botschaften aus saudi-arabien Wie gefährlich ist diese kunst?

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botschaften aus saudi-arabien Wie gefährlich ist diese kunst?
jäger und gejagte
was kann afghanistans armee?
Januar / februar 2013
Waffen, Fussball & Milliarden
Katar und die Franzosen
persische DÜnenrodler
Abenteuer in der wüste
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botschaften aus
saudi-arabien
wie gefährlich ist
diese kunst?
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07
Die neue zenith Ab
ISSN
1439 9660
januar
INHALT
JANUAR/
FEBRUAR
2013
Titel: Maha Malluh/Edge of Arabia
Foto links: Christelle Alix/Présidence de la République
Foto links unten: Edge of Arabia
Foto rechts: Daniel Pilar
Foto rechts unten: Claudio Sica
RUBRIKEN
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Hand in Hand? Katar und Frankreich, das war einmal die ganz große
Liebe. Nun sitzt ein Sozialist im Präsidentenpalast, der Wasser statt
Wein predigt. Ob er wenigstens mal anrufen wird?
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POLITIK
16 Die Fremden
Afghanistans Armee kämpft bislang vor allem mit internen Schwierigkeiten
32 Wem gehört Kuwait?
Briefing: Die Konflikte zwischen Regierung und Parlament lähmen das Land
36 Eine rätselhafte Bestie
Ein ungeklärter Kriminalfall in Tunesien wirft Schatten auf die neue Regierung
40 Kairo, im Schwarm geplant
Sollte die ägyptische Megastadt sich selbst überlassen werden?
46 »Stadtplanung wird zur urbanen
Akupunktur«
Der britische Städteforscher Charles Landry über Kreativität und Chaos
48 Arabischer Frühling, das Original
Vor 25 Jahren begann die erste Intifada der Palästinenser
Editorial
Unser Bild vom Orient
Profile
Netzgeflüster
Bilanz
Der Sekretär
Basar
Neue Bücher
Neue Musik
Der kleine Arabist
Momentaufnahme
Kalender / Ausblick / Impressum
82
Provokant! Die saudi-arabische Künstlergruppe Edge of Arabia
spart in ihren Ausstellungen nicht mit wohldosierter Kritik an den
Zuständen im Königreich.
KULTUR
82 Abdullah, wir müssen reden
Gesellschaftskritische Kunst feiert in Saudi-Arabien große Erfolge
94 Der Hüter des Glücks
Eine Begegnung mit dem israelischen Schriftsteller Jehoschua Kenaz
96 Bevor die Mullahs kamen
Eine neue Anthologie zeigt die Faszination der Deutschen für Persien
96 Zionismus geht nur mit Zion
Der israelische Historiker Shlomo Sand hat neue Mythen ausgemacht
98 Zaungäste der Geschichte
Beim internationalen Filmfest in Bagdad zeigen sich Glanz und Elend des Iraks
104 Im Sandkasten eines kindlichen Gottes
Eine Reise durch die Wüste Lut im Südosten Irans
110 Himmlisches Geflügel
Was genau gibt es im islamischen Paradies eigentlich zu essen?
Zukunftsmodell? Wenn die Kampftruppen der ISAF abgezogen
sind, soll Afghanistans Militär das Land vor den Taliban schützen. Ist
die Truppe für diese Aufgabe gerüstet?
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WIRTSCHAFT
56 Langsam wächst die Wüstenrose
Katar lässt sich mit dem Bau seines Nationalmuseums Zeit
60 Die Grünstaatenlösung
Der palästinensische Unternehmer Khaled al-Sabawi setzt auf Erdwärme
62 Hochdruck im Treibhaus
Katars Baubranche wird zum Vorreiter bei Nachhaltigkeit und Umweltschutz
66 Die besten Freunde des Tigers
Myanmar setzt auf Gasexporte, um die politische Öffnung zu bezahlen
68 Das libysche Debakel
Berlin und Tripolis streiten sich um unbezahlte Krankenhausrechnungen
70 Die Maitresse des Emirs
Leiden Katars Beziehungen zu Frankreich unter dem Wechsel im Elysee?
76 Schatz der Gläubigen
Islamische Stiftungen werden zu attraktiven Business Cases
98
Kamera läuft! Im Irak gibt es nach Jahren des Krieges praktisch
keine Filmindustrie mehr. Dennoch will eine neue Generation von
Filmemachern sich der Welt mit ihren Ideen präsentieren.
6
UNSER BILD VOM ORIENT · ZENITH 06/2012
UNSER
BILD
VOM
ORIENT
DIE ZAHL
502
Stimmen
Mit diesem Ergebnis gewann der kuwaitische Politiker Nasser Abdullah AlShammari im fünften Stimmbezirk einen Sitz in der Nationalversammlung.
Die Wahlen am 2. Dezember waren notwendig geworden, nachdem der Emir
das vorhergehende Parlament aufgelöst
hatte. Aufgrund des neuen Wahlsystems
– jeder Wähler hat nur noch eine Stim-
me statt wie früher vier – sowie des Boykotts der Opposition verhalfen mitunter
bereits sehr geringe Stimmzahlen zum
Einzug in die Volksvertretung. 17 der 50
Sitze gingen an schiitische Kandidaten,
die Wahlbeteiligung lag nach offiziellen
Angaben bei 38,5 Prozent, laut Opposition bei 27 Prozent. Mehr zur kuwaitischen Innenpolitik auf Seite 32.
2
1 SUDAN
2 TÜRKEI
VOR ANKER
IM VISIER
Seine militärischen Kontakte zu Iran
werden für den Sudan zu einer Belastung. Zum zweiten Mal binnen
weniger Wochen gingen Anfang Dezember zwei iranische Kriegsschiffe
in Port Sudan vor Anker. Israel
glaubt, dass auf diesem Wege Raketen in den Gaza-Streifen gelangen.
Aber auch die arabischen Golfstaaten, die zu den wichtigsten Investoren im Sudan gehören, sehen dessen
enge Beziehungen zum Rivalen Iran
mit Besorgnis. Nicht zuletzt ist der
Kurs innerhalb der sudanesischen
Regierung selbst umstritten: Hardliner erhoffen sich Waffen von Iran,
während Moderate die Isolation des
armen Landes durchbrechen wollen.
Die Verhaftungswelle gegen kurdische Aktivisten und Sympathisanten
in der Türkei hält an. Auch im Dezember wurden wieder Dutzende Politiker und Oppositionelle im Südosten
des Landes festgenommen; viele gehören der prokurdischen »Partei des
Friedens und der Demokratie« (BDP)
an. Seit 2009 gab es in der Türkei
mehrere Tausend Festnahmen, in der
Regel verbunden mit dem Vorwurf,
die verbotene »Kurdische Arbeiterpartei« (PKK) zu unterstützen. Auch
zehn kurdische Parlamentsabgeordnete in Ankara befinden sich im Visier der Sicherheitsbehörden: Derzeit läuft ein Verfahren, ihre Immunität aufzuheben.
4
3
1
ZENITH 06/2012 · UNSER BILD VOM ORIENT
DER SATZ
AM RANDE DES ORIENTS
»Ich wurde gefragt, welche
Erwartungen ich an die ›Freiheitsund Gerechtigkeitspartei‹ richte.
Ich antwortete:
lediglich zwei Dinge –
Freiheit und Gerechtigkeit.«
Der neue koptische Papst Tawadros II. Mitte November in einem Interview über sein erstes
Treffen mit Repräsentanten der von der ägyptischen Muslimbruderschaft gegründeten Partei.
3 VEREINIGTE ARABISCHE EMIRATE
HINTER GITTERN
Die Vereinigten Arabischen Emirate
gehen weiter gegen Oppositionelle
vor. Anfang Dezember wurde laut einem NGO-Bericht im Emirat Sharjah
ein 18-jähriger Blogger festgenommen. Mohammed Salem al-Zumer soll
in Haft sitzende Online-Aktivisten in
Kommentaren unterstützt haben.
Erst im November hatten die Emirate die Nutzung des Internets strenger
geregelt; Regimekritik ist nun ebenso verboten wie der Aufruf zu öffentlichem Protest. Auch auf der Konferenz der Internationale Fernmeldeunion (ITU) in Dubai im Dezember
versuchten die VAE und andere autoritäre Staaten mehr Kontrolle über
das Internet zu erlangen.
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4 LERNEN VON ...
DOKTOR ZAIUS
Dass die Welt eine »Spaghetti-ähnliche Struktur« aufweise,
war nur eine der Weisheiten, die alle Leser staunend vernahmen, als das Time Magazine Ende November sein Interview
mit Mohammed Morsi druckte. Ägyptens oberste Nudel zeigte sich auch versiert in amerikanischer Filmkultur: »Vom Winde verweht« habe eine sozialkritische Stoßrichtung, erläuterte er etwa. Noch mehr angetan hatte es ihm der Sci-Fi-Klassiker »Planet der Affen« – die alte Verfilmung natürlich, nicht
die neue, die »nicht so gut« sei. Warum? Niemand habe so gut
wie Doktor Zaius, Oberster Glaubenshüter der Affenwelt, auf
den Punkt gebracht, dass die Menschheit sich ihren Untergang
selbst zuzuschreiben hatte. Von dem Orang-Utan könne man
lernen, befand Morsi. Fazit: Mehr Spaghettiwestern wagen.
OASE DES SCHRECKENS
In der Schlacht um Aleppo gab es einen
Ort, an dem Hoffnung und Wahnsinn zusammenfielen wie nirgends sonst. Einen
Ort, der den Glauben an Götter in Weiß
und an die schwindenden Ideale der syrischen Revolution aufrecht erhielt und
zugleich den Tod in dieser Jahrtausende alten Stadt anzog. Das Krankenhaus
war das letzte verbliebene Feldhospital
auf Rebellenseite. Alle Verletzten, alle
Sterbenden der Bombardierungen und
des Häuserkampfs kamen hierher – jeden Tag mehr als 100 Menschen, zu 80
Prozent Zivilisten. Seit Monaten waren
es dort drei Ärzte und einige Pfleger, die
deren Körper im Minutentakt zusammenflickten, Schmerzen wegspritzten
und sie wieder in die zerschossenen
Häuser zurückschickten. Journalisten
besuchten das Krankenhaus, einige der
eindrücklichsten und grauenvollsten
Bilder des Krieges stammen von hier.
Das Ärzteteam um den Leiter der Klinik
Dr. Osman zählte zu den letzten Helden
dieses Bürgerkrieges.
Am 21. November traf eine Fliegerbombe das Krankenhaus. In den Trümmern
starben nach Angaben des amerikanischen Journalisten Robert King, der den
Einschlag selbst miterlebte, mehr als 40
Menschen, unter ihnen auch zwei Pfleger. Ein Seitenflügel, der Büros und das
Kühlhaus umfasste, stürzte völlig ein,
vom Hauptgebäude steht kaum mehr
als die Fassade. Vor den Treppenstufen
des Eingangs, wo Mitarbeiter in den
Stunden zuvor noch aufgebrachte Angehörige beruhigt oder erschöpft eine
Zigarette geraucht hatten, liegen nun
Schuttberge. Wo ich kaum einen Monat
zuvor mit einem Kollegen übernachtet
hatte, klafft nun ein riesiges Loch.
Seit Wochen hatte die syrische Armee
versucht, die Klinik zu treffen. In der
ganzen Umgebung wurden Häuser eingeebnet. »Was sollen wir machen?
Weglaufen können wir nicht – die Menschen hier zählen auf uns«, berichtete in
einem ruhigen nächtlichen Moment der
junge Apotheker, der freiwillig in der
Klinik arbeitete. Nach Ende des Krieges
werde man in ganz Syrien Geschichten
über diesen Ort erzählen, war er sich sicher. Während wir sprachen, rannten
Ärzte und Pfleger barfuß und laut rufend über den aufgerissenen Asphalt
vor der Klinik. In den Nachtstunden war
ein Fußballspiel das beste Mittel, um
das Sterben für einen Moment zu vergessen. Dieses Refugium hat Aleppo
nun verloren.
Nils Metzger
ZENITH 06/2012 · PROFILE
DER MASTERPLAN
KHALED MESCHAL
zieht als Chef des Politbüros der Hamas seit Jahren
die Fäden im Nahostkonflikt. Nun hat der »militante
Pragmatiker« sich ein
ambitioniertes Ziel
gesteckt: die Nachfolge
von Mahmud Abbas
Es war ein triumphaler Einzug, den Khaled Meschal Anfang Dezember
zelebrierte. Passend zum 25-jährigen Jubiläum ihrer Organisation feierte die Hamas in Gaza das abermalige Standhalten gegen Israel in
der kurzen Wiederauflage des Gaza-Krieges. Der Besuch diente den
Islamisten aber noch zu einem weiteren Zweck: der inoffiziellen Inthronisierung ihres ersten Präsidentschaftskandidaten.
