200 Jahre Ansiedlung der Deutschen im Schwarzmeergebiet

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200 Jahre Ansiedlung der Deutschen im Schwarzmeergebiet
200 Jahre
Ansiedlung der Deutschen
im Schwarzmeergebiet
Herausgegeben von der
Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e.V.
mit Unterstützung
der baden-württembergischen Landesregierung
Autor: Dr. Alfred Eisfeld
200 Jahre Ansiedlung der Deutschen im Schwarzmeergebiet
Grußworte
I
n diesem Jahr wird der 200. Jahrestag der Auswanderung der Deutschen in das Schwarzmeergebiet begangen. Daran wird deutlich, wie lang
die Geschichte der Deutschen in Russland ist. Dort haben sie eine historische
Aufbauarbeit für ihr Aufnahmeland geleistet, die erst durch den II. Weltkrieg
abgebrochen ist. Sie wurden ihrer Bürgerrechte beraubt, enteignet und nach
Sibirien und Mittelasien deportiert.
Nun kehren die Russlanddeutschen auf
Jochen Welt
der Suche nach einer neuen Heimat nach
Deutschland zurück. Vielen Deutschen ist die Leidensgeschichte unserer Landsleute aus Russland unbekannt. Hier treffen sie oft auf Unwissenheit und mangelnde Akzeptanz. Wir
müssen dafür sorgen, dass das nicht so bleibt. Die heimische
Bevölkerung muss verstehen und anerkennen, warum die Aussiedler und ihre Angehörigen nach Deutschland übersiedeln.
Verständnis setzt Geschichtskenntnis voraus. Deswegen begrüße ich Ihre Entscheidung, den 200. Jahrestag der Auswanderung der Deutschen in das Schwarzmeergebiet mit einer Reihe
von Veranstaltungen zu begehen.
Wir sind rechtlich und moralisch verpflichtet, die Russlanddeutschen aufzunehmen, da sie am längsten unter den Folgen
des II. Weltkrieges gelitten haben. Die Zuwanderung muss jedoch sozialverträglich sein und bleiben. Dabei will ich nicht
verschweigen, dass die Integration insbesondere jugendlicher
Aussiedler schwieriger geworden ist. Integration jedoch bedeutet: Fördern und Fordern! Ich erwarte die Bereitschaft der Spätaussiedler und ihrer Familien, sich aktiv an ihrer Eingliederung
zu beteiligen. Es ist eine beiderseitige Herausforderung: Einerseits müssen wir den Menschen die Rahmenbedingungen für
eine erfolgreiche Integration schaffen - andererseits müssen die
Spätaussiedler und ihre Familienangehörigen selbst ihre Integrationsanstrengungen erheblich verstärken und besonders die
deutsche Sprache intensiv erlernen. Die Bundesregierung wird
gerne helfen, in bewährter Zusammenarbeit mit Ländern und
Kommunen, mit Kirchen und Verbänden und den vielen engagierten Ehrenamtlichen.
In diesem Sinne wünsche ich der Landsmannschaft weiterhin
viel Erfolg bei ihrer Arbeit, uns eine Fortsetzung der bewährten
Zusammenarbeit und der Festveranstaltung zum 200. Jahrestag
der Auswanderung der Deutschen in das Schwarzmeergebiet
einen guten Verlauf.
Jochen Welt,
Beauftragter der Bundesregierung für
Aussiedlerfragen und
nationale Minderheiten
200 Jahre Ansiedlung
der Deutschen im Schwarzmeergebiet
Verfasser: Dr. Alfred Eisfeld
weitere Beiträge: Gertrud Braun (†), Maria Görzen
Redaktion: Hans Kampen
Herausgeber: Landsmannschaft
der Deutschen aus Russland
Abrufbar im Internet unter der Adresse:
www.deutscheausrussland.de
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D
ie Geschichte Baden-Württembergs ist untrennbar verbunden
mit der bewegten Geschichte der
Deutschen, die vor genau 200 Jahren begannen, in den Süden Russlands ans
Schwarze Meer auszuwandern. Es waren vor allem Menschen aus Württemberg, die damals dem Ruf des russischen
Zaren folgten und nach Bessarabien, in
die Ukraine, in den Kaukasus oder auf
die Krim zogen. Sie haben in ihrer neuen Heimat blühende Landschaften und
Heribert Rech
eine reiche Kultur geschaffen.
Vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg suchten viele von ihnen im Südwesten Deutschlands Zuflucht vor Verfolgung, Deportation und Vertreibung. Hier in der Heimat ihrer Vorfahren
halfen sie tatkräftig mit beim Wiederaufbau unseres Landes
und haben so mit Willenskraft und unermüdlichem Fleiß zum
wirtschaftlichem Aufschwung des Landes Baden-Württemberg
beigetragen.
Der Landesregierung Baden-Württembergs war es stets ein besonderes Anliegen, den Vertriebenen, Flüchtlingen und Spätaussiedlern aus Russland eine neue Heimat und ein verlässlicher Ansprechpartner zu sein. In unserem Land wurde 1950 die
Charta der deutschen Heimatvertriebenen unterzeichnet und im
selben Jahr die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland
gegründet. Aus dieser engen Verbundenheit heraus hat das
Land Baden-Württemberg im Jahr 1979 die Patenschaft über
die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland übernommen.
Ich möchte den diesjährigen Festtag dazu nutzen, meinen Respekt und meine Hochachtung für die Leistungen der Deutschen aus Russland, aber auch mein Mitgefühl für diese vom
Schicksal in besonders schwerer Weise getroffene deutsche
Volksgruppe auszudrücken. Ich danke der Landsmannschaft
der Deutschen aus Russland für die Arbeit an der Wanderausstellung “Deutsche aus Odessa und dem Schwarzmeergebiet”,
die nun ihren Weg durch Deutschland nehmen wird, sehr herzlich und wünsche allen Beteiligten auch für die Zukunft die Energie und den Mut, ihre wichtige Arbeit fortzusetzen.
Heribert Rech
Staatssekretär und Landesbeauftragter für
Vertriebene, Flüchtlinge und Aussiedler
Liebe Landsleute,
mit der Herausgabe der Broschüre “200 Jahre Ansiedlung der
Deutschen im Schwarzmeergebiet” im Jubiläumsjahr der
Schwarzmeerdeutschen erinnern wir an die Geschichte von
Menschen, die nach der Auswanderung zu Beginn des 19. Jahrhunderts und einer langen Blütezeit im 20. Jahrhundert zu Opfern der stalinistischen Diktatur wurden und heute zum großen
Teil wieder in die Heimat ihrer Vorfahren, nach Deutschland
zurückgekehrt sind.
Ohne die Unterstützung der baden-württembergischen Landesregierung und den ehrenamtlichen Einsatz vor allem des
Hauptautors Dr. Alfred Eisfeld wäre diese Broschüre wohl
nicht zu Stande gekommen. Wir bedanken uns dafür herzlich
und hoffen, dass sie auch auf das Interesse der einheimischen
Bevölkerung stoßen wird.
Ihre Landsmannschaft
200 Jahre Ansiedlung der Deutschen im Schwarzmeergebiet
DR. ALFRED EISFELD
200 Jahre deutsche Ansiedlung
im Schwarzmeergebiet
Rede anlässlich der Jubiläumsfeier der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland
am 20. September 2003 im Weißen Saal des Neuen Schlosses in Stuttgart
Ü
ber die 200-jährige Geschichte gibt es zahlreiche Legenden. Nicht alles, was heute erwähnenswert erscheint, wurde mündlich überliefert, manches wurde
nach kurzer Zeit nicht mehr erwähnt, weil man das nicht für
opportun hielt. Nach der Errichtung der Sowjetmacht waren
zahlreiche Personen in der Tat gefährdet, viele waren wegen
ihrer Vergangenheit Verfolgungen ausgesetzt und verloren
ihr Leben.
Heute wollen wir uns gemeinsam an den Weg erinnern, den
die Schwarzmeerdeutschen in diesen 200 Jahren zurückgelegt haben, sowie an Personen und Ereignisse, die prägend
waren.
Unter dem Begriff “Schwarzmeerdeutsche” bitte ich heute
jene Kolonisten zu verstehen, die das Gebiet zwischen
Dnjestr und Bug besiedelten. Das waren die Kolonien des
Liebentaler, des Beresaner, des Kutschurganer und des
Glückstaler Gebiets. Die Kolonien an der Molotschnaja, bei
Melitopol und auf der Krim nahmen ihren Anfang ein Jahr
später. Deren Jubiläum werden wir 2004 begehen.
Entstehung der Kolonien
Das Gebiet zwischen den Flüssen Dnjestr und Bug fiel bekanntlich 1791 nach dem russisch-türkischen Krieg an Russland (Friedensvertrag von Jassy). Zu dieser Zeit war diese
Region nur dünn besiedelt, aber keineswegs menschenleer.
Sie wurde in drei Bezirke eingeteilt: Tiraspol, Otschakow
und Cherson. Zur wirtschaftlichen Erschließung wurde
Gutsbesitzern, Beamten und Offizieren Land zugeteilt, verbunden mit der Verpflichtung, dieses mit Bauern aufzusiedeln. Die Aufsiedlung machte nur mäßige Fortschritte. Die
Regierung sah sich daher gezwungen, Grundbesitzern wiederholt Fristverlängerungen zu gewähren.
Eine Bestandsaufnahme im Sommer 1804 ergab, dass dort
zu dieser Zeit 62.933 Staatsbauern siedelten, außerdem Kosaken am Bug und Bauern, die der Admiralität unterstanden.
Der deutsche Südwesten (Württemberg, Baden, Pfalz sowie
Elsass und Lothringen) befanden sich zu dieser Zeit in einer
schwierigen Lage. Einerseits waren es der vom napoleonischen Frankreich ausgehende Druck, steigende Steuerforderungen und Plünderungen durch fremde Truppen, die 1792
bis 1815 wiederholt durch diese Landschaften zogen. Andererseits war es der von Neuerungen in Württemberg selbst
ausgehende Druck. Württemberg wurde 1805 zum Königreich erhoben. König Friedrich bemühte sich, aus den vielen,
vor kurzem noch unabhängigen Territorien einen zentralistischen Staat zu schaffen. Sonderprivilegien in einzelnen Gebieten wurden aufgehoben und lokale Gewohnheiten übergangen. Allein in den Jahren 1806 bis 1814 wurden 2.342
Reskripte, Dekrete und Verordnungen erlassen.
Ein unverzichtbarer Bestandteil des Lebens war für viele
Menschen im 19. Jahrhundert ihre Kirche, wobei sie an
Althergebrachtem hingen. In ihrer alten Heimat, in Württemberg, galt zu Beginn des 19. Jahrhunderts die alte Ord-
Blick auf Odessa vom Handelshafen aus; Lithographie von Franz Groß aus den 1850er Jahren.
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200 Jahre Ansiedlung der Deutschen im Schwarzmeergebiet
Namensliste der Kolonisten, die am 24. August 1803 mit dem
ersten Transport aus Ulm in Dubosary ankamen.
nung nicht mehr. Das Gesangbuch wurde bereits 1791 geändert und enthielt nur mehr 29 Lieder in gewohnter alter Fassung. Die Unruhe in den Gemeinden war so groß, dass 1800
sogar Militär zur Wiederherstellung der Ordnung einschreiten musste. Die Erregung darüber war noch nicht abgeklungen, da wurde 1809 die Liturgie geändert. Viele suchten für
sich nach Rettung und glaubten ihr Heil fern der Heimat, in
Neurussland finden zu können.
Der erste Transport brauchte von Galaz bis zur russischen
Grenzstadt Dubosary zehn Tage. Auf dieser Strecke verstarben sechs Personen. Viele der Ankömmlinge, die am 24.
August 1803 Dubosary erreichten, waren krank. Der zweite
Transport mit 94 Personen kam am 28. August an. Bis zum
Jahresende kamen insgesamt neun von zehn Transporten an.
Der französische Offizier Franz Ziegler hatte dafür insgesamt 325 Männer und 245 Frauen mit 571 Kindern angeworben. Die Überfahrt von Ulm bis Galatz auf der Donau und
von dort auf dem Landweg weiter nach Dubosary dauerte
zwischen 82 und 88 Tagen.
91 Personen des ersten Transports konnten die Quarantäne
am 4. September verlassen. 61 von ihnen wurden nach
Odessa weiter geleitet, die restlichen 30 blieben vorerst in
Dubosary.
Am 5. Oktober wurde Samuel Kontenius, der Oberrichter
des Neurussischen Fürsorgekontors für ausländische Ansiedler war, die Leitung der Kolonisation anvertraut. Am 17. Oktober unterzeichnete Zar Alexander I. eine Verfügung über
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den Ankauf von Land in der Nähe der Stadt Odessa, auf dem
Bauernkolonien angelegt werden sollten. Diesen Tag kann
man als Gründungstag der Kolonien bei Odessa betrachten,
doch noch war kein Spatenstich getan. Ende November nahmen Abgesandte von sechs bereits in Odessa angekommenen Transporten das Land in Augenschein.
Den ersten Winter verlebten die Kolonisten in bereitgestellten Kasernen. Herzog Richelieu, Samuel Kontenius und ihre
Mitarbeiter bemühten sich währenddessen, ausreichende
Flächen geeigneten Landes ausfindig zu machen und für die
Anlage von Kolonien zu bekommen. Dies gelang im Frühjahr und Sommer 1804, so dass an Stelle der früheren Bauerndörfer Akarscha und Jewstafiewka die ersten Kolonien
Groß-Liebental und Klein-Liebental gegründet werden
konnten. Etwas später entstanden in ihrer Nähe Neuburg, Peterstal und Josefstal. Im nächsten Jahr kamen die Kolonien
Alexanderhilf, Franzfeld, Mariental und Lustdorf, das bei
der Gründung Kaiserheim hieß, und 1806 Freudental dazu.
