Lenin und die Oktoberrevolution
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Lenin und die Oktoberrevolution
Werbeseite Werbeseite DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN Hausmitteilung 19. Juli 1999 Betr.: Schatzsucher, Israel, Nachbarn S eit kurzem ist SPIEGEL-Redakteur Klaus Brinkbäumer, 32, Geheimnisträger. Er weiß, wo bei den Kapverdischen Inseln die britische „Princess Louisa“ gesunken ist. Das Schiff war vor 250 Jahren im Sturm auf ein Riff gekracht, Mann und Maus ertranken. An Bord hatte der Segler auch einen Haufen Silbermünzen – rund sieben Millionen Mark sollen die heute wert sein. Ein deutsch-portugiesisches Konsortium will den Schatz jetzt heben und hat Taucher an den Ort der historischen Havarie geschickt. Brinkbäumer konnte die Truppe fünf Tage und Nächte an Bord des Expeditionsschiffs „Polar“ begleiten und in 20 Meter Wassertiefe beobachten, wie die Männer in harter Arbeit an kaum erkennbaren Wrack-Resten klopfen, meißeln und dann Teile nach oben befördern. „Ein irrwitziger Job“, so Brinkbäumer, „die Leute werden alle paar Minuten von schweren Wellen weggezogen und müssen dann immer wieder zurückschwimmen.“ Widrige Brinkbäumer Bedingungen, die Schatzsucher vielerorts auf sich nehmen, wie die SPIEGEL-Redakteure Clemens Höges, 37, und Erich Wiedemann, 56, in der Titelgeschichte beschreiben. Mit gewaltigem technischen Aufwand, detektivischem Spürsinn und peniblen Archivrecherchen suchen die modernen Glücksritter nach den Wracks. Finanzieren lassen sie sich das durch mutige Investoren, die auf reiche Ausbeute hoffen. „Oft verlieren die aber ihr Geld“, so Wiedemann, „es gibt viele windige Gestalten in der Szene“ (Seite 68). D as Heilige Land ist zum Mekka der Hochtechnologie geworden, vor allem dank der russischen Neueinwanderer, die in Israel ein regelrechtes Cyber-Fieber ausgelöst haben. SPIEGEL-Autor Erich Follath, 50, traf zwischen Jerusalem, Haifa und Tel Aviv ehemalige Gulag-Häftlinge, frühere sowjetische Militärs sowie Dutzende computerbegeisterte Twens aus St. Petersburg und Sibirien, die zwar nach ein paar Jahren in Israel immer noch kein Wort Hebräisch können, dafür aber geniale Projekte aushecken und verwirklichen. Auf Fragen nach Hobbys oder Interessen außerhalb des Berufs reagieren sie mit Unverständnis: „Die Leute arbeiten zwischen 16 und 18 Stunden am Tag“, so Follath, „Freizeit ist für die Cyber-Junkies nur ein anderes Wort für Schlaf“ (Seite 88). M R. JANKE / ARGUS ißtrauische Blicke hinter Hecken und Gardinen verfolgten SPIEGEL-Reporter Bruno Schrep, 53, beim ersten Besuch im schleswig-holsteinischen Bönningstedt. Er war verdächtig, denn im feinen Viertel der Ortschaft ist das jeder Fremde. Nach amerikanischem Vorbild wachen hier die Nachbarn und rufen die Polizei, wenn Unbekannte in der Gegend herumlungern – es könnten ja Ganoven sein.Viele waren schon Opfer von Einbrüchen, nun, seit sie gemeinsam aufpassen, trauen sich Diebe kaum mehr her. Schrep war den Nachbarn bald vertraut, sie winkten ihm zu, wenn er kam. Doch bei einigen Anwohnern sei der Argwohn zur Marotte geworden, sagt Schrep: „Die spitzen bei jedem Laut ihre Ohren“ (Seite 62). Schrep Im Internet: www.spiegel.de d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 3 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite In diesem Heft Titel Aus Angst in den Untergrund Deutschland VARIO-PRESS Panorama: Fahnder beim NOK-Chef / SPD bremst Strom-Wettbewerb ...................... 17 Affären: Zielfahnder sollen untergetauchten Ex-Geheimdienstchef Pfahls jagen.................. 22 Ärzte: Verbandsfunktionäre kassieren ab ....... 25 Reformen: SPIEGEL-Gespräch mit CSU-Chef Edmund Stoiber über EuroSchwäche, Sparpaket und den nächsten Kanzlerkandidaten der Union.......... 26 Pfahls Bundeswehr: Beziehungsprobleme bei den deutschen Kfor-Soldaten ................................. 34 Medizin: Mobbing im Krankenhaus verunsichert Assistenzärzte ............................ 38 Schulen: Polizei gegen Schwänzer ................. 44 Zeitgeschichte: SPIEGEL-Gespräch mit Jan-Philipp Reemtsma über die Wehrmachtsausstellung und die Beweiskraft der Dokumente ........................... 48 Investoren: Absurder Krieg um die Beschäftigten von BMW-Rolls-Royce in Brandenburg............................................... 54 Kriegsverbrechen: Bosnischen Zeugen fürs Haager Tribunal droht Abschiebung ........ 56 Gesellschaft Szene: Elektronische Hilfe zum Kennenlernen / Kurzes Achselhaar als neuer Trend .... 61 Kriminalität: Angst in der Provinz – Nachbarn schieben Wache .............................. 62 Legenden: War Robin Hood schwul? ............. 65 Wirtschaft Trends: Telekom-Vorstand prüft Fusion mit Telefónica / Baulöwe Schneider vor der Haftentlassung / Neues Steuerchaos in Bonn.. 81 Geld: EM-TV in den Dax? / Boom der Bankaktien..................................... 83 Unternehmen: Ex-McKinsey-Manager will die Post zum Börsenstar machen .................... 84 Zukunft: Russen als High-Tech-Pioniere ........ 88 Steuerfahndung: Wie Kaiserslautern zur Oase für Steuersünder wurde ......................... 94 Familienfirmen: Schlammschlacht im Hause Kuemmerling ....................................... 96 Er soll Schmiergelder kassiert haben, er wird per Haftbefehl gesucht und wollte sich stellen – doch der einstige Staatssekretär und heutige Daimler-Manager Holger Pfahls, der im Verteidigungsministerium einen umstrittenen Panzer-Deal mit Saudi-Arabien durchsetzte, tauchte in Asien unter. Jetzt sollen Zielfahnder den ehemaligen Vertrauten von Franz Josef Strauß aufspüren. Die Justiz ließ eine Zwangshypothek auf Pfahls’ Haus eintragen und sein Gehalt pfänden. Das Auge des Nachbarn Seite 62 Fremde Autos erkennen sie schon am „Rollgeräusch der Räder“. Unbekannte Fußgänger lösen sofort Argwohn und hektische Aktivitäten aus: Bewohner eines Dorfes in der schleswig-holsteinischen Provinz, die oft von Einbrechern heimgesucht wurden, passen genau auf, wer zu ihnen gehört und wer nicht. Jeder Verdächtige, warnt ein Schild am Anfang der Straße, werde sofort der Polizei gemeldet. Seit die Nachbarn wachen, passiert angeblich viel weniger. Warntafel der Bürgerinitiative Der Banker, die Witwe und die Meute Medien M. TINNEFELD / PEOPLE IMAGE Trends: Fußballprofi Mario Basler wird Kinostar / „Tagesspiegel“Chef Giovanni di Lorenzo über Zoff mit der Redaktion.................................. 101 Fernsehen: Männer mögen Journalistinnen / Pro Sieben setzt weiter auf Herz und Schmerz .................................. 102 Vorschau ....................................................... 103 Boulevard: Der Banker und die BrandtWitwe – Szenen einer Treibjagd .................... 104 SPIEGEL-Gespräch mit Brigitte SeebacherBrandt über ihre Kultur-Aktivitäten für die Deutsche Bank und die mediale Anteilnahme an ihrem Privatleben................ 108 Zeitschriften: Das überraschende Comeback des „Stern“-Machers Werner Funk ................ 110 Rechtsprechung: Gisela Friedrichsen über ein neu erschienenes Handbuch zum „Medienrecht“ .............................................. 112 6 Seite 22 Seiten 104, 108 Eine Liebe in Deutschland beschäftigt die Öffentlichkeit. Hilmar Kopper, Aufsichtsratsvorsitzender der Deutschen Bank, trennt sich nach 38 Jahren Ehe von seiner Frau und bekennt sich zu Brigitte Seebacher-Brandt, der Witwe des ehemaligen Kanzlers Willy Brandt. Die Boulevard-Presse findet ihr Sommerthema, verteilt Moral-Zensuren und fragt scheinheilig: „Darf man das?“ Im SPIEGELGespräch zeigt sich die Historikerin von der schreibenden „Meute“ unbeeindruckt und erklärt lieber ihre Kulturarbeit für die Deutsche Bank: „Man muß den Widerspruch fördern.“ Seebacher-Brandt, Kopper d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 R. JANKE / ARGUS Goldrausch in den Weltmeeren....................... 68 Meeresforscher Franck Goddio über den Streit mit den Schatzsuchern .......................... 72 Die Suche nach der „Prins Frederik“ ............. 77 Sport Formel 1: Michael Schumachers Pläne für ein schnelles Comeback ........................... 114 Fußball: Italien bricht alle Transferrekorde ... 117 Ausland H. SCHWARZBACH / ARGUS Verbindung über den Øresund Ohne Fähre ins Land der Elche Seite 138 Mitte August wird das letzte Teilstück an der Øresund-Brücke eingeklinkt – und das dänische Festland mit Südschweden verbunden. Politiker und Wirtschaftsbosse sehen in der Brückenregion eine neue Hanse von Malmö bis St. Petersburg. Powerbooks statt Pampelmusen Seite 88 Russische Immigranten sind die ehrgeizigste High-Tech-Führungsreserve der Welt. In Israel finden die Neueinwanderer die ideale Förderung durch den Staat – Software schlägt inzwischen Zitrusfrüchte beim Export. „Wir genossen unseren Triumph“ Seite 176 SYGMA Vor genau 30 Jahren betraten Neil Armstrong und Edwin Aldrin als erste Menschen den Mond. Ursprünglich war Apollo-Astronaut Eugene Cernan für diese Pioniertat vorgesehen. Er ging dann aber als vorerst letzter Mondbesucher in die Annalen ein. Im SPIEGELGespräch schildert Cernan seine Erlebnisse auf dem Erdtrabanten. Apollo-11-Astronaut Aldrin auf dem Mond (1969) DPA Eine Frau in Bayreuth? Ehepaar Wagner, Tochter Katharina (l.) Seite 168 Der Festspielleiter Wolfgang Wagner denkt nicht an Rückzug vom Grünen Hügel. Vor allem die Gefährdung des Festival-Etats durch „Bonner Finanzkapriolen“ würden seinen Verbleib erzwingen. Selbst im Jahr 2001, sagt der KomponistenEnkel im SPIEGEL-Gespräch, sei mit seinem Abschied „noch nicht zu rechnen“. Derweil rüstet sich Wolfgangs Ehefrau Gudrun zur künftigen Übernahme der Festspielleitung auf: „Ja, das könnte ich.