Lange Zeit zog Meschal, seit 1996 Chef des Politbüros der Hamas, von Damaskus aus die Fäden im Nahostkonflikt. Aufgrund der
stetigen Gefahr eines Attentats durch den Mossad – 1997 war ein
Giftspritzenanschlag auf ihn spektakulär gescheitert –, konnte er jedoch palästinensischen Boden bislang nicht betreten. Auch deswegen
war sein Auftritt in Gaza eine Sensation: Israel schickte weder Raketen noch Agenten – und wertete Meschal damit unwillentlich auf. Der
EINE BALLADE ZUM ABSCHIED
TZIPI LIVNI
hat sich mit Pauken und
Trompeten im Jerusalemer
Polit-Betrieb zurückgemeldet. Mit einer eigenen Partei will sie bei den anstehenden Wahlen hoch
hinaus – doch die Zeichen
stehen nicht gut
Es musste ganz schnell gehen. Deshalb zog Tzipora Malka Livni, besser bekannt als Tzipi Livni, das Logo ihrer alten Partei »Kadima« aus
der Schublade, schrieb pragmatisch-praktisch »Ha-Tnuah – Die Bewegung« darauf und trat damit Ende November vor die Presse.
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hatte im November erstmalig verkündet, einen »palästinensischen
Staat in den Grenzen von 1967« anzuerkennen. Von Israel sprach er
nicht. Und doch wird das Thema den 1956 geborenen Physiker interessieren, denn obwohl er seine politische Zukunft während seiner Rede in Gaza offen ließ, positionierte Meschal sich mit den Äußerungen
als künftiger Verhandlungsführer.
Schon der Gazakrieg im November hatte sein Dogma des »militanten Pragmatismus« bestätigt: Ergebnisse statt Frieden. Seit zwei
Jahren liegen die von Fatah-Chef Mahmud Abbas propagierten Friedensverhandlungen auf Eis – der Hamas reichte ein einwöchiges Gefecht, damit UN-Generalsekretär Ban Ki-moon und US-Außenministerin Hillary Clinton sich zumindest indirekt mit ihr an einen Tisch setzten. Seither lädt die PLO den Rivalen regelmäßig zu Sitzungen, und
nicht zufällig reiste Abbas mit einem entscheidenden Trumpf zur
UN-Abstimmung – der Unterstützung durch Khaled Meschal.
Seit geraumer Zeit sucht der 77-jährige Abbas einen Nachfolger;
in den eigenen Reihen drängt sich kaum jemand auf. Meschal brächte
einen wichtigen Vorteil mit: Sein Umzug von Damaskus nach Katar
Anfang 2012 hat ihn gestärkt. Nicht zufällig hatte einen Monat vor
Meschal sein neuer Gastgeber, Katars Emir, seine Aufwartung in Gaza
gemacht. Die Golfstaaten haben den Glauben an das fragile System
von Oslo verloren; sie bauen lieber eine starke Hamas auf, finanziell
unabhängig von Israel und vom Westen. Ganz nebenbei würde die
Hamas aus Irans Einflusskreis gelöst – ein geringes Opfer für Meschal,
für den die Allianz mit Teheran stets ein Zweckbündnis war.
Meschals Präsidentschaftskandidatur fiele mit dem lange angekündigten Rückzug aus dem Politbüro zusammen. Das würde auch
die latenten Spannungen zwischen ihm und dem zweiten starken
Mann der Hamas, Gaza-Premier Ismail Haniyeh, reduzieren. Den könnte Meschal sich auch in der Doppelspitze in Ramallah vorstellen. Es
wäre eine triumphale Rückkehr der 2007 von dort verjagten Hamas.
Für Meschal wäre es ein pragmatischer Erfolg.
Robert Chatterjee
Mit alt-neuem Logo zieht sie nun gegen den Willen der übrigen Mitte-links-Parteien, die im gleichen Wählerbecken fischen, ins Rennen um
die Wahl zur 19. Knesset am 22. Januar. Sie will den Scherbenhaufen,
den Benjamin Netanyahu in ihren Augen hinterlassen hat, zusammenkehren. Und die eigene Karriere wieder ins Rollen bringen, die einst bei
der Partei des Premiers – dem konservativen Likud – begann.
Mit dessen Ideologie brach die verheiratete Mutter zweier Kinder,
die in den vergangenen zwölf Jahren sechs Ministerien leitete, indes
2005 endgültig, als sie ihrem politischen Ziehvater Ariel Scharon aus
dem Likud in die neugegründete, zentristische Kadima-Partei folgte.
Dort wurde sie jedoch im März 2012 mit Schimpf und Schande aus
dem Amt der Vorsitzenden gejagt.
Seitdem tüftelte sie an ihrem Comeback. Mit im Gepäck in der
neuen Partei hat die 54-Jährige eine beachtliche Anzahl politischer
Alphatiere, unter anderem Amir Peretz und Aram Mitzna, zwei Urgesteine der Arbeiterpartei mit hohen Popularitätswerten. Dennoch hat
Scharons »Mädchen« kaum Chancen auf Regierungsbeteiligung. Vielmehr scheint es, als erlebe man ein israelisches Remake der Goethe-Ballade vom Zauberlehrling. Was ihr »Meister« Ariel Scharon mit
Kadima vollbracht hatte, wird Livni nicht gelingen. Sie wird den Geist,
den sie mit der Neugründung gerufen hat, nicht mehr loswerden: eine
weitere Zersplitterung der linken Parteienlandschaft. Die Konsequenz
wird sein: das Aus im Spiel um die Macht.
Dominik Peters
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INTERVIEW · ZENITH 06/2012
»ICH HABE GEHOFFT,
DASS ASSAD RECHT HAT«
OMAR KHASHRAM
KORRESPONDENT VON »AL-JAZEERA« IN NORDSYRIEN, ÜBER
SEINE VERWUNDUNG UND DIE VORWÜRFE GEGEN DEN SENDER
INTERVIEW: DANIEL GERLACH
Omar Khashram leitet das Büro von Al-Jazeera in Ankara
und berichtete für den Sender aus Nordsyrien. zenith traf
ihn im Berliner Humboldt-Klinikum, wo er sich nach seiner Verletzung behandeln ließ.
und für spektakuläre Videos sogar viel Geld
bezahlen? Wir übernehmen wie andere Medien auch Augenzeugenvideos. Aber wir bezahlen nicht dafür. Mir wurde eine Menge angeboten, for free. Hin und wieder habe ich in der
Zentrale angefragt, ob wir Aktivisten Honorare zahlen dürfen. Und bekam immer die Antwort: Lass das bleiben.
»ICH GLAUBE NICHT, DASS DIE REBELLENARMEE
SYSTEMATISCH MORDET UND FOLTERT«
kopter-Angriffe. Baschars Offiziere waren sicher wütend auf mich: Sie konnten uns aus der
Luft im Park beobachten und gleichzeitig im TV
sehen. Ob der Treffer, der mich dann auf der
Flucht durch die Straßen im Auto erwischte, mir
persönlich galt, weiß ich nicht.
Seitdem sieht es mit Vor-Ort-live-Schalten
eher schlecht aus für Al-Jazeera. Stimmt es,
dass Sie, wie Ihre Kritiker behaupten, oft ohne Prüfung das Material von Aktivisten und
Rebellen der Freien Syrischen Armee nehmen
Ist Al-Jazeera ein politisches Instrument der
Regierung Katars im Syrienkonflikt? Ich habe
den Sender nie als Instrument empfunden. Die
Redaktion in Doha hat mir nie in meinen Kommentartexten herumgepfuscht. Am Anfang berichteten wir über die Demos in Syrien mit geringem Interesse. Aber dann fing das Regime
an, auf Demonstranten zu schießen. Ich kenne
Aleppo sehr gut und hoffte zunächst sogar insgeheim: Vielleicht ist der Krieg nur ein Aufstand
von ein paar Fanatikern. Dann sah ich selbst,
was das Regime anrichtet.
Sie zeigen viele Grausamkeiten der Armee,
weniger die Grausamkeiten von Rebellen an
ihren Gefangenen. Ich denke nicht, dass seitens der Freien Syrischen Armee systematisch
gemordet und gefoltert wird. Ich habe viele gefangene Armeesoldaten in Rebellenhaft gesehen, denen es den Umständen entsprechend
gut ging.
Und da hatten Sie keine Kamera bei sich? Weil
unsere Senderpolitik vorsieht, keine Bilder zu
verpixeln. Entweder wir zeigen die Gesichter,
oder wir verzichten auf das Footage. Bei Gefangenen ist das ein Problem.
Mehrere Al-Jazeera-Korrespondenten, unter
ihnen Aktham Suliman in Berlin, sind zurückgetreten. Ob das wirklich nichts mit der Senderpolitik zu Syrien zu tun hat? Ich glaube nicht,
dass es beim Rücktritt Akthams, der übrigens
mein Freund ist, um Syrien ging. Es gab andere Beispiele, etwa Ghassan ben Jeddou, der etwas zu weit ging mit seiner Begeisterung für
die schiitische Hizbullah ...
... die mit Baschar al-Assad verbündet ist. Wie
dem auch sei: Al-Jazeera ist weder antischiitsch
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Foto: dge
zenith: Herr Khashram, Sie erholen sich immer noch von Ihrer Verwundung: Ende Juli
haben Sie in Aleppo Schrapnells in den Leib
bekommen. Zur falschen Zeit am falschen
Ort? Oder wollte die Armee Sie gezielt ausschalten? Omar Khashram: Wir machten damals für Al-Jazeera eine Live-Schalte aus einem
Park nahe der Zitadelle und erlebten drei Heli-
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POLITIK · AFGHANISTAN · MILITÄR
Die
Fremden
➢
2014
wenn die internationalen Truppen
abgezogen sind, soll Afghanistans Armee
das Land vor den Taliban schützen.
Kann das funktionieren?
TEXT: JOCHEN STAHNKE
· FOTOS: DANIEL PILAR
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POLITIK · ISR AEL/PALÄSTINA · NAHOSTKONFLIKT
Abdul Alim, 25, Usbeke
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POLITIK · ISR AEL/PALÄSTINA · NAHOSTKONFLIKT
Schafik, 25, Paschtune
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POLITIK · AFGHANISTAN · MILITÄR
Nacheinander treten die Männer in das Zelt
des Kompaniechefs. Vor einer schwarzen Wolldecke werden sie
fotografiert. Solange, bis der Bataillonskommandeur einen Gesandten schickt, die Ausländer endlich rauszuschmeißen. Der
Kompaniechef, dem das Zelt gehört, hat nichts gegen Fotos. Aber
was kann er schon ausrichten gegen den Bataillonskommandeur?
Der Bataillonskommandeur ist Paschtune. Er verlässt sein Büro
nur selten. Zu Kompaniechef Saed Zabur (abgebildet auf Seite 28)
pflegt er kein herzliches Verhältnis. Der ist Tadschike. »Ich bin es
leid«, sagt Zabur, »dass so etwas eine Bedeutung hat«. Und trotzdem. Ja. Es komme vor, dass eher Paschtunen bevorzugt und befördert werden.
Fremde Soldaten kommen in Zaburs Zelt. Fremde Soldaten
gehen wieder. Sie wollen gern fotografiert werden. Ihre Gesichter
bleiben. Aber es bleiben Gesichter.
Aus dem ganzen Land wurden sie für die nationale Armee rekrutiert, streng nach ethnischem Proporz: 40 Prozent seien Tadschiken, 40 Prozent Paschtunen, 12 Prozent Usbeken und der
Rest Hazara und andere Minderheiten, heißt es. Nun sollen sie für
Afghanistan kämpfen. Aber für welches Afghanistan? Alle sind
einander fremd hier in Samangan, in der Gebirgslandschaft zwischen Mazar-i-Sharif und Kabul. Hier, im Norden des Landes,
steht ein Lager der Afghanischen Armee, um die Verbindungsstraße abzusichern, die durch die dünn besiedelte Provinz verläuft. Samangan gilt als eine der ärmsten Regionen Afghanistans.
Es gibt hier aber kaum Kämpfe mit Taliban, also auch kaum internationale Truppen und Entwicklungshelfer.
Saed Zabur, der tadschikische Kompaniechef, kommt aus Kabul. Seine Familie war arm, der Vater Taxifahrer in der Hauptstadt. Zabur hatte gute Noten. Zwei Jahre lang arbeitete er als
Mechaniker für japanische Minenräumer. Nach Vertragsende
trat Zabur in die Armee ein. Dort durfte er die Kabuler Offiziersschule besuchen. Amerikanische Spezialkräfte entdeckten sein
Talent. Des Nachts kämpfte Zabur mit ihnen, wie er gerne erzählt. Dann bekam er eine Kompanie unterstellt im neu gegründeten Verband in Samangan. Jetzt ist er 28 Jahre alt und gilt als
Superstar des Bataillons. Reicht sein Talent, um die Dinge zum
Besseren zu wenden in dem Land, in dem seit Jahrzehnten Krieg
herrscht? Das sich im Kampf gegen die Taliban auf seine eigenen
Soldaten verlassen muss, wenn die internationalen Truppen abgezogen sein werden?