Richelieu nannte diese Kolonien in einem Brief an Kontenius “unser kleines Fürstentum”.
Im Sommer 1808 machten sich Handwerker und Bauern aus
Baden und dem Elsass auf den Weg nach Odessa. Die russische Regierung hatte die Obergrenze für Einwanderer auf
200 Familien pro Jahr gesenkt, um die Ankömmlinge aufnehmen und ansiedeln zu können. Vor Ort bemühte man
sich, Land für die Ansiedlung vor der Ankunft der Kolonisten zu besorgen.
Die Kolonistenbezirke Glückstal und Kutschurgan entstanden fast gleichzeitig. Im Juli 1808 wurde Land für die Kolonien Neudorf, Bergdorf und Glückstal zur Verfügung gestellt. Da weitere Kolonisten unterwegs waren, in der Nähe
von Odessa aber kein Land schnell genug beschafft werden
konnte, entschloss sich Richelieu, Land am Kutschurganer
Liman zu kaufen. 1808 konnten darauf die Kolonien Kandel,
Selz und Straßburg gegründet werden.
Richelieu
Armand-Emmanuel-Sophie-Septimanie
du Plessis duc de Richelieu (17661822) aus einer alten und vornehmen
französischen Adelsfamilie (seit 1791
Herzog) trat 1803 in russische Dienste
über und wurde Statthalter von Odessa.
Zwei Jahre später wurde er Generalgouverneur von Neurussland und kümmerte sich um alle Belange einer Region, die sich vom Dnjestr bis zum Kuban erstreckte. Bekannt sind sein kriegerischer Einsatz und der Ausbau der
Häfen und Festungen Cherson, Kinburn, Sewastopol und
Odessa. Wenig bekannt ist dagegen, das Richelieu ab Februar 1804 und bis zu seiner Abreise nach Frankreich 1814
die Oberaufsicht über die ausländische Kolonisation Neurusslands inne hatte.
Richelieu und Kontenius kümmerten sich gemeinsam, jeder im Rahmen seiner Zuständigkeit, um die Kolonisten.
Diese Verbindung bestand auch dann fort, als Richelieu
1814 Ministerpräsident Frankreichs wurde. Überliefert
sind über 90 private Briefe Richelieus an Kontenius, in denen viele Fragen der Kolonisation bis ins Detail erörtert
wurden.
200 Jahre Ansiedlung der Deutschen im Schwarzmeergebiet
Kontenius
ine der bekanntesten Persönlichkeiten unter den Deutschen im Russischen Reich des 19. Jahrhunderts war
Samuel Kontenius. Über 30 Jahre lang hat er sich mit viel
Einsatz um die Kolonisten gekümmert. Er sah jede Kolonie
persönlich, hinterließ zahlreiche Schriften und blieb dennoch
eine rätselhafte Figur. Seine Herkunft ist bis heute nicht geklärt. Er soll in der Familie des Pastors Christian Kontenius
das Licht der Welt erblickt haben. In einigen Quellen wird
Schlesien, in anderen Westfalen als seine Heimat genannt.
Über seine wahre Herkunft wurde schon zu seinen Lebzeiten
gerätselt. Er soll von vornehmer Herkunft gewesen sein, wohl
vom höheren Adel abstammend, aber dieses Geheimnis hat er
nicht gelüftet. Gerätselt wurde auch über sein Alter. Genannt
wurden drei verschiedene Geburtsjahre, doch er selbst nannte
1749.
Nach dem Studium an einer deutschen Universität, von der
man ebenfalls nicht weiß, welche es war, ging er im Alter von
25 Jahren nach Russland und begann sein Berufsleben als
Hauslehrer bei adeligen Familien in St. Petersburg. Darauf
folgte der Dienst als Postmeister in Simferopol auf der Krim
(1785-1789), als Offizier (bis 1795) und als Hofrat des Geographischen Departements (ab 1797). 1798 wurde er mit der
Inspektion der Ausländerkolonien in Klein- und Neurussland,
die zu dieser Zeit eine schwierige Phase durchlebten, betraut.
Sein umfangreicher, kenntnisreicher Bericht über die Gründe
des Niedergang der Kolonien führte zur Gründung des Fürsorgekontors für ausländische Ansiedler in Südrussland, dessen
Oberrichter er in den Jahren 1800 bis 1818 wurde.
Kontenius war an der Ausarbeitung der “Instruktion für die innere Verwaltung der Ausländerkolonien in Neurussland” von
1801 beteiligt und ergänzte diese 1803 durch weitere 18 Paragraphen. Diese Instruktion blieb 70 Jahre lang, bis zur Aufhebung der Kolonialverwaltung, in Kraft.
Mit der Ankunft der ersten Einwandererwelle des Jahres 1803
wurde Kontenius mit deren Aufnahme und Ansiedlung be-
traut. Er kümmerte sich um jeden ankommenden Transport,
besichtigte persönlich die für die Ansiedlung bestimmten Stellen, kümmerte sich um den Häuserbau, die Beschaffung von
Saatgut und landwirtschaftlichem Gerät. Viel Zeit und Mühe
widmete er der Verbreitung von Obst- und Gemüseanbau,
kümmerte sich um die Schaf- und Seidenraupenzucht (letzteres ohne bleibenden Erfolg). Für seine Ausdauer spricht u.a.,
dass er im Verlauf von 20 Jahren die Entwicklung der Schafzucht beobachtete und für die Verbreitung der gewonnenen
Erkenntnisse sorgte.
Am 23. März 1818 wurde Kontenius auf eigenen Wunsch aus
dem Dienst entlassen, aber nach einem Dreivierteljahr erneut,
dieses Mal als außerordentliches Mitglied des Fürsorgekomitees für ausländische Ansiedler in Südrussland in den Dienst
aufgenommen. Selbst im Alter von 80 Jahren versah er diesen
Dienst noch, inspizierte persönlich Kolonien und kümmerte
sich dabei um alle anfallenden Fragen. Im Umgang mit den
Untergebenen und den Kolonisten war er streng, aber gerecht.
Faule und verschwenderische Kolonisten konnte man seiner
Auffassung nach nicht ohne körperliche Züchtigung zur Ordnung erziehen. Der Erfolg gab ihm Recht.
Kontenius verstarb am 30 Mai 1830 in Jekaterinoslaw und
wurde in der nahegelegenen Kolonie Josefstal beigesetzt. Für
das Grab und den Grabstein trafen Spenden aus den verschiedensten Kolonien Südrusslands ein, ein letztes Zeichen der
Verbundenheit der Kolonisten mit ihrem Wohltäter und Betreuer. Sein eigenes Vermögen hatte er zum größten Teil für
den Bedarf von Schulen und Kirchen gestiftet.
Den Grabstein hat K. Stumpp während eines Besuchs in Josefstal im Jahre 1942 gesehen. Nach dem Zweiten Weltkrieg
wurde Josefstal nach Dnjepropetrowsk eingemeindet; der
Friedhof musste Wochenendhäusern weichen, bei deren Bau
Grabsteine als Bausteine verwendet wurden. Auch der Grabstein von Kontenius war für Jahrzehnte vom Erdboden verschwunden. Erst im Herbst 2002 kam er bei Niedrigwasser
nach einem regenarmen Sommer zum Vorschein; er lag im
Fluss und wurde von Anglern als Stütze genutzt.
Währenddessen erreichte Richelieu die Nachricht, dass weitere 500 Familien aus Baden zur Auswanderung bereit seien.
Diese galten, im Unterschied zu anderen Einwanderern aus
Deutschland, als besonders sittsam und ordentlich in der
Wirtschaftsführung. Sie sollten getrennt von den anderen
Kolonisten angesiedelt werden.
Wegen der großen Zahl von Kolonisten, die 1808 bereits unterwegs nach Russland waren bzw. bereit waren aufzubrechen, wurde mit Hochdruck weiteres geeignetes Land gesucht und am Flüsschen Beresan gefunden. 1809 konnten
dort die Kolonien Landau, Speyer und Rohrbach gegründet
werden. 1810 kamen Worms, Sulz, Karlsruhe, Rastadt und
München hinzu.
Insgesamt wurden für die Anlage von Kolonien von Februar
1804 bis November 1809 rund 71.900 Desjatinen Land zur
Verfügung gestellt. Die Revision (Zählung der Steuerseelen)
im Jahre 1811 ergab, dass in den vier Kolonistenbezirken
bereits 157.609 Desjatinen Land von Kolonisten bewirtschaftet wurden. Bis 1858 wuchs das im Gouvernement
Cherson zugeteilte Land bereits auf eine Fläche von 185.963
Desjatinen an. Dazu kamen weitere 26.530 Desjatinen Land,
die von Kolonien oder einzelnen Kolonisten gekauft wurden.
In der Literatur kann man häufig die Aussage antreffen, dass
die Kolonisation im Schwarzmeergebiet gut vorbereitet und
planmäßig verlaufen sei. Das vorgefundene Aktenmaterial
zeigt ein anderes Bild: Weder die Regierung in St. Petersburg noch die Verwaltung in Odessa war auf die Kolonisation gut vorbereitet. Mit viel Energie und Improvisation gelang es Herzog Richelieu und Samuel Kontenius, Land für
die Anlage der Kolonien zur Verfügung zu stellen und die
Einwanderer aufzunehmen und zu unterstützen. Im Zuge der
Beschaffung von Land gewann die Regierung auch Klarheit,
wie viel Land diese Region eigentlich hatte, wem es gehörte
und wie es genutzt wurde. Für die Kolonisten sollten der
ständige Bevölkerungszuwachs, erst durch Zuwanderung,
dann durch natürlichen Zuwachs, und der Bedarf an immer
neuem Land kennzeichnend werden.
Ackerbau war nicht die einzige Einnahmequelle der Kolonisten. Sie bauten Obst, Wein und Gemüse an, hielten Bienen und züchteten Seidenraupen. Eine wichtige Rolle spielte
die Viehhaltung. Aus Europa eingeführte Merinoschafe bildeten die Grundlage für eine erfolgreiche Schafzucht, die
den Bedarf des russischen Marktes zu befriedigen hatte.
Zur wichtigsten Einnahmequelle in der Landwirtschaft wurde jedoch der Getreideanbau. Begünstigt durch die Nähe zu
E
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200 Jahre Ansiedlung der Deutschen im Schwarzmeergebiet
Deutsche Kirchen
im Schwarzmeergebiet
Katholische Kirche in der Kolonie Rastadt, gebaut 1871/72.
Reformierte Kirche in Odessa, erbaut 1895/96; Ansichtskarte
vom Ende des 19. Jahrhunderts.
Entwurf für das Bethaus in der Kolonie Güldendorf bei Odessa,
1832.
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Kirche und Schule in Elsass.
200 Jahre Ansiedlung der Deutschen im Schwarzmeergebiet
Entwurf der katholischen Kirche für die Kolonie Rastadt (Kolonistenbezirk Beresan) von 1828, gebaut 1830.
Die Kirche von Landau 1942.
Die Mannheimer Kirche nach der Zerstörung.
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200 Jahre Ansiedlung der Deutschen im Schwarzmeergebiet
Odessa, das zwischen 1817 und 1859 die zollfreie Ausfuhr
von Waren ermöglichte (Porto-franko), entwickelte sich der
Getreideanbau rasch und machte 1822 bereits 96 % des russischen Getreideexports aus. Bis zum Jahre 1868 war der
Weizenanbau für die Kolonisten dominierend geworden: Sie
erzielten daraus 89 % ihrer Einnahmen. Das wiederum steigerte die Nachfrage nach immer mehr Land und führte in
der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Gründung zahlreicher Tochterkolonien und Bauernhöfe, russisch Chutor
genannt.
Nach der Bauernbefreiung von 1861 verkauften oder verpachteten viele Grundbesitzer ihr Land oder Teile davon.
Kolonisten konnten mit Geld, das Gemeinden durch die Verpachtung ihres Schäfereilandes erzielten, ihren Grundbesitz
bedeutend erweitern. So bewirtschafteten im Jahre 1890 die
auf 104.570 Personen angewachsenen deutschen Kolonisten
des Gouvernements Cherson neben den 185.963 Desjatinen
zugeteilten Landes 420.073 Desjatinen gekauften und
606.036 Desjatinen gepachteten Landes, d. h. sie hatten die
Fläche des bewirtschafteten Landes um das Fünfeinhalbfache vergrößert.
Über den Entwicklungsstand des Handwerks in Odessa zu
Beginn des 19. Jahrhunderts gibt eine Anekdote Auskunft:
Richelieu konnte nach seiner Ankunft binnen zweier Wochen nicht einmal ein paar einfache Stühle für sich auftreiben. Einen Tischler, einen Bäcker und einen Schlosser musste er sich vom Handelsminister aus St. Petersburg schicken
lassen.
Gegen diesen Zustand ging er energisch vor. Von den 1803
in Odessa angekommenen Kolonisten wurden sogleich 42
Handwerkerfamilien in der Stadt belassen. Sie bildeten eine
Handwerkerkolonie. Andere Handwerker wurden in den
Städten Ovidiopol und Grigoriopol angesiedelt.
