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werkbundsiedlung wiesenfeld 6 werkbundtage 3: stadtvisionen 07 meyerspeer: distanz und nähe distance & closeness 17 ebner et al.: demographischer wandel demographic chance 39 petrin: utopia reloaded? 59 fingerhuth: pubertät der stadt puberty of the city 71 lampugnani: die stadt ist tot ... the city is dead ... 91 hillier, rose: space syntax 3 Zu den Werkbundtagen „Stadtvisionen“ On the Werkbundtage “Urban Visions” Nach den Broschüren „Weiche Ordnung“ und „Material und Technik“ folgt nun die dritte Broschüre zur Dokumentation der Münchner Werkbundtage, die das Entstehen der Werkbundsiedlung Wiesenfeld seit Oktober 2005 mit Vorträgen und Diskussionen begleiten. Die hier versammelten Beiträge gehen von verschiedenen Ansätzen zum Verständnis der europäischen Stadt aus und erörtern die immer wiederkehrende Frage nach den Möglichkeiten sinnvoller Konzeption von Stadtteilen, Stadträumen, Quartieren, Wohnräumen sowie Landschafts- und Naturräumen und nach deren gegenseitiger Beziehung. Wie steht es heute mit der Planbarkeit solcher Räume inmitten des Geflechts komplexer gesellschaftlicher, ökonomischer, rechtlicher, ökologischer und bautechnischer Bedingungen? Was können „utopische“ Momente in Planungsentwürfen bewirken? Und nicht zuletzt: Wo sind präzise Ansatzpunkte für ein heute unabdingbar gewordenes qualitätvolles kostengünstiges Bauen auszumachen? Der Entwurf von Kazunari Sakamoto für die Werkbundsiedlung Wiesenfeld basiert auf einer erstaunlich subtilen, gleichzeitig sehr eigenständigen architektonischen Grammatik, deren Potenziale für eine architektonische Umsetzung oben genannter Themen oft erst auf den zweiten Blick erkennbar werden. Following the brochures “Soft Order” and “Material and Technology”, this is the third in the series of publications documenting the Munich Werkbundtage symposia which have accompanied the evolution of the Werkbundsiedlung Wiesenfeld project with lectures and discussions since October 2005. The articles assembled here embody and stem from different approaches to understanding the European city and expound on the recurrent question as to the various possibilities for meaningful conception of city districts, urban spaces, quarters, housing areas, landscapes and natural spaces, and their mutual relationships. What options are available nowadays for planning such spaces within the network of today’s complex societal, economic, legal, ecological and technological conditions? What can “utopian” elements in urban planning achieve? And last but not least: where can precise points of departure be discerned for the high-quality, low-cost construction that has become indispensable today? Kazunari Sakamoto’s design for the Werkbundsiedlung Wiesenfeld is based on an astonishingly subtle but at the same time highly distinctive architectural grammar whose potential for converting the aforesaid issues into architectural solutions often becomes apparent only at second glance. Als künstlerische Ausdrucksform stellt der Städtebau mit seiner eigenen Tradition verschiedenster Stadtentwürfe und – konzeptionen immer auch eine Reaktion auf seine eigene Geschichte dar. Aus dem Entwurfsstadium in die gebaute Realität übersetzt, prägt die Stadtform bestimmte Lebensweisen – zugleich steht sie jedoch weitaus mehr Zwecken und Interpretationen offen als denjenigen, für die sie unmittelbar geplant wurde. In diesem Sinne ist zu wünschen, dass die Denkanstöße aus den Werkbundtagen, aber auch die Impulse der zahlreichen an der Planung der Werkbundsiedlung Beteiligten möglichst vielfältig auf den Entstehungsprozess einwirken, denn nur so wird sich das realisierte Projekt in seiner weiteren Zukunft auch nachhaltig bewähren können. As a form of artistic expression, city planning with its long tradition of the most diverse urban designs and conceptions is always also a response to its own history. Translated from the draft stage to built reality, the city’s form shapes certain lifestyles – but at the same time it is also open for many more purposes and interpretations than those for which it was originally intended. In this regard we can only hope that the food for thought served at the Werkbundtage, and also the impetus added by the numerous contributors involved in planning the Werkbundsiedlung, will have the broadest possible impact on the creative process, for only then will the project as implemented prove sustainable in its long-term future. Auch dieser dritte Dokumentationsband, der insgesamt sechste der Broschürenreihe des Werkbunds Bayern, konnte durch die Förderung im Rahmen der Bundesinitiative „Kostengünstig qualitätsbewusst Bauen“ des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung realisiert werden. Diese Publikation wird dazu beitragen, Konzepte, Ideen und Visionen rund um die Entstehung der Werkbundsiedlung Wiesenfeld einer breiteren Öffentlichkeit darzulegen. This third documentation brochure, the sixth in the overall series of publications by the Werkbund Bayern, was again made possible by the support of the Federal Ministry of Transport, Building and Urban Affairs within its „Initiative for cost-effective and quality-conscious building“. We thank the Ministry most sincerely for this sponsorship, which helps to make concepts, ideas and visions in the context of the genesis of the Werkbundsiedlung Wiesenfeld accessible to a broader public. An dieser Stelle gilt unser Dank allen Impulsgebern, Referenten, Podiumsgästen und Moderatoren sowie allen an der Redaktion Beteiligten. Wir hoffen, auf Interesse und vor allem auf weitere Diskussionen zu stoßen! We would like to take this opportunity to thank all inspiration providers, speakers, panel guests and chairpersons and all those involved in the editing work. We hope that this brochure will be received with interest and above all that it will trigger further discussion! Susanna Knopp, Barbara Schelle Deutscher Werkbund Bayern e.V. Susanna Knopp, Barbara Schelle Deutscher Werkbund Bayern e.V. grußwort words of welcome 4 5 7 Bernd Meyerspeer: Distanz und Nähe. Der Inselplan mit schlanken Wohnhäusern für die Werkbundsiedlung Wiesenfeld von Kazunari Sakamoto Bernd Meyerspeer: Distance and closeness. Kazunari Sakamoto’s island scheme with slim apartment buildings for the Wiesenfeld Werkbundsiedlung Der Vorschlag, das Wiesenfeld mit drei unterschiedlich hohen und sehr schlanken Wohnhaustypen in einem wogenden, die gewohnte Ordnung störenden Feld zu bebauen, gründet auf der Idee, das Individuum in einen kollektiv gedachten Haustyp städtischen Charakters einzubinden, in dem sowohl die Hinwendung zum menschlichen Urbedürfnis des „Behaustseins“ als auch nachbarschaftliche Begegnung und Verantwortung möglich sein sollen. Dazu werden Räume und räumliche Beziehungen entworfen – elementare Entwicklungs-, Handlungsund Ordnungsfelder des Architekten –, die von der Stadt zum Quartier, zum Haus, zur Wohnung und wieder zurück überlegt und gestaltet und in ein ausgewogen funktionierendes, freies, offenes und reichhaltiges Verhältnis gebracht werden. The proposal to construct three types of very slim apartment buildings of different heights on the Wiesenfeld in an undulating field that disturbs the accustomed order is based on the idea of integrating the individual into a collectively conceived building type of an urban character, in which both responding to the primeval human need to “feel at home” and also neighbourly encounters and responsibility should be equally possible. This is achieved by designing spaces and spatial relationships – the architects’ elementary fields of development, action and order –, that are thought through and fashioned from the city down to the quarter, to the building, to the apartment and back again, and brought into a balanced, functioning, free, open and rich harmony. Kazunari Sakamoto lenkt mit seinem Entwurf zu einer Vielzahl von Themen hin – sowohl architektonisch-typologischer als auch experimentell-sozialer Art –, macht aber im städtebaulichen Kontext deutlich, dass er dem Typus der europäischen Stadt mit klar geordneten Strukturen, eindeutig bestimmten Rändern, festgesetzten Höhenentwicklungen und regelmäßigen Ordnungs- und Gestaltungselementen, die Vertrautheit und Beständigkeit vermitteln, eine räumliche Ordnung entgegensetzt, die weich und fließend, plastisch ausgeformt und eher topologisch als typologisch zu beschreiben wäre. Mit dieser Haltung stellt er sich in die Tradition der klassischen Moderne. Er steht an dieser Stelle Le Corbusier näher als Karl Friedrich Schinkel oder Leo von Klenze. Dennoch ist seine Architektur des freien Raumes nicht als Befreiung von Bindungen zu lesen oder gar dogmatisch aufzufassen. Nicht die autistische Insel, die geschlossene Besonderheit ist sein Anliegen, sondern Freiheit und Eigenständigkeit in Distanz und Nähe. So wie seine vier Häuser „Egota A“ in Japan ein hohes Maß an Persönlichkeit haben, sind sie dennoch zur Umgebung und zur Stadt durchlässig, im Sinne eines erweiterten „Wohnraums“ verbunden. Eine bekannte Ordnung wird mit einer anderen Ordnung verwoben. Diese ist nicht revolutionär und vollkommen neu, aber komplex und mehrschichtig. With his design, Kazunari Sakamoto steers towards a multitude of themes – both of an architectural/typological and also an experimental/social nature –, but makes it clear in the urbandevelopment context that he wants to contrast the typology of the European city with its clearly arranged structures, precisely defined boundaries, prescribed heights and regular features of order and design, conveying familiarity and constancy, against a spatial order that is soft and flowing, plastically refined and could be described as more topological than typological. With this approach he positions himself in the tradition of classical Modernism. At this point he is closer to Le Corbusier than Karl Friedrich Schinkel or Leo von Klenz. And yet his architecture of open space is not to be construed as liberating from all ties, much less interpreted dogmatically. Not the autistic island, the self-contained peculiarity is his aspiration, but freedom and selfreliance in distance and closeness. Just as his four buildings “Egota A” in Japan exhibit a high degree of personality, they are nevertheless permeable to their surroundings and to the city, linked in the sense of an extended “living space”. A familiar order is interwoven with another. This is not revolutionary and completely new, but complex and stratified. distanz und nähe distance and closeness 8 Im Wiesenfeld wird ein ganzes Stadtquartier so gedacht, durchaus auf dem Hintergrund von in Japan gemachten Erfahrungen, aber nicht kulturspezifisch davon abhängig – dennoch ungewohnt für viele Beteiligte, liegt der Ansatz von Sakamoto in der offenen und mehrfach belegten Lebensumgebung, die unterschiedliche Lebenshaltungen, Familienformen, Haushalte, Abstammungen, Wohn- und Arbeitsformen aufnehmen soll. Die eng gestellten Gefäße dünnen sich nach oben hin aus. Niedrig, mittelhoch und ganz hoch verteilen sich die Häuser in einem raffiniert ausgeklügelten und sensiblen, aber höchst fragilen Ordnungsmuster zu einem urbanen Gefüge mittlerer Dichte, das die bekannten und gewohnten Regeln und Normen der Bauordnung bis an die Grenzen belastet, aber auch in Bezug auf Konstruktion und Baumaterial, Bauphysik und Wirtschaftlichkeit, Verwaltung, Unterhalt und Pflege der Häuser neue Ansätze und Ideen erfordert, die in der bereits angelaufenen zweiten Planungsphase der „Testentwürfe“ konkretisiert wurden. Jeder Haustyp hat sein eigenes Organisationsmuster, das in der Realisierung nicht aufgegeben werden darf, weil sonst das übergeordnete Muster nicht mehr stimmt. Die durchdachten einfachen Regeln des Entwurfs folgen einer Grammatik. Wird sie gestört, versteht man die Sprache nicht mehr. In the Wiesenfeld, a whole city quarter has been so devised, admittedly against the background of experience gained in Japan, but not dependent upon any specific culture – and yet, unaccustomed for many observers, Sakamoto’s approach lies in the open and multi-layered living environment, which is intended to accommodate different lifestyles, family configurations, households, origins, ways of living and working. The densely based vessels thin out as they rise. Low, medium-high and really high buildings are distributed in an ingeniously refined and sensitive, but highly fragile pattern to form an urban texture of medium density, which challenges the familiar and accustomed rules and standards of communal building regulations to their limits, but also calls for new approaches and ideas regarding construction and materials, physics and economy, management, maintenance and upkeep of the buildings, ideas that are to be given more concrete form in the second planning phase of “test designs” that is already under way. Each building type has its own organisation pattern that must not be abandoned in the implementation, because otherwise the ulterior pattern would no longer be coherent. The simple but premeditated rules of the design follow a grammar. If that is disrupted, the language can no longer be understood. Each building has a basis. This serves different communal purposes, for example for everyday services (small offices and workshops, studios, extended teleworker jobsites, shops, a gallery, a bistro), for apartments with green courtyards in the manner of a hortus conclusus. The whole edifice is networked to form a three-dimensional inner structure that makes contact with or links up to the quarter’s public domain at many points and starts to overlap it at other places. 9 Jedes Haus hat eine Basis. Diese dient unterschiedlichen gemeinschaftlichen Zwecken, zum Beispiel für Dienstleistungen des Alltags (kleine Büros und Werkstätten, Ateliers, erweiterte Heimarbeitsplätze, Läden, Galerie, Bistro), für Wohnungen mit Grünhöfen von der Art eines hortus conclusus. Das Ganze ist netzartig zu einer räumlichen Binnenstruktur verknüpft, die an vielen Punkten mit der Quartieröffentlichkeit in Berührung kommt oder Verbindung aufnimmt und an anderen Stellen sich mit ihr zu überlagern beginnt. In der Quartiersmitte wird die Gemeinschaft herausgelöst und zu einem eigenen, wichtigen und zentralen Ort, der dem gleichen Muster des Inselplans in der Gebäudestruktur folgt: keine Baumassenverdichtung, sondern unabhängige einoder zweigeschossige Gebäude, die sich in Nähe und Distanz zu einer Mitte des Viertels vereinen. Der Platz ist damit besetzt, nicht durch eine leere Fläche mit Legitimations- und Normgrün, sondern durch Konzentrations-, Orientierungsund Aktivitätspunkte für die Bewohner und das angrenzende nördliche Schwabing. Es ist eine Loggia mit Gartenzimmer und Wintergarten der Siedlung Wiesenfeld wie der Gärtnerplatz für das Gärtnerplatzviertel. In the middle of the quarter, the community is picked out and becomes its own, important and central locus, which follows the same pattern as the island scheme in the structure of the buildings: no dense structural masses, but stand-alone, singleand two-storey buildings which unite in closeness and distance to form a centre of the quarter. The square is occupied not by an empty area with perfunctory and standard green, but by points of concentration, orientation and activity for the residents and for the adjacent northern Schwabing. It is the Wiesenfeld estate’s loggia with garden gateway and conservatory, just as the Gärtnerplatz is for Munich’s Gärtnerplatz quarter. Above the basis, the ground level, the buildings rise in the vertical to the level of the trees and the sky. At tree level, the apartments link up with their balconies and terraces with vertical green to create a generous liaison between inside and outside. At sky level, the apartments open out with floor-toceiling glazing and double façades to give a view over the city, to the Olympiapark and to the Alpine panorama glimmering on the horizon. At this height, the next building is far enough away to allow privacy in this openness. fragiles ordnungsmuster fragile pattern die quartiersmitte the middle of the quarter 10 Über der Basis, dem Erdniveau, erheben sich in der Vertikalen die Häuser zum Baum- und Himmelsniveau. Im Baumniveau verbinden sich die Wohnungen mit Balkonen und Terrassen mit dem vertikalen Grün zu einem großzügigen Innen-AußenVerhältnis. Im Himmelsniveau öffnen sich die Wohnungen mit geschosshohen Verglasungen und Doppelfassaden zu einem Blick über die Stadt, zum Olympiapark und zu dem am Horizont aufscheinenden Alpenpanorama. Dabei liegt das nächste Haus auf dieser Höhe in gebührender Entfernung, damit in dieser Offenheit die Privatheit gegeben ist. Die vielfältigen Wohnungstypen auf kompakter Grundfläche mit variierender Erschließung sowie unterschiedlichen Raumhöhen und Orientierungen sind in der Grunddisposition so angelegt, dass die Räume in der Regel immer von zwei Seiten mit großzügigen Fensteröffnungen belichtet und belüftet werden können. Leider liegen die Badezimmer bei einigen Haustypen im Dunkeln. In manchen Wohnungen lassen sich die Schlafzimmer nicht möblieren, und oft ist das Wohnzimmer als Durchgangszimmer angelegt. Die Steigungen der außen liegenden Treppen sind zu hoch. Die Balkone sind eher ausgestülpt, weniger als Loggien oder Außenzimmer ausgebildet, der Raum auf den Treppenabsätzen ist eng bemessen. Sicher ein Preis der kompakten Grundrissfigur. Wird sie vergrößert, kann die städtebauliche Gesamtkomposition zu kippen beginnen. Leichtigkeit könnte verloren gehen. The diverse types of apartment on a compact floor area with different forms of access and different room heights and orientations are arranged within the basic layout such that the rooms can nearly always be lit and ventilated from two sides via generous window openings. Unfortunately, the bathrooms in some types of building are in the dark. In some apartments the bedrooms cannot be furnished, and often the living room serves as an access route to other rooms. The outside staircases are too steep. The balconies look more like they have been pushed out of the walls rather than designed as loggias or outdoor rooms in their own right, there is not enough space on the staircase landings. No doubt the price that had to be paid for the compact ground plan. To enlarge it would put the overall urban composition at risk. Lightness could be lost. Apart from the fashionable perforation patterns of the punctuated façades, the no-frills, direct and sincere architecture is put forward with vivid prowess. That is true especially in the 1:200-scale demonstration model, whose depth of detail and expressiveness generates a suggestive attraction and intent that go far beyond a mass-produced urban-development model. However, this should not tempt us to gloss over the problems and conflict points in the apparent distinctiveness of the architectural approach. It is the duty of all concerned, the city of Munich, the promoters’ co-operative and the Deutscher Werkbund Bayern, to resolve these problems with circumspection and candour in the spirit of the master plan. Sieht man von den modischen Perforationsmustern der Lochfassaden ab, wird die schnörkellose, direkte und ehrliche Architektur mit Bildmächtigkeit vorgetragen. Das wird vor allem in dem Präsentationsmodell im Maßstab 1:200 sichtbar, das Anziehung und Absicht erzeugt und über ein städtebauliches Massenmodell weit hinausgeht. Dies darf allerdings nicht dazu verführen, in der scheinbaren Andersartigkeit der architektonischen Haltung die Problem- und Konfliktpunkte auszblenden. Aufgabe aller Beteiligten, der Stadt München, der Bauherrengemeinschaft und des Deutschen Werkbunds Bayern ist es, sie mit Bedacht und Offenheit im Sinne des Gesamtentwurfs schöpferisch zu lösen. vielfache wohnungstypen diverse types of apartment 11 Oben, mitte und unten: Drei Perspektiven auf Sakamotos dichtes Feld von Punkthäusern. Top, middle and bottom: Three perspectives and Sakamoto’s dense field of point blocks. 12 Fast alle Häuser werden direkt von den Quartierstraßen aus erschlossen. Damit hat jedes Wohnhaus im Erdgeschoss einen in der Zwischenzone liegenden Frei- und Gartenraum, umgrenzt durch Mauern, Hecken und Zäune. Nearly all the buildings are accessed directly from the roads bounding the quarter. This allows each apartment block to have a free area and garden space in the intermediate zones at ground level, surrounded by walls, hedges and fences. Das Haus ist als Insel eingebettet in das öffentliche Feld mit Passagen, Bolzplatz, Spielplatz, Zugängen zu den Tiefgaragen, Oberlichtern, Holzdecks und kleinen grünen Flecken zum Verweilen. Die differenzierte Kleinteiligkeit des öffentlichen Raums und die gemeinschaftliche Nutzung der Basis der Häuser können flexibel verändert und entsprechend den Notwendigkeiten der Nachbarschaften weitergebaut werden. Dieser Gedanke provoziert und verlangt von den Stadt- und Hausbewohnern eine Gemeinschaftsdisziplin, die sie nur über sich selbst gegebene Verbindlichkeiten und Regeln einlösen können. Damit sind andere Verhaltensweisen und darüber hinaus soziale Experimente gefordert: neben einem hohen Gemeinschafts- und Bürgersinn die Pflege von Verantwortlichkeit und Ausgleich – zur Entwicklung der sozialen Stabilität zwischen den zukünftigen unterschiedlichen Bewohnerschichten des neuen Stadtquartiers. Each building is itself an island, embedded in the public area, with arcades, a kick-about area, a playground, accesses to the underground garages, skylights, wooden decks and small green areas that invite people to stay a while. The subdivision of the public spaces into distinct small areas and the communal utilisation of the base level of the buildings can be flexibly varied and extended in line with the changing needs of the neighbourhood communities. This idea provokes and demands a community discipline on the part of the city and building residents that they can only maintain through self-imposed obligations and rules. This promotes other forms of interaction and, what is more, social experiments: not just a pronounced sense of community and citizenship, but also the cultivation of accountability and reciprocity – in the interest of evolving social stability among the different future resident groups within the new city quarter. Im Sinne der Leitlinien der Werkbundsiedlung besteht das Wagnis darin, „erkennbare Veränderungen der sozialen Strukturen und des Altersaufbaus der Gesellschaft mit neuen Ansätzen einer künstlerischen, funktionalen, ökologischen und konstruktiven Architekturauffassung zu verbinden. Individuelle Gestaltungen im privaten Bereich von Wohnen und Arbeiten und vielfältige, auch für Freizeit und Kultur genutzte öffentliche Räume ergänzen sich zu einem lebendigen Miteinander“ ... Dafür bietet der Entwurf von Kazunari Sakamoto eine hervorragende Grundlage, da er die Einheit von Inhalt und Form, Konzept und Gestaltung, Material und Ausdruck – schöne Werkbundtugenden – zurückhaltend und sachlich vorträgt und einer zeitgenössischen Moderne beispielhaft zum Ausdruck verhelfen kann. As embodied in the precepts of the Werkbundsiedlung, the venture aims to “link up evident changes in the social and demographic structures of society with new attempts at an artistic, functional, ecological and constructive interpretation of architecture. Individual configurations in the private area of living and working and manifold public spaces, used also for leisure and culture, complement each other to form a living togetherness” ... Kazunari Sakamoto’s design offers an excellent foundation for this, as it reservedly and objectively proposes the unity of content and form, concept and implementation, material and expression – all of them admirable Werkbund virtues – and can help give expression to a contemporary Modernism in exemplary fashion. 13 jedes haus ist eine insel each building is an island zeitgenössische moderne contemporay modernism 14 15 17 Peter Ebner, Roman Höllbacher, Verena Rommel: Der demographische Wandel – Konsequenzen und Chancen im Wohnalltag Peter Ebner, Roman Höllbacher, Verena Rommel: Demographic change – consequences and opportunities in everyday living „Das war endlich das wirkliche Leben, mein Herz war gerettet und dazu verdammt, an wahrer Liebe zu sterben, in glücklicher Agonie, an irgendeinem Tag nach meinem hundertsten Geburtstag“ (Gabriel García Márquez, Memoria de mis putas tristes). “This was real life at last, my heart was saved and condemned to die of true love, in happy agony, on some day or other after my hundredth birthday” (Gabriel García Márquez, Memoria de mis putas tristes). In seinem jüngsten Buch erzählt der lateinamerikanische Nobelpreisträger Gabriel GarcÍa Márquez die Geschichte eines alten Machos, der sich zum 90. Geburtstag noch einmal die Lust eines jungen Mädchens wünscht. Márquez bricht in diesem Text nicht wenige Tabus. Er spricht über das Alter, und er scheut nicht davor zurück, die charakterlichen Schwächen eines senilen Lüstlings zu benennen. Nach den Erniedrigungen, die diesem alten Mann im Laufe der Erzählung widerfahren, tritt er, erlöst vom Laster, in seinen letzten Lebensabschnitt ein. Ihn erwartet kein luxuriöses, nein, ein bescheidenes, dafür aber würdevolles Leben – „mit einem erretteten Herzen“. Wenn wir von der surreal-amourösen Geschichte Márquez’ auf die realen Verhältnisse Deutschlands überblenden, in dem die Alten sage und schreibe 400 Milliarden 1 Euro horten, wird schlagartig bewusst, dass auch hierzulande Zufriedenheit nicht käuflich ist. Der soziale Frieden wird keineswegs nur von den finanziellen Mitteln, sondern auch vom subjektiven Gefühl der Zufriedenheit jedes Einzelnen abhängen. Wir möchten im Folgenden dazu einige Stichworte, Ideen und Beispiele vorstellen. Beispiele, die Anregungen geben und Nachahmer finden sollten. Wir werden dabei „harte“ Faktoren nennen, also Optionen, die auf die materielle Gestaltung von Wohnraum Einfluss nehmen, wie die staatlichen Förderrichtlinien und Normen, und wir werden „weiche“ Faktoren anführen, die ausschließlich damit zu tun haben, wie wir uns den demographischen Wandel vorstellen, wie wir ihn denken und kommunizieren. In his latest book, the Latin American Nobel prize-winner Gabriel García Márquez tells the story of an ageing macho who decides to celebrate his 90th birthday by spending the night with a young virgin. García Márquez breaks a lot of taboos in this novel. He talks about old age and even goes so far as to spell out the character weaknesses of a senile lecher. After all the humiliations that this old man has suffered in the course of the story, he enters upon the last phase of his life liberated from his vice. It is not a luxurious, no, it is a modest life that waits for him, but a life in dignity – “with a saved heart”. If we pan around from García Márquez’ surreal amorous narrative to the all-too-real situation in Germany today, where the elderly are sitting on a cache of no less than 400 billion 1 euros, we suddenly realise that money cannot buy satisfaction here, either. Social calm is going to depend not only on financial resources but also on the subjective feeling of contentment in each individual’s heart. In the following we would like to present some cues, ideas and examples in this context, examples that are intended to stimulate and deserve to be emulated. We will name some “hard” factors, that is to say options that influence the physical configuration of living space, such as regulations on government subsidies and technical standards, and we will identify some “soft” factors that have to do only with how we view demographic change, how we imagine and communicate it. demographischer wandel demographic change 1 Dana Harakowa nannte diese Zahl in einem ORF-Interview am 21.07.06. Vgl.: Harakowa, Dana: Das Christophorus-Projekt, Leipzig, 2006. 1 Dana Harakowa quoted this figure in an interview with the ORF (Austrian broadcasting corporation) on 21.07.06. Cf.: Dana Harakowa, Das Christophorus-Projekt, Neuer Europa Verlag, 2006. 18 Clash of generations? Chancen im demographischen Wandel Wir in Deutschland bekommen keine Kinder mehr. Jedenfalls zu wenige. Über die Ursachen rätseln Soziologen und Psychologen. Die Politik versucht, mit direkten finanziellen Anreizen und indirekten steuerlichen Entlastungen eine Trendwende zu erreichen. Bis es so weit ist, werden die Sonntagsreden und die Feuilletons noch voll sein mit kollektivistisch formulierten Imperativen. Kein Artikel zum Thema „Demographischer Wandel“, der nicht mit „In Zukunft müssen wir ...“ beginnt oder vergleichbaren Appellen an das abstrakte Staatsvolk endet. Es ist bekannt, dass Kinder Geld kosten. Mehrkindfamilien und Alleinerzieherinnen sind am ehesten armutsgefährdet. Und wer von uns will schon absehbar und freiwillig in Armut leben? Umgekehrt sind jene, die über gute und geregelte Einkommen verfügen und sich Kinder leisten könnten, nicht willens, eine Familie zu gründen, weil sie für diesen Wohlstand rund um die Uhr arbeiten müssen. Das unfinanzierbare Sozialsystem ist längst beschworen, der „Clash of Generations“, und dennoch sollten wir die positiven Aspekte erkennen und das Gute stärken, das auch in diesem Wandel liegt. clash of generations? A clash of generations? Opportunities thanks to demographic change Here in Germany we have stopped having children. Or at least having enough children. Sociologists and psychologists wrack their brains about the causes. Politicians attempt to reverse the trend with direct financial incentives and indirect tax breaks. Until they succeed, the soapbox sermons and weekend supplements will continue to be full of collectivistically formulated imperatives. There is hardly an article on the topic of “Demographic change” that does not start with “Going forward we need to...” or end with similar appeals to the abstract nation. Everybody knows that children cost money. That large families and single mothers are those most at risk of dropping below the poverty line. And who among us wants to voluntarily live in poverty within the foreseeable future? On the other hand, those who have a decent and regular income and could actually afford children are reluctant to start a family, because they have to work around the clock to sustain their affluence. The threat of the financial breakdown of our social system, of a “clash of generations” is looming, and yet we should recognise the positive aspects of this change and the good that it also harbours. 19 In Europa gibt es eine ganze Reihe von praktizierten Modellen, die den Problemen des demographischen Wandels entgegengesetzt werden und Menschen wie Regierungen zu höchst kreativen Leistungen anspornen. In Finnland beispielsweise erhält eine Frau bis 14 Monate nach der Geburt eines Kindes 70 % ihres letzten Nettogehalts. Danach kann sie sich entscheiden, ob sie wieder in ihren Beruf eintritt – oder nicht. Tut sie es nicht, zahlt der finnische Staat das Geld, das die Kinderbetreuung in Kinderkrippen oder -gärten kosten würde. In Schweden wiederum können Frauen bis zum achten Lebensjahr des Kindes ihre Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich um 25 % reduzieren. Diese Modelle sind positive Ansätze, die dann erst richtig greifen werden, wenn sie zu einer neuen Unternehmenskultur führen. Erst wenn die Unternehmen erkennen, dass durch zufriedene Mitarbeiter, Mütter und Väter Leistungsbereitschaft und Vernässlichkeit erhöht werden, werden diese Modelle ihre volle Wirkung entfalten. Ihre soziale Dimension ist Teil einer gesellschaftlichen Vision, welche zu einem Mehr an Gerechtigkeit in unseren Gesellschaften führt. Der demographische Wandel ist dann ein wesentlicher Impuls für den sozialen Fortschritt – und nicht seine Gefährdung. In der Renten- und Sozialdiskussion sind wir an diesem Punkt angelangt. Alle stehen wie gebannt vor dem Goldenen Kalb des Rentensystems und diskutieren, wie es zu erhalten wäre. Stillschweigend wird vorausgesetzt, dass die bloße Auszahlung der Renten in der bisherigen Höhe Glück und Zufriedenheit garantiert. Nun sind wir keine Bevölkerungsstatistiker, und wir werden es anderen überlassen, darüber nachzudenken, wie und ob ein System erhalten werden kann, wenn keine Jungen nachkommen und Zuzug von Menschen weder gewünscht noch politisch durchsetzbar ist. Wir meinen, dass es in der Diskussion um den so genannten demographischen Wandel notwendig ist, vom Feldherrenhügel der Statistik wieder herunter auf die Ebene der gesellschaftlichen Realität zu steigen, um bei den Problemen der Menschen im Hier und Heute anzukommen. Wir verstehen Datenmaterial und Zahlen als universelle Sprache, eine, die aber auch die Wörter vorgibt, in denen man spricht und die insofern nicht neutral ist. Die folgende Studie führten wir in ausgezeichneten bayerischen Wohnanlagen durch, die barrierefrei und behindertengerecht errichtet wurden. Wie funktionieren neue Wohnbaukonzepte wirklich? impuls für sozialen wandel driver of social progress In Europe there are any number of models already in practice for coping with the problems of demographic change and encouraging people and governments to come up with highly creative solutions. In Finland, for example, a mother gets 70 % of her last net salary for up to 14 months after the birth of her child. Then she can decide whether she wants to go back to work again – or not. If she decides not to, she can claim the money she would have had to spend on sending the child to child care or play school. In Sweden, mothers can reduce their working hours by 25 % until their child turns eight, and the government makes up the pay difference. These models are encouraging approaches which will only really take effect if they lead to a new corporate culture. Only when companies realise that satisfied employees, mothers and fathers, perform better and improve reliability will these models develop their full impact. Their social dimension is part of a societal vision leading to more fairness in our societies. In this respect, demographic change is an essential driver of social progress – and not a threat to it. The public debate about the pension and social security systems has now reached this crucial point. People stand spellbound, bowing to the Golden Calf that is the pension system and debating how best it can be preserved. It is taken for granted that merely paying out pensions at current levels is a guarantee of happiness and satisfaction. Now we are not population statisticians, and we will leave it to others to think about how and whether a system can be preserved, if there are no youngsters coming into the system and immigration from outside is neither desired nor politically achievable. In our opinion, the debate about so-called demographic change needs to climb down from the ivory tower of statistics to the level of societal reality in order to tackle the problems of the people living in the here and now. We comprehend data material and figures as a universal language, but one which dictates the words in which to speak and is thus not neutral. In the following, we describe a study we carried out in a number of excellent Bavarian housing estates that were built to be barrier-free and friendly to handicapped residents. 