Die Truppe in Samangan darf bis heute kaum Einsätze
durchführen. Der Grund dafür hängt mit den komplexen Machtstrukturen Afghanistans zusammen – und erzählt gleichzeitig
viel über die Zustände in dem Land: Nach einem Dekret von Präsident Hamid Karzai unterstehen die Bataillone der Afghanischen Armee dem Gouverneur der jeweiligen Provinz. In Samangan gehört der Gouverneur der Usbekenpartei an. Als ebenso
mächtig – wenn nicht mächtiger – gilt der Polizeichef der Provinz.
Wenn nun der von Karzai eingesetzte paschtunische Bataillonskommandeur eine Operation plant, können der Gouverneur oder
der Polizeichef ihr Veto einlegen. Was sie offenbar häufig auch
tun. Denn die großen Regionalpolitiker Nordafghanistans hegen
eigene Ambitionen.
Für die sogenannte Sicherheit auch in Samangan sorgen daher weniger Saed Zabur und seine Soldaten als vielmehr lokale
Milizen unter dem Einfluss ehemaliger Bürgerkriegskämpfer.
Noch haben diese Milizen ihre Waffen nicht gegen die regulären
Soldaten erhoben. Die machen auf ihren Patrouillen vorsichtshalber aber auch einen Bogen um die umliegenden Dörfer.
Zwei Jungs stehen auf einem Lehmhügel vor den ersten Häusern des nächsten Dorfes. Sie beobachten die marschierenden Soldaten. Die Fremden. Auf die Frage, wer in dem Lager da hinten vor
den Bergen lebt, antworten sie: »Keine Ahnung. Amerikaner?«
Die Amerikaner liefern Afghanistans Armee Uniformen, Waffen und Fahrzeuge. Sie übernehmen außerdem den Sold. In Samangan sind offiziell 999 Soldaten stationiert, auch wenn selten
mehr als die Hälfte anwesend ist. Jeden Monat holen sie sich ihr
Geld in der örtlichen Kabul-Bank-Filiale in der Kleinstadt Hazrat-e-Sultan ab. Manchmal werde er in er Stadt beschimpft, erzählt ein alter Paschtune, ein einfacher Soldat: »Sie sagen, ich bin
Taliban, und soll verschwinden.« Es bleiben die einzigen Besuche
außerhalb des eigenen Lagers.
Leutnant Mahdi Sawary kommt aus der Provinz Parwan. Sawary gehört den Hazara an, der von den Taliban damals besonders massakrierten schiitischen Minderheit in Afghanistan. Nach
der Schule ging Sawary nach Kasachstan. Er suchte Arbeit. Aber
auch dort fand er keine. Also schrieb er sich im örtlichen Rekrutierungsbüro der Afghanischen Armee ein. 100 Dollar erhielt
man damals allein für die Unterschrift, berichtet er. Damals nahmen sie fast jeden. »Es gibt kaum noch Arbeit anderswo als in der
Armee oder der Polizei«, sagt Sawary. Die Mütter haben Angst um
ihre jungen Söhne, die einen Beruf suchten und doch nichts anderes fanden als die Armee: »Sie hat sich darüber gefreut«, erzählt
Sawary. »Und gleichzeitig geweint.«
Als Zugführer bekommt er heute umgerechnet 375 Dollar jeden Monat. Mit dem Geld muss er seine Großfamilie versorgen.
Seiner Mutter schickt er jeden Monat 225 Dollar nach Hause. Einer von Sawarys drei Brüdern wurde Ende der 1990er Jahre bei
einem Raketenangriff der Taliban zum Krüppel geschossen. Ein
anderer flüchtete über Iran bis nach Dänemark. 2011 wurde er
von dort wieder abgeschoben. Er kehrte mit Depressionen zurück
und verlässt seitdem nicht mehr das Haus, erzählt Sawary. Sein
Onkel wurde 2006 ermordet. Er hatte während des Bürgerkrieges
in den 1990er Jahren als ranghohes Mitglied der Hazara-Miliz
Hizb-e Wadat gewirkt.
Sawary erzählt, während der Ausbildung in Kabul sei er einmal von »Kameraden« verprügelt worden. Weil er Hazara sei. »Ich
habe zurückgeschlagen, ins Gesicht«, sagt Sawary. Das brachte
ihm ein paar Tage Militärgefängnis ein. Aber die Peiniger kamen
nicht noch einmal. Heute hätten nur manche seiner Untergebenen
Probleme, seine Autorität anzuerkennen, erzählt der Leutnant.
Zwei Jahre läuft Sawarys Vertrag noch. Bis dahin wollen die
internationalen Truppen weitgehend aus Afghanistan abgezogen
sein. Eine der Isaf-Truppe nachfolgende Ausbildungs- und Unterstützungsmission könnte 10.000 amerikanische und auch 1.000
deutsche Soldaten am Hindukusch belassen. 2014 soll Afghanistan auch einen neuen Präsidenten wählen. Hamid Karzai darf
nach zwei Amtszeiten nicht wieder antreten. Die dann stattfindende Wahl wollen die Nato-Staaten nicht mehr wie die letzte absichern. Dann liegt es auch an den jungen Kämpfern Afgha(#-.(-źLJ(LJ1&",LJ(# ),'ŻLJ/ LJ1&",LJ#.LJ/"LJ#'',źLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJƀ
Jochen Stahnke ist Politikredakteur der Frankfurter
Allgemeinen Zeitung.
POLITIK · AFGHANISTAN · POLITIK
Afghanistans
neues
Militär
25
Die »Afghanische Nationalarmee« (ANA) wurde im
Dezember 2002 per Dekret von Präsident Hamid Karzai
gegründet, nachdem sich ihre Vorläuferstreitmacht
während der Herrschaft der Taliban aufgelöst hatte. War
ursprünglich eine Kopfstärke von nur 70.000 Soldaten
vorgesehen, erfordere die militärische Lage im Land laut
Experten deutlich mehr. Die mittlerweile festgelegte –
und erreichte – Truppenstärke der ANA liegt bei 195.000
Mann; sie zu halten, wird jedoch durch eine hohe Rate
von unerlaubter Abwesenheit und Desertionen erschwert,
die 2010 noch bei über 30 Prozent lag.
Bezahlt wird die ANA überwiegend aus dem Budget des
Pentagon, 2012 mit knapp 13 Milliarden US-Dollar; die
Nato zahlt weitere 4 Milliarden US-Dollar. Ein neuer
Rekrut erhält einen Sold von umgerechnet 260 US-Dollar
im Monat.
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POLITIK · ISR AEL/PALÄSTINA · NAHOSTKONFLIKT
Saed, 28, Tadschike
46
POLITIK · ÄGYPTEN · STADTPLANUNG
»Stadtplanung
wird zur urbanen
Akupunktur«
Charles Landry glaubt, dass die Überlebensfähigkeit einer Stadt vom kreativen
Potenzial ihrer Bewohner abhängt
Nun gibt es Masterpläne, entstanden aus einer starren Bürokratie. Auf der anderen Seite zerfasern die Verantwortlichkeiten. Entstehen damit nicht auch Parallelwelten, die
gar nicht zusammenpassen können? Absolut. Ich glaube aber,
dass sie zusammenpassen könnten. Dazu braucht es eine Planungsbehörde eines gewissen Typs, mit einer ganz bestimmten
geistigen Haltung.
Was meinen Sie? Mir geht es darum, wie man plant. Wenn ich
durch eine Megacity gehe, habe ich das Gefühl, dass man eigentlich nicht mehr planen kann, weil alles außer Kontrolle ist. Man
kann aber über Symboliken arbeiten und hoffen, dass sich das
Wesen der Symbole wie ein Virus ausbreitet. Für Kairo hieße das,
zu hinterfragen, womit man den Bewohnern zeigen kann, dass
man ihnen die Stadt zurückgeben möchte. Das heißt auch, dass
Planung neue Aspekte beinhalten muss.
Nämlich? Ikonisches Handeln zu verstehen und es auch zu kommunizieren. Sich zu überlegen, welche Nadelstiche man setzen
muss und wie diese als Katalysatoren funktionieren könnten.
Stadtplanung wird zur urbanen Akupunktur, zu einer ganzheitlichen Behandlung, in der Masterpläne eine generelle Richtung
vorgeben. Die Behandlungsmethoden und die Medikamente müssen aber situationsbedingt verabreicht werden.
Buches »The Creative City: A Toolkit for Urban Innovators«. Der Brite
beschäftigt sich seit mehreren Jahrzehnten mit dem Einfluss von Kultur und Kreativität auf die Entwicklung von Städten.
Wie viel Kreativität steckt im Chaos? Jede Stadt ist eine Art
Labor, in dem Aufgaben und Probleme gelöst werden. Dabei
knallt es in der einen ein wenig lauter als in der anderen. Immer
finden aber Reaktionen statt, die von außen betrachtet als »innovativ« erscheinen. Die Zabbaleen, die »Müllmenschen« in Kairo
zum Beispiel, die durch das Wiederverwerten von Abfällen ihren
Lebensunterhalt sichern. Ist das kreativ?
Viele Ideen, die ein Problem lösen, sind kreativ. Funktioniert diese »informelle Kreativität« wie die der Zabbaleen
zusammen mit klassischer Stadtplanung? Eigentlich nicht.
Die bestehenden Systeme sind dazu zu rigide, darum wird bei uns
versucht, diese Rigidität ein wenig zu lockern. Wir schaffen Rahmenbedingungen, verfolgen ethische und moralische Prinzipien,
gewähren innerhalb dieses Rahmens aber ein Höchstmaß an
Freiraum. Was Kairo angeht, würde ich sagen, die Stadt bräuchte
mehr vom Gegenteil: mehr Effizienz, Administration, Klarheit,
strategische Planung.
In den New Cities rund um Kairo dürfte man sich daher
winzig fühlen. Ja, und wenn es dann noch zwei Stunden dauert,
um den Arbeitsplatz zu erreichen, dann wird das allmählich zu
einer gewissen Art von Hölle. Diese Neustädte sind eigentlich
falschherum geplant, völlig losgelöst vom Kern und ohne dem öffentlichen Transport den nötigen Stellenwert zu geben. Man fühlt
sich an diesen Orten daher nicht nur winzig, diesen Städten fehlt
zudem jegliches Leben. Diese Orte haben keinen »Flow«, können
sich nicht bewegen, man kann dort nicht handeln, nicht kommunizieren. Erst wenn das gewährleistet ist, kommt die Kreativität.
Wie lässt sich dieser Zustand des »Flow« erreichen? Gute
Städte scheinen wenige, aber klare Ziele zu verfolgen. Sie finden
Antworten. Darauf, wie die Bewohner ein städtebauliches Projekt
beurteilen. Welche kulturellen Eigenheiten berücksichtigt wurden. Und welche Werte in der Planung eines neuen Viertels verinnerlicht wurden. Eine Stadt ist auch auf Werten gebaut.
Kann das noch von außen geplant werden? Das ist das Grundproblem: Die meisten Architekten und Planer denken, dass sie die
Stadt verstehen, weil sie in der Lage sind, dreidimensionale Räume zu bearbeiten. Eine Stadt ist aber mehr als ein Raum.
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Interview: Timour Chafik
Foto: Comedia
Charles Landry, 1948 geboren, ist Städteforscher und Autor des
Ist in diesen Masterplänen ihrer Meinung nach genug Kreativität vorhanden? Nein. Die Welt wird in der Planung immer in
einem technischen Sinne erklärt. Sie wird aber emotional verstanden und erfahren, mit den entsprechenden psychologischen
Konsequenzen. Darum werden Mediation und Kommunikation
auch die Schlüsselaufgaben der künftigen Stadtplanung sein. Das
ist etwas anderes als Kartenzeichnen. Eine breite Straße, die man
nicht überqueren kann, vermittelt das Gefühl des Verlorenseins.
Man fühlt sich klein.
48
POLITIK · PALÄSTINA · INTIFADA
Arabischer Frühling,
das Original
Vor 25 Jahren begann die erste Intifada, der Kampf der Palästinenser
für Selbstbestimmung. Das Ergebnis war ernüchternd
VON FABIAN KÖHLER
A
ls Flüchtling geboren. Unter Besatzung
aufgewachsen. Durch eine israelische
Gewehrkugel getötet. Die Geschichte
von Hatem Mohammad Al Sesi klingt
wie eine typische palästinensische Märtyrer-Story.
Das ist sie auch. Am 9. Dezember 1987 demonstrierte der 17-Jährige im Gazastreifen gegenüber einem
israelischen Armeeposten. Am 10. Dezember klebten
Plakate mit seinem Foto auf Dutzenden Hausfassaden.
25 Jahre ist es her, dass Al Sesi zum ersten Toten
der palästinensischen Intifada wurde. Mehr als 1.000
Menschen sollten ihm in den nächsten fünf Jahren folgen. Das Ziel der arabischen Revolutionäre, damals wie
heute: ein Leben in politischer Selbstbestimmung, frei
von der Gewalt und Erniedrigung eines despotischen
Regimes. Doch schon damals erfüllte sich dies nicht.
