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www.focus.de 7000 EURO WAS TAUGT DAS BILLIG-AUTO VON VW? Nr. 24/14 07. Juni 2014 KLITSCHKO Warum ich in der Ukraine bis zum Ende kämpfe FITTER SCHLANKER STÄRKER Das perfekte Training: weniger anstrengen – mehr abnehmen! + FETT V ER BR EN N EN M USK ELN AU FB AU EN WM-PLANER 2014 JO-JO-EFFEK T V ER HI NDER N ALLE TEAMS ALLE SPIELE UNSERE CHANCEN Nur 15 Minuten am Tag! SPORT Am Ball Der ehemalige Niederbayern-Auswahlspieler Herbert Hainer, 59, vor einem überdimensional großen WM-Ball in der AdidasKonzernzentrale in Herzogenaurach 118 FOCUS 24/2014 „Die größte Kampagne unserer Geschichte“ Adidas-Chef Herbert Hainer spricht über die Materialschlacht bei der WM, martialische TV-Spots und Abendessen mit Bayern-Trainer Pep Guardiola. Darüber hinaus erklärt er, warum er stets allein Fußball schaut und lieber über Konterfußball als über Konzernstrategien spricht Herr Hainer, am Donnerstag startet die Fußball-WM in Brasilien. Wie schauen Sie die Spiele an? Mit Trikot, Bier und Chips vor dem Fernseher? Ich schaue am liebsten allein, weil ich es nicht so mag, wenn beim Fußballschauen permanent geredet wird und dann auch noch jemand fragt, warum das jetzt gerade Abseits war. Ihre Frau darf aber mitschauen? Foto: Wolf Heider-Sawall für FOCUS-Magazin Natürlich. Sie kennt mich ja lange genug und weiß, dass ich beim Fußballschauen immer sehr konzentriert bin. Bei den ersten Spielen hat sie aber erst mal Ruhe vor mir. Ich fliege in der ersten WM-Woche nach Brasilien, dann noch einmal zu den Halbfinals und zum Endspiel. „Obwohl andere über die Jahre versucht haben, im Fußball-Geschäft erfolgreich zu sein, ist Adidas seit jeher einen Schritt voraus“, schreiben Sie auf Ihrer Fußball-Homepage. Wird es 2014 auch so sein? Davon gehe ich fest aus. Das Turnier ist unsere große Bühne, um unsere Marke und unsere Produkte der ganzen Welt vorzustellen. In Sachen Umsatz, Innovationskraft und Markensichtbarkeit sind und werden wir die klare Nummer eins im Fußball bleiben. Mehr noch: Wir werden durch die WM unsere FührungsFOCUS 24/2014 Herr der drei Streifen Herbert Hainer, 59 Seit 2001 ist der Betriebswirt der Capitano bei Adidas. Den Unternehmenswert hat er seither verfünffacht, den Gewinn bis auf das Krisenjahr 2009 jedes Jahr zweistellig gesteigert. Im WM-Jahr 2014 will der Ex-Stürmer des FC Ottering den Rekord von zwei Milliarden Euro im Fußball-Geschäft knacken. position ausbauen. Das belegen die Zahlen des ersten Quartals. In den ersten drei Monaten des laufenden Jahres steigerten wir die Fußball-Erlöse um 27 Prozent. Wenn das Eröffnungsspiel angepfiffen wird, wie viel des Umsatzes haben Sie dann schon fest verbucht? Gut 90 Prozent. Alles, was dann noch kommt, ist die Kirsche auf der Sahne, also Zusatzgeschäft. Seit wenigen Tagen läuft Ihre Schuh-Kampagne „Battle Pack“. In dem Spot tragen Kämpfer Kriegsbemalung, reiten mit Schwertern auf wilden Pferden. Im Hintergrund ertönt eine Stimme: „Jage. Oder du wirst gejagt. Entwickle dich weiter. Oder stirb.“ Warum immer so martialisch? Weil es den Geschmack der jungen Leute trifft. Wir geben die Clips vorher immer in die Marktforschung und sehen dann relativ schnell, was gefällt und was nicht. Ihr Dauer-Konkurrent hat seine Kampagne „Risk everything“ schon vor Wochen gelauncht. Mit Erfolg. Derzeit hat Nike die Nase vorn. „Insgesamt hat Nike bei Web-2.0-Medien doppelt so viele Fans wie Adidas“, schreibt der Marktforscher Repucom. Sie dürfen nicht vergessen: Das sind auch Profis. Dass Nike noch vor uns ist, liegt aber vor allem an zwei Dingen: Erstens haben sie früher Werbung geschaltet. Zweitens haben sie in Amerika eine bessere Marktposition als wir. Sie haben auf dem weltgrößten Sportartikelmarkt mehr Konsumenten und dementsprechend mehr Clicks. Wir geben aber seit dem Champions-League-Finale jetzt richtig Gas! Die mit Abstand größte Werbekampagne in der Adidas-Geschichte zahlt sich schon jetzt aus. Was kostet Sie so eine WM? Einen hohen zweistelligen Millionenbetrag. Hinzu kommen die Ausgaben an den Weltfußballverband Fifa. Unter dem Strich also gut 150 Millionen Euro. Da unsere Wettbewerber sicherlich auch den FOCUS lesen, kann ich Ihnen hierzu leider nichts sagen. Wie definieren Sie Ihre Zielgruppe? Im Fußball sind es die 14- bis 19-Jährigen, die auf ihren Smartphones und Tablets fast immer online sind. Dadurch können wir mit ihnen jeden Tag sieben Tage die Woche kommunizieren. Das machen wir auch während der WM. Wir richten in Rio eigens einen Newsroom ein. Dort werden 70 Adidas-Mitarbeiter rund um das Turnier berichten. Alles, was auf und neben dem Platz passiert, werden wir den Internet119 Bei Ihrem „Route 2015“-Ziel planen Sie einen Umsatz von 17 Milliarden Euro und eine Marge von elf Prozent. Nun sind Sie von diesem ehrgeizigen Ziel selbst etwas abgerückt. Stehen Sie jetzt noch dazu oder nicht? Nutzern präsentieren – natürlich aus unserer Sicht und mit unseren Inhalten. Die User wissen dann: Adidas hält mich rund um das weltweit wichtigste Sportereignis auf dem Laufenden. Und auch mit ständig neuen Schuhen. Früher gab es zwei Kickstiefel: den „World Cup“ und den „Copa Mundial“. Heute bieten Sie „Adizeros“, „Predators“ oder „Nitrocharges“ an. Vor 20 Jahren hatten Sie 50 verschiedene Schuhe im Angebot, heute über 500. Warum? Weil wir alle Konsumschichten bedienen wollen. Die Nachfrage nach innovativen Produkten ist riesig, und wir kommen der gern nach. Sonst würden wir es ja auch nicht machen. Greenpeace ist von Ihren neuen Produkten eher weniger begeistert. Sie hat den „Predator“Fußballschuh und „Brazuca“-Ball auf giftige Chemikalien getestet und hohe Werte festgestellt. Ich halte das für reine Panikmache. Alle Werte liegen deutlich unter den Grenzwerten, die gesetzlich vorgeschrieben sind. Greenpeace erklärt selbst, dass die Produkte überhaupt nicht gesundheitsschädigend sind. Sie nutzen meines Erachtens nur unseren guten Namen, um in die Medien zu kommen. Besser wäre es, wenn sie sich mit uns mal an einen Tisch setzen würden, um konstruktiv nach Verbesserungen zu suchen. Die Chemikalien würden dennoch in der Umwelt und Nahrungskette der Herstellungsländer landen. Der Chemie-Experte Manfred Santen von Greenpeace droht: „Es ist Zeit für eine rote Karte für Adidas - die Firma muss jetzt handeln.“ Noch einmal: Wir halten alle Grenzwerte ein und haben deshalb ein gutes Gewissen. Ebenso haben wir uns in Sachen Bezahlung und Arbeitsbedingungen nichts vorzuwerfen. Meine 65 Kollegen, die sich das ganze Jahr nur um Soziales und Umwelt kümmern, leisten wirklich hervorragende Arbeit. Die Arbeitsbedingungen nützen Organisationen für Kritik auf der 120 „Ich bin überzeugt davon, dass Uli sich nach der Abbüßung seiner Strafe wieder für den FC Bayern einsetzen wird“ Herbert Hainer über die mögliche Rückkehr des ExBayern-Präsidenten Uli Hoeneßa Hauptversammlung. Dieses Jahr hat ein Fondsmanager für Aufsehen gesorgt. „Wir haben kein Vertrauen mehr“, sagte Union-Banker Ingo Speich. Für ihn sei es unverständlich, warum der Vertrag mit Ihnen verlängert wurde. Schließlich sei Adidas eine „Riesenbaustelle“. Wie sehr nagt so etwas an Ihnen? Natürlich ärgert mich das sehr. Wenn ich aber erst mal eine Nacht drüber geschlafen habe, ist es meist schon besser, weil dann die Ratio wieder durchkommt. Ärgern muss es Sie trotzdem. Seit 2001 sind Sie Adidas-Chef, haben bis auf 2009 jedes Jahr den Gewinn zweistellig gesteigert . . . . . . und den Unternehmenswert verfünffacht. Es klang bei diesem Redebeitrag bei unserer Hauptversammlung ja fast so, als ginge es dem Unternehmen schlecht. Das Gegenteil ist der Fall. Wir sind schuldenfrei, äußerst profitabel und haben eine Eigenkapitalquote von fast 50 Prozent. Darüber hinaus war 2013 das erfolgreichste Jahr der Unternehmensgeschichte mit einem Rekordgewinn von fast 840 Millionen Euro. Was mich beruhigt: Hier handelt es sich um eine Einzelmeinung. Vorstand und Aufsichtsrat bekamen von den Aktionären 96 Prozent Zustimmung, und unser Aktienkurs stieg am Tag der Versammlung um zwei Prozent. Wir werden wie im Fußball bis zur letzten Minute kämpfen. Unter dem Strich könnte es aber vielleicht doch etwas mehr Zeit in Anspruch nehmen, als wir gedacht haben. Ich bin mir sicher: Operativ werden wir fast alle Ziele erreichen. Ob wir jedoch unsere Vorgaben in Sachen Umsatz und Marge erreichen werden, kann ich noch nicht sagen. Das liegt im Wesentlichen an der Entwicklung der Währungen, die derzeit leider gegen uns arbeiten. Unsere Produkte verkaufen sich großartig. Wenn uns der starke Euro aber weiterhin belastet, kann ich ja schlecht meine Manager dafür verantwortlich machen. Verantwortlich sind Sie als Investor und Aufsichtsratschef beim FC Bayern. Wollen Sie das Kontrollgremium nach dem Rücktritt von Uli Hoeneß langfristig führen? Der Aufsichtsrat wird im September eine neue Zusammensetzung erhalten. So soll beispielsweise auch der neue Anteilseigner Allianz einen Posten erhalten. Bei der Gelegenheit beraten wir auch über den Aufsichtsratsvorsitz. Würden Sie weitermachen wollen? Wie gesagt, wir beraten das intern im September. Sie könnten es ja kommissarisch weitermachen, bis Uli Hoeneß zurückkommt? Ich bin überzeugt davon, dass Uli sich nach der Abbüßung seiner Strafe wieder für den FC Bayern München einsetzen wird. Er selbst beschreibt den Verein ja „als ein Teil von mir, als ein Kind von mir“. Aber für Spekulationen, wann und in welcher Form Uli zurückkommt, ist es nun wirklich zu früh. Hoeneß war nicht nur „Abteilung Attacke“, er war auch ein Aushängeschild der Liga. Wird er dem deutschen Fußball fehlen? FOCUS 24/2014 Ja, weil er immer ein kritischer Geist war und dadurch unheimlich viel angestoßen hat. Und wer ist sein Nachfolger? BVB-Chef Hans-Joachim Watzke könnte die Lücke füllen. Das macht doch schon jetzt Karl-Heinz Rummenigge. Er ist nicht nur Vorstand der FC Bayern München AG, sondern auch Präsident der ECA, also der Interessenvertretung der größten und wichtigsten europäischen Fußballvereine. Erst beim Champions-League-Finale in Lissabon habe ich zum Beispiel mit Andrea Agnelli gesprochen, dem Fiat-Vorstand und Präsident von Juventus Turin. Seine Bewunderung für Karl-Heinz