20 Wohnungsnachfrage und Wohnen im Alter Housing demand and how the elderly want to live Aufgrund der uns zugänglichen Daten aus Bayern treffen wir Aussagen über ein begrenztes räumliches Segment, die nicht direkt auf die gesamte Bundesrepublik übertragbar sind. Während der Freistaat seit 1970 kontinuierlich wächst, ist die Bevölkerungsentwicklung – insbesondere in den neuen Bundesländern – ganz anderer Natur. Die Raumordnung spricht mittlerweile von einer „Schneisenbildung“. Sie kennzeichnet das Gefälle zwischen Landesteilen mit einer positiven Bevölkerungsund Wirtschaftsentwicklung und solchen mit einer (extrem) negativen. Dieses Gefälle zieht sich quer durch Deutschland, das dadurch sie in äußerst inhomogene Zonen zerfällt. Diese Entwicklung gibt es aber nicht nur innerhalb Deutschlands, sondern auch innerhalb von prosperierenden Ländern wie dem Freistaat. Selbst hier beobachten wir, dass regionale Entwicklungen stark auseinanderklaffen. On the basis of the data available to us from Bavaria, we are able to comment on a limited regional segment that is not necessarily representative of Germany as a whole. While the population of Bavaria has been constantly growing since 1970, the trend elsewhere – and particularly in the eastern German states – is quite different. The regional development authorities even speak of a “scissors movement” between parts of the country with upward population and economic development and others undergoing an (extreme) decline. This gap runs right through Germany, which is breaking down into highly heterogeneous zones. And the trend is in evidence not only within Germany as a whole, but also within the more prosperous states such as Bavaria. Even here we can observe regional developments diverging strongly. Während Bayern von 1994 bis 2004 einen Bevölkerungsanstieg von 4,4 % aufweist, 521 949 in absoluten Zahlen, entfallen allein auf die Region Oberbayern 251 718 Personen, was einem Zuwachs von 6,4 % entspricht. Weit mehr als die Hälfte des Bevölkerungszuwachses entfallen damit auf eine einzige Region. Oberfranken, ehemalige Grenzregion zur DDR, stagniert mit einem Zuwachs von 2 047 Personen oder 0,2 %. So kommt es zu einer rasanten Abkoppelung der „heißen” Regionen im Süden von den „kalten“ im Nordosten des Freistaats. Für den Wohnungsbau werden diese Trends dramatisch, wenn man die Bevölkerungsprognosen mit den gesellschaftlichen Entwicklungen verbindet: Das Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung schätzt, dass in Bayern bis 2020 die Bevölkerung selbst nur um 2,9 % auf 13 Millionen 2 wachsen, die Zahl der Haushalte aber um rund 7,4 % auf 6,24 Millionen ansteigen wird 3. Der Prozess der Verkleinerung der Haushalte hält unvermindert an, sodass Singles, kinderlose Paare und kleine Seniorenhaushalte in Zukunft die häufigsten Haushaltsformen sein werden. Größere Familienhaushalte zählen hingegen zu einer aussterbenden Kategorie. Bundesweit werden bis 2020 die Einpersonenhaushalte zwischen 45 und 60 Jahren um 23 % ansteigen. Einpersonenhaushalte mit 75 und mehr Jahren werden um 21 % zunehmen. Einen Anstieg von 40 % soll es bei Haushalten mit zwei und mehr Personen mit 75 und mehr Jahren 4 geben. Das vollkommen gegenläufige Bild zeigt sich bei jungen, größeren Haushalten, die dem klassischen Familienbild entsprechen. Haushalte mit fünf und mehr Personen bis 45 Jahren werden drastisch abnehmen, nämlich um 26 %. Vierpersonenhaushalte werden um 27 %, Dreipersonenhaushalte um 22 % zurückgehen. Whereas the population of Bavaria grew by 4.4 % from 1994 to 2004, or by 521,949 in absolute figures, 251,718 persons of this increase lived in the Upper Bavaria region alone, a rise of 6.4 %. This means that a single region accounted for far more than half of the population growth. Upper Franconia, on the border to what used to be the German Democratic Republic until Germany was re-unified, stagnated with a growth of 2047 persons or 0.2 %. This illustrates the rampant disconnect between the “hot” regions in the south and the “cold” regions in the north-east of Bavaria. If we now link up the population forecasts with societal shifts, these trends take on dramatic implications for housing construction: the German Federal Office for Building and Regional Planning estimates that the population in Bavaria will increase by only 2.9 % to 13 million 2 by 2020, but the number of households by around 7.4 % to 6.24 million 3. 21 wohnungsnachfrage housing demand wohnen im alter how the elderly want to live 2 Bayerische Landesbodenkreditanstalt (Hrsg.): Wohnungsmarkt Bayern 2005. Beobachtung und Ausblick. München 2005, S. 47. 3 Um 1900 lag die durchschnittliche Lebenserwartung von Männern bei etwa 45, von Frauen bei etwa 48 Jahren. Ein halbes Jahrhundert später lag sie bei Männern bei 66,5 Jahren, und am Beginn des 21. Jahrhunderts bei 73,5 Jahren. Zudem hat sich die Alterspyramide stark verändert, sodass der Anteil der über 65-jährigen ständig steigt. Ihr Anteil beträgt in Bayern derzeit 15,1 % und wird bis 2010 auf 17,2 % steigen. Die Bayerische Staatsregierung sieht deshalb in der Gestaltung und Sicherung würdiger Lebensverhältnisse für ältere Menschen eine wichtige Voraussetzung für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Jede Generation müsse für die Altersphase die Perspektive menschenwürdiger Lebensführung haben. Vgl.: Bayerische Architektenkammer und Oberste Baubehörde im Bayerischen Staatsministerium des Inneren, Barrierfreies Bauen 1, Barrierefreie Wohnungen, Planungsgrundlagen, Leitfaden für Architekten, Fachingenieure, Bauherren zur DIN 18 025 Teil 1 und 2, Ausgabe 1992, München 1992, S. 6. Vgl auch: Bayerische Architektenkammer, Oberste Baubehörde im Bayerischen Staatsministerium des Inneren und Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen, Barrierefreies Bauen 3, Straßen, Plätze, Wege, Öffentliche Verkehrs- und Grünanlagen sowie Spielplätze, Leitfaden für Architekten, Landschaftsarchitekten, Fachingenieure, Bauherren und Gemeinden zur DIN 18 024 Teil 1, Ausgabe 1998, München 2001. 4 A.a.O., S. 47. 2 Bayerische Landesbodenkreditanstalt (Ed.): Wohnungsmarkt Bayern 2005. Beobachtung und Ausblick. Munich, 2005, p. 47. 3 Around 1900, the average life expectancy for males was about 45, for females around 48 years. Half a century later it was 66.5 years for males and by the beginning of the 21st century it had rises to 73.5 years. What is more, the shape of the age pyramide has changed significantly, with the proportion of over-65s constantly increasing. In Bavaria they currently account for 15.1 % of the population, and this percentage will increase to 17.2 % by 2010. The Bavarian state government thus sees enabling and assuring dignified living conditions for elderly people as an important prerequisite for the cohesion of our society. Every generation must have the prospect of being able to live in dignity in old age. Cf.: Bayerische Architektenkammer und Oberste Baubehörde im Bayerischen Staatsministerium des Inneren, Barrierfreies Bauen 1, Barrierefreien Wohnungen, Planungsgrundlagen, Leitfaden für Architekten, Fachingenieure, Bauherren zur DIN 18 025 Teil 1 und 2, Ausgabe 1992, Munich 1992, p.6. Also compare: Bayerische Architektenkammer, Oberste Baubehörde im Bayerischen Staatsministerium des Inneren und Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen, Barrierefreies Bauen 3, Strassen, Plätze, Wege, Öffent liche Verkehrs- und Grünanlagen sowie Spielplätze, Leitfaden für Architekten, Landschaftsarchitekten, Fachingenieure, Bauherren und Gemeinden zur DIN 18 024 Teil 1, Ausgabe 1998, Munich, 2001. 4 Loc. cit., p. 47. 22 In den zentralen Regionen Bayerns werden, wie in allen prosperierenden Regionen, Wohnungen fehlen. Allein im Raum München wird ein Anstieg um 124 000 Haushalte prognostiziert, in Landesteilen wie Oberfranken hingegen sinken die Haushaltszahlen – minus 5 800 Haushalte. Bei einer Wohnungskäufer-Befragung, die an 15 Standorten in München im Jahr 2005 durchgeführt wurde, haben wir zu diesen abstrakten quantitativen Daten qualitatives Material gewonnen: Was wollen Wohnungssuchende eigentlich? Was bewegt sie bei ihren Entscheidungen? Unter den 534 von uns befragten Kaufinteressenten stellten die 30- bis 50-Jährigen mit 64 % die größte Gruppe. Es folgten die unter 30-Jährigen mit 17 %, 15 % waren zwischen 51 und 65 und nur 4 % über 65 Jahre alt. Ganz klar auch die Verteilung der Haushaltsgrößen: Ein- und Zweipersonenhaushalte waren mit 61 % vertreten, 35 % waren Familien mit wenigstens einem Kind – und 4 % Wohngemeinschaften. Auf Wohnungssuche sind also nicht die Älteren, weil diese längst mit Wohnraum versorgt sind. Die Zunahme der Alten in der Gesellschaft spiegelt sich zunächst am Markt kaum wider. Man bleibt in seiner Wohnung. Diese ist unter Umständen nach dem Auszug der Kinder zwar viel zu groß, zu teuer und nicht komfortabel erschlossen, ist aber ein Umzug in eine kleinere Wohnung wird nur selten angestrebt. Nur 17 % der Befragten, und das nicht nur Ältere, dachten an einen solchen Umzug. Das Problembewusstsein im Hinblick auf die mögliche Anpassbarkeit der Wohnung auf geänderte Lebensumstände ist dennoch hoch. In der Gruppe der 30- bis 50-Jährigen, der größten Nachfragergruppe, ist dieser Wunsch am stärksten ausgebildet. Die Anpassbarkeit als Alterswohnsitz wird hier von 46 % der Befragten begrüßt. Allerdings steht die Adaptierbarkeit der Wohnung im Hinblick auf geänderte Familienverhältnisse in dieser Altersgruppe naturgemäß im Vordergrund. Ob diese mündlich geäußerten Wünsche im Zweifelsfall so dominante Vorlieben wie den Wunsch nach großen Freisitzen, Dachterrassen oder Gartenanteilen bei der Kaufentscheidung beeinflussen, ist schwer zu sagen. The process of shrinking households continues unabated, with the result that single persons, childless couples and small senior-citizens households are going to be the most common forms of household in the future. Large family households, by contrast, are heading for extinction. In Germany as a whole, the number of single-person households aged between 45 and 60 is expected to rise by 23 % by 2020. Single-person households aged 75 and older will increase by 21 %. A rise of 40 % is forecast for house-holds with two or more persons aged 75 and over 4. The picture is just the opposite in the case of young, larger households, that is to say the classical family category. The number of house-holds with five or more persons aged less than 45 is set to drop dramatically, by 26 %. Fourperson households will drop by 27 %, three-person households by 22 %. In the central regions of Bavaria, as in all prosperous regions, there will be a shortage of housing. In the Munich area alone, the number of households is predicted to rise by 124,000, while in regions such as Upper Franconia household figures are expected to continue declining – minus 5,800 households by 2020. A home-buyer poll conducted at 15 locations in Munich in 2005 enabled us to gather qualitative material to back up these abstract quantitative data: what are home-buyers actually looking for? What are the motives for their decisions? The largest group among the 534 would-be purchasers we polled, at 64 %, was the 30 – 50 age bracket. These were followed by the under-30s at 17 %, 15 % were aged between 51 and 65, and only four percent were over 65. The distribution of household sizes was equally clear-cut: one- and twoperson households made up 61 % of the total, 35 % were families with at least one child – and 4 % were home-sharers. Obviously, it is not the elderly who are looking for housing, because they already have homes of their own. The increase in the percentage of old people in society is having hardly any impact on the market, at least not for the time being. People stay in their homes even if they are much too big after the children have moved out, are too expensive, and offer too little in the way of conveniences; very few consider moving into smaller housing. Only 17 % of the respondents, and not only the older ones, were thinking about making such a move. Awareness of the problem of possibly having to adapt one’s home to changing circumstances is nevertheless high. This desire is most pronounced among the 30 – 50-year-olds, the largest buyer group. 46 % of the respondents in this group appreciated ease of conversion to facilitate living comfortably in old age. In this age group, however, adaptability of housing to changing family situations is naturally more in the spotlight. Whether, when faced with the choice, these verbally expressed wishes actually influence buyers’ decisions as much as such dominant preferences as large outdoor living areas, loggias or gardens is hard to say. 23 umzug nur selten angestrebt very few consider moving Sämtliche graphische Abbildungen aus: Primärerhebung zum Wohnungsmarkt in der Landeshauptstadt München, Bayerische Landesbodenkreditanstalt (Hrsg.), Wohnungsmarkt Bayern 2005, Beobachtung und Ausblick, München, S. 63 – 91; Univ. Prof. P. Ebner, A. Förster, M. Kuntscher, F. Gerstenberg. All illustrations from: Primärerhebung zum Wohnungsmarkt in der Landeshauptstadt München, Bayerische Landesbodenkreditanstalt (Eds.), Wohnungsmarkt Bayern 2005, Beobachtung und Ausblick, München, p. 63 – 91 Univ. Prof. P. Ebner, A. Förster, M. Kuntscher, F. Gerstenberg. 24 Dennoch: Wohnungskäufer schätzen flexiblen Wohnraum, was für den Wohnungsproduzenten ein Argument im Verkauf darstellen müsste. Hier sollte mit entsprechenden Informationen das Bewusstsein der Wohnungssuchenden vertieft werden. Im Idealfall sollte eine Wohnung mit dem Menschen altern können, also auf die Anforderung des gealterten Bewohners reagieren. Hier gibt es aber natürlich Grenzen. Wie kann man also den Umzug älterer Menschen in kleinere Wohnungen unterstützen? Was spricht dagegen, die Kosten für den Transport von Möbeln zu übernehmen und den Umzug in eine barrierefreie Kleinwohnung mit dem Angebot von sozialen Diensten zu verknüpfen? Wichtig ist, dass sich eine solche Wohnung im gewachsenen sozialen Umfeld der betreffenden Personen findet. Mit dem Erlös der alten, aber zu großen Wohnungen, könnte die Pflege und Betreuung wenigstens zum Teil gedeckt werden. Nevertheless: home-buyers do appreciate flexible housing, and this should be a sales argument for housing producers to focus on. The awareness of home-purchasers for these aspects could be honed by providing more information on the topic. Ideally a home should be able to age with the people living in it, to respond to the needs of its ageing occupants. But of course there are limits here. So what can society do to encourage elderly people to move into smaller accommodation? What about paying the removal costs and linking the move to smaller, barrier-free housing with an offer of social services? The proceeds from the sale of their old, much too large family homes would cover at least a part of the cost of providing them with care and services. The important thing is that their new homes must be located within the prospective residents’ accustomed social environment. Barrier-free construction – a duty for the government Barrierefreies Bauen – der Staat steht in der Pflicht Das entscheidende Thema für den Wohnungsbau der Zukunft heißt barrierefreies und altengerechtes Bauen. Hierbei handelt es sich um einen der „harten“ Faktoren, von denen wir einleitend sprachen. Diese stellen die am einfachsten zu handhabenden Aspekte unseres zukünftigen Wohnalltags dar, und es liegt in der Macht der Politik, hier steuernd einzugreifen. Dass Wohnungssuchende darauf achten, eine im Alter flexible Wohnung zu erwerben, konnten wir im vorangegangenen Abschnitt darstellen. Der Staat steht in der Pflicht, entsprechende Rahmenbedingungen zu formulieren. Erst innerhalb der Normen und Baugesetze entsteht unter Anbietern der notwendige Wettbewerb. The crucial issue in the context of building the housing of the future is barrier-free and elderly-friendly design. This is one of the “hard” factors we mentioned earlier. These factors are the aspects of our future everyday living that are the easiest to handle, and it is in the power of the politicians to play a steering role. We have already seen that home-buyers are interesting in purchasing housing that will be adaptable in their old age. It is up to the government to formulate the legal and technical background conditions that will enable them to do so. The necessary competition between providers can only arise within the framework of the valid technical standards and building legislation. The impression that there are already too many rules and regulations and that government intervention is already stifling rather than enabling people to live their lives to the full may well be justified. In western civilisations, especially, people often feel helpless, indeed powerless, when confronted with rulebooks. But this powerlessness is nothing compared to the barriers with which old and disabled people are – literally – confronted with every day, obstacles that they can only overcome with other people’s help. Only gradually is an awareness emerging that physical and mental handicaps are not a personal disgrace. People with handicaps could often move around quite easily, if only we could design a couple of things differently. 25 Das Gefühl, die Regelungsdichte sei bereits zu hoch und die gesetzlichen Vorgaben seien zu weit reichend, sodass die Entfaltung des Lebens eher behindert als gefördert werde, mag stimmen. Gerade in westlichen Zivilisationen steht man Regelwerken oft hilflos, ja ohnmächtig gegenüber. Diese Ohnmacht aber ist nichts im Vergleich zu jenen Barrieren, vor denen alte und behinderte Menschen tagtäglich stehen, Hindernisse, die sie nur mit fremder Hilfe überwinden können. Erst allmählich entsteht ein Bewusstsein dafür, dass körperliche und geistige Behinderungen keinen Makel darstellen. Menschen mit Behinderungen könnten sich bisweilen ganz leicht bewegen, wenn wir nur ein paar Dinge anders gestalten würden. Die DIN 18 025 regelt in Teil 1 rollstuhlgerechtes und in Teil 2 barrierefreies Bauen. Die Bayerische Bauordnung empfiehlt, wenigstens ein Geschoss pro Gebäude nach Teil 2 dieser Norm zu bauen. Ein Anfang. Der Freistaat Bayern hat im Jahr 2003, dem „Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderungen“ unter anderem den Bayerischen Wohnungsbaupreis „Barrierefreier Wohnungsbau mit hoher Qualität“ vergeben. Am Lehrstuhl für Wohnungsbau und Wohnungswirtschaft an der Technischen Universität München haben wir alle damals prämierten Projekte evaluiert. Mit den Mitarbeitern am Institut und dem Soziologen Jánosz Kárász haben wir zum Teil mit unkonventionellen Methoden Nutzerinnen und Nutzer auf ihre Zufriedenheit befragt, und wir haben sie gebeten, ihre Lieblingssituation zu fotografieren und zu kommentieren. Part 1 of DIN 18025 deals with wheelchair-friendly and Part 2 with barrier-free construction. The Bavarian building regulations recommend that at least one floor of each building should comply with Part 2 of this standard. A start, at least. In 2003, the “European Year of People with Disabilities”, the state of Bavaria awarded the Bavarian housing construction prize for “High-Quality Barrier-Free Housing”. At the time, we at the Chair of Housing and Housing Economy at the Technical University of Munich evaluated all the prize-winning projects. Together with the institute’s staff and sociologist Jánosz Kárász, we used sometimes unconventional methods to poll users about their satisfaction and we asked them to photograph and comment on their favourite situations. In addition to the prize-winning residential buildings, we also studied model projects on the topic of “barrier-free construction” which had been initiated by the State Building Authority as part of an experimental housing project. Some of these are by now 16 years old, so it is possible to tell whether the declared aims have been achieved. Precisely in subsidised rental housing, qualities often show themselves better when the plaster has flaked off a bit and the media hype of the early days has ebbed. In the following, we will present only some of the findings of the 140-page study 5, in the context of which we examined nine very different residential complexes 6, including some small projects such as that in Bad Birnbach with ten housing units, and large ones such as those in Günzburg with 85 rental apartments or Munich with 101. Many of the approaches pursued work very well, others need re-thinking before further future application. But all reveal useful insights for consideration in further projects. barrierefreies bauen barrier-free construction 5 Cf. Oberste Baubehörde im Bayerischen Staatsministerium des Inneren. Abteilung Wohnungswesen und Städtebauförderung (Ed.), Barrierefreies und integratiertes Wohnen. Forschungsbericht zur Nachuntersuchung ausgewählter Modellvorhaben und Landeswettbewerb. Konzept, Untersuchung und Forschungsbericht: Lehrstuhl für Wohnungbau und Wohnungswirtschaft, Prof. Peter Ebner, Technischen Universität Munich, Munich 2006. The study covered housing complexes in Bad Babach, Hans-MoserStrasse; Dorfen, Kloster Algasing; Günzburg, Ludwig-Heilmayr-Straße; Ingolstadt, Hollerstauden; Kempten, Brennergasse; Manching, Schulstraße; Munich, Volpinistrasse and Regensburg, Rote-Löwen-Strasse. 6 Cf. Oberste Baubehörde, loc cit. 26 Zusätzlich zu den prämierten Wohnungsbauten wurden Modellprojekte zum Thema „Barrierefreies Bauen“ untersucht, die die Oberste Baubehörde als Teil des experimentellen Wohnungsbaus initiierte. Diese sind zum Teil 16 Jahre alt und lassen erkennen, ob die gesteckten Ziele erreicht wurden. Gerade im sozialen Wohnbau zeigen sich Qualitäten oft besser, wenn der Putz ein wenig abgeblättert und der publizistische Hochglanz der frühen Tage verblichen ist. Wir werden hier nur einige der Ergebnisse der 140 Seiten umfassenden Studie referieren. 5 In ihrem Rahmen untersuchten wir neun sehr unterschiedliche Wohnanlagen, 6 darunter kleine Objekte wie in Bad Birnbach mit zehn Wohneinheiten und große mit 85 Mietwohnungen wie in Günzburg oder München mit 101 Mietwohnungen. Zahlreiche Ansätze funktionieren sehr gut, andere sollte man in Zukunft überdenken. Immer aber lassen sich Erkenntnisse für weitere Projekte gewinnen. For instance, if a tenant in a rental complex says that there are vegetable patches, but nobody uses them, that could lead planners to the prima facie conclusion that it would be better not to provide them in the first place. This conclusion could not be more mistaken. Instead we must learn to examine such features more closely, to do without them where they are not needed, or to provide them more discerningly. And if in the same complex an elderly resident says that she can go for a short walk around the outdoor gallery without getting wet, that does not necessarily mean that all senior-friendly buildings should have an outdoor gallery. It only shows that an outdoor gallery offers possibilities that go beyond other forms of access, and that especially older people can find a place where they can take a short walk and cultivate social contacts without being exposed to the elements. However, it would be disastrous to prescribe these features as standard. Wenn ein Mieter in einer Wohnanlage etwa sagt, es gebe Kräuterbeete, aber die benütze niemand, könnte daraus der Schluss gezogen werden, es wäre am besten, solche Angebote zu streichen. Dieser Schluss könnte falscher nicht sein. Wir lernen vielmehr, solche Maßnahmen besser einzuschätzen, auf sie gegebenenfalls zu verzichten oder ganz bewusst zu setzen. Und wenn in dieser Wohnanlage ein älterer Bewohner sagt, auf den Laubengängen könne er einen kleinen Spaziergang machen, ohne nass zu werden, folgt daraus noch lange nicht, dass man in seniorengerechten Wohnhäusern möglichst immer einen Laubengang errichten soll. Es besagt lediglich, dass ein Laubengang Möglichkeiten bietet, die über eine andere Form der Erschließung hinausgehen, und dass gerade Ältere einen Ort finden, an dem sie, geschützt vor der Witterung, einen kleinen Spaziergang unternehmen und soziale Kontakte pflegen können. Fatal wäre es, daraus eine Norm abzuleiten. Technical standards and official recommendations are good starting points, but not in themselves solutions for any particular case. This is where the work needs to be done. It involves not only casting guidelines into concrete, but bearing in mind the people who are going to spend their lives in these housing complexes. What these people need goes far beyond what any technical standard can provide, and precisely here lies the danger of the means becoming the end. The residents need closeness, to be socially close to their neighbours and physically close to the city or village centre so that they can live their lives, even as they grow old and/or their mobility is impaired. A disabled-friendly housing estate, even if it is smothered with awards, is no use at all if there is no infrastructure nearby that enables the residents to take care of their own needs. Normen und baurechtliche Empfehlungen sind gute Vorgaben, aber keine individuellen Lösungen. Genau daran müssen wir arbeiten. Nicht nur einfach Richtlinien in Beton gießen, sondern die Menschen im Blick haben, die in diesen Wohnanlagen ihr Leben verbringen. Diese brauchen darüber hinaus vor allem das, was mit einer Norm nicht zu erfüllen ist, und gerade hier ist die Gefahr groß, dass die Mittel zum Zweck werden. wirtschaftliche rahmenbedingungen economic background 27 Die Bewohner brauchen Nähe, soziale Nähe zu ihren Nächsten und ganz pragmatisch zum Stadt- oder Dorfzentrum, damit sie, auch im Alter und/oder mit eingeschränkter Mobilität, das Leben leben können. Ein mit Auszeichnungen überhäufter behindertengerechter Wohnbau nützt nichts, wenn im näheren Wohnumfeld keine Infrastruktur vorhanden ist, die Bewohnern ermöglicht, sich um ihre Bedürfnisse selbst zu kümmern. Die bestehenden Rechtsinstrumente erzielen sehr vernünftige Ergebnisse und sichern das „Minimum“. Unsere Forderungen für die Zukunft zielen auf mehr: Wir müssen auf Standortqualitäten achten, wir brauchen Freianlagen, informelle Treffpunkte. Wir müssen die räumlichen Beziehungen in der Wohnung, der Siedlung, im Wohnumfeld und im Kontext zum jeweiligen Zentrum planen und koordinieren. Insellagen sollten generell vermieden werden. Optimal wäre, wenn alle für den Alltag entscheidenden Versorgungseinrichtungen in einem Umkreis von 500 Metern lägen. Dafür braucht es kein zusätzliches Geld, sondern versierte Planer. Das gilt für alle Gebiete Deutschlands, in denen die Bevölkerung noch wächst. Prekär wird die Lage überall dort, wo Städte und Kommunen schrumpfen und die Infrastruktur ausdünnt. Wirtschaftliche Rahmenbedingungen Die in unserer Studie untersuchten barrierefreien und integrierten Wohnanlagen wurden zu Baukosten zwischen 1090 und 1560 Euro pro Quadratmeter Wohnfläche errichtet. Barrierefreier Wohnraum nach DIN 18 025 Teil 2 kann mit annähernd den gleichen Kosten erstellt werden wie herkömmliche Wohnungsbauten. 7 Er weist aber einen deutlichen Mehrwert auf, der sich nicht nur in einem besonderen architektonischen Standard ausdrückt, sondern auch in baulichen Einrichtungen, die die Kommunikation unterstützen. 5 Vgl. Oberste Baubehörde im Bayerischen Staatsministerium des Inneren. Abteilung Wohnungswesen und Städtebauförderung (Hrsg.), Barrierefreies und integriertes Wohnen. Forschungsbericht zur Nachuntersuchung ausgewählter Modellvorhaben und Landeswettbewerb. Konzept, Untersuchung und Forschungsbericht: Lehrstuhl für Wohnungsbau und Wohnungswirtschaft, Prof. Peter Ebner, Technische Universität München, 2006. Untersucht wurden Wohnanlagen in Bad Babach, Hans-Moser-Straße; Dorfen, Kloster Algasing; Günzburg, Ludwig-Heilmayr-Straße; Ingolstadt, Hollerstauden; Kempten, Brennergasse; Manching, Schulstraße; München, Volpinistraße sowie Regensburg, Rote-Löwen-Straße. 6 Vgl. Oberste Baubehörde, a.a.O. 7 Dies wurde auch in verschiedenen Untersuchungen der Obersten Bayerischen Baubehörde nachgewiesen. Arbeitsblätter „Bauen und Wohnen für Behinderte“, Nr. 5, „Wohnen ohne Barrieren“ Oberste Baubehörde im Bayerischen Staatsministerium des Inneren. Weiters: IFB Forschungsbericht 1995, Barrierefreies Bauen und kostengünstiges Bauen für alle Bewohner – Analyse ausgeführter Projekte nach DIN 18025-2, Fraunhofer-Institut, 1998. The existing legal instruments achieve very reasonable results and guarantee a basic minimum. Our proposals for the future aim for more: we have to pay attention to local amenities, we need open-air facilities, informal meeting places. We have to plan and co-ordinate the spatial relationships within the housing units, the estate, the residential environment, and in the context of local centres. Isolated locations should be avoided as far as possible. Ideally, all the facilities required for everyday life should be available within a 500 metre radius. This does not call for extra money, but for skilful planners. This holds true for all regions of Germany in which the population is still growing. The situation is precarious wherever towns and villages are shrinking and the infrastructure is becoming thinner. Economic background The barrier-free and integrated housing complexes examined in our study were built at a cost of between 1090 and 1560 euros per square metre of floor area. Barrier-free housing meeting the requirements of DIN 18 025 Part 2 can be built at approximately the same cost as conventional housing 7. However, it offers a significant added value, which is expressed not only in superior architectural standards but also in structural features that assist communication. For example, given an intelligent design, barrier-free apartments can be constructed with a similar floor area, despite complying with the mobility areas called for in the DIN standard. Galleries via which access can be gained to several apartments per floor with a single lift and which at the same time provide communicative and sheltered outdoor walkways have advantages over individual access ways. Housing units that comply with Part 1 of the DIN standard need around 15 % extra space and cost correspondingly more to build. However, there is much less need for wheelchair-friendly units than for barrier-free housing (Part 2). Our survey showed that development companies and architects rightly consider full compliance with DIN 18 025, Part 1, to be more expensive in terms of construction cost. 7 This was demonstrated in various studies conducted by the Bavarian State Building Authority. Worksheet series “Bauen und Wohnen für Behinderte”, No. 5, “Wohnen ohne Barriere”, Oberste Baubehörde im Bayerisches Staatsministerium des Inneren. Further: IFB research report 1995, Barrierefreies Bauen und kostengünstiges Bauen für alle Bewohner – Analyse ausgeführter Projekte nach DIN 18025-2, Fraunhofer Institut, 1998. 28 Beispielsweise können barrierefreie Wohnungen bei intelligenter Konzeption trotz Einhaltung der Bewegungsflächen, wie sie in der Norm formuliert werden, mit einer ähnlichen Wohnfläche realisiert werden. Setzt man Laubengangtypen ein, bei der viele Wohnungen pro Geschoss mit einem einzigen Lift erschlossen werden und die gleichzeitig kommunikative und geschützte Außenräume anbieten, lassen sich Vorteile gegenüber punktförmigen Erschließungen erzielen. Bei Wohnungen nach Teil 1 der DIN entsteht ein Flächenmehrbedarf von rund 15 % mit entsprechenden Mehrkosten bei der Errichtung. Allerdings ist der Bedarf nach rollstuhlgerechten Wohnungen bedeutend geringer als nach barrierefreien (Teil 2). In unserer Umfrage hat sich gezeigt, dass Bauträger und Architekten eine vollkommene Einhaltung der DIN nach 18 025, Teil 1 berechtigterweise als kostentreibend bei der Errichtung einschätzen. Wir empfehlen aus wirtschaftlicher Sicht, barrierefreie Wohnungen nach DIN 18 025 (Teil 2) zum Standard zu machen, gerade im Hinblick auf ihre langfristige Nutzbarkeit und Vermarktbarkeit. Betrachtet man nämlich die Festlegungen des barrierefreien Wohnens genauer, kommt man zur Erkenntnis, dass es um die nachhaltigen „Alltagstauglichkeit“ des Wohnens für alle Generationen geht. Daher sollten wir die Folgekosten den Baukosten gegenüberstellen und danach abwägen. Nachhaltigkeit und Alltagstauglichkeit von Wohnräumen bedeutet, dass die Bewohner möglichst lange und selbstständig in der Wohnung und deren Umgebung die alltäglichen existenziellen Bedürfnisse leben können. Einkäufe, Arztbesuche und soziale Kontakte möglichst lange autonom wahrzunehmen ist eine der großen sozialen und ökonomischen Herausforderungen. Es ist eine Frage der Würde, selbstbestimmt den Alltag zu organisieren. Je früher Barrierefreiheit im Planungsprozess auftaucht, desto besser, Nachbesserungen sind teuer. Je selbstverständlicher barrierefreies Bauen wird, desto günstiger werden sich die Kosten entwickeln. „alltagstauglichkeit“ “every day utility” From the economic perspective, we recommend making barrier-free housing in accordance with DIN 18 025 (Part 2) standard, especially with a view to long-term utility and resale value. A closer look at the requirements defined for barrier-free housing shows that these serve to promote the long-term ”everyday utility“ of the accommodation for all generations. For this reason, we should compare and balance the long-term cost savings against the construction cost. Long-term sustainability and everyday utility means that the occupants must be able to live in their homes and their accustomed surroundings for as long as practicable while independently taking care of their everyday existential needs. To be able to go shopping, visit the doctor and cultivate social contacts for as long as possible without outside assistance is one of the great social and economic challenges of our times. It is a matter of dignity to be able to organise one’s everyday life oneself. The earlier barrier-free design requirements are incorporated into the planning process, the better. Subsequent improvements are expensive. The more barrier-free building becomes a matter of course, the greater the cost benefits from economies of scale. 