Sieh an, der Mensch!

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Sieh an, der Mensch!
Sieh an, der Mensch! - Johannes 19,1-5
Da stand er. Verhöhnt und verspottet. Verurteilt. Ausgeliefert. Ohne Fürsprecher. Ohne
Hoffnung darauf, dass ein Stärkerer und Besserer den Folterknechten in die Arme fallen
würde. Ohne Aussicht auf eine glückliche Wendung seines Schicksals. Hingegeben an die
letzten Augenblicke eines Lebens, dem gewaltsam der Pulsschlag abgedrückt werden sollte.
Hingegeben an einen mitleidslosen Tod, den es vor den Augen einer hohnlachenden
Öffentlichkeit zu erleiden galt. Und so liess er sich sehen: Jesus von Nazareth. Diesen
Anblick kann er auch uns nicht ersparen. Machen wir uns keine Illusionen: Das ist der
Mensch! So ist der Mensch.
Immer wieder wird auf dieser Welt nach Wahrheit gesucht. Menschen haben das Wahre für
schön und gut gehalten. Als das, was den Wechsel der Zeiten überdauert, muss es irgendwo
über den Alltagsgeschäften menschlichen Lebens liegen. Es muss göttlich sein. So göttlich,
das es keinen Namen mehr hat. Und doch so nahe, dass es dem Menschen ins Herz
geschrieben ist. Menschen glauben gerne, dass sie tief in ihrem Inneren einen Zugang zum
Wahren, Schönen und Guten haben. Das ist eine der Illusionen, zu denen Menschen neigen.
Diese Illusion wird angetastet, wenn wir uns gewissen Orten nähern. Golgatha zum Beispiel.
Wollen wir uns unsere Illusionen an diesem Hinrichtungsort antasten lassen?
Oder finden wir es nicht – ehrlich gesagt – unerträglich, unsere Sehnsucht nach dem Wahren,
dem Schönen und dem Guten mit der öffentlichen Spott- und Folterszene aus dem Leben Jesu
zu konfrontieren? Wie viel Atem bleibt dem Glauben an das Wahre, das Schöne und das Gute
noch, wenn da ein Mensch stumm und wehrlos der banalen Macht anderer Menschen
ausgeliefert ist? Wie viel Illusionen über uns selbst können wir uns noch leisten, wo der
Mensch tausendfach erniedrigt und entblösst dasteht? Und sind wir als Leserinnen und Leser
der Evangelien dem Publikum von damals wirklich moralisch überlegen, jenen Menschen, die
weder in die Weite noch in die Tiefe sehen konnten und die darum in dem Todeskandidaten
nicht Gottes Hand erkannten, sondern bloss einen Menschen, der selbstverschuldet unter die
Räder der Justiz gekommen war? War es so abwegig, dass er nun am Pranger stand und sein
eigenes Ende unter dem lustvollen Spott der Menge entgegen nehmen musste?
Nein. Dieser Mensch, Jesus von Nazareth, verkörpert für Menschen nicht das Wahre, das
Schöne und das Gute. Dieser Mensch tut allen Menschen weh, die hoffen, unter ihrer dünnen
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Haut oder unter ihrem dicken Alltagsfell wäre noch etwas Göttliches. Denn dieser Mensch,
Jesus von Nazareth, zeigt den Menschen, wozu sie wirklich fähig sind und was sie letztlich
voneinander zu erwarten haben. Wenn es hart auf hart kommt, sind Menschen fähig zu allem
und haben nichts voneinander zu erwarten. Weh dem Menschen, der in die Hände von
Menschen fällt!
Was also ist Wahrheit? Was ist der Mensch? „Sieh an!“ sagte Pilatus. „Sieh an, der Mensch!“
Ja. Sieh ihn dir an! Sieh dir an, was Menschen von Menschen erleiden!
Ein junger Mann, 27 jährig, Absolvent der Universität in Princeton, USA, machte im letzten
Jahrhundert ein Experiment. Es war ein furchtbares Jahrhundert. Die Welt stand unter dem
Schock, dass eine europäische, Kultur schaffende Nation im 20. Jahrhundert millionenfachen
Völkermord begehen konnte und dass sich an ihren Konzentrations- und Vernichtungslagern
tausende Menschen freiwillig und ohne Not beteiligt hatten. Wie war das möglich? Wie
passte das in das Bild, das der Mensch von sich hegt und pflegt? Der Mensch als das höchste
Wesen, die Krönung der Schöpfung, Ebenbild Gottes? Der Mensch, begabt mit Vernunft und
Gewissen, mit Herz und Verstand?
Auch Stanley Milgram stellte sich diese Frage. 27 Jahre alt war er, als er sein Experiment
wagte. Zu diesem Experiment lud er Menschen ein, Männer und Frauen. Sie bekamen den
Auftrag, anderen Menschen Elektroschocks zu verabreichen. Wohl dosiert, unter
wissenschaftlicher Leitung und zu einem wissenschaftlichen Zweck. Die Dosis sollte sich
allerdings allmählich erhöhen. Die Frage, die Stanley Milgram untersuchen wollte: Wann
würde ein Mensch das Experiment abbrechen? Wie lange würde er mitmachen, wenn der
Versuchsleiter immer wieder den Befehl gab, weiterzumachen?