Rummenigge ist sehr groß. Rummenigge vertritt den Verein unheimlich gut, sowohl national wie auch international. F otos: Wolf Heider-Sawall für FOCUS-Magazin, MIS/imago Viele Menschen kennen Sie aus dem Fernsehen, als Sitznachbar von Uli Hoeneß. Wer sitzt in der nächsten Saison neben Ihnen, wenn Hoeneß im Gefängnis sitzt? Das weiß ich noch gar nicht. Die Sitzverteilung macht – soweit ich weiß – Finanzvorstand JanChristian Dreesen. Vielleicht Rummenigge? Hoeneß hat mal über ihn gesagt, dass er sich auf der Tribüne wie „Rumpelstilzchen“ aufführen würde. Das würden Sie bei Ihrer Frau zu Hause nicht dulden. Karl-Heinz Rummenigge ist ein erfolgreicher Manager und ein absoluter Fußballexperte. Sobald der Ball in der Allianz Arena aber läuft, packt ihn auch die Begeisterung, und er kommentiert das FOCUS 24/2014 ganze Spiel. Fast 90 Minuten am Stück, so wie ein Fernseh- oder Radiokommentator. Auf diesen Genuss mussten Sie im vergangenen Jahr zeitweise verzichten. Sie sind auf Glatteis ausgerutscht und haben sich die Kniescheibe gebrochen. Können Sie als Adidas-Chef wieder vorneweg schreiten? „Alles oder nichts“ heißt die größte Werbekampagne in der Adidas-Geschichte. Bei der WM laufen Dani Alves, Mesut Özil, Lionel Messi, Luis Suárez und Oscar dos Santos Emboaba Júnior mit AdidasKickstiefeln auf Ich marschiere wie eh und je voraus. Nein, im Ernst: In der Unfallklinik Tübingen haben sie mich wieder perfekt hingekriegt. Ich kann wieder alles machen: joggen, bergsteigen, Ski fahren. Wissenschaftler sprechen von einer „Fußballerisierung der Gesellschaft“. Noch nie war dieses Spiel so präsent wie heute. Warum ist das so? Ottmar Hitzfeld, der Ex-Trainer von Borussia Dortmund, hat mal erzählt, dass er Fotos zugeschickt bekommen hätte, auf denen schwarz-gelbe BVB-Altäre zu sehen waren. Auf diesen standen Bilder von ihm und seinen Spielern. Für die Leute sind das Reliquien. Das geht mir zu weit. Fußball ist Sport und keine Ersatzreligion. Hat man Sie vor 13 Jahren zum Vorstandschef berufen, nur weil Sie Fußball-Sachverstand haben? „Herbert Hainer ist ein herausragender Manager und Stratege“, heißt es auf der Adidas-Homepage. Aber mehr als alles andere steche Ihre Leidenschaft für Fußball heraus. „Wenn Herbert Hainer über Fußball spricht, merkt man ihm sofort an, dass er das Spiel liebt.“ Treten Sie auch wieder gegen den Ball? Früher haben Sie mal in der Niederbayern-Auswahl gekickt. Ich werde jetzt 60, da muss ich mir nicht mehr auf die Knochen hauen lassen. Wenn ich allerdings gefragt werde, ob ich nicht doch bei einem Benefiz-Spiel oder einem internen Turnier mitspielen möchte, ziehe ich mir ab und zu doch wieder die Fußballschuhe an. Sie müssen ja nur den Fernseher anschalten: Sieben Tage die Woche kommt Fußball. Darüber hinaus ist die Bundesliga eine der attraktivsten Ligen der Welt geworden. Vor 15, 20 Jahren sind die Klinsmanns und Kohlers ins Ausland gegangen, heute spielen die Robbens und Ribérys in der Bundesliga. Zudem hat sich das Fußballpublikum durch die neuen Stadien radikal verändert. Heute sind viel mehr Frauen und Familien in den Stadien. In Dortmund oder auf Schalke geht das noch weiter. Der eigene Verein ist dort für viele so etwas wie eine Ersatzfamilie. VIDEO Seite scannen mit FOCUS ACTIVE APP „Verlieren ist beschissen“, so der Sportler und Stratege Herbert Hainer Treffen in der 3-Streifen-Zentrale Herzogenaurach: Herbert Hainer, Kapitän des 50 000 Mann starken Adidas-Teams, und FOCUS-Redakteur Andreas Haslauer Liebe zum Sport gehört bei Adidas zur Grundeinstellung. Ich war neulich mit Pep Guardiola essen. Mit dem Bayern-Coach habe ich den ganzen Abend lang fast nur über Fußball gesprochen. Pep hat mir genau erklärt, warum er in dem und dem Spiel nicht auf diesen, sondern auf jenen Spieler setzt. Dabei hat er Gläser, Besteck, Servietten sowie Salz- und Pfefferstreuer benutzt, um mir Spielsysteme, Vierer-Abwehrreihen und Rauten im Mittelfeld zu illustrieren. Ich gebe zu: Das macht mir nach einem anstrengenden Tag im Büro mehr Spaß, als über EbitMargen zu sprechen. n INTERVIEW: ANDREAS HASLAUER 121 Ein großer Nerv-Faktor für Fußballfans während der WM in Brasilien: verzögerte Fernsehbilder dank moderner Technik I n der Frühzeit des Fernsehens waren Sendungen wirklich live. Bei der Show „Der goldene Schuß“ richteten Zuschauer per Telefon eine Armbrust aus und ließen diese dann abfeuern. Später wurde der „SAT.1 Superball“ von zu Hause aus gelenkt, auf „Links“- und „Rechts“-Befehle hin wich der Computerball Hindernissen aus. 122 Geschicklichkeitsspiele dieser Art sind heute nicht mehr möglich. Die digitale Übertragungstechnik steht dem im Weg. Jeder Verarbeitungsschritt dauert eben ein paar Millisekunden. Das Fernsehbild braucht im Digitalzeitalter länger, um beim Zuschauer anzukommen. Live ist nicht mehr live. Spätestens im kollektiven Fußballrausch bei der Weltmeister- 31,1 Millionen Fernsehzuschauer sahen bei der WM 2010 das Halbfinal-Spiel Deutschland gegen Spanien. FOCUS 24/2014 Foto: Focke Strangmann/ddp images Wenn die anderen schon jubeln . . . schaft in Brasilien erzeugt dies Frust und Zorn. Ganz Deutschland sieht zwar gleichzeitig fern. Doch während auf dem Bildschirm der einen die Flanke noch in den Strafraum segelt, bejubeln die anderen schon das Tor. Die Freudenschreie entwickeln sich zu einer akustischen La-Ola-Welle, dirigiert von der Übertragungstechnik. Je nachdem, ob die Signale über Satellit (DVB-S), Kabel (DVB-C), Antenne (DVB-T) oder Internet (IPTV) auf die Bildschirme kommen, setzt das Gebrüll früher oder eben auch deutlich später ein. Der weite Weg von Brasilien nach Deutschland ist dabei das geringste Problem. In Lichtgeschwindigkeit unterquert das Fernsehsignal im Glasfaserkabel den Atlantik. Die interkontinentale Reise dauert ungefähr eine Sekunde. MEDIEN Die entscheidenden Sekunden bis zum Tor BRASILIEN Sendezentrum DEUTSCHLAND ÜberseeGlasfaserkabel Sendeanstalt Satellit Kabelfernsehen terrestrisch (DVB-T) Könnte die Bilder auch zügiger weitergeben Liegt bei der Geschwindigkeit vorn Internet/IPTV Theoretisch schnell, wird künstlich verlangsamt Für ein LiveErlebnis am wenigsten geeignet Damit die Funkwellen synchron sind, wird das Signal ausgebremst. Die Daten sammeln sich erst in einem Puffer, gehen dann weiter. Zeitverzögerung 3,5–5,2 s Quelle: SWR 2,8–4,2 s Das Umsortieren der Daten auf dem Transponder braucht Zeit. Fast wie live dabei Deutschland-Fans feiern die Nationalmannschaft beim Public Viewing in Hamburg während der Fußbal-Weltmeisterschaft 2010 FOCUS 24/2014 Von Baden-Baden beziehungsweise Mainz aus verschicken ARD oder ZDF das Signal in zwei Varianten: in normaler Auflösung (SD, Standard Definition) und in hochauflösender HD-Qualität (High Definition). Beim Ersten müssen Zuschauer länger auf das scharfe Bild warten. Das SDSignal braucht via Satellit 2,8 Sekunden, als HD dauert es 4,2 Sekunden. Das ZDF hingegen gibt der Brillanz den Vortritt. Die Mainzer favorisieren die HD-Technik, das SD-Signal folgt einen Moment später. Dramatischer für den Fußballfan ist, auf welchem Weg das Bild nun in seinen Fernseher gelangt. Für den Empfang per Schüssel schießen die Signale 36 000 Kilometer zum Satelliten hoch und wieder zurück. Auf denTransponder im All sollen so viele Programme wie möglich passen. Der Platz Die Kabelnetzbetreiber komprimieren die Signale von ARD und ZDF. 6s 30–80 s Langsam, langsamer, am langsamsten Die digitale Technik verzögert die Übertragung der Fernsehbilder. Je nachdem, welchen Verbreitungsweg das Signal nimmt, kann das Ereignis mehr als eine Minute später auf dem Bildschirm zu sehen sein. wird deshalb mehrmals in der Sekunde dynamisch auf die Sender aufgeteilt. Das Stapeln von Bits und Bytes kostet aber Zeit, zwischen 2,8 und 4,2 Sekunden. Kabelnetzbetreiber holen die Signale entweder bei den TVAnstalten verzögerungsfrei per Glasfaser ab oder nutzen Satellitendaten. Weil ARD und ZDF für die Einspeisung nicht zahlen wollen, komprimieren Kabel Deutschland & Co. nochmals zeitaufwendig. Das nimmt bis zu 5,2 Sekunden in Anspruch. Das Antennensignal (DVB-T) strahlen etliche Sendeanlagen auf derselben Frequenz aus. Theoretisch würde dieser terrestrische Übertragungsweg das Rennen machen. Damit die Funkwellen synchron sind, wird das Signal künstlich ausgebremst, circa sechs Sekunden. Eine klarer Fall von Spielverzögerung. In die Nachspielzeit versetzt fühlen sich die Nutzer der modernsten Technik, des Internet-Fernsehens. Die Telekom etwa überträgt das IPTV-Signal in Paketen. Diese laufen beim Empfänger erst in einen Puffer und werden dann neu geordnet. Verzögerungszeit: rund 30 Sekunden. Streaming-Dienste wie Zattoo puffern die Signale mehrfach. Besonders langsam ist der Anbieter Magine. Das Programm kommt dort ungefähr 80 Sekunden später an. Für Fußballgenuss in besiedelten Gebieten ist dies nur bei schalldicht schließenden Fenstern zu empfehlen. Schneller informiert ist der Radiohörer. Analog auf UKW wird der Spielstand am aktuellsten vermeldet. Das neue digitale System DAB+ verzögert bereits schon wieder. ■ S. HOFMEIR / S. WITTLICH 123 www.focus.de FUSSBALL-WM TV-TECHNIK FÜR UNTERWEGS Nr. 25/14 16. Juni 2014 NACHRUF Hubert Burda über Frank Schirrmacher J i n i -Z M f u a t etz i ren e i g a e r nsen ! neue Strategien für mein Geld Lebensversicherungen Immobilien Aktien SPORT Böser Bube mit großem Herz E s ist schön, dass mich die Leute in Ghana verehren“, sagt Kevin-Prince Boateng. „Jeder Mensch braucht einen Helden – und jetzt bin ich eben einer.“ Nein – Understatement ist nicht so sein Ding. Boateng legt seine tätowierten Arme lässig auf die Sofalehne. Auch am Hals hat er sich stechen lassen – hier prangt eine Krone, die die Königlichen von Real Madrid symbolisieren soll. Von diesem Verein träumt er seit seiner Kindheit. Aber Boateng spielt auf Schalke und nicht in Madrid. Und die Tattoo-Krone wirkt an seinem muskulösen Körper wie ein in die Haut geritzter Ausdruck bizarrer Selbstüberschätzung. „Die Menschen in Ghana wissen, dass sie mich brauchen“, sagt der 27-Jährige weiter, „schließlich wollen sie mit mir Weltmeister werden.“ Weltmeister? Er lächelt nicht. Das sollte kein Spaß sein. „In Ghana beten alle, dass wir den Titel holen.