“ d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 Panorama: Schwedens glückliche Hühner als Vorbild / Schweiz: Geldwäsche für Jelzin-Clan? ............................................. 119 China: Eskalation im Konflikt mit Taiwan ..... 122 Iran: Studentenaufruhr schwächt den reformwilligen Präsidenten Chatami ...... 125 Nordirland: Rückschlag im Friedensprozeß... 127 Serbien: Offerten des „Tigers“ ..................... 128 Rußland: Gewalt gegen Juden ...................... 130 Saudi-Arabien: Interview mit Prinz Talal Ibn Abd el-Asis über notwendige Reformen im Königreich ............ 134 Argentinien: Menems letzter Tango ............. 136 Türkei: Belagerte Kurdenprovinz.................. 137 Ostsee: Blütenträume am Øresund .............. 138 Spiegel des 20. Jahrhunderts Das Jahrhundert des Kommunismus: Lenin und die Oktoberrevolution .............. 141 Porträts: Kollontai, Bucharin, „Parvus“ ... 150 Standpunkt: Michail Gorbatschow über sein Idol Lenin................................... 151 Kultur Szene: Kunstsammler Berggruen als Glossenschreiber / Streit um „Bunker“-Anbau für das Barockschloß von Nümbrecht ........... 155 Autoren: SPIEGEL-Gespräch mit dem neuen Büchner-Preisträger Arnold Stadler über Heimatliteratur und Martin Heidegger.. 158 Martin Walser über Stadlers verschwiegene Sprachkunst................................................... 161 Bestseller ..................................................... 162 Film: Stanley Kubricks Ehekrisenstück „Eyes Wide Shut“ ......................................... 163 Ausstellungen: Karl der Große und seine Epoche in Paderborn..................................... 164 Musiktheater: SPIEGEL-Gespräch mit Wolfgang und Gudrun Wagner über die Zukunft der Bayreuther Festspiele................ 168 Theater: Sarah Kanes Schock-Drama „Gesäubert“ in Stuttgart ............................... 171 Wissenschaft + Technik Prisma: BSE-Test für deutsche Schlachthöfe / Insektenjagd in fränkischen Baumkronen...... 173 Prisma Computer: Internet-Uhr von Swatch / Multimedia-Konsole im Gefängnis................. 174 Raumfahrt: SPIEGEL-Gespräch mit Eugene Cernan, dem letzten Mann auf dem Mond .... 176 Computerspiele: Automaten-Klassiker „Pac-Man“ bezwungen ................................. 181 Automobile: Der neue Punto – Fiats Hoffnungsträger .................................... 182 Debatte: Ist die Rationierung der Medizin unausweichlich? ............................................ 184 Antarktis: Krebskranke Ärztin in Polarstation gefangen .................................... 186 Briefe ............................................................... 8 Impressum .............................................. 14, 188 Leserservice ................................................ 188 Chronik ......................................................... 189 Register........................................................ 190 Personalien .................................................. 192 Hohlspiegel/Rückspiegel ............................ 194 7 Briefe „Wer es noch nicht gemerkt hat, wird es spätestens nach Ihrem Artikel wissen. Die DDR ist in dieser Hinsicht nicht weg, sondern nur besser und größer geworden. Je mehr Handys, je mehr Online-Bankgeschäfte, je mehr Geldgeschäfte ohne Bares, desto mehr Kontrolle.“ SPIEGEL-Titel 27/1999 Kai Scholz aus Lübeck zum Titel „Digitale Vollkontrolle – Das Ende des Privaten“ der Internet-Nutzung nicht ausreichend behandelt. Insbesondere bei Internet-Versteigerungen, Gratis-Webcommunities und ECommerce geben viele Surfer unbedacht persönliche Informationen preis. Doch scheint das die Benutzer nicht zu stören. Magstadt (Bad.-Württ.) Bildschirme, die Netzhäute zerstören, Computer und Fax-Signaltöne, die hochfrequent wie ein Skalpell ins Trommelfell schneiden – von schwindender Individualität und Kultur ganz zu schweigen –, dies alles zeigt nur allzu deutlich, auf welcher Stufe dieses „Häuflein“ Mensch wirklich steht. Rosenheim (Bayern) Nr. 27/1999, Titel: Digitale Vollkontrolle – Das Ende des Privaten Die „little Brothers“ rauben dem Menschen immer mehr seine Persönlichkeit, perverse Datenhändler verkaufen jetzt buchstäblich ihre Mutter. Bremen Marcus Grätsch Der Artikel bringt die Dinge auf den Punkt und zeigt anschaulich die aus Digitalisierung und Vernetzung für den einzelnen entstehenden Gefahren. Die Kernfragen bleiben jedoch offen: Wie damit umgehen? Was dagegen tun? Wer überwacht die Bewacher? Hannover Dr. Wolfgang Sander-Beuermann Die Titelstory zeichnet ein sehr ernst zu nehmendes Szenario. Hier sind alle gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Kräfte aufgerufen, Möglichkeiten zu finden, damit sich der Segen des Internet nicht zum Fluch wandelt. Freiburg im Breisgau Holger Eggs Warum eigentlich die ganze Aufregung? Neue Techniken und Medien, die so deutlich für mehr „Transparenz“ auch auf dem Ernährungssektor sorgen, sind nur zu begrüßen. Endlich wissen jetzt wenigstens Chefs, was sich in ihren Kaffeekannen befindet. Oder was ihre Sekretärin mit dem Hintern anstellt. Beruhigend! „Otto Normalverbraucher“, der zunächst immer noch bei vielen Dingen von Zweifeln über Inhalt und Hintergründe geplagt wird, ist auch bald schlauer und zufriedener bei dieser so rasant voranschreitenden „Transparenz“. La vie en rose? Seesen (Nieders.) Niels Kruse Kundenprofile können nicht nur von datenhungrigen Webseiten-Betreibern erstellt werden, sondern vor allem vom jeweiligen Internet-Provider selbst. Kein Anbieter wird es sich nehmen lassen, sämtliche verfügbaren Daten seiner Kunden dauerhaft Gerade im Internet können persönliche Daten leicht, da digital, an unbefugte Dritte weitergegeben werden. Darauf hinzuweisen ist richtig. Sicherlich falsch ist es aber, bestimmte Technologien, wie zum Beispiel „Cookies“ (Kekse), durch unvollständige Aussagen als potentiell sicherheitsgefährdend darzustellen – ohne deren eigentlichen Sinn zu erläutern. Trossingen (Bad.-Württ.) Mate Jovic Es ist nicht nur ungeheuerlich, Kameraüberwachung*: Verlust der Privatsphäre was sich die US-Amerikaner in unserem Land leisten – bei solchen Freun- zu speichern –, also besuchte Webseiten, den braucht man keine Feinde mehr –, unverschlüsselte E-Mails, aber auch beauch was die deutsche Versicherungswirt- vorzugte Einwahlzeiten und Verweildauer schaft an Kundendaten sammelt und ver- im Netz. Wenn man bedenkt, daß viele Inmauschelt, stinkt zum Himmel. Von Schutz ternet-Anbieter in große Unternehmen für die Versicherten kann nicht die Rede eingebunden sind, erscheint mir zumindest sein, wenn zwischen den Versicherungsun- die Gefahr eines Mißbrauchs von Kundenternehmen höchst sensible Kundendaten informationen innerhalb der eigenen Konhin- und hergeschoben werden – ohne jeg- zernstrukturen sehr hoch. liche Transparenz für die Versicherten. Dortmund Dirk Hesse Neckarsulm Dr. Armin E. Maetz Die ständige Beeinträchtigung der Privatsphäre hat der Beitrag hervorragend herausgestellt. Leider wurden die Gefahren Ich glaube nicht, daß die ständige Überwachung so viele Nachteile und Risiken * Im Frankfurter Hauptbahnhof. Vor 50 Jahren der spiegel vom 21. Juli 1949 Armin Naujok Noch vor wenigen Jahren wären Datenschützer auf die Barrikaden gegangen, hätte die Deutsche Telekom, respektive Deutsche Post, detaillierte Protokolle über das Telefonverhalten ihrer Kunden geführt, wie es mittlerweile üblich ist. Heutzutage pochen selbst Verbraucherschützer auf kostenlose Einzelverbindungsnachweise – mit 8 Hamburg Peter Neuhalfen B. BOSTELMANN / ARGUM Wer überwacht die Bewacher? aufgeschlüsselter Telefonnummer und Anrufdauer. Da zeigt sich, daß die meisten Mitbürger doch lieber in ihr Portemonnaie als auf gesellschaftliche Entwicklungen schauen. Jan Theofel SED-Altvater Pieck installiert Familien-Dynastie Ex-Fliesenleger Staimer als Polizeichef. Dekret des Vatikans Pius XII. verkündet Exkommunikation der Kommunisten und ihrer Anhänger. Isaac Deutschers gefeierte Stalin-Biographie Jede Urkunde tiefengeprüft. Bruch in gaullistischer Sammlungsbewegung Der General hat sich verrechnet. Künstliche Herzen gleichzeitig in Stockholm und Paris entwickelt Mit Maschinen zurück ins Leben. Pierre Billon verfilmt Karriere des berühmten Musik-Clowns Grock Philosoph des feinen Humors. Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter http://www.spiegel.de Titel: Pieck-Schwiegersohn Richard Staimer d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Briefe bringt, wie immer behauptet wird. Es ist doch ein Erfolg, wenn das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung einer Stadt so nachhaltig bestärkt wird. Für Erfolge auf dem Gebiet der Verbrechensbekämpfung muß man auch einiges in Kauf nehmen. Die Bewohner Newhams haben entschieden, daß sie die „Überwachung“ in Ordnung finden, eine völlig demokratische Entscheidung. Laßt uns in Deutschland nicht immer alles down machen. Der Hang zum Kritisieren und Lamentieren, eine typisch deutsche Eigenschaft, taugt nicht für das nächste Jahrhundert. Göttingen brachte Verpackung ist. Bei Mehrwegverpackungen kann der Verbraucher sie umgehen – sie tendiert hier gegen Null. Außerdem hätten sie die kombinierte Rücklaufquote als Mogelpackung entlarvt. Mit den subventionierten Billigdosen wird Krieg geführt gegen 250 000 Arbeitsplätze in Brauereien, im Getränkefachgroßhandel, bei Zulieferern und Abfüllern. Düsseldorf Günther Guder Bundesverband des Deutschen Getränkefachgroßhandels Thomas Linke ULLSTEIN BILDERDIENST Endlich werden die immer stärker werdenden Zweifel an der hochgelobten Superinformationsquelle Internet bestätigt. Die totale Vernetzung bedeutet auch die totale Transparenz eines jeden Benutzers. Doch was der Normalbürger tun soll, wenn bei jedem Online-Einkauf Kreditkartennummer und weitere persönliche Daten angegeben werden müssen, bleibt offen. Ohne es zu bemerken, wird der Inter- Cola-Produktion: Krieg mit subventionierten Billigdosen? net-User die Kontrolle verlieren und durchschaubar sein wie nie zu- Daß die Expo-Veranstalter oftmals ziemvor. Trotzdem ist das Internet das Medium lich danebengreifen, ist bekannt. Der im der Zukunft, jeder wird es in verschieden- Vorfeld abgeschlossene Vertrag mit Cocaster Art und Weise nutzen. Online sein wol- Cola paßt da wieder einmal hervorragend len wir schließlich alle. ins Bild. Den Ausspruch des Coca-ColaSprechers darf man so nicht hinnehmen, Ahaus (Nrdrh.-Westf.) Jan Philipp Goebel zumal das Unternehmen nach den Skandalen um vergiftete Cola-Dosen derzeit nicht die beste Reputation im Lande geMogelpackung nießt. Vor der Expo sollte man eigentlich Nr. 27/1999, Verpackung: gemeinsam mit den Umweltbehörden zum Der unaufhaltsame Vormarsch der Einwegdosen; Millionen Büchsen für die Expo Boykott von Cola-Dosen aufrufen. Handeloh (Nieders.) Wieso scheut man sich so sehr vor dem Pfandsystem? Ist es doch wirklich nicht notwendig, in jedem größeren Supermarkt teure Automaten einzurichten – ein paar Großsammelstellen pro Stadt täten es auch. Den Rest erledigt eine Schar von mittellosen Mitbürgern, denen die Bequemlichkeit der Wohlstandsgesellschaft bare Münze ist. Die Dose ist ein genormtes Produkt. Daher läßt sie sich auch nach Gewicht abrechnen, was das Handling vereinfacht. Ist es ein schlechter Gedanke, einem Mitbürger, der mich um einen Groschen angeht, meine soeben ausgetrunkene Getränkedose anzuvertrauen, in der Gewißheit, daß er sie zu versilbern weiß und ich so nicht nur ihm, sondern auch der Umwelt einen Dienst erwiesen habe? Lissabon Félix Romanik Hätten die Redakteure zu Ende recherchiert, hätten sie herausgefunden, daß die vorgeschlagene Einwegsteuer in Wirklichkeit eine Steuer auf jede in Verkehr ge12 d e r Stefan Hartung Spitze der Peinlichkeitsskala Nr. 27/1999, Karriere: EU-Kommissar Martin Bangemann verkauft sich an Telefónica Auf der nach oben offenen Peinlichkeitsskala hat Bangemann wieder einen Spitzenplatz erobert. Ob er den Telefoniceros mit seiner oft bewiesenen Nanokompetenz allerdings die gewünschte Hilfe sein kann, muß man bezweifeln. Göttingen Klaus-Peter Köster Recht hat er, der Martin B. in Brüssel, weil es anscheinend legitim ist, was er macht, oder durch Nichtreaktionen der EU-Kommission legitimiert wird. Alle kreischen nun, nur die FDP nicht, denn sie ist bekanntlich immer noch die Partei der Besserverdienenden. Die entrüsteten Politiker sind im Grunde nur neidisch-verärgert, weil Bangemann ein Tabu gebrochen und offengelegt hat, daß das Füllen der eigenen s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 Taschen zum politischen Selbstverständnis gehört. Für die Wähler ist das nicht neu. Die beschämend niedrige Beteiligung aus den Europawahlen zeigt das. Bonn Horst-Günter Haxel Würde Bangemann nicht in die Privatwirtschaft gehen, erhielte er „mit allen Ehren“ seine Pension von der EU. Anfang der sechziger Jahre haben Politiker, die die USA bereisten, von einem „Elitentausch“ gesprochen. Wann endlich haben wir ein Bündnis für Leistung und nicht eines für staatlich gelenkte Arbeit? Itzehoe (Schlesw.-Holst.) Corvin Fischer Das Peter-Prinzip machts möglich. Alle Nieten aus Politik und Wirtschaft werden nach oben gelobt. Eine geschlossene Gesellschaft.Wer sich nicht gar zu dämlich anstellt, hat die Stufe seiner Inkompetenz und einen lukrativen Job flugs erreicht. Niedernhausen (Hessen) Hannelore Hammer Durch seine Geldgier hat der hochkarätige Politiker seiner FDP – einer ohnehin überlebten, wahrscheinlich aussichtslos kämpfenden Partei – ein kräftiges blaues Auge geschlagen. Nun kann er seine angebliche Intelligenz als Top-Manager unter Beweis stellen. Viele sind gespannt, wie lange die „Ronaldo-Orgie“ gutgeht. Köln Karl-Heinz Schumacher Auf die Müllhalde Nr. 27/1999, Einzelhandel: Berlin will den Ladenschluß kippen Das moderne Berufsleben fordert heute Anpassung; Mehrarbeit und Flexibilität werden zur Selbstverständlichkeit. Die Freizeit wird dementsprechend wertvoller, und wer möchte sich dann noch diktieren lassen, wann er seine Einkäufe zu erledigen hat? Wichtiger als die Frage, wann und wie lange man arbeitet, ist doch die nach den Arbeitsbedingungen. Dortmund Ingo Heinsch Das Ladenschlußgesetz ist das Produkt einer markt- und damit verbraucherfeindlichen wirtschaftspolitischen Irrlehre. Es hätte längst auf die Müllhalde des „Sozialismus“ gehört. Wiesbaden Eckart Zachmann Wenn der Ladenschluß endlich liberalisiert würde, könne Herr X, da er jetzt mehr Zeit hat, fast doppelt soviel Lebensmittel und Kleidung von seinem Gehalt kaufen. Frau und Herr Y – beide im Einzelhandel tätig – könnten sich, von den durch höhere Umsätze und Gewinne zwangsläufig gestiegenen Gehältern, mehr Urlaub leisten. Den hätten sie auch nötig, da sie sich und ihre Kinder aufgrund sehr unterschiedlicher Arbeitszeiten kaum noch sehen. Paderborn d e r Armin Struckmeier s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 Briefe Neue Therapien prüfen Grüne Schlauch, Berninger Völlig veraltete Partei Bald wieder in Turnschuhen? Nr. 29/1999, Grüne: Rebellion der Nachwuchskräfte; Interview mit Rezzo Schlauch über die Selbstzerfleischung der Partei Zwar brauchen Kubaner ihre ärztliche Versorgung nicht zu bezahlen, viel erwarten dürfen sie aber auch nicht. So kennt man auf der Insel kaum den Begriff „Einwegspritze“, denn aus Mangel an Nachschub werden die Kanülen so lange verwendet, bis sie ihren Geist aufgeben. Brillengläser entsprechen selten der tatsächlichen Sehschwäche, da genommen werden muß, was unter großen Schwierigkeiten aufzutreiben ist. Die wenigen ausländischen Medikamente, die trotz des Embargos ins Land kommen, gelangen fix in Kliniken für zahlungskräftige Ausländer. Kubanische Produkte indes werden sofort verkauft. So mag die Medizin zwar beachtliche Erfolge erzielt haben, die Einheimischen selbst spüren recht wenig davon. Berlin Die einzige Chance der Grünen besteht darin, sich als Lobby der jungen Generation zu profilieren. Aber nicht im Sinne einer grenzenlosen Selbstverwirklichung auf Staatskosten, wie es den Linken offenbar vorschwebt, sondern für ein zukunftsfestes Rentensystem und gegen die Rentenmafia der großen Parteien. Dort gibt es eine große Glaubwürdigkeitslücke, in die eine erneuerte grüne Partei stoßen könnte. Kassel Jörg Vater Daß Joschka Fischer als einziger GrünenPolitiker noch Ansehen und Autorität verteidigen konnte, liegt daran, daß er versucht, die Ziele und Ansichten der Regierung und des Volkes zu übernehmen und nicht die einer völlig veralteten Partei, deren Herumreiterei auf ihren Grundsätzen langsam peinliche Züge annimmt. Bochum Markus Pietraszek Joschka Fischer will vermitteln. Er weiß, daß Trittin – um sein Gesicht zu wahren – ein Erfolgserlebnis braucht, denn der hat bis jetzt total versagt. Fischer indes will es nicht zum Bruch der Koalition kommen lassen und möchte sich zum Retter der Grünen-Partei profilieren, weil er sonst bald wieder in Turnschuhen herumlaufen kann. Bottrop Klaus Wendt Wann endlich ringt der Kanzler sich durch, seinen Umweltminister für dessen schon jetzt unsterbliche Verdienste – speziell um die Arbeitsplatzbeseitigung – mit dem „Trittin-Kreuz“ auszuzeichnen? Der so Geehrte fände dann vielleicht Gelegenheit, sich einen Jugendtraum zu erfüllen: auf einer Öko-Magerwiese, fernab von allen Arbeitslosen, als Ziegenhirte tätig zu sein. Köln 14 Bad Nauheim Dr. Rainald von Gizycki Vorsitzender Pro Retina Deutschland e. V. Karen Grunow Die sterile Homogenität und Einseitigkeit der Schulmedizin in Deutschland treibt kritische Patienten ins Ausland. Das Scheitern der Technologie im Umgang mit chronischen fortschreitenden Erkrankungen des visuellen Apparats wird von den wissenschaft- Impfung in Kuba: Einheimische haben wenig vom Bioboom lichen und berufsständischen Organisationen bis heute nicht zugegeben. Ein Vertrösten der SehbehinderNeugierig machen ten auf Mikrochips (künstliches Sehen) ist Nr. 