Bis 1819 entstanden in Odessa bereits neun deutsche Handwerkerinnungen: Zimmerleute, Wagenbauer, Schlosser,
Schuster, Schneider, Buchbinder, Werkzeugmacher, Uhrmacher und Konditoren. Bis 1835 war die Innung der Zimmerleute auf 52 Meister und 91 Gesellen angewachsen. Bis
zu 200 junge Leute, darunter auch Russen, gingen bei ihnen
in die Lehre. Damit wurden Kenntnisse und Fertigkeiten in
einem der wichtigsten Bauberufe weiter gegeben. Für eine
Katalog der Johann-Höhn-Werke für Landmaschinen, herausgegeben 1904 zum 50-jährigen Jubiläum.
im Aufbau befindliche Stadt war das von unschätzbarem
Wert.
Die Landwirtschaft konnte expandieren, weil das dafür benötigte landwirtschaftliche Gerät von Handwerkern in Odessa, aber auch in den Kolonien selbst gefertigt wurde. Am bekanntesten ist Johann Höhn und dessen
Fabrik, in welcher der so genannte Kolonistenpflug entwickelt wurde. Die Produktion konnte die Nachfrage kaum decken,
obwohl zu Beginn des 20. Jahrhunderts
bereits 36.00 Pflüge jährlich und 1912 ca.
80.000 Pflüge ausgeliefert wurden. Pflüge
der Firma Höhn wurden auch in andere
Gouvernements Russlands bis nach Sibirien geliefert.
Ein anderes namhaftes Unternehmen war
die Firma “Bellino-Fenderich”. 1873 aus
einer Reparaturwerkstatt hervorgegangen,
spezialisierte sie sich in den 1880er Jahren
auf den Bau von Dampfschiffen für die
Beförderung von Personen und Gütern,
von Dampfkesseln und Waggons für die
Straßenbahn,
rüstete
Dampfmühlen,
Brauereien, Ölmühlen und andere Betriebe
Werbeanzeige der Pflug-Fabrik Johann Höhn, Odessa, Ende des 19. Jahrhunderts. aus.
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200 Jahre Ansiedlung der Deutschen im Schwarzmeergebiet
Auszug aus dem Gesetz für die
evangelisch-lutherische Kirche
in Russland (1832)
§9
In den Evangelisch-Lutherischen Kirchen Russlands werden
außer den Sonntagen folgende Feste gefeiert: an zwei Tagen
das Fest der Geburt Christi (den 25. und 26. Dezember), der
Neujahrstag (den 1. Januar), das Fest der Erscheinung Christi
(den 6. Januar), Mariae-Verkündigung (den 25. März), Gründonnerstag, Charfreitag, der 1-te und 2-te Tag des Osterfestes, Christi Himmelfahrt, zwei Tage des Pfingstfestes, das
Fest Johannis des Täufers (den 24. Juni), der allgemeine Bußund Bettag (am Mittwoch nach dem Sonntage Invocativ), das
Erndtefest (am ersten Sonntage nach Michaelis), das Reformations-Fest (den 19/31. October oder am ersten darauf folgenden Sonntage), die Todtenfeier zum Andenken an die im
Verlaufe des Jahres Verstorbenen (am letzten Sonntage des
Kirchen-Jahres) und endlich das Kirchweihfest, wo solches
bisher gefeiert worden oder die Gemeinde diese Feier einzuführen wünscht.
§ 10
Außer den Kirchenfesten werden in allen Evangelisch-Lutherischen Kirchen in Russland gefeiert: die Geburts- und Namenstage Ihrer Majestäten des Kaisers und der Kaiserin und
Seiner Kaiserlichen Hoheit des Thronfolgers, Großfürsten
Zesarewitsch, und andere Staatsfeste, die in dem zu diesem
Behufe von dem Ministerium der innern Angelegenheiten
jährlich herauszugebenden, besondern Verzeichnisse angegeben werden.
§ 290
Alle Evangelisch-Lutherischen Gemeinden in Russland, mit
Ausnahme der auf den Colonieen in Grusien befindlichen,
stehen unter der Aufsicht der Provinzial- oder Stadt-Consistorien, deren Zahl gegenwärtig auf acht festgesetzt wird:
1) Das St. Petersburgische, 2) das Liefländische, 3) das Ehstländische, 4) das Kurländische, 5) das Moskowische, 6) das
Oeselsche, 7) das Rigasche und 8) das Revalsche.
§ 291
Zu den Bezirken dieser Consistorien gehören:
1) Zu dem Bezirke des St. Petersburgischen Provinzial-Consistoriums: die Evangelisch-Lutherischen Gemeinden des
Gouvernements St. Petersburg, die Städte Kronstadt und Narwa mit einbegriffen, ferner die Gouvernements Nowgorod,
Pleskow, Wologda, Olonetz, Archangel, Kostroma, Jaroslaw,
Smolensk, Tschernigow, Volhynien, Podolien, Kiew, Poltawa, Ekaterinoslaw, Taurien, Cherson mit der Stadt Odessa,
und des Gebiets von Bessarabien.
che, auf die Kirchenschule, verdeutlicht allein schon deren
Verdienste.
Die erste Kolonistenschule wurde mit der Gründung der
Handwerkerkolonie in Odessa eingerichtet. Sie wurde von
Knaben und Mädchen besucht, die in Lesen, Schreiben,
Rechnen, Deutsch, Russisch und Gesang unterrichtet wurden. Im Jahre 1825 wurde der Unterricht in der Kirchenschule der evangelisch-lutherischen St.-Pauli-Kirche aufgenommen. Diese Schule wurde ganz wesentlich vom Pastor
der Gemeinde, Karl Fletnitzer, erst als Lehrer, dann 40 Jahre
lang als Pastor und ab 1857 als Direktor geprägt. Mit Zustimmung des Bildungsministeriums wurde die Gemeindeschule 1857 in eine Realschule mit zwei Abteilungen umgewandelt. In der Realabteilung wurden neben Deutsch, Russisch und Französisch Arithmetik, Geometrie, Erdkunde,
Geschichte, Gesang, Religion und Zeichnen unterrichtet. In
der Abteilung für Mädchen wurden ebenfalls Deutsch, Russisch, Französisch, Arithmetik, Erdkunde, Geschichte, Religion und Gesang sowie Handarbeit und Haushaltsführung
unterrichtet. Die Abteilung für die kaufmännischen Berufe,
wie wir das heute nennen würden, konnte nach Abschluss
der Realschulabteilung besucht werden. Dort wurden zusätzlich zu den drei Sprachen noch Englisch und Italienisch,
Physik, Technologie, Mechanik und Buchhaltung unterrichtet. So gerüstet, konnten sich die Absolventen in ihren Berufen bestens behaupten und erfolgreich arbeiten.
Am 1. Januar hatte die St.-Pauli-Realschule 720 Schüler, davon 498 Knaben und 222 Mädchen.
In den Bauernkolonien wurden nach deren Gründung ebenfalls Kirchenschulen gegründet, deren Besuch für Knaben
und Mädchen im Alter von 8 bis 14 Jahren obligatorisch
war. Im 20. Jahrhundert nannte man die Kirchenschule oft
eine Anstalt, in der lediglich auf die Konfirmation bzw.
Kommunion vorbereitet wurde. Diese abschätzige Bewertung entsprach nicht der Wirklichkeit. Die Qualität des Unterrichts war sicher von Schule zu Schule unterschiedlich
und entsprach nicht immer den Anforderungen der Zeit. Ein
Blick in die Statistiken der Landschaftsverwaltung zeigt,
dass 1889 von den 154 Schulen im Bezirk Odessa 54 auf die
deutschen Kolonien entfielen. Pro 1.000 deutsche Einwohner des Bezirks zählte man 122 Schüler. Bei der nichtdeutschen Bevölkerung waren es gerade mal 32,7 Schüler.
Zum Jahre 1912 gab es in den Kolonien außer den Kirchenschulen vier private Progymnasien, eine Taubstummenan-
Kirche und Schule
Die Kirche stand nicht nur inmitten der Kolonie, sie bildete
auch den Mittelpunkt des geistigen und kulturellen Lebens
der Kolonisten. Die evangelisch-lutherischen Gemeinden
des Schwarzmeergebiets bildeten seit 1832 den 2. Probstbezirk des St. Petersburger Konsistorialbezirks.
Die römisch-katholischen Gemeinden des Schwarzmeergebiets und der Wolgaregion bildeten seit 1848 das Bistum Tiraspol, dessen Bischofssitz sich von 1856 bis 1917 in Saratow befand. Über die Geschichte beider Konfessionen gibt
es zahlreiche wissenschaftliche Publikationen in deutscher
und in den letzten Jahren auch neuere Arbeiten in russischer
Sprache. Auf einen Exkurs kann hier daher verzichtet werden. Der Hinweis auf eines der Betätigungsfelder der Kir-
Die Taubstummenanstalt in Worms.
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200 Jahre Ansiedlung der Deutschen im Schwarzmeergebiet
stalt in Worms, Zentralschulen in Landau und Großliebental
und eine private Realschule in Neu-Freudental. In Odessa
fand Unterricht außer an der St.-Pauli-Realschule an der privaten Handelsschule von Heinrich Feig und am ebenfalls
privaten Gymnasium von A. Jungmeister statt. Der Wert einer höheren Bildung wurde von der deutschen Bevölkerung
erkannt.
Jahrzehnt der Umbrüche und Reformen
(1861 bis 1871)
Über den Status der Kolonisten und deren Verwaltung gibt
es in der Presse noch immer manches zu lesen, was die Autoren längst wissen müssten: Die Kolonisten leisteten nach
ihrem Eintreffen in Russland den Untertaneneid, sie wurden
russische Untertanen.
Die hoch gelobte Selbstverwaltung erfolgte nach Regeln, die
auch für die russischen Staatsbauern galten. Außer den aus
eigener Mitte gewählten Dorfschulzen, Oberschulzen, deren
Beisitzern und den Ältesten für je zehn Höfe (Desjatskij) übten Kolonieaufseher des Fürsorgekontors, später des Fürsorgekomitees die Aufsicht über die Kolonien aus. Außer der
niederen Gerichtsbarkeit fielen alle Streit- und Strafsachen
in die Zuständigkeit der allgemeinen Justiz. Natürlich war
die rechtliche Lage der Kolonisten ungleich besser als die
der leibeigenen Bauern. Sie entsprach, mit wenigen Ausnahmen, dem Status der Staatsbauern, denn Kolonisten galten
als solche.
Nach der Niederlage Russlands im Krim-Krieg (1854-56)
trat das Land in eine Periode bedeutender Reformen ein. Die
Befreiung der leibeigenen Bauern, die Justiz-, die Verwaltungs- und die Militärreform veränderten Russland. Sie
brachten auch bedeutende Änderungen für die Kolonisten
mit sich. Nach der Befreiung der leibeigenen Bauern trennten sich Gutsbesitzer leichter von ihrem Land. Die Kolonistengemeinden konnten leichter Land zum Pachten und Kaufen finden, auch wenn die Preise stark anstiegen.
Über die Selbstverwaltung der Kolonisten ist im Schrifttum
nachzulesen, es sei ein von den Zaren gewährtes Privileg gewesen. Dabei wird übersehen, dass die “Instruktion für die
innere Verwaltung der Ausländerkolonien Neurusslands”
(16. Mai 1801) in den Bestimmungen über die Verwaltungsorgane und Amtspersonen in den Kolonien und Kolonistenbezirken sowie deren Kompetenzen dem Zaren-Ukas des
Jahres 1797 “Über die Aufteilung der Siedlungen auf Staatsland in Kreise und deren innere Verwaltung” entsprach.
Die Agrarreform von 1861 gab den nun befreiten ehemaligen leibeigenen Bauern die Möglichkeit, Dorfgemeinden
und Kreise zu bilden und ihre Gemeinde- und Kreisverwaltung nach dem Vorbild des “Kolonialstatuts für Ausländerkolonien im Reich” von 1857 einzurichten.
Der nächste Schritt zur Rechtsangleichung wurde 1864 mit
der Einführung der Landschaftsverwaltung auf der Bezirksund Gouvernementsebene vollzogen. Der Adel, die Großgrundbesitzer und Kaufleute bildeten die erste und zweite
Wahlkurie, die Bauern die dritte. Dieser Unterteilung lag ein
Vermögenszensus zu Grunde. Es war keine Benachteiligung
aufgrund der Volkszugehörigkeit.
Kolonisten beteiligten sich an den Wahlen und konnten für
die erste Wahlperiode der Landschaftsversammlung des
Odessaer Bezirks (1865-1868) fünf Abgeordnete aus ihren
Reihen wählen. Das waren 12,5 % der Abgeordneten. Für
10
die zweite Wahlperiode (1868-1871) stellten sie 40 % der
Abgeordneten von den Grundbesitzern und 30,77 % von den
Dorfgemeinden. J. A. Kundert wurde zum Mitglied der Bezirksverwaltung gewählt. Die Bezirksverwaltung bestand
aus dem Vorsitzenden und drei Mitgliedern.
In die Landschaftsverwaltung des Gouvernements Cherson
wurde für die erste Wahlperiode kein deutscher Abgeordneter vom Bezirk Odessa entsandt. Für die zweite Wahlperiode
waren es bereits zwei von sieben (28,57 %). Zu dieser Zeit
hielt das Fürsorgekomitee noch seine schützende Hand über
die Kolonien.
Nach der Aufhebung der Kolonialverwaltung ließ das Engagement der Siedler-Landeigentümer, wie die Kolonisten jetzt
offiziell hießen, nicht nach. Von den Grundeigentümern
wurden 15 Deutsche (75 %) und vom Bauernstand fünf
(35,71 %) gewählt. Zwei Deutsche wurden Mitglieder der
vierköpfigen Bezirksverwaltung. Auch in der Gouvernementslandschaftsversammlung waren die Deutschen mit vier
Abgeordneten (57,14 %) überrepräsentiert.