Die Revolution begann
mit einem Autounfall
Hatem Al Sesi stammte aus dem Flüchtlingslager Jabaliya, bereits zu jener Zeit einer der am dichtesten bevölkerten Orte der Welt. Gefüllt mit perspektivlosen
jungen Menschen, wie gemacht für den Geburtsort des
palästinensischen Frühlings. Knapp sechs Kilometer
außerhalb des Lagers rammte am 8. Dezember 1987 ein
israelischer Militär-LKW zwei palästinensische Taxis.
Vier palästinensische Tagelöhner starben. So belanglos das Ereignis in einem Konflikt mit Zehntausenden
Toten erscheint, so symptomatisch schien es vielen Palästinensern doch für den Besatzungsalltag: 20 Jahre
lang, seit dem Sechstagekrieg 1967, hatte die israelische Besatzung das Leben der Palästinenser im Westjordanland und im Gazastreifen geprägt.
Für Zehntausende Palästinenser war die Arbeit in
der »Zivilverwaltung« – so der offizielle Euphemismus
für die Besatzungsbehörden – oder bei Unternehmen
in Israel die einzige Erwerbsmöglichkeit: ohne rechtliche und soziale Absicherung und für Löhne, die meist
nicht einmal der Hälfte derjenigen israelischer Arbeiter entsprachen.
Hinzu kam die Gewalt der Besatzung: Landenteignungen schafften schon damals Platz für neue israelische Siedlungen. Die Anzahl der Verhaftungen nahm
Mitte der 1980er Jahre so stark zu, dass praktisch jede
palästinensische Familie mindestens ein Mitglied hatte, das im Gefängnis saß. Immer öfter gingen Palästinenser deshalb auf die Straße. Doch immer wieder gelang es der israelischen Armee, die aufkeimenden Proteste in Tränengas zu ersticken. Der Verteidigungsminister und spätere »Mann des Friedens«, Yitzhak
Rabin, galt damals noch als Mann »der eisernen Faust«.
Die Beerdigung der vier palästinensischen Gastarbeiter trieb schnell Tausende Bewohner auf die Straße.
Drei Jugendliche – unter ihnen Hatem Al Sesi – starben
am ersten Tag des Aufstands. Daraufhin ergriffen Demonstrationen den gesamten Gazastreifen. Wenige Tage später flogen auch im Westjordanland Steine und
Molotow-Cocktails auf Armee-Jeeps und Wachtürme.
Die »Intifada – Abschüttelung« hatte begonnen.
Überall gründeten sich lokale Komitees und übernahmen die Koordinierung der Proteste. Regelmäßig
legten Palästinenser im ganzen Land die Arbeit nieder,
verweigerten Steuerzahlungen und boykottierten israelische Waren.
Gebrochene Knochen,
ungebrochene Sympathie
Israel reagierte mit aller Härte auf die Proteste und lieferte so ungewollt das Material, um das Schicksal der
Palästinenser weltweit bekannt zu machen. In den
Abendnachrichten liefen die verwackelten Videoaufnahmen eines BBC-Kameramanns: Zu sehen sind is-
INTIFADA · PALÄSTINA · POLITIK
Links: Ein Erinnerungsplakat für Hatem Al Sesi,
den »ersten Märtyrer«
der Intifada.
Der offene Aufstand der
Palästinenser war nicht
zuletzt auch eine Propagandaschlacht, die in
zahllosen Flugschriften
und auf Postern geführt
wurde. »Die Intifada geht
weiter«, steht auf dem
Plakat unten.
Vor 25 Jahren machten Palästinenser
mit ihrer Rebellion gegen die israelische Besatzung auf sich aufmerksam.
Doch statt Demokratie bekamen sie
neue Despoten. Nicht die einzige Parallele zwischen der Intifada und dem
Arabischen Frühling.
49
50
POLITIK · PALÄSTINA · INTIFADA
Steinewerfende Jugendliche waren nicht nur beliebte Motive in den westlichen Abendnachrichten,
auch die Palästinenser
selbst und ihre Sympathisanten machten sich die
Symbolik des vermummten, unzulänglich bewaffneten Straßenkämpfers zu
eigen.
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»Der Staat liegt in Steinwurfweite – vorwärts, ihr Helden
der Intifada«, heißt es auf dem
Plakat rechts oben. PLO-Chef
Yassir Arafat war von der Erhebung ebenso überrascht wie
der Rest der Welt, setzte sich
aber bald an die Spitze des
Aufstandes.
INTIFADA · PALÄSTINA · POLITIK
raelische Soldaten, die mit Felsbrocken versuchen,
zwei palästinensischen Gefangenen die Arme zu brechen. Zuvor hatte Rabin seine Armee angewiesen, den
Demonstranten die »Knochen zu brechen«. Mit gebrochener Hand könne man »eineinhalb Monate lang keine Steine mehr werfen«, rechtfertigte ein israelischer
Regierungssprecher die Anordnung.
Fotos: The Palestine Poster Project Archives
Flugblätter statt Facebook
Das alttestamentarische Bild von »David gegen Goliath« diente Medien schon seit der Gründung Israels
zur Illustration der Machtverhältnisse im Nahen Osten. Doch erstmals übernahm nun Israel die Rolle des
übermächtigen Kolosses, der sich dem mutigen Steinewerfer gegenübersah. In westlichen Ländern wurden
die schwarz-weiß karierte Kuffiya und palästinensische Nationalfarben zum Modetrend und die Intifada
ein internationales Medienereignis.
Wie 23 Jahre später die Revolutionäre in Ägypten
und Tunesien bedienten sich die Palästinenser auch damals der Kommunikation über informelle Kanäle: Neben »Märtyrerplakaten« überschwemmten ständig
neue Flugblätter die Straßen und versuchten den anfangs spontanen Protesten eine strategische Dynamik
zu geben. Eine Woche nach dem Autounfall erschien
das erste Flugblatt. Von der »glorreichen Intifada« war
hier erstmals auf einem unscheinbaren Zettel der Muslimbruderschaft die Rede. Wenige Wochen später unterzeichnete diese Gruppe ihre Flugblätter mit einem
bis dahin unbekannten Akronym: »h–m–s« – eine Ab-
kürzung für »Bewegung des islamischen Widerstands«
und zugleich das arabische Wort für »Eifer«.
Unter dem Namen »Hamas« und unter der Führung des im Rollstuhl sitzenden Scheichs Ahmed Yassin, der Jahre später von einem israelischen Helikopter
aus getötet wurde, drängte die bis dahin vor allem als
Wohlfahrtsorganisation wahrgenommene und für ihre
revolutionäre Apathie verspottete Muslimbruderschaft
nun darauf, die Führerschaft im Widerstand zu übernehmen. »Den Traum von Frieden« erreiche man nicht
durch »internationale Konferenzen mit dem zionistischen Gebilde«, schrieb sie auf einem ihrer Flugblätter.
Damit griff die islamistische Organisation die Befürchtung vieler Palästinenser auf, die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) könne die Opfer der Aufständischen am Verhandlungstisch vergeblich machen.
Fünf Jahre dauerte der Aufstand der Palästinenser, bis er schließlich infolge genau solch einer Konferenz für beendet erklärt wurde. Mehr als tausend Palästinenser starben, allein bis zu 30.000 Kinder, so die
Kinderrechtsorganisation Save the Children, wurden
verwundet. 120.000 Palästinenser verschwanden in israelischen Gefängnissen. Geheimverhandlungen zwischen Israel und der PLO führten schließlich zur Unterzeichnung der sogenannten »Prinzipienerklärung
über die vorübergehende Selbstverwaltung« durch
Yitzhak Rabin und PLO-Chef Yassir Arafat.
Noch ein Despot mehr
Als »Sieg der Intifada« feiert dieser am 1. Juli 1994 den
Abzug der israelischen Armee aus dem und seinen Einzug in den Gazastreifen. Auch im Flüchtlingslager Jabaliya jubelten Palästinenser, als Arafat vom »ersten
freien palästinensischen Boden« redete und das Versprechen eines Palästinas der »Demokratie, Freiheit
und Gleichheit« abgab.
In den Jahren darauf wurden wieder Tausende Palästinenser aus politischen Gründen inhaftiert. Doch
dieses Mal verschwanden sie in den Zellen der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA), die im Zuge des
Oslo-Prozesses gegründet worden war. Immer wieder
sorgten Skandale um Folter und Korruption innerhalb
der PA für Ernüchterung und erschütterten den Glauben der Palästinenser an ihre Führung.
Bis heute regiert die Autonomiebehörde mit präsidentiellen Dekreten von Arafats Nachfolger Mahmud
Abbas am palästinensischen Parlament, nicht aber an
den Vorgaben der israelischen Militärverwaltung vorbei. Statt die israelische Besatzung »abzuschütteln«,
bekamen die Palästinenser ein zweites despotisches
Regime hinzu. 18 Jahre sollte es dauern – 18 Jahre,
nachdem der Tod von Hatem Al Sesi den ersten Arabischen Frühling ausgelöst hatte –, bis die Bewohner des
Flüchtlingslagers Jabaliya am 26. Januar 2006 die
Möglichkeit zu demokratischen Wahlen erhielten. Für
die meisten von ihnen verblieb damals wie heute nur ei(LJ1Y"&,LJ&.,(.#0żLJ#LJ-&'#-.(źLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJƀ
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WIRTSCHAFT · BILANZ
MIT DER GELIEBTEN
DURCHGEBRANNT
Der US-amerikanische Mineralölkonzern
ExxonMobil kappt seine verbliebenen Bande mit Bagdad und kündigte an, seine milliardenschwere Beteiligung am irakischen
Ölfest »West Qurna« nahe Basra verkaufen
zu wollen. In Zukunft will sich das Unternehmen allein auf seine Konzessionen in
der autonomen nordirakischen Provinz
Kurdistan konzentrieren.
Zwischen beiden Landesteilen waren
in den vergangenen Monaten zahlreiche
Konflikte um die Verteilung der Ölressourcen ausgebrochen, die trotz wiederholter
Verhandlungen nicht beigelegt werden
konnten. Kurdistans Ölminister Ashti Hawrami drückte gegenüber der Financial
Times sein Bedauern darüber aus, dass Firmen gegenwärtig nicht im gesamten Land
gleichzeitig Geschäfte machen könnten.
Tatsächlich scheint in seiner Administration aber die Schadenfreude zu überwiegen. Noch im April sagte Kurdistans Präsident Massoud Barzani der Nachrichtenagentur AP, eine Exxon-Präsenz sei so viel
wert wie »zehn US-Divisionen«.
21 MILLIARDEN $ NEUE SCHULDEN
RETTUNGSSCHIRM
FÜR
JORDANIEN
?
Mit Inflation und steigenden Treibstoffpreisen bei gleichzeitig sinkenden Steuereinnahmen haben viele der arabischen
Staaten zu kämpfen. So dreht sich auch bei
den aktuellen Beratungen für den jordanischen Staatshaushalt 2013 alles um die
Frage, wo man den Rotstift ansetzt: Die
Ankündigung, Benzinsubventionen im
Wert von 1,1 Milliarden US-Dollar zu streichen, haben Ende November bereits zu wütenden Protesten in der Hauptstadt geführt. Ein im August vom Internationalen
Währungsfonds bereitgestellter Zwei-Milliarden-Dollar-Kredit reicht kaum aus, um
die Löcher im Etat zu stopfen, die entstanden, nachdem Ägypten seine preiswerten
Gasausfuhren wegen der gespannten Sicherheitslage auf dem Sinai drosseln muss-
te. In diesem Jahr musste das Königreich
bereits fast 21 Milliarden Dollar neue
Schulden aufnehmen.
Die Kommentarspalten der arabischen
Zeitungen fordern nun ein Eingreifen der
Golfstaaten, auch um die Versorgung der
tausenden syrischen Flüchtlinge in Jordanien zu verbessern. Bislang erhielt Amman jedoch nur Hilfsangebote aus dem
Iran: Der iranische Botschafter in Jordanien, Mustafa Zadeh, bot eine kostenlose Versorgung mit Öl über die nächsten 30 Jahre
an, berichtet die Tageszeitung Al-Hayat. Im
Gegenzug sei man an »Vertragsabschlüssen
mit Blick auf den Pilgertourismus interessiert«. Ein Sprecher der jordanischen Regierung reagierte reserviert und nannte
das Angebot »ungewöhnlich«.
PIRATEN MACHEN WEITER URLAUB
Die EU-Antipirateriemission »Atalanta«
vor der Küste Somalias bleibt auf Erfolgskurs. In den Vorjahren hatte mit Ende der
Regenzeit im November auch die Aktivität
der Kaperer wieder zugenommen – dies ist
bislang ausgeblieben. 2011 hatte insbesondere die Zahl der privaten Sicherheitsteams
auf Frachtschiffen zugenommen, was laut
EU-Marinestabschef Peter Olive entscheidenden Einfluss auf das Gelingen des Einsatzes hat. Viele der beteiligten Nationen
sind inzwischen auch dazu übergegangen,
Soldaten an Reedereien zu vermieten. Da
nie mehr als sieben Schiffe gleichzeitig im
Einsatz sind, kann nur so das riesige Seegebiet abgedeckt werden. Verzeichnete die
EU im vergangenen Jahr 176 Angriffe, waren es bis Anfang Dezember lediglich 34.