29 Changing awareness in architecture – Sämtliche Abbildungen: Behnisch & Partner, Ingoldstadt Hollerstauden, 1997, Barrierefreie Seniorenwohnanlage mit differenzierter Konzeption der individuellen und gemeinschaftlichen Freiräume, aus: Studie „Barrierefreies und integriertes Wohnen“, qualitative sowie quantitative Bewohnerbefragung zur Evaluierung bayerischer Modellvorhaben des Experimentellen Wohnungsbaus zum „Integrierten und Barrierefreien Wohnen“, Oberste Baubehörde im Bayerischen Staatsministerium des Inneren (Hrsg.), LWW Prof. Peter Ebner, Dachau 2006. All illustrations: Behnisch & Partner, Ingoldstadt Hollerstauden, 1997, Barrierefreie Seniorenwohnanlage mit differenzierter Konzeption der individuellen und gemeinschaftlichen Freiräume, from: Studie “Barrierefreies und intergrietes Wohnen”, qualitative sowie quantitative Bewohnerbefragung zur Evaluierung bayerischer Modellvorhaben des Experimentellen Wohnungsbaus zum “Integrierten und Barrierefreien Wohnen”, Oberste Baubehörde im Bayerischen Staatsministerium des Inneren (Eds.), LWW Prof. Peter Ebner, Dachau 2006. 30 Bewusstseinswandel in der Architektur – Kommunikation als Schlüssel Changing awareness in architecture – communication as the key Für gemeinschaftliche Einrichtungen und Infrastruktur, die sich nur gemeinschaftlich erhalten lässt, werden wir in Zukunft verstärkt sorgen müssen. Viel schwieriger wird es sein, mit den „weichen“ Aspekten des demographischen Wandels umzugehen. Im Alter verfestigen sich verschiedene Interessen und Bedürfnisse. Wünscht sich der eine Gemeinschaft und Ansprache, bevorzugt der andere Ruhe und Distanz. Während für manche Menschen das Dauerhafte, Beständige wichtig ist, brauchen andere ständige Veränderung und Abwechslung. 8 Going forward, more attention will have to be paid to communal facilities and to infrastructure that can only be communally maintained. But it is going to be much more difficult to deal with the “soft” aspects of demographic change. In old age, different interests and needs become ingrained. Whereas some may want to take part in communal activities and like to have somebody to talk to, others prefer to be left in peace and keep their distance. While for some people continuity and familiarity are important, others need constant change and variety. 8 Trotz oder gerade wegen der Überalterung der Gesellschaft ist es besonders wichtig, den Bedürfnissen von Familien und so genannten Patchwork-Familien, von Jugendlichen und Zuwanderern unterschiedlichster Nationalitäten Rechnung zu tragen. Regeln, Gesetzen und Verordnungen zur Schaffung von Wohnraum wird es nie alleine gelingen, diesen vielfältigen Bedürfnissen gerecht zu werden. Bauliche Maßnahmen bilden den Rahmen für einen gesellschaftlichen Wandel. Although or precisely because society is ageing, it is particularly important to cater to the needs of families and of “patchwork families,” of young people and immigrants of the most diverse nationalities. Laws, rules and regulations governing the creation of living space will never in themselves be enough to satisfy all these different needs. Construction activities set the stage for societal change. Spaces, cities and buildings must satisfy future requirements and not impede them. In this context, communication between planners, investors and users plays a key role. The more interests are listened to in the lead-up, the more valuable the outcome. Räume, Städte und Häuser müssen künftigen Anforderungen gerecht werden und sollten diese nicht behindern. Eine Schlüsselrolle kommt der Kommunikation zwischen Planern, Investoren und Nutzern zu. Je mehr Interessen im Vorfeld angehört werden, desto wertvoller das Ergebnis. Es geht nicht darum, einen Kompromiss zu finden, sondern darum das für alle beste und somit nachhaltigste Ergebnis zu erzielen. Mediation, die im Idealfall nicht erst im Konfliktfall zum Tragen kommt, sondern von vornherein zur Konfliktvermeidung angewandt werden kann, bietet hierfür hervorragende Möglichkeiten. Eigenverantwortung, Freiwilligkeit und Ergebnisoffenheit sind die Grundvoraussetzungen für ein gutes Ergebnis. Richtige Kommunikation und Konfliktklärung spielen sowohl in der Planungsphase als auch im späteren nachbarschaftlichen Zusammenleben eine wesentliche Rolle und sollten bei Bedarf professionell unterstützt und geschult werden. The aim here must not be to arrive at some compromise or other, but to achieve the best and thus the most sustainable result for all concerned. Mediation, which ideally should be brought into play not only in the event of conflicts but should be used to avoid conflicts from the start, affords excellent opportunities for this. Responsibility for one’s own contributions to this process, voluntary participation and a willingness to accept whatever result is achieved are the basic prerequisites for obtaining a good result. Proper communication and resolution of conflicts play an essential role both in the planning phase and in living together later as good neighbours and should be accompanied by professional support and coaching as required. bewusstseinswandel changing awareness alternativen, anreize alternatives, incentives 31 Alternativen, Anreize und Anregungen Alternatives, incentives and encouragements Wir brauchen gezielte Investitionen in Einrichtungen, wie die in den Vereinigten Staaten und Japan üblichen „Day-Care Centers“, welche die Betreuung von Alten im urbanen Kontext konzentrieren. In größeren Kommunen ist das ein probater Weg. Japan, das ja schon seit längerem mit dem demographischen Wandel kämpft und bereits früher alternative Lösungsansätze entwickelt hat, könnte in vielen Bereichen Vorbild sein. Barrierefreies Wohnen, Wohnraum, der nach den Bedürfnissen von Alten umgebaut wurde und wohnbegleitende Unterstützungsdienste sind dort neben klassischen Hilfsangeboten längst eingeführt. Seit 1996 wird die Vergabe von besonders günstigen Baukrediten der öffentlichen Wohnungsbaufinanzierer von der Einhaltung der dort festgelegten Konstruktionsrichtlinien abhängig gemacht .9 Der Anteil barrierefreier Wohnungen soll in Japan bis zum Jahr 2015 auf 20 % der Wohnbauleistung gesteigert werden. 10 We need dedicated investment in day-care centres such as those in the United States and Japan, which focus on looking after the elderly in an urban context. In larger municipalities, this is a tried-and-tested remedy. Japan, which has been struggling with demographic change for some time and has already developed alternative solutions, could be taken as an example in many respects. Barrier-free housing, living space that has been converted to the needs of elderly people, and domestic support services have long since been introduced there alongside classical forms of assistance. Since 1996, the lowinterest building loans granted by the public housing construction funding providers have been conditional upon compliance with defined design guidelines. 9 The proportion of barrier-free housing in Japan is to be raised to 20 % of all residential construction by 2015. 10 In rural regions with shrinking populations, more creative approaches will be needed. Here the distances are longer and the population density is low, which tends to make the cost to the individual unaffordable. We will in future have to think and provide incentives in much more distinctive ways. One example of a completely different strategy is described by the journalist Dorette Deutsch in her book on the Italian community of Borgatoro. 11 There, empty and decaying houses have been renovated and converted for the elderly so as to encourage the generations to live together. The noble aim of this project, initiated by the Italian social reformer Mario Tommasini, is nothing less than to do away with old-folk’s homes, which Tommasini sees as ghettos in which the elderly are put out of sight and out to grass. With this model project, which is already catching on at least in Italy, Tommasini envisages a new economic model. It is intended to safeguard structurally weak regions against further depopulation and to create new jobs. This new approach is already showing encouraging effects, not only among the care providers but also in other local lines of business. 8 Vgl. Riemann-Thomann-Modell: Nach dem Psychoanalytiker Fritz Riemann und dem Psychologen Christoph Thomann lassen sich vier verschiedene Grundausrichtungen beobachten: das Bedürfnis nach Nähe (zwischenmenschlicher Kontakt, Harmonie, Geborgenheit), nach Distanz (Unabhängigkeit, Ruhe, Individualität), nach Dauer (Ordnung, Regelmäßigkeit, Kontrolle) und nach Wechsel (Abwechslung, Spontaneität, Kreativität). 9 Fünfter Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland. Potenziale des Alters in Wirtschaft und Gesellschaft. Der Beitrag älterer Menschen zum Zusammenhalt der Generationen. Berlin 2005, S. 253. 10 A.a.O., S. 253. 11 Deutsch, Dorette: Schöne Aussichten fürs Alter. Wie ein italienisches Dorf unser Leben verändern kann, München 2006. 8 Cf. The Riemann/Thomann model : according to psychoanalyst Fritz Riemann and psychologist Christoph Thomann, four fundamental and basically oppoite orientations can be observed in human beings: the need for closeness (contact with others, harmony, belonging), for distance (independence, withdrawal, individuality), for constancy (rules, reliability, control) and for change (vivacity, spontaneity, creativity). 9 Fünfter Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland. Potenziale des Alters in Wirtschaft und Gesellschaft. Der Beitrag älterer Menschen zum Zusammenhalt der Generationen. Berlin, 2005, p. 253. 10 loc cit., p. 253. 11 Dorette Deutsch, Schöne Aussichten fürs Alter. Wie ein italienisches Dorf unser Leben verändern kann, Munich, 2006. 32 wandel als chance change as opportunity Toshi Kawai, Tagesbetreuungszentrum, Okinawa, Japan, 2000. Toshi Kawai, daycare center, Okinawa, Japan, 2000. 33 In ländlichen, vom Bevölkerungsschwund betroffenen Gebieten wird es kreativerer Ansätze bedürfen. Hier sind die Wege weiter, die Bevölkerungsdichte ist gering und damit sind die Kosten für die Einzelnen tendenziell nicht zu bezahlen. Wir werden in Zukunft noch viel differenzierter denken und fördern müssen. Ein Beispiel für eine ganz andere Strategie schildert die Journalistin Dorette Deutsch in ihrem Buch über die italienische Gemeinde Borgatoro. 11 Dort wurden leerstehende und verfallende Häuser altengerecht saniert und so das Zusammenleben der Generationen gefördert. Das hehre Ziel dieses Projekts, das der italienische Sozialreformer Mario Tommasini initiierte, ist nichts anderes als die Abschaffung des Seniorenheims, das Tommasini als Ghetto versteht, in dem Alte ab- und ruhiggestellt werden. Tommasini hat mit diesem Modellprojekt, das zumindest in Italien bereits weite Kreise zieht, ein anderes Wirtschaftsmodell vor Augen. Es soll strukturschwache Gegenden vor Abwanderung schützen und neue Arbeitsplätze schaffen. Nicht nur in der Pflegestation, sondern auch in anderen Erwerbszweigen zeigt dieser neue Ansatz bereits positive Auswirkungen. Auch in Deutschland gibt es Wohnungsbaugenossenschaften, die sich zunehmend großer Beliebtheit erfreuen und sich über neue Klientengruppen definieren. Wir nennen stellvertretend für andere die Wagnis e. V. Dieses Wohnprojekt ist auf Teilhabe angelegt, alle zukünftigen Bewohner planen von Anfang an gemeinsam. Strukturen werden im Verlauf des Planungsprozesses sukzessiv aufgebaut und dabei die Bedürfnisse, Interessen und Kompetenzen der Projektmitglieder berücksichtigt und mit den Erfordernissen von Projektentwicklung und Planung abgestimmt. Beteiligung entfaltet das eigene Kreativpotenzial. 12 Wandel als Chance Die genannten Beispiele lassen sich nicht einfach multiplizieren und verpflanzen. Es braucht dafür Menschen mit Ideen und Engagement. Aber wie bei den anfangs zitierten staatlichen Modellen für Kinderbetreuung und finanzielle Unterstützung von Familien sind auch sie Exempel dafür, wie der gesellschaftliche Wandel, zu einem Mehr an sozialer Verantwortung führt. Auch hier gilt, dass wir den demographischen Wandel nicht nur in seinen Gefahren, sondern auch in seinen Potenzialen für unsere individuelle und gesellschaftliche Entwicklung sehen sollten. 12 Vgl. www.wagnis.org There are building co-operatives in Germany, too, and they are becoming more and more popular and defining their identities via new client groups. To give just one example we would like to mention Wagnis e.V. This housing project is based on active participation, all the future occupants do the planning together from the start. The structures evolve in the course of the planning process, taking into account the needs, interests and skills of the project members, and are reconciled with the project development and planning requirements. Participation unfolds its own creative potential 12. Change as an opportunity The above examples cannot be simply multiplied or transplanted. They rely on people with ideas and commitment. But as in the case of the Skandinavian models for child care and financial support for families mentioned earlier, they are further instances of how societal change leads to greater social responsibility. Here, too, we should see demographic change not only in terms of the risks it poses, but also in the potentials it harbours for our personal and societal development. In a future society, we will have to pay much closer attention to distinctiveness as a quality. Keeping our feet on the firm ground of today’s reality in Germany, we must recognise that both “multi-culti” and its counter-model of German cultural supremacy have failed to deliver. Both promised to integrate foreign cultures, the one by romanticising everything foreign, the other by flattening it. We would like to bring the very much broader concept of co-operation into the discussion. Cooperation rather than integration helps to resolve conflicts with apparent minorities. Encouraging different groups of people to live together refers not just to foreigners and natives, but also to young and elderly people, single people amid families and disabled persons among people without handicaps. In all these cases, the standard approach to resolving conflicts has been through integration. This is usually well meant, but harbours the danger of not allowing enough space for the valuable contributions of these “minorities”. Here, too, real and co-operative communication plays a crucial role. Communication means allowing these others to keep their language and making it productive through co-operation. 12 Cf. http://www.wagnis.org 34 Wir werden in einer künftigen Gesellschaft viel klarer Differenz als Qualität erkennen müssen. Fest auf dem Boden der Berliner Republik stehend, scheinen sowohl „Multi-Kulti“ als auch das Gegenmodell der deutschen Leitkultur gescheitert. Beide verheißen Integration des Fremden, einerseits durch Romantisieren des Fremden, andererseits durch dessen Ausschaltung. Wir stellen daher den sehr viel weiter gefassten Begriff der Kooperation zur Diskussion. Kooperation statt Integration dient der Konfliktbewältigung mit scheinbaren Minderheiten. Beim Zusammenleben unterschiedlicher Gruppen geht es längst nicht mehr nur um Ausländer und Inländer, sondern auch um Junge und Alte, Singles inmitten von Familien sowie Behinderte zwischen Nicht-Behinderten. In allen Fällen wird zur Konfliktvermeidung auf Integration gesetzt. Dies ist zwar in der Regel gut gemeint, birgt aber die Gefahr, den wertvollen Beiträgen dieser „Minderheiten“ nicht genügend Raum anzubieten. Auch hier spielt die richtige und kooperative Kommunikation eine wesentliche Rolle. Kommunikation heißt, diesen anderen Anteilen ihre Sprache zu belassen und durch Kooperation produktiv zu machen. Natürlich wünschen wir uns eine Welt wie in Gabriel García Márquez’ Buch, in der Menschen im hohen Alter, womöglich jenseits der hundert Jahre, „mit errettetem Herzen und in glücklicher Agonie“ ihrem Schöpfer entgegentreten. Als Kollektiv können wir es aber nicht dem Zufall überlassen, wie es dem Einzelnen im Alter ergehen wird. Wir müssen Wege zu einer humanen Gesellschaft beschreiben. Im Prozess des Bauens heißt das, barrierefreies Bauen nicht mehr als Minderheitenthema zu klassifizieren und verstärkt Initiativen und Institutionen zu unterstützen, welche diese Aufgaben heute bereits erfüllen. Kooperation als Form und Modell des Handelns könnte uns helfen, den demographischen Wandel zu bewältigen und so die Chancen für die Entwicklung einer gerechteren Gesellschaft wahrzunehmen. Of course we all wish for a world like in Gabriel García Márquez’ book, in which people at an advanced age, possibly a hundred years old or more, go to meet their maker “with hearts saved and in happy agony”. But as a collective body, we cannot leave how the individual fares in old age just to chance. We have to describe ways towards a humane society. In the context of the construction process, that means no longer classifying barrier-free building as a minority issue but more strongly supporting initiatives and institutions which are already fulfilling these duties today. Co-operation as a form and model of activity could help us to cope with demographic change and so to take advantage of the opportunities that change harbours for evolving a more equitable society. 35 differenz als qualität distinctiveness as a quality 36 37 39 Julian Petrin: Utopia reloaded? Das utopische Moment und seine Motive in der Geschichte des Städtebaus Julian Petrin: Utopia reloaded? The utopian element and its motives in the history of urban planning Es scheinen keine guten Zeiten zu sein für Utopien. Nach dem Zusammenbruch des Sozialismus ist auch der Traum einer sozialistischen „besseren Welt“ ausgeträumt, der „mehr als zweihundert Jahre alte Glaube, dass sich die Welt nach einem ausgedachten Bilde von Grund auf ändern lasse“, schien nun beendet. Der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama verkündete 1992 gar das „Ende der Geschichte“. Der Sieg der liberalen Demokratie würde über kurz oder lang alle gesellschaftlichen Gegensätze ausgleichen – die Ungleichheit, der alte Marxsche Motor der Geschichte, würde damit zum Stehen kommen. Inzwischen ist klar: Das „Ende der Geschichte“ war in Wahrheit bloß die Ruhe vor dem Sturm. The times do not appear too good for utopias. Following the collapse of socialism, the dream of a socialist “better world” likewise seems to have gone up in pipe-dream smoke. Indeed, in 1992 the political economist Fukuyama proclaimed the “End of History”. The victory of liberal democracy would sooner or later level out all societal distinctions – inequality, the old Marxist driver of history, would come to a standstill. By now it has become clear: “the end of history” was in reality only the calm before the storm. Der Blick in die Geschichte zeigt: Fast immer waren Utopien auch Reaktionen auf technologische und gesellschaftliche Revolutionen und ihre eruptive Freisetzung von Euphorie und Ängsten. Das Neue zu bändigen, dabei das Mehr an Möglichkeiten und Risiken im Labor weiterzudenken, das ist eine wesentliche Funktion von Utopien. Und heute? Verlangen die „schrumpfenden Städte“ im Osten Deutschlands und anderswo nicht auch nach ganz neuen Rezepten der gesellschaftlichen Organisation und der räumlichen Planung? Mit welchen Visionen begegnet die Planung den asiatischen Mega-Metropolen mit ihrem „Hochgeschwindigkeits-Urbanismus“ oder den schier unlösbaren Aufgaben, die sich in den Bevölkerungszentren der Entwicklungsländer stellen? Braucht es angesichts neuer globaler Herausforderungen wie Klimaschutz, Ressourcenknappheit oder Globalisierung nicht dringend die konkrete Utopie eines gemeinsamen, überstaatlichen Handelns? Die durch den 11. September beschleunigte Krise der überhitzten globalen Ökonomie hat die Sollbruchstellen der „Neuen Weltordnung“ zu Tage treten lassen. Utopia ist längst nicht wahr geworden, es darf und muss also weitergeträumt werden. Nur wie? utopia reloaded? A look back into history shows: nearly always, utopias have been reactions to technological and societal revolutions and their eruptive release of euphoria and anxieties. To harness the new, to mentally extrapolate the new-found possibilities and risks in the laboratory, that is an essential function of utopias. And nowadays? Do the “shrinking cities” in eastern Germany and elsewhere not also call for completely new recipes for societal organisation and spatial planning? With which visions is urban planning responding to the Asian mega-metropolises with their “high-speed urbanism” or to the almost insurmountable tasks facing the population centres in the developing countries? In the light of new global challenges such as greenhouse gases, dwindling resources and globalisation, do we not urgently need the concrete utopia of communal, cross-border endeavours? The crisis of the overheated global economy, accelerated by September 11, has exposed the inherent breaking points in the “new world order”. Utopia is still far from coming true, dreaming can and should go on. But how? 40 Plädoyer für das utopische Moment von Planung A plea for the utopian element in urban planning Weit über die Utopie im engeren Sinn, den „absoluten Weltentwurf“ hinaus, hat das utopische Moment immer wieder die planerische Zukunftsgestaltung beflügelt und gesellschaftliche Problemlagen, auch außerhalb der Planung reflektiert, wie die Betrachtung zum Beispiel des utopischen Moments in der Unterhaltung zeigt. In der Geschichte der gebauten und geplanten Umwelt hat die Utopie ihren festen Platz. Von den antiken Beschreibungen idealer Staaten und Städte, von Platons Politeia und Vitruvs erster Architekturtheorie über die idealisierten mittelalterlichen Darstellungen Jerusalems führt eine direkte Linie zu Thomas Morus, der 1516 mit seinem Bericht von der erfundenen Insel „Utopia“ den Begriff der Utopie prägte. Abgeleitet hat Morus seine Begriffsschöpfung aus dem griechischen „u topos“, was soviel bedeutet wie „Nicht-Ort“. Utopia war als Prototyp der gesellschaftlichen Utopie Ausgangspunkt und Vorbild einer Vielzahl von Visionen einer „besseren Welt“, manche mehr aus baulichem, manche mehr aus gesellschaftlichem Blickwinkel formuliert. Far beyond utopia in its narrower sense of the “perfect world design”, the utopian element has always inspired planning for the future and has always reflected on societal problems, even outside the planning métier. Utopia has its firm place in the history of the built and planned environment. From antique descriptions of ideal states and cities, from Plato’s Politeia and Vitruvius’ first theory of architecture via the idealised medieval depictions of Jerusalem, a direct line leads to Thomas More, who in 1516 gave the concept a name with his report about the imaginary island of Utopia. More derived his invented term from the Greek “u topos”, meaning “no place”. As the prototype of an ideal society, Utopia was the departure point and model for numerous visions of a “better world”, some formulated more from a structural, others more from a societal perspective. Idealstadt-Entwerfer, Revolutionsarchitekten, Frühsozialisten, Sozialreformer, Modernisten – die Geschichte des Städtebaus lässt sich auch als Geschichte des utopischen Denkens lesen. Stellt man Utopien und Planungen historisch zueinander in Bezug, stellt sich die Frage: Bis zu welchem Grad von utopischem Gehalt muss man von „reeller“ Planung sprechen und wo beginnt die „pure Utopie“? Man nehme die Metastadt Wulfen, Bofills zynisches „Wohnexperiment Walden-7“ oder die „bessere Welt“ der Gated Community Celebration: alles reelle Planungen, physisch umgesetzt, ganz und gar nicht im „Nirgendland“ verortet. Wer würde hier von Utopien sprechen? Jedoch: Mit ihrer unverblümten Attitüde, ein neues gebautes Umfeld als physische Voraussetzung für eine ideale Gemeinschaft zu schaffen, stehen sie den Motiven der großen Utopisten wie Morus, Fourier oder Archigram in nichts nach. Zeigt Le Corbusiers Unité d‘habitation nicht dieselben utopischen Züge, wie Fouriers Phalanstère, die eine „Stadt im Haus“ für eine moderne Gesellschaft schaffen wollte? Auch andersherum gilt: Manche Utopie ist bei näherer Betrachtung ganz und gar nicht „unrealistisch“. Ideal city designers, revolutionary architects, early socialists, social reformer, modernists – the history of urban planning reads like a history of utopian thought. If utopias and urban planning are brought into relationship with each other in their historical context, the question arises: up to which level of utopian content can one speak of “real” planning, and where does “pure utopia” start? Take the meta-city of Wulfen, Bofill’s cynical housing “experiment Walden-7”, or the “better world” of Celebration: all real urban designs, physically implemented and not at all located in “nowhere land”. But who would refer to these as utopias? And yet: with their unabashed pretension to having created a new, built-up environment as the physical prerequisite for an ideal community, they stand on an equal footing with the motives of the great utopians such as More, Fourier or Archigram. Does Le Corbusier’s unité d’habitation not display the same utopian traits as Fourier’s Phalanstère, which sought to create a “township within the building” as home to a modern society? And the opposite also applies: upon closer examination, many a utopia is not at all unrealistic. 41 Die Sehnsucht nach der idealen Form The yearning for the ideal form Nicht nur die Suche nach der idealen Gesellschaft war Auslöser für das utopische Moment der Planung. Auch die ideale Form, stets als Ausdruck einer idealen „inneren Ordnung“ begriffen, war immer wieder Gegenstand des utopischen Denkens. Henne oder Ei? Aber war die perfekte Form für sich genommen schon Anlass genug für utopisches Denken? War die städtebauliche oder architektonische Ordnung der Dinge nicht vielmehr ein zwangsläufiges „Abfallprodukt“ des Entwurfs utopischer Gesellschaften, ganz im Sinne des modernen form follows function? Bei den Utopien im engeren Sinne, den Staatsentwürfen der Renaissance, waren es tatsächlich gesellschaftliche Überlegungen, die nach einer passenden idealen Form verlangten, wie bei Morus und seinem horizontalen, „demokratischen“ Raster oder bei Campanella und seiner konzentrisch-vertikalen, „absolutistischen“ Turmstadt. Hier war also die ideale Form ganz klar Produkt der perfekten Gesellschaft. Zuweilen war es aber auch die ideale Form selbst, die als Ausgangspunkt utopischer Überlegungen und Vorbedingung einer nicht konkretisierten idealen Gemeinschaft zum Auslöser für ein deutlicher zutage tretendes utopisches Moment wurde. Gewisse formale Gestaltungsprinzipien waren immer wieder Anlass für modellhafte „Etüden“ von der Idealstadt bis zur Postmoderne. Not only the search for the ideal society was a trigger for the utopian element in urban planning. The ideal form, always conceived as the expression of an ideal “inner order”, was always a topic of utopian thought. The chicken or the egg? But was the perfect form in itself sufficient cause for utopian thinking? Was the urban or architectural order of things not instead an inevitable by-product of designing utopian societies, quite in keeping with the modern “form follows function”? The utopias in the narrower sense, the designs for statehood in the Renaissance, were actually societal deliberations that called for a suitable ideal form, as in the case of More’s horizontal “democratic” matrix or Campanella’s concentrically vertical, “absolutist” tower city. Here, too, the ideal form was quite clearly a product of the perfect society. But sometimes it was the ideal form itself that, as the point of departure for utopian deliberations and as the pre-condition for an ideal community that had not yet taken concrete shape, was the trigger for the emergence of a prominent utopian element. Certain formal principles of design have again and again inspired modellike études, from the Ideal City to Post-modernism. Die vielen Utopien zugrunde liegende wohlgeordnete Harmonie findet ihren offensichtlichsten baulichen Ausdruck in der Symmetrie, dem formalen Sinnbild der Harmonie. Zum zentralen städtebaulichen Motiv wurde die Symmetrie in der Renaissance: Fast zeitgleich zu den ersten Utopien erlebte mit der Wiederentdeckung der antiken Architekturtheorien auch das entwerferische Genre der Idealstadt seine Blüte – die räumliche Utopie ohne ausgeprägtes gesellschaftliches Programm. Zuerst war es Leon Battista Alberti (1404 – 1472), der die Symmetrie wieder zum ästhetischen Prinzip macht, als er die Gedanken der antiken Architekturtheorie Vitruvs aufgreift und zwischen 1443 und 1452 sein Werk „De re aedificatoria libri X“ (Zehn Bücher über die Baukunst) schreibt. Albertis Regeln für die ideale Stadt stellen den Menschen und seine Bedürfnisse in den Mittelpunkt, wenn er schreibt: „Die Gebäude sind der Menschen wegen erbaut worden, sei es zur Notwendigkeit, zum Bedürfnis und Vorteil des Lebens, sei es zum zeitweiligen Vergnügen bestimmt. Man muss von der verschiedenen Einteilung der menschlichen Gesellschaft ausgehen, daher rührt auch die Verschiedenheit der Gebäude.