Diese Zahlen belegen, dass die Kolonisten keineswegs unvorbereitet in das Jahr 1871 kamen. Sie hatten bereits gelernt, erfolgreich für ihre Interessen einzustehen und sich gemeinsam mit den andersvölkischen Nachbarn um das Gemeinwohl zu kümmern.
Wehrpflicht
Die Einführung der Wehrpflicht war sicher eine gravierende
Neuerung. Sie war aber offensichtlich weniger schmerzhaft
als befürchtet. Vor dieser Reform hatten Rekruten 15 Jahre
lang zu dienen. Nach dem Wehrgesetz von 1871 dauerte der
Wehrdienst höchstens sechs Jahre. Wer eine Volksschule absolviert hatte, musste vier Jahre lang dienen; Absolventen einer Hochschule dienten nur drei Monate. Da der Besuch der
Kirchenschule für alle Kolonistenkinder obligatorisch war,
verkürzte sich ihr Militärdienst. Söhne, welche den Bauernhof führten und somit Ernährer der Familie waren, blieben
vom Militärdienst ausgenommen.
Mennoniten sahen mit der Einführung der Dienstpflicht auf
der Grundlage des “Statuts über die Wehrpflicht” große
Probleme auf sich zukommen. Auch wenn es letztendlich
gelang, für Mennoniten eine Ausnahme zu erreichen, indem
sie ihren Dienst ohne Waffen zu leisten hatten (Regeln über
die Ableistung der obligatorischen Dienstpflicht durch Mennoniten, 1875), war die Unruhe groß. In den Jahren 1874 bis
1880 wanderten ca. 15.000 Mennoniten nach USA aus, obwohl die amerikanische Regierung ihnen keine Befreiung
vom Wehrdienst gewährte. Sie bekamen reichlich Land zugewiesen und hinterließen ihren Gemeinden im Schwarzmeergebiet das bisher bewirtschaftete Land. Damit trat eine
gewisse Entspannung in den übervölkerten Kolonien an der
Molotschnaja ein. Auch aus dem Gouvernement Cherson
wanderten von 1871 bis Ende August 1873 131 Familien
nach Nordamerika aus. In den darauffolgenden Jahren zählte
man die Auswanderer in Tausenden. Die Auswanderung war
auf der Grundlage des Gesetzes über die Aufhebung des Kolonistenstandes von 1871 binnen zehn Jahren unter Mitnahme des Eigentums möglich. Davon machten insgesamt mehrere zehntausend Mennoniten, deutsche und bulgarische Kolonisten Gebrauch.
Insgesamt scheint der Militärdienst in Friedenszeiten für die
Kolonisten weniger schwer gewesen zu sein, als man dies
200 Jahre Ansiedlung der Deutschen im Schwarzmeergebiet
befürchten hatte müssen. Natürlich gab es zahlreiche Versuche, dem Militärdienst wegen angeblich schlechter Gesundheit zu entgehen. Darin unterschieden sich die Kolonisten
kaum von ihren russischen und ukrainischen Nachbarn. Anders war es, will man der “Odessaer Zeitung” glauben, in
Zeiten einer äußeren Bedrohung. Während des russisch-türkischen Krieges 1877-1878 spendeten Kolonisten Geld, Lebensmittel und Kleider für die Armee und die Hospitäler.
Während des russisch-japanischen Krieges von 1905 führten
die molotschnaer Mennoniten für sich eine freiwillige Sondersteuer in Höhe von 50 Kopeken pro Desjatine Land und
von fünf Kopeken pro Desjatine monatlich für die Dauer des
Krieges ein. Mehrere Dutzend Mennoniten meldeten sich
freiwillig als Sanitäter für den Kriegsschauplatz in Fernost.
Die Chortizaer Mennoniten übernahmen freiwillig den Unterhalt von 20 Sanitätern und spendeten größere Geldbeträge
für das “Evangelische Feldlazarett”.
Es gab auch Opfer unter den Kolonistensöhnen. So kann
man auch heute noch auf einem Denkmal in BelgorodDnjestrowskij (früher: Akkerman) neben russischen, ukrainischen und bulgarischen Namen auch Namen deutscher Gefallener lesen.
Der Erste Weltkrieg
Während des Ersten Weltkriegs wurden die Schwarzmeerdeutschen wie die anderen Russlanddeutschen auch auf eine
harte Probe gestellt. Die Regierung setzte Gesetze durch,
welche zuerst die Liquidierung des Grundbesitzes reichsdeutscher, österreichischer, bulgarischer und türkischer Untertanen außerhalb der Städte in einem Grenzstreifen von ca.
150 km entlang der Westgrenze und von 100 km Breite entlang den Ufern der Ostsee, des Schwarzen, des Asowschen
und des Kaspischen Meeres zum Ziel hatten. Diese Gesetze
wurden wiederholt “modifiziert” und schließlich gegen russische Untertanen deutscher Volkszugehörigkeit bis hin nach
Sibirien angewandt.
Die Zivilbevölkerung war während des Krieges massiver
Diskriminierung ausgesetzt. So durften keine Zeitungen
mehr in deutscher Sprache erscheinen, Werbeaufschriften
und Hinweisschilder mussten entfernt werden. Lehrer, die
von der Verwaltung als unzuverlässig angesehen wurden,
sollten den Schuldienst verlassen und die Schulen, so sie
ohne Lehrer blieben, geschlossen werden.
Am weitesten ging der Gouverneur von Jekaterinoslaw: Er
verbot unter Strafe Versammlungen von mehr als zwei deutschen Männern, und sei es auch im eigenen Haus. Das führte
dazu, dass selbst die Bestattung Verstorbener russischen
Nachbarn anvertraut werden musste.
Zur gleichen Zeit befanden sich über 250.000 Kolonisten in
den Reihen der russischen Armee. Nach einer Erhebung von
K. Lindeman sollen aus den Kolonien Neurusslands und der
Krim bis zu 60 % aller Männer im wehrfähigen Alter zum
Dienst einberufen gewesen sein. Aus den Bezirken Odessa,
Ananjew und Tiraspol des Gouvernements Cherson wurden
2.088 Männer für den Krieg mobilisiert, 108 von ihnen fielen, 339 wurden verwundet, sieben mit Medaillen und Orden
ausgezeichnet. Von den 7.623 Mobilisierten, über die Lindeman Informationen sammeln konnte, fielen 5 %, 5 % wurden verwundet, 128 Soldaten wurden zu Unteroffizieren befördert, 49 kamen als Offiziere von der Front nach Hause.
Machtwechel in Odessa
1. Provisorische Regierung: 12.3.1917 - 27.1.1918
2. Sowjetmacht, 1. Phase: 27.1.1918 - 13.3.1918
3. Österreichische und deutsche Besatzung: 13.3.1918 18.12.1918
4. Französische Interventionstruppen: 18.12.1918 - 4.4.1919
5. Sowjetmacht, 2. Phase: 4.4.1919 - 23.8.1919
6. Freiwilligenarmee (die Weißen): 23.8.1919 - 8.2.1920
7. Sowjetmacht: 8.2.1920 -
Wegen des Misstrauens russischer Regierungs- und Militärstellen wurden deutsche Soldaten von der Front gegen
Deutschland und Österreich-Ungarn abgezogen und an die
türkische Front verlegt. Doch auch dort leisteten sie ihren
Dienst entsprechend dem geleisteten Eid: Russland war ihr
Vaterland, sie haben es verteidigt.
Zwischen Aufbruch und Untergang
Die ersten Jahre nach dem Sturz des Zaren waren im
Schwarzmeergebiet von häufigem Machtwechsel geprägt.
Vom Sturz des Zaren (12. März 1917) bis Februar 1920
wechselte die Macht in Odessa und Umgebung sieben Mal.
Cherson erlebte fünf Machtwechsel. Angesichts der während
des Weltkrieges durch die russische Regierung veranlassten
Diskriminierung wird verständlich, warum die sonst so zaren- und staatstreuen Russlanddeutschen den Sturz der Zarenregierung begrüßten und ein sehr reges politisches Leben
an den Tag legten.
Die erste Versammlung von Deutschen der Stadt Odessa
fand bereits am 28. März 1917 statt. Danach folgten Kongresse im Mai und August 1917. In den Monaten, die dazwischen lagen, wurde der Aufbau eines “Allrussischen Bundes
russischer Deutscher” mit Zentralkomitees in 17 Siedlungsgebieten des Russischen Reiches vorangetrieben. Das Odessaer ZK konnte bis August 1917 im Gouvernement Cherson
45 Ortsvereine aufbauen, denen 7.240 Mitglieder angehörten. Dem Verband ging es um den Aufbau einer wirksamen
Vertretung der Interessen der Kolonisten (Aufhebung der Liquidationsgesetze, Zulassung der deutschen Sprache, Landreform, nationale Schule, Wahl deutscher Abgeordneter in
die Nationalversammlung) gegenüber der Regierung, denn
in dem sich neu ordnenden Russland bemühten sich alle
Stände, Volksgruppen und politischen Gruppierungen, ihre
Vorstellungen öffentlich und mehrheitsfähig zu machen. Die
ehemaligen Konstitutionellen Demokraten und die Partei der
Sozialrevolutionäre hatten in ihren Parteiprogrammen Vorstellungen zum Recht auf Privateigentum und zur Agrarreform, zur Selbstverwaltung und zur Kulturautonomie, die
den Kolonisten nahe waren. Doch während des Weltkrieges
konnten die bestehenden politischen Parteien das Deutschen
angetane Unrecht nicht verhindern. Man hatte also keine andere Wahl, als zu versuchen, sein Schicksal selbst zu meistern.
Heute hört man mitunter Meinungen, es seien fromme Wünsche gewesen oder die Russlanddeutschen und die Mennoniten seien für die Politik nicht reif gewesen. Hatten sie denn
eine andere Möglichkeit? Sollten sie etwa untätig abwarten?
Die verfassunggebende Versammlung war kaum zusammengetreten, da jagten die Bolschewiki die Abgeordneten auseinander und ergriffen die Macht. Wer konnte damals wissen, dass sie diese über 70 Jahre lang ausüben würden?
11
200 Jahre Ansiedlung der Deutschen im Schwarzmeergebiet
Auszug aus dem Protokoll der Sitzung
des Zentralkomitees des Verbandes
der deutschen Kolonisten im Schwarzmeergebiet
vom 19. August 1919
1. Der Vorsitzende berichtet über die Verhandlungen, die die
Deputation des Z.-K. mit dem Korpsgeneral der Freiwilligen-Armee, Gen. Schilling, geführt hat. Er hat den deutschen Kolonisten sein vollstes Vertrauen ausgedrückt und
begrüßte deren Absicht, mit der russischen Bevölkerung
zusammen gegen die Kommunisten vorzugehen. Dr. Flemmer schlägt vor, zur Klärung aller die deutschen Kolonisten betreffenden Fragen, Rechte und Pflichten eine Delegation an Denikin und dessen Ministerien zu entsenden.
Das erste wird angenommen, die Besprechung des zweiten
Vorschlags bis zur nächsten Sitzung verschoben.
2. Die auf Grundlage der alten Regeln neu bearbeiteten Statuten des Selbstschutzes werden von Gen. Schöll verlesen
und nach eingehender Besprechung mit einigen prinzipiellen und redaktionellen Änderungen angenommen. Es soll
sofort um Bestätigung dieser Statuten nachgesucht werden.
3. Der Vorsitzende weist auf die Notwendigkeit hin, den
Vereinsboten so schnell als möglich wieder herauszugeben. Dieser Vorschlag wird einstimmig angenommen und
zugleich beschlossen, das Blatt zweimal wöchentlich erscheinen zu lassen. Der Preis soll etwa 3 Rubel pro Nummer betragen. Für den Anfang wird eine Auflage von
2.000 Exemplaren festgesetzt.
...
6. Zum Schluss der Sitzung wendet sich der Vorsitzende an
die beiden Vertreter Gr. Liebentals, denen er die Anerkennung des Z.-K. für den mutvollen Kampf gegen die Bolschewiki ausspricht. Er beklagt die herben Verluste an
kostbaren Menschenleben und hofft, dass die Opfer nicht
nutzlos gebracht sind.
Quelle: Vereinsbote Nr. 20,
Freitag, 30. August (12. September) 1919, S. 2-3.
Das Leben verlief in ungewissen und ungeahnten Bahnen:
1918 unterzeichnete die ukrainische Regierung einen Friedensvertrag, der eine Zusatzvereinbarung enthielt. Kolonisten durften binnen zehn Jahren unter Mitnahme ihres Eigentums nach Deutschland zurückkehren. Als dann im März
1918 deutsche und österreichisch-ungarische Truppen in die
Der "Vereinsbote" (Januar 1919 bis Februar 1920).
12
Ukraine kamen, glaubten viele, jetzt würden sie dauerhaften
Schutz bekommen. Pastor Immanuel Winkler entwickelte im
Schwarzmeegebiet und auf der Krim die Idee, eine deutsche
Kronkolonie Krim-Taurien zu schaffen und alle Kolonisten
vom Gebiet des Russischen Reiches dorthin umzusiedeln.
Dieser Plan wurde von der deutschen Reichsleitung nach
wochenlangem Zögern abgelehnt. Auch der Wunsch vieler,
die deutsche Staatsangehörigkeit zu bekommen und nach
Deutschland umsiedeln zu dürfen, ging nicht in Erfüllung.
Als dann im November 1918 in Berlin und in Wien die Revolution ausbrach, zogen sich die Besatzungstruppen aus der
Ukraine zurück. Die Kolonisten blieben auf sich selbst gestellt und mussten sich mit ihren Nachbarn und den Machthabern arrangieren.