27/1999, Autoren: mitunter nur Bluff, um mehr ForschungsGünter Grass schaut zurück auf „Mein Jahrhundert“ gelder zu bekommen. Der Artikel hat bei mir das Gegenteil desNeutraubling (Bayern) Werner Schönbach sen erreicht, was beabsichtigt war: Er Selbsthilfegruppe Maculadegeneration macht mich neugierig auf den neuen Grass. Unsere Selbsthilfevereinigung verfolgt seit Ich werde mir nun die teure Ausgabe mit einem Jahrzehnt die Bemühungen des ku- den Aquarellen leisten. banischen Augenarztes Orfilio Peláez, die Heere (Nieders.) Birgit Rühe Retinopathia pigmentosa (RP) mit einer Daß der Magier unter den lebenden deutschen Literaten nicht längst enttäuscht seinem Land den Rücken gekehrt hat, muß an VERANTWORTLICHER REDAKTEUR dieser Ausgabe für Panorama, dem Wissen liegen, daß seine Werke geÄrzte,Diplomatie,Schulen,Zeitgeschichte: Michael Schmidt-Klingenberg; liebt werden von Menschen, die leidenfür Titel (S. 68, 72), Affären, Bundeswehr, Medizin, Investoren, Kriegsschaftliche Leser guter Bücher sind. Es beverbrechen, Chronik: Heiner Schimmöller; für Reformen,Trends, Geld, Unternehmen, Steuerfahndung, Familienfirmen, Medien, Zeitschriften: ruhigt zu wissen, daß Grass nicht für ein Gabor Steingart; für Szene,Legenden,Fernsehen,Boulevard (S.107),AuHäuflein gelangweilter Kritiker schreibt. toren,Bestseller,Film,Ausstellungen,Musiktheater,Theater: Dr.Mathias Schreiber; für Formel 1,Fußball: Alfred Weinzierl; für Panorama,Titel (S. 77), China, Iran, Nordirland, Kosovo, Serbien, Rußland, Saudi-Arabien, Argentinien, Türkei, Ostsee: Dr. Olaf Ihlau; für Spiegel des 20. Jahrhunderts: Dr. Dieter Wild; für Prisma, Raumfahrt, Computerspiele, Automobile,Debatte,Antarktis: Olaf Stampf; für die übrigen Beiträge: die Verfasser; für Briefe, Register, Personalien, Hohlspiegel, Rückspiegel: Dr. Manfred Weber; für Titelbild: Stefan Kiefer; für Layout: Wolfgang Busching; für Hausmitteilung: Hans-Ulrich Stoldt; Chef vom Dienst: Holger Wolters (sämtlich Brandstwiete 19, 20457 Hamburg) TITELFOTO: AKG; Kurt Amsler; Columbus-America Discovery Group Prof. Mathias Driesch d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 Berlin Dolores Brandt-Langner Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit vollständiger Anschrift und Telefonnummer – gekürzt zu veröffentlichen. Einer Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe liegt eine Beilage vom manager magazin, manager magazin Verlagsgesellschaft, Hamburg, bei. S. CREUTZMANN / ZEITENSPIEGEL DPA Nr. 27/1999, Medizin: Kubas Aufstieg zur Biotech-Nation Kombination aus medikamentösen und operativen Verfahren zu heilen. Bis heute legte er jedoch keine überzeugende Langzeitstudie über die Wirksamkeit der Operation vor. Nach Ansicht vieler europäischer Netzhautspezialisten fehlt auch seinem medikamentösen Verfahren die wissenschaftliche Grundlage. Erfolgsberichte von Patienten erklären sich nach Meinung des wissenschaftlichen Beirats der Pro Retina durch einen Placeboeffekt, der die Risiken im Einzelfall nicht rechtfertigt. In vielen Negativ-Berichten ist von Augenschiefstellung, Doppelbildsehen bis hin zum schnelleren Erblindungsverlauf die Rede. Andererseits sollten alle realen Chancen einer RP-Therapie geprüft und genutzt werden. Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Deutschland Panorama NAT O Ruf nach Scharping D PRESSEFOTO WEREK ie US-Regierung hält offenbar die Entscheidung von Bundeskanzler Gerhard Schröder, seinen Verteidigungsminister Rudolf Scharping nicht als Nato-Generalsekretär nach Brüssel zu entsenden, nicht für unumstößlich. Obwohl die Hardthöhe zum Wochenende noch einmal betonte, „Scharping wechselt nicht nach Brüssel“, machen die Amerikaner nach Meinung eines Bonner Insiders „enormen Druck“, um ihren Lieblingskandidaten doch noch durchzusetzen. In der Zentrale der Allianz ließen die Amerikaner wissen, daß sie die anderen genannten europäischen Amtsanwärter für „politisch zu leichtgewichtig oder zu unerfahren“ halten. Das gilt vor allem für den britischen Liberalen Paddy Ashdown, den ehemaligen belgischen Regierungschef Jean-Luc Dehaene und den dänischen Verteidigungsminister Hans Haekkerup. Für drei ebenfalls genannte Ex-Verteidigungsminister, die Briten Malcolm Rifkind und Michael Portillo und den Deutschen Volker Rühe, könnte sich das Weiße Haus wohl erwärmen. Sie gelten aber Tröger S teuerfahnder durchsuchten im Juni mehrere Objekte des Nationalen Olympischen Komitees (NOK), unter anderem Wohnungen des Präsidenten Walther Tröger, weiteren NOK-Angestellten sowie Büros des NOK in Berlin und Frankfurt. Tröger ist nach Auskunft des Frankfurter Oberstaatsanwalts Job Tilmann Beschuldigter in einem Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung. Auslöser der Ermittlungen (Aktenzeichen: 94 JS KANZLER Ärgerlicher Flop M it dem Empfänger eines seiner Briefe, die er im Wahlkampf 1998 an diverse Bürger und Prominente schrieb, hat Bundeskanzler Gerhard Schröder Pech. In dem Brief-Buch „Und weil wir unser Land verbessern“ hatte er unter anderen einen Karabunar Türken namens Tanju Karabunar angeschrieben: „Ich hoffe Sie an meiner Seite, damit wir gemeinsam ein modernes Deutschland schaffen können.“ Angeblich leitete der Türke einen „Turkish College Club“ und bemühte sich um die „Förderung von türkischstämmigen Studenten“. In Wahrheit jedoch hatte es den Club nie gegeben und Karabunar, 31, war kurz zuvor aus ei- nem holländischen Gefängnis entlassen worden, nachdem er dreieinhalb Jahre Haft wegen Geiselnahme an einem Niederländer verbüßt hatte. Mit dem Schröder-Lob suchte Karabunar dann Investoren für seine Anfang des Jahres in Düsseldorf gegründete Softwarefirma Microtech 2000. Jetzt ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen ihn wegen Betrugs, und die Ausländerbehörde des Kreises Mettmann erwirkte eine unbefristete Ausweisungsaufforderung. Derweil rätselt die SPD, wie es zu dem „verdammt ärgerlichen Flop“, so ein Beamter im Kanzleramt, kommen konnte. Sicher ist nur, daß die Angaben Karabunars, der sich der Wahlkampfleitung in Bonn mit einem Brief empfohlen hatte, nie von der SPD nachgeprüft wurden. d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 K. MÜLLER Fahnder beim NOK 23903.6/98) ist die Strafanzeige eines ehemaligen NOK-Mitarbeiters. Der hatte den Behörden mitgeteilt, daß Tröger vom NOK eine Zahlung von über 400000 Mark erhalten habe, nachdem er vom Posten des bezahlten Generalsekretärs in das Ehrenamt des NOK-Präsidenten gewechselt war. Dieses Geld sei als Rentenzahlung deklariert worden, um möglicherweise Steuern zu sparen. Auf die Bitte des SPIEGEL zu einer Stellungnahme reagierte Tröger nicht. Den Betrag hatte er früher als Einmalzahlung in bestehende Versicherungsverträge bezeichnet, die gemäß rechtlichen Vorschriften vorgenommen worden sei. Die Staatsanwaltschaft prüft nun auch, ob die Überweisung an den Spitzenfunktionär mit den Statuten des NOK vereinbar war. H. AKDUMAN / ANADOLU AJANSI FUNKTIONÄRE Scharping, Soldaten aus unterschiedlichen Gründen als unwahrscheinliche Kandidaten: Rifkind ist nicht interessiert, Portillo gilt in London als zu rechtslastig, und Rühe hat sich gerade erst dazu entschlossen, SchleswigHolstein für die CDU zurückzuerobern. Seine Ernennung gäbe Schröder zwar die Gelegenheit, seine unter Druck geratene Parteifreundin Heide Simonis im Wahlkampf zu entlasten und zugleich der bei der Besetzung der EU-Kommission zu kurz gekommenen CDU einen internationalen Posten zuzuschanzen. Doch hat der Kanzler im kleinen Kreis auch betont, daß er Scharping unterstützen würde, „wenn der will“. 17 Panorama STROM Zuviel Wettbewerb K DPA aum profitieren die Kunden – auch private Haushalte – von sinkenden Strompreisen, da soll der Wettbewerb schon wieder eingedämmt werden. Die Sozialdemokraten bereiten eine Neufas- Umspannwerk (in Freiburg) sung des Energierechts vor. Nach einem „Eckpunktepapier“ der SPD-Arbeitsgruppe Energie soll es den Strom-Zwischenhändlern künftig erheblich erschwert werden, mehrere Haushaltskunden kostensparend zu einem Einkaufsverbund zu bündeln. Was die Kunden freut, ärgert die Gemeinden. Denn mit der Bündelung sinkt die bisher vom Stromlieferanten an die Gemeinde abzuführende Konzessionsabgabe auf rund ein Zwanzigstel des Normalbetrags, das will die SPD verhindern. Die Ge- meinden befürchten erhebliche Ausfälle bei den Konzessionsabgaben von zuletzt 6,4 Milliarden Mark im Jahr 1998. Wirtschaftsminister Werner Müller will dagegen auf keinen Fall das von seinem Vorgänger Günter Rexrodt (FDP) liberalisierte Energierecht ändern. „Bleibt der Wirtschaftsminister bei seiner Linie“, so ein Sozialdemokrat, „dann knallt es.“ Rund 200 SPD-Abgeordnete, prophezeit Energieexperte Volker Jung (SPD), werden für die Energierechtsreform stimmen. Chef der Schwerpunktstaatsanwaltschaft für Wirtschaftsstrafsachen in Mannheim, soll dem Fiskus rund 15 000 Mark Steuern durch Transfers über die Commerzbank in Luxemburg vorenthalten haben. Dazu gibt es bei ei den Ermittlungen gegen der Finanzverwaltung Mannheim Kunden der Commerzbank einen Vorgang unter der Steuerwegen des Verdachts auf Steuer- Wechsung fahndungslistennummer 1999/94. hinterziehung ist jetzt auch der Der hohe Ermittlungsbeamte weist den Heidelberger Leitende OberstaatsanVorwurf zurück: „Gegen mich wird walt Peter Wechsung ins Visier der nicht ermittelt.