Foto: Royal Navy / Crown Copyright
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BILANZ · WIRTSCHAFT
ERBAULICHE AUSSICHTEN
UAE
KATAR
GRÖSSTE WACHSTUMSCHANCEN AUF DER ARABISCHEN HALBINSEL NACH SEKTOREN
38,8%
72,3%
ENERGIE
Quellen der Statistiken: Pinsent Masons
ZUGÄNGLICHSTER MARKT DER MENA-REGION
Die Baubranche der arabischen Halbinsel hat ein durchschnittliches Jahr hinter sich.
Während die Auswirkungen der Finanzkrise 2009 langsam überwunden sind, verängstigten Proteste und politische Instabilität viele Investoren. Das kommende Jahr soll besser werden. Eine Branchenumfrage der britischen Wirtschaftskanzlei Pinsent Masons
ergab aber auch Ungewöhnliches: So glaubten 90 Prozent der Befragten, dass Katar nicht
über die nötige Infrastruktur verfügt, um seine ehrgeizigen Bauprojekte erfolgreich
durchzuziehen – auch die Attraktivität des Standorts Abu Dhabi schätzten 83 Prozent
negativ ein, wohingegen Dubai an Beliebtheit wieder zulegt. Der größte Verlierer sei in
diesem Jahr aber eindeutig Bahrain.
TRANSPORT
51,1%
MÜLLBESEITIGUNG
21,3%
WOHNUNGEN
19,1%
ÖFFENTLICHE GEBÄUDE
21,3%
WASSER & ABWASSER
34%
iTUNES IM NAHEN OSTEN
DIE HEIDEN
MISSIONIEREN
Seit dem 4. Dezember gibt es Apples digitale Vertriebsplattform iTunes nun auch offiziell in weiten Teilen des Nahen Ostens. Bislang konnten Nutzer etwa in Israel, Ägypten oder Saudi-Arabien das Programm zwar
installieren, nicht jedoch auf das Musikangebot zugreifen - was auch daran liegt, dass
Apple für jeden Markt ein eigenes Preismodell entwickelt und Vertriebsrechte einholen muss. Viele Softwarehersteller zögern
noch immer, in die MENA-Region zu inves-
tieren, da illegal erstellte Kopien vorherrschen und nur ein entsprechend geringer
Markt für teure Originalprodukte besteht.
Im Umkehrschluss bleibt den meisten Kunden aufgrund fehlender Vertriebsnetze
auch nur der Griff zum illegalen Download,
zumal die Rechtslage in vielen Staaten unklar ist. Somit möchte Apple mit seiner iTunes-Expansion auch Mentalitäten ändern.
Gelingt es den Kaliforniern, öffnet sich ihnen ein völlig unerschlossener Markt.
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95,7%
OMAN
46,8%
SAUDI-ARABIEN
10,6%
ÄGYPTEN
8,5%
KUWAIT
6,4%
IRAK
2,1%
GRÖSSTE WACHSTUMSCHANCEN / LÄNDER
SAUDI-ARABIEN
47%
KATAR
22%
VAE
15%
IRAK
6%
ANDERE
10%
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WIRTSCHAFT · K ATAR · IMMOBILIEN
Hochdruck
im
Treibhaus
Katar pflegt ein Image als regionaler Vorreiter beim Thema
Nachhaltigkeit und Umweltschutz. Verwirklicht hat es noch nicht
allzu viel von seinen hehren Plänen. Nun will sich die Bauindustrie
an die Spitze der Bewegung setzen
VON CHRISTOPH DREYER
IMMOBILIEN · K ATAR · WIRTSCHAFT
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UN-Klimakonferenz beherbergte und damit die Aufmerksamkeit der weltweiten Umweltschutz-Community
auf sich zog, hatte Katar ein objektives Problem. Ungeachtet aller Klimaschutzrhetorik – einschließlich des
kühnen Versprechens, ausgerechnet in der Golfregion in
zehn Jahren die erste CO2-neutrale Fußball-WM abzuhalten – gibt das reiche Emirat bei den harten Klimafakten bislang kein gutes Bild ab: In der weltweiten Rangliste für den größten »ökologischen Fußabdruck«, die die
Umweltorganisation WWF alle zwei Jahre veröffentlicht,
ist das Land 2012 wieder auf den ersten Platz vorgerückt.
Dabei mangelt es Katar keineswegs an originellen
Ideen. Der Prototyp eines mit Solarenergie gekühlten
Fußballstadions ist so ein Fall, die prominent im Sheraton-Park an der Corniche von Doha platzierten Leihfahrräder ein anderer. Beide machen sich stets gut in Powerpoint-Präsentationen über eine grüne Zukunft; doch in
der staubigen Realität Dohas setzen sie weitgehend unbeachtet und vor allem ungenutzt eine trübe Patina von
Wüstensand an.
Was sich vor Ort ganz praktisch beim Thema Nachhaltigkeit bewegt, spielt meist weit unterhalb der Ebene
prestigeträchtiger Großprojekte – und könnte längerfristig doch zu einem grundlegenden Wandel beitragen. Ein
Beispiel dafür ist das wachsende Interesse der Baubranche am Thema Umwelt- und Klimaschutz. Den institutionellen Rahmen dafür bildet der »Rat für Grünes Bauen«
(Qatar Green Building Council, QGBC). Der 2009 gegründete Zusammenschluss leistet im Wesentlichen
unspektakuläre Grundlagenarbeit. In Fachvorträgen
informiert er über Möglichkeiten zum Wassersparen,
den Umgang mit kompostierbarem Abfall oder das Pro
und Contra wiederverwertbarer Baustoffe. Das Ziel:
nachhaltige Ideen ins Gespräch zu bringen, zu informieren, Interessierte zu vernetzen und ihnen mit Fachwissen beratend zur Seite zu stehen.
Die meisten Baufirmen in Katar
sind halbstaatlich. Man kann
sie also zwingen, nachhaltig zu bauen
Doch die Ambitionen der Industrievertreter reichen weiter. Um überhaupt ein Bewusstsein für Umwelt- und
Nachhaltigkeitsthemen in der Öffentlichkeit zu schaffen,
gehen sie bewusst an die Basis. Bei regelmäßigen Schulbesuchen ermutigen sie die Kinder etwa, zu Hause und in
der Schule den Wasser- und Stromverbrauch zu messen.
»Wir wenden uns an die Kinder, um durch sie auch die
Gewohnheiten der Erwachsenen zu ändern«, sagt Mohamed Jaber, der den Bildungsausschuss des QGBC leitet.
Und das ist dringend nötig. »Im Vergleich zu Europa
hat Katar in Umweltfragen noch viel nachzuholen«,
räumt Alex Amato ein, bis vor wenigen Monaten Partner
bei der Bau-Consultingfirma Davis Langdon Qatar und
jetzt hauptamtlicher Nachhaltigkeitschef des QGBC.
»Aber sie sind dabei. Und sie holen nicht nur auf, sondern
haben in Teilen die Chance, weltweit führend zu werden.«
Gerade den unvorteilhaft hohen Kohlendioxid-Ausstoß Katars führt Amato als gutes Beispiel dafür an, wie
sich mit relativ geringem Aufwand das Bewusstsein für
Klimafragen in der Wirtschaft schärfen ließe. Einerseits,
so argumentiert der passionierte Experte für Ökobilanzen, benachteiligten die gängigen CO2-Rankings Katar,
weil sie nicht nur den Konsum, sondern auch die Produktion eines Landes berücksichtigten – eine fatale Bewertungsmethode für einen Staat, der einen Großteil seines
Einkommens aus dem Erdgasexport erzielt. Deshalb
wirbt Amato dafür, auf eine Berechnungsmethode umzustellen, die den Emissionsanteil der Exporte herausrechnet (dafür allerdings auch den der Importe einbezieht), wodurch Katar auf einen Schlag seinen Spitzenplatz unter den CO2-Emittenten verlieren würde.
Durch diesen statistischen Kniff, so Amato, würde
nämlich der Blick darauf gelenkt, an welchen Stellen sich
Katar tatsächlich einen überproportionalen Ausstoß an
Treibhausgasen leistet. »Wie groß ist zum Beispiel der
CO2-Fußbdruck der ganzen Nahrungsmittel, die nach Katar eingeflogen werden? Wie groß ist der CO2-Fußabdruck
all der Baustoffe für Katars schnell expandierendes Infrastrukturprogramm?«, fragt er. »Werden das die wahren
Problemfelder sein, wenn das CO2 der Öl- und Gasproduktion für den Export aus der nationalen Bilanz herausfällt? Im Moment wissen wir es einfach nicht.« Erst mit
diesem Wissen, betont Amato, ließen sich aber realistische Ziele zur Emissionsreduzierung festlegen – auch um
vermeidbare Energiekosten zu sparen und damit letztlich
im ureigenen wirtschaftlichen Interesse des Landes.
Speziell in der Bauindustrie, so nun das Argument
des QGBC-Funktionärs, könnten selbst kleine Unterschiede in den Klimaeigenschaften der verwendeten Materialien große Wirkung auf den Ausstoß an Treibhausgasen entfalten – wegen der langen Lebensdauer von
Bauprojekten, aber auch weil speziell am Golf oft in großen Dimensionen gebaut wird. Als gutes Anwendungsbeispiel führt er die zunehmende Durchsetzung des katarischen Zertifizierungssystem QSAS an, das eine differenzierte Bewertung von Bauprojekten nach ihrer
Klima- und Umweltverträglichkeit erlaubt.
Bis jetzt ist die Anwendung des Systems zwar freiwillig – mit der Ausnahme von Wasser- und Energieverbrauch bestimmter Regierungsgebäude und Bauten über
einer bestimmten Größe. Bis zum Jahr 2015, zeigt sich
Amato überzeugt, sei aber damit zu rechnen, dass die
QSAS-Zertifizierung schrittweise verbindlich vorgeschrieben werde. Darüber hinaus versucht Katar zunehmend, die mittlerweile in GSAS (Global Sustainability Assessment System) umbenannte Zertifizierung auch über
die eigenen Grenzen hinaus als Standard zu etablieren.
»Nehmen Sie nur einmal die klare und unzweideutige Botschaft, die das an Hersteller von Baustoffen und
-produkten sendet: dass die Nachhaltigkeitseigenschaften ihrer Materialien und Produkte als CO2-Äquivalent
gemessen werden und dass dies bei den Spezifikationen
für jedes Projekt berücksichtigt wird«, sagt Amato. Als
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WIRTSCHAFT · K ATAR · IMMOBILIEN
Voraussetzung werde dazu erst einmal nur ein
Benchmarking-System benötigt, das jedem in der Branche die Klimaeigenschaften verschiedener Produkte aufzeige. »Das wird ausreichen, um die Hersteller zur Verbesserung ihrer Produkte zu bewegen.«
Für denkbar hält er längerfristig sogar die Einführung eines Emissionsrechtehandels, bei dem Unternehmen mit einem bestimmten CO2-Budget haushalten
müssten – was für die Golfregion einer kleinen Revolution gleichkäme. »Es gibt die Chance, in einigen Dingen
Vorreiter zu werden«, sagt Amato mit Blick auf die Rolle
Katars bei solchen Neuerungen. Als wenig erfolgversprechend schätzt er dagegen negative Anreize wie Strafzahlungen bei Überschreitung bestimmter Grenzwerte ein:
»Man muss akzeptieren, dass dies eine ganz andere Gesellschaft als in Europa oder Kanada ist. Man macht das
mit anderen Mitteln.« Positive wirtschaftliche Anreize
seien dagegen unentbehrlich, um den zur Durchsetzung
von Nachhaltigkeitsstandards nötigen Kulturwandel zu
erreichen. »Man muss die Unternehmen dazu bringen,
ein Geschäft daraus zu machen.«
Lee Allen ist einer derjenigen, die diesen Schritt bereits vollzogen haben. Ausgebildet ist er als Landschaftsarchitekt, aber seine Abteilung bei der Architektur- und
Bauberatungsfirma Atkins beschäftigt sich zunehmend
mit Nachhaltigkeitsfragen. »Das ist dabei, unser Kerngeschäft zu werden«, sagt Allen. Beim Green Building
Council steht er dem Interessenverband für »grüne Infrastruktur« vor – worunter erst einmal alles zu verstehen ist, was außerhalb von Gebäuden liegt und geeignet
ist, deren negative Umwelteffekte auszugleichen: Parkplätze, Straßen, Parks, Plätze, Naturraum. Den Grundgedanken erläutert Allen so: »Was das Gebäude wegnimmt,
gibt die Landschaft – die grüne Infrastruktur – zurück.«
Eine fatale Bewertungsmethode für
einen Staat, der sein Einkommen aus
dem Gasexport erzielt
Als einfaches Beispiel dafür, wie der bewusste Einsatz
von grüner Infrastruktur zu nachhaltigen Lösungen
führen kann, nennt er den Umgang mit Regenwasser.