“ Boateng trägt bei unserem Gespräch ein Shirt 130 mit der Aufschrift „Jesus is back“. Meint er sich damit etwa selbst? Die Fans in Afrika verehren Kevin-Prince Boateng tatsächlich als „Fußball-Messias“. Ende 2011 hatte er überraschend seinen Rücktritt aus der ghanaischen Ghanas Hoffnung Mittelfeldregisseur Kevin-Prince Boateng soll das afrikanische Land zum Sieg gegen Deutschland führen Nationalmannschaft erklärt, weil er sich auf den AC Mailand konzentrieren wollte. Jetzt, als Spieler von Schalke 04, kehrte Boateng in die Landesauswahl zurück. Und mit ihm die Hoffnung . . . Am Samstag trifft er mit Ghana im WM-Vorrundenspiel auf Deutschland und seinen Bruder Jérôme, der heute beim FC Bayern spielt und sich Triple-Sieger nennen darf. Es ist mehr als ein Fußballspiel – es ist ein Aufeinandertreffen zweier Welten. Auf der einen Seite der ruhige Jérôme, der die Karriereleiter über den Hamburger SV und Manchester City steil und zielstrebig emporkletterte. Auf der anderen Seite der extrovertierte Kevin-Prince, der polarisiert und provoziert. Wer die beiden Boatengs verstehen will, muss ihre Familiengeschichte kennen. Einen Monat bevor Kevin-Prince 1987 in Berlin zur Welt kommt, lassen sich sein ghanaischer Vater Prince und seine deutsche Mutter Christine scheiden. Viele Jahre dauert FOCUS 25/2014 F otos: Thomas Schweigert/13 Photo, Team2 Sportphoto/ullstein bild Showdown am Samstag: Kevin-Prince Boateng trifft mit Ghana auf Bruder Jérôme im Deutschland-Trikot. Mit unserer Nationalmannschaft hat der einstige Berliner Ghetto-Rüpel noch eine Rechnung offen Inniges Verhältnis Kevin-Prince (l.) und Jérôme Boateng, Schalkes Mittelfeldmann und Bayerns Abwehr-Ass, treten bei der WM in Brasilien gegeneinander an 131 Ball führte, stießen Patria-Fans brüllende Affenlaute aus. Nach einem Dribbling in der 26. Minute blieb er stehen, nahm den Ball in die Hand und drosch die Kugel auf die Tribüne. Danach zog er sich das Trikot über den Kopf und stapfte wutentbrannt vom Platz. Seine Kollegen folgten. Alle zehn Mann. Boateng hatte ein Zeichen gegen den Fremdenhass gesetzt. Bald darauf durfte der Ex-Ghetto-Haudrauf aus Berlin-Wedding eine Rede vor den Vereinten Nationen in Genf halten. Man müsse Rassismus endlich ausrotten wie die Malaria, sagte er. Wer Boateng in diesen Tagen trifft, lernt beide Charaktere kennen: den Menschenfreund und den Fußball-Proleten. „Seit meiner Geburt stehe ich im Mittelpunkt“, erzählt der selbstbewusste Kicker. Der neue Boateng weiß um seine Verantwortung und Vorbildfunktion. Er staune immer, Familien-Mensch Mit seiner Verlobten Melissa Satta und Sohn Maddox Prince lebt Boateng in Düsseldorf. Er hat die Villa von Michael Ballack übernommen Proleten-Prince Teure Uhren und schrille Klamotten gehören zu Boatengs Facebook-Alltag. Seinen Körper hält er immer in Schuss wie „glücklich die Menschen in Ghana sind, die haben nichts und lachen trotzdem, während auf der Königsallee in Düsseldorf alle mit hängenden Köpfen rumlaufen“. Deshalb wird er nun in der Stadt Sunyani, aus der sein Vater Prince Boateng stammt, mit seiner Verlobten Melissa Satta eine Schule bauen. In seiner Freizeit verschlingt Boateng neuerdings Klassiker von William Shakespeare – auf Englisch. Kommt das Gespräch allerdings auf die deutsche Nationalmannschaft, schlüpft Kevin-Prince wieder ganz in die Rolle des Provokateurs. Er hat nach wie vor nicht verdaut, dass er 2009 nicht für den EM-Kader der deutschen U-21-Nationalmannschaft nominiert wurde. „In der deutschen Mannschaft gibt es keine Typen wie früher Effenberg oder Ballack“, keift er. Fürchten müsse Ghana keinen Deutschen. Die offene Rechnung will Boateng nun begleichen. Während der WM-Auslosung saß er im Schalker Bus neben Jermaine Jones, dem Nationalspieler der USA, auch ein Gegner Deutschlands. Beide scherzten, wie schön es doch wäre, wenn nicht die Deutschen und Portugal weiterkämen. „Wir haben gute Chancen“, sagt Boateng. Sollte Ghana siegen, wird man wohl den Protz-Boateng zu sehen bekommen. In den rechten Oberarm hat er sich die Worte „The world is yours“ („Die Welt liegt dir zu Füßen“) ritzen lassen. ■ FRANK LEHMKUHL Fotos: ddp images, Instagram/ddp images (5) es, bis der Vater Kevin regelmäßig besuchen darf. Auch danach kümmert sich der Papa mehr um den jüngeren Sohn Jérôme. Dieser wächst darüber hinaus bei seiner Mutter Martina im bürgerlichen Wilmersdorf auf, Kevin bei Mutter Christine im rauen Wedding. Bis vor wenigen Jahren war der ältere Boateng-Bruder mit dieser Vita der Skandalsportler schlechthin, ein rüder Kerl, der seine Aggressionen nicht kontrollieren und sein Potenzial viel zu selten entfalten konnte. Als junger Fußballer bei Hertha BSC sorgte er meist abseits des Platzes für Aufsehen. Nach einer Sauftour trat er zusammen mit HerthaKumpel Patrick Ebert Autospiegel ab – beide mussten 56 000 Euro zahlen. Später dann, in England, machte er mit Frustkäufen eines Allzugutverdieners auf sich aufmerksam. Innerhalb einer Woche erstand er einen Lamborghini, einen Jeep und einen Cadillac. Das ist der alte Boateng. Nun, nach Auslandsengagements bei Tottenham, Portsmouth und Milan, trägt der Kraftprotz auch deshalb so viel Verantwortung in Ghanas Mittelfeldzentrale, weil er nicht mehr nur als Rüpel, sondern zudem als gereifter Fußballer und Mensch gilt. Boateng hat einen spektakulären Wandel hinter sich. Und die Wandlung hat ein Datum: 3. Januar 2013. An jenem Wintertag spielte das 1,86 Meter große Powerpaket noch für Mailand und gegen Pro Patria. Sobald Boateng den 132 FOCUS 25/2014 www.focus.de Nr. 26/14 23. Juni 2014 VON DER LEYEN DIE ANTI-KRIEGS-MINISTERIN BERLIN Das Geheimnis der coolen Metropole Westerwelle Sein schwerer Kampf gegen Leukämie Plus: Die große FOCUS-Liste Deutschlands Top-Ärzte Neue Hoffnung bei Bessere Therapien ● Neue Medikamente Jeder Zweite kann geheilt werden SPORT Plötzlich ganz Kroos Mittelfeldregisseur Toni Kroos ist Deutschlands stiller Star. Er hat keine Tattoos, keine Allüren und seinen Vertrag in München noch nicht verlängert. Kommt er bei der WM groß raus, wird es teuer für die Bayern B 130 Endet Kroos’ Zeit bei den Bayern? Vertragslaufzeiten der besten Spieler des FC Bayern München Vertragslaufzeiten der besten Spieler Quelle: Recherche des FCeigene Bayern München bis ... bis .. . 2015 2015 2016 2016 Tauziehen um einen neuen Vertrag Bayern-Chef KarlHeinz Rummenigge und Toni Kroos haben sich bisher noch nicht auf einen neuen Vertrag einigen können 2017 2017 Die deutsche Nummer 18 ist kein Witzbold wie Poldi, kein Intellektueller wie Hummels und kein Anführer wie Schweinsteiger. Er ist nicht einmal ein Müller, der mit unorthodoxer Dribbelei und frecher Schnauze die Massen bedient. Das Image des von Trainer Löw als „Zwischenspieler“ – eine Position zwischen 2018 2018 2019 2019 Toni Kroos Toni Kroos Bastian Schweinsteiger Bastian Schweinsteiger Mario Götze Arjen Robben Mario Götze Javi Martinez Arjen Robben Javi Martinez Thiago Alcántara Thiago Philipp Alcántara Lahm Philipp Lahm Manuel Neuer ThomasNeuer Müller Manuel Robert Lewandowski Thomas Müller Robert Lewandowski Die Verträge mit Lewandowski, Müller & Co. datieren bis 2019 – einzig der Vertrag mit Toni Kroos läuft im kommenden Sommer aus FOCUS 26/2014 Fotos: Moritz Müller/imago; Sven Simon/dpa ei der Frage der brasilianischen Journalistin lacht Toni Kroos kurz auf. „Sind Sie gern der Kellner für die Stürmer?“ In seiner Karriere hat der 24-jährige Mittelfeldregisseur der deutschen Nationalmannschaft Fragen wie diese immer wieder beantworten müssen. Er schaut auf die Uhr, als überlege er, ob es Zeit ist, aufzustehen und die Pressekonferenz in Santo André einfach zu verlassen. Kroos antwortet dann aber doch – kurz und bündig: „Ich setze gern meine Mitspieler in Szene und freue mich, wenn sie gut aussehen.“ Doch bei der nächsten Frage, die mehr noch eine Infragestellung ist, wird es selbst dem ewig verkannten Wunderkind zu bunt. „Wie kommt es, dass Sie nie in großen Spielen glänzen?“ Schmallippig antwortet Kroos, der Münchner Champions-LeagueSieger 2013: „Dann haben Sie noch nie ein großes Spiel von mir gesehen, in dem ich dabei war!“ Fußball-Chirurg Toni Kroos, 24 Die Pässe des Mittelfeldstrategen sind so scharf wie das Skalpell eines Chirurgen. Die Passquote von Kroos lag im Spiel gegen Portugal bei sensationellen 98 Prozent. Ein Top-Wert bei der WM in Brasilien 131 132 Nachwuchs-Knipser Toni ist nach einem Turniersieg seines Jugendvereins Hansa Rostock mächtig stolz. In der Hand hält Kroos junior, der bei den Bayern als jüngster BundesligaDebütant auflief, seine Urkunde Traute Zweisamkeit zwischen Toni Kroos und Freundin Jessica im ausverkauften Audi Dome, der Halle der Bayern-Basketballer. Kroos besucht die Korbwerfer ebenso oft wie Bastian Schweinsteiger 10. Das heißt: „Toni ist auf der 8er-Position ein grandioser Verbindungsmann zwischen Offensive und Defensive. Im deutschen Team ist er einer der Spieler mit der höchsten Ballsicherheit und besten Passgenauigkeit.“ Egal, ob fünf oder 50 Meter – fast millimetergenau landen Kroos’ Pässe auf den Füßen seiner Mitspieler. „Darüber hinaus sind seine Fernschüsse aus der Distanz gegen tief stehende Mannschaften ein probates Mittel“, so Wormuth. Vielleicht ist es die Bescheidenheit, mit der sich Kroos in der Öffentlichkeit selbst die Wirkung nimmt. Klammheimlich hat er inzwischen 46 Länderspiele auf dem Konto und gehört damit zu den Dauerrennern in Jogis Truppe. Vier Jahre spielt er inzwischen regelmäßig im Dress mit dem Adler. Aber kaum einer hat es gemerkt. Der durchschnittlich gebaute Toni würde nicht mal in einer großstädtischen Fußgängerzone auffallen. Er ist eben alles andere als ein Lautsprecher. Er trägt keine Brillis im Ohr wie Jérôme Boateng, keine überdimensionalen Kopfhörer mit HipHop-Musik wie Mario Götze. Toni mag es sachter und bevorzugt Softrock von Herbert Grönemeyer („Flugzeuge im Bauch“) oder Pur („Funkelperlenaugen“). Beim Warmlaufen in Brasilien läuft Kroos nicht vorn und nicht hinten, sondern in der Mitte des Teams. Er ist so etwas wie der Archetypus des Mannschaftsspielers. Zur Art des Toni Kroos passt, dass er nicht über sich selbst reden will. „Ich bewerte mich nicht. Wenn der Bundestrainer mich für unverzichtbar hält, dann ist das schön für mich.