wald von Kameras und Stativen der offiziellen irakischen und arabischen Nachrichtensender beeindrucken uns vor allem die zahlreichen Filmemacher und teils blutjungen irakischen Blogger. Als der erste Film beginnt, ist der Festsaal mit begeisterten Zuschauern dermaßen überfüllt, dass die Türen offen bleiben, um die Menschen im Foyer in die Vorführung einzubeziehen. Als der erste Film anläuft, ist der Saal so überfüllt, dass die Türen offen bleiben müssen, um die Menschen draußen einzubeziehen Nachdem wir als Jurymitglieder vorgestellt wurden und unsere Gesichter dadurch bekannt sind, sprechen uns in den nächsten Tagen viele junge Filmemacher an. Das Interesse an Dialog und kulturellem Austausch ist hoch und hilft über die meist sehr spärlichen Englischkenntnisse unserer Gesprächspartner hinweg. Sie beschreiben die hoffnungslose Situation der als Filmhochschule des Landes geltenden Akademie der Künste: Der Unterricht beschränke sich auf staubige Filmtheorie der 1970er Jahre, es gebe keinerlei praktische Ausbildung, keine Ausrüstung wie Kameras, Monitore oder Schnittplätze; eine Filmförderung hat der Irak ohnehin nicht. Dennoch sprudeln die Studenten vor Ideen, jeder von ihnen hat ein halbes Dutzend mit im Gepäck – aber sie kennen die Filmgeschichte des eigenen Landes nicht und können nach jahrzehntelanger Diktatur und mehreren zerstörerischen Kriegen an nichts anknüpfen. Einer der Studenten bringt es auf den Punkt: »Wir brauchen Hilfe.« Seit der Geburtsstunde des irakischen Kinos 1948 wurden um die 100 Spielfilme und ein Vielfaches an Dokumentarfilmen im Land produziert. Viele davon sind in den Wirren der drei Golfkriege verschwunden oder zerstört worden. Einer der noch vorhandenen Streifen ist der als erster rein irakischer Film überhaupt geltende »Fitna wa Hassan« von 1950. Der Film von Hyder al-Omer ist eine Variation von »Romeo und Julia« und wurde von einem Muslim, einem Christen und einem Juden produziert, was damals nicht unüblich war. Nach dem Ende der irakischen Monarchie 1958 übernahm die neu gegründete »Film- und Theater-Gesellschaft« die Organisation des immer stärker werdenden 100 KULTUR · FILM · IR AK cher wie Fachleute gleichermaßen von der Bekanntgabe überrascht, dass das irakische Kulturministerium anlässlich der Ernennung Bagdads zur »Kulturhauptstadt der Arabischen Welt 2013« umgerechnet zehn Millionen US-Dollar für »ausgewählte Filmprojekte« vergeben wird. Einige der Filmprojekte sollen um eine Million Dollar kosten, das Fünffache eines normalen Budgets im Irak. Der anfänglich begeisterte Applaus des Publikums ebbt ab, als ein junger Mann nach den Auswahlkriterien für die Projekte fragt und anregt, fünf Prozent des zugesicherten Budgets an die Akademie der Künste zu spenden – er erhält keine Antwort. Kritik an der Maßnahme kam von den internationalen Teilnehmern des BIFF: Die grundsätzlich positive Initiative des Ministeriums riskiere, eher ein prestigeträchtiger Schnellschuss zu sein als eine nachhaltig konstruktive Fördermaßnahme. »Ich glaube dennoch, das Kulturministerium macht eine gute Investition damit«, sagt Festivaldirektor Taher Alwan. »Auch wenn nicht viele junge Filmemacher von dieser Initiative profitieren werden und wir noch weit entfernt sind von regelmäßiger Unterstützung, werden doch endlich wieder Filme produziert im Irak – zum ersten Mal seit 2003.