Jetzt mussten brauchbare Lösungen her. Der Verband der
deutschen Kolonisten im Schwarzmeergebiet stützte sich auf
das von der ukrainischen Regierung erneut in Kraft gesetzte
“Gesetz über die national-personale Autonomie” und arbeitete ein 459 Artikel umfassendes Statut aus. In 24 Abschnitten waren u.a. Fragen der Verwaltung, der Polizei, der Streitkräfte, der Rechtsprechung, des Gesundheitswesens, der Bildung und der Steuern geregelt. Alle Fragen, außer die des
Aufbaus einer Territorialmiliz unter dem Kommando eines
Generals und einer Nationalbank, gehörten in die Zuständigkeit der bisherigen Landschaftsverwaltung. Darin hatten die
Kolonisten ihre Erfahrungen sammeln können.
Der Verband konnte in der Tat ein Handelsbüro und eine
Schulabteilung aufbauen, einen Selbstschutz für die Kolonien aufstellen und ein Presseorgan herausgeben. Die ukrainische Regierung und das Kommando der österreichischen
und deutschen Truppen genehmigten deren Tätigkeit, die
Franzosen duldeten sie, die Freiwilligenarmee unterstützte
sie zum Teil. Probleme gab es mit den Bolschewiki. Als diese im Sommer 1919 versuchten, gewaltsam junge Männer
für die Rote Armee zu mobilisieren und Pferde, Getreide
und Lebensmittel zu requirieren, brach in Groß-Liebental,
Mannheim, Hoffnungstal und den Nachbargemeinden ein
Aufstand aus, dem sich benachbarte bulgarische, russische
und ukrainische Dörfer anschlossen. Die Rote Armee musste
Odessa verlassen und kehrte nach verlustreichen Kämpfen
gegen die Freiwilligenarmee im Februar 1920 zurück.
Bevor die Rote Armee soweit war, bemühte sich der Verband der deutschen Kolonisten im Schwarzmeergebiet erneut, für Ruhe und Ordnung zu sorgen.
Im August 1919 wurde der Selbstschutz neu geordnet und an seine Spitze der aus Odessa stammende Generalmajor Gustav-Adolf Schöll gestellt.
Im September 1919 wurden für den
Selbstschutz Wehrpflichtige im Alter
von 36 und 37 Jahren eingezogen. Für
die Finanzierung des Selbstschutzes
wurde eine eigene Steuer erhoben. Der
Selbstschutz hielt enge Verbindung zu
den Ordnungskräften der Landschaftsverwaltung. Es wundert daher nicht,
dass auf Einladung des ZK des Verbandes Ende Dezember 1919 in Odessa eine Beratung von Vertretern einiger deutscher und russischer Kreise
200 Jahre Ansiedlung der Deutschen im Schwarzmeergebiet
Selbstschutz-Ordnung
gegen Bandenunwesen
für die Ortschaften mit deutscher Bevölkerung
im Schwarzmeergebiete
1. Nicht in der Zahl der Gewehre, nicht in der Menge der
wehrfähigen Mannschaft liegt die Stärke des Selbstschutzes, sondern in dem festen zielbewussten Willen
des Führens und in der entschlossenen, tatkräftigen Unterordnung der Mannschaft.
2. Alle wehrfähigen Männer einer Ortschaft bilden die Ortsschutztruppe. Sie setzt sich zusammen aus Bewaffneten
und Waffenlosen. Die Bewaffneten sind Reiter (in der
Regel mindestens 10 Mann für jede Ortschaft) und
Schützen.
3. Alle Wehrfähigen zusammen wählen sich einen Führer,
dem sie in öffentlicher Versammlung schriftlich und unter Handschlag an Eidesstatt das feierliche Versprechen
ablegen, sich in den Dienst des Selbstschutzes zu stellen
und den gewählten Vorgesetzten militärischen unbedingten Gehorsam zu erweisen bei allen zum Selbstschutz
gehörigen Befehlen. Auch der Führer verpflichtet sich
selbst schriftlich, sich nach bestem Können in den Dienst
des Selbstschutzes zu stellen.
4. Der Führer des örtlichen Selbstschutzes ist möglichst ein
Front-Offizier oder Front-Unteroffizier. Er kann auch aus
einem andern Dorfe stammen, muss aber dann in dem
Dorfe, das ihn gewählt hat, seine Wohnung nehmen.
5. Die Gliederung der ganzen Truppe einer Ortschaft in einzelne Teile hängt von der Zahl der Wehrfähigen ab und
ist von dem Führer vorzunehmen. Etwa 20-40 Mann bilden eine Gruppe und müssen ihren Vorsteher haben, der
Befehlsgewalt über sie hat. Die Gruppe setzt sich zusammen aus Bewaffneten und Unbewaffneten.
6. Mehrere zusammenliegende Orte bilden den örtlichen
Selbstschutzverband. Ihre Führer wählen einen Selbstschutzoffizier, dem sie ebenfalls schriftlich und unter
Handschlag an Eidesstatt das Versprechen des militärischen unbedingten Gehorsams bei allen Befehlen des
Selbstschutzes ablegen. Auch der Selbstschutzoffizier
verpflichtet sich selbst schriftlich.
7. Zum Selbstschutz durch den Kolonistenverband beschaffte Waffen (Gewehre, Handgranaten, Leuchtpistolen und Munition) werden gegen Quittung den deutschen
Dorfschulzen übergeben, die für Verteilung an zuverlässige Männer sorgen und über den Bestand und Verbleib
Buch führen. Bestand und Verbleib ist den Schulzen jede
Woche von den Führern zu melden.
...
22. Im Falle des Hilferufs ist jede Truppe unbedingt verpflichtet, den Bedrohten so schnell wie möglich zu Hilfe
zu eilen. Die Zurücklassung einer Ortswache zur Sicherheit des eigenen Dorfes unterliegt dem Ermessen des
Führers je nach der Sachlage.
23. Der Führer, dem man zu Hilfe eilt, übernimmt das Kommando auch über die Hilfstruppe.
24. In Fällen der Gefahr, wenn eine Truppe der anderen zu
Hilfe eilen muss, hat die Gemeinde auf Anfordern des
Selbstschutzoffiziers oder des Führers die nötigen Fuhrwerke zu stellen.
(wolost) der Bezirke Odessa, Tiraspol und Ananjew stattfand, in der beschlossen wurde, eine Bürgerwehr für die
Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung und zur Abwehr
von Bandenüberfällen aufzustellen. Die Geschichte nahm jedoch einen anderen Lauf: Im Januar 1920 wurden ca. 500
Mann Selbstschutzleute in Landau, Speyer, Rosenfeld und
Umgebung zusammengezogen. Nach Kampfverlusten zog
sich der deutsche Selbstschutz am 23. Januar nach Odessa
zurück, um wenige Tage später zusammen mit den Truppenverbänden unter dem Kommando des Generals F.E. Bredow
den Rückzug auf polnisches Gebiet fortzusetzen.
Anfänge der Sowjetmacht
Die Errichtung der Sowjetmacht ab Februar 1920 bedeutete
für die Kolonisten, immer neue Opfer zu bringen. Im Zeichen des Kriegskommunismus wurden die Kolonien rücksichtslos ausgeplündert. Im offiziellen Sprachgebrauch hieß
das, durch Druck auf die wohlhabenden Bauern (Kulaken)
überschüssiges Getreide für die Rote Armee und das Proletariat zu beschaffen. Wer sich dem nicht beugen wollte, wurde bestraft. Geiselnahmen zur Durchsetzung der Forderungen der Bolschewiki waren an der Tagesordnung. Abgeurteilt wurden auch die Teilnehmer des Aufstands von 1919.
Die Sowjetmacht wollte die Landlosen und Landarmen, auf
die sie sich im Wesentlichen stützte, mit Land versorgen.
Das Privateigentum sollte aber aufgehoben und durch Genossenschaften, Kommunen und Kollektivwirtschaften abgelöst werden. Der Staat beanspruchte für sich das Monopolrecht über sämtlichen landwirtschaftliche und industriell
gefertigte Produkte und setzte es rücksichtslos durch. Ein
Ergebnis dieser Politik war die Hungersnot der Jahre 192122.
Erneut griffen Kolonisten zur Selbsthilfe und gründeten den
“Verband der Bürger deutscher Rasse der Stadt und des Gouvernements Odessa”. Die Tätigkeit des Vereins wurde am
10. April 1922 genehmigt. Bis Ende 1922 zählte der Verband ca. 6.000 Mitglieder.
Das ZK der Russischen Kommunistischen Partei der Bolschewiki und das ukrainische ZK dieser Partei machten von
Anfang an dagegen Druck und zwangen diesen und andere
Hilfsvereine in der Ukraine und in Russland zur Auflösung
bzw. Unterordnung unter regierungskonforme Organisationen.
Die sowjetische Nationalitätenpolitik sollte für die nationalen Minderheiten gleiche Entwicklungsmöglichkeiten schaffen, wie die Bevölkerungsmehrheit sie bekommen hatte.
Kompakt lebende Volksgruppen bekamen nationale Dorfsowjets und nationale Landkreise. Im Gebiet Odessa wurden
1925 die Landkreise (Rayons) “Karl-Liebknecht” (Beresaner
Kolonien) und “Friedrich-Engels” (Kutschurganer Kolonien)
sowie 1926 der Liebentaler Landkreis gegründet. Schon bald
nach der Gründung des Liebentaler Rayons wurde er zur Erinnerung an die “Spartakisten”, gegen deren Übergriffe sich
die Kolonisten im Aufstand von 1919 zur Wehr gesetzt hatten, in “Spartakisten-Rayon” umbenannt. Zahlreiche deutsche Ortschaften bekamen neue Namen; so sollte der Helden
der Revolution und des Bürgerkriegs gedacht bzw. die Errungenschaften der neuen Macht gepriesen werden.
Auf dem Gebiet der Volksbildung begann die Sowjetisierung
mit der Trennung der Kirche vom Staat und der Schule von
der Kirche (1918). Im Bezirk Odessa wurden 1920 alle
13
200 Jahre Ansiedlung der Deutschen im Schwarzmeergebiet
Tragischer Bestandteil der Geschichte der Schwarzmeerdeutschen ist die Flucht in den so genannten Trecks Richtung Warthegau.
Schulen der Bildungsabteilung der Bezirksverwaltung unterstellt. An die Stelle der verschiedenen Schultypen sollte die
Einheits-Arbeitsschule treten. Die vier- bis achtjährigen Kinder sollten in Kinderheimen und Horten ihre soziale Erziehung bekommen, die acht- bis 15-jährigen die siebenjährige
Arbeitsschule durchlaufen und die über 15-jährigen eine Berufsschule besuchen können. Die Erziehung der vier- bis 15jährigen Kinder sollte den Familien entzogen werden. Kinderheime und Internate sollten der Erziehung einer “neuen
kommunistischen Generation” dienen.
Dies entsprach nicht den Wünschen der Eltern, und die
deutsche Lehrerschaft war, gemäß einer Einschätzung des
Odessaer Bezirksparteikomitees von 1925, zu 95 % dafür
nicht geeignet.
Diverse Versuche, eine neue Lehrerschaft heranzubilden,
waren im Grunde genommen gescheitert, da es erst an geeigneten Kandidaten für den Lehrerberuf mangelte, dann,
nach 1933, Säuberungen die Zahl der Lehrer dezimierten,
bis schließlich alle deutschen Schulen 1938 in russische
bzw. ukrainische Schulen umgewandelt wurden.
Kollektivierung und Säuberungen
Im März 1929 wurde auf Beschluss des ZK der KP(B)U der
Druck auf die Bauern in den deutschen Dörfern verstärkt.
Am 27. März folgte ein Parteibeschluss “Über die Aussied14
lung der Deutschen aus dem Bezirk Nikolajew”. Von der
Aussiedlung wurde ausgenommen, wer “freiwillig” seine
Wirtschaft aufgab und in die Kolchose eintrat.
Der Druck auf die Bauern führte 1929 zum Versuch mehrerer zehntausend, mit Hilfe der Deutschen Botschaft das Land
zu verlassen. Deutschland nahm nur 5.750 Flüchtlinge vorübergehend bis zur Weiterreise nach Übersee auf.
In der UdSSR wurde die Vernichtung der wohlhabenden
Bauern (Kulaken) forciert. Aus der Ukraine sollten 15.000
Kulaken in Konzentrationslager verbracht und 30.000 bis
35.000 aus ihren Dörfern verbannt werden.
Die gewaltsame Enteignung und Kollektivierung der Landwirtschaft hatte Unruhen in Kandel, Selz, Elsass, Mannheim,
Straßburg, Baden und Güldendorf zur Folge.
Nach der Machtergreifung der NSDAP in Deutschland wurden die Schwarzmeerdeutschen und die Wolhyniendeutschen der konterrevolutionären Tätigkeit, der Spionage und
anderer “Verbrechen” verdächtigt. Die Verfolgung Unschuldiger durch die Geheimpolizei GPU und das Innenministerium (NKWD) nahm immer bedrohlichere Ausmaße an und
gipfelte in den stalinschen Säuberungen der Jahre 19361938. Nach Angaben der Odessaer Organisation “Memorial”, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, wurden in der Stadt und dem Gebiet Odessa zwischen 1919 und
1983 über 26.000 Personen verschiedener Volkszugehörig-
200 Jahre Ansiedlung der Deutschen im Schwarzmeergebiet
keit verhaftet, davon über die Hälfte in
den Jahren 1937-1938. Von den Verhafteten entfielen auf Ukrainer 10.318 Personen, auf Russen 4.669, auf Deutsche
4.002 und auf Juden 2.047 Personen.