“ Fahnder geraten. Wechsung, jahrelang GESUNDHEIT Verdacht gegen Staatsanwalt Schröders neues Bündnis B S. KRESIN STEUERHINTERZIEHUNG I PVC-SPIELZEUG Deutsches Verbot ie Bundesregierung will Spielzeug aus PVC verbieten, das Weichmacher enthält. Während alle Bonner Ressorts einer Verbotsverordnung des Gesundheitsministeriums bereits zugestimmt haben, zögert das Wirtschaftsministerium noch – offenbar auf Druck der Chemieindustrie. Die Unternehmen befürchten eine PVC-Verbotswelle auch bei anderen Produkten und den Verlust von Arbeitsplätzen. Nach dem Entwurf des Gesundheitsministeriums sollen Spielzeuge aus gefährlichem Weich-PVC wie etwa Baby-Beißringe nach einer Übergangsfrist vom deutschen Markt verschwinden. Die Zusätze (Phtalate) treten beim Lutschen aus und können Krebs verursachen. Mitte dieser Woche sollen Abschlußgespräche im Wirtschaftsministerium Einigung über den Entwurf bringen; danach muß noch der Bundesrat zustimmen und die EU informiert werden. In Brüssel scheitert ein europaweites Verbot bislang am Widerstand des mittlerweile beurlaubten Industriekommissars Martin Bangemann. Sieben EU-Staaten haben das gefährliche Spielzeug inzwischen im Alleingang vom Markt verbannt. Kinderspielzeug mit Weich-PVC 18 d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 C. AUGUSTIN D n den Streit um die Gesundheitsreform hat Bundeskanzler Gerhard Schröder eingegriffen und ein informelles Bündnis für Gesundheit geschaffen. Während der anstehenden Gespräche würden die Ärzte „von öffentlichen Auseinandersetzungen absehen“, heißt es im Kanzleramt. Nach den Ärzteprotesten der vergangenen Wochen, bei denen es immer wieder zu heftigen Debatten und zu teilweise persönlichen Angriffen auf Schröders Gesundheitsministerin Andrea Fischer kam, soll nun wieder Ruhe einkehren. Bei einem Treffen mit Gesundheitsstaatssekretär Erwin Jordan, dem Präsidenten der Bundesärztekammer, JörgDietrich Hoppe, und Winfried Schorre, dem Vorsitzenden der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, stimmten die überraschend konsensbereiten Ärztevertreter Schröders Vorschlag zu, mit den Koalitionsfraktionen und Gesundheitsministerin Fischer über alle wichtigen Themen zu sprechen. Diskutiert werden soll eine flexible Verwendung der begrenzten finanziellen Mittel, eine Überprüfung neuer Formen der ambulanten und stationären Versorgung, verbessertes Kostenbewußtsein, etwa durch Rechnungen für die Patienten, sowie die Sicherung einer bedarfsgerechten Krankenhausversorgung. Deutschland Durchgehend arbeitsfähig Roger Cloes, 42, Leiter der Projektgruppe „Steuerung Umzug Berlin“, über die Umsiedlung des Bundestages SPIEGEL: Seit zwei Wochen reist das Bun- CH. BACH destags-Inventar durch die Republik. Wie viele Akten sind schon weg? Cloes: Bis jetzt wird noch nichts dauerhaft vermißt. Viele Kisten sind noch nicht ausgepackt oder stehen schon mal am falschen Platz. Meinen Karton habe ich im Erdgeschoß entdeckt, als Türstopper. Insgesamt läuft alles termingerecht. Ende Umzugsarbeiten in Berlin, Cloes GEHEIMDIENSTE Mann von Interesse E rstmals sind jetzt aus dem Bestand der sowjetischen Botschaft in der DDR-Hauptstadt Berlin Akten aufgetaucht, die ein ungewöhnlich enges Verhältnis des damaligen Kirchenjuristen und heutigen brandenburgischen Ministerpräsidenten Manfred Stolpe zu den Sowjets dokumentieren. Als vor sechs Jahren ein Kooperationsvertrag zwischen Moskaus KGB und der Stasi über den Einsatz des Spitzenmannes „IM Sekretär“ bekannt wurde, hatte Stolpe diesen Vertrag als „Luftblase“ heruntergespielt. Das Abkommen sah vor, den „IM Sekretär“ einzusetzen, um den „Einfluß antikommunistischer Kräfte auf den Weltkirchenrat zurückzudrängen“. Offenbar mit Erfolg: Im Vergleich zum „reaktionär gesinnten Bischof Gottfried Forck“ vertrat Stolpe laut einer internen Analyse der Geheimdienste die „Linie der konstruktiven Zusammenarbeit mit dem Staat“. Bei einem Empfang 1984 mäkelte der sowjetische Diplomat Gorald Gorinowitsch dennoch bei Manfred Stolpe, daß d e r nächster Woche haben wir die Ausstattung für 4058 Arbeitsplätze in Berlin. SPIEGEL: Klappt die Bürotechnik? Cloes: In der Regel gut, nur die Vizepräsidenten des Bundestages können erst Ende Juli nach draußen telefonieren. Wegen Schwierigkeiten beim U-BahnBau in der Nähe des Palais am Brandenburger Tor konnten die Kabel nicht rechtzeitig gelegt werden. SPIEGEL: Und trotzdem ist der Bundestag arbeitsfähig? Cloes: Dafür ist durchgehend gesorgt. Selbstverständlich kann etwa der Verteidigungsausschuß kommende Woche in einem abhörsicheren Raum des Reichstags zusammentreten. SPIEGEL: Manche Bedienstete besitzen nach dem Umzug nicht einen, sondern vier Schreibtische und fünf Stühle. Wieso? Cloes: Womöglich haben einige Kollegen zu viele Bonner Möbel mit Aufklebern für Berlin versehen, weil sie nicht glaubten, hier wirklich neue Tische oder Stühle vorzufinden. Aber die Kollegen werden froh sein, das Zeug abgeben zu können. Die Räume nämlich sind viel zu eng, da läßt sich nichts bunkern. J. H. DARCHINGER BERLIN-UMZUG er „die UdSSR und die USA auf ein Niveau stelle“ und so die „Position der Äquidistanz zu den Blöcken“ beziehe. Schon bei der nächsten Sitzung des DDR-Friedensrates im August 1984 hielt Stolpe im Palast der Republik eine Rede und betonte, „Äquidistanz zu den Hauptmächten der heutigen Bündnisse“ verbiete sich. Die sowjetische Botschaft befand später in dem Sondertelegramm Nummer 48 vom 23. April 1985: „Dieser Mann ist für uns von Interesse“ und teilte Moskau mit, Stolpe habe „zu verstehen gegeben, daß er eine Reise auf die Krim machen möchte“. Das vom KGB durchsetzte Staatsamt für Kirchenfragen kabelte 24 Stunden später zurück: „Die Leitung der russisch-orthodoxen Kirche schickt demnächst eine Einladung.“ Stolpe verbrachte drei Wochen in der Schwarzmeer-Stadt Sotschi im teuren Hotel mit Chauffeur und Begleiter. Die Brandenburger Staatsanwaltschaft, die gegen Stolpe wie gegen den Stasi-Mann Klaus Roßberg wegen des Verdachts ermittelt, einer von beiden müsse über die Stasi-Verwicklungen Stolpes falsch ausgesagt haben, hat die Moskauer Akten bislang nicht gesehen und will das Verfahren einstellen. s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 19 Panorama Deutschland Am Rande 20 DPA Deutschland hat kein Loch Ness und folglich auch kein Ungeheuer. Gut, wir haben Karl Dall, der sieht wenigstens ein bißchen so aus. Die breite Masse will allerdings im Sommerloch etwas anderes sehen. Tauglich sind hierzulande Frauen und Känguruhs, wobei letztere im vergangenen Jahr so gehäuft herumhüpften, daß niemand mehr wußte, ob er gerade Manni I oder Manni II gesehen hatte. Dieses Jahr ist schon wieder mindestens ein Känguruh abgängig. Bei den Frauen ist die Sache einfacher: Zum einen hopsen sie nicht durch die Gegend, und zum anderen bieten sie männlichen Politikern die fabelhafte Chance, sich ebenso gefahr- wie folgenlos als Streiter für die Gleichberechtigung in Szene zu setzen: Allsommerlich findet sich jemand, der „Frauen ans Gewehr“ fordert. In diesem Jahr war es Rudolf „Eichenlaub“ Scharping, im vergangenen verlangte der damalige Verteidigungsminister Volker Rühe, die Bundeswehr mehr für Frauen zu öffnen, 1997 jemand von der FDP, und 1996 redeten fast alle darüber, inklusive Helmut Kohl. Beim Sommertheater mitzumischen ist nur für linke Bundeswehrgegner problematisch: Wer Frauen nicht an die Waffen lassen will, ist ein Chauvi, wer sie zur Bundeswehr schicken will, ein Kriegstreiber. Pazifist und Frauenfreund gleichzeitig zu sein ist schwer: „SoldatInnen sind MörderInnen“ ist einfach kein guter Slogan. B. BOSTELMANN / ARGUM Sommerpausenclowns Kamera-Auto von Tele-Info DAT E N S C H U T Z Haus-Fotografen gestoppt B ürger müssen es sich nicht gefallen lassen, daß ihre Häuser und Grundstücke von einem Unternehmen fotografiert werden, das die Fotos zu einer gewaltigen Datensammlung zusammenfügen will. Das Hamburger Landgericht untersagte in einer einstweiligen Verfügung dem niedersächsischen Tele-Info-Verlag, Fotos von den Immobilien des Klägers anzufertigen und gemeinsam mit der Adresse zu veröffentlichen oder zu vertreiben. Tele-Info ist seit Monaten in der Bundesrepublik mit Spezialautos unterwegs und knipst in diversen Städten sämtliche Häuser, Grundstücke und Straßenzüge. Die Bilddatenbank soll an Behörden, Feuerwehr und Rettungsdienste verkauft werden; auch für Immobilienhändler wäre das Material interessant. Datenschützer waren bislang davon ausgegangen, daß der Firma juristisch kaum beizukommen sei – und trösteten sich mit dem vagen Versprechen, Tele-Info würde Proteste einzelner Bürger respektieren. U N T E R S U C H U N G S AU S S C H Ü S S E Juristisches Neuland I n dieser Woche noch will der Untersuchungsausschuß des Berliner Abgeordnetenhauses zur Aufklärung der Kurden-Krawalle die Bundesregierung verklagen. Vom Bundesverwaltungsgericht sollen zunächst Innenminister Otto Schily (SPD) und der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, Peter Frisch, zur Aussage vor dem Ausschuß gezwungen