“ Titulierungen wie „Taktgeber“ findet er überzogen. „Hauptsache, ich spiele im Zentrum!“ Das Lob besorgen ohnehin andere. „Fußballerisch ist das, was er spielt, eine Delikatesse“, schwärmt Triple-Sieger Jupp Heynckes. Deutschlands oberster FußballLehrer Wormuth ergänzt: „Toni hatte schon immer einen sehr guten Instinkt und eine geniale Übersicht.“ Am Ball könne er einfach alles: dribbeln, Haken schlagen, blitzsaubere Pässe spielen und Standards ausführen, also Eckbälle und Freistöße. Auf der Pressekonferenz will Jeremie, der beim Spiel gegen Portugal als Einlaufkind von Per Mertesacker auf den Rasen geführt wurde, wissen, ob der „Herr Kroos“ auch so aufgeregt gewesen sei. Die Antwort ist ein echter Toni: „Ich war nicht ganz so nervös, weil ich schon das eine oder andere Mal in ein Stadion eingelaufen bin.“ ■ A. HASLAUER / A. WOLFSGRUBER FOCUS 26/2014 Fotos: Rauchensteiner; privat Angriff und Abwehr – bezeichneten Kroos liegt irgendwo im Niemandsland. Er wirkt mitunter scheu, reserviert, distanziert. Das mag sympathisch sein, sorgt aber zugleich dafür, dass er eher auffällt, wenn er schlecht spielt, als wenn er dem Spiel seinen Stempel aufdrückt. Kroos hat unglaubliche Qualitäten, ruft diese aber viel zu selten ab. Selbst Bayern-Chef Karl-Heinz Rummenigge scheint nicht so recht zu wissen, was er an ihm hat. Mit Lahm und Müller hat er noch schnell vor der WM verlängert, nur mit Kroos nicht. Kroos will angeblich mehr – statt vier nun acht Millionen Euro im Jahr. Dann würde er in etwa so viel wie FCB-Kollege Thomas Müller verdienen. Für Rummenigge könnte die WM daher teuer werden. Gleich im ersten Spiel gegen Portugal zeigte Kroos eine Weltklasseleistung. 98 Prozent seiner Pässe kamen an – ein absoluter Top-Wert für einen Mittelfeldstrategen, der gern auch ins Risiko geht: Sechs seiner 81 Pässe schlug Kroos über 30 Meter weit. Der Bayern-Spieler, der 2015 ablösefrei wechseln kann, hat deshalb beim Vertragspoker nach dem Turnier im Vergleich zu Rummenigge die besseren Karten. Kroos weiß: Die Top-Vereine buhlen mächtig um den 24-Jährigen mit dem feinen Füßchen. Angeblich bietet der FC Chelsea London 8,5 Millionen. Kroos’ Marktwert liegt bei 40 Millionen Euro – ebenso wie jener von Schweinsteiger, der bei den Bayern gut zehn Millionen verdient. Der Marktwert des Mannes aus Mecklenburg-Vorpommern ist in den letzten Monaten mit der Verpflichtung des von Bayern-Trainer Pep Guardiola – dem Verfechter des Kurzpass-Spiels – deutlich gestiegen. „Meine Art, Fußball zu spielen, kommt mit ihm noch einmal besser zu Geltung“, sagt Kroos. Unterstützung bekommt er von Frank Wormuth, dem Chefausbilder des DFB. Kroos bewege sich vorbildlich zwischen den Positionen 6 und „Unterschätzt Klinsmann nicht“ Beide Ausgangslagen sind psychologisch anspruchsvoll und können eine negative Einstellung für das nächste Spiel produzieren. Ein Psychologe ist aber nicht zwingend gefragt, denn der Bundestrainer und die Spieler haben im Umgang mit überschwänglicher Freude oder tiefem Frust selbst Erfahrung und können die Situation gut einschätzen. Deutschlands Mental-Coach HansDieter Hermann über euphorische Kicker, niedergeschlagene Bankdrücker und das Spiel gegen die USA Diese Charakterisierung ist Ihre! Aber ja, jeder bringt sich super ein, und die gelungene Mischung der verschiedenen Persönlichkeiten ist auch Grundlage dafür, dass das Team sein Potenzial abrufen kann. Allerdings besteht hier natürlich eine starke Wechselwirkung mit guten Spielergebnissen. Joachim Löw hat für die Weltmeisterschaft 2014 die Losung ausgegeben: „Ein guter Anfang braucht Begeisterung, ein gutes Ende Disziplin.“ Wie gefällt einem Psychologen dieser Motivationsspruch? Haben Sie von jedem Fußballer ein psychologisches Profil im Schrank? Gut! Da ist doch wirklich viel dran. Auch wenn das Wort „Disziplin“ spontan zunächst wenig motivierend wirkt. Tatsache ist, dass konsequente Gedanken und deren Umsetzung mit Blick auf das Ziel letztlich entscheidend sind. Genau das drückt dieser Satz aus. Sind brütende Hitze und Zeitverschiebung psychologische Themen? Sie könnten es werden. Aber die Spieler haben diese Bedingungen innerlich akzeptiert. Sie wissen, dass sie zu einer WM in Brasilien dazugehören und keine Ausreden sein dürfen. 23 junge Leute leben fünf WMWochen auf engem Raum. Gibt es den Hüttenkoller wirklich, oder ist so etwas Küchenpsychologie? Ich habe Hüttenkoller bei der Nationalmannschaft noch nicht erlebt. Dafür gibt es viele Gründe. Trainingslager und Mannschaftsquartiere werden von den Trainern und Oliver Bierhoff so geplant und vorbereitet, dass auch Freiraum und Abwechslung neben dem Training gegeben sind. Der noch wichtigere Faktor ist jedoch, dass unsere 134 Der 36-jährige Miro Klose ist eher ein ruhiger Typ, Thomas Müller ist spaßig, Philipp Lahm moderierend und der 22-jährige Erik Durm frisch und frech. Hat das Team die perfekte mentale Mischung, um Großes zu leisten? Seelenkundler Der 54-jährige Diplom-Psychologe aus dem Schwabenland arbeitet seit 2004 für die DFBNationalmannschaft Pool-Gespräch DFB-Mann Hermann und FOCUS-Redakteur Axel Wolfsgruber im DFB-Hotel „Campo Bahia“ des brasilianischen Fischerdörfchens Santo André Spieler einerseits kommunikativ und spontan sind, sodass sie sich in der Gruppe leicht zusammenfinden, zum Beispiel für andere Sportarten oder beim Kartenspielen, andererseits sich aber auch problemlos selbst beschäftigen können. Außerdem: Wenn sich die Spieler als Team verstehen, entsteht kein Hüttenkoller. Nein. Aber bei den vielen Länderspielen hatten wir seit der EM 2012 genug Zeit, um die neuen Spieler etwa im Bereich Stressresistenz und Teamgeist kennen zu lernen. Diese Erfahrung ist wichtig, denn in einem WM-Turnier bewegen sie sich im mentalen Grenzbereich. Joachim Löw ist es darüber hinaus sehr wichtig, dass sich alle Spieler im Kader der Mannschaft zugehörig fühlen, nicht nur die elf bis 14 Spieler, die das letzte Spiel gemacht haben. Denn jeder muss jederzeit sofort voll einsatzfähig sein. Deutschland spielt in dieser Woche gegen die USA mit Jürgen Klinsmann als Trainer. Sie kennen ihn sehr gut aus der gemeinsamen Zeit während des Sommermärchens 2006 in Deutschland. Wie wird er sein Team heißmachen? Die Motivation ist eine von Jürgen Klinsmanns großen Stärken. Sicher wird er in der Kabine – wie schon 2006 bei uns – sehr klug alle psychologischen Register ziehen und das Team emotional kitzeln. Wer ihn aber auf das Heißmachen reduziert, unterschätzt ihn gewaltig. ■ INTERVIEW: AXEL WOLFSGRUBER FOCUS 26/2014 Foto: Andreas Gebert/dpa Wann ist ein Psychologe im Fußball mehr gefragt: nach schmachvollen Niederlagen oder nach Kantersiegen wie gegen Portugal? D er tödliche Pass kommt von Wesley Sneijder. Den beiden spanischen Innenverteidigern Piqué und Puyol geht das viel zu schnell. Arjen Robben, der Stürmer der holländischen Elftal, läuft allein auf Spanien-Keeper Iker Casillas zu – und vergibt die 100-ProzentChance. Kläglich. Der Welttorhüter kann den Ball mit der Fußspitze gerade noch abwehren. Am Ende siegen die Spanier mit einem dreckigen 1 : 0. Fassungslos kniet Robben auf dem Rasen in Johannesburg, die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, die Augen vor Schreck wie bei einem Unfallopfer weit aufgerissen. Noch heute träumt der Flügelflitzer von diesem Unfall im WMFinale 2010, der immer noch „wie ein Film abläuft“, sagt er. Immer und immer wieder. Ebenso wie der Streifen vom zweiten Albtraum, dem verlorenen Champions-League-Finale mit den Bayern 2012. Die Fans luden ihre Wut auf den egoistischen Turbo auf der Außenbahn ab. „Ego-Shooter“, „Aleinikow“ und die „IchAG“ waren noch die harmloseren Überschriften. Ein Magazin schrieb: „Für ihn ist der Mannschaftskollege der erste Gegner, den er ausschalten muss.“ Vier Jahre später überschlagen sich die SchlagHup zeilen mit Lob. Im ersHolland Hup! ten WM-Spiel schießt Arjen Robben – Robben Spanien fast der bisher allein aus dem Stadion. beste Spieler Er erzielt beim 5 : 1 zwei bei der WM Tore, ist bester Mann auf dem Platz. Die spanische „El País“ schreibt über Robbens One-Man-Show: „Der Kollaps war für Spanien total, ein Inferno. Ein Kataklysmus nach allen Regeln. In einer chaotischen zweiten Halbzeit wurde Spanien vom holländischen Laster im Schlamm abgeladen.“ Kein Wunder, dass Spitzenclubs wie Der holländische Hochgeschwindigkeits-Dribbler Arjen Robben Manchester United & Co. den Super-Dribbler verpflichten wolist der Superstar der WM – nicht Neymar, Messi oder Ronaldo. len. 50 Millionen Euro will ManU Alle Top-Vereine buhlen nun um den Flügelflitzer des FC Bayern für den Bayern-Spieler überwei- Der weltbeste Dickschädel 136 FOCUS 26/2014 Fotos: VI Images/imago; Kyodo/dpa sen. Robben interessiert aber nur die WM. „Dafür lebe ich“, so sein knapper Kommentar. Und das recht erfolgreich. Im vergangenen Jahr schoss der 30-Jährige die Bayern zum Champions-League-Sieger, 2014 entschied er das Pokalfinale fast allein gegen Borussia Dortmund. „Seit meinem Tor im Finale von London 2013 fühle ich mich befreit“, sagt er, „und wenn ich gegen Teams wie Spanien spielen darf, kriege ich Gänsehaut.