Traditionell wird es durch Gullys ins Abwassersystem
und letztlich hinaus ins Meer geleitet – oft unbehandelt
und womöglich sogar unter Einsatz kostbarer Energie
für große Pumpanlagen.
»Wenn man nun die Straßen als grüne Infrastruktur
und nicht als schwere Infrastruktur behandelt, kann
man das Regenwasser in der Straßenmitte oder auf einem Parkplatz managen, indem man es ihm ermöglicht
zu versickern. Man kann es sogar einer Art Bio-Aufbereitung oder -Filterung unterziehen und natürliche Systeme nutzen, die die Qualität des Wassers verbessern, bevor es zurück ins Grundwasser läuft.« Das bringt gleich
mehrfachen Nutzen: Weil das Regenwasser einer nützlichen Verwendung zugeführt wird, muss weniger Meerwasser aufbereitet werden. Entsprechend weniger Ener-
gie wird verbraucht, es entstehen keine Klimagase, und
im Idealfall profitieren von dem Wasser sogar Lebensräume für Pflanzen und Tiere.
Die Schlüsselerkenntnis für solche Lösungen besteht darin, dass eine Infrastruktur mehr als nur eine
Verwendung haben kann: Ein Straßenbelag kann durchlässig sein und das Wasser in den Boden sickern lassen.
Eine Gebäudehaut kann mit Solarzellen belegt sein und
damit zugleich die Sonnen- und Hitzeeinstrahlung im
Innern reduzieren. Durch Versickerung gefiltertes
Brauchwasser kann Solarzellen vom Wüstensand reinigen und kühlen.
Längst werden solche Erkenntnisse auch in der Praxis angewandt. Atkins etwa arbeite in öffentlichem Auftrag daran, die Seitenstreifen der Straßen in Katar für
alternative Fortbewegungsarten zu nutzen, berichtet
Allen. Ein wichtiger Schritt dabei sei es, für Schatten zu
sorgen, um trotz des heißen Klimas Bewegung im Freien
etwa für Fußgänger erträglich zu machen.
Ein anderes Beispiel ist der gezielte Ausbau der Radwege in Doha. Schon jetzt gibt es laut Allen 50 Kilometer
davon, auch wenn es derzeit noch an Verbindungen zwischen den Teilstücken mangele. Für alle neuen Straßenprojekte seien begleitende Radwege überdies zwingend
vorgeschrieben. Große Hoffnungen setzt der Planer in
diesem Zusammenhang auf Fahrräder mit elektrischem
Hilfsmotor: Sie ermöglichen das Radeln auch bei heißen
Temperaturen und sorgen zudem durch den Fahrtwind
für Kühlung. Zur grünen Infrastruktur gehöre außerdem,
den Übergang zwischen verschiedenen Verkehrsmitteln
zu ermöglichen – etwa durch Fahrradparkplätze und Radverleihe an den Bahnhöfen der künftigen Metro in Doha.
Dass es in Katar an Bewusstsein für die Klimaproblematik mangele, lässt Allen jedenfalls nicht gelten: Obwohl es bislang keine gesetzliche Vorschrift zum nachhaltigen Bauen gebe, sei es an vielen Stellen längst Praxis.
Auch in den Baubeschreibungen seien immer öfter Elemente nachhaltiger Gestaltung vorgesehen. Zudem spiele
eine Eigenheit des katarischen Markts dem politisch gewünschten Wandel in die Hände: »Die meisten Baufirmen hier sind halbstaatlich – was bedeutet, dass man sie
automatisch dazu bringen kann, nachhaltig zu bauen.«
Selbst der Finanzdistrikt West Bay mit seinen planlos wuchernden Hochhäusern, der bislang eher notorisch
für eine unnachhaltige Bauweise stand, hält Allen nicht
für einen hoffnungslosen Fall, was den intelligenten Einsatz grüner Infrastruktur angeht. »Ich weiß, dass es geschehen wird und schon in Arbeit ist«, sagt er. Entscheidend sei, was zwischen den Gebäuden geschehe: welche
Verkehrsinfrastruktur es dort gebe, wie der öffentliche
Raum genutzt werde, wie viel davon für Autospuren zur
Verfügung stehe.
»Weil Katar die Fußball-WM hat, musste es sich festlegen. Das Land ist in der einzigartigen Lage, nicht von
Etatschwankungen beeinflusst zu werden, und es hat einen Plan«, sagt Allen. Und wagt eine kühne Prognose: »Ich
halte es für möglich, dass Doha innerhalb der kommenden
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WIRTSCHAFT · GOLFSTA ATEN/ÄGYPTEN · ISLAMISCHE FINANZEN
Schatz der Gläubigen
Islamische Finanzinstitutionen wollen modernes Anlagemanagement für jahrhundertealte religiöse Stiftungen, die Awqaf,
einführen. Der Plan: bisher kaum genutztes Kapital anzapfen –
in einer Zeit, in der die Forderungen nach Transparenz und
öffentlicher Überwachung immer lauter werden
VON FREDERIK RICHTER
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ISLAMISCHE FINANZEN · GOLFSTA ATEN/ÄGYPTEN · WIRTSCHAFT
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angeschlagene Finanzindustrie der Golfstaaten einer uralten islamischen Institution zu: den awqaf. Muslime spenden schon seit
Jahrhunderten solchen wohltätigen Stiftungen Geld und Land,
auf dem dann Moscheen oder Krankenhäuser entstanden sind. In
alten Zeiten haben sie Brunnen gebohrt, um Nachbarn und Reisenden eine lebensrettende Erfrischung schenken zu können.
Awqaf (der Plural des arabischen Wortes waqf ) sind islamische,
fromme Stiftungen, die solches wohltätige Kapital sammeln. Ihr
Verwendungszweck darf nicht verändert werden, ganz ähnlich
wie bei Stiftungen im westlichen Teil der Welt. Auch können sie
als Familien-Treuhandfonds fungieren.
Aber anders als beispielsweise die Gründungsschenkung der
Harvard University oder die Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung,
die ihr Kapital in der Absicht investieren, ein jährliches Einkommen für Projekte zu generieren, haben Awqaf in der Golfregion
die meisten ihrer Einlagen in Immobilien gesteckt: eine ausgefeilte Anlagenwirtschaft ist meistens nicht vorhanden. In Ägypten,
dessen autoritäre Regierung nach dem Putsch von 1952 wohltätige Aktivitäten unter ihre Kontrolle gebracht hat, sind Vermögen
im Wert von mehreren Milliarden US-Dollar wegen des jahrzehntelangen Missmanagements durch Bürokraten verfallen.
Einige islamische Bankiers wenden sich nun den Awqaf zu, um in
diesem Sektor endlich einen professionellen Umgang mit den
Einlagen einzuführen. John Sandwick, Gründer und Manager der
Safa Investment aus Genf, hat ein Scharia-gemäßes Investitionsuniversum von ungefähr 50 bis 55 Milliarden Dollar Umfang
identifiziert und analysiert. Das ruht still in allen möglichen Anlagearten: Die Manager lagern im Normalfall einen großen Teil
ihrer Investitionen in festverzinslichen Anlagen und Bargeld sowie nur einen kleinen Anteil in Alternativen wie Immobilien – eine Aufteilung, die von vielen Investoren vom Golf bestenfalls einmal umgekehrt wurde, wenn sie das meiste ihres Geldes in den
Immobilien- und den örtlichen Aktienmarkt steckten.
Sandwick plant, die neuesten Werkzeuge des konventionellen
Anlagemanagements zu nutzen, wie etwa das »gain to pain ratio«-Prinzip, um islamische Anlagen zu managen. »Software zur
Portfolio-Optimierung hilft uns, Anlagen zuzuweisen. Niemand
zuvor hat diese Analysetiefe auf islamische Anlagen angewandt«,
sagt Sandwick, der sich mit dem saudischen Dienstleister Wafa
Investments zusammengetan hat, und fügt hinzu: »Das ist eigentlich ganz normal für Versicherungen, Stiftungen oder Pensionsfonds – aber niemand hat das schon einmal im islamischen Raum
getan.«
Schätzungen über die genaue Marktgröße sind schwer zu finden. USAID, die amerikanische Entwicklungshilfeagentur, geht
davon aus, dass Muslime weltweit zwischen 250 Milliarden und 1
Billion Dollar jährlich spenden. Andere Schätzungen beziffern
den Wert der Awqaf allein in Saudi-Arabien auf 1 Billion Saudi-Rial, umgerechnet 266 Milliarden Dollar. Sich um diesen riesigen
Markt zu kümmern, betrachten einige als Hoffnung für die strau-
»Software zur Portfolio-Optimierung
hilft uns, Anlagen zuzuweisen. Niemand
zuvor hat diese Analysetiefe auf
islamische Anlagen angewandt«
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BILLION SAUDI-RIAL (RUND 266 MRD. US-DOLLAR)
AUF DIESEN WERT WERDEN DIE AWQAF IN SAUDIARABIEN GESCHÄTZT
chelnde islamische Finanzindustrie, die sich nach der globalen
Finanzkrise noch nicht wieder aufgerappelt hat.
Die Investitionshäuser am Golf wurden von dem regionalen
Immobiliencrash 2009 schwer getroffen, nachdem sie zwischen
2002 und 2008 von Vorauszahlungen für Immobiliengeschäfte
gelebt, doch keine kleineren, aber nachhaltigeren Einkommensströme entwickelt hatten. Heute sind viele aus dem Geschäft ausgestiegen, und ihr Kapital hat sich in Luft aufgelöst, während eine
Handvoll Investoren in Saudi-Arabien ihre Lizenzen einfach den
Regulierungsbehörden zurückgegeben haben.
Daneben sind die Bankengroßmärkte am Golf beherrscht von
den islamischen Abteilungen der globalen konventionellen Geldhäuser, deren größere Kapitalbasen ihren Kunden auf dem Kredit- und Anleihemarkt geringere Leihzinsen bescheren. Lokale
Häuser können hier kaum mithalten.
Dabei spielt die jüngste Modernisierung und Institutionalisierung von Awqaf in Saudi-Arabien der Industrie in die Hände.
In der Dekade seit den Anschlägen des 11. September 2001, die die
Terrorismusfinanzierung ins Scheinwerferlicht gezogen haben,
hat Riad alle Awqaf gezwungen, sich registrieren zu lassen, um
die Geldflüsse von islamischen wohltätigen Einrichtungen besser
überwachen zu können.
»Vor dem 11. September war immer mal wieder ein Fremder
gekommen und hatte sich an meinen Kunden, einen reichen
Scheich, gewandt«, erinnert sich Sandwick. »Ein paar Minuten
später würde der Fremde ein paar Tausend Rial aus der Tasche
ziehen und seinem Gegenüber in die Hand drücken. Ich fragte
dann, wer denn das gewesen wäre. ›Nur jemand, der Geld für palästinensische Kinder sammelt oder für Moscheen in Indonesien‹, würde mir der Scheich dann sagen. Wenn diese Leute mal
etwas geben, dann geben sie richtig.«
Heute gehören zu den saudischen Awqaf einige der größten
philanthropischen Stiftungen der Welt, wie etwa die »König-Faisal-Stiftung«, die Schenkung der »King Abdullah University for
Science and Technology« oder der »Safa Trust«, der von der Familie von Sulaiman bin Abdul Aziz Al-Rajhi gestützt wird, dem
Gründer von Al-Rajhi, der größten islamischen Bank am Golf.
Es gibt aber auch noch eine Unzahl kleinerer Awqaf in Saudi-Arabien, deren Investitionsverhalten die Raffinesse abgeht.
»Das Fehlen eines einheitlichen Berichtswesens und das Scheitern vieler Awqaf-Organisationen daran, Finanzberichte aufzustellen, schränkt ihre Rechenschaftsfähigkeit gegenüber Gründern, Begünstigten und anderen Teilhabern ein«, befand 2011
Mohamad Hisham Dafterdar, ein Berater des Investmenthauses
Bahraini Islamic, in einer Stellungnahme für die bessere Regulierung des Sektors.