Von den verhafteten Ukrainern wurden
32,32 % zum Tode verurteilt, von den
Russen 28,95 %, von den Juden 25,2 %
und von den Deutschen 47,02 %. Deutsche waren auch mit 15,4 % aller Repressierten in der Stadt und dem Gebiet
Odessa weit überproportional betroffen.
So erklärt sich die Überlieferung der älteren Generation, wonach es keine deutsche Familie gab, der nicht Angehörige
durch Verhaftungen und Verbannungen
entrissen wurden.
Verlust der Heimat
Überwiegend deutsche Kinder aus dem Schwarzmeergebiet in ihrer neuen Heimat in
der Oberpfalz/Bayern 1948.
Der Kriegsbeginn im Juni 1941 war an sich schon eine Bedrohung. Die Deportation aller für die sowjetischen Behörden erreichbaren Deutschen im Sommer und Herbst 1941 ein vernichtender Schlag, von dem sich die Volksgruppe
nicht mehr erholen sollte.
Das Gebiet zwischen Dnjestr und Bug wurde in den ersten
Kriegsmonaten von der Wehrmacht und rumänischen Truppen besetzt. Am 28. August 1941 übernahm Rumänien dieses Gebiet unter der Bezeichnung “Transnistrien”. Für die
Deutschen, die ca. 6 % der Bevölkerung stellten, war das
SS-Sonderkommando “R” zuständig. Der Stab befand sind
in der Kolonie Landau. Die Erfassung aller Deutschen und
ihrer Familienangehörigen in der “Deutschen Volksliste
Ukraine” mit anschließender "Betreuung" durch die SS dauerte nicht lange. Die ältere Generation erinnert sich daran
wie auch an den Krieg nur ungern. Beides hat traumatische
Erinnerungen an den Verlust der Heimat und die Flucht vor
der heranrückenden Front hinterlassen. In der Nacht vom 17.
auf den 18. März 1944 setzten sich rund 125.000 Schwarzmeerdeutsche nach Westen in Bewegung. In zwei Trecks
eingeteilt, legten sie in zehn bis zwölf Wochen bis zu 2.000
km zu Fuß bis in den Warthegau zurück. Doch auch dort
holte sie die Front im Frühjahr 1945 ein. Die Folge war die
so genannte “Repatriierung” - doch keiner der “Repatriierten” konnte in sein Heimatdorf zurück. Sie wurden in Sondersiedlungen im hohen Norden, in Sibirien, Kasachstan und
Mittelasien gebracht.
Mit der Teilamnestie vom 13. Dezember 1956 wurde zugleich die Rückkehr in die Wohnorte der Vorkriegszeit verboten. Der Ministerrat der Ukraine bekräftigte das Rückkehrverbot in die Gebiete Dnjepropetrowsk, Saporoshje, Nikolajew, Odessa, Cherson und Krim am 15. Dezember 1956
und am 21. März 1958. Erst Anfang der 1970er Jahre wurde
dieses Verbot aufgehoben. Danach kehrten einige tausend
Schwarzmeerdeutsche in die Ukraine zurück.
Die 1990er Jahre
Nach der Erlangung der Souveränität ergriff die Ukraine
eine Reihe von Maßnahmen, um einen Teil der aus Kasachstan und Mittelasien abwandernden Russlanddeutschen zu
sich zu holen. Bekannt ist die vom Präsidenten der Ukraine
Leonid Krawtschuk am 23. Januar 1992 ausgesprochene
Einladung an Deutsche in Sibirien, Kasachstan und Mittelasien, in die Ukraine zurückzukehren. Von einem Teil der
Öffentlichkeit in Ost und West wurde ihm sofort unterstellt:
er wolle einen Teil der Hilfsgelder der Bundesregierung für
sein Land bekommen.
So einfach war es nicht. Auch in der Ukraine war man seit
den späten 1980er Jahren dabei, das vom stalinschen Regime verschiedenen Volksgruppen und sozialen Schichten zugefügte Unrecht wieder gutzumachen, so weit das eben ging.
Die Rückkehr der Krim-Tataren war eines der Probleme.
Andere Probleme bereitete die Rehabilitierung der während
der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft und während
des Zweiten Weltkrieges aus der Ukraine deportierten Menschen, darunter der Deutschen. Zu den ersten Akten der Ukraine nach der Erlangung der Souveränität gehörte die “Deklaration über die Rechte der Nationalitäten der Ukraine” (1.
November 1991). Danach wurde das Gesetz “Über die nationalen Minderheiten in der Ukraine” (25. Juni 1992) verabschiedet.
Ein weiteres Problem, die Entvölkerung der Steppenregion
durch die Deportation der Kulaken und der Deutschen, führte zu einer spürbaren Schwächung der Wirtschaft der Verwaltungsgebiete der Schwarzmeerregion. Mit den für die sowjetische Gesellschaft üblichen Mitteln ließ diese sich nicht
überwinden.
Der eine oder andere wird sich noch daran erinnern, wie Johann Hoffmann, damals Generaldirektor des UkrainischDeutschen Fonds, den Delegierten eines Kongresses der
Russlanddeutschen in Moskau eine Informationsmappe mit
dem Fragebogen für Umsiedlungswillige überreichte. In dieser Mappe befanden sich u.a. Vereinbarungen der Gesellschaft “Wiedergeburt” mit den Gebietsverwaltungen von Saporoshje, Nikolajew, Cherson und Odessa. Das Gebiet Cherson zeigte sich zur Aufnahme von bis zu 100.000 Deutschen
bereit, das Gebiet Nikolajew war an 15. bis 20.000 und das
Gebiet Odessa an 20.000 Personen interessiert. Bereits im
März 1991 war ich in diesen Gebieten und konnte mich von
der deutschfreundlichen Einstellung der Bevölkerung und
der örtlichen Verwaltungen in den Landkreisen Wysokopolje
15
200 Jahre Ansiedlung der Deutschen im Schwarzmeergebiet
siedler nannten den Wunsch, in die
Heimat ihrer Vorfahren zurückzukehren, als Beweggrund ihrer Umsiedlung
in das Gebiet Odessa.
Der wirtschaftliche Niedergang, eine
rasante Inflation, oft auch übermäßige
Bürokratie führten dazu, dass die Anzahl der in der Ukraine aufgenommenen Umsiedler stark beschränkt wurde.
Umsiedler bekamen die in Aussicht gestellte ukrainische Staatsangehörigkeit
nicht, konnten somit keinen Grund und
Boden privatisieren und waren von einigen staatlichen Unterstützungsmaßnahmen ausgeschlossen. Das erzeugte
Unruhe, bei vielen auch den Wunsch,
nach Deutschland auszuwandern, obwohl sie das ursprünglich nicht vorhatEvangelisch-Lutherische Kirche in Petrodolinskoje (Peterstal), Gebiet Odessa (Auf- ten.
nahme von 1998).
Am 1. Januar 2000 hielten sich, offiziellen Angaben zufolge, in der Ukraine
1.207 deutsche Umsiedler auf, davon
im Gebiet Odessa 661, im Gebiet Cherson 195, im Gebiet Nikolajew 68 und
im Gebiet Saporoshje 199. Sie trafen
noch da und dort auf alteingesessene
Deutsche, die zum größten Teil assimiliert waren.
Resümee
200 Jahre nach der Ankunft der ersten
Kolonisten in Odessa können wir festhalten, dass sie sich in der neuen Umgebung nach anfänglichen Schwierigkeiten zurechtfanden. Das Schwarzmeergebiet wurde ihre Heimat, die sie
zusammen mit ihren Mitbürgern gegen
äußere Feinde verteidigten und der sie
durch den Fleiß ihrer Hände zu Wohlstand verhalfen.
Kolonisten-Hof in Nowogradowka (Neuburg), Gebiet Odessa (Aufnahme von 1998).
Sie waren sicher kein “Staat im Staa(Kronau-Orloff) und Weselinowo (Landau) überzeugen und te”, schon gar nicht eine Bedrohung, keine “fünfte Kolondarüber der Bundesregierung berichten. Die Einladung des ne”. Die angebliche Selbstisolation war das Festhalten an ihukrainischen Präsidenten kam daher für Bonn nicht überra- rer Kultur und ihrem Glauben. Das hinderte sie aber nicht
schend.
daran, ihre Bürgerrechte wahrzunehmen und nach Wegen in
Die Umsiedlung sollte schnell vonstatten gehen, denn der die Zukunft zu suchen.
Vertreibungsdruck infolge des Aufbaus von Nationalstaaten Im 20. Jahrhundert mussten die Schwarzmeerdeutschen dem
in Kasachstan und Mittelasien, begleitet von Islamisierung Druck der Diktaturen weichen. Die meisten von ihnen konnund wirtschaftlichem Niedergang, war stark. Im Mai 1992 ten schon im Zuge der Familienzusammenführung nach
wurde deshalb vereinbart, den Umsiedlern Wohncontainer Deutschland ausreisen bzw. ihre Ausreiseanträge stellen.
als provisorischen Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Die Viele von ihnen sind im wahrsten Sinne des Wortes in ihre
ukrainische Seite hatte sich für deren Aufstellung sowie für historische Heimat, nach Baden, nach Württemberg, in die
die Versorgung der Umsiedler mit Arbeit verpflichtet. Auf Pfalz oder nach Hessen zurückgekehrt.
ukrainischer Seite wurde mit der Umsetzung der geplanten Im Schwarzmeergebiet leben heute wenige tausend alteingeMaßnahmen der Ukrainisch-Deutsche Fond betraut.
sessene Deutsche und knapp über 1.000 Zuwanderer aus anBis zum Sommer 1993 zogen ca. 200 Familien in das Gebiet deren Republiken, mit anderen historischen und kulturellen
Odessa, die meisten davon aus Kasachstan (93 %). Der weit Wurzeln. Ob sie sich zusammenfinden und eine beständige
überwiegende Teil der älteren Generation (74 %) stammte Siedlungsgruppe werden bilden können, muss die Zukunft
nicht aus der Ukraine, und die mittlere und jüngere Genera- zeigen. Wir jedenfalls wollen, bei aller Weltoffenheit, unser
tion sah die Ukraine zum ersten Mal. Nur 13 % dieser Um- Kulturerbe weiterhin bewahren.
16
200 Jahre Ansiedlung der Deutschen im Schwarzmeergebiet
Schwarzmeerdeutsche Kolonistenbezirke
Glückstaler
Kolonistenbezirk
D
ie Kolonien Glückstal (1809), Neudorf (1809), Bergdorf (1809) und Kassel (1810) wurden von Einwanderern aus Württemberg, der Pfalz, dem Elsass und
aus Ungarn gegründet. Es waren evangelisch-lutherische
Kolonien. Die Bevölkerung der Kolonien wuchs beständig
an von 1.375 Personen im Jahre 1811 bis auf 5.048 im Jahre
1850. Die Tochterkolonie Klein-Neudorf wurde 1855 gegründet. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wurden weitere Tochterkolonien und Vorwerke (Chutor) gegründet.
Die Lebensgrundlage dieser Kolonien war die Landwirtschaft, wobei neben dem Ackerbau auch der Viehzucht große Bedeutung beigemessen wurde. 1841 zählte man im Bezirk über 3.100 Pferde, über 7.200 Rinder und ca. 11.700
Schafe. Es wurden Obst (96.100 Bäume), Wein (194.700
Rebstöcke) und Maulbeerbäume (1.600 Bäume) angebaut.
Im Bezirk gab es 109 Handwerker, 30 Webstühle und 35
Mühlen verschiedenen Typs.
Während der Sowjetzeit konnte der Bezirk keinen nationalen
Rayon bilden, da die dafür festgesetzte Bevölkerungsnorm
nicht erfüllt wurde.
Beresaner
Kolonistenbezirk
D
ie Einwanderer in die Kolonien des Beresaner Gebiets, so genannt nach dem Flüsschen Beresan, kamen 1808 nach Russland. 1809 entstanden die Kolonien Landau, Speyer und Rohrbach, 1810 Worms, Sulz,
Karlsruhe, Rastadt und München.
In den Jahren 1818-1822 wurden von Einwanderern aus
dem Herzogtum Warschau sowie aus West- und Südwestdeutschland die Kolonien Katharinental, Johannestal, NeuRastadt, Friedrichstal, Stuttgart und Waterloo gegründet.
Die wirtschaftliche Grundlage
der Kolonien des Bezirks in
den ersten 20 Jahren ihres Bestehens bildete die Schafzucht.
In der zweiten Hälfte der
1830er Jahren konnten die
Kolonisten dank guter Ernten
ihre Einnahmen aufstocken
und dadurch die Saatflächen
ausweiten.
Ein Jahrzehnt später machte
die Entwicklung des Handwerks gute Fortschritte. Es
wurden Pferdewagen und
Pflüge hergestellt. 1886 waren
in Rohrbach bereits 22 Wagenbauer und 26 Schmiede, in
Landau 25 Wagenbauer und
47 Schmiede am Werk.
1841 zählte man in den zwölf
Kolonien des Bezirks 1.215
Höfe mit je 60 Desjatinen
Land und 417 Landlose; 1858
waren es nur noch 1.073 ungeteilte Höfe, aber auch nur 250
Landlose. Die nachwachsende
Generation wurde zum Teil
durch die Teilung des elterlichen Hofes, zum Teil durch
gepachtetes Land versorgt.
Handwerker im Vollerwerb
Skizze des Kolonistenbezirks Glückstal mit Ländereien für die zukünftige Kolonie Kassel (1809).
17
200 Jahre Ansiedlung der Deutschen im Schwarzmeergebiet
hatten die Landwirtschaft größtenteils aufgegeben. Nach der
Aufhebung der Kolonialverwaltung und somit des Gemeindebesitzes
wanderten
zahlreiche landarme und landlose Kolonisten in die USA
und nach Kanada aus. 1907
gründeten katholische Kolonisten des Bezirks nördlich von
Cherson die Tochterkolonie
Alexanderfeld.