“ Vor seinem Treffer zum 5 : 1 gegen Spanien schaltete der Hochgeschwindigkeits-Dribbler auf 37 Stundenkilometer. Damit ließ der „Turbolader“ und „Teilchenbeschleuniger“ (FAZ) den Weltklasse-Verteidiger Sergio Ramos wie einen Kicker aus der C-Jugend stehen. Laut offizieller Fifa-Statistik gab es in der 84-jährigen WMHistorie keinen Fußballer, der je schneller über den Rasen sprintete. Zum Vergleich: 100-MeterWeltrekordler Usain Bolt kam bei seinem Olympiasieg in London auf 43 km/h Höchstgeschwindigkeit – ohne Ball am Fuß und auf einer Rennbahn. „Arjen ist auf einem Level mit Weltklassespielern wie Messi, Neymar und Ronaldo“, sagt Bayern-Sportvorstand Matthias Sammer. Brutale Revanche Robben tanzt erst die spanischen Verteidiger, dann Iker Casillas zum 5 : 1 aus. Eine Genugtuung: Robben scheiterte beim verlorenen WMFinale 2010 mehrmals am iberischen Keeper Turbolader Arjen Robben, 30 Der Flügelflitzer aus Groningen wurde in vier Ländern Meister, gewann 2013 mit dem FC Bayern die Champions League. Der Edeltechniker ist laut Star-Trainer José Mourinho der weltbeste „Eins-gegeneins-Spieler“. Er habe ungeheures Tempo, Überblick und könne wie kein anderer den finalen Pass spielen. In seiner Heimat hat der Dauerrenner Dauerglück ausgelöst, vor allem im „Robben-Café“, einer – natürlich – orange leuchtenden Kneipe im 10 000-SeelenÖrtchen Bedum nahe Groningen. Hier schauen sich seine Landsleute die Laufduelle ihres Nationalhelden an. Wer Robben richtig kennen lernen will, muss den Ort wie FOCUS besucht haben. In der Togtemaarschool begegnet man Robben sofort. Über eine ganze Wand im Eingangsbereich der Grundschule verteilt, hängen Trikots der Clubs, für die der Superstar gespielt hat. Die Selbermachen Media GmbH, Neumann-Reichardt-Straße 27-33, 22041 Hamburg Focus2614_SeMaKiosk_1-3q_Layout 1 06.06.14 10:45 Seite 1 Packen Sie es an! Die neue SELBER MACHEN ist da – mit kreativen Ideen fu ̈r Ihr Zuhause und praktischen Schritt-fu ̈r-Schritt-Anleitungen. Bauen, Gestalten, Renovieren – ab sofort auf 100 Seiten! Abo mit Prämie bestellen unter www.selbermachen.de/praemie Leibchen vom FC Groningen, PSV Eindhoven, Chelsea, Madrid und München hat er persönlich vorbeigebracht. „Arjen ist oft hier“, sagt sein Ex-Lehrer Wim Heemstra und denkt gern an einen Jungen, der immer gewinnen wollte. Egal, ob im Schach, Tennis oder Fußball. Verlor er, drehte er durch. „Mein Charakter hat mich weit gebracht. Ich wollte immer der Beste, der Gescheiteste, der Schnellste sein“, sagt Robben. Diese Eigenschaften haben ihn viel erreichen lassen. Robben: „Ich finde es nicht schlimm, viel von sich zu verlangen.“ 138 Die Hochgeschwindigkeits-Dribbler Die schnellsten Fußballspieler der Welt Angaben in km/h Arjen Robben Niederlande Antonio Valencia Ecuador Gareth Bale Wales Aaron Lennon England Cristiano Ronaldo Portugal Theo Walcott England Lionel Messi Argentinien Wayne Rooney England Den Weltrekord als der international schnellste Kicker stellte Robben bei der WM in Brasilien mit 37 km/h auf Familienglück auf der Wiesn Bayern-Spieler Arjen Robben mit Frau Bernadien und den Kindern vor der „Käfer Wies’n Schänke“ auf dem Münchner Oktoberfest 2013 37,0 35,1 34,7 33,8 33,6 32,7 32,5 31,2 „Er war auf dem Platz immer schon sehr eigensinnig, und es interessierte ihn auch nicht, was andere dazu sagten“, so sein ExTrainer Jan van Dijk. Robben hat immer nur ein Ziel: an der rechten Außenbahn mit dem Ball entlangsprinten, nach innen ziehen, schießen, jubeln. Geht der Plan mal nicht auf, dringt der Schwalbenkönig in den Strafraum und lässt sich fallen. „Arjen macht eben alles, um zu gewinnen“, rechtfertigt sich Ex-Mannschaftskollege Visser für seinen Kumpel. Auf fiese Tricks ist Robben aber nicht mehr angewiesen. Seit er eine längere Zeit ohne Blessuren durchspielen kann, kann er sich ganz auf sein Potenzial verlassen. Früher galt Robben als „Mann aus Glas“, als ein Fußballer, der die Verletzungen wie ein Magnet anzieht. Robben brach sich zwei Mittelfußknochen, hatte einen Bänderriss, einen Muskelriss, eine weiche Leiste, mehrere Knieoperationen. Jetzt aber rast er dank Bayern-Doc Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt und seines niederländischen Wunderheilers Hub Westhovens schmerzfrei durch die Stadien. „Je älter ich werde, desto fitter bin ich – und deshalb wird die WM auch nicht mein letztes großes Turnier sein“, verspricht er. In Brasilien profitiert er von einer völlig neuen niederländischen Fußball-Philosophie. Statt in einer 4-3-3-Formation laufen die Oranje-Kicker nun in einem kompakteren 5-3-2 auf. Robben muss sich nicht mehr um die lästige Defensivarbeit kümmern, er kann sich ganz auf seine Sturmläufe konzentrieren. Vorn bildet er mit Mittelfeld-Knirps Wesley Sneijder und Super-Knipser Robin van Persie ein „goldenes Dreieck“. „Wenn wir als Mannschaft funktionieren, können wir drei den Unterschied ausmachen“, sagt Robben, der bisher beste Spieler des Turniers in Brasilien. Und wenn nicht, macht er ihn halt allein aus. ■ ANDREAS HASLAUER / FRANK LEHMKUHL / SIEB OOSTINDIE FOCUS 26/2014 Fotos: Alexander Hassenstein/Bongarts/Getty Images; Berthold Stadler/ddp images Holländische Glückseligkeit Die drei Niederländer Mark van Bommel (Kapitän), Coach Louis van Gaal und Arjen Robben feiern die 22. Meisterschaft des FC Bayern bei Hertha BSC Berlin Quelle:Fifa Bedum sieht aus, als hätte ein Maler ein niederländisches Klischee-Ölbildchen in die Landschaft gepinselt: überall Grachten, Windmühlen, Fahrradfahrer. Robbens Eltern haben dieses Idyll nie verlassen. Sein Vater Hans arbeitet nebenher als sein Manager und hauptberuflich als Gymnastiklehrer. Mutter Marjo hat einen Job im Postamt. Als ihr Sohn klein war, bugsierte er Tennisbälle durch den heimischen Garten und eignete sich damit schnell seine grandiose Technik an. Hans Robben meldete den Zwerg beim VV Bedum an, wo dieser sich immer schon am Mittelkreis den Ball schnappte, alle Kontrahenten einfach überrannte und die Kugel mit dem linken Fuß ins Netz drosch – 100-mal in der Saison. Luit Zwaneveld, Scout vom FC Groningen, entdeckte das Riesentalent und holte es in die gut zehn Kilometer entfernte Universitätsstadt. „Stolz muss ich auf diesen Fang allerdings nicht sein, denn selbst meine Omi hätte gemerkt, dass Arjen ein Riesenkicker werden würde“, sagt Zwaneveld. Irgendwann saß Leo Beenhakker im Wohnzimmer der Robbens, Sportdirektor von Ajax Amsterdam und niederländische Trainerlegende. „Hallo, Mädel, hast du für mich eine Tasse Kaffee?“, fragte Beenhakker Marjo Robben mit der Arroganz eines Großkotzes. Als er dann noch einen Vertrag auf den Tisch legte, auf dem der Vorname des jungen Fußballers falsch geschrieben war, entschieden die Robbens, dass das Supertalent nie für Ajax spielen wird. Als 18-Jähriger ging Arjen Robben zum Ajax-Konkurrenten PSV Eindhoven. „Er tat wirklich alles, um sich jeden Tag weiterzuentwickeln“, erzählt sein einstiger Groninger Teamkollege Hans Visser. Nach den Trainingseinheiten blieben Visser und Robben gemeinsam auf dem Platz, übten Freistöße und trainierten noch stundenlang weiter. Robbens Ziel: besser werden, besser werden als alle anderen. www.focus.de Nr. 27/14 30. Juni 2014 GÜNTER GRASS ÜBER NAZIS UND HEUCHLER MERCEDES Neue Luxus-Offensive: S-Klasse mit sechs Türen BESTER FREUND Wie ein Hund das Leben glücklicher, chaotischer und gesünder macht Ratgeber Welche Hunderasse passt zu mir? Hilfe Die besten Erziehungstipps von Martin Rütter TerrorNetzwerk in Deutschland Linksradikaler Bombenleger kämpft jetzt für Islamisten SPORT Berufsverbot für den Beißer Luis Suárez beißt Giorgio Chiellini in die Schulter. Die Fifa sperrt den SkandalStürmer aus Uruguay daraufhin für neun Pflichtspiele – und vier Monate. Zur neuen Saison darf der LiverpoolKnipser weder am Training teilnehmen noch ein Spiel im Stadion verfolgen 122 FOCUS 27/2014 Kratzen, beißen, spucken! Bei der WM drehen manche Spieler komplett durch. Hans van Breukelen, Hollands Wüterich im Tor, schreibt in FOCUS über die größten Ausraster. Auch seine eigenen . . . Von Hans van Breukelen Fotos: Moritz Müller/imago, PLANET PHOTOS, dpa (2), ullstein bild, Bongarts/Getty Images D er Typ ist doch krank! Auf dem Platz kann man ja wirklich vieles machen. Man kann polarisieren, den Gegner provozieren, ihn sogar zur Weißglut treiben. Den Gegenspieler aber beißen, das geht nun echt nicht. Uruguays Skandal-Stürmer Luis Suárez, der in der Vorrunde Italiens Verteidiger Giorgio Chiellini in die Schulter biss, hat nicht nur sich einen Bärendienst erwiesen. Nein, er hat seinem ganzen Land einen riesigen Imageschaden zugefügt – zumal der Uru-Star nach 2010 bei Ajax Amsterdam und 2013 bei Liverpool schon zum dritten Mal zuschnappte. Unter einem Tor-Krokodil verstehe ich nun wirklich etwas anderes. Im Ernst: Suárez, der Wiederholungstäter, muss unbedingt in ärztliche Behandlung – oder am besten gleich zum Psychiater. FOCUS 27/2014 umacher zosen 2 den Fran 8 19 t g lä h sc usreif krankenha n to is tt a trick B derländer 1 Der Nie 90 ard rotzt 19 a k ij R k n ra F k r ins Genic Rudi Völle ch 2 Toni S Pa eigt ffenberg z Fans eutschen d n e d 4 9 19 finger den Stinke im Stadion Zidane o 2006 Marc kopfstoßt unstin Kampfk Materazzi der Manier nie ine 3 Zined 1 Ekelhaft Es ist wohl die ekligste Szene der WM-Geschichte. Der Niederländer Frank Rijkaard bespuckt 1990 Rudi Völler. Rijkaards lapidare Begründung: „Ich hatte persönliche Probleme.“ 2 nE 4 Stefa Brutal Toni Schumacher rennt 1982 Patrick Battiston über den Haufen. Diagnose: Gehirnerschütterung, Wirbelbruch. Die französischen Zeitungen beschimpfen Schumacher als „Mini-Hitler“. 3 Unfassbar Marco Materazzi soll Zinedine Zidane „Sohn einer TerroristenHure“ genannt haben. Daraufhin dreht der französische Edeltechniker durch, rammt den ItalienVerteidiger mit einem Kopfstoß nieder. 4 Dumm Die Reaktion von Stefan Effenberg auf die „Effe raus!“-Rufe kam 1994 prompt: Er zeigte den Fans den Stinkefinger. Schnell war auch die Entscheidung des DFB. Sie schickten ihn sofort nach Hause. 123 Raufbold im Kasten Ich muss aber zugeben: Als Torwart der niederländischen Nationalmannschaft habe ich auch das ein oder andere Mal die Grenze überschritten, nie jedoch eine rote Karte bekommen. Verletzt habe ich ohnehin niemanden, schließlich wusste ich, dass Millionen von Kindern und Jugendlichen vor dem Fernseher sitzen. Die Selbstbeherrschung habe ich trotzdem gegen Deutschland mal verloren. Als unser Abwehrspieler Adri van Tiggelen den Deutschen Lothar Matthäus foulte, war ich mit dem Freistoß – sagen wir es diplomatisch – nicht ganz so einverstanden. Ich habe mich über Matthäus gebeugt und ihn angeschrien: „Ich hoffe, dass du focking sterbst!“ Übersetzt heißt das in etwa: „Ich hoffe, dass du wie ein Viech elendig verreckst!“ Das war dann weniger diplomatisch. Nicht viel besser war aber Ronald Koeman. Ronald wischte sich nach dem Spiel den Hintern mit dem Trikot des deutschen Mittelfeldspielers Olaf Thon ab. Auf die Aktion bin ich natürlich nicht stolz. Ich schäme mich sogar dafür bis heute. 