“ plädoyer für das utopische moment a plea for the utopian element sehnsucht nach idealer form yearning for the ideal form 42 Die Sehnsucht nach der idealen Form wird zur Suche nach einer neuen Ordnung von Stadt und Landschaft, und mit dem absolutistischen „Möglichkeitsüberschuss“ darf sich das utopische Moment im Dienste dieser Formsuche nun voll entfalten. Der Karlsruher Fächer, Sinnbild der absolutistischen Stadtgründung, könnte auch der Feder eines Utopisten entsprungen sein, als Ausdruck eines idealen Staats, als perfekte Synthese aus Symmetrie und Perspektive. Aber auch die vielen barocken Stadtumbauten, wie das Netz der neuen Achsen und Gärten in Paris, wirken vor dem Hintergrund der früheren utopischen Entwürfe, als sei hier versucht worden, ein Stück „bessere Welt“ umzusetzen. Wenn schon nicht ganze neue Städte errichtet werden konnten, so war es wenigstens möglich, die bestehenden nach idealen Prinzipien zu ordnen, ganz wie Alberti es sich vorgestellt hatte. Mit der „postliberalen Stadt“, den Straßendurchbrüchen des Haussmannschen Paris und den gründerzeitlichen Stadterweiterungen, erlebt die Perspektive als europäisches Formprinzip einen neuen Höhepunkt. Das utopische Moment, beflügelt durch den Rausch der Industrialisierung, sucht nach einer idealen Form, um der Rohheit der industriellen Stadt den Pathos des Aufbruchs in eine „bessere Welt“ zu verleihen. Allerdings ist nun die ehemals ideale Form bloß noch ästhetisches Zitat; längst ist, vor allem in den USA, ein passenderes, altbekanntes gestalterisches Prinzip dabei, sich als perfekte Form für die durchrationalisierte Stadt des Industriezeitalters durchzusetzen: das Raster, einstmals Ausdruck der Ordnung Utopias, nun Resultat der Rationalität des Marktes. The orderly harmony underlying many utopias is most manifestly expressed in constructional terms in symmetry, the symbol of harmony. In the Renaissance, symmetry became the cardinal motif of urban planning: almost simultaneously with the first utopias, the rediscovery of the architectural theories of antiquity also brought the designers’ genre of the Ideal City to its prime – the urban utopia without a distinct societal programme. It was Leon Battista Alberti (1404 to 1472) who again made symmetry into an aesthetic principle by again taking up the idea of Vitruvius’ classical theory of architecture and writing his treatise De re aedificatoria libri X (Ten Books on Architecture) between 1443 and 1452. Alberti’s rules for the ideal city put man and his needs in the focus. The yearning for the ideal form becomes the quest for a new order for the city and the landscape, and with the absolutist “surplus of possibilities” the utopian element is now free to fully evolve in the services of this search for form. The fan-shaped layout of Karlsruhe, a paragon of absolutist city foundation, could also have stemmed from the pen of a utopian, as the expression of an ideal state, as the perfect synthesis of symmetry and perspective. But against the background of the earlier utopian designs, the many baroque conversions, like the network of new axes and gardens in Paris, likewise appear to be the result of an attempt to construct a piece of “better world”. If it was not possible to build entire new cities, it was at least possible to arrange existing cities according to ideal principles, just as Alberti had imagined. In the “postliberal city”, the avenues and boulevards of Haussmann’s Paris and the city extensions of the promoterism period, perspective experienced a new peak as the European principle of form. The utopian element, inspired by the euphoria of industrialisation, was in search of an ideal form, to lend the roughness of the industrial city the pathos of a get-up-and-go towards a “better world”. But by now the formerly ideal form is no more than an aesthetic statement; especially in the USA, a more fitting, long-familiar principle of design has long been establishing itself as the perfect form for the rationalised city of the industrial age: the checkerboard pattern, once an expression of order in Utopia, now the result of the rationality of the market. suche nach einer neuen ordnung quest for a new order 43 Von Anfang an strebte das utopische Denken nach Rationalität, nach Ordnung und Vernunft und die städtebauliche Form sollte Ausdruck dieser Vernunft sein. So wurde die Sehnsucht nach der puren Eleganz des durchrationalisierten Stadtentwurfs ein Thema, das von den ersten Utopien der Renaissance bis zur Ville Radieuse immer wieder im Mittelpunkt städtebaulicher Überlegungen stand. Schon Morus beschreibt seine Inselhauptstadt Amaurotum als rational durchgeplante Quadratstadt, wobei er die städtebauliche Argumentation von Alberti und Vitruv aufgriff: „Die Straßen sind zweckmäßig angelegt, und zwar ebenso mit Rücksicht auf die Winde als auch auf den Verkehr“. Und war die quadratische, unhierarchische Form der Stadt nicht auch ein Garant für die angestrebte Gleichheit der Gesellschaft? Albrecht Dürer griff die Idee der Quadratstadt auf und lieferte mit seinem 1527 angefertigten Entwurf einer quadratischen Idealstadt gleichsam eine Illustration der Rationalität Amaurotums, die zudem auch als Vorbild für den Entwurf der protestantisch-rationalen Stadtgründung Freudenstadt diente. From the very beginning, utopian thinking strove for rationality, order and reason, and the form of urban planning was meant to be an expression of this reason. Thus the yearning for the pure elegance of fully rationalised city design was a topic at the focus of urban development deliberations from the first utopias of the Renaissance to the Ville Radieuse. Thomas More had already described his island capital of Amaurotum as a rationally planned square city. Was the square, unhierarchical form of the city not also a guarantor for the aspired-to society of equals? Albrecht Dürer picked up the idea of the square city plan and, with his 1527 design for a square ideal city, provided as it were an illustration of the rationality of Amaurotum, which also served as a model for the foundation of the Protestant/rational city of Freudenstadt. The square can be seen as the Protestant north’s reply to the radial ideal-city layouts of the Italian Renaissance. Even if rationality had already been the basis of utopian thinking during the Renaissance, the utopian element remained mainly in the realms of the symbolic, when it came to implementing ideal or utopian models. Both the baroque city plans and ideal layouts such as the saline town of Chaux or the utopian housing models of the early socialists sought to create places whose innovative character was meant to convey itself with the aid of a pathetic, formal stage effect. Symmetry and perspective continue to dominate the picture of the new city – and even the rationality of the market took advantage of the feudalistic, hierarchical structure of the axes in carving up the city layout, as the 1861 “Hobrecht Plan” for the expansion of the city of Berlin shows. The rationality of the city, its functional organisation, were hardly replicated by the formal layout of the city extensions of the period of promoterism. Towards the end of the 19th century, with the emergence of urban planning as a discipline in its own right, the analysis of urban structures, “looking behind the form” also gained in importance. For instance the general master plan for the city of Vienna put forward in 1893 by Otto Wagner already showed distinct characteristics of a rational organisation by quarters on the basis of a more regular grid pattern, likewise Berlage’s Amsterdam-South extension. Probably the earliest prototypes of the modern, fully rationalised city were provided by Tony Garnier, who devised his ideal concept of the cité industrielle as a Prix-de-Rom scholarship student of the Paris Ecole des Beaux-Arts between 1899 to 1904. His literary model was Emile Zola’s utopian novel Travail, which describes the foundation of an ideal industrial city based on the ideas of Fourier. Borrowing from Zola, Garnier designs a city in which industry is strictly separated from the slightly higher residential city and the old town, a quarter based on the railway station taking over cardinal functions. Here we find the first indications of a city with consistently segregated functions, strictly subdivided into areas for living, working, culture and recreation, all based on a regular pattern. the square city plan die quadratstadt 44 Das Quadrat kann als die Antwort des protestantischen Nordens auf die radialen Idealstadtentwürfe der italienischen Renaissance verstanden werden. Auch wenn die Rationalität schon während der Renaissance durchaus Grundlage des utopischen Denkens war, so blieb das utopische Moment doch meist dem Symbolhaften verschrieben, wenn es um die Umsetzung idealer oder utopischer Modelle ging. Sowohl die barocken Stadtanlagen wie auch ideale Planungen wie die Salinenstadt Chaux oder die utopischen Siedlungsmodelle der Frühsozialisten trachteten nach der Schaffung von Orten, deren innovativer Charakter sich mit Hilfe einer pathetischen formalen Inszenierung vermitteln sollte. Symmetrie und Perspektive beherrschten weiterhin das Bild der neuen Stadt – und selbst die Rationalität des Marktes bediente sich beim Zuschnitt des Stadtgrundrisses der feudal geprägten, hierarchischen Struktur der Achsen, wie der Hobrecht-Plan für die Berliner Stadterweiterung von 1861 zeigt. Die Rationalität der Stadt, ihre funktionale Organisation, wurde durch die formale Anlage der gründerzeitlichen Stadterweiterungen kaum abgebildet. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts, mit dem Aufkommen der Stadtplanung als eigenständiger Disziplin, gewann auch die Analyse der städtischen Strukturen, der „Blick hinter die Form“ an Bedeutung. So zeigt der 1893 durch Otto Wagner vorgelegte General-Regulierungs-Plan für Wien schon deutlichere Züge einer rationalen Quartiersorganisation auf der Basis eines regelmäßigeren Rasters, ebenso wie die Stadterweiterung von Berlage für Amsterdam-Süd. Den wohl frühesten Prototypen der modernen, vollkommen rationalisierten Stadt liefert Tony Garnier, der in der Zeit von 1899 bis 1904 als RomStipendiat der Pariser Ecole des Beaux-Arts sein ideales Konzept der Cité industrielle verfasst. Als literarisches Vorbild dient ihm Emile Zolas utopischer Roman Travail, der die Gründung einer idealen Industriestadt aufbauend auf den Ideen Fouriers beschreibt. In Anlehnung an Zola entwirft Garnier eine Stadt, in der sich die Industrie streng getrennt von der leicht erhöht gelegenen Wohnstadt und der alten Ortschaft befindet, ein „Bahnhofsviertel“ übernimmt zentrale Funktionen. Hier deutet sich erstmals die konsequent funktionsgetrennte Stadt an, streng aufgeteilt in Bereiche des Wohnens, der Arbeit, der Kultur und der Erholung, basierend auf einem regelmäßigen Raster. With Garnier, the utopian element of city planning dedicates itself entirely to rationality, creating the basis for the urban planning of the Modernists, for the functionally-separated city which the Charta of Athens (1933) was to establish as the model that shaped the urban planning of the 20th century. It is Le Corbusier himself, later one of the authors of the Charta of Athens, who praises the urban-planning rationality of the cité industrielle in his programmatic essays Vers une Architecture (1922), only to outreach the manageable dimensions of the cité by far, just a few years after its appearance: with the utopia of a modern business city for three million inhabitants, his ville contemporaine, Le Corbusier composed one of the most radical visions of a strictly rationalised, functionally-zoned city to date. But this technical urban utopia focuses entirely on the transportation system and the separation of functions, lacks the reformist spirit of the cité industrielle: Garnier had borrowed from Zola and based his utopia on a socialist society, Le Corbusier makes no reference at all to a political background; utopian thinking is no longer driven by social motives alone, but has placed itself at the service of technical feasibility. In 1925 Le Corbusier made his abstract city model more concrete by proposing in his Plan Voisin to apply it to Paris. The city administration’s lack of interest in this project probably saved the metropolis from destruction. Thus, a line tracing the rationalisation of utopian thinking can be drawn from Fourier and his socialist reflections via the literary utopia of Zola to Garnier and on to the urban planning of Modernism, to Le Corbusier and his contemporaries; to Hilberseimer and his strict, dense and traffic-friendly vision of a city for four million inhabitants (1927); to Neutra and his Rush City Reformed, an update of the linear-city idea of Soria y Mata (1882). Form follows function – this guiding motto of Modernism has objectified utopian thinking and torn it out of the context of social motives. frühe prototypen early prototypes 45 Oben links: Titelholzschnitt der Erstausgabe von „Utopia“ von Thomas Morus. Oben rechts: Diagramm der „Drei Magneten“, von Ebnetzer Howard 1898 in seiner Schrift „Garden Cities of To-Morrow“ publiziert. Mitte und unten: Tony Garniers „Citè industrielle” (1899 bis 1904) Top left: Title woodcut of the first edition of “Utopia” by Thomas More. Top right: Diagram of “The Three Magnets” by Ebnetzer Howard, published in his book “Garden Cities of To-Morrow” in 1898. Middle and bottom: Tony Garnier’s “Citè industrielle” (1899 bis 1904) 46 Mit Garnier verpflichtet sich das utopische Moment der Planung ganz der Rationalität und schafft damit die Basis für den Städtebau der Moderne, für die funktionsgetrennte Stadt, die mit der Charta von Athen (1933) als Leitbild für den Städtebau des 20. Jahrhunderts prägend werden sollte. Denn es ist Le Corbusier selbst, der spätere Mitverfasser der Charta von Athen, der in seiner programmatischen Schrift Vers une Architecture (1922) die städtebauliche Rationalität der Cité industrielle lobt, um die überschaubare Größe der Cité nur wenige Jahre nach deren Erscheinen weit in den Schatten zu stellen. Mit der Utopie einer modernen Geschäftsstadt für 3 Millionen Einwohner, der Ville contemporaine, entwirft Le Corbusier eine der bis heute radikalsten Visionen einer streng rationalisierten, funktionsgetrennten Stadt. Aber es fehlt dieser technischen Stadtutopie, die ganz auf die Verkehrsproblematik und die Funktionstrennung konzentriert ist, der reformerische Geist der Cité industrielle: Garnier hatte seiner Utopie in Anlehnung an Zola eine sozialistische Gesellschaft zugrunde gelegt, bei Le Corbusier fehlt jeder Hinweis auf die politischen Verhältnisse; das utopische Denken ist nicht länger allein sozialen Motiven verpflichtet, sondern stellt sich in den Dienst der technischen Machbarkeit. 1925 konkretisiert Le Corbusier sein abstraktes Stadtmodell, indem er mit dem Plan Voisin vorschlägt, es auf Paris anzuwenden. Das Desinteresse der Stadtverwaltung hat diese Metropole wohl vor der Zerstörung bewahrt. So lässt sich eine Linie der Rationalisierung des utopischen Denkens zeichnen, von Fourier und seinen sozialistischen Überlegungen über die literarische Utopie von Zola zu Garnier und weiter zum Städtebau der Moderne, zu Le Corbusier und seinen Zeitgenossen; zu Hilberseimer und seiner strengen, dichten und verkehrsgerechten Großstadtvision für 4 Millionen Einwohner (1927); zu Neutra und seiner Rush City Reformed, einer Aktualisierung der Bandstadtidee von Soria y Mata (1882). Form follows function – dieses Leitmotiv der Moderne hat das utopische Denken versachlicht und damit aus dem Kontext der sozialen Motive herausgerissen. The power of dimensions The contrast between the rationality of especially the modern urban utopias and the pure dimensions of these ideal conceptions could hardly be more pronounced. The scalability of both Hilbersheimer’s ideal megacity and of Le Corbusier’s ville radieuse, which disregarded every human proportion, the almost military strictness of mechanically repeated elements, which was already to be found in Cabet’s utopian capital of Icaria, are in crass contradiction to the humanist motives of these designs. In modern utopian thinking, the philanthropic intention is overshadowed by the euphoria about feasibility. The “better world” suddenly appears designable, it only has to be fetched, with enough determination, with the cool consistency of the absolute master plan, from “nowhere land” and projected onto the drawing board, as an edifying image of the absolute idea. And the more absolute the utopian element, the less contradiction it allows, the more it appears to seek the illustriousness of dimensions, to lend expression to its intentions. The ideal quarter or an ideal community such as the garden city are no longer enough; the whole city should be seized or at least reined over by the quest for a “better world”. The archetypes of illustriousness go back a long time: the Tower of Babel and the seven wonders of the ancient world already impressed by their sheer size; these were edifices that illustrated the possibilities of progress by virtue of their dimensions alone. It is thus not surprising that Boullée, the revolutionary architect in search of the “universal language of architectural form”, used the mythical form of the Tower of Babel to lend his own visions of lighthouses the necessary illustriousness. But rarely are dimensions more consistently overblown than in a dictatorship. Here the aforementioned surplus of possibilities open to the totalitarian regime forges ahead, here utopian thinking meets up with absolute power in search of symbolic superelevation: this boundless megalomania is particularly apparent in the designs of the National Socialists for Berlin and the provincial capitals of the Third Reich, where it ultimately generates only crudely exaggerated imitations of its architectural paragons. For instance, the centrepiece of the National Socialist’s plans for the rebuilding of Berlin, the 250-metre-high Great Dome, was a gigantomanic re-interpretation of Hadrian’s Pantheon in Rome, an off-scale-high plagiarism from the idealised classicist globular architectures of Ledoux or Boullée. The triumphal arch planned for Berlin by the National Socialists was meant to impress by its sheer size. 47 Die Kraft der Dimension Geradezu im Gegensatz zur Rationalität speziell der modernen Stadtutopien steht die pure Dimension dieser idealen Konzepte. Die jedes menschliche Maß missachtende Maßstäblichkeit sowohl der idealen Großstadt Hilbersheimers wie auch der Ville Radieuse, die fast schon militärische Strenge der sich mechanisch wiederholenden Elemente, die sich auch schon bei Cabet und seiner utopischen Hauptstadt Ikaria findet, stehen in offensichtlichem Gegensatz zu den humanistischen Motiven dieser Entwürfe. Die philanthropische Intention wird überlagert durch die Machbarkeitseuphorie des modernen utopischen Denkens. Die „bessere Welt“ scheint plötzlich planbar, man muss sie nur mit ausreichender Kraft, mit der kühlen Konsequenz des absoluten Plans aus dem „Nirgendland“ holen und auf das Zeichenbrett projizieren, als erhebendes Bild der absoluten Idee. Und je absoluter das utopische Moment, je weniger Widerspruch es duldet, umso mehr scheint es die Erhabenheit der Dimension zu suchen, um seinen Intentionen Ausdruck zu verleihen. Das ideale Quartier oder eine ideale Siedlung wie die Gartenstadt sind längst nicht genug; die ganze Stadt soll von dem Streben nach der „besseren Welt“ erfasst oder zumindest überragt werden, als laute das Motto: „ganz oder gar nicht“. Die Urbilder der Erhabenheit reichen weit zurück: Schon der Turm von Babel wie auch die sieben Weltwunder wussten durch schiere Größe zu beeindrucken; es waren Bauwerke, die allein durch ihre Dimension die Möglichkeiten des Fortschritts verbildlichten. So ist es nicht verwunderlich, dass Boullée, der Revolutionsarchitekt auf der Suche nach der „Universalsprache der Bauformen“, die mythische Form des Turms von Babel aufgriff, um seinen Leuchtturmvisionen die nötige Erhabenheit zu geben (Abbildung Stadt und Utopie). Aber selten wird die Dimension stärker übersteigert als in der Diktatur. kraft der dimension power of dimensions That it entirely lacked the balanced proportions of the prototype, the Arc de Triomphe in Paris, appears not to have particularly concerned the people who commissioned the design. The pathos of oversized dimensions has shaped the architecture of nearly all dictatorships, from the three-dimensional stage-managing of the magistrales in the socialist dictatorships to the absurd size of the Palace of the People in Bucharest. But unreined markets and boundless technological euphoria also find their ideal form mainly in pure physical size: the booming Shanghai of the 21st century looks like a capitalist Utopia, drawn from the perspective of the free entrepreneur, a contemporary translation of the futuristic visions of Antonio Sant’ Elia. Absolute political and economic power disinhibits utopian thinking. Size becomes the symbol of this euphoria of upsurge which no criticism can slow down. In this context, two opposite movements characterise utopian thinking: on the one hand the euphoric get-up-and-go towards the “better world”, on the other withdrawal into the Idyllic; the designs for statehood contrast with the pastoral novel. Just as the illustriousness of the upswing is represented by size and the mechanical repetition of individual elements, there is a formal equivalent for the withdrawal into the idyllic, too: the return to idealised pre-modern construction forms is meant to restore society to an assumed happy original state. Sometimes the two movements – get-up-and-go and withdrawal – meet each other: some utopias designed with a euphoric spirit cannot conceal the reflex to flee into the idyllic alongside the get-upand-go element. Cabet, for instance, attempted to mitigate the rigour of his checkerboard pattern by adding a village-like ambience with covered galleries and bird-houses, while Owen gave his New Harmony, a model industrial community committed to social progress, a traditional gothic face with pointed gables and not at all progressive housing. The withdrawal into the architectonic idyll ultimately gained dominance as the architectural leitmotif of utopian thinking when the “fight against the city” called for an ideal form as a counter-motif to the architectural reality of the big cities. Both the architecture of the garden cities with their rustic borrowings and the post-modern dreams of flight into the idyllic show the manifold attempts to restore an apparently nature-given, traditional architectural order. The synthetic Arcadia appears at first glance to be perfect. On the drawing board, the postmodern model community of Poundbury really looks like an old, historically grown English town, with its curving streets and the rural-traditional designs by the architect Leon Krier. Nevertheless, this model village, built in the eighties at the initiative of Prince Charles as an English response to America’s postmodern creations such as Seaside and Celebration, is unable to conceal its artificiality: it all looks sterile, neat and tidy, and on closer examination the plan itself reveals its idealised layout, its concentric semicircle. Here, as in almost all postmodern designs for a “better world”, the idyllic remains only a superficial statement. The search for the ideal form cannot restore society to its supposedly happy original state. 48 Hier bricht sich der eingangs erwähnte Möglichkeitsüberschuss des totalitären Regimes Bahn, hier trifft das utopische Denken auf die nach symbolischer Überhöhung gierende absolute Macht: Alles ist baulich erlaubt zur Feier der „besseren Welt“, in deren Dienst die Diktatur stets zu handeln glaubt. Besonders in den Entwürfen der Nationalsozialisten für Berlin und die „Gauhauptstädte“ kommt dieser maßlose Größenwahn zum Ausdruck, der letztlich nur eine plump übersteigerte Kopie der baulichen Vorbilder erzeugt. So stellt sich das zentrale Element der nationalsozialistischen Umgestaltungspläne für Berlin, die Große Halle mit ihren 250 Metern Höhe, als gigantomanische Neuinterpretation des römischen Pantheons dar, als maßstabsloses Zitat der kugelförmigen klassizistischen Idealarchitekturen von Ledoux oder Boullée. Und auch der geplante Triumphbogen für das Berlin der Nationalsozialisten versucht, durch pure Größe zu beeindrucken. Dass ihm dabei die ausgewogene Proportion des Vorbilds, des Pariser Arc de Triomphe, gänzlich abhanden kommt, scheint die Auftraggeber der Entwürfe nur wenig gestört zu haben. Das Pathos der überhöhten Dimension hat fast alle Diktaturen baulich geprägt, von der Rauminszenierung der Magistrale in der sozialistischen Diktatur bis zur absurden Größe des Bukarester Volkspalasts. Aber auch der ungebremste Markt und die grenzenlose Technikeuphorie finden ihre ideale Form zumeist in purer baulicher Größe: So mutet das boomende Shanghai des 21. Jahrhunderts wie ein aus der Perspektive des freien Unternehmers gezeichnetes kapitalistisches Utopia an, eine zeitgemäße Übersetzung der futuristischen Visionen des Antonio Sant’ Elia. Die absolute politische und wirtschaftliche Macht enthemmt das utopische Denken und Größe wird zum Sinnbild dieser durch keine Kritik gebremsten Euphorie des Aufbruchs. Dabei kennzeichnen durchaus zwei gegenläufige Bewegungen das utopische Denken: Zum einen der euphorische Aufbruch in die „bessere Welt“, zum anderen der Rückzug in die Idylle; der Staatsentwurf steht dem Schäferroman gegenüber. So wie die Erhabenheit des Aufbruchs durch Größe und maschinenhafte Wiederholung einzelner Elemente repräsentiert wird, so findet sich auch für den Rückzug in die Idylle das formale Äquivalent: Der Rückgriff auf idealisierte vormoderne Bauformen soll einen angenommenen glücklichen Urzustand der Gesellschaft wiederherstellen. Zuweilen treffen beide Bewegungen – Aufbruch und Rückzug – aufeinander: So manche mit euphorischem Geist entworfene Utopie kann neben dem Moment des Aufbruchs den Fluchtreflex in die Idylle nicht verbergen. So versuchte schon Cabet, die Strenge seines Rasters durch die Schaffung eines dörflichen Ambientes mit Laubengängen und Vogelvolieren zu mildern, wie auch Owen seiner dem Fortschritt verpflichteten Industriesiedlung New Harmony ein traditionelles gotisches Gesicht gibt, mit spitzgiebeligen, ganz und gar nicht fortschrittlichen Behausungen. Zum baulichen Leitmotiv des utopischen Denkens wurde der Rückzug in die architektonische Idylle jedoch vollends, als der „Kampf gegen die Stadt“ nach einer idealen Form als Gegenmotiv zur baulichen Realität der Großstadt verlangte. Sowohl die Architektur der Gartenstädte mit ihren ländlichen Zitaten, als auch die postmodernen Fluchtträume zeigen die vielfältigen Versuche, eine scheinbar naturgegebene, traditionelle bauliche Ordnung wiederherzustellen. Und das synthetische Arkadien erscheint auf den ersten Blick zuweilen durchaus perfekt. The fight against the city The fight against the modern city and its nuisances was to remain one of the most important motives for utopian conceptions of society and the city until well into the 20th century. Even the early utopias attempted to rein in the city by imposing radical order, as the disorderly city had long had a reputation as a place of vice and as the origin of many social ills. Although Utopia and Icaria were devised to house significant numbers of inhabitants, they were paragons of uniform urban planning, reinforced by imposing order and discipline upon society. Only Fourier managed to outline something like an urban lifestyle in his vision of the Phalanstère, although even his “township within the building” was ultimately intended to eliminate the city. Even if utopian thinking at the time of the Renaissance appears at least to accept the orderly city, Campanella’s towerlike City of the Sun already hints at a counter-model to the city which places the closed community above a virtually uncontrollable, open urban society. From Campanella and his ideal commonwealth a direct line leads to the early socialists and their attempts to transform their ideal communities of property into reality with the aid of new. closed colonies. It was the same spirit of a radical new beginning in a hermetic “better world” beyond the disorderliness of the cities that may have inspired the authoritarian fantasies of Campanella and the humanistically motivated colonial attempts of the early socialists. The beginning of the 19th century was seen by many as a suitable time to venture upon a new start into a “better world”. The colonial experiments of the Rappists and the Shakers in America, which Engels described in 1845 as idyllic, rural small-town communities aside from the brutal reality of the big cities, served as the model. 49 Auf dem Stadtplan wirkt die postmoderne Idealstadt Poundbury tatsächlich wie eine alte, gewachsene englische Kleinstadt, mit ihren geschwungenen Straßenführungen und den ländlich-traditionellen Architekturen des Architekten Leon Krier. Dennoch kann diese, in den achtziger Jahren auf Initiative von Prinz Charles entstandene, englische Antwort auf Amerikas postmoderne Gated Communities Seaside und Celebration ihre Künstlichkeit nicht verbergen: Alles wirkt steril, aufgeräumt und auch der Plan entlarvt bei näherer Betrachtung seine ideale Anlage, sein konzentrisches Halbrund. Hier, wie in fast allen postmodernen Entwürfen einer „besseren Welt“, bleibt die Idylle nur oberflächliches Zitat. Die Suche nach der idealen Form kann den vermeintlich glücklichen Urzustand der Gesellschaft nicht wiederbringen. Der Kampf gegen die Stadt Der Kampf gegen die moderne Stadt und ihre Zumutungen sollte bis weit in das 20. Jahrhundert eines der wichtigsten Motive für utopische Gesellschafts- und Stadtkonzepte bleiben. Schon die frühen Utopien versuchten, die Stadt durch radikale Ordnung zu bändigen, wurde doch die unüberschaubare Stadt seit jeher als Ort des Lasters und Ursprung vieler sozialer Missstände gesehen. Zwar wurden in Utopia oder Ikaria Städte mit durchaus beträchtlicher Einwohnerzahl entworfen, dennoch waren es keine urbanen Orte, herrschte hier doch eine städtebauliche Gleichförmigkeit, die durch die wohlgeordnete Disziplinierung der Gesellschaft nur verstärkt wurde. Nur Fourier vermochte mit seiner Vision der Phalanstère so etwas wie urbanes Leben zu skizzieren, wenn auch er mit seiner „Stadt im Haus“ letztlich die Abschaffung der Stadt intendierte. Auch wenn das utopische Denken zur Zeit der Renaissance zumindest die wohlgeordnete Stadt zu akzeptieren scheint, so deutet bereits Campanella mit seiner turmartigen Sonnenstadt ein Gegenmodell zur Stadt an, das die geschlossene Gemeinschaft der Siedlung über die schwer zu steuernde, offene städtische Gesellschaft stellt. Von Campanella und seiner idealen Siedlungsgemeinschaft führt eine direkte Linie zu den Frühsozialisten und ihren Versuchen, ihre idealen Gütergemeinschaften mit Hilfe in sich geschlossener, neuer Siedlungen in die Realität umzusetzen. Es war der gleiche Geist des radikalen Neuanfangs in einer hermetischen „besseren Welt“ abseits der Unübersichtlichkeit der Städte, der die autoritären Phantasien des Campanella wie auch die humanistisch motivierten Siedlungsversuche der Frühsozialisten beflügelt haben mag. So schien Anfang des 19. Jahrhunderts der geeignete Zeitpunkt gekommen, den Aufbruch in die „bessere Welt“ zu wagen. Das Vorbild boten die amerikanischen Siedlungsexperimente der Rappisten und der Shaker, die Engels 1845 als idyllische, ländlich geprägte Kleinstadtgemeinschaft abseits der brutalen Realität der Großstädte beschreibt. It was the English entrepreneur Robert Owen who first attempted to put his ideal of living in a community of property far away from the city into practice in the USA. Having already come close to his ideal of an anti-city with his factoryworkers’ housing project New Lanark in England, Owen bought the abandoned Rappist colony Harmony in the state of Indiana in 1823 to implement his ideal concept of the Village of Unity and Mutual Co-operation, a self-contained industrial village which was to reconcile man with nature. But both New Harmony and the attempts made in the middle of the 19th century to put Cabet’s vision of Icaria into practice in the USA failed. New Harmony attracted only intellectuals, the utopia degenerated into a debating club. The construed ideal colony was apparently too unstable. It was not until the notion of the garden city was made public in 1898 that the idea of the community as the “anti-city” re-emerged, even if Ebenezer Howard, the author of this model community, did not entirely reject the urban character of the city. Howard attempted to merge the best of both worlds: the supposed idyllic naturalness of country life with the cultural and infrastructure amenities of the city. Ultimately, this attempt to create a new type of self-reliant community as an alternative to the industrial likewise failed; the garden city only later achieved success as a model for urban planning in the context of the metropolis, as a pleasant residential suburb with rural associations. In the early 20th century it was becoming apparent that kampf gegen die stadt fight against the city 50 Zuerst war es der englische Unternehmer Robert Owen, der versuchte, seine Ideale des stadtfernen Lebens der Gütergemeinschaft in den USA umzusetzen. Nachdem er mit seiner 1809 bis 1813 errichteten idealen Fabriksiedlung New Lanark in England dem Ideal der Gegenstadt schon nahegekommen war, hatte Owen 1823 im Staat Indiana die verlassene Rappistensiedlung Harmony gekauft, um hier sein ideales Konzept der Village of Unity and Mutual Co-operation umzusetzen, ein in sich geschlossenes Industriedorf, das den Menschen mit der Natur wieder versöhnen sollte. Aber sowohl New Harmony als auch der Mitte des 19. Jahrhunderts unternommene Versuch, die Cabetsche Vision Ikarien in den USA zu realisieren, scheiterten. New Harmony zog nurmehr Intellektuelle an, die Utopie verkam zum Diskutierklub. Zu labil war scheinbar die konstruierte „bessere Welt“ der idealen Siedlung. Erst mit dem 1898 publizierten Konzept der Gartenstadt erneuerte sich die Idee der Siedlung als „Gegenstadt“, wenn auch Ebenezer Howard, der Autor dieses Siedlungsmodells, den urbanen Charakter der Stadt nicht gänzlich ablehnte. Howard versuchte, das Beste beider Welten zu vermählen: die angenommene idyllische Natürlichkeit des Landlebens mit der kulturellen und infrastrukturellen Ausstattung der Stadt. Letztlich scheiterte auch dieser Versuch, der industriellen Stadt einen selbstständigen, alternativen Siedlungstyp entgegenzustellen; erfolgreich wurde die Gartenstadt als städtebauliches Modell erst im Kontext der Großstadt, als angenehmer Wohnvorort mit ländlichen Assoziationen, als „hübsches Anhängsel der Großstädte“. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte es sich gezeigt: Der sozialistisch motivierte „Kampf gegen die Stadt“ bewirkte nichts, solange er sich in die Idylle flüchtete und die industrielle Produktion ausklammerte. Erst mit der fortschrittsoptimistischen „Feier der Technik“, die sich in den verkehrstechnisch orientierten Planungen der Bandstadt (1882) erstmals ausdrückte, kam neue Dynamik in die Suche nach der Gegenstadt. Das Zusammenspiel der kapitalistisch geprägten Technik und der sozialistisch motivierten Planung ergab jenen Möglichkeitsüberschuss, der während der Moderne mit dem Konzept der Ville contemporaine die alte, gewachsene Stadt auf viel bedrohlichere Weise in Frage stellte. Und als sich mit dem Wiederaufbau die Chance bot, die zerstörten Städte vollends in die Landschaft aufzulösen, da schien die Gegenstadt endgültig gesiegt zu haben. Aber auch hier zeigte sich die erstaunliche Widerstandsfähigkeit der Stadt: Als die Dimension der Stadtzerstörung immer offensichtlicher wurde, obsiegte die Sehnsucht nach der alten, „echten“ Stadt. the socialist-motivated “fight against the city” would achieve nothing as long as it continued to flee into in the idyllic and to disregard industrial production. Only with the “celebration of technology” and optimism in progress, expressed for the first time in the transit-orientated design of the linear city (1882), did the search for the anticity regain its dynamism. The interplay of capitalist technology and socialist-motivated urban planning gave rise to that surplus of possibilities that the concept of the ville contemporaine drew upon during the period of Modernism to call the old, historically grown city into question in a much more menacing way. And when post-war reconstruction presented the opportunity to make the devastated cities disappear completely into the landscape, the anti-city appeared to claim ultimate victory. But even here the amazing resilience of the city showed itself: as the scale of the destruction of the cities became more and more obvious, the yearning for the good old “real” city prevailed. Besides, the “fight against the city” had long lost its nutrition, as living conditions had significantly improved, at least in the cities of the western world. The once insufferable density now became the motor of rediscovered urbanity. 