werden. Die Bundesregierung verweigerte bisher für alle Kabinettsmitglieder und Beamten Aussagegenehmigungen. Grund dafür ist, so argumentiert das Innenministerium, daß der Berliner Ausschuß auch „eine unzulässige Untersuchung des Wissens und Verhaltens von Behörden des Bundes“ im Zusammenhang mit den Kurden-Ausschreitungen plane. Bisher hat keine Bundesregierung einen Untersuchungsausschuß vollständig abgeblockt. Das Verfahren gilt daher als juristisches Neuland. d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 Nachgefragt Ja, aber ... Der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck hat vorgeschlagen, daß Arbeitnehmer in den nächsten beiden Jahren nur noch einen Inflationsausgleich erhalten, um „das Sozialsystem zu stabilisieren und zur Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft beizutragen“. Würden Sie auf reale Lohnzuwächse verzichten? Jahoch, , der Lebensstandard ist so daß Deutschland sich Lohnverzicht leisten kann Ja , aber nur wenn die Wirtschaft verbindliche Zusagen für neue Arbeitsplätze macht Emnid-Umfrage für den SPIEGEL vom 13. und 14. Juli; rund 1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: keine Angabe Nein 11% 38% 46% Werbeseite Werbeseite R. SUBBIAH Deutschland Daimler-Manager Pfahls (in Singapur 1998), Spürpanzer „Fuchs“, Förderer Strauß mit Persönlichem Referenten Pfahls (1979): „Ich kann leider A F FÄ R E N Operation Fuchs Der mit Haftbefehl gesuchte ehemalige Verfassungsschutzchef Holger Pfahls ist in Südostasien abgetaucht. Er soll die Schlüsselfigur in einem Schmiergeld-Kartell gewesen sein. Als Staatssekretär im Verteidigungsministerium soll er einen umstrittenen Panzer-Deal mit Saudi-Arabien durchgesetzt haben. 22 d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 stets bestritt, schien lange auf eher wackligen Beweisen zu fußen. Doch was jetzt geschah, adelt den Verdacht der Augsburger Fahnder: Der ehemalige Agentenchef tauchte in Hongkong unter wie ein ertappter Anlagebetrüger. Das Ermittlungsverfahren 502 Js 127135/95, das zeigen dessen jüngste Ergebnisse, könnte sich zu einer Staatsaffäre auswachsen. Mit Pfahls würde erstmals seit der Flick-Affäre wieder ein, wenn auch ehemaliges, Mitglied einer Bundesregierung wegen krimineller Machenschaften vor Gericht stehen. Der Daimler-Manager muß einen Prozeß jedenfalls gefürchtet haben. Er rief aus dem Krankenhaus einen ehemaligen Ministerialbeamten in Bonn an, den er lange kennt. Dem klagte Pfahls, er könne leider nicht beweisen, daß er unschuldig sei, desP. ECKENROTH / JOKER E in Schlaganfall, so glauben die Ärzte, 3,8 Millionen Mark dafür gesorgt zu haben, hatte den Manager während einer daß 1991 gegen Bedenken und zeitweiliDienstreise aufs Krankenbett gewor- gen Widerstand sowohl seines Ministers fen. Dennoch empfing der malade Deut- und der Heeresführung als auch des Aussche im Veterans General Hospital der tai- wärtigen Amtes 36 „Fuchs“-Panzer an Sauwanischen Hauptstadt Taipeh zwei An- di-Arabien geliefert wurden. Der Vorwurf, wälte aus der Heimat. Holger Pfahls, 56, den Pfahls („Ich habe nie Geld gesehen“) einst Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz und heute Spitzenmanager des Automobilkonzerns DaimlerChrysler in Südostasien, hatte gravierende juristische Probleme zu besprechen – gegen ihn liegt ein Haftbefehl wegen Bestechlichkeit und Steuerhinterziehung vor. Die Staatsanwaltschaft Augsburg wirft dem Ex-Geheimdienstler, der vor dem Daimler-Job auch schon als Staatssekretär im Bonner Verteidigungsministerium Karriere gemacht hatte, vor, für ein Schmiergeld von Bundesamt für Verfassungsschutz S. v. HEYDEKAMPF S. MÜLLER-JÄNSCH sponnenen Geflecht aus dienstbaren Politikern, gierigen Industriellen und dubiosen Mittelsmännern gewesen sein, das sich Millionensummen ergaunerte. Zum Kreis der Verdächtigen, die bei dem Geschäft mit den Saudis abkassiert haben sollen, zählen der ehemalige Parlamentarische Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium, Erich Riedl (CSU), 66, StraußSohn Max Josef, 40, Ex-CDU-Schatzmeister Walther Leisler Kiep, 73, sowie die damaligen Thyssen-Manager Jürgen Maßmann, 56, und Winfried Haastert, 58. Auf deren Spur war die Augsburger Staatsanwaltschaft gekommen, als sie 1995 den Kauferinger Geschäftsmann Karlheinz Schreiber, 65, einen alten Kumpan von Strauß, wegen anderer Vorwürfe überprüfte (SPIEGEL 48/1995). Schreiber war damals nach Überzeugung der Staatsanwaltschaft für verschiedene Industrieunternehmen im In- und Ausland tätig, indem er „Kontakte zu Entscheidungsträgern in Politik und Wirtschaft eröffnet“. In den konfiszierten Dokumenten fanden die Ermittler Hinweise, daß der Patriot und Geschäftsmann („Ich liebe dieses Land und insbesondere den Freistaat Bayern“) auch der Essener Thyssen Industrie AG beim Panzer-Deal als „Berater für Marketingzwecke in der Golf-Region“ diente. nicht beweisen, daß ich unschuldig bin, deshalb werde ich untertauchen müssen“ Insgesamt plante Thyssen „ausweislich des halb müsse er wohl untertauchen. Der Be- Swissair-Fluges SR 550 aus Zürich. Doch aufgefundenen Projektleitblatts“, bei dem kannte, ein Jurist, riet dringend ab. Pfahls Pfahls war nicht, wie angekündigt, an Bord. Gesamtauftragsvolumen von 446,4 Milliogab sich scheinbar geschlagen: „Sie haben Erste Ermittlungen ergaben, daß der Ex- nen Mark für die Panzer 219,7 Millionen als Geheimdienstler seinen Flug in die Obhut „Provisionen oder nützliche Aufwendunrecht, ich muß mich stellen.“ Auch Daimler sorgte sich um seinen der deutschen Justiz in Hongkong abge- gen“ zu verteilen. 24,4 Millionen davon Asien-Repräsentanten, der in der konzern- brochen hat – seitdem ist er untergetaucht. sollen an den Vermittler Schreiber geflos„DaimlerChrysler wird das Arbeitsver- sen sein, der dieses Geld großteils weiterinternen Hierarchie zur Führungsebene E 1 zählt, die direkt unterhalb des Vor- hältnis mit Herrn Pfahls beenden“, erklär- geleitet habe. In einem Aktenvermerk – „Betrifft: Zahstands angesiedelt ist. Zunächst wurde der te vorigen Freitag Konzernsprecher Chriehemalige Kommunikationschef von stoph Walther. Der Konzern hat nur ein lungen von Karlheinz Schreiber an InduDaimlerChrysler in Singapur, Han Tjan, Problem – er weiß nicht, wo er Beurlau- strie und Politik unter Verwendung von Decknamen und Abkürzungen“ nach Taiwan geschickt, dann wurden die bung und Kündigung zustellen – hielten die Fahnder ihre Theokann. Anwälte Pfahls’ eingeschaltet. Verräterische rie fest, die sich auf Zahlen und Sollte sich Pfahls noch in Die Juristen mühten sich, dem GesuchZahlen und sonderbare Namenskürzel in eiten klarzumachen, daß er sich stellen sol- Hongkong befinden, kann er sich sonderbare nem beschlagnahmten Schreile. Pfahls wurde eine gute medizinische vorerst ziemlich sicher fühlen – Versorgung an Bord, wenn nötig sogar ein die Chinesen gelten bei der Namenskürzel ber-Kalender stützt. „Holgert 3,8“ bedeute demnach, Holger Sanitätsflugzeug und ärztliche Begleitung Rechtshilfe als ziemlich unbereauf einem Pfahls habe von Schreiber 3,8 zugesagt. Die Stuttgarter glaubten offenbar chenbare Partner. Die Justiz hat KalenderMillionen kassiert. „Waldherr 1“ an die Unschuld ihres leitenden Angestell- seit einiger Zeit den Druck erblatt und „Winter 1,200“ hießen, ten, der bei rund 600 000 Mark Jahresein- höht. Sie läßt Pfahls’ stattliches Walther Leisler Kiep und Winkommen für das gesamte operative Ge- Gehalt pfänden, seine Villa am schäft des Konzerns in Südostasien ver- Tegernsee ist mit einer Zwangshypothek fried Haastert hätten eine Million beziebelegt. Die Augsburger Fahnder erwägen hungsweise 1,2 Millionen Mark bekommen. antwortlich war. Die Anwälte kehrten Anfang Juni mit nun, ein Zielfahndungskommando auf den „Jürglund 4,125“ bedeute, Jürgen Maßdem Versprechen Pfahls’ zurück, sich zu ehemaligen Geheimdienstler anzusetzen. mann habe 4,125 Millionen erhalten. stellen, sobald er flugtauglich sei. Den Er- Denn Pfahls soll, wenn voraussichtlich „Maxwell 500“ interpretieren die Staatsmittlern übergaben sie ein kurzes Attest nächstes Jahr der Prozeß um den Panzer- anwälte als halbe Million für Max Strauß. Alle Beschuldigten bestritten die vorgedes Veterans General Hospital mit der Dia- Deal beginnt, mit auf der Anklagebank sitgnose „Suspected to be recurrent stroke“ zen – als angeblich käuflicher Staatsse- worfenen Zahlungen. Das tun sie auch heute noch. Ihre Anwälte sprechen von „Fik– Verdacht auf einen neuerlichen Schlag- kretär a. D. Pfahls, früher einmal Büroleiter von tionen“ und „abenteuerlichen Konstrukanfall. Zusage und Attest sollten die Fahnder beruhigen – ein Auslieferungsabkom- Franz Josef Strauß und dank der Protekti- tionen“ der Staatsanwaltschaft. on des bayerischen Ministerpräsidenten im Doch die Ermittler trugen Stein für Stein men mit Taiwan gibt es ohnehin nicht. So warteten denn am Dienstag morgen Verteidigungsministerium untergekom- zu einem Mosaik zusammen, das im April vorvergangener Woche Polizeibeamte am men, soll vor seinem Wechsel in die Indu- zu Haftbefehlen gegen Pfahls sowie die Münchner Flughafen auf die Ankunft des strie eine Schlüsselfigur in einem feinge- beiden Spitzenmanager führte. Zwar hat