124 Die Sache mit Lothar habe ich schnell aus der Welt geschafft. Wir haben uns auf einer Sportartikelmesse in München getroffen, und ich habe mich bei ihm entschuldigt. Er hat die Entschuldigung wie ein richtiger Sportsmann auch sofort angenommen. Bei dem Treffen habe ich ihm allerdings klipp und klar gesagt: „Lothar, in einem Interview hast du vor Kurzem erzählt, dass ich dich mit einer Kriegsaussage provoziert hätte. Tu mir bitte einen Gefallen und behaupte das nie wieder. Du weißt, dass das Bullshit ist und kein Wort davon stimmt!“ Zu meinem damaligen Kontrollverlust muss ich zwei Dinge sagen: Erstens war ich auf dem Rasen immer ein völlig anderer Mensch. Sobald ich mein orangefarbenes Trikot mit den drei Löwen anzog, wollte ich immer nur eines: gewinnen, gewinnen, gewinnen! Um alles in der Welt. Dafür habe ich wirklich nichts ausgelassen. Zweitens war das WM-Achtelfinalspiel 1990 gegen Deutschland eine Ausnahmesituation. Wir Holländer litten immer noch unter der WM-Niederlage von Hans van Breukelen, 57 Der niederländische Torwart war in der legendären Raufbold-Generation mit Koeman & Co. Ronald Koeman wischte sich mit dem Deutschland-Trikot von Olaf Thon den Hintern ab, Frank Rijkaard bespuckte Mittelstürmer Rudi Völler bei der WM 1990 in Italien. Der Wüstling war aber auch ein klasse Torwart, hielt im Finale 1988 einen Elfmeter und wurde Europameister. 1974 gegen die Deutschen, waren noch nie Weltmeister geworden. Hinzu kam, dass wir in unserem Heimatland als die sogenannte „Patat-Generation“ galten: kein Rückgrat, keine Mentalität, keine Willensstärke. Wir galten also nur als die Typen, die an der PommesBude herumhingen. Johan Cruyff und die ganze goldene Generation der 70er-Jahre nannten uns despektierlich immer wieder nur „Patat-Generation“. Deswegen hatten wir ja alle gegen die Deutschen die Messer gewetzt. Wir wollten es Cruyff & Co. zeigen! Im Nachhinein waren wir dann wohl doch ein wenig übermotiviert. Heute kann ich über meinen Ausraster aber auch schmunzeln. Ich kann mich noch gut erinnern, dass ich mit meinem Deutschlehrer über die Matthäus-Geschichte damals sprach. Er sagte: „Hans, es tut mir leid, dass ich dir in der Schule in Deutsch eine Zwei gegeben habe. Es hätte ,stirbst‘ und nicht ,sterbst‘ heißen müssen.“ Man darf bei der (berechtigten) Kritik an dem Stinkefinger von Effenberg oder dem BrutaloKopfstoß von Zidane eines aber nicht vergessen: Im Gegensatz zu den Spielen der Hobbysportler verfolgen Milliarden Menschen ein WM-Spiel, wir stehen also ständig unter Beobachtung. Der Druck ist unmenschlich. Ich habe ja nie für mich gespielt, sondern für meine Familie und 17 Millionen Landsleute. Wenn wir also auf das grüne Schlachtfeld laufen, sind wir bis zum Hals mit Adrenalin vollgepumpt. Eine Ausrede für die Ausraster darf es trotzdem nicht sein. Wenn ich im Anschluss an ein Spiel die Bilder von mir im Fernsehen gesehen habe, dachte ich immer: Wer ist der Irre im Tor? So dürfte es auch allen anderen gehen, die auf dem Platz durchgedreht sind. Die Schlaumeier sagen immer: Ein Profi darf nie die Selbstbeherrschung verlieren. Ich antworte dann: „Geh doch mal raus zu den 80 000 Leuten im Stadion und bleib ganz ruhig, wenn dein Land gerade untergeht.“ ■ FOCUS 27/2014 Foto: VI Images/Getty Images eeper van Holland-K us: zu Matthä n le e k u re B ie ein dass du w „Ich hoffe, kst!“ dig verrec n le e h c ie V WM-Überraschung: Viva la Revolución? Neue Machtverhältnisse im Weltfußball. Noch nie erreichten so viele Teams aus Lateinamerika das Achtelfinale. Die Gründe L ukas Podolski streckt in den Katakomben von Recife die Brust raus, fixiert den FOCUS-Reporter und haut nach dem 1 : 0 der Deutschen gegen die amerikanischen Klinsmänner eine Kampfansage raus: „Spielerisch haben wir es voll drauf. Deswegen machen mir die südamerikanischen Mannschaften überhaupt keine Sorgen“, so der kraftstrotzende Poldi. Deutschlands Gute-Laune-Kicker auf der linken Außenbahn hat mit den kernigen Worten die Jagd auf den WM-Pokal nun endgültig eröffnet. Bislang überzeugten auf dem grünen Schlachtfeld vor allem die Kampfmaschinen und Dribbelkünstler aus Lateinamerika. 126 Mexikanischer Jubelkönig Mexikos Trainer Miguel Herrera – wegen seiner Körpergröße von 1,68 Metern „die Laus“ genannt – gerät nach jedem Treffer seines Teams in Ekstase Sieben von neun Teams haben das Achtelfinale erreicht – noch nie qualifizierten sich so viele lateinamerikanische Länder für die K.-o.-Phase. Das gelang weder den Asiaten noch den Afrikanern. Selbst Außenseiter wie Costa Rica schafften nun die Vorrunde ohne Niederlage. „Wir überzeugen einfach mit Einsatz, Kameradschaft, Taktik und Laufbereitschaft“, sagt Júnior Díaz, Abwehrspieler bei Costa Rica und beim Fußball-Bundesligisten Mainz 05. „Bei uns weiß jeder Spieler: Wir können jeden schlagen!“ Verwundert darüber, dass Uruguay, Chile & Co. einen bezaubernden Fußball spielen, ist Díaz nicht. „Der Rest der Welt hat einfach nicht aufgepasst“, so der selbstbewusste Verteidiger. Eigentlich dürfte nach den beeindruckenden Qualifikationsspielen der Kolumbianer, Mexikaner und Argentinier „niemand überrascht sein“. Unterdessen mussten nach der Gruppenphase sieben von 13 europäischen Teams die Koffer packen. Darunter WeltmeisFOCUS 27/2014 Fotos: Dennis Grombkowsk/FIFA/Getty Images, Eddie Keogh/Reuters Kollektiver Glückstaumel Die Kolumbianer zelebrieren ihren Torjubel mit Tanzeinlagen Sport-News Mit Vollgas auf zwei 8000er 128 Die südamerikanischen Mannschaften kommen mit dem BrasilienKlima besser zurecht“ Bundestrainer Joachim Löw fußball – auch weil sie durch eine knüppelharte Qualifikation mussten. „Die Quali ist bei uns wie Krieg“, stöhnt Brasiliens Ex-Star Kaká. Zehn Teams kämpfen in einer Gruppe um vier WM-Plätze. Dass die Stars der Amerikaner ihre europäischen Gegner bestens kennen, liegt an ihrer Ausbildung in den Nachwuchsschulen Barcelonas, Mailands oder Londons. Hinterher bleiben die Jungs gleich in Europa. Chiles Superdribbler Alexis Sánchez beim FC Barcelona, Kolumbiens James Rodríguez bei Monaco. Kann Deutschland die Dominanz brechen? Die Statistik macht wenig Mut. Noch nie hat ein europäisches Team bei den sechs Weltturnieren in Süd- und Mittelamerika triumphiert. Weltmeister Olaf Thon glaubt dennoch, dass es Löws Truppe jetzt gelingen kann: „Die deutsche Mannschaft kann den Titel holen.“ Deutschland verfüge über die Ausdauer, die Technik, die mentale Stärke und die Erfahrung. Das fehlt den Lateinamerikanern. Die Brasilianer gewannen zuletzt 2002 den WM-Titel, Argentinien 1986, Uruguay 1950. ■ A. HASLAUER / F. LEHMKUHL / Böhm „Neue Dimension des Speedbergsteigens“ lin-Junkie Böhm zwölf bis 14 Stunden. „Damit stoßen wir in eine neue Dimension des Speedbergsteigens vor“, sagt Böhm. Am 20. August startet er Richtung Himalaja. Sein Ziel: der 8013 Meter hohe Shisha Pangma, der „Platz der Heiligen“, und der Cho Oyu, die „Göttin in Türkis“, stolze 8201 Meter. Böhm scheint selbst diese Ultra-Herausforderung nicht zu reichen. Mit dem Rad fährt er die 170 Kilometer lange Schotterpiste von einem Achttausender zum anderen. Das Training ist derzeit ganz auf den Höllen-Trip ausgerichtet: 10 000 Höhenmeter macht der zweifache Familienvater und Chef von 350 Dynafit-Angestellten. Jede Woche, versteht sich. has A. WOLFSGRUBER FOCUS 27/2014 Fotos: Alex Livesey/FIFA/Getty Images, Michael Meisl ter Spanien, Ex-Campione Italien, England und Portugal, immerhin Vierter der Fifa-Weltrangliste. Die Frage ist nun: Ist das nur ein Strohfeuer der Amerika-Combos im brütend heißen Brasilien? Oder spielen die Teams aus Uruguay, Chile & Co. einen nachhaltig guten Fußball? „Die Mannschaften kommen offenbar mit den klimatischen Bedingungen besser zurecht als europäische“, begründet Bundestrainer Joachim Löw den Höhenflug der Südamerikaner. Tatsächlich ist eine Luftfeuchte von über 80 Prozent mit Temperaturen von über 30 Grad Celsius die Regel. „Die Bedingungen sind hart, da kann man normalerweise nicht die ganze Zeit rauf- und runterrennen“, weiß Pierre Littbarski, Weltmeister 1990. „Viele Südamerikaner können es dennoch, weil sie auch die Extraportion Leidenschaft mitbringen, die manchem Europäer fehlt.“Auf diese Weise avancierte der Chilene Marcelo Díaz zum Top-Läufer des Turniers – er spulte bis Freitag rund 37 Kilometer ab. Die Power in den Beinen ist aber nur ein Teil der Wahrheit. Viele lateinamerikanische Teams sind taktisch voll auf der Höhe, spielen einen überfallartigen Konter- Es müllert wieder Bayern-Stürmer Thomas Müller (2. v. rechts) ist mit bislang vier Toren der Garant für deutsche Erfolge. Hier feiert er sein 1 : 0 gegen die USA mit Kroos, Klose und Höwedes Der Extrembergsteiger Benedikt Böhm, der ohne Zwischenstopps auf die höchsten Berge dieser Welt rennt und mit Skiern abfährt, fühlt sich mit der Besteigung eines Achttausenders unterfordert. Deswegen will der Buchautor („Im Angesicht des Manaslu. Speedbergsteigen in der Todeszone“) gleich zwei Achttausender erklimmen – in sieben Tagen! „Normale“ Bergsteiger brauchen eine ganze Woche dafür, Adrena- www.focus.de Nr. 28/14 07. Juli 2014 ENTHÜLLT WIE TÜRKISCHE BEHÖRDEN ISIS-TERRORISTEN HELFEN CRYSTAL METH Der SPD-Politiker und die Killer-Droge Qualität, Titel, Preise StreamingDienste im Vergleich Der Sound Ihres Lebens! So einfach und günstig holen Sie sich Ihre Lieblingsmusik aus dem Netz SPORT Vollstreckender Verteidiger Mats Hummels, 25 Seine Job-Beschreibung als Aufräumer in der Abwehr lautet: Tore verhindern. Das hat der Innenverteidiger im Viertelfinale gegen Frankreich auch gemacht. Und vorn hat noch eines geschossen 108 FOCUS 28/2014 Die Reifeprüfung Im WM-Halbfinale gegen Brasilien muss die deutsche Elf zeigen, dass sie wirklich erwachsen geworden ist. Und ihr abgezocktes Spiel auch System hat Foto: Mike Hewitt/FIFA via Getty Images A cht aufregende Jahre haben sie gebraucht, um erwachsen zu werden. Jetzt fehlen nur noch zwei Spiele bis zur Legende. Im Fußball spricht man gern von einer Goldenen Generation, wenn sich eine solche Menge an Ausnahmetalenten zum Kicken versammelt. Sie heißen Schweinsteiger, Podolski, Mertesacker, Klose und Lahm, und bisher war es ihr Fluch, am Ende doch immer ohne Pokal heimfliegen zu müssen. Brasilien 2014 – das ist nun die ultimative Reifeprüfung für die deutsche Fußball-Nationalmannschaft. Im Spiel gegen Frankreich