51 Längst hatte zudem der „Kampf gegen die Stadt“ seine Nahrung verloren, hatten sich doch, zumindest in den Städten der westlichen Welt, die Lebensbedingungen entscheidend gebessert. Die einstmals unerträgliche Dichte wurde nun der Motor der neu entdeckten Urbanität. Das öffentliche Labor Woran entzündet sich das utopische Moment heute? Der Blick in die jüngste Geschichte des Städtebaus zeigt Widersprüchliches: Das eingangs in dieser Arbeit postulierte „Ende der Utopien“ ist offensichtlich: Die großen Stadtentwürfe und Leitbilder haben ausgedient. Mit den klaren gesellschaftlichen Konfliktlinien sind auch die einfachen Lösungen verschwunden. Politik verzichtet weitgehend auf Ideologie, entscheidet pragmatisch von Fall zu Fall. Ebenso verhält es sich mit der Planung der Stadt, dem gebauten Ausdruck der Gesellschaft. Die Stadt wird zur Eventkette, zur Aneinanderreihung von Projekten, pragmatisch und marktwirtschaftlich gesteuert, fallweise zwischen den unterschiedlichen Interessensgruppen verhandelt. Vor dem Hintergrund dieser Situation und der in den bisherigen Ausführungen beschriebenen negativen Aspekte utopischen Denkens scheint es nur zu logisch, dass sich die monolithische, absolute Gesellschaftsutopie überholt hat. The public laboratory So what gives the utopian element its spark today? A look at the recent history of urban planning exposes paradoxes: the end of the utopias, as postulated earlier, is evident: the great designs and models for the city have outlived their time. The clear lines of societal conflict have disappeared, and with them the simple solutions. Politics largely gets by without ideology, takes decisions pragmatically on a case-to-case basis. The same applies to urban planning, the expression of society in its buildings. The city becomes a chain of events, a string of projects, pragmatically controlled by the market economy, negotiating between the different interest groups involved from case to case. It seems only too logical that the monolithic, absolute utopia of society should have become defunct. Despite the realisation that “better worlds” are obsolete, the utopian element is more prominent today than ever before. Starting with the subversive/critical architectural fantasies of the 1960s, 1970s and 1980s to the urban planning experiments of recent years in the Netherlands, an unconcernedly positivist feasibility mindset is celebrating the old utopian ideals: landscapes can be shaped, cities were set in motion again by Archigram, to return later as datascapes, once again there is room for ideal communities, if often only in the niches of temporary usage or in the wastelands of the shrinking cities. Doch trotz der Einsicht in die Überkommenheit von „besseren Welten“ zeigt sich das utopische Moment heute stärker als je zuvor. Ausgehend von den subversiv-kritischen Architekturphantasien der sechziger, siebziger und achtziger Jahre bis zu den niederländischen Planungsexperimenten der vergangenen Jahre feiert eine unbekümmert-positivistische Machbarkeitshaltung die alten utopischen Ideale: Landschaft lässt sich formen, Städte werden erst bei Archigram mobil, um später als Datascapes wiederzukehren, es gibt wieder Raum für ideale Gemeinschaften, wenn oft auch nur in den Nischen der Zwischennutzung oder den Brachen der schrumpfenden Städte. Die zunehmend unübersehbare Zahl experimenteller Planungen macht aus der großen, monolithischen Gesamtutopie einen Schwarm punktueller Interventionen und Experimente. Die Frankensteinsche Werkstatt der absoluten Utopie, die so manches Planungsmonster hervorgebracht hat, wurde aufgelöst, es bleibt die Hoffnung auf ein kleines Stückchen „bessere Welt“, artikuliert in der Kunst, in der Politik, in der Zukunftsforschung, in Nachbarschaftsprojekten und in experimentellen Raumstudien. das öffentliche labor the public laboratory 52 Die „neue Utopie“ ist spielerisch, sie hat das Pathos früherer Utopien längst abgelegt. Am offensichtlichsten zeigt sich die spielerische Lust an der Utopie seit jeher in der Kunst, von Piranesi und seinen düsteren Raumvisionen über die erhabenen Ideallandschaften Schinkels bis zu den Raumphantasien Dalis und den Technikvisionen der italienischen Futuristen. Und mit der Moderne wird die Kunst immer offener politisch, gesellschaftskritisch. Die bestehenden Verhältnisse der Stadt in Frage zu stellen – dieser utopistische Urtrieb wird nun ironischkünstlerisch sublimiert und bleibt bis heute ein wichtiges Motiv für die künstlerische Auseinandersetzung mit der Stadt. So lassen sich auch die in den vergangenen Jahren entstandenen fotografischen Arbeiten eines Andreas Gursky oder Thomas Ruff zum Thema Stadt wie die Tableaus einer unsichtbaren utopischen Dimension hinter der Realität lesen. Zuerst sind es die französischen Situationisten der sechziger Jahre, die Subversion im öffentlichen Raum zum Thema künstlerischer Auseinandersetzung mit der Gesellschaft machen. Mit ihren Plakataktionen, dem „Umherschweifen“ und dem gezielten Stören politischer Veranstaltungen befinden sich die Situationisten, die sich in direkter Nachfolge der Dadaisten sehen, noch in offener Opposition zum „Establishment“. Dagegen sind die Konzepte und Interventionen späterer Gruppen wie Haus-Rucker-Co oder Coop Himmelblau schon auf viel subtilere Art gesellschaftskritisch, indem sie auf soziale oder ökologische Probleme hinweisen, ohne den heroischen Gestus der Revolution vor sich her zu tragen. So entwirft die österreichische Künstlergruppe Haus-Rucker-Co Anfang der siebziger Jahre Installationen, mit denen sie auf ökologische Missstände hindeutet, und propagiert temporäre Architekturen als „Medium für den Umbau der Städte“, als „Instrument der Demoskopie“, das „eingebrannte Sehgewohnheiten knacken“ soll. Seine gewohnte räumliche Dimension erhält das utopische Moment durch die Architektengruppe Archigram zurück, nun aber unter den Vorzeichen der künstlerischen Subversion. grundlagenforschung utopia as futures studies The more and more unmistakable number of experimental planning projects is transforming the great, monolithic universal utopia into a plethora of pinpoint intrusions and experiments. The Frankenstein’s workshop of the absolute utopia which has brought forth many an urban planning monster was closed, what is left is the hope of a little piece of a “better world”, articulated in art, in politics, in futures studies, in neighbourhood projects and in experimental space studies. The “new utopia” is playful, it has long since discarded the pathos of earlier utopias. The joy of utopia has always been most evident in art, from Piranesi and his grotesque visions of space via Schinkel’s exalted ideal landscapes, to Dali’s space fantasies and the technological visions of the Italian futurists. And with Modernism, art becomes more and more openly political, more critical of society as it stands. Calling the city in its existing form into question – this primeval utopian drive is now being sublimated in the ironic and the artistic and remains to this day an important motif for the artistic controversy about the city. Thus the recent photographic works of an Andreas Gursky or Thomas Ruff on the city theme can be read like tableaux of an invisible utopian dimension behind reality. First it was the French Situationists of the 1960s who made subversion in public space the topic of an artistic critique of society. With their poster campaigns, detournement, and the deliberate disruption of political events, the Situationists, who see themselves as the direct successors to the Dadaists, are still in open opposition to the establishment. 53 Noch während des Studiums gründet die Gruppe um Peter Cook 1961 eine Zeitung mit dem Titel Archigram, die, teils in Comicform, eine radikale Erneuerung des Bauens fordert. Inspiriert von den technischen Möglichkeiten der Raumfahrt und von neuen Werkstoffen werden phantastische Stadtutopien entworfen, wie die Walking City, die sich mit Hilfe riesiger hydraulischer Beine an jeden beliebigen Ort bewegen kann, oder die Plug-in-City (1962), eine Art Regalstruktur, in die variabel Wohnkapseln eingehängt werden können, womit der Traum der unbegrenzten Mobilität auch für den Bereich der „Immobilie“ Wohnung möglich werden sollte. Mit Archigram zeigt sich das pure utopische Moment: Die Lust am Entwerfen neuer Wunschbilder, die, frei von absoluter Ideologie, eine „Stadt der Möglichkeiten“ anbieten. Archigram stellt dabei das wissenschaftliche und technische Know-how seiner Zeit ganz in den Dienst der individuellen Entfaltung und bricht so mit der utopistischen Tradition, die stets ein fertiges Bild optimaler Individualität autoritär verordnen wollte. Die ganze Kraft des subversiv eingesetzten utopischen Moments zeigt sich 1984, als Peter Cook für die Times ein bewusst provokantes Szenario skizziert, das weite Teile des Londoner Südens flutet. Wie erwartet löst die Veröffentlichung eine Welle der Entrüstung aus. Die Utopie wird zum Medium, das mit bewusster Überzeichnung urbane Probleme und versteckte Potenziale aufdeckt. Grundlagenforschung Auch außerhalb der subversiven Kritik ist das utopische Moment weiterhin zu finden. Betrachtet man die vielfältigen Publikationen des Sekretariats für Zukunftsforschung in Gelsenkirchen, könnte man zu dem Schluss kommen, die Suche nach einer besseren Welt habe nicht aufgehört, sie habe lediglich ihre neue Heimat im sicheren Gebäude der versachlichten Wissenschaft gefunden. Aus der Utopie ist Zukunftsforschung geworden: Zwischen Methodenerforschung, Szenarienentwicklung und Science-Fiction treibt der Geist der Utopie die Planer und Forscher am SFZ noch immer um. Archigram hat es vorgemacht, und die Zukunftsforscher haben es verwissenschaftlicht – das Prinzip des öffentlichen Labors, das neue Stadtentwürfe quasi am Fließband anbietet, auf dass sich die öffentliche Diskussion an diesen Visionen entzünde. Heute sind es Büros wie OMA, MVRDV und West 8, die sich in das öffentliche Labor begeben, um mit ihren teils utopischen Konzepten, ihren gestapelten Schweinefabriken, ihren raumplanerischen Visionen stadtplanerische „Grundlagenforschung“ zu betreiben; längst auch im Auftrag der Politik, die erkannt hat, das klassische Planung allein nicht mehr ausreicht, um der Zukunft zu begegnen. Das spielerische Imaginieren einer „besseren Zukunft“ – als eine von vielen möglichen Zukünften, nicht als absolutes Bild der Zukunft – hat längst Einzug gehalten in die progressiveren Planungsszenen. By contrast, the conceptions and interventions of later groups such as Haus-Rucker-Co or Coop Himmelblau express their social criticism in a much more subtle way by pointing out social or ecological problems without waving the heroic banner of revolution. In the early 1970s, the Austrian artist group HausRucker-Co designed installations drawing attention to ecological outrages and propagating temporary architectures as a medium for transforming cities that is meant to “break engrained viewing habits”. The utopian element regains its accustomed spatial dimension through the Archigram group of architects, but this time in the guise of artistic subversion. Even while they were still students, the group around Peter Cook produced a magazine with the title of Archigram in 1961, which, partly in comic form, called for a radical re-think of building. Inspired by the technical potential of space travel and new materials, they devised fantastic urban utopias such as the Walking City, which could move to any desired location with the aid of huge hydraulic legs, or the Plug-In City (1962), a kind of framework structure into which variable housing capsules could be slotted, enabling the dream of unlimited mobility for dwellings, too. Archigram reveals the pure utopian element: the fun of designing new, fanciful images which, free from absolute ideology, offered a “city of opportunities”. Archigram put the scientific and technical know-how of its time at the service of the individual’s wishes, breaking with the utopist tradition that always wanted to dictate a complete and perfect image of optimum individuality. The full force of utopian elements when used for the purpose of subversion became apparent in 1984, when Peter Cook sketched a deliberately provocative scenario for the Times in which vast expanses of south London were flooded. As expected, the publication triggered a wave of outrage. The utopia was becoming a medium for drawing attention to urban problems and revealing hidden potentials through deliberate exaggeration. Utopia as futures studies But the utopian element is also still to be found outside of subversive critique. To judge by the numerous publications of the German Secretariat for Futures Studies (SFZ) in Gelsenkirchen, one could come to the conclusion that the search for a better world has never stopped, it has only found a new home in the secure edifice of objective science. Utopia has become a part of futures studies: between research into methodologies, investigation of scenarios and science fiction, the spirit of utopia is still driving the planners and researchers at the SFZ. Archigram paved the way, and the futurologists have turned it into a science – the principle of the public laboratory that produces new urban designs from the assembly line, so to speak, visions intended to spark the public debate. 54 Kaum eine Stadt, die heute nicht das Visionieren pflegt, verhalten utopisch oder mit offen zur Schau gestelltem utopischem Moment. So wurde das Ruhrgebiet in der Ausstellung Rhein-Ruhr-City, die von November 2002 bis Februar 2003 in Düsseldorf gezeigt wurde, zum Schauplatz durchaus utopischer Stadtvisionen, mit denen die verdeckten Potenziale des Standorts sichtbar gemacht wurden. Die ausgestellten Szenarien zeigten mögliche Zukünfte des Ruhrgebiets, teils als überzeichnete Wunschbilder, von der grünen Stadt bis zur futuristischen Hochhauscity, einer ins Ruhrgebiet übersetzten Ville radieuse. Doch anders als bei der absoluten Utopie der Moderne war hier nicht länger der allwissende Philanthrop der Regisseur der Utopie: Der Regionmaker 87, eine Software des Büros MVRDV, erlaubte den Besuchern der Ausstellung die Steuerung der dargestellten Stadtvisionen. Das Beispiel der Ausstellung Rhein-Ruhr-City zeigt das Potenzial der instrumentalisierten Utopie. Indem sich die Stadtregion ihren möglichen Zukünften öffnet und diese mit Mut zur visionären Überzeichnung öffentlich imaginiert, stellt sie sich als innovativer Standort dar. Die Utopie gerät so in das Kraftfeld des Standortmarketings. „Was Xerox‘ Parc entwickelte, war die Zukunft, in der wir heute leben“, sagt der ehemalige Berater und Wirtschaftsautor Douglas Smith über das legendäre Forschungslabor des amerikanischen Bürogeräteherstellers Xerox, das Palo Alto Research Center, kurz Parc genannt. In den siebziger Jahren erwarb das Parc seinen legendären Ruf: Hier durfte sich der forschende Geist im geschützten Raum des Labors entfalten, frei von jeder wirtschaftlichen Vorgabe. Schließlich suchte Xerox, der führende Anbieter von Kopiergeräten, nach technologischen Lösungen, die dem Unternehmen auch im Zeitalter des digitalen Arbeitsplatzes sein Bestehen sichern sollten. Aus diesem Zukunftslabor stammt ein Großteil der Innovationen der Computerindustrie, von der grafischen Benutzeroberfläche mit dem Prinzip der Fensterdarstellung und dem mausgesteuerten Cursor bis zum Netzwerkstandard Ethernet. Der utopische Moment im Dienste des Labors: Was für Unternehmen selbstverständlich ist, sollte für die Planung nicht gelten? Auch die Stadt braucht ihr Labor, ihre Forschungsabteilung. Aber dazu ist eine Planungskultur nötig, die das utopische Denken einlädt und nicht als überkommen diskreditiert, nur weil die absolute Utopie sich überholt hat. Nowadays it is bureaux such as OMA, MVRDV, West 8, who go into the public laboratory with sometimes utopian conceptions, piled-up pork factories, development-planning visions, to pursue fundamental research, also on behalf of politics, which has by now realised that classical planning alone is no longer enough to solve the problems of the future. Playfully imagining a „better future“ – as one of many possible futures, not as the one absolute image of the future – has long become established in the more progressive planning scenes. There is hardly a city today that does not cultivate and pursue its own visions, whether reservedly utopian or with an openly displayed utopian element. For instance the Rhein-Ruhr-City exhibition, staged in Düsseldorf from November 2002 to February 2003, portrayed the Ruhr region as the scene of indisputably utopian urban visions intended to visualise the area’s potentials. Some of the scenarios showed over-drawn dream images, from the green town to the futuristic high-rise city, a ville radieuse translated into the post-industrial Ruhr conurbation. But unlike in the absolutist utopias of Modernism, here it was no longer the omniscient philanthropist that was stage-managing the utopia: Regionmaker, a software program by the MVRDV bureau, enabled visitors to the exhibition to steer the urban visions on display. By making its potentials public and exposing them to the public’s imagination, with the courage to allow visionary exaggeration, the city-region introduced itself as an innovative location. In this way, utopia is pulled into the force field of location marketing. 55 Nur sollten die Planer dabei nicht vergessen, aus ihren Innovationen „marktfähige“ Konzepte zu machen, indem sie die Ergebnisse des utopischen Denkens in praktikable Planungsmodelle überführen. Denn hier hat das Parc bisher versagt, ist es Xerox doch kaum gelungen, aus den Innovationen Kapital zu schlagen. Die erfolgreichen Produkte haben stets andere umgesetzt, wie Apple, Adobe oder Microsoft, inspiriert durch die Ideen des Parc. Das Utopische denken und dabei nie die Marktfähigkeit der Konzepte aus den Augen verlieren: Von diesem Spagat kann die Stadtplanung nur profitieren. The city, too, needs its laboratory, its research department, its think tank. But that calls for a planning culture that invites utopian thinking instead of disregarding it as old-fashioned, just because the absolutist utopia has outlived its time. Only, the planners should not forget to turn their innovations into marketable design concepts by incorporating the results of utopian thinking into practicable urban planning models. gemäßigt utopische visionen reservedly utopian visions marktfähige konzepte marketable design Oben: Spielerische Utopie zum Selberbauen im Internet – Das DragdropWerkzeug von urbanista. Unten: Utopia reloaded in Hamburg – die Stadtutopie „playahamburgo“ flutet Teile des Hafens. Die Utopie als Trigger für die Stadtentwicklungsdiskussion (www.playahamburgo.de) Top: Easy-as-pie do-it-yourself utopia in the internet – The drag&drop tool by urbanista. Bottom: Utopia reloaded in Hamburg – The urban utopia “playahamburgo” floods parts of the harbour. Utopia as a trigger for the debate about urban development (www.playahamburgo.de) 56 57 59 Carl Fingerhuth: Vom Transit oder von der Pubertät der Stadt jenseits der Moderne Carl Fingerhuth: The transit or the puberty of the city beyond Modernism Die Stadt unserer Zeit steckt in einer intensiven Phase der Transformation, in einer „Transition, from one form or stage to another,“ 1 in einer Evolution, wie sie beim Menschen in der Pubertät geschieht. Diese wird als „eine Zeit der Selbstorientierung und Selbstfindung“ bezeichnet, es komme zum „Nachdenken über die Sinnhaftigkeit traditioneller Rollen und Institutionen“. Dies beschreibt treffend unsere heutige Situation beim Umgang mit der Transformation der Stadt. Wir erleben eine Zeit des Nachdenkens über sich verändernde Ziele der Gesellschaft und müssen neue Instrumente, Methoden und Verfahren für die Betreuung der Transformation der Stadt finden. Dabei fasziniert mich die Trägheit, mit der die Welt der Architektur, des Städtebaus und der Stadtplanung auf die neue Sinnhaftigkeit reagiert. Diese Transition wird in anderen Bereichen des menschlichen Denkens und Tuns viel bewusster wahrgenommen. Ich möchte versuchen, dieses Nachdenken zu befördern. Dafür verwende ich „Zeugen“ aus anderen Bereichen, die von Wahrnehmungen berichten, die mit diesen Vermutungen übereinstimmen. The city of our time is undergoing an intense phase of transformation, a “transition from one form or stage to another, 1 ” in an evolution similar to the one people go through in puberty. The latter is defined as “a time of self-orientation and identityfinding” in which people “reflect about the meaningfulness of traditional roles and institutions”. This aptly describes our situation today with regard to the transformation of the city. We are experiencing a time of reflecting about the changing aims of society and we need to find new instruments, methods and procedures for bringing about the transformation of the city. What fascinates me is the sluggishness with which the world of architecture, of urban development and town planning are responding to this new meaningfulness. This same transition is being perceived much more consciously in other areas of human thought and activity. I would like to attempt to encourage this reflection. To do so I will use “witnesses” from other areas who report about perceptions that match up with these suppositions. pubertät der stadt jenseits der moderne puberty of the city beyond modernism 1 Webster’s Ninth New Collegiate Dictionary, Merriam-Webster Inc., Springfield, 1983, S. 1253. Dort sind folgende Definitionen zu finden: Trans: across, beyond, so as to change, Transit: an act, process or instance of passing through or over, Transition: a movement, development or evolution from one form or stage to another. 1 Webster’s Ninth New Collegiate Dictionary, Merriam-Webster Inc., Springfield, 1983, p. 1253 gives the following definitions: trans: across, beyond, so as to change, transit: an act, process or instance of passing through or over, transition: a movement, development or evolution from one form or stage to another. 60 Zeuge eins: Der französische Philosoph François Jullien schreibt in seinem im Jahre 2002 erschienenen Buch „Der Umweg über China – Ein Ortswechsel des Denkens“: 2 „Das Denken den Ort wechseln lassen, um andere Arten von Intelligibilität zu berücksichtigen, um durch einen Umkehreffekt die Ausgangsbedingungen der europäischen Vernunft zu hinterfragen.“ So beschreibt Jullien den Sinn seiner zwölfjährigen Studienzeit in China und Japan. In meinem Buch „Learning from China“ 3 habe ich den gleichen Ansatz gewählt. Ich habe versucht, mit Hilfe des Taoismus einen „Ortswechsel des Denkens“ zu vollziehen, um Hinweise für die Betreuung der Transformation der westlichen Stadt zu suchen. Ich rede bewusst provokativ von der Stadt „jenseits der Moderne“, weil ich überzeugt bin, dass gerade für die Diskussion über die Stadt die klassische Moderne zu einer schwierigen Last geworden ist. Die so genannte europäische Stadt gibt es als Residuum, als alte Schicht im geologischen Aufbau der Stadt. Diese Schicht muss mit Sorgfalt und Respekt behandelt werden. Sie ist aber im ständigen Prozess der Transformation der Stadt heute nur noch beschränkt tragfähig. Das Hauptproblem ist, dass sie aggressiven Widerstand dagegen leistet, „andere Arten von Intelligibilität zu berücksichtigen, um durch einen Umkehreffekt die Ausgangsbedingungen der europäischen Stadt zu hinterfragen“. Zeuge zwei: Der polnische Philosoph Jean Gebser in seinem 1973 publizierten Buch „Ursprung und Gegenwart“ 4. Gebsers Thema ist die Evolution des menschlichen Bewusstseins. Er zeigt in einer faszinierenden Berichterstattung, wie der Mensch in kontinuierlichen Schritten das Potenzial seines Bewusstseins erweitert hat. Wie dies auch in der aktuellen Wissenschaftstheorie – im Speziellen durch Thomas S. Kuhn in „Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ 5 – gezeigt wird, erfolgt diese Entwicklung nicht in vielen kleinen Schritten, sondern in periodischen intensiven Transformationssprüngen, die Kuhn als Paradigmenwechsel bezeichnet. Gebser identifiziert vom Ursprung bis zur Gegenwart vier große Paradigmen: die Archaische, Magische, Mythische und Mentale Struktur. Letztere entspricht dem, was als Moderne bezeichnet wird. Darunter soll nicht nur die architektonische und städtebauliche Moderne verstanden sein, sondern die Moderne als kulturelle Epoche. Sie beginnt für Europa vor 2500 Jahren mit der klassischen griechischen Philosophie. Sie erhält immer wieder neue Impulse über „Ortswechsel des Denkens“ in den verschiedensten Disziplinen der Kunst, Wissenschaft, Religion oder Politik. Im Städtebau wird dieser Ortswechsel erst mit der Industrialisierung in der Mitte des 19. Jahrhunderts lesbar. In der Architektur beginnt „Le temps moderne“ – etwas verkürzt formuliert – sogar erst nach dem Ersten Weltkrieg. 2 3 4 5 Jullien, François: Der Umweg über China, Berlin 2002, S. 50. Fingerhuth, Carl: Learning from China – Das Tao der Stadt, Basel 2004. Gebser, Jean: Ursprung und Gegenwart, München 1988. Kuhn, Thomas: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt 2002. Witness one: The French philosopher François Jullien declares in his 2002 book Der Umweg über China – Ein Ortswechsel des Denkens 2 “Allow thinking to change location so as to take into account other kinds of intelligibility, in order to analyze via a reversal effect the germinal conditions of European reason.” That is how Jullien describes the meaning of his twelve years spent studying in China and Japan. In my book Learning from China 3 I chose the same approach. I tried with the aid of taoism to bring about a “relocation of thinking” in order to find indicators for attending to the transformation of the western city. I deliberately talk provocatively about a city “beyond Modernism,” because I am convinced that classical Modernism has become a heavy burden precisely on the debate about the city. The so-called “European city” is a residue, an old stratum in the geological evolution of the city. This stratum has to be treated with care and respect. But its value as a foundation in the ongoing process of the transformation of the city today is only limited. The main problem is that it is it is putting up staunch resistance to any attempt to “take into account other kinds of intelligibility, in order to analyze via a reversal effect the germinal conditions of the European city.” Witness two: in his 1973 book Ursprung und Gegenwart, 4 the Polish philosopher Jean Gebser puts forward his thesis of the evolution of human consciousness. He shows in a fascinating account how mankind has extended the potential of its consciousness in continuous steps. As propounded in the latest academic theories, too – specifically by Thomas S. Kuhn in Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen 5 – this evolution takes place not in a lot of small steps, but in periodic, intense transformation leaps, which Kuhn refers to as changes of paradigms. Gebser identifies four major paradigms from the origin to the present day: the Archaic, Magic, Mythical and Mental structures. The latter is what is known as Modernism. This is to be understood not only as architectural and town-planning Modernism, but Modernism as a cultural epoch. In Europe, it starts 2,500 years ago with classical Greek philosophy. It is repeatedly given new stimuli via “relocations of thought” in the most diverse disciplines of art, science, religion and politics. In urban development, this relocation becomes legible only with industrialisation in the middle of the 19th century. In architecture, “le temps moderne” – to put it succinctly – gets under way only after the First World War. 2 Jullien, François: Der Umweg über China, Berlin 2002, p. 50. 3 Fingerhuth, Carl: Learning from China – The Tao of the city, Birkhäuser, Basel 2004. 4 Gebser, Jean: Ursprung und Gegenwart, Munich 1988. 5 Kuhn, Thomas: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt 2002. 61 françois julien jean gebser Oben: M. C. Escher: „Luft und Wasser I“. Holzschnitt, 1938. Unten: M. C. Escher: „Treppauf und treppab“. Holzschnitt, 1939. Top: M. C. Escher: “Air and water I”, woodcut, 1938. Bottom: M. C. Escher: “Upstairs, downstairs”, woodcut, 1939. 62 In Zusammenhang mit meinem Thema sind Gebsers Texte vor allem aber dort interessant, wo er von der „integralen Struktur“ spricht. Er meint dabei die sich jetzt in den vielfältigsten Formen manifestierende neue Zeitepoche. Ich habe früher dafür den Begriff der Postmoderne verwendet. Er wurde im formalen Diskurs der modernen Architekten jedoch diskreditiert und zum „Sündenbock“ gestempelt, obwohl er in der Philosophie unserer Zeit einen festen Platz hatte. Ich spreche deshalb von der Periode respektive der Stadt „jenseits der Moderne“. Gebser interpretiert die Phänomene unserer Zeit und zeigt ihre Interdependenz und Bedeutung für die Zeit jenseits der Moderne. Er dokumentiert diesen Wandel in den verschiedensten Aspekten dieser sich entwickelnden Strukturen: Raum- und Zeitbezogenheit, Bewusstseinsgrad, Denkformen oder soziale Bezüge. Ich greife ein Thema heraus, das für unseren Umgang mit der Transformation der Stadt von wesentlicher Bedeutung ist. Es geht dabei um die Dimensionalität der Stadt im Bewusstsein der Menschen. Hier postulierte Gebser schon vor 50 Jahren eine dramatische Evolution von einem dreidimensionalen in ein vierdimensionales Verständnis des Raumes. Was über Albert Einstein in der Physik jenseits der Moderne selbstverständlich geworden ist, dass sich der Raum mit der Integration der Zeit zu einem wesentlich komplexeren Phänomen erweitert, hat ein radikal neues Verständnis der Stadt entstehen lassen. In the context of my theory, Gebser’s texts are interesting especially where he speaks about the “integral structure”. By this he means the new epoch currently manifesting itself in the most diverse forms. I used to use the term post-modernism for this. However, this term has been dIscredited in the formal discourse among modern architects and made a “scapegoat”, although it occupies a firm place in the philosophy of our age. That is why I now talk about the period, and the city, “beyond Modernism”. Gebser interprets the phenomena of our age and shows their interdependence and their significance for the time beyond Modernism. He documents this change in the various aspects of these evolved structures: space and time relationships, levels of consciousness, forms of thinking or social references. I would like to pick out one topic that is of profound importance to how we deal with the transformation of the city. This is the dimensionality of the city in people’s awareness. In this context, Gebser postulated as long as 50 years ago a dramatic evolution from a three-dimensional into a four-dimensional understanding of space. What, thanks to Albert Einstein, is nowadays taken for granted in physics beyond Modernism is that, with the integration of time, space has been extended into a much more complex phenomenon, has allowed a radically new understanding of the city to emerge. carl gustav jung 63 Fast alle Modelle und Visionen für die neue Stadt der Moderne sind finale, dreidimensionale Modelle: von Albrecht Dürers Zeichnung des himmlischen Jerusalems bis hin zu der Garden City von Ebenezer Howard, zu Hans Holleins Vision von „Stadtwolken“ über Wien oder den Konstruktionen von Buckminster Fuller. Die Dimension Zeit war für die neue Stadt nicht relevant. Sie war aber auch in Bezug auf die vorhandene Stadt nicht von Bedeutung. Diese konnte auf den Plänen ausgekratzt und in der Realität abgebrochen werden. Das neue vierdimensionale Verständnis der Stadt zwingt zu neuen Visionen für die Stadt. Um diese wirksam werden zu lassen, müssen andere Haltungen, Instrumente, Verfahren und Methoden bei der Betreuung der Transformation der Stadt gefunden werden. Zeuge drei: der schweizerische Psychiater Carl Gustav Jung im Vorwort zu „Das Geheimnis der goldenen Blüte“ 6. Jung hat ein Leben lang über den Menschen nachgedacht und dabei immer wieder auf die Tiefe und Breite seiner Essenz aufmerksam gemacht. Dabei hat er vor der Reduktion des Menschen auf seine Rationalität gewarnt, die, wenn sie übermächtig wird, zum „Schädiger der Seele“ werde. Das Denken, eines der großen Potenziale des Menschen, darf die anderen Potentiale nicht ausgrenzen und diskriminieren. Dies ist eine der schwierigen Seiten der Moderne. Es ist auch die schwierige Seite der modernen Stadt. Die Moderne hat die Stadt demokratisiert, sie hat sich bemüht, diese zu einer sozialen Stadt zu machen, für die ökonomische Entwicklung günstige Voraussetzungen zu schaffen, die Mobilitätsbedürfnisse der Menschen zu befriedigen. In der Radikalisierung der Suche nach den letzten Grenzen der technischen Machbarkeit hat sie aber die Emotionalität, die Sinnlichkeit und die Spiritualität des Menschen nicht mehr ernst genommen. Nur zusammen geben diese Potenziale des Menschen „dem Ich eine Art von Grundorientierung im Chaos der Erscheinungen“. Emotionalität, Sinnlichkeit und Spiritualität des Menschen wurden privatisiert und diskriminiert. Die Reintegration dieser Aspekte in unser kollektives Sein und damit auch in die Stadt ist zu einer zentralen Aufgabe geworden. Diese Themen zeigen sich bereits mit aller Kraft in anderen Bereichen unserer Kultur. Wir werden in den Medien und in der Stadt von einer Flut sinnlicher und emotionaler Bilder überschwemmt. Diese sind aber in den Medien und in den Bildern der Stadt grob. Unsere Aufgabe als Gestalter ist, diese Energie zu sublimieren. Die Transformation von Energie auf eine höhere Ebene ist die Essenz jeder kulturellen Anstrengung. Diese Transformation ist ein Akt der Verfeinerung. 