Das Ergebnis des so genannten Milgram-Experiments war unerwartet und erschütternd. „Über
tausend Versuchspersonen nahmen an Milgrams Experiment in verschiedenen Variationen
teil. Zwei Drittel gingen bis zum 450-Volt-Schock.“ (NZZ Folio)
Erwachsene Menschen, so stellte Stanley Milgram fest, waren offenbar eher bereit, den
Befehlen einer Autorität zu folgen als ihrem eigenen Gewissen. Den Schmerz und den Tod
eines anderen Menschen in Kauf zu nehmen, war leichter, als den Gehorsam zu verweigern –
selbst, wenn die Verweigerung des Gehorsams nichts gekostet hätte.
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Das Experiment wurde schlagartig auf der ganzen Welt bekannt. Zur selben Zeit hatte die
Philosophin Hannah Arendt über den Prozess gegen den Naziverbrecher Adolf Eichmann in
Jerusalem berichtet und die Wendung von der „Banalität des Bösen“ geprägt. Das Böse trägt
nicht in erster Linie das monströse Gesicht sadistischer Menschen. Das Böse trägt das Gesicht
von phantasielosen Alltagsmenschen, die im Rahmen ihrer alltäglichen Aufgaben einfach ihre
Pflicht tun. Dabei lassen sie sich auch schon einmal in eine Vernichtungsmaschinerie
einspannen, bloss, weil es zu viel Mühe macht, sie zu hinterfragen. Hinterfragen und sich
verweigern, ist immer mühsamer, als den Autoritäten zu folgen und ihre Befehle auszuführen.
In der Zeitschrift der Neuen Zürcher Zeitung, hiess es kürzlich zum Milgram-Experiment:
„Es gibt nur noch wenige direkt beteiligte Leute, die vom Hergang des Experiments erzählen
wollen oder können. Wer von den über 1000 Versuchspersonen noch lebt, spricht nicht gerne
darüber. …Milgram bezahlte einen hohen Preis dafür, dass er dem Menschen eine
unangenehme Botschaft über sein Wesen überbrachte. An der Harvard University, wo er
später Assistenzprofessor war, wurde er nie fest angestellt. 1967 wechselte er an die
unbedeutende City University of New York, wo er 1984 im Alter von 51 Jahren an einem
Herzversagen starb. Seine Frau wurde eben zum ersten Mal Grossmutter. Einem Reporter
erzählte sie, dass ihr Enkel als zweiten Vornamen Stanley trage. Warum nicht als ersten? «Ich
glaube, es wäre eine Belastung, mit dem Namen Stanley Milgram durchs Leben zu gehen.»
Liebe Gemeinde,
vergessen wir nicht, nach wem wir uns nennen. Wir nennen uns nach einem Menschen, der
noch einen viel höheren Preis dafür zahlte, dass er Menschen die Wahrheit über ihr Wesen
brachte. Jesus von Nazareth. Weil er der Christus ist, werden wir Christen genannt. Sein
Kreuz, sein Name nützt uns nur etwas, wenn wir uns keine Illusionen mehr über uns machen.
Wenn wir erkennen: Auch wir gehören dazu. Zu denen, die zu allem fähig sind. Keiner von
uns steht besser da als Pilatus oder Kaiphas oder als jene Befehlsempfänger, die Jesus ans
Kreuz brachten, oder als die Zuschauermenge, die das Schauspiel im Sicherheitsabstand
verfolgten. Das ist eine bittere Wahrheit. Sie zu vertuschen, hiesse, Jesus abermals
hinzurichten.
Und das ist schon beim ersten Mal anders herausgekommen, als Menschen es wollten.
Vergessen wir es nicht! Man wollte ihn hinrichten. Aus dem Weg räumen. Ausschalten. Und
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hat, ohne es zu wollen und zu ahnen, genau das Gegenteil damit bewirkt. Und jetzt ist die
Kirche die einzige Institution, die ihren Gründer nicht über Bord werfen kann. Diese
Erkenntnis hat vor wenigen Tagen der Schriftsteller Peter Bichsel in einem Interview zu
seinem 75. Geburtstag formuliert. Peter Bichsel sagt: „Es gibt etwas, das gönne ich der
Kirche. Das geschieht ihr recht! Nämlich dass die Kirche die einzige Institution ist, die ihren
Gründer nicht über Bord werfen kann.“ Mich hat Peter Bichsels Satz aufmerken lassen. Weil
darin so viel mitschwingt. Als wollte die Kirche das nämlich! Als wollte sie ihren Gründer
über Bord werfen.