lehnte sich Jogi Löw auf seiner Trainerbank dermaßen gelassen zurück, dass man dachte, er würde sich jeden Moment noch eine Marlboro light anzünden. Tiefenentspannt. Er saß da wie ein Vater, der seinen Kindern beim Größerwerden zusieht. Und das ist auch die Geschichte dieser DFB-Elf: Am Anfang war alles federleicht, so wie damals beim deutschen Sommermärchen 2006, dann ein bisschen Rock ’n’ Roll wie 2010 in Südafrika. Und jetzt ist alles etwas zäher, sperriger, nervenaufreibender – dafür aber auch souveräner. Routiniert. „Wir haben im Vergleich zu 2010 eine bessere Mannschaft“, sagt Stürmer Thomas Müller zu FOCUS. In Südafrika faszinierte das Team die ganze Welt mit spektakulärem Konter-Fußball. Wild und fast anarchisch. Alle Mann stürmten nach vorn, koste es, was es wolle. Es kostete eine Menge Gegentore und das Aus gegen Weltmeister Spanien. „Heute können wir ein Spiel von hinten heraus aufziehen. Damals fehlte uns noch die spielerische Klasse. Mittlerweile sind wir sogar eine ganz andere Mannschaft, spielen viel souveräner und abgeklärter“, so Müller. Und genau deshalb steht sie auch am Dienstag im Halbfinale gegen Brasilien. Die nackten Zahlen belegen, dass die Kritik ungerechtfertigt ist. 115 der 137 Tore seit der WM 2010 fielen aus dem Spiel heraus und nicht nach Standardsituationen – das sind 84 Prozent aller Treffer. Ein Rekordwert in der globalen Fußballwelt. Und der Nachweis, dass Fußballästhetik und Erfolg einander nicht ausschließen. Seit Joachim Löws Amtsantritt 2006 gewann die deutsche Mannschaft 68 Prozent ihrer Spiele. So eine Erfolgsquote gab es in der 113-jährigen DFB-Geschichte unter keinem Bundestrainer. Seit 2002 steht die Nationalelf zum vierten Mal hintereinander im Halbfinale. Eine weltweit einzigartige Bilanz. Frank Wormuth ist Deutschlands oberster Fußball-Lehrer beim DFB. Er sagt: „Die Menschen und auch die Medien sollten eines nicht vergessen: Fußball ist kein Wunschkonzert!“ Rennpferde und Dirigenten Touchmap Thomas Müller Spiel: Frankreich – Deutschland Müller, das Lungenwunder Individualspieler Thomas Müller rennt – und winkt so lange nach Bällen – bis der Schiedsrichter abpfeift Touchmap Bastian Schweinsteiger Spiel: Frankreich – Deutschland Schweini, der Strippenzieher Er ist seit Jahren der Denker und Lenker der deutschen Nationalmannschaft: Bastian Schweinsteiger Quelle: Opta Sports 109 110 Hier geht es lang! Die Marschrichtung von Bundstrainer Joachim Löw gegen Frankreich war richtig: erst den Ball sicher halten, dann zuschlagen. Einzig die Chancenverwertung war dürftig Schlüsselspieler Speed-Dribbler Touchmap Arien Robben Spiel: Niederlande – Mexiko Arjen Robben, den Blitz auf der rechten Außenbahn, zieht es wie beim FC Bayern auch auf die linke Seite. Ihn zu stoppen ist schwer: In Brasilien stellte der Niederländer mit 37 km/h einen WM-Rekord auf One-Man-Show Touchmap Neymar Spiel: Brasilien – Chile Das Spiel der Brasilianer hing bislang am Geschick von Neymar. Deshalb ist der Ausfall des Superstars wegen eines im Spiel gegen Kolumbien erlittenen Wirbelbruchs für Brasilien eine Katastrophe. Quelle: Opta Sports dem Zettel. Allerdings gelang nur bei jeder siebten Chance auch der Treffer. „Wir müssen unsere Effizienz verbessern“, fordert der ehemalige DFB-Knipser Bierhoff. „Seit 2010 setzen wir auf den Spaßfaktor. Das ist eine Generation, die noch mal querlegt und den anderen das Tor machen lässt.“ Stürmer Müller relativiert das Bild der verpassten Gelegenheiten: „Wenn du viele Torchancen hast, hast du auch viele Möglichkeiten, welche zu vergeben.“ Dem stimmt DFBMann Wormuth zu. „Allerdings wäre es für uns Zuschauer doch weniger nervenaufreibend, wenn die Mannschaft den Sack früher zumachen würde.“ Thomas Strunz, der 1996 bei der EM den letzten Titel für Deutschland holte, ist aber immer noch nicht von Löws Truppe überzeugt. „Eigentlich bin ich von der Mannschaft enttäuscht. Sie konnte mich bisher weder taktisch noch spielerisch überzeugen“, nörgelt Strunz. Die Mannschaft spiele viel zu langsam, viel zu statisch. Bei der WM 2010 war das noch ganz anders. Strunz sagt: „Das war grandioser Vollgas-Fußball. In Brasilien hatte man den Eindruck, dass die Spieler gar nicht offensiv spielen und denken sollen.“ Die Mannschaft ist allmählich genervt von der Kritik aus der über 9000 Kilometer entfernten Heimat. „Ich will nicht Weltmeister werden und sagen: ,Sorry, dass wir das Finale nur mit einem Tor Unterschied gewonnen haben‘“, grantelt Müller. Der Titel – nur der zählt. „In unserer Kabine hängt immer ein Trikot, auf dem alle noch lebenden Weltmeister aus Deutschland unterschrieben haben. Das haben wir dort zur Motivation aufgehängt“, verrät André Schürrle. Wenn sie am Dienstag gewinnen, hatte Podolski doch Recht. Der sagte vor Wochen, dass die Zeit kommen wird, in der die Gegner sagen: „Wow, seht her, die Deutschen, die sind da!“ ■ A. HASLAUER / A. WOLFSGRUBER FOCUS 28/2014 Foto: Matthias Schrader/dpa Man kann nicht immer Kantersiege wie bei der WM 2010 gegen England und Argentinien erwarten. Dafür sind die Gegner mittlerweile viel zu gut, sowohl taktisch als auch spielerisch. Löws Ziel ist ja auch, den Ball in den eigenen Reihen zu halten und den Gegner auszuspielen. Und zur Kritik, dass das Team nicht gut spielen würde, sagt Wormuth: „Die Spanier hatten bei der EM 2012 genau ein gutes Spiel: Das war das Finale. Ansonsten haben sie sich durch das Turnier gemogelt.“ Zudem verweist Deutschlands oberster Taktikfuchs auf die Verletzungssorgen: Gündogan und Reus konnten erst gar nicht nach Brasilien mitfliegen – Klose, Schweinsteiger und Khedira kamen ohne Spielpraxis an und haben sich erst jetzt gegen Frankreich ins Turnier gespielt. Für ihn ist Deutschland reif für den Titel. Auch Arsène Wenger, Trainer der Arsenal-Spieler Özil, Podolski und Mertesacker, glaubt wegen der vielen deutschen Schlüsselspieler an einen Alemanha-Erfolg in Brasilien. „Ein Müller, ein Özil oder auch ein Götze können alleine ein Spiel entscheiden.“ So viele Individualkünstler hat keine Mannschaft. Die Argentinier? Von Messi abhängig, die Brasilianer von Neymar. „Das Team ist sich der eigenen Stärke bewusst“, sagt DFBManager Oliver Bierhoff. Zu ihren großen Pluspunkten zählt neben der Abgezocktheit vor allem die kämpferische Haltung. „Von Spiel zu Spiel hat Deutschland den Kampf mehr angenommen“, meint Ex-Nationalspieler Jens Nowotny. „Vor allem Schweinsteiger hat Maßstäbe für die Kollegen gesetzt“, lobt Ex-Abwehrmann Nowotny den deutschen Mittel-Feldherrn. Die Deutschen erspielen sich eine ungewöhnliche Menge an Torchancen. Mehr als ein Dutzend besitzt das Team in jedem Spiel. Gegen Algerien zählten die Statistiker 29 Schüsse, von denen 22 auf das Tor flogen. Gegen die USA standen 13 Torschüsse auf Per der Große Per Mertesacker, 29 Der 1,98 Meter große Verteidiger von Arsenal London, der in England nur „BFG“ (Big Fucking German) genannt wird, schnauzte nach dem Algerien-Spiel einen Reporter an: „Wat wolln Se? Glauben Sie, unter den letzten 16 ist eine Karnevalstruppe? Ich leg mich jetzt erst mal drei Tage in die Eistonne.“ VIDEO Seite scannen mit FOCUS ACTIVE APP Per Mertesacker im ZDF-Interview 112 FOCUS 28/2014 „Wir wollen gar keinen Hurra-Fußball spielen!“ Deutschlands Abwehrchef Per Mertesacker spricht nicht gern mit Reportern. Das haben Millionen im TV gesehen. Im FOCUS-Interview war er ganz friedlich. Und erstaunlich redselig Herr Mertesacker, das Viertelfinale gegen Frankreich erlebten sie als Ersatzmann. Wie schrecklich war das? Ich habe es in der Nacht vor dem Spiel erfahren. Die Nacht war nicht einfach für mich. Alle haben eine Berechtigung zu spielen, und jeder wird gebraucht. Jetzt habe ich erlebt, wie sensationell die Bank mitfiebert und unterstützt. Hat mich verblüfft, wie gut die allgemeine Stimmung im Hintergrund ist. Wie jeder für jeden da ist. Man wird Weltmeister nicht nur auf dem Platz, sondern auch auf der Bank. Die wahre Stärke eines Team liegt auch darin, anderen etwas zu gönnen und selbst zurückzustecken. Die Szene, wie Sie nach dem Spiel zuvor ZDF-Mann Boris Büchler anblafften, ist jetzt schon legendär. Fotos: Joe Giddens/dpa, facebook Auf Facebook habe ich ja schon geschrieben, dass Emotionen einfach zum Fußball gehören, auch direkt nach dem Spiel. Mehr gibt es zu diesem Thema eigentlich nicht zu sagen. Lassen Sie uns lieber über das nächste Spiel sprechen. Das ist am Dienstag in Belo Horizonte gegen Gastgeber Brasilien. Dort werden Sie vor 60 000 begeisterten Zuschauern auflaufen. Ursprünglich kommen Sie aus dem beschaulichen 15 000-EinwohnerStädtchen Pattensen. Fühlt sich die WM-Atmosphäre trotz vieler ProfiJahre immer noch unglaublich an? Vor so vielen Menschen spielen zu dürfen ist wirklich der Wahnsinn. Ein absolutes Privileg. Ich rufe mir oft in Erinnerung, dass das eine wunderschöne Sache ist, die ich ausüben darf, und dass ich FOCUS 28/2014 30 Grad Celsius und gut 70 Prozent Luftfeuchtigkeit sind ein Albtraum. Vorteil Brasilien? es geschafft habe, mit viel Arbeit und Einsatz bei meiner dritten Weltmeisterschaft mitzuspielen. 2010 war die WM in Südafrika von Vollgas- und Konter-Fußball geprägt. Wie bewerten Sie das Niveau der WM 2014? Ich finde die Mentalität der Teams beeindruckend. Alle Mannschaften agieren kämpferisch und läuferisch auf extrem hohem Level. Gerade die südamerikanischen Teams haben positiv überrascht. Wer bei dieser Weltmeisterschaft seinen Stiefel nur runterspielen wollte, war schnell aus dem Turnier raus. Wir haben versucht, uns von der südamerikanischen Mentalität eine Scheibe abzuschneiden. Mentalität ist das eine, das andere sind die klimatischen Bedingungen. In der Eistonne stecken Per Mertesacker (r.) und Kollege Benedikt Höwedes, um die Muskeln zu regenerieren. Die Überschrift zu Mertesackers Facebook-Eintrag: „Deutsche Eiche“ Südamerikaner gehen mit dem Klima einfach so um, wie sie es von Geburt an gewohnt sind. Sie rennen mit Spiel- und Lebensfreude drauflos und besitzen eine große Aggressivität. Sie können auch zum Ende noch mal zulegen. Und da müssen wir auf der Hut sein. Gleichzeitig haben wir eine ganz eigene Spielidee: viel Ballbesitz, hohe Spielkontrolle und kreatives Spiel in die Spitze. Wir wollen gar keinen Hurra-Fußball spielen! Unsere Spielweise ist die Balance. Ist es schwerer, einen Rückstand im brütend heißen Brasilien aufzuholen als in Europa? Beim 2 : 2 gegen Ghana in der Vorrunde lief die deutsche Elf zeitweise einem 1 : 2 hinterher. Ghana war wirklich ein guter Test. In solchen Situationen geht es nur mit Geduld. Aber wir sind ja damals noch mal zurückgekommen. Aber es ist richtig: Wer in Rückstand gerät, hat es bei der Weltmeisterschaft in Brasilien sehr schwer, wieder ins Spiel zu kommen. Der Führungstreffer ist dort mehr als anderswo der Schlüssel zum Erfolg. Worin sehen Sie den größten Unterschied zur WM 2010 in Südafrika? In Südafrika hat es nachts extrem abgekühlt. Hier ist das Klima erdrückend. In Brasilien ist es definitiv körperlich noch anstrengender als vor vier Jahren. Sie gelten als extrem fairer Spieler. Müssen Sie bei dieser WM nicht etwas ruppiger gegen diese abgezockten Stürmer vorgehen? 