6 Wilhelm, Richard; Jung, Carl Gustav: Das Geheimnis der goldenen Blüte, München 1986, S. 13f. Almost all models and visions for the new city of Modernism are finite, three-dimensional models: from Albrecht Dürer’s drawing of the New Jerusalem on Clouds to Ebenezer Howard’s Garden City, to Hans Hollein’s vision of “city clouds” hovering over Vienna or the designs of Buckminster Fuller. The time dimension was not relevant for the new city. But it was also irrelevant with reference to the city as it already stood. The existing city could be eradicated on the drawings and demolished in reality. The new, four-dimensional understanding of the city demands new visions for the city. For these to take shape, new attitudes, instruments, procedures and methods for bringing about the transformation of the city must be found. Witness three: the Swiss psychiatrist Carl Gustav Jung in his preface to Das Geheimnis der goldenen Blüte. 6 Jung spent a lifetime reflecting on mankind and again and again drew attention to the depth and expanse of its essence. He warned against reducing mankind to its rationality, which, if it became too powerful, would “harm the soul”. Thinking, one of mankind’s greatest potentials, must not crowd out and discriminate the other potentials. This is one of the difficult sides of Modernism. It is also the difficult side of the modern city. Modernism has democratised the city, it has endeavoured to make it into a social city, to create favourable conditions for economic development, to satisfy the people’s need for mobility. But in radicalising the search for the last boundaries of technical feasibility, it stopped taking people’s emotionality, meaningfulness and spirituality seriously. Only in conjunction can these potentials of mankind give “some sort of basic orientation in the chaos of the phenomena”. People’s emotionality, meaningfulness and spirituality have been privatised and discriminated against. Reintegrating these aspects into our collective being and thus into the city has become a cardinal task. These theses are already becoming forcefully apparent in other areas of our culture. In the media and in the city we are engulfed by a flood of sensual and emotional pictures. But these pictures in the media and in the city are too crude. It is up to us as designers to sublimate this energy. The transformation of energy to a higher plane is the essence of every cultural effort. This transformation is an act of refinement. 6 Wilhelm, Richard; Jung, Carl Gustav: Das Geheimnis der goldenen Blüte, Munich 1986, pp. 13 et seq. English title: The Secret of the Golden Flower. 64 ken wilbert laotse Oben: M. C. Escher: „Luft und Wasser I“ (Ausschnitt). Holzschnitt, 1938. Mitte: M. C. Escher: „Drei Welten“ (Ausschnitt). Lithographie, 1955. Unten: M. C. Escher: „Zeichnen“ (Ausschnitt). Lithographie, 1948. Top: M.C. Escher: “Air and Water I” (detail), woodcut, 1938. Middle: M.C. Escher: “Three Worlds” (detail), lithograph, 1955. Bottom: M.C. Escher: “Drawing” (detail), lithograph, 1948. 65 Zeuge vier: der amerikanische Philosoph Ken Wilber in seinem 1979 erschienenen Buch „Wege zum Selbst / No Boundary. 7 “ Wilber, einer der großen Universalgelehrten unserer Zeit, versucht seit vielen Jahren und in vielen Publikationen, die Ansätze von Gebser und Jung zu vertiefen und sie mit östlichen Weisheitslehren zu verknüpfen. Er macht immer wieder auf die großen Spaltungen im Bewusstsein des modernen Menschen aufmerksam: zwischen Körper und Seele und zwischen Mensch und Erde. Die Reintegration der Spiritualität des Menschen ist eine der zentralen Aufgaben der Zeit jenseits der Moderne geworden. Es geht um die sich wieder manifestierende Ahnung einer Einheit von Körper, Seele und Geist. Die Transformation der Bedürfnisse, Ziele und Träume der menschlichen Gesellschaft in den physischen Raum ist die zentrale Funktion von Raumplanung, Städtebau und Architektur. Dies geschieht gegenwärtig in einer sehr speziellen Art und Weise beim Thema Ökologie und Nachhaltigkeit. Der Diskurs ist aber in erster Linie von Wissenschaftlichkeit und Verrechtlichung geprägt. Der zentrale Fokus, nämlich die Spaltung von gebauter Stadt und Natur, entsprechend der Spaltung von Körper und Geist, wird außerordentlich zögerlich angegangen. Wenn ich in städtebaulichen Konzepten berühmter Kollegen Linien sehe, die die „graue“ von der „grünen“ Stadt trennen sollen, wenn im Wohnungsbau aus ästhetischen Gründen auf private Außenräume verzichtet werden soll oder mit Bebauungsdichten gearbeitet wird, die der Natur keinen Raum mehr lassen, werden die Prinzipien der europäischen Stadt zur schwierigen Altlast. Hier leidet unsere Zunft an akuten Symptomen von Schwerhörigkeit. Tröstlich, aber auch bestätigend ist für mich, dass die Trennung von Körper und Geist auch für andere große Disziplinen wie Religion und Medizin Haupttraktandum bei der Suche nach dem Weg für eine Transformation in unserer Zeit ist. Witness four: the American philosopher Ken Wilber in his 1979 book Wege zum Selbst / No Boundary . 7 Wilber, one of the greatest integral thinkers of our time, has been trying for many years and in many publications to expand on the approaches of Gebser and Jung and to link them up with the teachings of oriental wisdom. He repeatedly draws attention to the deep rifts in the consciousness of modern man: between body and soul and between man and earth. Reintegrating the spirituality of mankind has become one of the cardinal issues of the time beyond Modernism. The focus is on the reemerging presentiment of a unity of body, soul and spirit. The transformation of the needs, aims and dreams of human society into physical space is the core function of physical planning, urban development and architecture. This is currently happening in a very special way in the context of ecology and sustainability. But the debate is being dominated by academic rigidity and legalese arguments. The cardinal focus, the split between built-up city and nature, in line with the split between body and spirit, is being addressed only extremely hesitantly. If I see in town-planning designs by renowned colleagues lines that are meant to demarcate the “grey” from the “green” city, if private outdoor spaces are to be dispensed with for ästhetic reasons in residential construction, or if building densities leave no more room for nature, the principles of the European city become a problematic legacy. Here our guild suffers from acute symptoms of hearing disorder. I find it a consolation, but also a confirmation, that the separation of body and spirit is the main item on the agenda of other great disciplines such as religion and medicine in the quest for the road to transformation in our time. Zeuge fünf: Laotse in seinem wahrscheinlich im sechsten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung verfassten Text Tao Te King. 8 In Vers 60 schreibt er: „Eine große Stadt sollst du regieren so wie du kleine Fische brätst.“ In der taoistischen Praxis heißt das Handeln mit hoher Achtsamkeit. Damit ist in wenigen Worten die Essenz des Städtebaus beschrieben: Aufmerksamkeit in Bezug auf die Bedürfnisse der Menschen und die Qualitäten des Ortes. Wir können und müssen die Stadt nicht neu erfinden. Wir können und müssen uns aber darum kümmern, dass sie nicht dumpf und banal oder aggressiv und autistisch wird. Dazu brauchen wir Innovation und Kreativität, verknüpft mit Methoden, Verfahren und Instrumenten, die für diese Haltung günstige Voraussetzungen schaffen. Diese Methoden und Verfahren sind von einem Dialog zwischen den verschiedenen Partnern der Stadt bestimmt, Instrumente, die so weit als möglich offen bleiben und nicht primär verrechtlichen, sondern Visionen konsolidieren. 7 Wilber, Ken: Wege zum Selbst, München 1986, S. 22. 8 Laotse: Tao Te King, München 1996, S. 103. 7 Wilber, Ken: Wege zum Selbst, Munich 1986, p. 22. English original: No Boundary: Eastern and Western Approaches to Personal Growth. 66 Ich habe im Titel unsere Situation als „pubertär“ bezeichnet. Damit will ich darauf hinweisen, dass wir mit radikal Neuem konfrontiert werden; Neuem, das komplexer und anspruchsvoller zu sein scheint, das aber auch auf tief greifende Transformationen hinweist. Um die Angst und Unsicherheit über die Veränderung in Vertrauen und Mut zu Neuem zu verwandeln, braucht es in erster Linie einen intensiven Dialog zwischen den Partnern der Stadtentwicklung. Dialog kann aber nur entstehen, wenn zwischen den Partnern der Stadt gegenseitiges Vertrauen besteht. Da haben sich tiefe Gräben aufgetan, die es wieder zuzuschütten gilt. Wenn in einem Jahrbuch des Bundes Deutscher Architekten die Rede davon ist, „dass es unerlässlich sei, das Heft wieder in die Hand zu nehmen, weil die Politik unfähig sei, die gegenwärtige Situation zu bewältigen“, dann zeugt das für mich – zurückhaltend formuliert – von einem sehr überholten Verständnis der Aufgabe und Rolle des Architekten. Zeugen Nummer 6 und 7: Kaiser Fuchi in seinem vor fünftausend Jahren verfassten Buch der Wandlungen, auch I Ging 9 genannt, und Rem Koolhaas in seinem 1995 erschienenen Buch „S, M, L, XL“. 10 Das Hexagramm zehn Kien / Dui des I Ging handelt vom „Verhalten des Menschen“ und gibt folgendes Urteil: „Auftreten auf des Tigers Schwanz. Er beißt den Menschen.“ Dieses Hexagramm wird folgendermaßen kommentiert: Kosmisch verstanden bedeutet „einfaches Auftreten“, auf Situationen zu antworten anstatt ihr Urheber zu sein. Oder in der Sprache von Koolhaas: „Und wenn wir nun ganz einfach erklärten, die Krise existiere nicht, und unser Verhältnis zur Stadt neu definierten, um vielmehr ihre Unterstützer und einfache Subjekte als ihre Schöpfer zu sein?“ Dies ist der leicht veränderte Vorabdruck eines Artikels, der für die Zeitschrift trans entstand. Er wird 2007 erscheinen (gta Verlag Zürich). Mein Vortrag während der Werkbundtage bestand in einer visuellen Präsentation, die das Thema Transformation der Stadt behandelte. Der vorliegende Artikel deckt sich inhaltlich mit jenem Vortrag. Witness five: Laotse in his text Tao Te King, 8 probably written in the sixth century BC. In verse 60 he writes: “Rule a big city as you would fry small fish.” In Taoist practice, this means acting with great circumspection. This describes in a nutshell the essence of urban development: circumspection with regard to the needs of the people and the qualities of the place. We cannot and need not re-invent the city. But we can and must take care to ensure that it does not become dull and banal or aggressive and autistic. This calls for innovation and creativity, coupled with methods, procedures and instruments for creating favourable conditions for this stance. These methods and procedures are the result of a dialogue between the various stakeholders in the city, instruments that should remain as open as possible and that do not primarily become bogged down in legalese, but consolidate visions. In the title, I described our situation as “puberty”. The intention was to point out that we are confronted with radically new circumstances; circumstances that appear to be more complex and more demanding, but that also point to deepgoing transformations. Transforming fear and uncertainty via change into confidence and the courage to embrace new things calls first and foremost for an intense dialogue between the stakeholders in urban development. But dialogue can only emerge if there is mutual trust between the stakeholders. Here, deep rifts have opened which need to be filled in again. If I read in a Yearbook of the German Architects Association that “it is essential to take over the reins again, because the politicians are incapable of bringing the current situation under control,” that sounds to me like – putting it mildly – a very out-dated understanding of the duties and role of the architect. Witnesses 6 and 7: Emperor Fu Hsi in his Classic of Changes (original: I Ching), 9 written five thousand years ago, and Rem Koolhaas in his 1995 book S,M,L,XL. 10 Hexagram 10 kien/dui of I Ching deals with the “conduct of people” and comes to the following judgement: “Treading on the tiger’s tail. It bites the man.” This hexagram is commented as follows: seen cosmically, “simple treading” means responding to situations instead of being their originator. Or as Koolhaas puts it: “What if we simply declare that there is no crisis – redefine our relationship with the city not as its makers but as its mere subjects, its supporters?” This is a slightly amended pre-print of an article written for the journal trans, due to appear in 2007 (gta Verlag Zurich). My talk at the Werkbund Days consisted of a visual presentation dealing with the transformation of the city. The content of the present article is largely identical to that of my presentation. 67 kaiser fuchi emperor fu hsi rem koolhaas 9 Anthony, Carol K; Moog, Hanna: I Ging, München 2004, S. 205. 10 Koolhaas, Rem; Mau, Bruce; S, M, L, XL, Rotterdam 1995, S. 971. 8 Laotse; Tao Te King, Munich 1996. p. 103. 9 Anthony, Carol K. and Moog, Hanna; I Ging, Munich 2004, p. 205. 10 Koolhaas, Rem and Mau Bruce; S, M, L, XL, Rotterdam 1995, p. 97. English edition: New York 1995 68 69 71 Vittorio Magnago Lampugnani: Die Stadt ist tot. Es lebe die Stadt! Urbanes Wohnen im Zeitalter der telematischen Revolution Epochen, die von tiefen Umbrüchen gekennzeichnet sind, bilden einen fruchtbaren Boden für zumeist bedrohliche Prophezeiungen. Zu den beliebtesten unserer Zeit zählt jene, die das Ende der Stadt beschwört. Bereits im kürzlich zu Ende gegangenen Jahrhundert stellte sie ein düsteres Leitmotiv dar. So notierte Bruno Taut 1920 unter dem Eindruck der schweren Depression, die nach dem Debakel des Ersten Weltkriegs auf Deutschland lastete, in seinem ästhetisch ebenso ansprechenden wie theoretisch krausen Band die Auflösung der Städte: „Lasst sie zusammenfallen, die gebauten Gemeinheiten. Steinhäuser machen Steinherzen.“ Und fügte als Erklärung, die zu begründen er sich nicht weiter bemühte, hinzu: „Die Städte sind der Abgrund der Menschheit“. Von kaum größeren Selbstzweifeln gequält befinden heute zahllose Kulturkritiker vor dem Hintergrund der elektronischen und informatischen Revolution, in deren Epizentrum wir uns zu Beginn des neuen Jahrhunderts zu befinden scheinen: Die Stadt habe ausgedient, als Ort sozialer, wirtschaftlicher und baulicher Konzentration werde es sie demnächst nicht mehr geben. Die Denkfigur der Apokalypse hat schon immer wenig zum Verständnis der Wirklichkeit beigetragen. Dies bestätigt ein Blick auf unsere Städte, die allen katastrophalen Prognosen und wehleidigen Unkenrufen zum Trotz prosperieren wie kaum je zuvor. Im gleichen Augenblick, in dem sie von den Kulturpessimisten totgesagt werden, erleben die meisten urbanen Ballungsräume einen oft spektakulären ökonomischen, gesellschaftlichen und kulturellen Aufschwung. die stadt ist tot. es lebe die stadt! the city is dead. long live the city! Vittorio Magnago Lampugnani: The city is dead. Long live the city ! Urban living in the age of the telematic revolution Epochs marked by profound upheavals are fertile soil for prophecies of doom. One of the most popular prophecies of our times is the one that presages the demise of the city. This was already a gloomy leitmotif in the century that has just drawn to a close. In 1920, for example, under the impression of the severe depression that hung heavily over Germany following the debacle of the First World War, Bruno Taut noted in his aesthetically appealing but theoretically muddled volume The Dispersal of the Cities: “Let them collapse, the built-up vulgarities. Houses of stone make hearts of stone.” Adding by way of explanation, without bothering to substantiate his assertion: “Cities are the abyss of humanity”. No lesser doubts torment numerous critics of our civilisation today, against the background of the electronic and information-technology revolution at whose epicentre we appear to be located at the start of the new century: the city is on its way out, will soon cease to exist as a place of social, economic and constructional concentration. The notional figure of the apocalypse has always had little to contribute to understanding reality. This is confirmed by a look at our cities which, despite all the catastrophic predictions and woeful prophecies of disaster, are prospering as never before. At the same time as the civilisation pessimists pronounce them dead, most urban population centres are experiencing a spectacular economic, societal and cultural upswing. 72 Im globalen Dorf: Wirtschaftliche Konzentrationen In the global village: economic concentrations Das Märchen der Obsoleszenz der Stadt strafen bereits die plattesten demographischen Daten Lügen. Denn während im 19. Jahrhundert nur etwa ein Zehntel der Bevölkerung der Welt in Städten wohnte, lebt heute erstmals in der Geschichte der Menschheit der größere Teil nicht mehr auf dem Land, sondern in Ballungsräumen; und diese Ballungsräume locken immer mehr Landbewohner an. Gegenwärtig wächst die Stadtbevölkerung täglich um eine Viertelmillion. Wenn die Urbanisierung der Welt so weitergeht wie bisher, wird sich bis zum Jahr 2025 die städtische Bevölkerung noch einmal verdoppeln, und statt der sechs Megacities, die heute mehr als 10 Millionen Einwohner zählen, wird es deren 33 geben. The fairy tales about the city becoming obsolete are belied by even the barest demographic data. While in the 19th century only about one tenth of the world’s population lived in cities, nowadays for the first time in the history of mankind the majority of people no longer live in the country but in conurbations; and these conurbations are attracting more and more residents from the countryside. The number of people living in cities is currently growing by a quarter of a million new arrivals every day. If the urbanisation of the world continues at the same pace, the urban population will double again by the year 2025, and instead of the six megacities which count more than 10 million residents today, there will be 33. Zweifellos explodieren die Gigantopolen der Zukunft vor allem in Fernost und in Südamerika; aber auch in Europa erlebt die Stadt eine Renaissance. In viele große und mittlere Städte, die noch vor kurzem Einwohner verloren, die Lärm, Enge und Trubel für ein Einfamilienhaus in der mehr oder weniger grünen Peripherie austauschten, ziehen die Ausgewanderten wieder ein. Zu ihnen gesellen sich weitere Einwanderer aus den verschiedenen internen Migrationsbewegungen. Gewollt oder ungewollt, geplant oder ungeplant, menschenfreundlich oder unwirtlich wachsen die Städte weiter. Without doubt, the gigantopolises of the future are exploding mainly in the Far East and South America; but the city is experiencing a renaissance in Europe, too. Many of the larger and medium-sized cities which, until recently, were still losing residents who were fleeing the noise, the cramped space and the crowds for a bungalow in the more-or-less green belt are now attracting their emigrants back again. These are being joined by further newcomers from the various internal migration movements. Intentionally or unintentionally, planned or unplanned, hospitable or inhospitable, the cities are expanding still further. Die Fabel ihres wirtschaftlichen Niedergangs widerlegt sofort das Studium der entsprechenden Immobilienanzeigen. Die schwindelerregend hohen Preise sind nicht nur ein allgemeiner Wohlstandsindikator, sondern auch Folge einer immer noch steigenden Nachfrage nach innerstädtischen Liegenschaften. Tatsächlich drängen alle möglichen Einrichtungen, von der seriösesten Bank bis zum frivolsten Musicaltheater, zurück in die Stadt. Mit ihnen auch zahlreiche Dienstleistungsorganisationen und Unterhaltungsbetriebe, aber auch kleinere Produktionsstätten und Medienunternehmen, Werbeagenturen und Designbüros, Architektur- und Einrichtungsstudios, Künstlerateliers und Arztpraxen. Sie alle könnten dank der modernen Verkehrsmittel und vor allem dank der modernen Kommunikationsmittel wie Telefon, Telefax und Computer bei billigeren Mieten auch in der Peripherie oder auf dem Land ihren Geschäften nachgehen. Stattdessen wollen sie mitten in die Stadt. Das widerspricht nicht nur den antistädtischen Vorhersagen, sondern auch den Prognosen einer ökonomischen Dezentralisation. Wenn Menschen, Waren, Informationen und Kapitalströme sich immer schneller über den Erdball bewegen, wenn Daten ohne zeitliche Verzögerung überallhin übertragen werden können, wenn Unternehmen nicht länger an einen Ort gebunden sind, müsste eigentlich ein globales Dorf entstehen, das Städte überflüssig macht. Schon seit geraumer Zeit ist es möglich, dass ein Schweizer Verlagshaus die Bildreproduktionen in Korea, den Photosatz in China und den Druck in Slowenien besorgen lässt, dass eine europäische Fluglinie ihr Buchungs- und Rechnungswesen einem indischen Unternehmen in Auftrag gibt, dass ein italienischer Textilhersteller seine Produkte in Peru fertigen und seine Werbung in Neuseeland konzipieren und realisieren lässt. The myth of their economic decline is negated at a glance by the property-for-sale ads. The astronomically high prices are not only a sign of widespread affluence but also a consequence of the constantly rising demand for inner-city real estate. In fact, all the institutions one can possibly imagine, from the most respectable bank to the most risqué musical theatre, are pushing to get back into town. And with them numerous service organisations and entertainment operations, but also smaller production facilities and media companies, advertising agencies and design bureaux, architects’ partnerships and interior furnishing showrooms, artists’ studios and medical practices. They could all go about their businesses on the outskirts or in the countryside, thanks to modern transportation and especially thanks to modern communication aids such as telephones, fax machines and computers, and could save on rent by doing to. Instead, they want to be in the middle of the city. This contradicts not only all the anti-urban predictions but also the forecasts of economic decentralisation. If people, goods, information and capital flows are moving around the globe faster and faster all the time, if data can be transferred anywhere in the world practically instantaneously, if companies are no longer tied to a specific location, surely a global village must emerge that will make the cities superfluous. 73 wirtschaftliche konzentrationen economic concentrations renaissance der stadt renaissance of the city Szene aus „Metropolis“ von Fritz Lang (1927). Scene from “Metropolis” by Fritz Lang (1927). 74 Es gehört zu den Selbstverständlichkeiten des heutigen internationalen Wettbewerbs, weltweit die jeweils günstigsten Herstellungs- und Verwertungsbedingungen durch die jeweils optimale Kombination von Standorten zu erzielen. Die Folge ist indessen mitnichten eine reale Dezentralisierung und schon gar nicht das Ende des Gegensatzes von Zentrum und Peripherie. Denn ausschlaggebend für die Wirtschaftlichkeit einer Standortwahl sind keineswegs nur die Lohnkosten; Qualifikation der Mitarbeiter, gesetzliche Auflagen, staatliche Investitionsanreize, Nähe zu Beschaffungs- und Absatzmärkten, Finanzinstituten und Beratungseinrichtungen fallen gleichermaßen ins Gewicht. Entsprechend werden die verwertungsträchtigsten Regionen auch von den Regierungen so als Standorte gesichert, gefördert und entwickelt, dass sie es in der Weltmarktkonkurrenz mit anderen, ähnlich verwertungsträchtigen Regionen aufnehmen können. Hinzu kommt der Wunsch, mit einer noblen Adresse zu repräsentieren, deren suggestionsträchtiger Wohllaut durchaus als ökonomisch wirksam betrachtet wird. So erweist sich, dass auch im global village Räume keineswegs beliebig austauschbar sind und dass die Informationstechnologien, anstatt die Entfernung zu neutralisieren, zur räumlichen Konzentration beitragen. Besonders eklatant ist dies im Finanzsektor zu gewärtigen: Trotz (oder gerade wegen) der steigenden Mobilität des Kapitals wird der überwiegende Teil der Aktien an den Börsen von New York, Tokio und London gehandelt, die mit anderen wenigen Zentren zu hochkonzentrierten und zunehmend expandierenden global cities geraten. Damit sind Städte, vor allem die großen Städte, wieder wirtschaftlich attraktiv und aktuell. Allerdings aus anderen Gründen als zuvor: Mit dem Niedergang der alten Geldaristokratie ist auch die lokaleTreue, die sie weitestgehend prägte, abhanden gekommen. Die neuen Eliten des globalen Marktes sind nicht nur kosmopolitischer, sondern vor allem auch bindungs- und verantwortungsloser. Zur städtischen Loyalität finden sie nicht aus eigener Neigung oder gar aus ethischem Impetus, sondern durch den Zwang einer neuen Geographie, die paradoxerweise vielerorts der alten entspricht. It has long been possible for a Swiss publishing house to have its picture reproduction done in Korea, the photogravure in China and the printing in Slovenia, for a European airline to outsource its booking service and accounting to a provider in India, for an Italian textile manufacturer to have its products manufactured in Peru and its advertising devised and filmed in New Zealand. It is taken for granted in today’s international competitive environment that the most economical production and exploitation conditions can only be achieved through the optimal combination of locations world-wide. The result is by no means true decentralisation, and much less the end of the tug-of-war between the centre and the periphery. For the economic viability of a location does not depend only on wage levels; the availability of skilled manpower, local rules and regulations, government incentives for investment, proximity to procurement and sales markets, financial institutions and counselling services are equally important. Accordingly, the highest potential regions are assisted, promoted and developed by their governments so as to be able to hold their own in global competition with other, similarly high-potential regions. Add to all this the desire to be able to show off with a posh address whose melodious sophistication is considered to be economic goodwill in itself. Thus it turns out that, even in the global village, spaces are by no means interchangeable and that information technologies, instead of neutralising distance, help to promote spatial concentration. This is particularly evident in the financial sector: despite (or precisely because of) the accelerating mobility of capital, the vast majority of all shares are traded on the New York, Tokyo and London stock exchanges, which are merging with just a few other centres to form highly concentrated and constantly expanding global cities. urbanes wesen mensch man, the urban being attraktivität der originalform attractiveness of the authentic form 75 Soziologische Konstanten: das urbane Wesen Mensch Wenn selbst die Globalisierung und die Digitalisierung die alten Zentren nicht aufheben und neue entstehen lassen, liegt es auch an den Menschen, die in diesen Zentren leben. Wirtschaftsunternehmen sind auf technische, vor allem aber auf menschliche Produktionsmittel angewiesen. Dies gilt besonders für den gesamten Dienstleistungsbereich, der größtenteils hochqualifizierte Mitarbeiter erfordert. Diese wiederum vermag er nur durch ein ihnen genehmes und kongeniales, entschieden attraktives Umfeld zu gewinnen und zu halten. Dieses Umfeld ist die Stadt. Viele von jenen, die vor ihrem Asphalt und ihrem Smog hinaus ins Grüne geflohen sind, kehren zurück. Sie sind die suburbane Idylle leid, in der sie sich selbst zu Isolation verurteilt haben. Sie sind der Unstadt der Peripherie mit ihren Einfamilienhausreservaten, ihren Büround Medienparks, ihren Möbelhausgefilden und ihren Tankstellenbatterien überdrüssig. Und sie verlangen wieder nach kurzen Wegen zur Arbeit, nach vielfältigem Einkaufsangebot, nach exklusiven Vergnügungsmöglichkeiten, nach anspruchsvollem kulturellen Angebot, nach Geselligkeit. Kurz: Sie verlangen nach Urbanität. Gerade die Tatsache, dass die Ingredienzen dieser Urbanität dank der neuen telematischen Instrumente jederzeit frei Haus zu erreichen sind, macht ihre Originalform umso attraktiver. Natürlich können wir alle zumindest einen Teil unserer Arbeit zu Hause erledigen, können auf dem Bildschirm einkaufen, können uns im Internet vergnügen und auf dem Fernsehschirm alle Filme sehen, nach denen unser Herz begehrt. Aber wir haben mittlerweile alle gemerkt, dass es schon etwas für sich hat, ins Büro zu gehen, weil man dort mehr tut als nur arbeiten; dass es etwas ganz anderes ist, wenn man im Laden einkauft als im world wide web; dass ein Film in einem richtigen Kino mit einer echten, wirklich großen Leinwand etwas ganz anderes ist als das, was ein noch so guter Bildschirm zu Hause präsentiert, ganz abgesehen davon, dass der Weg zum Kino, der Eintritt ins Foyer und das Warten auf die Vorführung durchaus ihren eigenen Reiz haben. As a result, cities, and especially the big cities, are becoming economically attractive and en vogue again. But for different reasons than before: the decline of the old moneyed aristocracy has been accompanied by the erosion of the loyalty that most of them felt for their local roots. The new elites of the global market are not only more cosmopolitan, but also have fewer ties and fewer responsibilities. Their urban loyalties are not the product of their own inclinations or of some ethical impetus, but of the constraints of a new elite geography which, paradoxically, in many places resembles the old one. Sociological constants: man, the urban being If even globalisation and digitalisation are unable to diminish the importance of the old centres and allow new ones to emerge, this is due at least in part to the people who live in these centres. Businesses rely on technical, but above all on human resources. This is particularly true of the entire service sector, most of which requires a highly qualified workforce. To recruit and retain skilled staff, employers have to offer them a pleasant and congenial, a distinctly attractive environment. This environment is the city. Many of those who fled to the green belt to escape the asphalt and the smog are now returning. They are fed up with the idyllic suburban surroundings to which they had banished themselves to live in isolation. They have had enough of the urban desert on the outskirts, with its bungalow reservations, its office and media complexes, its labyrinths of furniture showrooms and its rows of filling stations. And they are once again looking for short commutes to work, for a wide range of shopping opportunities, for exclusive leisure activities, for sophisticated cultural events, for social intercourse. In short: they are looking for urbanity. Precisely the fact that the new telematic instruments deliver the ingredients of this urbanity to everybody’s doorstep at any time makes their authentic form all the more attractive. Of course, we can all do at least a part of our work at home, we can push electronic shopping trolleys around virtual hypermarkets, can amuse ourselves on the Internet and watch video films to our hearts’ content. But by now we have all realised that there is something about going into the office after all, because there you do more than just work; that shopping in a real-live shop is a completely different experience from shoving a virtual trolley; that watching a film in a real cinema with a full-size screen is better than anything that a flat screen in a living room, no matter how technically sophisticated, can deliver, quite apart from the fact that getting to the cinema, the atmosphere in the foyer and the anticipation of waiting for the show to start have a charm of their own. 76 Öffentlichkeit im Zeitalter der Informatik Public life in the age of information technology Was aber ist mit dem Wohnen, der zentralen Funktion von Stadt, der Domäne des Privaten? Von Beginn an schlossen sich die Menschen ab, suchten in rudimentären Architekturen Unterschlupf und Sicherheit, auch Intimität; aber von Beginn an kamen sie in Dörfern und in Städten eng zusammen. Vielleicht suchten sie die räumliche Nähe um, wie Frau Giacomo da Rivalto predigte, „sich daran zu erfreuen, zusammen zu sein“; gewiss brauchten sie sie, um sich durch sie zu schützen, geschützt zu wirtschaften und ein Gemeinwesen zu entwickeln. Die Dichte war Voraussetzung für Öffentlichkeit, und diese fand in den Straßen, auf den Plätzen, ja selbst in den Palastsalons und den Handwerkerstuben statt. Der Privatheit blieb daneben wenig Raum: sowohl in den Buden der kleinen Leute als auch in den Residenzen der Aristokratie. But what about living, the cardinal function of cities, the private domain? From the beginnings of history, people have locked themselves away, searching for shelter and security, even intimacy, in rudimentary architectures; but from the very beginning they have also come close together in villages, towns and cities. Perhaps they were looking for physical proximity, as Fra Giacomo da Rivalto preached, “to be happy to be together”; they certainly needed that proximity to protect themselves and each other, to go about their business under that protection, and to develop a community. Density was the prerequisite for public life, and this took place in the streets, on the squares, indeed even in the drawing rooms of the palaces and the craftsmen’s workshops. Alongside these, there was little space for privacy, whether in the poor people’s hovels or in the residences of the aristocracy. Schlagartig vergrößerte sich der Privatraum mit dem Aufkommen der Transportmittel. Sie enthoben das Fußgängermaß seiner Funktion als Messlatte für innerstädtische Entfernungen und erzeugten die Villenvororte und die urbanen Peripherien, wie sie die Stadt des 18. und des 19. Jahrhunderts charakterisierten, aber in Ansätzen auch schon jene der Antike. Dort wurde es möglich, auch in einem erweiterten städtischen Kontext für sich zu sein. Die Öffentlichkeit spielte sich nach wie vor im dichten Kern ab. Diese Dichotomie hat der Einbruch des Automobils in der Stadt verschärft und ins Groteske überhöht, aber nicht grundlegend modifiziert. Levittown, das nordamerikanische Vorstadtmodell mit seiner Proliferation von Einfamilienhäusern mit Garten (und Garage), mag ins Unermessliche wachsen, Hotels, Einkaufszentren, Restaurants und Kinos mögen sich in Motels, Drive-in und Shopping Mall verwandeln: Geselligkeit und Öffentlichkeit erzeugen sie darob noch lange nicht. Nach wie vor finden diese in der City statt, und sei diese noch so kaputtmodernisiert oder totrestauriert. All at once, with the arrival of transportation, private space expanded. The availability of means of transport displaced walking distance in its function as the yardstick for inner-city boundaries and gave birth to the fashionable suburbs and the urbane peripheries that came to characterise the cities of the 18th and 19th centuries, just as they had done in a more rudimentary form for the cities of antiquity. There it was possible to be by oneself even in an extended urban context. Public life continued to take place in the denser city core. The appearance of the automobile in the city heightened this dichotomy and aggravated it ad absurdum, but did not fundamentally change it. Levittown, the model of North American post-war suburbia with its proliferation of detached homes with gardens (and a garage), may sprawl into immensity, hotels, shopping centres, restaurants and cinemas may mutate into motels, drive-ins and shopping malls: they are still far from generating sociability and public life. These still take place in the city, even if the latter has been modernised beyond recognition or renovated to death. öffentlichkeit im zeitalter der informatik public life in the age of i.t. 77 Mit der letzten großen Revolution, die über die Stadt eingebrochen ist, nämlich jener der Informatik, scheint sich daran etwas zu ändern und ändert sich tatsächlich auch. Denn durch Radio und Fernsehen, durch Telefon und Computer gelangte Öffentliches bis unmittelbar ins Herz der Privatsphäre, und umgekehrt ist es von dort aus möglich, mit der Öffentlichkeit Verbindung zu halten. Man muss, zumindest theoretisch, nicht mehr reisen, sich auch nicht mehr aus dem Haus bequemen, um, wie man zuweilen sagt, in die Stadt zu gehen, womit man immer noch das Zentrum meint. Man kann vom Wohnzimmer aus mit den Geschäftskollegen sprechen, mit der Verwandtschaft, mit der Geliebten oder dem Geliebten. Doch bereits das Telefon hat nicht das persönliche Gespräch ersetzt, das Fernsehen nicht den Kinobesuch. Nichts lässt darauf schließen, dass dies den neuen interaktiven Kommunikationsmitteln gelingen könnte. Trotz ausgeklügelter Technik wird eine echte Begegnung immer noch einer Videokonferenz vorgezogen, und zwar aus dem einfachen Grund, weil erstere effizienter ist. Trotz Handy, E-Mail und Bildübertragung zieht man es immer noch vor, sich zum Kaffee oder zum Abendessen zu verabreden. vergrößerung des privatraums expansion of the private space The last big revolution to engulf the city, the information technology revolution, appears to be changing this situation somewhat, and indeed it is. Radio and television, telephones and computers have brought public affairs straight to the heart of the private sphere, and conversely it is now possible to keep in touch with public life from the privacy of one’s own home. At least theoretically, there is no need to travel any more, nor even to leave the house to go “down town”, meaning to the city centre. You can talk to your business colleagues, your relatives, your lover or your mistress from the comfort of your own living room. 78 privatheit in der „intelligenten wohnung“ privacy in the “intelligent home” Szene aus „One Week“ von Buster Keaton (1920). Scene from “One Week” by Buster Keaton (1920). 