« Kulturförderung ist hier die Ausnahme und funktioniert nach anderen Kriterien als in Europa. Selbst der erste irakische Oscar-Anwärter der Filmgeschichte, »Son of Babylon« des im Bagdader Problemviertel Sadr City aufgewachsenen Regisseur Mohammed Al Daradji, hat das zu spüren bekommen. Er verlor seinen irakischen Finanzierungsanteil, als der Regisseur sich für eine kurdische Hauptdarstellerin entschied. Fünf Jahre und siebzehn Koproduzenten benötigte der Film, um 2010 endlich gedreht werden zu können. »Son of Babylon« zeigt die Abhängigkeit des irakischen Films von ausländischer, insbesondere europäischer Filmförderung – ist aber auch ein eklatanter Beweis dafür, dass ein irakisches Autorenkino vorhanden ist. Umso befremdlicher ist es daher, dass die jungen Filmemacher der nächsten Generation im Programm des BIFF 2012 isoliert werden. Die kulturpolitisch vielleicht wichtigste und von vielen Beobachtern mit großem Interesse erwartete Sektion des ganzen Festivals werden die 25 Filme von »New Horizons – Iraqi Filmmakers« sein, im Festivalkatalog nicht erwähnt und durchgehend ohne Untertitel projiziert. So wirken sie nicht nur für das internationale Publikum wie eine diffuse Seitenveranstaltung und werden vom restlichen, internationalen Wettbewerb komplett abgeschottet. In manchen Fällen ist die filmische Umsetzung noch ungelenk, Figuren sind allzu stereotyp gezeichnet, Szenen unfertig und roh im Umgang mit Gewalt. Gleichwohl findet hier eine Auseinandersetzung der jungen Generation irakischer Filmemacher statt, die versuchen, die tief greifenden Veränderungen des Landes durch jahrzehntelange Kriege aufzuzeigen. Alle diese Filme hätten die Auseinandersetzung mit einer breiteren Öffentlichkeit verdient, zumal bei einem internationalen Filmfestival. Warum machen sich die im Kulturbereich wirkenden Kräfte nicht die Erfahrungen anderer arabischer Länder für die Lösung der eigenen Probleme zunutze? Einige der jungen irakischen Filmemacher, die wir beim BIFF treffen, haben im Nachbarland Jordanien studiert. Von »Lawrence of Arabia« (1964) bis zu Kathryn Bigelows neuem Film »Zero Dark Thirty« (2012) eher als Kulisse denn als inhaltlich relevantes Film- staatlichen Einflusses auf Autoren und Regisseure. Dokumentarfilme wie »Das Al-Maghishi-Projekt« über den Bau von Bewässerungsanlagen oder der die Luftwaffe verherrlichende Kriegsfilm »Hochzeit im Himmel« wurden nach der Machtübernahme durch die Baath-Partei 1968 zum Ausdruck der eisernen Hand des Staates. 1979 riss Saddam Hussein die Macht an sich, fortan bediente auch er sich des Machtinstruments Film. Sündhaft teure Propagandaschinken wie das vom ehemaligen James-Bond-Regisseur Terence Young verfilmte, sechsstündige Epos über Saddams Heldenleben »Die längsten Tage« liefen jetzt in den Kinos – alles andere verbot die Zensur. Ohnehin war für mehr Eigenproduktion kein Geld da, denn der Krieg mit Iran verschlang sämtliche Ressourcen. An der Akademie der Künste wurde zwar weiterhin studiert, aber das internationale Embargo verhinderte die Einfuhr von Zelluloid und Ausrüstung, sodass die Studenten seit Mitte der 1980er Jahre mit bereits damals veraltetem Video-Equipment arbeiten mussten. Bis heute scheint sich dieser Zustand nicht verändert zu haben. Seit dem letzten Krieg gibt es faktisch keine irakische Filmindustrie mehr. Umso mehr werden am vierten Tag des BIFF Festivalbesu- Foto oben: Claudio Sica / Foto unten: Easy Tiger Films Für Film-Studenten gibt es keine praktische Ausbildung, keine Ausrüstung, keine Förderung. Dennoch sprudeln sie vor Ideen IR AK · FILM · KULTUR land genutzt, gab es zwischen Amman und Aqaba lange Zeit nicht viel mehr als schöne Locations und günstige Hilfsarbeiter. Seit fast einem Jahrzehnt lernt jetzt eine neue Generation jordanischer Kreativer und Techniker das Filmemachen von der Pike auf. Die Einrichtung der »Royal Film Commission«, der Aufbau einer Hochschule und kontinuierliche gezielte Maßnahmen fördern sowohl die Filmwirtschaft als auch den Nachwuchs des Landes. Auch Jordanien kocht nur mit Wasser, aber immerhin gibt es dort seit letztem Jahr eine mit 500.000 Dinar anständig dotierte Filmförderung mit einer klaren Altersbegrenzung. »Es gibt im Irak viele starke Geschichten, und jeder Iraker kann sie erzählen!