Vielleicht spielt Peter Bichsel mit dieser Formulierung darauf an, dass das doch auch in der
Kirche unbequem und unangenehm sein kann: nämlich diesen Jesus von Nazareth an Bord zu
behalten. Denn gibt es nicht auch in der Kirche Menschen, die sich von Jesus befreien wollen,
wie man sich von dem Überbringer einer unakzeptablen Wahrheit befreien möchte? Vielleicht
möchten Menschen lieber eine Idee zur Hand haben, am besten eine schöne Idee, die sich in
der Welt sehen lassen kann. Lieber eine Idee als ein Mensch, dessen Schmach- und
Leidensgeschichte sich einfach nicht wegretuschieren lässt! Eine Idee kann man in die eigene
Hand nehmen. Man kann sie auch in eigener Regie weiterentwickeln. Man wäre nicht mehr
gebunden an den, der sie einmal in die Welt gebracht hat. Aber ein Mensch, der Erwartungen
schürt und sie dann durchkreuzt! Ein Mensch, der Gerechte und Ungerechte anredet, und sich
dabei einfach nicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen lässt? Ein Mensch, der dem
Blutvergiessen ein Ende macht, in dem er sein eigenes Blut vergiessen lässt? Ein Mensch, der
immer wieder Ecken und Kanten zeigt, wo wir ihn doch gerne viel glatter hätten? Ein
Mensch, der sich einfach immer wieder weigern wird, unsere besten Ideen zu verkörpern? Ein
Mensch, der sich allen Angst machenden Meldungen immer wieder entzieht, aber auch allen
Illusionen, die Menschen sich von sich selbst machen?
Das Kreuz, an dem Jesus gestorben ist, hat der Menschheit Jesus von Nazareth ins Gedächtnis
geschrieben. Sein Karfreitag hat bewirkt, dass man diesen Menschen nicht vergessen kann!
Seitdem liegt die Wahrheit über den Menschen nicht in einer Lehre, die ein Papst, ein Konzil
oder ein offizielles Lehramt beschliessen könnte. Seitdem ist die Wahrheit über den
Menschen nicht mehr in Stein gemeisselt und sie liegt auch nicht zwischen zwei Buchdeckeln
begraben. Die Wahrheit über den Menschen besteht auch nicht in einer Ideologie, der man
sich verschreiben könnte, sei sie nun rechts oder links, rot oder grün oder von anderer
Färbung. Die Wahrheit über den Menschen sagt uns Jesus von Nazareth. Ihn kann die
Menschheit nicht über Bord werfen. In ihm wird die blutige Wahrheit über das, was die
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Menschheit ist, deutlich. An dieser Wahrheit können wir nicht vorbei gehen. Gerade dann
nicht, wenn unsere Träume von einer besseren Menschheit sehr weit reichen. Gerade dann
nicht, wenn wir dafür Jesu Sprache vom Reich Gottes gebrauchen! Und genau dies, dass
unsere Wahrheit an ihm hängt und dass wir ihn nicht über Bord werfen können, genau dies
geschieht uns recht! Das ist uns zu gönnen! Uns, die wir uns immer noch nach ihm nennen.
Immer wieder wird auf dieser Welt nach Wahrheit gesucht. Jesus am Kreuz zeigt uns eine
Wahrheit, die Menschen nicht gesucht haben. Menschen haben die Wahrheit da gesucht, wo
das Gute und das Schöne ist. Die Wahrheit über den Menschen ist aber nicht schön, und sie
tut auch nicht immer gut. Die Wahrheit über den Menschen gehört allein Gott, und der hat
sich einen Namen gegeben. Ein Gesicht. Ein Haupt voll Blut und Wunden. Jesus von Nazaret,
der König mit dem Spottgewand. In ihm tritt Gott an all die Orte, die wir von Gott fernhalten
möchten, weil auch wir sie nicht aushalten. Unheilige Orte sind es, Orte, an denen Menschen
zu allem fähig sind und an denen Menschen voneinander nichts Gutes mehr erwarten können.
Orte, die Menschen einander bereiten, die sie aber nicht ertragen können. Gott hat sie
ertragen. Gott nimmt sie auf sich. Gott durchschreitet sie und lässt sie hinter sich am dritten
Tag.
Nur darum können wir die Wahrheit über uns selbst sehen. Nur so können wir es auf uns
nehmen, dass wir Menschen sind. Dass Gottes Reich unter uns komme, dafür bedarf es mehr
als einer kosmetischen Korrektur. Wir ganz durchschnittlichen Menschen haben alle Fähigkeit
zur Unmenschlichkeit. Das zeigen uns nicht so sehr die Experimente der Wissenschaft, als
vielmehr die vielen Kreuze der Weltgeschichte. Was am wenigsten hilft, ist das Wegsehen.
Was am wenigsten hilft, ist das Nicht-wahr-haben-Wollen. Hinsehen aber heilt.
Hoffnungsvoll hinsehen. Mit dem an der Seite, der unsere Kreuze schon so oft getragen hat.
Sehen wir hin! Sehen wir den Menschen, wie er in Wahrheit ist! Wenden wir uns zu dem, der
unsere Wahrheit auf sich genommen hat. In ihm blüht uns ein neuer Anfang.
Amen.
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