79 Und zwar, wenn es irgendwie geht, im Stadtzentrum. Denn es ist wie kein anderes urbanes Dispositiv geeignet, den Menschen das Gefühl des Zusammenseins und des Zusammengehörens sinnlich spürbar zu vermitteln. Man ist unter sich, Teil einer Öffentlichkeit, die man nicht abstrakt, sondern physisch wahrnimmt. Man vermag unmittelbar zu agieren, unter Ausnutzung des gesamten feinen und immens differenzierten Spektrums von Aktions- und Wahrnehmungsmöglichkeiten, die uns von Natur aus gegeben sind und sich zum kulturellen Spiel aufs Vielfältigste ausdifferenziert haben. Man kann sich in die Augen schauen, sich riechen, sich spüren. Das ist das Echte; alles andere ist, wie verfeinert und hochentwickelt auch immer, Surrogat. Privatheit in der „intelligenten Wohnung“ Auf der anderen Seite wird der Ort des Privaten par excellence, die Wohnung, durch die neuen elektronischen und telematischen Apparate zunehmend mit den Bereichen des Öffentlichen verbunden: von der Kultur bis hin zur Werbung. Dies entbehrt insofern nicht der Ironie, als unter dem Motto „my home is my castle“ die Wohnung im letzten Jahrhundert sukzessive ausgebaut, immer besser ausgestattet und dabei auch immer stärker von der Außenwelt abgeschirmt wurde. Was ursprünglich eine aufnahmefreudige Bühne für selektive Geselligkeit war, verwandelte sich in einen Rückzugsort, dem engsten Familienkreis vorbehalten; was ehemals sich zur Straße oder zum Platz hin öffnete, schirmte sich zunehmend ab, trat zurück, verschloss und verbarrikadierte sich. Und ausgerechnet im Höhepunkt der Verherrlichung der privacy, ausgerechnet im Höhepunkt ihrer Vergegenständlichung im Einfamilienhaus und in der bürgerlichen Etagenwohnung, dringt das, was sorgfältig ausgegrenzt wurde, durch hauchdünne Kabel und unsichtbare Frequenzen übermächtig und in überwältigender Menge in den behüteten Bezirk des Individuellen hinein. Zugleich wird dieser Bezirk telematisch aufgerüstet zu einem modernen Heim, das für sich das Attribut „intelligent“ beansprucht. Die verschiedenen Geräte und Systeme, die im Haushalt eingesetzt sind, werden verfeinert, miteinander vernetzt und sogar mit externen Dienstleistungen verbunden, vom Supermarkt bis zur Polizei. Dadurch wird die Wohnung sicherer und vor allem komfortabler. Konkret könnte das etwa so aussehen: Der Wecker klingelt, und mit ihm wacht nicht nur der Herr oder die Dame des Hauses auf, sondern auch die Kaffeemaschine und der Toaster. Die Rolläden gehen leise summend hoch und lassen die Sonne in die Räume. Im Bad stellt sich die Dusche automatisch auf die gewünschte Wassertemperatur ein. Sobald das Haus verlassen wird, verriegelt sich nicht nur die Türe, sondern sichern sich auch sämtliche Fenster ab; ein Alarmsystem mit Bewegungsmeldern, das mit der nächsten Polizeistation verbunden ist, schaltet sich ein, und ein Anwesenheit-Simulationsystem schreckt unerwünschte Besucher ab. Zwischendrin wird so lange gelüftet, bis Sensoren eine entsprechende Luftqualität melden. Ein Haushalt-Roboter erledigt nach Programm das Reinemachen und das Aufräumen. Der Energieverbrauch der Wohnung wird elektronisch überwacht und minimiert. Selbst die Zierpflanzen werden digital betreut. But even the telephone has not been able to take the place of a face-to-face conversation, not even television has stopped people from going to the cinema. There is nothing to indicate that today’s new, interactive means of communication might succeed where their precursors failed. Despite all the sophisticated technology, people still prefer a personal meeting to a videoconference, for one simple reason: because it is more efficient. Despite mobile phones, e-mails and image messaging, people still prefer to get together for coffee or dinner. And if at all possible, in the city centre. Because no other urbane setting is nearly as conducive to giving people a sensually tangible feeling of togetherness and of belonging together. You are among your own kind, part of a public life that you perceive not in abstract, but in physical terms. You are able to respond immediately, using the entire finely-graded and immensely differentiated spectrum of options for action and perception that have been bestowed upon us by nature and have diversified to the utmost to enable us to play our cultural games. You can look in each other’s eyes, smell each other, feel each other’s presence. This is the real thing; everything else, no matter how refined and sophisticated, is just virtual, a substitute. Privacy in the “intelligent home” On the other hand, the private place par excellence, the home, is being more and more intimately linked with the public sphere – from culture to commerce – via the latest electronic and telematic gadgets. This is not without its irony in that, under the motto of “my home is my castle”, the home has, in the course of the last century, been successively enlarged, better and better appointed, and more and more strongly fortified against the outside world. What was originally a welcoming stage for selective socialising has been transformed into a place of retreat, reserved for the inner family; what used to be open to the street or the square has taken a step back, closed the gate, gone into hiding behind a fence or an impenetrable hedge. And precisely at the pinnacle of this celebration of privacy, precisely at the culmination of its transubstantiation in the detached family home and the bourgeois condominium, the public sphere that had been so painstakingly excluded is again penetrating the sheltered realm of the individual, omnipotent and in overwhelming surges, through hair-thin cables and along invisible frequencies. At the same time, this realm is being telematically upgraded into a modern home that claims to be “intelligent”. The various devices and systems used in the household are refined, inter-linked, and even connected up to external service providers, from the supermarket to the police station. All this makes the home safer and, above all, more user-friendly. 80 Von unterwegs vermag die Waschmaschine per Telefon oder via Internet eingeschaltet und überwacht zu werden; ebenso der Herd, die Kochplatten und überhaupt sämtliche Geräte. Man kann erfahren, ob das Flurlicht brennt, ob das Badfenster offen und ob die Heizung an ist. Der Küchencomputer lässt sich danach abfragen, ob sämtliche Zutaten für das Abendessen im Kühlschrank respektive in der Speisekammer sind. Ohnehin kontrolliert er selbst, welche Lebensmittel knapp werden, und bestellt sie rechtzeitig übers Netz, wobei er zuvor die erforderlichen Preisvergleiche zwischen einer vorgegebenen Anzahl von Anbietern anstellt. Eilige Genießer oder Genießerinnen können auch die Badewanne per Handy vor dem Nachhausegehen einlaufen lassen: mit der gewünschten Wassertemperatur und dem gewünschten Badesalz. Beim Betreten des Hauses nach der Arbeit gehen die Lampen in der Diele und im Wohnzimmer automatisch an, und in allen Räumen, in denen man sich aufhält, sorgen Sensoren für optimale Beleuchtung und Temperatur, nach Wunsch sogar für Lieblingsmusik und Fernsehbilder, die an die Wände projiziert werden. Ein elektronischer Home Assistant grüßt mit angenehmer Stimme und informiert über Anrufe, die während der Abwesenheit eingegangen und nicht sofort auf das Mobiltelefon umgeleitet worden sind. Bevor die Fenster geöffnet werden, wird im Nachbarhaus angefragt, ob dessen Bewohner gerade besonders ruhebedürftig sind; wenn es zu regnen beginnt, schließen sie sich selbsttätig. Überhaupt entfallen im „intelligenten Haus“ sämtliche Kontrollgänge, weil sich die Haushaltsgeräte bei Störungen von selbst ausschalten, den Defekt dem zentralen Computer des Home Assistant melden und dieser umgehend dafür sorgt, dass die Reparatur über den externen Kundendienst in die Wege geleitet wird. Kontrolliert werden muss in einem derart hochgezüchteten elektronischen Netzwerk lediglich der Kontrolleur, nämlich der Home Assistant, der durchaus auch einmal versagen könnte, wenn nicht gar bösartige Charakterzüge und gefährliche Herrschaftsambitionen entwickeln könnte wie der Computer Hal in Stanley Kubricks Kultfilm „Odyssee im Weltraum“. Und ohnehin wird sich mancher Bewohner fragen, ob er vor lauter Elektronik nicht als Zauberlehrling zu enden droht und die Kontrolle über die eigene Privatsphäre, das eigene Wohnen und Leben zu verlieren sich anschickt. Consider this example: the alarm clock goes off, and with it not only the man or the lady of the house but also the coffeemaker and the toaster wake up. The blinds roll up with a gentle hum to let the sunshine into the rooms. In the bathroom the shower automatically sets itself to the right temperature. As soon as everybody has left the house, not only the doors but also all the windows lock themselves; an alarm system with motion sensors that is linked to the nearest police station switches itself on, and a somebody-home simulation system scares off unwanted visitors. The air conditioner keeps on working until the sensors tell it that the desired air quality has been achieved. A household robot does the cleaning and tidying according to a pre-selected program. The power consumption in the home is electronically controlled and kept to the absolute minimum. Even the potted plants are digitally serviced. The washing machine can be switched on and monitored by telephone or via the Internet from on the road; so, too, can the oven, the hotplates, indeed the entire array of household equipment. You can check whether the light is on in the hall, whether you have left the bathroom window open, and whether the heating has come on so that it will be warm by the time you get home. You can ask the kitchen computer whether all the ingredients you need for dinner are in the fridge or the pantry. But of course it has already noted what food items are running out and has ordered more in good time via the Web, though not before comparing the prices offered by a defined number of vendors. If you are in a hurry to get out again, you can fill the bathtub by mobile phone on your way home, specifying the right water temperature and choosing your favourite bath salts. When you open the door after work, the lights in the hall and the living room come on automatically, and in all the rooms that are normally occupied sensors take care of optimum lighting and temperature, put on your choice of music or start up the television projector that casts its pictures on the walls. An electronic Home Assistant welcomes you with a dulcet voice and informs you about the calls that arrived while you were out and were not automatically detoured to your mobile. Before the windows are opened, the house next door is asked whether its occupants would mind or whether they are particularly in need of some peace and quiet at the moment; if it starts to rain, the windows close of their own accord. In the “intelligent house” you never have to check whether everything is working properly, because in the event of a fault the household devices switch themselves off and report the malfunction to the Home Assistant’s central computer, which arranges via the external customer service for the repair work to be done forthwith. 81 home assistant Oben: Szene aus „The Electric House“ von Buster Keaton (1922). Unten: Szene aus „Dick Tracey“ von Warren Beatty (1990). Top: Scene from “The Electric House” by Buster Keaton (1922). Bottom: Scene from “Dick Tracey” by Warren Beatty (1990). 82 Unsichtbare Technik und befreite Architektur Angesichts derlei technizistischer Zukunftsvisionen, die bereits heute alle technisch machbar sind, drängt sich zunehmend der Verdacht auf, jenes Haus könnte am intelligentesten sein, das am wenigsten Elektrogeräte braucht; und jener Bewohner am besten beraten, der zwischen Internet und Home Assistant noch Wahlfreiheit und Zeit für sich selbst ertrotzt. Gleichwohl sind diese Segnungen der Technik, auch wenn sparsam, selektiv und mit Bedacht eingesetzt, aus der zeitgenössischen Wohnung nicht mehr wegzudenken. Sie machen sie sicherer, komfortabler und vielseitiger. Zugleich lösen sie die Benutzung aus der strengen deterministischen Bindung mit der Architektur und schaffen dadurch einen Spielraum, den vor allem letztere für sich zu nutzen vermag. Denn wenn sämtliche Lichter mit einem einzigen Knopf, der neben der Haustür angebracht ist, gelöscht werden können, und sämtliche Fenster mit einem einzigen zweiten Knopf geschlossen und verriegelt, spielt es keine Rolle mehr, ob die Wohnung aus einem großen Raum besteht oder aus einer kompliziert zusammengefügten Flucht, ob sie eingeschossig ist oder mehrgeschossig, ob sie wenig Fenster hat oder viele. Und wenn die Bewirtschaftung der Wohnung zumindest in Teilen von elektronischen Heinzelmännchen besorgt wird, die sich auch um das Reinemachen kümmern, kann ihre Fläche durchaus auch etwas größer sein als unbedingt erforderlich, ohne gleich zu einer Bürde zu geraten. Das heißt nicht, dass die überkommene Bindung zwischen Funktion und Form im Wohnungsbau aufgehoben würde. Es heißt, dass innerhalb dieser Bindung ein Spielraum neu gewonnen, genauer: wiedergewonnen wird. In such a highly sophisticated electronic network, the only thing that has to be checked is the checker itself, that is to say the Home Assistant, which could also go wrong once in a while, or even develop malicious traits and dangerous megalomaniac ambitions like the computer Hal in Stanley Kubrick’s cult film “2001: A Space Odyssey”. But maybe one or the other home-owner might in any case wonder whether he is in danger of ending up like the sorcerer’s apprentice, at the mercy of all his electronic gadgets, and is about to lose control of his own private sphere, his own home, and indeed his whole life. Invisible technology and liberated architecture In the light of all these technicalistic visions of the future, all of which are technologically feasible even today, the suspicion grows that perhaps the most intelligent house is the one that manages with the fewest electronic devices; and that those occupants are best advised who wrest freedom of choice and time for themselves from the clutches of the Internet and the Home Assistant. Nevertheless, it is difficult to imagine a contemporary home without the blessings of technology. Used sparingly, selectively and thoughtfully, they make the home safer, more comfortable and more versatile. At the same time they liberate our use of the home from its strict, deterministic ties to architecture and thus create a freedom of discretion that architecture, especially, can turn to its own advantage. For if all the lights can be turned off from a single button located near the front door and all the windows closed and locked by means of a second button somewhere else, it no longer matters whether the home consists of one big room or of a complicated suite arrangement, whether it is on one floor or several, whether it has a few windows or a lot. And if the housekeeping is done at least in part by electronic brownies who also take care of the cleaning, it does not matter if the floor area is a bit bigger than absolutely necessary, without becoming a burden. That does not mean that the traditional bond between function and form can be disregarded in home construction from now on. But it does mean that new freedoms can be gained – or, more precisely, regained – within this bond. How these freedoms are ultimately used is up to architecture itself. It can use its new old freedoms for narcissistic formal experiments which, however, would distance and alienate it from the society in which it is rooted and which it is meant to serve. Or it can use them to create, from an extended understanding of human needs, rooms that offer a home not only to the body, but also to the mind. unsichtbare technik, befreite architektur invisible technology, liberated architecture 83 Wie dieser zu guter Letzt genutzt wird, ist der Architektur anheimgestellt. Sie kann ihre neue alte Freiheit für selbstverliebte formale Experimente verwenden, die sie allerdings unweigerlich von der Gesellschaft, in der sie verwurzelt sein und welcher sie dienen sollte, entfernen und entfremden werden. Sie kann sie aber auch nutzen, um aus einem erweiterten Verständnis dessen heraus, was menschliche Bedürfnisse sind, Räume zu schaffen, die nicht nur dem Körper, sondern auch dem Geist eine Heimat bieten. Das ist nichts anderes als das, was gute Architektur schon immer getan hat, wenn sie nicht rüder Spekulationsgier oder grimmiger Zweckrationalität unterworfen wurde. Der ersteren vermag auch die telematische Revolution nichts anzuhaben, wenn sie nicht durch entsprechende politische und ökonomische Maßnahmen flankiert wird. Der zweiten hingegen schon; und gerade dadurch, dass sie durch die Miniaturisierung eine zunehmend effiziente Technik zunehmend zum Verschwinden bringt, entlastet sie die Architektur von technischen Erfordernissen. Dadurch kann diese zu einem nahezu archaischen Urzustand zurückkehren. This is nothing else but what good architecture has always done anyway, if not subjugated to blatant speculative greed or strict rational expediency. The former is capable of escaping from the telematic revolution unscathed, unless this is accompanied by political and economic coercion. The latter, by contrast, is vulnerable; precisely because the concomitant miniaturisation makes increasingly efficient technology disappear from sight, the telematic revolution can relieve architecture of technical necessities. As a result, architecture could revert to an almost archaic primordial state. This is possible for new buildings, but also and especially for existing architectural structures. Even if they have become functionally obsolete, these can be readily revived for new uses by electronic retrofitting. What up to now has demanded of the occupants a passion bordering on self-sacrifice is becoming more and more an acceptable routine, indeed a coveted opportunity: disused workshops, abandoned factories, superfluous store-houses and derelict market halls, slaughterhouses and hospitals can be converted into attractive residential structures with a unique character. Das ist für Neubauten möglich, aber auch und vor allem für bestehende architektonische Strukturen. Auch dann, wenn sie funktional obsolet geworden sind, lassen sie sich durch elektronische Aufrüstung unschwer für neue Nutzungen aufbereiten. Was bislang von den Bewohnern eine Leidenschaft verlangte, die bis an die Grenzen der Selbstlosigkeit reichte, wird mehr und mehr zumutbare Routine, ja begehrte Chance: stillgelegte Manufakturen, verlassene Fabrikanlagen, überflüssig gewordene Lagerhäuser und Markthallen, Schlachthöfe und Krankenhäuser werden in charaktervolle und attraktive Wohnstrukturen verwandelt. By the same token, old homes can be used as such again. For even if their standards do not match up to those demanded today, even if they are too small or too big, have too may corners or too much open space, this can still usually be sorted out with the aid of a few electronic refurbishment tricks, retaining the existing fabric with all its peculiarities and charm as it originally was, repairing and restoring only where repairs and restorations are necessary. Electronic technology is versatile and slender, and it can readily be incorporated into old walls without harming the masonry or their visual effect. That opens up opportunities for bringing old city centres, most of which have been alienated from their original purpose and many of which are dilapidated, back to life, re-vitalising them in the best meaning of the word: not as tourist imitations of their former selves, but as richly appointed living places and attractive focuses of urban life. Szene aus „Brazil“ von Terry Gilliam (1983). Scene from “Brazil” by Terry Gilliam (1983). 84 Gleichermaßen können alte Wohnungen wieder als solche genutzt werden. Denn auch wenn ihre Standards nicht mehr jenen entsprechen, die heute verlangt werden, wenn sie zu klein sind oder zu groß, zu verwinkelt oder zu weitläufig, lässt sich zumeist auch dies mit einigen wenigen elektronischen Modernisierungsmaßnahmen richten. Dabei kann die bestehende Bausubstanz mit ihren Eigenheiten und ihrem Charme weitestgehend so erhalten werden, wie sie ursprünglich war, lediglich repariert und restauriert, wo Reparaturen und Restaurationen notwendig sind. Die elektronische Technologie ist geschmeidig und schlank, und sie lässt sich problemlos in alte Gemäuer einführen, ohne diese zu beeinträchtigen. Das eröffnet die Chance, die alten Stadtzentren, die zumeist zweckentfremdet und nicht selten heruntergekommen sind, im besten Sinn des Wortes zu revitalisieren: nicht als touristische Imitationen ihrer selbst, sondern als reich ausgestatete Wohnorte und anziehende Brennpunkte urbanen Lebens. Eine entscheidende Rolle spielt dabei der Automobilverkehr: Dadurch dass zunehmend Informationen und immer weniger Waren und Menschen transportiert werden müssen, nimmt er ab. Natürlich wird man weiterhin reisen, weiterhin auch zwischen Wohnort und Arbeitsplatz hin- und herpendeln. Doch dank der verschiedensten Möglichkeiten der Telearbeit wird es nicht mehr erforderlich sein, jeden Tag ein- oder gar zweimal ins Auto zu steigen, um ins Büro zu fahren respektive nach Hause zurück. Damit entfällt auch die Notwendigkeit, ein Automobil pro erwachsenes Familienmitglied zu besitzen und unterzubringen. Und mithin auch jene, unmittelbar am Haus eine geräumige Garage stehen zu haben, im Idealfall gar mit unweit gelegenem Autobahnanschluss. A crucial role in this context is played by motor traffic: because more and more information and less and less goods and people have to transported from place to place, traffic is declining. Of course, people will still want to travel, will still have to commute between home and job. But thanks to the various possibilities for teleworking, it will no longer be necessary to get into the car once or twice every day to drive to the office and back. This will also eliminate the need to own and accommodate a car per adult family member. And consequently the need to have a spacious garage right next to the house, ideally with motorway access at the end of the road. Precisely this, however, is often the biggest obstacle to the continued use or re-use of historical structural fabric. Designed for a community of pedestrians, it resists being used by a society of car drivers. But if these car drivers behave more and more as pedestrians, the old structures become viable again. What is more: they are more suited to the new old needs than are residential high rises above multi-storey car parks, or mini-bungalows with multi-vehicle garages attached. Gerade dies ist aber oft das größte Hindernis für die Weiternutzung oder Neunutzung historischer Bausubstanz. Für eine Gemeinschaft von Fußgängern konzipiert, widersetzt sie sich der Benutzung durch eine Gesellschaft von Autofahrern. Wenn aber diese Autofahrer zunehmend auch als Fußgänger auftreten, sind die alten Strukturen wieder tauglich. Mehr noch: Sie kommen den neuen alten Anforderungen besser entgegen als Wohnhochhäuser auf Parkdecks und Kleinvillen mit angebauter Garagenhalle. neuer auftrieb für denkmalpflege new life for historical monuments eine staatliche aufgabe a national endeavour 85 Neuer Auftrieb für die Denkmalpflege New life for historical monuments Damit soll nicht einer populistischen Denkmalpflege das Wort gesprochen werden, die nur das erhält und pflegt, was nachweislich einen praktischen Nutzen hat. Das hieße, ihre ursprüngliche Bestimmung von Grund auf misszuverstehen und sie rein zweckrationalistisch zu deuten. „Man muss beim Volk für die meist nur bescheidenen Objekte Liebe zu erwecken suchen“, forderte Cornelius Gurlitt bereits beim ersten Tag der Denkmalpflege, im Jahr 1900 in Dresden. Er machte damit darauf aufmerksam, dass die Aufgabe an der Denkmalpflege in erster Linie eine kulturelle sei, und dass sie dabei durchaus auf den Unverstand der Bürger stoßen könne. This is not meant to be a plea in favour of a populist preservationism that only maintains and preserves things that have some demonstrable practical use. That would be fundamentally misunderstanding their original purpose and interpreting it in terms of pure rational expediency. “You have to try to awake the people’s love for the usually only modest objects,” insisted Cornelius Gurlitt at the first German National Monuments Day in 1900, pointing out that the cause of the preservation of historical monuments was primarily a cultural one, and that it could by all means come up against ignorance on the part of the man in the street. Gerade in der Zeit der New Economy, der aggressiven Liberalisierung und der teilweise unreflektierten Privatisierung muss man die Autonomie einer Denkmalpflege, die schon einmal deswegen staatlich sein muss, weil sie im Dienst des Gemeinwohls steht, mit Elan verteidigen. Dies wird indessen leichter fallen, wenn funktionale und ökonomische Argumente in die gleiche Richtung zielen wie die kulturellen. Natürlich können „unrentable“ Baudenkmäler nicht durch Bürgersinn und Stiftungen dem Verwertungsdruck im globalen Kapitalismus entzogen werden, und natürlich dürfen sie sich nicht widerspruchslos einer Vermarktung beugen, die sie unweigerlich ausradieren oder kaputtrestaurieren würde. Die Vermarktungsmechanismen können indessen dazu beitragen, das, was man ohnehin als richtig erkannt hat, leichter durchzusetzen. Precisely at the time of the New Economy, of aggressive liberalisation and of sometimes unthinking privatisation, it is important to vigorously defend the autonomy of endeavours to preserve historical monuments, as this has to be a national concern, if only because it serves the interests of the community. This will be all the easier if functional and economic aspects coincide with cultural arguments. Of course, in a world of global capitalism, “unprofitable” architectural monuments cannot be rescued from the scrap heap by civic sentiment and charitable foundations alone, and of course they must not be sacrificed unquestioningly to a commercialisation that would inevitably eradicate them or renovate them beyond recognition. On the other hand, commercial mechanisms can help to promote causes that have already been recognised as legitimate. Die telematische Revolution mit ihrer radikalen Redimensionierung des Verkehrs beschränkt sich nicht darauf, alte, überkommene Baustrukturen wieder für moderne Nutzungen tauglich zu machen. Sie tut noch mehr: Durch die neue weitverzweigte Verfügbarkeit der Information werden auch Standorte wieder attraktiv, die bis vor kurzem emarginiert und dem Vergessen preisgegeben schienen. Kleinere Städte werden erneut konkurrenzfähig, selbst Dörfer und Höfe, die mitten in der freien Landschaft stehen, werden wieder attraktiv. Man kann abseits von der großen Geschäftigkeit wohnen und über Modem und Funk dennoch so gut verbunden sein, dass man an ihr teilzuhaben vermag. Konkret heißt das: Nicht nur historische Wohnsubstanz und überkommene Infrastrukturen an zentralen urbanen Standorten werden wieder hergerichtet und neu genutzt, sondern auch Bauten in der Provinz oder auf dem Land. Diese Lagen werden politisch, kulturell und vor allem wirtschaftlich nicht mit den großen Ballungsräumen, den global cities konkurrieren können; sie werden sich aber komplementär zu ihnen verhalten. Immerhin haben sie andere Vorzüge zu bieten als jenen der Zentralität: günstige Preise, überschaubare Ansiedlungsgröße, unmittelbarer Bezug zur Landschaft und zur Natur. The telematic revolution with its radical redimensioning of road traffic is not limited to restoring historical structures for modern use. It does much more: the new, widely ramified availability of information makes locations attractive again that until recently were marginalized and appeared destined to be forgotten. Smaller towns become competitive again, even villages and farmsteads in the middle of nowhere are made attractive once more. You can live away from the world of big business and still take part in it via modem and mobile phone. In concrete terms, that means: not only historical residences and traditional infrastructures at central urban locations are again being renovated and put to new uses, but also buildings in provincial towns or in the countryside. The locations will not be able to compete politically, culturally or economically with the big conurbations, the global cities; but they will be alternatives to these. After all, they have other benefits to offer than centrality: lower prices, handy size, a direct link to the countryside and nature. 86 Die Stadt als kulturelle Formation The city as a cultural formation Doch lässt sich die ungebrochene, ja möglicherweise sogar wiederauflebende Attraktivität unserer großen und kleinen Stadtzentren nicht allein wirtschaftlich und nicht allein soziologisch erklären. Noch nie war eine Stadt nur ein Ort des Handelns und der Wirtschaft, noch nie nur ein Ort der Politik und des menschlichen Zusammenlebens. Immer war sie auch daneben ein kulturelles Artefakt: ein Sediment der Ereignisse, die sie geformt haben, ein gebautes Buch, das von sich selbst erzählt. But the continuing, possibly even resurgent attractiveness of our large and small city centres cannot be explained by economic and sociological factors alone. A city has never been just a place of trade and business, nor just a place of politics and human co-existence. A city has always also been a cultural artefact: a sediment of the events that shaped it, a book built of stone and concrete that tells its own story. Als Kardinal Bessarione 1468 dem Dogen Cristoforo Moro jene grandiose Bibliothek zum Kauf anbot, die den Kern der Biblioteca Marciana ausmachen sollte, erklärte er im Begleitbrief: „Die Bücher sind voll der Worte der Weisen, der Beispiele der Alten, der Gebräuche, der Gesetze, der Religion ... Wenn es die Bücher nicht gäbe, wären wir alle roh und ungebildet, ohne jegliche Erinnerung an die Vergangenheit, ohne jegliches Beispiel; wir hätten keinerlei Kenntnis der menschlichen und göttlichen Dinge; die gleiche Urne, welche die Körper aufnimmt, würde auch das Gedächtnis der Menschen ausradieren.