Mit der Verwaltungseinteilung
des Jahres 1925 wurden die
Gemeinden des Beresaner Gebiets zu einem deutschen nationalen Rayon Landau zusammengefasst.
Verwaltungssitz
des Rayons wurde Landau. Bei
der Gründung des Rayons bestand er aus 19 deutschen und
fünf ukrainischen Siedlungen
mit insgesamt 25.859 Einwohnern. Davon waren 23.521
Deutsche (91 %), 1.265 Ukrainer (4,9 %), 437 Russen
(1,7%) und 398 Juden (1,5 %).
Der Rayon wurde im Mai 1926
in “Deutscher nationaler KarlLiebknecht-Rayon”, Landau in
“Karl-Liebknecht” (russisch:
“Karl-Libknechtowo”) umbenannt. Von 1931 bis zum 5.
Mai 1939 erschien die Rayonzeitung “Der sozialistische
Vormarsch”.
1925 waren von den 66.308
Desjatinen Land nur 36.112 be- Karte der Ländereien bei Odessa, auf denen 1804 Groß-Liebental und Klein-Liebental gegrünstellt und 11.356 als Reserve det wurden (November 1803).
für die Verteilung an Landlose bereit gehalten. Im Rayon
Liebentaler
gab es 5.445 Bauernwirtschaften, davon waren 581 (10,7 %)
landlos, und 3.334 (61,2 %) hatten zwischen einer und zehn Kolonistengebiet
Desjatinen Land zur Bewirtschaftung.
ie deutsche Kolonisation in der Nähe von Odessa beIn den Jahren 1926 und 1927 wurden die ersten Landwirtgann mit der Einwanderung von Kolonisten aus
schaftlichen Genossenschaften gegründet, 1928 zehn GenosWürttemberg, aus Baden, dem Elsass und der Pfalz
senschaften für die gemeinsame Nutzung der sieben Traktoren der Marken “Fordson” und “International”. Im Herbst im Jahre 1803. In den darauffolgenden Jahren wurden Groß1929 und im Winter 1929-1930 wurde Getreide gewaltsam Liebental (1804), Klein-Liebental (1804), Alexanderhilf
beschlagnahmt. Im Zuge dieser Aktion wurden 635 wohlha- (1805), Neuburg (1805), Peterstal (1805), Mariental (1805),
bende Bauern (Kulaken) vor Gericht gestellt, 165 Wirtschaf- Josefstal (1805), Franzfeld (1805), Lustdorf (1805) und
ten beschrieben und 322 verkauft. Ein Teil der wohlhaben- Freudental (1806) gegründet. Klein-Liebental, Josefstal, Mariental und Franzfeld waren katholische Kolonien, die andeden Bauern floh unter Zurücklassung ihres Eigentums.
Trotz des harten Drucks der im Januar begonnenen Kollekti- ren waren evangelisch. Die Bevölkerungszahl betrug 1806 vierung konnten bis zum 20. Februar 1930 nur 51 % der 2.500, 1836 - 7.213, 1859 - 11.902 und 1905 - 13.309 PersoBauernwirtschaften zum Beitritt in Kolchosen bewegt wer- nen.
den. Im März 1930 ließ der Druck nach, und Bauern ver- Begünstigt durch die Nähe zur Hafenstadt, baute man in dieließen die Kolchosen wieder. Im Oktober 1930 waren nur sen Kolonien Obst und Gemüse, Wein und Getreide an, hielt
noch 23,5 % der Bauern in den Kolchosen. Die nächste Kol- Geflügel, Schafe und Bienen. Bekannt waren auf den Märklektivierungskampagne des Winters 1930/1931 zwang 95 % ten der Stadt insbesondere Salat, Radieschen, Spinat und Tomaten aus Klein-Liebental sowie Milch aus Groß-Liebental.
der Bauern in die Kolchosen.
In den 1870er Jahren wurden aus Groß-Liebental wöchentDer Rayon wurde im April 1939 aufgelöst.
D
18
200 Jahre Ansiedlung der Deutschen im Schwarzmeergebiet
lung. Der Groß-Liebentaler Kreisvorsteher Johann Münch war 19071910 Abgeordneter der Bezirksversammlung Odessa und Abgeordneter der II. Russischen Staatsduma.
Die Nähe zu Odessa brachte aber
auch Gefahren mit sich. Im Sommer
1919 versuchten bolschewistisch gesinnte deutsche und österreichische
Kriegsgefangene, die sich “Spartakisten” nannten, in den Kolonien des
Bezirks die Sowjetmacht durchzusetzen. Sie hatten vor, junge Kolonisten gewaltsam für die Rote Armee zu mobilisieren und Pferde, Getreide und andere Lebensmittel zu
beschlagnahmen. Das Ergebnis war
ein Aufstand, dem sich auch benachbarte russische und bulgarische Dörfer anschlossen.
Die Liebentaler Kolonien wurden
1926 zu einem Groß-Liebentaler
deutschen nationalen Rayon zusamKarte der deutschen Ansiedlungen in Südrussland, gezeichnet von J. Wiebe aus Tiege.
mengefasst. Kurze Zeit später wurde
lich 600-700 Eimer Milch nach Odessa geliefert. Im “Unter- der Rayon zu Ehren der Spartakisten des Jahres 1919 in
haltungsblatt für die deutschen Ansiedler im südlichen Rus- “Spartakisten-Rayon” umbenannt.
sland” waren wiederholt Berichte des Oberschulzen Johann In den 1930er Jahren fanden im Landkreis wiederholt VerKraus und anderer Kolonisten des Bezirks über ihre Erfah- haftungen statt. So wurden schon 1934 in den beiden Landrungen im Anbau landwirtschaftlicher Kulturen zu lesen. Sie kreisen Groß-Liebental (Spartakisten) und Selz 40 “faschisgalten den anderen Kolonisten als Vorbild.
tische Zellen” ausgehoben und 110 Personen verhaftet. DaVorbildlich war auch das Schulwesen: In jeder Kolonie wur- runter waren eine Anzahl von Funktionären des Sowjetregide schon in den ersten Jahren ihres Bestehens eine Kirchen- mes. Die Verhaftungen setzten sich bis Ende der 1930er Jahschule gebildet., 1869 kam eine Zentralschule, an der Lehrer re fort. Die Zahl der Opfer steht noch nicht fest.
ausgebildet wurden, hinzu. 1905 wurde in Groß-Liebental Der Rayon wurde 1939 als deutscher Rayon aufgelöst und
eines der ersten Mädchengymnasien gegründet.
dem Rayon Ovidiopol angeschlossen.
Nach der Aufhebung der Kolonialverwaltung wurde der Kolonistenbezirk in die Kreise Groß-Liebental, Lustdorf, GülKutschurganer
dendorf und Freudental eingeteilt.
Die Nähe zur Stadt wird es wohl gewesen sein, die bei den Kolonistenbezirk
Kolonisten dieses Bezirks eine höhere soziale Mobilität und
ie Kolonien Straßburg (1808), Selz (1808), Kandel
das Interesse für das Gemeinwohl und die Politik weckten.
(1808), Baden (1809), Mannheim (1810) und Elsass
Seit der Einbeziehung in die Landschaftsverwaltung (Semst(1810) wurden von Einwanderern aus Baden, Würtwo) spielten Abgeordnete aus diesem Bezirk eine wichtige
Rolle. So war Johann Kundert in den Jahren 1868-1874 temberg, dem Elsass, der Pfalz, Preußen und Polen gegrünund1880-1895 Mitglied der vierköpfigen Bezirksverwaltung det. Der Kolonistenbezirk wurde nach dem Fluss, an dem
und 1877-1880 Abgeordneter der Gouvernementsversamm- die Kolonien angelegt wurden, benannt. Alle Einwanderer
dieser Gruppe waren katholischen Glaubens.
Die wirtschaftliche Grundlage der Kolonien bildete im 19.
So erreichen Sie uns:
Jahrhundert die Landwirtschaft (Ackerbau, Viehzucht, Obstund Weinanbau, Seidenraupenzucht). Im Jahre 1833 zählte
Landsmannschaft
man bereits über 20.000 Obstbäume und fast 349.000 Rebder Deutschen aus Russland e. V.
stöcke.
Raitelsbergstraße 49
Die Revision des Jahres 1811 ergab, dass die Kolonien dieses Bezirks 2.055 Einwohner hatten. 1833 waren es bereits
70188 Stuttgart
3.868, 1859 - 7.373, 1905 - 12.554 und 1926 (Friedrich-EnTelefon (0711) 16 65 90
gels-Rayon) -14.518 Personen.
Telefax (0711) 2 86 44 13
Der Aufbau des Sozialismus in den Kolonien des Kutschurganer Gebiets begann, wie in anderen Regionen der Ukraine
e-mail: Lmdr-ev@t-online.de
auch, mit Gewalt, die mit Gewalt beantwortet wurde. Im Juli
www.deutscheausrussland.de
1919 brach ein Aufstand gegen die Spartakisten in den Lie-
D
19
200 Jahre Ansiedlung der Deutschen im Schwarzmeergebiet
bentaler Kolonien aus. Am 30.
Juli erfasste der Aufstand die
Kolonien Selz, Straßburg, Kandel und Baden. Wenig später
schlossen sich auch die nördlicher gelegenen Kolonien Glückstal und Hoffnungstal an. In den
Kutschurganer Kolonien wurde
der Aufstand von K. Köhler
(Selz) und dem Lehrer Scheweley (Kandel) geleitet. Der Aufstand wurde von der Roten Armee niedergeschlagen. Die Kavallerie-Brigade unter dem Befehl von G. Kotowskij erschoss
zur Bestrafung jeden fünften erwachsenen Kolonisten.
Nach dem Sieg der Roten gegen
die Freiwilligenarmee der WeiBlick auf Mannheim im Jahr 1919.
ßen ging es erneut mit Gewalt
gegen die Kolonien los. Rekrutenaushebung, Getreidebe- deutschen Kolonien, sondern zahlreiche Gebiete der UdSSR
schaffung, Mobilisierung von Pferden usw. wurden rück- erfasst hatten, wurde durch die Vernichtung der “Kulaken als
sichtslos unter militärischem Druck durchgeführt. Danach Klasse” abgelöst. In Ergebnis wurden alle Bauern in die
wurden auch dort die Schulen der neuen Macht unterstellt: Kolchosen gezwungen, die Landwirtschaft wurde zugleich
Sie sollten eine neue kommunistische Jugend erziehen, doch ruiniert. Folge war die Hungersnot der Jahre 1931/32.
fand das bei der Bevölkerung keinen Anklang. Schüler blie- Die neuen Herren blieben aber ebenfalls nicht lange auf
ben dem Unterricht fern und wurden von der Schule genom- ihren Posten; so wurde J. Haftel, Sekretär des Rayonparteimen, das Bildungsniveau sank rapide.
komitees, im Mai 1936 verhaftet. Während der Säuberungs1925 wurden die Kutschurganer Kolonien zu einem deut- welle 1936-1938 wurden alte Rechnungen beglichen und
schen nationalen Rayon zusammengefasst, der erst Mann- zahlreiche Bauern, die zu den Kulaken gezählt wurden,
heim, dann Selz und schließlich Friedrich Engels hieß.
am Aufstand von 1919 und den Unruhen von 1930 teilgeDer Kollektivierungsdruck auf die Kolonien war enorm. nommen hatten oder 1929 versucht hatten auszuwandern,
Nach Auffassung der GPU waren 1929 im Rayon 5,2 % Ku- wurden verhaftet und zu Gefängnisstrafen verurteilt oder
laken. Bis zum Jahresende hatte der Rayon das Abliefe- verbannt. Viele von ihnen kamen im Gewahrsam ums Lerungssoll an Getreide zu 109,9 % erfüllt. Dieser Druck er- ben.
zeugte erneut Gegenwehr. Im Februar 1930 kam es zu Unru- Der Rayon wurde 1939 aufgelöst. Die deutsche Bevölkerung
hen in Kandel, Selz, Elsass, Mannheim, Straßburg, Baden rettete sich 1944 vor dem Zugriff der Roten Armee durch die
und Güldendorf. Frauen holten ihr Vieh und das landwirt- Flucht in den Warthegau, aber ein Teil wurde 1945 in die
schaftliche Gerät aus den Kolchosen zurück und forderten, UdSSR “repatriiert”. In ihre Dörfer durften sie nicht zurück.
die verhafteten Männer frei zu lassen. Das vorübergehende Heute erinnern nur noch die Kirchenruinen als stumme ZeuNachlassen des Drucks nach den Unruhen, die nicht nur die gen an die Geschichte dieses Siedlungsgebiets.
Flucht aus Landau
16. März 1944. Über den Aufbruch der Gemeinde Landau
schreibt die spätere Präsidentin der Landsmannschaft der
Deutschen aus Russland, Gertrud Braun (1906-1984):
Seit Weihnachten lebten wir unter ständigem Druck: Müssen
wir fort oder dürfen wir bleiben? Man schwankte zwischen
Hoffen und Bangen.
Anfang März machte ich mich auf die Fahrt nach Hoffnungstal, wo eine meiner Mitarbeiterinnen mit ihren Mütterberatungsstunden, Kindernachmittagen, Stick- und Nähabenden eine gute Frauenarbeit aufgezogen hatte. Alles sah so
freudig und zukunftssicher aus. Nur der “Kommandant”
machte ein ernstes Gesicht und meinte, dass er in Kürze eine
schwerwiegende Entscheidung erwarte.
20
Da war sie schon wieder, diese dunkle Wolke, die wir immer
nicht sehen wollten!