113 Eine rote Karte bekommt man schneller, als man denkt. Die Stürmer werden immer flinker und wuseliger. Da kann es rasch passieren, dass man zur Notbremse greifen muss und beim nächsten Spiel zuschaut. Einen wie den nach der Gruppenphase suspendierten Uruguayer Luis Suárez kannst du nicht ein ganzes Spiel lang kontrollieren. Solche Spieler riechen die guten Situationen und spielen ekelig. Sie sind nicht berechenbar. Wenn man glaubt, man könnte seine Bewegungen vorausahnen, dann ändert er meist schon die Richtung. In direkte Zweikämpfe zu gehen bringt oft ebenso wenig. Für den Kopf ist es daher besser, dass wir uns gegenseitig das Gefühl geben, in der Abwehr füreinander da zu sein. Stürmer wie Luis Suárez aus Uruguay riechen die guten Situationen und spielen ekelig“ Mertesacker über wuselige Stürmer vom anderen etwas abschauen. Aber es stimmt: Verteidiger sind eher verantwortungsbewusst. Wir haben dieses Pflichtgefühl seit der Jugend gelernt. Wir sind letzter Mann. Ich darf keinen Gegner im Rücken weglaufen lassen. Mir war aber immer wichtig, auch neben dem Platz ruhig, mir selbst treu und bodenständig zu bleiben. Bei der WM 2018 in Russland sind Sie fast 34 Jahre alt. Das ist vielleicht Ihre letzte Chance auf einen WM-Titel. Wie wichtig wäre für Sie jetzt der Finalerfolg? Klar ist unser Ziel, Weltmeister zu werden. Dieses Ziel braucht Ihre jungen Kollegen twittern, was das Zeug hält, haben Millionen von Followers. Sie selbst sind kein großer Freund von Selfies. Ab und zu knipse ich auch welche, weil viele Fans das Gefühl haben wollen, ganz dicht an ihren Stars zu sein. Ich verschließe mich da nicht, aber mache solche Fotos nur direkt nach einem Spiel, wenn wir uns über einen Sieg freuen. Für die Fans ist das schön. Andererseits bleibt bei mir Privates tabu. Vor allem meine Familie lasse ich raus. Die junge Generation von Nationalspielern geht damit spielerischer um. Hat sich die Arbeit eines Verteidigers in den vergangenen Jahren bei der Nationalmannschaft geändert? Grundsätzlich werden früher wie heute die gleichen Dinge trainiert. Es kommt mal etwas Neues im System, aber die Bälle einfach raushauen war damals wie heute verpönt. Wir haben jetzt einen neuen Videoanalysten, einen neuen Analytiker und mehr Statistiken über den Gegner. Die Trainingsarbeit hat sich nicht wesentlich verändert. Neue Spieler im Team und neue Gegner verändern das Spiel auf dem Platz da schon mehr. Besitzen Verteidiger eigentlich einen besonderen Charakter? In unserem Team sind unterschiedliche Typen. Jeder kann sich 114 man als Spieler, um sich nach einer langen Saison noch mal zu motivieren. Ich bin brutal stolz, zum dritten Mal hintereinander ins Halbfinale gekommen zu sein. Diesmal wollen wir natürlich gewinnen. Wenn wir diesen Teamgeist, diesen Kampf als Mannschaft wiederholen, haben wir eine sehr gute Chance auf das Finale. Aber wenn meine sportliche Karriere beendet ist, richte ich den Blick eher auf meine kleine Familie und brauche keine Lobhudeleien, weil ich Weltmeister bin. Ich bin als Mensch auch glücklich, wenn ich keinen WMTitel hole. Ich versuche deshalb, einigermaßen ohne Verletzungen meine Karriere zu beenden, damit ich mit meinen Söhnen im Garten noch Fußball spielen kann. Ich will mich später umso intensiver um die Kinder kümmern. Haben Sie als langjähriger Nationalspieler bei Bundestrainer Joachim Löw ein Mitspracherecht bei Taktik und Aufstellung? Angenehmes Gespräch Andere Reporter werden angeblafft, unser Mann wird in den Arm genommen. Per Mertesacker (r.) und FOCUS-Redakteur Axel Wolfsgruber Kurz hinter dem Kaiser Gegen Frankreich war Mertesacker nur Ersatz – sonst hätte er nach Länderspielen mit Franz Beckenbauer gleichgezogen Rekord-Nationalspieler Name Spiele Lothar Matthäus 150 Miroslav Klose 135 Lukas Podolski 116 Philipp Lahm 111 Jürgen Klinsmann 108 Bastian Schweinsteiger 106 Jürgen Kohler 105 Franz Beckenbauer 103 Per Mertesacker 102 Joachim Streich 102 Thomas Häßler 101 Hans-Jürgen Dörner 100 Ulf Kirsten 100 Michael Ballack 98 Wir sind im ständigen Austausch. Jeder Spieler hat eigene Ideen und Sichtweisen – die müssen wir miteinander verbinden. Erst reden wir Spieler untereinander, dann mit dem Trainer. Wichtig ist, dass sich jeder dabei wohlfühlt und mitmacht. Für diese Art der Kommunikation braucht es Vertrauen – und das haben wir. Bekommen Sie von der Stimmung in Deutschland mit den Hunderttausenden von Leuten beim Public Viewing überhaupt etwas mit? Wir sehen Bilder von begeisterten Anhängern. Aber wenn man nicht dort ist, ist es schwer, das richtig zu fühlen. Hier in Brasilien bekommen wir mehr mit. Noch jubeln uns hier auf den Busfahrten und am Flughafen die Einheimischen zu. Bislang sind alle sehr freundlich. Sie kommen aus den Häusern und winken. Den Menschen gefällt anscheinend, wie wir auftreten und Fußball spielen. Ich bin mal gespannt, wie das aber sein wird, wenn wir im Halbfinale gegen Brasilien spielen. ■ INTERVIEW: AXEL WOLFSGRUBER Quelle: Deutscher Fußball-Bund (DFB) FOCUS 28/2014 Fußball könnte so schön sein – wenn nur dieser Verbalabfall der TV-Kommentatoren nicht wäre. Dieses konstant überdrehte Geplärre Gebt uns Faßbender zurück! Foto: Angelika Pöppel D ie drittdümmste Erfindung der Menschheitsgeschichte ist das sogenannte FieldInterview. Dass sich Bastian Schweinsteiger dem lächerlichquälenden Floskel-Pingpong unmittelbar nach dem Spiel seit einiger Zeit verweigert, ehrt ihn. Und dass Per Mertesacker nach dem zusammengewürgten 2 : 1 gegen Algerien den ZDFPseudo-Schlaumeier Boris Büchler bündig beschied, es sei ihm „völlig wurscht“, was der öffentlich-rechtliche Schweranalyst über die Leistung des deutschen Teams denke. Und hinterherschob: „Was wollen Sie jetzt so kurz nach dem Spiel? Kann ich nicht verstehn. Wat wolln Se? Wolln Se ne erfolgreiche WM, oder solln wir wieder ausscheiden und ham schön gespielt? Also, ich versteh die ganze Fragerei nich“ – das kam im Zuge der infernalischen fußballjournalistischen Endloserniedrigung von Intellekt und Sprache einer Erleuchtung gleich. Wo soll man anfangen, wo nur, um Himmels oder gar Hummels willen? Beim konstant überdrehten Béla Réthy? Bei dem jeder Halbsatz vibriert, jeder Spielername einem Feldherrn gehört, jede Flanke die Welt wagnerianisch in Brand setzt? Was hat ihn geritten, was hat er eingepfiffen? Was soll das, während einer Zeitlupe die Körpergröße eines Akteurs rauszuorgeln? FOCUS 28/2014 Eine gelbe Karte von Jürgen Roth SprachAnalytiker Jürgen Roth, 46 Der Schriftsteller ist glühender Fußballfan und Liebhaber der deutschen Sprache. Grund genug, sich über die Phrasen der Sportkommentatoren aufzuregen. Roth veröffentlichte unter anderem „So werde ich Heribert Faßbender“, zuletzt erschien „Nur noch Fußball“. Oder zu plärren: „Das linke Knie geht weg!“? Oder: „Buffon verhindert das sichere 1 : 0!“? Réthy kann sechs Sprachen und keine richtig. Da unterscheidet er sich allerdings von keinem seiner Kollegen, die samt und sonders nicht mal mehr den richtigen Numerus eines Prädikats kennen. Es heißt: Die USA/die Niederlande spielen von rechts nach links, nicht: Die USA/die Niederlande spielt von rechts nach links oder von oben nach unten oder von wo nach wo auch immer – zefix und die Klappe jetzt bald wahrlich zugenäht! Sie haben nichts zu sagen, das jedoch reichlich. Man reibt sich die Ohren, wenn Tom Bartels tatsächlich mal eine halbe Minute lang schweigt, dann aber Gott sei Dank wieder wie von Sinnen loslegt und -schnabelt: „Müsste Abseits sein. Jawoll. Deutlich. Ja, deutlich ist schön. Das war gleiche Höhe.“ Wo sind die nicht effektheischend vor sich hin rhabarbernden, die nüchtern und halbwegs mit Sachverstand kommentierenden Reporter geblieben? Warum sind wir mit einer narzisstischen Peinfigur wie Steffen „Flanke macht keinen Sinn“ Simon geschlagen, der das Übertragen eines Fußballspiels durch Dauermarktschreierei ersetzt? Dem man fünf Sechstel seiner Sätze rauslektorieren müsste? Und was qualifiziert den forsch-rustikalen, betont jovialen Gerd Gottlob für seinen güldenen Job? Dass er sich rauschhaft an sich selbst zu begeistern vermag. Dass er nicht weiß, was ein Dilemma ist, nämlich eine ausweglose Situation, und daher fragt: „Wie können sich die Chilenen aus diesem Dilemma befreien?“ (Durch ein Tor womöglich?) „Nach der Lage der Bilanz“ (Gottlob) ist bei keiner FußballWM zuvor derart viel Verbalabfall angehäuft worden wie heuer. „Das ist definitiv klar“ (Oliver Schmidt). Hie hagelt es „absolute Akzente“ (Rudi Cerne), da macht Oliver Kahn „eine absolute Schrott- und Nonsensdiskussion“ aus, und selbst in den Zusammenfassungen an den Folgetagen wird, Live-Reportagen simulierend, gebrüllt, als führte Jürgen Klinsmann Regie. Was man der Sendezeit darüber hinaus noch antun kann, demonstrieren Gebühren vernichtende Nichtigkeitsaufwallungen in WM-Clubs, betongrinsende DFBLakaien im Mannschaftshotel und angesichts ihres sonnigen Arbeitsplatzes lichterloh frohe Stichwortonkel wie Oliver Welke, der mal so dahinschwadroniert: „Es wird nicht viel passieren in der zweiten Hälfte.“ Nein, die „Lust am Spiel“ (Bartels) – passé. Man schäumt vor Überdruss, man mag nicht mehr. So weit sind wir gekommen, dass wir flehentlich ausrufen, ja jaulen: Gebt uns Heribert Faßbender zurück! Subito! ■ 115