“ Genau das Gleiche hätte er für die Stadt in Anspruch nehmen können. Sie galt in der Tat von jeher als das große steinerne Buch, das die Kontinuität des Wissens von Generation zu Generation sicherstellte. die stadt als kulturelle formation the city as a cultural formation When, in 1468, Cardinal Bessarione offered to sell the Doge Cristoforo Moro the grand library that was to form the core of the Biblioteca Marciana, he declared in his cover letter: “The books are full of the voices of the wise, full of lessons from antiquity, full of moral and legal wisdom... Without them we should all be rude and ignorant. Without books, we should have almost no memory of the past, no examples to follow, no knowledge of either human or divine affairs. Were it not for books, the same tombs that consume men’s bodies would likewise bury their very names in oblivion.” Precisely the same can be said for the city, which has been recognised since the dawn of history as the big, stone book that ensures the continuity of knowledge from generation to generation. Nowadays, there are of course other instruments for doing that same thing: the book itself, at first in the form of the manuscript and later as the printed work, the painted picture, photography, the newspaper, the film. For some years now the diskette and the CD ROM. These supplement the city as a place of human memory, but they cannot replace it. For nowhere else is history so palpable to the hands, are events brought to the point so succinctly and grippingly. The walls of a fortification tell the story of the pride of the residents and their determination to defend their homes more movingly than any historical painting; a commemorative monument portrays the misery of a flood or a plague more touchingly than any novel. Sorrow and happiness, pain and hope become physically perceptible in the shaped material. The real city is always an historical monument of itself, and no surrogate, as well-meant and well-made as it might be, can ever take its place. 87 Dafür gibt es mittlerweile natürlich andere Instrumente: das Buch selbst, erst als Manuskript und dann als Druckwerk, das Bild, die Photographie, die Zeitung, den Film. Seit einigen Jahren auch die Diskette und die CD-ROM. Sie ergänzen die Stadt als Ort der menschlichen Erinnerung, ersetzen sie aber wiederum nicht. Denn nirgendwo wird Geschichte so mit Händen greifbar, werden Ereignisse so synthetisch und griffig zugleich auf den Punkt gebracht. Eine Festungsmauer erzählt so ergreifend wie keine Historienmalerei von dem Verteidigungswillen und dem Stolz der Einwohner; ein Erinnerungsmal wie kein Roman von dem Elend einer Überschwemmung oder einer Seuche. Leid und Glück, Schmerz und Hoffnung werden physisch spürbar in der geformten Materie. Die reale Stadt ist immer auch ein Denkmal ihrer selbst, und kein noch so gut gemachtes Surrogat vermag sie zu ersetzen. Ihre größtenteils heimliche Qualität offenbart erst der Vergleich mit den vielen falschen urbanen Inszenierungen, die sie allerorten nachäffen: von den Einkaufszentren bis zu den Vergnügungsparks. In keinem darf die Piazza, die Caféstraße, die Galleria, das Denkmal fehlen: Und doch gelingt den Imitationen nicht einmal die Beschwörung der rein hedonistischen Seite der Stadt, die mit der kulturellen zwar gut koexistieren kann, alleine aber noch lange keine Urbanität ausmacht, allenfalls deren Karikatur. Das Original aber kann nichts ersetzen: nicht Disneyworld und nicht jene digital city, deren Bild ohnehin noch niemand überzeugend beschworen hat. Allzu sehr kommt es auf die Materialien an, auf die Details, auf die sichtbaren Hinzufügungen, Überlagerungen, Ausbesserungen. Allzu sehr kommt es auf das Echte und das Konkrete an: In einer Epoche der Abstraktion, in einer Ära des Ersatzes gehören sie zum Schönsten und Wichtigsten, was wir uns leisten können und leisten müssen. Deswegen reisen wir, die wir ja alles auch zu Hause oder an der nächsten Autobahnausfahrt haben könnten, in der Hitze und in der Kälte, im Wind und im Regen, in Städte, die wir besichtigen wie Kunstwerke und Kulturschreine. Deswegen wohnen wir immer noch und vielleicht zunehmend gern in ihnen und nehmen dafür auch schlechtere Luft und größeren Verkehrslärm in Kauf. Nach wie vor ist die Stadt der Ausdruck unserer höchsten Stufe sozialen Lebens: Wenn wir diese Stufe halten und möglicherweise gar übertreffen wollen, müssen wir uns mit ihr so oft wie möglich messen. Its largely local quality becomes apparent only in a comparison with the many bogus urban scenarios that try to imitate it everywhere: from the shopping centres to the amusement parks. None of these reproductions can do without its piazza, its roadside cafés, its galleries, its monuments: and yet none of these imitations manages to conjure up even the purely hedonistic side of the city, which can co-exist relatively well with the cultural side, but on its own does not constitute urbanity, at best a caricature thereof. There is nothing to replace the original: not Disneyworld and certainly not that digital city whose true picture nobody has ever been able to convincingly portray, anyway. It is all a matter of the materials, the details, the visible additions, patches, improvements. It all boils down to the authentic and the specific: in an age of abstraction, in an era of substitutes, these unique originals are among the most beautiful and the most important things of all, things we can afford and have to be able to afford. That is why we travel, although we have everything at home, or at least at the next motorway exit; that is why we venture into the heat and the cold, into the wind and the rain, to visit cities which we view like works of art or objects of culture. That is why we still live in them and are perhaps happier than ever before to do so, willingly putting up with the poorer air quality and the traffic noise. The city is still the expression of the highest level of our social organisation: if we want to stay at this level and possibly even improve upon it, we have to measure ourselves against it as often as possible. Extract from Chapter 2 (Telematik im Urbanen: von A wie Arbeit bis W wie Wohnen) of the book Verhaltene Geschwindigkeit. Die Zukunft der telematischen Stadt. (Restrained Speed – The Future of the Telematic City), published by Klaus Wagenbach, Berlin, 2002. Extrakt aus Kapitel 2 (Telematik im Urbanen: Von A wie Arbeiten bis W wie Wohnen) des Buches: Lampugnani, Vittorio Magnago: Verhaltene Geschwindigkeit. Die Zukunft der telematischen Stadt. Berlin, 2002. ein denkmal ihrer selbst an historical monument of itself höchste stufe sozialen lebens highest level of social organisation 88 89 91 Bill Hillier, Anna Rose: Stadtraum – Bewegungsraum Bill Hillier, Anna Rose: Space Syntax Space Syntax ist eine GIS-basierte Modelltheorie, die Städte und Gebäude mit unmittelbarem Bezug auf den Raum betrachtet, als räumliches Netzwerk, durch das wir uns physisch bewegen. Untersuchungen mit Space-Syntax-Modellierungen zeigen, Space syntax is a GIS-based modelling technique to treat cities and buildings ‘space first’, that is as the network of spaces we use and move through. Research using space syntax modelling shows: – wie stark in Städten Bewegungsmuster und -ströme durch das Straßennetz geformt werden und wie diese Beziehung die Entwicklung lokaler Zentren und Unterzentren, die Städte erst lebenswert machen, formt. – wie Nutzungsmuster sowie soziale und ökonomische Muster in Städten räumlich erklärt werden können. – wie Gefühle von Sicherheit und Unsicherheit und tatsächliche Sicherheit und Unsicherheit durch räumliche Gestaltung beeinflusst werden. – wie in Städten räumliche Trennung und soziale Ausgrenzung zusammenhängen. – wie Gebäudegestaltung stärker interaktive Organisationsstrukturen hervorbringen kann. Weil Space-Syntax-Modelle direkt aus der Geometrie des Raumes abgeleitet werden, – können sie zum Verständnis beitragen, wie Städte, Stadtquartiere und Gebäude funktionieren, und die Auswirkungen neuer Interventionen simulieren. – können sie als Bezugssystem dienen, um Informationen über andere städtische Faktoren in Entwurf- und Planungsprozess einzubinden. Die leistungsfähige Technologie macht Space Syntax zu einem individuellen Hilfsmittel, um mittels wissenschaftlich gestützter Planung nachhaltige ökonomische und soziale Werte zu schaffen. – how movement patterns and flows in cities are powerfully shaped by the street network and how this relation shapes the evolution of the local centres and sub-centres that make cities liveable – how patterns of land use and social and economic patterns can be explained in terms of space in cities – how patterns of security and insecurity are affected by spatial design – how spatial segregation and social disadvantage are related in cities – how buildings can create more interactive organisational cultures Because space syntax models are “space-based”: – they can be used both to understand how existing cities, urban areas and buildings are working, and to simulate the likely effect of new interventions. – they can be used as a framework for integrating information about other urban factors into the design and planning process. The power of technology and the knowledge base on which it can call make space syntax a unique tool to help in the creation of sustainable economic and social value through evidence-based design and planning. space syntax 92 Städtische Form und Aktivität Urban form and the role of movement Gelungene und zukunftsfähige Orte beruhen auf dem Vorhandensein von menschlicher Aktivität. Wenn Auswirkungen auf ihre Funktionsfähigkeit – Laufkundschaft, soziale Kontrolle oder Grundstückswert – in die Planung einbezogen werden, sinkt das Investitionsrisiko, während der Wert steigt. Space-SyntaxAnalysen zeigen, dass Bewegungsmuster und die daraus folgende Raumnutzung grundlegend durch die Raumkonfiguration und Anordnung von Attraktoren beeinflusst werden. Untersuchungen haben weltweit die grundlegende Funktion des Stadtraumes demonstriert, Menschen räumlich zu verbinden oder zu trennen. Die Moderne rechtfertigte die Trennung von Auto- und Fußgängerverkehr auf der Grundlage von Bequemlichkeit und Verkehrssicherheit für Fußgänger. Ähnlich wurden Flächen zoniert, weil man glaubte, dass die saubere Abgrenzung der verschiedenen Nutzungen untereinander die Lösung vieler Probleme bringen würde. Heute erkennen wir, dass diese Planungs- und Entwurfsmethoden zu vereinfacht waren und dem städtischen Leben oft mehr schadeten als nützten. Deshalb arbeiten wir heute mit teils bewusst unscharfen Grenzen, hin zu Betriebs- und Nutzungsmischungen. Successful, sustainable places rely on movement. Understanding the effects of movement on functional performance – in terms of passing trade, property value and natural surveillance – increases value and reduces risk in the development process. Patterns of movement and space use are fundamentally influenced by the configuration of space and by the location of activity generators and attractors. A worldwide body of research has demonstrated the fundamental role of space in bringing people together or keeping them apart. The separation of car and pedestrian was once justified on the basis of convenience and road safety. In a similar vein, land uses were zoned to concentrate functions in the belief that critical mass and clean borders were the solution. Why then are we working today in exactly the opposite direction to mix modes, mix uses and blur boundaries? The answer lies in the realisation that our previously unsophisticated methods of planning and designing places have led to greater harm than benefit. Städte als zweiteiliges System Ob im Auto, Rollstuhl oder im öffentlichen Transportmittel, auf dem Fahrrad oder zu Fuß: Wir benutzen Straßennetze, um uns durch Städte zu bewegen. Wie wir diese Netze entwerfen, kann die Bewegung der Menschen begünstigen oder hemmen. Die Struktur des Wegenetzes entlang unterschiedlicher Straßen beeinflusst die Bewegungsströme seiner Nutzer unmittelbar. Damit legt es auch indirekt die möglichen Flächennutzungen und ihre ungefähre Verteilung fest. Einzelhandel und andere verkehrsbedürftige Nutzungen benötigen Standorte, die im Netz verkehrsintensiv angeordnet sind. Wohnungen und andere Nutzungen streben eher das Gegenteil an. städtische form und aktivität urban form and the role of movement städte als zweiteiliges system cities as dual systems erschließung von wohnbezirken residential developments 93 Space-Syntax-Forschung zeigt, dass Städte sich üblicherweise zu einer zweiteiligen Form entwickeln. Ein Netz verbundener Zentren jeder Größe, von einigen Geschäften mit Café bis hin zu ganzen Vorstädten, ist eingestellt in ein zweites Hintergrundnetz aus Wohnnutzung. Da dies allgemeingültig anzutreffen ist, tendiert die Struktur von Städten weltweit dazu, diese universelle Gestalt anzunehmen. Die Ausformung der Rückzugsbereiche der Wohnbezirke spiegelt die lokalen Bedürfnisse, Verkehrsaktivität und Treffpunkte für unterschiedliche Arten kultureller und sozialer Zugehörigkeit zu definieren. Weil diese Bedürfnisse in verschiedenen Teilen der Welt oder sogar in einer Stadt unterschiedlich sein können, entstehen kulturell bedingte räumliche differierende Strukturen. Erschließung von Wohnbezirken Typische Wohnbezirke bestehen im Allgemeinen aus einem Netz von Straßen mit daran angrenzenden Gebäuden. Die allgemein zugänglichen Außenräume gliedern den Verkehrsfluss, zu dem sich Gebäudeeingänge öffnen, die den öffentlichen Freiraum überblicken. Modernere, komplexere und großmaßstäblichere Planungen strukturieren Aktivitätsflüsse und öffentliche Räume oft radikal anders. Folgende Punkte sollten dabei sorgfältig geprüft werden: – Eine zu starke Verästelung des Wegenetzes führt zur regelrechten „Verdünnung“ von Verkehrsströmen. Dadurch entsteht auf den einzelnen Abschnitten weniger Bewegungsaktivität und damit auch weniger Potenzial für soziale Kontrolle. Klare, offene Sichtbeziehungen von allen internen Wegen hin zur stärker genutzten Quartiersaußenseite können diesem positiv entgegenwirken. – Öffentliche Räume innerhalb des Quartiers sollten gut überschaubar sein und von Gebäuden umgeben sein, die ihre Fenster und Eingänge direkt auf sie richten. Öffentliche Parks und Plätze sollten so angeordnet werden, dass sie Teil des weiteren Wegenetzes öffentlicher Räume im größeren Umfeld werden und von der Umgebung gut einsehbar sind. – Öffentlicher und privater Raum sollte klar unterscheidbar sein. Private Gärten, die direkt zur Straße weisen, sind oft problematisch, da sie entweder wenig genutzt werden oder aber von ihren Nutzern durch hohe, vollständig geschlossene Zäune vom Straßenraum abgeschlossen werden. Weiterhin bilden diese so von der Sicht der Passanten abgeschotteten Räume einen Schwachpunkt Hinblick auf Gebäudeeinbrüche. Cities as dual systems All modes of urban space use – whether in cars or wheelchairs, on public transport, cycles or foot – use spatial net-works to move through towns and cities. The way we design those networks can either enhance or inhibit the ability of people to move directly. Because it shapes movement the network also shapes land-use patterns, since movement-seeking land uses such as retail need locations which the network has made ‘movement rich’, while others, including residential uses seek the opposite. Space syntax showed that cities tend to evolve towards a generic dual form: a network of linked centres at all scales (from a couple of shops and a café to whole subcities) set in a wider network of residential activity. Since this works the same the world over, the global structure of cities tends to take a universal form. The residential background space reflects the need to modulate movement and copresence in support of different kinds of cultural and lifestyle memberships. Since these are different in different parts of the world, or even in the same city, culture generates differences in the residential background space of cities. Spatial qualities of residential developments A familiar property of many residential areas is that they are networks of streets lined with buildings. Movement is structured within public spaces into which the entrances open from the buildings, overseeing the shared open space. More modern, complex residential layouts structure movement and co-presence in a radically different way. Care should be taken regarding the following issues: – Over-segmentation of routes leads to the dilution of movement. As a consequence, there will be less movement in each segment on its own, leading to a lower level of social surveillance and security. Good visibility from all routes towards the movement outside of the development can counter this. – Public spaces within the development should be well overlooked and have windows and entrances facing onto them. Blank frontages without doors or windows should be minimized. Public parks or plazas should be located so they become part of the wider network of open spaces of the area and are not visually isolated from their surroundings. There needs to be a clear distinction between public and private space. Private gardens facing directly into the street are problematic as they often result in high blank fences and vulnerability for the dwellings, which are more likely to become victims of burglary. 94 hoch niedrig high low (Räumliche Integration) (Spatial integration) Raummodell Bestand: Stadtgebiet München. Accessibility analysis: existing situation within city context of munich. 95 Raummodell Entwurf Sakamoto. Accessibility analysis: proposed. 96 Werkbundsiedlung Wiesenfeld Werkbundsiedlung Wiesenfeld Der Werkbund Bayern entwickelt zurzeit in München ein Siedlungsprojekt mit 400 Wohneinheiten. Ein internationaler Architektenwettbewerb wurde durchgeführt, bei dem Kazunari Sakamoto ausgewählt wurde, um mit seinem Entwurf weiterzuarbeiten. Diese Analyse betrachtet, wie sich die Entwurfsausarbeitung auf den weiteren räumlichen Kontext der Stadt bezieht. Werkbund Bayern is currently developing a housing project of 400 dwellings in Munich. An international competition was organized and Kazunari Sakamoto has been chosen to take his designs forward. This analysis is looking at how the evolving designs relate to their wider urban context. Urban Space has strong relational properties. That means that the experience of a space is determined not only by its local properties but by the way it relates to its surroundings, the way convex spaces are connected to each other by lines of movement and visual fields. This relationship determines the level of intensity of urban activity, the co-presence of locals or strangers and the overall “feeling” of a place. Stadtraum ist immer auch räumlicher Beziehungsraum. Das heißt, das Raumerlebnis wird nicht nur durch lokale, stationäre Merkmale bestimmt, sondern auch dadurch, wie sich ein Ort auf seine Umgebung bezieht, und die Art und Weise, wie konvexe Räume miteinander durch Bewegungs- und Sichtfelder verbunden sind. Dieses Verhältnis bedingt die Intensität urbaner Aktivität, das heißt die Anwesenheit Einheimischer und Fremder sowie die gesamte „Stimmung“ eines Ortes. Um ein besseres Verständnis der stadträumlichen Potenziale des Grundstückes zu vermitteln, haben wir ein mathematisches Raummodell des umgebenden Stadtgebietes von München erstellt. Dieses Modell stellt diejenigen Wegsegmente in dunkel dar, die am wahrscheinlichsten Teil aller beliebigen Strecken von A nach B sind, das heißt jene Segmente, die relativ betrachtet sehr einfach von überall her im System zugänglich sind. Räume, die weniger gut im räumlichen Kontext integriert sind, sind demnach in helleren Tönen dargestellt. Diese Räume ziehen mit geringster Wahrscheinlichkeit Durchgangsverkehr an. Diese Analyse berücksichtigt die Wirkung der Winkeländerung zwischen den Wegsegmenten auf das Erlebnis der Raumfolgen entlang der Wege. Das Diagramm auf Seite 94 zeigt, dass das Grundstück sich in einem Bereich befindet, der zwischen zwei unterschiedlichen städtischen Rasterfeldrichtungen liegt: Schwabing West und Maxvorstadt östlich der Schleißheimer Straße und Neuhausen westlich der Dachauer Straße. Es wird durch zwei parallele Straßen eingefasst, die über die Schleißheimer Straße hinweg an Schwabing anbinden. Eine von ihnen, die Infanteriestraße, schließt über die Schwere-Reiter-Straße direkt an den Ackermannbogen an. Die Verbindungen zwischen der Infanteriestraße und der Heßstraße sind weit weniger stark ausgeprägt. Außerdem kann man sehen, dass die Heßstraße weniger gut nach Westen hin angebunden ist sowie auch nach Südwesten in Richtung Dachauer Straße und darüber hinweg. In Verbindung mit dem weniger gut verteilten Straßenraster im Südwesten der Dachauer Straße wird die Heßstraße wahrscheinlich etwas weniger Fußgängeraktivität anziehen als die Infanteriestraße, und der Zugang erfolgt mit größerer Wahrscheinlichkeit von Osten (Schwabing) und vom Ackermannbogen her. Der Olympiapark im Norden schafft, was die weitere Anbindung betrifft, zwar ein räumliches Hindernis zwischen den verschiedenen Stadtteilen, stellt aber andererseits, lokal gesehen, einen sehr wichtigen Wert für das Grundstück dar. An accessibility analysis of the Munich city area has been performed to create a better understanding of the urban potentials of the site. The model identifies those route segments which are more likely to form part of any journey from A to B and are easy to access from all other spaces in red. Spaces which are less spatially integrated are coloured in colder tones. The spaces coloured in blue are least likely to attract high levels of through movement. The analysis also takes into account the degree of angle change between the segments. This reflects the experience of the degree of continuity along some of the routes. werkbundsiedlung wiesenfeld zum entwurf design proposal 97 Zum Entwurf Der Entwurf ist räumlich sehr komplex, auch weil er mit dem Konzept traditioneller Straßenmuster bricht und dieses durch einen Teppich aus Gebäuden und offenen Räumen ersetzt. Dadurch kommt es zu einer Vielzahl komplexer Sichtbeziehungen zwischen den Gebäuden, den Zwischenräumen und den umgebenden Straßenräumen (siehe Abbildungen auf Seite 95). Starke Sichtbeziehungen zwischen den Freiräumen und den Gebäuden innerhalb der Werkbundsiedlung sowie den umgebenden Straßen sind der Schlüssel zum Erfolg des Projekts. Da sich im Vergleich zum Inneren des Grundstücks ein Großteil der Fußgänger im Stadtgebiet auf diesen umgebenden Straßen bewegt, tragen sie zu einer guten Belebung und einer natürlichen Kontrolle des städtischen Bereichs und der neuen Siedlung bei. Dies ist so, weil die Bewegungsdichte der Bewohner zwischen den Gebäuden erheblich geringer ist als die der umgebenden Straßen, die von Passanten aus dem weiteren Umfeld bevölkert werden. Wenn die Sichtspannung zwischen den Gebäuden und dem Straßennetz gelungen und anregend ist, wird das Projekt zwischen den unterschiedlichen Gebäudearten und den hier zusammentreffenden Richtungen des Straßenrasters vermitteln. Darum – und auch im Hinblick auf die zukünftige Entwicklung des weiteren Umfeldes – ist ein starkes, gut entworfenes Wegenetz entscheidend; es wird flüssige, bequeme Fortbewegung ermöglichen statt ein Hindernis innerhalb der Betriebsamkeit der Stadt zu bilden. Dies gilt vor allem für Fußgänger, die sensibler für Entfernungen sind. Dass alle Fortbewegungsarten einschließlich Autos in einzelnen Stadtgebieten zugleich präsent sind, kann im Hinblick auf die soziale Kontrolle nicht überschätzt werden. Folglich sollte es positiv gesehen werden, in diesem Projekt langsamen Autoverkehr auf der quartiersinternen Strecke einzubeziehen. Diese verläuft zwischen Infanterie- und Heßstraße, von dort zurück zu Schwere-Reiter-Straße, oder möglicherweise als zukünftige Verlängerung auf die Dachauer Straße. Es sollten unterschiedliche Fortbewegungsarten mit einem Design-Fokus auf Fußgänger und Radfahrer einbezogen werden. Dabei gilt es eine leistungsfähige, vollvernetzte Verteilung aller Verkehrsteilnehmer, einschließlich motorisierter Fahrzeuge, zu berücksichtigen und Sackgassensysteme zu vermeiden. The diagramme on page 94 shows that the site is located within an area situated between two distinctive urban grid directions. Schwabing West and Max Vorstadt to the east of Schleissheimer Strasse and Neuhausen to the west of Dachauer Strasse. It is bordered by two parallel roads which connect across Schleissheimer Strasse with Schwabing. One of the two, Infanteriestrasse, connects directly to Ackermannbogen across Schwere Reiter Strasse. On the other hand, Hess Strasse is less well connected, equally to the north-west and south-east across Dachauer Strasse. Combined with the less well distributed urban grid to the south-west of Dachauer Strasse, Hess Strasse is likely to attract a little less throughmovement than Infanteriestrasse, and movement is more likely to come from the east (Schwabing) and from Ackermannbogen. In terms of wider connectivity, the Olympia Park to the north creates a spatial obstacle between the different parts of the city, while in local terms it represents a very important asset for the site. Design Proposal This project is spatially very complex in that it is breaking the concept of the traditional street pattern and replaces it with a carpet of buildings and open spaces. This opens up a multitude of visual relationships between the buildings, the spaces between them and the surrounding streets. Strong visual relationships between the open spaces and buildings within the development and the surrounding streets is key to the success of the project, as the surrounding streets will be carrying the majority of people moving through the area, thereby contributing to a healthy level of activity and natural supervision of the urban realm. Naturally, movement levels between the buildings will be significantly lower, as they are generated mostly by their residents only, unlike the streets which are populated by a much larger number of people moving through the wider area. If this visual tension between the buildings and the street network is successful and exciting, the project constitutes a mediator between the different building types and grid directions coming together here. Therefore and also in the light of future development of the whole area, a strong, distributed, well designed route network is key and will allow for ease of movement instead of creating an obstacle to urban activity. This is true especially for pedestrians who are more sensitive to distances between destinations than cars and cyclists. The value of co-presence of all modes of transport in urban areas cannot be overestimated, including car-related activity. Therefore it should be considered a good thing to include slow vehicular movement in the project, such as the internal route between Infanteriestrasse and Hess Strasse, back to Schwere Reiter Strasse, or possibly in the future extending to Dachauer Strasse. The approach should be to integrate the different modes of transport with a clear design focus on pedestrians and cyclists, while allowing for efficient distribution of motorised vehicles (avoiding cul-de-sac systems). 98 Die Autoren Idee, Konzeption und Programm der Werkbundtage 0 bis 10: Prof. Dipl.-Ing. Bernd Meyerspeer, Architekt, hat den Lehrstuhl für Baukonstruktion und Entwerfen an der Technischen Universität Kaiserslautern inne und betreibt ein eigenes Architekturbüro in München. Dipl. Ing. Arch. Susanna Knopp, DWB, Assistentin am Lehrstuhl Prof. Ueli Zbinden TU München, Büro 4 Architekten, mit Agnes Förster, Jan Kurz, Markus Wassmer Univ. Prof. Peter Ebner, Architekt, unterrichtet seit 2003 am Stiftungslehrstuhl für Wohnungsbau und Wohnungswirtschaft an der Technischen Universität München. Er ist Inhaber von Architekturbüros in Salzburg und Wien, dort gemeinsam mit Franziska Ullmann. Peter Ebner ist ein vielgefragter Referent auf Symposien weltweit. Dipl.-Ing. Roman Höllbacher ist Mitarbeiter am Lehrstuhl Prof. Peter Ebner. Verena Rommel, Dipl.-Ing. (FH) ist Landschaftsarchitektin und Mediatorin. Seit 2003 leitet sie die Akademie für Fort- und Weiterbildung der Bayerischen Architektenkammer. 2006 absolvierte sie eine neunmonatige Ausbildung zur Mediatorin im Planungs-, Bau- und Umweltbereich. Julian Petrin studierte Wirtschafts- und Sozialgeographie und später Städtebau/Stadtplanung. Seit 1998 ist er Mitinhaber des Hamburger Büros urbanista, seit 2005 arbeitet er zudem als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Regionalund Stadtplanung der HafenCity Universität Hamburg. Prof. Carl Fingerhuth ist Architekt, Stadtplaner und Autor. Mit seinem Büro, das er 1964 in Zürich gründete, hat er städtebauliche Projekte in Europa, Afrika und Asien betreut. 1979 bis 1992 war er Kanton-Baumeister von Basel-Stadt. Carl Fingerhuth hat in Amerika und Europa Gastprofessuren bekleidet und ist Honorarprofessor der Technischen Universität Darmstadt. Er war Vorsitzender des Gestaltungsbeirates für die Werkbundsiedlung Wiesenfeld. Prof. Dr. Vittorio Magnago Lampugnani ist Architekt, Architekturtheoretiker und Architekturhistoriker. Zweisprachig aufgewachsen studierte er in Stuttgart und Rom Architektur. Von 1984 bis 1985 war er Professor an der Harvard Universität, 1990 bis 1995 leitete er das Deutsche Architektur Museum in Frankfurt am Main. Seit 1994 lehrt er in Zürich an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH Zürich). Bill Hillier ist Professor für Architektur- und Stadtmorphologie an der University of London, Vorsitzender der Bartlett School of Graduate Studies und Leiter des „Space-Syntax“-Labors am University College London sowie Autor von Büchern und Aufsätzen zur Wirkung des Raums auf menschliches Verhalten. Er ist zugleich Direktor von Space Syntax Limited und in dieser Rolle maßgeblich an zahlreichen Planungen im öffentlichen Raum beteiligt (u.a. Umgestaltung von Trafalgar Square und Planung für die Millenium Bridge in London). Anna Rose, Architektin, ist auf städtebaulichen Entwurf und Planung spezialisiert und als Direktorin für Space Syntax Limited tätig. Seit 2005 hat sie weltweit zahlreiche Projekte des öffentlichen Raums, Masterpläne und komplexe Gebäudeplanungen mit Hilfe der „Space Syntax”-Methodik untersucht und im Entwurfsprozess begleitet. Dipl. Ing. Arch. Barbara Schelle, DWB, Assistentin am Lehrstuhl Prof. Hannelore Deubzer TU München Ohne das Interesse und die Mitwirkung der Referenten, der Podiumsgäste und Moderatoren wären die Werkbundtage nur förmliches Konzept geblieben: Dank an dieser Stelle an: Ulrich Bernard, Erhard Brandl, Joachim Brech, Michaela Busenkell, Walter Chramosta, Werner Durth, Jesko Fezer, Carl Fingerhuth, Florian Fischer, Susanne Flynn, Oliver Fritz, Barbara Fuchs, Gert F. Goergens, Tilmann Harlander, Hans Heinzl, Christian Herde, Oliver Herwig, Bill Hillier, Christoph Hölz, Lukas Huggenberger, Paul Kahlfeldt, Janos Karasz, Christian Kerez, Uwe Kiessler, Wolfgang Kil, Ulrich Knaack, Barbara Knopp-Körte, Hans-Otto Kraus, Vittorio Magnago Lampugnani, Frank Lattke, Jos Lichtenberg, Thomas Niedermayer, Matthias Ottmann, Julian Petrin, Urs Primas, Klaus Joachim Reinig, Stephan Reiß-Schmidt, Hannes Rössler, Hermann Rudolf, Georg Sahner, Kazunari Sakamoto, Ernst Scheffler, Franz Schiermeier, Peter Schmidt, Matthias Schuster, Dietrich Schwarz, Doris Thut, Oliver Trieb, Didier Vancutsem, Thomas Vosskamp, Ueli Zbinden, die Idee des Werkbundes unterstützten. Ehrenamtlich wurden von den Vorstandsmitgliedern Susanna Knopp, Christoph Matthias und Barbara Schelle im Rahmen dieser Veranstaltungen einige hundert Stunden investiert – unterstützt von Sabrina Grimm, Julia Just, Isabelle Bieler, Christina Baur, Axel Sanjosé und Silke Streppelhoff (KMS) für Design und Lektorat der Einladungskarte, Ralph Biering mit Roland Bitterwolf für den Druck der Karten und Christiane Pfau für die Mobilisierung der städtischen Verteiler und der Tagespresse. Die Geschäftsführer Kirsten Rachowiak, Carmen Roll, Hermann Schubach und die Sekretärin der Geschäftsstelle, Elfriede Opitz, leisteten effiziente organisatorische Hilfe. Wir danken außerdem den Mitgliedern Christian Böhm, Georg Drost, Manfred Drum, Florian Fischer, Horst Haffner, Gerhard Hausladen, Hanns-Martin Römisch, Georg Sahner und Hans Hermann Wetcke sowie der Handwerkskammer für München und Oberbayern für Rat und Tat! Die Werkbundsiedlung Wiesenfeld ist ein Projekt des Deutschen Werkbunds Bayern e.V. Herausgeber Deutscher Werkbund Bayern e.V. Nikolaiplatz 1b, D-80801 München www.werkbund-bayern.de Tel. +49. (0)89. 34 65 80, Fax +49. (0)89. 3976 40 Verantwortlich für die Broschürenreihe Arbeitskreis Öffentlichkeitsarbeit Alle Rechte bei den Autoren (siehe linke Seite) Übersetzung Robert Taubman, John Howarth Gestaltung KMS TEAM GmbH, München impressum imprint Bildnachweis Jens Weber, München (Umschlag, S. 4/5 und S. 11); Toshi Kawai (S. 14/15 und 32); Günter Behnisch & Partner (S. 29); http://www.playahamburgo.de (S. 36/37 u. S. 55 u.); Archiv (S. 45 o.l./r.); Vittorio Magnano Lampugnani: Architektur unseres Jahrhunderts in Zeichnungen. urbanista, Büro für Raumstimulation, Hamburg (S. 55 o.); (S. 45 M./ u.) Bruno Ernst: Der Zauberspiegel des Maurits Cornelis Escher. München: Verlag Heinz Moos 1978; Stuttgart 1982; (S. 56/57, 61 und 64); Vittorio Magnago Lampugnani: Verhaltene Geschwindigkeit. Die Zukunft der telematischen Stadt. Berlin: Verlag Klaus Wagenbach 2002 (S. 68/69, 71, 78 und 81); Space Syntax Ltd., London (S. 88/89, 94 und 95). Druck Mediahaus Biering GmbH, München Die Broschüre wurde im Rahmen der Initiative „Kostengünstig qualitätsbewusst Bauen“ des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung finanziell gefördert. Für die Unterstützung bei der Realisierung dieser Broschüre danken wir außerdem herzlich KMS Team GmbH Mediahaus Biering GmbH Jens Weber, Fotodesigner Gefördert durch das Kulturreferat der Landeshauptstadt München Aktuelle Informationen über den Fortgang des Projekts und über die nächsten Werkbundtage erhalten Sie unter: www.werkbundsiedlung-wiesenfeld.de