d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 23 Deutschland d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 J. H. DARCHINGER Wolfgang Krach, Georg Mascolo Schreiber Maßmann KNIPPERTZ PRESSEDIENST W. SCHUERING 24 Fünf Monate später lag die Ausfuhrgenehmigung für Thyssen Henschel mit einem Mal doch auf dem Tisch. Am 27. Februar 1991, der Krieg der Alliierten gegen den Irak war schon fast vorbei, stimmte der Bundessicherheitsrat der Ausfuhr der 36 Panzer zu. Weil Thyssen nicht so viele auf Lager hatte, lieferte die Bundeswehr gebrauchte Fahrzeuge nach Saudi-Arabien, der Industriegigant füllte den Bestand des Heeres mit neuen Tanks wieder auf. Ziemliche Probleme bereitet den Staatsanwälten noch immer die Beweisführung gegen Riedl, Leisler Kiep und Strauß junior. Einstellen will man die Verfahren aber vorerst nicht. Vielleicht, hofft man in Augsburg, packt im geplanten Prozeß gegen Maßmann, Haastert und Pfahls ja doch noch jemand aus. Vor allem bei Max Strauß, der alle Vorwürfe gegen sich als „absurd“ zurückweist, tut sich die Staatsanwaltschaft mit der Unschuldsvermutung schwer. Die Festplatte seines Computers war, kurz nachdem die Staatsanwaltschaft mit den Durchsuchungen in Sachen Schreiber und Co. begonnen hatte, von einem wundersamen Virus befallen und dadurch „geputzt“ worden. Riedls Ehefrau Gertrud gab zudem den Ermittlern noch einen besonderen Auftritt des Strauß-Sohnes Max zu Protokoll, den es laut Strauß nie gegeben hat: Kurz nach dem Besuch der Fahnder bei Strauß habe dieser eines Abends plötzlich an die Fensterscheibe geklopft. „Ihr habt doch 500000 Mark von Thyssen bekommen“, habe er losgepoltert. Riedls Frau dementierte energisch, Strauß habe getobt: „Beseitigen Sie alles. Das muß alles weg, alle Telefonnummern, Visitenkarten vernichten.“ Ihren Mann solle sie „nur noch von Telefonzellen aus anrufen“, die Schweizer Konten „beseitigen“. Dann sei Strauß junior in der Nacht verschwunden, nicht ohne ihr zuvor einzuschärfen: „Dieser Besuch hat nicht stattgefunden.“ Dietmar Hawranek, J. H. DARCHINGER Foto. Wenigstens einmal, sagt ein ehemaliger Mitarbeiter, habe sein Chef dabei von Saudi-Arabien aus mit Schreiber telefoniert, gegen den mittlerweile ein Haftbefehl wegen Steuerhinterziehung in zweistelliger Millionenhöhe vorliegt. Schon vor dem ersten Abflug der Thyssen-Leute nach Riad lief der Bonner Regierungsapparat auf Hochtouren. Mit in Gang gebracht hatte ihn Staatssekretär Pfahls. Der wies am 10. September 1990 den Hauptabteilungsleiter Rüstung sowie den Führungsstab des Heeres an, eilig zu klären, ob „Fuchs“-Panzer „aus Bundeswehr-Beständen an Saudi-Arabien entgeltlich abgegeben werden können“. Dem Ministerium ist dieser Auftrag immer noch ein Rätsel: „Der mögliche Export“ sei bis zum Tag Pfahls-Villa am Tegernsee: Mit Zwangshypothek belegt der Pfahls-Anordnung verdacht“ der Untreue und Steuerhinter- „offensichtlich nicht diskutiert worden“, heißt es in einem Vermerk der Hardthöhe. ziehung weiter bejaht. Auch Pfahls kann oder will sich nicht so Bei ihrer Recherche sind die Fahnder tief in die Regularien des „Bundessicher- genau erinnern. Er ließ sein Ministerium heitsrates“, eines der geheimsten Gremien 1996 wissen, die ganze Sache sei für ihn der Republik, eingedrungen – und haben „nach nunmehr fünf Jahren nicht mehr rekonstruierbar“. Erstaunliches zutage gefördert. Am 25. September 1990 fragte Thyssen Unter Vorsitz des Kanzlers entscheiden dort die wichtigsten Kabinettsmitglieder, Henschel beim Auswärtigen Amt an, ob was Deutschland an High-Tech-Kriegsgerät für die „Fuchs“-Ausfuhr nach Saudi-Araexportiert. Pfahls, der bei der Durchsu- bien mit einer Genehmigung nach dem chung seiner Villa noch gestöhnt hatte, Kriegswaffenkontrollgesetz „zu rechnen „meine Karriere ist zu Ende“, ließ seine ist“. Das AA war nicht begeistert. Pfahls inAnwälte vortragen, es könne „wohl aus- tervenierte im Kanzleramt, schaltete den geschlossen werden, daß sich der Bundes- damaligen Kohl-Vertrauten Horst Teltschik kanzler und fünf Bundesminister von ei- ein. Den bat er um „geeignete Einflußnem beamteten Staatssekretär in irgendei- nahme auf die Haltung des AA“, da dieses „offensichtlich nicht bereit“ sei, „auf bisner Weise präjudizieren lassen“. Ganz so abwegig ist dieser Verdacht der herige Grundpositionen zu verzichten“. Augsburger nicht. Aus den Akten der Mi- Eine davon lautete: keine Rüstungsliefenisterien läßt sich ersehen, daß Pfahls 1990 rungen nach Saudi-Arabien. und 1991 auf der Hardthöhe nicht nur engstens in die Ausfuhrentscheidung eingeIns Visier der Justiz bunden war, sondern sie auch gegen alle Bedenken verteidigte und forcierte. sind die Pfahls-Bekannten Karlheinz Die Operation Fuchs begann im SomSchreiber, Geschäftsmann aus Kaufemer 1990, kurz nachdem der irakische Dikring, Jürgen Maßmann, Geschäftsführer tator Saddam Hussein das Nachbarland Henschel Wehrtechnik, Erich Riedl, ExKuweit am 2. August besetzt hatte. Auf diStaatssekretär im Bundeswirtschaftsmiplomatischen Kanälen sowie über ihre nisterium, Winfried Haastert, Vorstand langjährigen Geschäftskontakte zu Schreibei Thyssen-Krupp Automotive, und ber und Thyssen ließen die Saudis die BonMax Josef Strauß geraten. ner Regierung wissen, sie wollten dringend mit Panzern aus Deutschland aufrüsten. Maßmann, im Thyssen-Henschel-Vorstand zuständig für Wehrtechnik, reiste den Ermittlungen zufolge Ende September 1990 nach Riad, um im dortigen Verteidigungsministerium erste Gespräche über die Lieferung der Spürpanzer zu führen. Mitte Oktober kamen die Industriellen ein zweites Mal und präsentierten 14 saudischen Riedl Haastert Generälen das Wundergerät auf Film und M. HANGEN das Oberlandesgericht München die Haftbefehle gegen Haastert, inzwischen Personalvorstand der ThyssenKrupp Automotive AG, und Maßmann, mittlerweile Geschäftsführer der Henschel Wehrtechnik GmbH, gegen Kaution in Höhe von je einer Million Mark außer Vollzug gesetzt. Bei beiden wurde aber der „dringende Tat- Strauß junior Üppiger Übergang Viele Ärztefunktionäre arbeiten ehrenamtlich – kassieren aber Spitzenbezüge. Gesundheitsministerin Andrea Fischer will die dubiose Finanzierung stoppen. d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 ARIS U lrich von Sassen hat es wenigstens mal versucht. Ob nicht einige der teuren elf Bezirksstellen der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen eingespart werden könnten, fragte der Chef der Vertreterversammlung, einer Art Ärzteparlament, letzten Herbst seine Kollegen. „Die Meinung der Basis ist mir wichtig“, schrieb von Sassen an fast 20 000 Ärzte. Die unschuldige Anfrage kostete den In- Gesundheitsministerin Fischer* ternisten aus Hannover beinahe sein Amt. Professionell und transparent Die Leiter der Bezirksstellen, deren Einkünfte von bis zu 11 000 Mark pro Monat weggefallen wären, organisierten den Widerstand: Einen Mißtrauensantrag überlebte von Sassen knapp, einen Rechtsstreit verlor er – die Umfrage ist längst eingestampft. Einziger Trost für den Reformer: In Bayern und bei der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein scheiterten ähnliche Versuche. Die Verbandsfunktionäre der Ärzte fürchten um ihre Privilegien. Kaum ein Berufsstand honoriert seine Interessenvertreter so großzügig und so unauffällig wie die Mediziner ihre Spitzenleute in den Kas- Reformer von Sassen*: Unschuldige Anfrage senärztlichen Vereinigungen (KV). Obwohl die Doktoren ehrenamt- 17 500 Mark. Hinzu kommen wahlweise lich arbeiten, kassieren sie oft Summen, 10 500 Mark oder das Gehalt für einen andie durchschnittliche Mediziner kaum gestellten Arzt, der ihn in seiner Praxis noch durch ihre ärztliche Tätigkeit ver- vertritt. Damit nicht genug: Mehrere taudienen. send Mark pro Monat sind für einen VorWieviel die Amtsträger erhalten, wird standsposten in der Kassenärztlichen Bunmeist verschwiegen. „Eine interne Vermö- desvereinigung fällig. gensangelegenheit“ sei das, meint etwa RüZu den Spitzenverdienern gehört auch diger Balthasar, Hauptgeschäftsführer der Winfried Schorre, der für zwei SpitKV Westfalen-Lippe. zenämter Entschädigungen erhält: Die Sein Verband hat Grund zur Heimlich- Chefposten in der Kassenärztlichen Buntuerei: Anstößig ist vor allem die üppige desvereinigung und bei der VereiniÜbergangsentschädigung, die den Vor- gung Nordrhein – beides sind Ehrenämstandsvorsitzenden Ulrich Oesingmann nach ter – bringen ihm im Jahr etwa 470 000 dem Ausscheiden erwartet. Bliebe er bis Mark. Ende 1999 im Amt, bekäme er anschließend Das erschien sogar dem nordrhein-westrund 2,1 Millionen Mark. Das entspricht ei- fälischen Landessozialgericht zuviel. „Für ner monatlichen Rente von 8750 Mark für ei- ehrenamtliche Tätigkeit gilt der Grundsatz nen Zeitraum von 20 Jahren. der Unentgeltlichkeit“, heißt es in einer Momentan erhält Oesingmann zusätzlich zu seinen Praxiseinkünften eine * Oben: am 1. Juni auf dem Ärztetag in Cottbus; unten: monatliche Aufwandsentschädigung von in seiner Praxis in Hannover. Urteilsbegründung. Als Ersatz für Praxisund Verdienstausfall könne der Vorsitzende einer Kassenärztlichen Vereinigung jährlich nur bis zu 170 000 Mark beanspruchen. Doch selbst bei kleinen