«, hatte Taher Alwan zur Eröffnung des BIFF gesagt und wiederholt diesen Satz bei der Schlusszeremonie. Nach der Preisvergabe an die internationalen Beiträge wirkt die das Festival abschließende Auszeichnung der irakischen Filme der »New Horizons«-Sektion jedoch unfreiwillig ironisch: Fast die Hälfte der teilnehmenden Filme wird ausgezeichnet, einige in eher fantasievollen Preiskategorien. Das mag den jubelnden Applaus des irakischen Publikums beflügeln, ist aber eines internationalen Filmfestivals nicht würdig. Das BIFF hat das Potenzial und damit die Verantwortung, eine Brücke zwischen irakischen Filmemachern und der Welt zu schlagen, ebenso wie es einen Beitrag zur (Wieder-)Erlangung einer nationalen Identität dieses geschundenen Landes leisten könnte. Dies kann aber nur gelingen, wenn die manchmal allzu großen Gesten durch klarer konturierte Inhalte und Positionen ersetzt werden. Als einziges irakisches Festival dieser Art sollte das BIFF mehr auf die innere Kraft der irakischen Filmemacher bauen, anstatt sie vom restlichen Wettbewerb abzuschotten. Am Tag nach der Preisverleihung machen wir unseren ersten und einzigen Ausflug. Von meinem letzten Aufenthalt 2007 hatte ich Bagdad ganz anders in Erinnerung: Endlose Fahrten durch vier Meter hohe Tunnels aus »blast walls«, man stieg aus, ging durch eine Stahltür in den Zementwänden und stand plötzlich in einem Hausflur. Bagdad war ein Labyrinth aus Zementschläuchen und Kalendertürchen zu den Menschen, ängstlichen oder aufgebrachten Menschen, ständig argwöhnisch beäugt von nervösen amerikanischen Soldaten. Heute sind die verkrusteten Mauern fast alle verschwunden: Zum ersten Mal sehe ich die Stadt. Trotz aller Bomben erinnert das Straßenbild an andere Großstädte des Mittleren Ostens, nur dass hier mehr Ruinen und halbzerstörte Häuser entlang der Straßen stehen und fast jede Oberfläche mit Einschusslöchern übersät ist. Über allem liegt noch immer ein Schleier aus graubraunem Staub, als hätten Krieg und Chaos erst vor wenigen Tagen das Land verlassen. Als wir am Abend mit den anderen Jurymitgliedern ein Abendessen am Tigrisufer serviert bekommen, glaube ich den Staub im grauen Fleisch des Karpfens zu schmecken. Irgendwie kommt es dazu, dass wir den Weg zurück ins Hotel zu Fuß gehen. Entlang des Tigris-Boulevards, ohne Begleitung oder Geleitschutz, vorbei an Checkpoints mit uns verblüfft hinterherschauenden Soldaten. An jedem anderen Ort der Welt selbstverständlich, wird der kleine nächtliche Spaziergang für uns alle, vor allem die irakischen Jurymitglieder, zum Erlebnis verloren gegangener Normalität. Seit den frü- 101 Fotos: Claudio Sica Krieg und Chaos, Leichen und ausgebrannte Autowracks: Unser Irak-Bild wurde in den 1990er Jahren von Sendern wie CNN geprägt hen 1990er Jahren brannten CNN & Co. ein von Krieg und Chaos geprägtes Irakbild in unser kollektives visuelles Gedächtnis. Der Irak , das waren von Leichen und ausgebrannten Autowracks gesäumte Straßen, am Himmel die Lichtscheine der Raketen und Mörsergeschosse. Als ich jetzt in meinem hoch über der Stadt liegenden Hotelzimmer den nächtlichen Firdos-Platz unter mir betrachte, habe ich zum ersten Mal nicht die umgekippte, aber hängen gebliebene Saddam-Statue im Gedächtnis. Bei aller Kritik hat dieses Festival es nach 20 Jahren zum ersten Mal vermocht, dass ich Bagdad als Stadt mit Lichtern und Leben sehe. Für die irakischen Filmemacher wünsche ich mir, dass es weitergeht mit dem BIFF, damit sie nicht weiterhin Zaungäste ihrer eigenen Geschichte blei!*ƎƳƳƳƳƳƳƳƳƳƳƳƳƳđ Dirk van den Berg wurde 1966 geboren und studierte Musikwissenschaften und Regie in Rom. Seither arbeitete er als Autor, Regisseur und Produzent für zahlreiche internationale Film- und TV-Projekte. 2010 gründete van den Berg die Filmproduktionsgesellschaft OutreMer Film, die auf den Nahen und Mittleren Osten spezialisiert ist. www.outremerfilm.com