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0,2
WIRTSCHAFT · GOLFSTA ATEN/ÄGYPTEN · ISLAMISCHE FINANZEN
»Niemand hat eine Ahnung, welche
Besitzstände das Awqaf-Ministerium hat
– und dahinter steckt Absicht«
PROZENT MAGERES JÄHRLICHES ZINSEINKOMMEN ERWIRTSCHAFTEN ANGEBLICH ÄGYPTENS ISLAMISCHE SCHENKUNGEN
John Sandwick meint, dass neben einer diversifizierten Anlagenverteilung jenseits von Immobilien islamisches Assetmanagement auch höhere Einkünfte erzielen würde als eine konventionelle Anlagenverwaltung, die herkömmliche Banken wie Julius
Bär oder Credit Suisse anbieten. Westliche Finanzinstitute seien
häufig die einzigen, an die sich wohlhabende Muslime wenden
können, die nicht mehr in Immobilien und den regionalen Aktienmarkt anlegen möchten. Aber sie böten meist Derivat-basierte
Produkte an, die grundsätzlich mit islamischem Recht unvereinbar sind, das Zinsen und Spekulation verbietet. »Nach der Lehmann-Pleite brauchten konventionelle Banken 26 Monate, um
sich zu erholen, und schrieben tiefrote Zahlen. Safa Investment
benötigte nur 9 Monate bei halb so großen Verlusten. Wenn die
Märkte zusammenbrechen, fallen islamische Märkte nicht so
tief«, sagt Safa-Chef Sankwick.
Vorhandene Daten zeigen aber tatsächlich keinen vollständigen Kreislauf von »boom and bust«, sie spiegeln nur die globale
Finanzkrise und den folgenden Wirtschaftsabschwung wider, der
bislang noch nicht überwunden wurde. In diesem Zeitraum haben Bankpapiere und hochverschuldete Unternehmen, in die islamische Geldgeber nicht investieren, besonders stark gelitten,
was für eine natürliche Verzerrung der Daten zugunsten islamischer Investitionen sorgt. Im nächsten Aufschwung allerdings
könnten ebendiese Investitionen größere Profite erzielen als andere – wenn auch strenggläubige islamische Investoren auf einen
Teil der Gewinne wieder verzichten werden.
Ein weiterer großer Markt der Awfaq-Industrie ist Ägypten.
Dort wird die Revolution des letzten Jahres höchstwahrscheinlich
der behördlichen Kontrolle der Stiftungsanlagen ein Ende bereiten. Staatliche Versuche, alle Awqaf unter Kontrolle zu bringen,
gehen bis in die Zeit von Muhammad Ali zurück, der das Land in
der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts beherrschte. Die Generäle,
die 1952 die Macht übernahmen, verstärkten noch den Klammergriff des Staates um die islamischen Stiftungen Ägyptens.
Deren Anlagen wurden jahrzehntelang dank Misswirtschaft
und Korruption – Markenzeichen der Militärherrschaft – extrem
vernachlässigt, bis Hosni Mubarak durch den Aufstand des letzten Jahres gestürzt wurde. Assets, die vom Ägyptischen Ministerium für die Awqaf verwaltet werden, schätzt man auf Hunderttausende Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche bis hin zu
Grund und Boden, auf dem Hotels in Kairos Stadtzentrum stehen. Beobachter sagen, das Ministerium besitze vermutlich immer noch beste Immobilienstücke am Bosporus und auf den griechischen Inseln, zurückgehend auf osmanische Zeiten, als Teile
Griechenlands von ägyptischen Beamten verwaltet wurden. Aber
kaum etwas weiß man genau.
Eine Stiftungsurkunde (Waqfiyya)
von Haseki Hürrem Sultan über
die Einrichtung der Haseki-HürremSultan-Moschee, einer dazugehörigen Rechtsschule (Madrasa) sowie
einer Suppenküche in Jerusalem.
Foto: Museum of Turkish and
Islamic Arts
»Eine Taktik des Ministeriums war es, sich in Anonymität zu hüllen. Näher betrachtet, hatten wir 50 Jahre lang keine Information
darüber, womit das Ministerium sich beschäftigt. Niemand hat
eine Ahnung, welche Besitzstände die Behörde hat – und dahinter
steckt Absicht«, erklärt Mahmoud Sabit, ein ägyptischer Landeigentümer, dessen Familienschenkung unter der Vernachlässigung der vom Militär kontrollierten Bürokratie wiederholt gelitten hat.
Anfang dieses Jahres brachen Diebe in das Mausoleum der
Familie ein und stahlen eine wertvolle Koranausgabe. Nach ähnlichen Vorfällen bei anderen religiösen Stätten unter Verwaltung
einer waqf stritt sich der Awqaf-Minister routinehaft mit der An-
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Das Awqaf-Ministerium soll beste Immobilienstücke am Bosporus und auf den griechischen
Inseln besitzen, zurückgehend auf osmanische
Zeiten
tiquitätenbehörde darüber, wer dafür verantwortlich zu machen
wäre, nicht für die Bewachung der Stätten gesorgt zu haben.
Eine Schenkung von Sabits Familie aus dem Jahr 1954 umfasste eine Moschee, eine Schule und zugehöriges, am Nilufer liegendes Land. Alles wurde vom Staat übernommen, als die Generäle nach dem Putsch Gamal Abdel Nassers ihre Herrschaft auch
über die Wirtschaft Ägyptens ausbauten. »Sie rissen die Schule
ab und bauten dann ein sechsstöckiges Wohnhaus für Apparatschiks, die im Awqaf-Ministerium arbeiteten, angeblich um das
Einkommen der Moscheeschenkung zu erhöhen«, sagt Mahmoud
Sabit. »Aber natürlich haben sie niemals auch nur etwas für Unterhalt und Wartung gezahlt.«
Die Tage scheinen nun gezählt, wo Regierungsbürokraten die
frommen Anlagen ohne nennenswerte Überwachung verwalten
können. Die Muslimbruderschaft, deren Kandidat Mohamed
Morsi die Präsidentschaftswahlen in diesem Jahr gewonnen hat
und die selbst schon seit Jahrzehnten Graswurzel-Wohltätigkeitsorganisationen leitet, hat großes Interesse bekundet, das
Awqaf-Ministerium zu übernehmen. Das Verwalten der Einrichtungen für das Gemeinwohl zählt als Schlüsselressort, um der
Partei Legitimität zu sichern, während sie versucht, den politischen und wirtschaftlichen Einfluss der Armee zu beschränken.
Sabit denkt aber, dass die Bürokraten des vorigen Regimes
den Kampf nicht einfach aufgeben, auch wenn die Spitzenbeamten ausgetauscht werden. »Das Ministerium ist ein kaum zu unterschätzender Gegner. 50 Jahre lang haben die sich korrumpieren lassen, und jetzt stecken ihre Taschen voller Geld. Das wird
irgendwann eine schwere Auseinandersetzung zur Folge haben«,
sagt er voraus.
Auf welchen Gesamtwert sich die ägyptischen Awqaf belaufen, ist unklar. Sprecher der Muslimbruderschaft zitierten jüngst
einen Bericht des Awqaf-Ministeriums selbst, als von Schenkungen von 82 Milliarden Dollar die Rede war, die angeblich nur 0,2
Prozent jährliche Zinsen erwirtschaften.
Heute möchte die Bruderschaft ganz eindeutig die islamische
Finanzindustrie in Ägypten fördern. Zu lange wurde sie vom vorigen Regime kleingehalten, um die Islamisten einzuhegen. Es
bleibt aber abzuwarten, in welchem Maß die Muslimbrüder ein
Interesse daran haben, einen Sektor voll transparent zu machen,
den sie auch für ihre eigenen Patronagenetzwerke nutzen könnten – ganz wie das abgelöste Regime.
Es gibt dennoch Spielraum, Kapital aufzubauen, das über
Jahrzehnte vernachlässigt worden war. Safa-Investment-Gründer Sandwick findet: »Ich halte den islamischen Finanzmarkt in
Ägypten für einen schlafenden Riesen. In ihm steckt riesiges Po.(4#&LJ į,LJ#(LJ(-.Y(#!-LJ(&!('(!'(.źƌLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJƀ
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KULTUR · FILM · IR AK
Szene aus dem Film »The Well – Water Voices from Ethiopia«, dem Gewinner der Sektion »Human Images«. Foto: Claudio Sica
Zaungäste
der Geschichte
Jahrzehntelang wurden Filme in Irak als Propagandainstrument
missbraucht. Der Regisseur und Produzent Dirk van den Berg
sah als Juror beim »4. Baghdad International Film Festival« eine
neue Generation von Filmemachern, die dem Land seine Identität
zurückgeben könnte
IR AK · FILM · KULTUR
»Welcoooome tooo Baghdaaaad!«,
ruft der schwer bewaffnete irakische Soldat in unseren verbeulten
Toyota-Minibus hinein. Dann lassen wir den Checkpoint, bestehend aus
zwei Humvees und einem seltsam bunt bemalten Panzer, hinter uns
und fahren vom Flughafengelände auf der vierspurigen Schnellstraße
am Tigris Richtung Bagdader Innenstadt. Hier werden mein Kollege
Herbert Gehr und ich die nächsten Tage verbringen, als Jurymitglieder
des 4. Baghdad International Film Festivals (BIFF).
Als eine der wenigen Initiativen, die versuchen, den Irak aus seiner kulturellen Isolation herauszuholen, wurde das Festival 2004 von
Taher Alwan und Ammar Alarady ins Leben gerufen, beide damals Professoren an der Bagdader Akademie der Künste. Bei der zweiten Auflage 2005 explodierten während des Eröffnungstags 20 Autobomben
in der Stadt. »Panzer patrouillierten durch die Straßen, und trotzdem
kam das Publikum«, erzählt Alwan.
Seither hat Bagdad sich sehr verändert. In diesem Jahr will das
BIFF zum ersten Mal wirklich international sein mit 300 Filmen und Gästen aus aller Welt. »Das Festival wird zu fast 100 Prozent von westlichen Institutionen finanziert«, sagt Hella Mewis, eine deutsche, in Kairo
lebende Kulturmanagerin, die seit Jahren im Irak aktiv ist und für die
internationale Koordination des BIFF verantwortlich zeichnet. Als das
Mohammed-Video für Unruhe sorgte, hatten die Botschaften und Kulturinstitute zwar Bedenken, offiziell als Sponsoren aufzutreten, wollten das Festival aber auch nicht platzen lassen. »Kurz vor dem Druck
des Katalogs fanden wir eine pragmatische Lösung: Alle westlichen Logos und Grußworte wurden wegelassen«, erzählt Mewis.
Ein Kraftakt war es nicht nur, das Budget des Festivals zu sichern
– eine Summe, die bei der Berlinale für eine einzige Abendveranstaltung ausgegeben werden würde –, auch um den Austragungsort wurde monatelang gerungen. Sicherheitskriterien spielten eine große Rolle, aber der Ort sollte auch angemessen sein, idealerweise ein Kino.
Derer gab es einmal annähernd 250 im Irak; das größte und vielleicht
schönste war das »Samiramis Movie Theater« mit 1.800 roten Plüschsesseln auf drei Etagen im Bagdader Viertel Bab al-Sharqi. Aber seit
der Schließung des ehemaligen Prachtbaus im August 2007 gibt es in
der 7,5-Millionen-Einwohner-Stadt Bagdad kein größeres Lichtspielhaus. Die Entscheidung für ein Hotel als Austragungsort war alles andere als ideal, aber sie war die einzig mögliche.
»Trotz der Entwicklung unserer Wirtschaft und großer Budgets im
Staatshaushalt ist der irakische Film noch immer auf private Initiative
angewiesen«, sagt Taher Alwan in seiner Eröffnungsrede. »Das Ziel,
diese Arbeit in eine von den Institutionen getragene Industrie umzuwandeln, bleibt unerreicht.« Als Teil dieser Aufgabe versteht Alwan vor
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allem die zum ersten Mal stattfindende Festivalreihe »New Horizons –
Iraqi Filmmakers« mit 25 irakischen Filmen – von denen kein einziger
mit offizieller staatlicher Unterstützung entstanden ist. Daneben besteht das fünftägige Festivalprogramm aus den Sektionen langer und
kurzer Spielfilm, Dokumentarfilm und den Spezialprogrammen »Arab
Women Filmmakers« und »Human Images«. Partnerschaften mit dem
renommierten Kurzfilmfestival von Clermont-Ferrand und Mexiko runden das Programm ab.
Etliche der in den kommenden fünf Tagen gezeigten Spiel-, Kurzund Dokumentarfilme sind seit zwei oder mehr Jahren auf dem internationalen Festival-Parkett unterwegs und damit nicht mehr ganz
taufrisch. Trotzdem versteht man, warum Direktor Taher Alwan diesen
Weg eingeschlagen hat: Der Irak hungert nach Kultur, das BIFF kann
durch den Medienrummel eine breite Öffentlichkeit erreichen und dazu beitragen, dass die bis dato völlig desinteressierte Politik sich eines
Besseren besinnt. Das Konzept nimmt in Kauf, dass die Qualität der Filme hinter der Quantität zurücksteht – dennoch scheint es aufzugehen:
Zur Eröffnungszeremonie sind in letzter Minute überraschend viele Politiker erschienen, neben dem Wald von Kameras und Stativen der offiziellen irakischen und arabischen Nachrichtensender beeindrucken
uns vor allem die zahlreichen Filmemacher und teils blutjungen irakischen Blogger. Als der erste Film beginnt, ist der Festsaal mit begeisterten Zuschauern dermaßen überfüllt, dass die Türen offen bleiben,
um die Menschen im Foyer in die Vorführung einzubeziehen.