Es war Sonntag, der 12. März 1944. Um 11 Uhr, als ich noch
einmal - getrieben von innerer Unruhe - zur Kommandantur
ging, fand ich dort einen Kreis von Männern versammelt,
die sehr ernst dreinschauten. Soeben wurde eine telefonische
Meldung aus Odessa durchgegeben. Alarmstufe 4! Da wurde es ganz still im Raum. Zwar war der Anruf nur die Vorstufe zum Alarm, aber bei einer endgültigen Bestätigung
dieser Alarmstufe bedeutete es, dass sich die Trecks innerhalb weniger Stunden abmarschbereit zu halten hätten. Die
Russen hatten den Oberlauf des Bug überschritten!
Wir wussten, was das hieß! - Minutenlang sagte niemand ein
Wort. Dann kamen mit möglichst ruhiger Stimme Vorschlä-
200 Jahre Ansiedlung der Deutschen im Schwarzmeergebiet
Bilder der großen Flucht der Schwarzmeerdeutschen aus dem
Nachlass von Gertrud Braun.
ge und Gegenvorschläge, was nun zu tun sei. Die gemeisterte Erregung sah man jedem der Männer an. Noch dürfe
nichts nach draußen dringen. Noch war der endgültige Befehl nicht da.
Ich wollte versuchen, am nächsten Morgen um 6 Uhr - sofern dazu noch Zeit war - die nächste Bahnstation zu erreichen, um nach Landau zu fahren. Da, um 3 Uhr morgens
stand zitternd eine unserer bekannten Bäuerinnen im Zimmer. Eben war die Nachricht aus Odessa durchgekommen,
die Alarmstufe gelte für den ganzen Bezirk.
Da ging nun die Schreckensstunde durch den Draht hinaus
in die Dörfer, jagte die verschlafenen Bürgermeister aus ihren Betten. Diese begriffen kaum, dann rannten sie hinaus
auf die Straßen, riefen Boten zusammen, und diese klopften
an Tore und Türen. Heraus! Heraus! Der Russe kommt.
Es war eine furchtbare Nacht.
In höchster Aufregung liefen die Menschen zusammen. Die
Dunkelheit, der Schlamm - es hatte seit Wochen geregnet und dann die Herzensangst vergrößerten in der Phantasie der
Menschen die Gefahr ins Ungeheure.
Was sollte man als Erstes tun? Was packen, was backen?
Konnte man noch schlachten?
Es gab einen kurzen, harten Abschied für mich. Keiner hatte
Zeit für den anderen.
Nach erlebnisreicher Fahrt erreichte ich noch am gleichen
Tag Landau, das Dorf, zu dem ich gehörte. Ernste Gesichter
auch hier.
Ich erfuhr, dass in den letzten Tagen einige hundert Gespanne zum Transportdienst an die Front beordert worden waren.
Nun saßen die Familien da ohne Familienoberhaupt und
ohne die Möglichkeit, mit eigener Kraft fortzukommen. Woher für sie alle den Laderaum nehmen?
Wohl war es gelungen, drei Züge von der benachbarten Station auf den Weg zu bringen. Aber dieser Transportraum
reichte bei weitem nicht aus.
Die Alten, Kranken und Mütter mit Kleinkindern wurden
zuerst fortgebracht. Da gab es die ersten herzzerreißenden
Abschiedsszenen, denn notgedrungen mussten die Familien
auseinandergerissen werden, um die Bahn nur mit dem Bedürftigsten zu füllen. Einige Kleinkinder starben bereits in
der ersten Nacht beim Warten auf die Verladung unter freiem Himmel.
Am Donnerstag früh sollte sich der Treck in Marsch setzen.
Aber was würde aus den anderen werden, die keine Fuhren
hatten? Die Nerven waren angespannt bis zum Äußersten.
Endlich war es soweit. In den frühen Morgenstunden des
16. März 1944 sammelten sich die Treckwagen auf der Anhöhe in Richtung Rohrbach vor dem Dorf, die Fuhren bedeckt mit Brettern, Blech oder Tüchern oder was man sonst
auf dem Hof gefunden hatte, um ein Dach über den Wagen
zu spannen. Außen baumelte der notwendigste Hausrat: Eimer, Milchkannen, Futtertröge. Hoch aufgeladen waren Kisten und Säcke. Dazwischen lugten die Gesichter der Kinder. Die Erwachsenen mussten zu Fuß nebenher gehen. Fast
konnten die Pferde die Last nicht ziehen. Dazu der klebende
Dreck.
Alle Wagen wurden einer genauen Prüfung unterzogen, ob
nicht eine Fuhre zu wenig beladen sei, um Ausgleich für andere, überlastete Wagen zu schaffen.
Ich ging die Fuhren entlang. Dann musste ich zum Dorf zurück. Erst nach Stunden setzte sich der Treck endgültig in
Bewegung. Er ist am ersten Tag wohl nicht weit gekommen.
Vielleicht schaffte er es bis zum nächsten Bahnhof Rohrbach.
Ich konnte noch nicht fort, denn das Schicksal der Leute
ohne Fuhren war noch nicht entschieden. Endlich kam die
Nachricht: Unsere Leute würden alle herauskommen, wenn
auch nicht mit Pferd und Wagen, wenn auch keine Lastwagen mehr zur Verfügung stünden und keine Bahn mehr ging.
Sie sollten nach Odessa herausgeflogen werden. Wir atmeten auf.
Es war dunkel, als sich unsere Kolonne in Bewegung setzte.
Unsere Wagen waren aneinandergeseilt wie zu einer Bergtour. Ganz vorne zog uns ein Traktor. Meter um Meter
kämpften wir uns durch den Schlamm. Für 25 Kilometer bis
zur festen Straße brauchten wir fast zehn Stunden.
MARIA GÖRZEN
Der Friedhof meiner Heimat
D
ie Erinnerungen an den Friedhof meines Heimatortes
Pordenau stehen mir oft vor Augen. Besonders
schwer werden meine Gedanken am Todestag meiner Mutter. Sie starb 1946 in Kasachstan und wurde auf einem kasachischen Friedhof begraben. Ihr Grab und viele
Gräber daneben bestehen schon lange nicht mehr. Sie wurden von Viehherden zertrampelt. Ich denke oft an das Gute,
das Mutter für uns getan hat. Alles, was ich tue, ist ihr Werk.
So lebt sie immer noch im Geiste neben mir. Sie sitzt neben
mir oder schaut auf mich herab. Wir sprechen miteinander.
21
200 Jahre Ansiedlung der Deutschen im Schwarzmeergebiet
Und ich denke oft an den Friedhof in Pordenau. Das ist mein
Heimatort, meine ehemalige Heimat. Dort wurde ich geboren, dort wuchs ich auf. Pordenau war eines der 58 deutschen Dörfer in der Molotschnaja im Süden der Ukraine. Ich
habe in ihm viele wichtige Erlebnisse und Erfahrungen mit
meiner Mutter geteilt. Das bleibt unvergesslich. Ich war
stolz auf sie.
Im Frühjahr, wenn die ersten Blumen erwachten, gingen wir
gemeinsam zum Friedhof. Ich freute mich so, wenn Mutter
mich mitnahm. Unser Friedhof lag im Wald, die Gräber waren wie Blumen verstreut zwischen den Bäumen, als hätte
der Wald sie aufgenommen.
Damals sprachen die Gräber noch nicht mit mir. Sie waren
einfach da und wurden von Menschen gepflegt und geschmückt. Ich schaute hinauf zu den herrlichen alten Baumkronen und ließ mich vom Gesang der Vögel verzaubern.
Ich dankte Gott dafür, dass ich zusammen mit meiner Mutter
gehen durfte und sie mir beistehen konnte. Es war eine gesegnete Zeit.
Auf dem Pordenauer Friedhof wurden bereits meine Urgroßeltern mütterlicherseits begraben. Ihre Gräber lagen nebeneinander. In der Mitte, am Kopfende der beiden Gräber stand
ein großer viereckiger Grabstein mit einer Inschrift. Daneben hatte meine Mutter zwei Blumenstöcke mit weißen Rosen angepflanzt. Rund um die Gräber blühten andere Blumen, die nach dem Verblühen durch neue ersetzt wurden.
Meine Mutter versuchte auch andere Gräber in Ordnung zu
halten. Meistens waren das die Gräber von Bekannten und
Verwandten, die ausgesiedelt worden waren und in Pordenau
keine Angehörigen mehr hatten, so die Familien Heinrich
und Driediger.
Seit 1980 lebt unsere Familie in Deutschland. Hier sind die
Friedhöfe sauber und gepflegt, Ruhestätten, die wie ein Park
aussehen.
Seit einiger Zeit zieht es mich stärker zum Friedhof. Meine
Blicke gehen nicht mehr so sehr zu den Baumkronen hinauf
wie während meiner Kindheit, sondern hinab zu den Gräbern vor meinen Füßen. Wie still liegen sie doch nebeneinander - Namen, Schicksale, vollendete Leben. Vielleicht haben sie sich gekannt oder auch nicht. Doch sie waren alle
dem gleichen Schicksal unterworfen.
Ich schaue mir die Grabsteine an, kleine unscheinbare und
große prunkvolle. Hie und da ein Holzkreuz. Je nachdem,
was an vergänglichen Gütern die Menschen, die ihre irdische Ruhe gefunden haben, besessen haben. Der Mensch
muss wieder zu Erde werden. Das gilt für jeden gleichermaßen, ob unter einem schlichten Holzkreuz oder unter einem gewaltigen Stein.
Ich denke an meine Lieben, an die Verstorbenen. Wo sind
ihre Gräber? Wer pflegt sie heute? Haben sie überhaupt ein
22
1992 an einem deutschen Grab in Peterstal im Gebiet Odessa.
Grab? Wurden sie begraben? Wo ist ihre letzte Ruhestätte?
Wer gab ihnen das letzte Geleit? Was war ihr letzter
Wunsch? Diese und andere Fragen bleiben für immer unbeantwortet. Mein Vater, meine drei Brüder, mein Schwager
und viele Verwandte und Bekannten bleiben für immer vermisst. Das tut weh.
Im November 2000 starb mein Bruder Gustav. Schon in
Köln. Mir ist so seltsam zu Mute. Als wäre es nicht wahr.
Der Tod kam und raffte ihn hinweg in eine andere Welt, wo
kein Leid und keine Kränkungen sein werden. Sein Leben
auf Erden war zu Ende. Aber ich höre seine Stimme, seine
Schritte. In meiner Vorstellung sehe ich ihn so ruhig, so zufrieden, mit gefalteten Händen im Sarg liegen, als wolle er
mir noch etwas sagen. Aber sein Mund öffnet sich nicht
mehr. Er hat alles gesagt.
Und ich erinnere mich an das Auferstehungslied, das meine
Eltern und Geschwister damals gerne sangen. Ich schreibe
für unsere Leser die ersten beiden Strophen aus dem Gedächtnis auf:
Wenn aufersteh'n am glorreichen Morgen
Die Toten all' große und klein,
Im Meer und in Gräbern verborgen,
Welch ein Morgen wird das sein!
Chor: Welche Freude, Freude,
Wonne wird das sein!
Wenn dann, die hier waren getrennt,
Nun auf ewig sind vereint
Und man sie beim Namen wohl nennet,
Vater, Mutter, Kind und Freund!
Chor: Welche Freude, Freude,
Wonne wird das sein!
200 Jahre Ansiedlung der Deutschen im Schwarzmeergebiet
23
200 Jahre Ansiedlung der Deutschen im Schwarzmeergebiet
Liebe Landsleute,
wir begehen in diesem Jahr den 200. Jahrestag der Auswanderung von Deutschen, unserer Vorfahren, in das Schwarzmeergebiet. Nach Jahrzehnten der Verfolgung und Vertreibung, nach Umsiedlung und Rückkehr nach Deutschland leben heute nur noch wenige Deutsche im Süden der Ukraine. Mit einer Reihe von Veranstaltungen und Publikationen
ist die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland im Jubiläumsjahr der Schwarzmeerdeutschen bestrebt, nachhaltig an die Geschichte dieser vom Schicksal hart geprüften Volksgruppe zu erinnern.
Zwei öffentliche Veranstaltungen der Landsmannschaft am 20. September und am 8. November 2003 in Stuttgart sollen dem Andenken an die Schwarzmeerdeutschen gerecht werden, mithilfe zweier Ausstellungen wollen wir auch die
einheimische Bevölkerung informieren, in “Volk auf dem Weg” und dem Heimatbuch 2004 befassen wir uns ausführlich mit der Thematik. Mit dieser Broschüre schließlich, für die wir als ehrenamtlichen Verfasser den bekannten russlanddeutschen Historiker Dr. Alfred Eisfeld gewinnen konnten, liegen Ihnen in wissenschaftlich korrekter und kompakter Form die wichtigsten Informationen zur Geschichte und Kultur der Schwarzmeerdeutschen von ihrer Auswanderung bis in die Gegenwart vor. (Für das nächste Jahre bereiten wir im Übrigen eine weitere Broschüre vor, die dem
240-jährigen Jubiläum der Auswanderung der Wolgadeutschen gewidmet ist.)
Wir üblich schicken wir Ihnen die Broschüre kostenlos zu, bitten Sie aber, uns dafür eine Spende nach Ihrem Ermessen und gemäß Ihren Möglichkeiten zukommen zu lassen. Sie können sich völlig sicher sein, dass wir Ihre Spende
ausschließlich für die landsmannschaftliche Arbeit, insbesondere für die Realisierung weiterer Publikationen verwenden werden.
Vielen Dank im Voraus!
Ihre Landsmannschaft
24