Als der erste Film anläuft, ist der Saal
so überfüllt, dass die Türen offen bleiben
müssen, um die Menschen draußen
einzubeziehen
Nachdem wir als Jurymitglieder vorgestellt wurden und unsere Gesichter dadurch bekannt sind, sprechen uns in den nächsten Tagen viele
junge Filmemacher an. Das Interesse an Dialog und kulturellem Austausch ist hoch und hilft über die meist sehr spärlichen Englischkenntnisse unserer Gesprächspartner hinweg. Sie beschreiben die hoffnungslose Situation der als Filmhochschule des Landes geltenden Akademie der Künste: Der Unterricht beschränke sich auf staubige Filmtheorie der 1970er Jahre, es gebe keinerlei praktische Ausbildung,
keine Ausrüstung wie Kameras, Monitore oder Schnittplätze; eine Filmförderung hat der Irak ohnehin nicht. Dennoch sprudeln die Studenten
vor Ideen, jeder von ihnen hat ein halbes Dutzend mit im Gepäck – aber
sie kennen die Filmgeschichte des eigenen Landes nicht und können
nach jahrzehntelanger Diktatur und mehreren zerstörerischen Kriegen
an nichts anknüpfen. Einer der Studenten bringt es auf den Punkt: »Wir
brauchen Hilfe.«
Seit der Geburtsstunde des irakischen Kinos 1948 wurden um die
100 Spielfilme und ein Vielfaches an Dokumentarfilmen im Land produziert. Viele davon sind in den Wirren der drei Golfkriege verschwunden oder zerstört worden. Einer der noch vorhandenen Streifen ist der
als erster rein irakischer Film überhaupt geltende »Fitna wa Hassan«
von 1950. Der Film von Hyder al-Omer ist eine Variation von »Romeo
und Julia« und wurde von einem Muslim, einem Christen und einem Juden produziert, was damals nicht unüblich war. Nach dem Ende der
irakischen Monarchie 1958 übernahm die neu gegründete »Film- und
Theater-Gesellschaft« die Organisation des immer stärker werdenden
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KULTUR · FILM · IR AK
cher wie Fachleute gleichermaßen von der Bekanntgabe
überrascht, dass das irakische Kulturministerium anlässlich
der Ernennung Bagdads zur »Kulturhauptstadt der Arabischen Welt 2013« umgerechnet zehn Millionen US-Dollar
für »ausgewählte Filmprojekte« vergeben wird. Einige der
Filmprojekte sollen um eine Million Dollar kosten, das Fünffache eines normalen Budgets im Irak. Der anfänglich begeisterte Applaus des Publikums ebbt ab, als ein junger
Mann nach den Auswahlkriterien für die Projekte fragt und
anregt, fünf Prozent des zugesicherten Budgets an die Akademie der Künste zu spenden – er erhält keine Antwort.
Kritik an der Maßnahme kam von den internationalen
Teilnehmern des BIFF: Die grundsätzlich positive Initiative
des Ministeriums riskiere, eher ein prestigeträchtiger
Schnellschuss zu sein als eine nachhaltig konstruktive Fördermaßnahme. »Ich glaube dennoch, das Kulturministerium macht eine gute Investition damit«, sagt Festivaldirektor Taher Alwan. »Auch wenn nicht viele junge Filmemacher von dieser Initiative profitieren werden und wir noch
weit entfernt sind von regelmäßiger Unterstützung, werden doch endlich wieder Filme produziert im Irak – zum
ersten Mal seit 2003.«
Kulturförderung ist hier die Ausnahme und funktioniert nach anderen Kriterien als in Europa. Selbst der erste irakische Oscar-Anwärter der Filmgeschichte, »Son of
Babylon« des im Bagdader Problemviertel Sadr City aufgewachsenen Regisseur Mohammed Al Daradji, hat das zu
spüren bekommen. Er verlor seinen irakischen Finanzierungsanteil, als der Regisseur sich für eine kurdische Hauptdarstellerin entschied. Fünf Jahre und siebzehn Koproduzenten benötigte der Film, um 2010 endlich gedreht werden zu können. »Son of Babylon« zeigt die Abhängigkeit
des irakischen Films von ausländischer, insbesondere europäischer Filmförderung – ist aber auch ein eklatanter Beweis dafür, dass ein irakisches Autorenkino vorhanden ist.
Umso befremdlicher ist es daher, dass die jungen Filmemacher der nächsten Generation im Programm des BIFF
2012 isoliert werden. Die kulturpolitisch vielleicht wichtigste und von vielen Beobachtern mit großem Interesse erwartete Sektion des ganzen Festivals werden die 25 Filme
von »New Horizons – Iraqi Filmmakers« sein, im Festivalkatalog nicht
erwähnt und durchgehend ohne Untertitel projiziert. So wirken sie nicht
nur für das internationale Publikum wie eine diffuse Seitenveranstaltung und werden vom restlichen, internationalen Wettbewerb komplett abgeschottet. In manchen Fällen ist die filmische Umsetzung noch
ungelenk, Figuren sind allzu stereotyp gezeichnet, Szenen unfertig und
roh im Umgang mit Gewalt. Gleichwohl findet hier eine Auseinandersetzung der jungen Generation irakischer Filmemacher statt, die versuchen, die tief greifenden Veränderungen des Landes durch jahrzehntelange Kriege aufzuzeigen. Alle diese Filme hätten die Auseinandersetzung mit einer breiteren Öffentlichkeit verdient, zumal bei einem internationalen Filmfestival.
Warum machen sich die im Kulturbereich wirkenden Kräfte nicht
die Erfahrungen anderer arabischer Länder für die Lösung der eigenen
Probleme zunutze? Einige der jungen irakischen Filmemacher, die wir
beim BIFF treffen, haben im Nachbarland Jordanien studiert. Von »Lawrence of Arabia« (1964) bis zu Kathryn Bigelows neuem Film »Zero
Dark Thirty« (2012) eher als Kulisse denn als inhaltlich relevantes Film-
staatlichen Einflusses auf Autoren und Regisseure. Dokumentarfilme
wie »Das Al-Maghishi-Projekt« über den Bau von Bewässerungsanlagen oder der die Luftwaffe verherrlichende Kriegsfilm »Hochzeit im
Himmel« wurden nach der Machtübernahme durch die Baath-Partei
1968 zum Ausdruck der eisernen Hand des Staates. 1979 riss Saddam
Hussein die Macht an sich, fortan bediente auch er sich des Machtinstruments Film. Sündhaft teure Propagandaschinken wie das vom ehemaligen James-Bond-Regisseur Terence Young verfilmte, sechsstündige Epos über Saddams Heldenleben »Die längsten Tage« liefen jetzt
in den Kinos – alles andere verbot die Zensur. Ohnehin war für mehr
Eigenproduktion kein Geld da, denn der Krieg mit Iran verschlang sämtliche Ressourcen. An der Akademie der Künste wurde zwar weiterhin
studiert, aber das internationale Embargo verhinderte die Einfuhr von
Zelluloid und Ausrüstung, sodass die Studenten seit Mitte der 1980er
Jahre mit bereits damals veraltetem Video-Equipment arbeiten mussten. Bis heute scheint sich dieser Zustand nicht verändert zu haben.
Seit dem letzten Krieg gibt es faktisch keine irakische Filmindustrie mehr. Umso mehr werden am vierten Tag des BIFF Festivalbesu-
Foto oben: Claudio Sica / Foto unten: Easy Tiger Films
Für Film-Studenten gibt es keine praktische
Ausbildung, keine Ausrüstung, keine Förderung.
Dennoch sprudeln sie vor Ideen
IR AK · FILM · KULTUR
land genutzt, gab es zwischen Amman und Aqaba lange
Zeit nicht viel mehr als schöne Locations und günstige
Hilfsarbeiter. Seit fast einem Jahrzehnt lernt jetzt eine neue
Generation jordanischer Kreativer und Techniker das Filmemachen von der Pike auf. Die Einrichtung der »Royal
Film Commission«, der Aufbau einer Hochschule und kontinuierliche gezielte Maßnahmen fördern sowohl die Filmwirtschaft als auch den Nachwuchs des Landes. Auch Jordanien kocht nur mit Wasser, aber immerhin gibt es dort
seit letztem Jahr eine mit 500.000 Dinar anständig dotierte Filmförderung mit einer klaren Altersbegrenzung.
»Es gibt im Irak viele starke Geschichten, und jeder Iraker kann sie erzählen!«, hatte Taher Alwan zur Eröffnung
des BIFF gesagt und wiederholt diesen Satz bei der
Schlusszeremonie. Nach der Preisvergabe an die internationalen Beiträge wirkt die das Festival abschließende Auszeichnung der irakischen Filme der »New Horizons«-Sektion jedoch unfreiwillig ironisch: Fast die Hälfte der teilnehmenden Filme wird ausgezeichnet, einige in eher fantasievollen Preiskategorien. Das mag den jubelnden Applaus
des irakischen Publikums beflügeln, ist aber eines internationalen Filmfestivals nicht würdig. Das BIFF hat das Potenzial und damit die Verantwortung, eine Brücke zwischen
irakischen Filmemachern und der Welt zu schlagen, ebenso wie es einen Beitrag zur (Wieder-)Erlangung einer nationalen Identität dieses geschundenen Landes leisten könnte. Dies kann aber nur gelingen, wenn die manchmal allzu
großen Gesten durch klarer konturierte Inhalte und Positionen ersetzt werden. Als einziges irakisches Festival dieser Art sollte das BIFF mehr auf die innere Kraft der irakischen Filmemacher bauen, anstatt sie vom restlichen Wettbewerb abzuschotten.
Am Tag nach der Preisverleihung machen wir unseren
ersten und einzigen Ausflug. Von meinem letzten Aufenthalt 2007 hatte ich Bagdad ganz anders in Erinnerung: Endlose Fahrten durch vier Meter hohe Tunnels aus »blast
walls«, man stieg aus, ging durch eine Stahltür in den Zementwänden und stand plötzlich in einem Hausflur. Bagdad war ein Labyrinth aus Zementschläuchen und Kalendertürchen zu den Menschen, ängstlichen oder aufgebrachten Menschen, ständig argwöhnisch beäugt von nervösen amerikanischen Soldaten.
Heute sind die verkrusteten Mauern fast alle verschwunden: Zum
ersten Mal sehe ich die Stadt. Trotz aller Bomben erinnert das Straßenbild an andere Großstädte des Mittleren Ostens, nur dass hier mehr Ruinen und halbzerstörte Häuser entlang der Straßen stehen und fast jede Oberfläche mit Einschusslöchern übersät ist. Über allem liegt noch
immer ein Schleier aus graubraunem Staub, als hätten Krieg und Chaos erst vor wenigen Tagen das Land verlassen. Als wir am Abend mit
den anderen Jurymitgliedern ein Abendessen am Tigrisufer serviert
bekommen, glaube ich den Staub im grauen Fleisch des Karpfens zu
schmecken.
Irgendwie kommt es dazu, dass wir den Weg zurück ins Hotel zu
Fuß gehen. Entlang des Tigris-Boulevards, ohne Begleitung oder Geleitschutz, vorbei an Checkpoints mit uns verblüfft hinterherschauenden
Soldaten. An jedem anderen Ort der Welt selbstverständlich, wird der
kleine nächtliche Spaziergang für uns alle, vor allem die irakischen Jurymitglieder, zum Erlebnis verloren gegangener Normalität. Seit den frü-
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Fotos: Claudio Sica
Krieg und Chaos, Leichen und ausgebrannte
Autowracks: Unser Irak-Bild wurde in den
1990er Jahren von Sendern wie CNN geprägt
hen 1990er Jahren brannten CNN & Co. ein von Krieg und Chaos geprägtes Irakbild in unser kollektives visuelles Gedächtnis. Der Irak , das waren
von Leichen und ausgebrannten Autowracks gesäumte Straßen, am Himmel die Lichtscheine der Raketen und Mörsergeschosse. Als ich jetzt in
meinem hoch über der Stadt liegenden Hotelzimmer den nächtlichen Firdos-Platz unter mir betrachte, habe ich zum ersten Mal nicht die umgekippte, aber hängen gebliebene Saddam-Statue im Gedächtnis. Bei aller Kritik hat dieses Festival es nach 20 Jahren zum ersten Mal vermocht,
dass ich Bagdad als Stadt mit Lichtern und Leben sehe. Für die irakischen
Filmemacher wünsche ich mir, dass es weitergeht mit dem BIFF, damit
sie nicht weiterhin Zaungäste ihrer eigenen Geschichte blei!*ƎƳƳƳƳƳƳƳƳƳƳƳƳƳđ
Dirk van den Berg wurde 1966 geboren und studierte Musikwissenschaften und Regie in Rom. Seither arbeitete er als Autor, Regisseur und
Produzent für zahlreiche internationale Film- und TV-Projekte. 2010
gründete van den Berg die Filmproduktionsgesellschaft OutreMer Film,
die auf den Nahen und Mittleren Osten spezialisiert ist.
www.outremerfilm.com