rheinlandpfälzischen Selbstverwaltungen, denen zum Teil nur wenige hundert Ärzte angehören, liegen die Gesamteinkünfte bei über 200 000 Mark im Jahr. Nun will die grüne Gesundheitsministerin Andrea Fischer per Gesetz erzwingen, was den Ärzten selbst nicht gelingt: Die undurchsichtigen Vergütungsstrukturen der Ärztefunktionäre sollen klarer, die Arbeit der Selbstverwaltungen effizienter werden. Wichtigster Punkt dabei: Wer seine Lobbyund Verbandsarbeit als Fulltime-Job macht, soll wie ein Vollprofi bezahlt und auch behandelt werden. „Es ist ein Armutszeugnis, daß die Ärzte das nicht selber regeln“, sagt Lothar Wittek, Chef der KV Bayerns. Doch vor Ort hat sich eine fatale Allianz gebildet – aus Funktionären, die einander schützen, Mitgliedern, die gar nicht ahnen, was mit ihren Zwangsbeiträgen geschieht, und Aufsichtsbeamten in den Ministerien, die sich oft für die Mißstände nicht wirklich interessieren. Bisher bekommen die Funktionäre zwar kein Gehalt, doch entgangene Arbeitszeit wird gleich mehrfach ausgeglichen: π durch Aufwandsentschädigungen, die selbst beim Chef der KV von Sachsen-Anhalt 18000 Mark monatlich betragen, π durch ein Honorar für angestellte Ärzte, die sich um die verwaisten Praxen kümmern, π durch Übergangsentschädigungen für die Zeit nach dem Ehrenamt – als Ausgleich dafür, daß der Funktionär seine Praxis nicht in Schuß halten kann. Soviel Großzügigkeit ist in der deutschen Verbandsszene rar: Die Präsidenten der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände und des Deutschen Industrie- und Handelstages, Dieter Hundt und Hans Peter Stihl, bekommen für ihre Lobbyarbeit keinen Pfennig. Beide führen ihre Unternehmen nebenher; wie das gelingt, ist allein ihr Problem. Nach Fischers Plänen werden die Funktionärseinkünfte nicht überall niedriger ausfallen. Die Ministerin will mehr hauptamtliche Manager, ihr geht es um Professionalität und Transparenz. Den Ärztefunktionären jedoch leuchtet das nicht ein. Die Politik wolle nur „einen aufmüpfigen Berufsstand mundtot machen“, vermutet etwa Dieter Krenkel, Vorstandsmitglied in der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung. Das müßten die Zahnärzte unbedingt verhindern, behauptet er: „Das Geld ist uns doch völlig Wurscht dabei.“ Elisabeth Niejahr W. SCHMIDT / NOVUM ÄRZTE 25 F. HELLER / ARGUM Ministerpräsident Stoiber*: „Schröder ist der Kanzler des gebrochenen Wortes“ S P I E G E L - G E S P R ÄC H „Die Regierung muß weg“ Edmund Stoiber, bayerischer Ministerpräsident, CSU-Chef und möglicher Kanzlerkandidat der Union, über Euro-Schwäche, Sparpaket und seine Doppelstrategie SPIEGEL: Der Euro erreicht nahezu täglich ein neues Rekordtief, und Sie machen dafür die SPD-geführte Regierung verantwortlich. „Die haben fertig“, behaupten Sie. Ist das Ihre vorgezogene Bewerbung um die Kanzlerkandidatur? Stoiber: Meine Analyse wird von vielen Experten geteilt. Daß der Euro sinkt, hängt unzweifelhaft auch damit zusammen, daß die Märkte dem Euro-Raum, anders als den USA, eine schlechte Zukunftsprognose ausstellen. Es fehlt an Vertrauen, daß die notwendigen strukturellen Reformen im Euroland angepackt werden und sich die Konjunktur erholt. Sonst würden die Marktteilnehmer stark auf Europa, vor allem auf Deutschland setzen und in den Euro investieren. SPIEGEL: Der Reformstau begann in der Ära Helmut Kohl. Die immer wieder verschobene Rentenreform, der zu üppige Sozialstaat, die enorm hohe Steuerbelastung – das alles wollen Sie der neuen rot-grünen Regierung anlasten? Stoiber: Alle Strukturreformen, die die alte Bonner Koalition eingeleitet hatte – viel* Im Dasa-Werk Manching am 7. Mai 1998. 26 leicht spät, aber immerhin –, sind von Schröder und seiner Truppe zurückgenommen worden. Die Rentenreform, die Lockerung beim Kündigungsschutz, die Änderung bei der Lohnfortzahlung, alles wurde zurückgedreht. Das Ergebnis wundert mich nicht: Die großen Wachstumsraten, die wir vergangenes Jahr noch hatten, müssen laufend nach unten korrigiert werden. Deutschland balgt sich heute mit den Italienern um den letzten Platz. Die Bilanz der neuen Regierung ist negativ, der sinkende Euro ist dafür ein untrügliches Zeichen. SPIEGEL: Wie kann man den Vertrauensschwund stoppen? Auf Ihren Kundgebungen empfehlen Sie: Schröder abwählen! Stoiber: Als erstes muß das angekratzte Vertrauen in die strikte Einhaltung des Stabilitätspakts wiederhergestellt werden. Es war ein schwerer Sündenfall der Regierung Schröder, bei der ersten Bewährungsprobe Italien eine höhere Neuverschuldung als im letzten Jahr vereinbart zu gestatten. Hinzu kommt: Deutschland als größte Volkswirtschaft im Euro-Raum marschiert mit Atomausstieg, Öko-Steuer, 630-MarkGesetz, Scheinselbständigkeit, Schlechtd e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 wettergeld genau in die falsche Richtung. Deshalb muß die rot-grüne Ministerriege wieder weg. SPIEGEL: Ist Ihre aggressive Oppositionspolitik nicht allzu durchsichtig? Der Wähler hat die von FDP, CDU und CSU geführte Regierung doch gerade erst abgewählt. Stoiber: Aber Sie müssen auch sagen, warum er uns abgewählt hat. Der Wähler hat uns abgewählt, weil Herr Schröder und Herr Lafontaine gesagt haben, die Regierung Kohl betreibe sozialen Kahlschlag, unsere vorsichtige Rentenpolitik wurde als brutal diffamiert. Es gebe eine massive Gerechtigkeitslücke, so wurde im Wahlkampf getönt. SPIEGEL: Andere sagen: Schröder hat die Wahlen in der Mitte gewonnen, weil er Reformen in Aussicht gestellt hat, zu denen das Kohl-Kabinett offenbar nicht mehr in der Lage war. Stoiber: Bei den Reformen ist Schröder vor der Wahl nie konkret geworden, im Gegenteil: Er hat die Rücknahme der eingeleiteten Reformen versprochen. In Wahrheit wurde im Wahlkampf der LafontaineKurs übernommen. Schröder ist für mich nach seiner bisherigen Amtszeit der Kanz- rechnungen der unabhängigen Kommission zur Reform der Unternehmensbesteuerung heute 15 290 Mark. Nach dem neuen Modell, für das sich Herr Eichel entschieden hat, insgesamt 27 250 Mark. Das ist eine Durchschnittsbelastung von 27,3 Prozent gegenüber 15,3 Prozent. SPIEGEL: Die Senkung der Steuersätze produziert nicht nur Verlierer. Unterm Strich CDU-Politiker Wulf, Schäuble, Rühe*: „Ein langer Weg“ wird die Wirtschaft weniger belastet als von der Vorgängerregierung. Stoiber: Natürlich gibt es auch Gewinner – und das sind ausgerechnet die größeren Firmen. Wie schaut es aus, wenn zum Beispiel ein verheirateter Steuerpflichtiger einen Gewinn vor Steuern von 500 000 Mark erwirtschaftet? Er zahlt heute insgesamt 216 932 Mark, er zahlt künftig bei Herrn Eichel nur noch 186 884 Mark, Wahlkämpfer Schröder*: „Die Bilanz ist negativ“ wird also um 30 000 Mark entlastet. So steht es in den offiziellen Li- Personengesellschaften oder Einzeluntersten von Eichels Reformkommission. Für nehmer. 99 Prozent unserer Betriebe sind mich ist es ein absoluter Wahnsinn, daß mittelständische Unternehmen mit weniger man nach diesem Vorschlag die kleinen als 500 Mitarbeitern. Sie müssen steuerUnternehmen nicht entlastet, sondern be- lich entlastet werden, weil sie die Substanz lastet. Dieses Steuermodell kommt ausge- bilden, die wir brauchen, um die Arbeitsrechnet von einer Partei, die sich sozialde- losigkeit zu bekämpfen. Bei aller Wertmokratisch nennt – von Bebel über Brandt schätzung für BMW, DaimlerChrysler oder zu Brioni. VW: Diese Unternehmen werden unsere SPIEGEL: Sie nehmen den Vorschlag der Re- strukturelle Arbeitslosigkeit nicht entgierung vielleicht zu ernst. Die Erfahrung scheidend verändern können. lehrt, daß in Zeiten der rot-grünen Re- SPIEGEL: Ihr strategisches Ziel ist offenbar gentschaft stets Nachbesserungen folgen. eine Mehrheit im Bundesrat, um genau das Stoiber: So kann man aber doch Deutsch- zu machen, was die SPD-Bundesratsmehrland auf Dauer nicht regieren. Wir haben heit in der Endphase Kohl gemacht hat: Gott sei Dank bald eine Reihe von Volks- blockieren. abstimmungen. Stoiber: Nein, im Gegenteil: Wir wollen die SPIEGEL: Sie interessieren doch wohl vor Regierung zwingen, mit der Opposition zu allem die Landtagswahlen im Saarland und einem vernünftigen Steuerpaket zu kommen. Wir blockieren nicht, wir wollen eine in Schleswig-Holstein? Stoiber: Nicht allein. Aber in beiden bisher Steuerreform, die Wachstum und neue Jobs SPD-regierten Ländern sieht es für die mobilisiert, und zwar schnell. Union sehr gut aus. Es ist doch äußerst er- SPIEGEL: Sehen Sie überhaupt keinen Hinfreulich, daß der CDU-Kandidat für das weis auf eine Kursänderung, nachdem Saarland, Peter Müller, in den Umfragen Oskar Lafontaine von Bord gegangen ist? vorne liegt. Und dann wollen wir mal se- Stoiber: Im Reden und Papiereverfassen hen, ob die Lockerheit bei Herrn Schröder schon, aber nicht im Regierungshandeln. Da kann ich keinen klaren Kurs erkennen. danach noch anhält. SPIEGEL: Werden Sie dem Entwurf für die SPIEGEL: 30 Milliarden aus dem Etat rausUnternehmensteuerreform im Bundesrat zustreichen, ist das nichts? zustimmen? Stoiber: Konsolidieren ist grundsätzlich Stoiber: So auf keinen Fall. Wir sind eine richtig und muß sicherlich auch gemacht Partei für den Mittelstand und für die Mit- werden, aber es muß richtig gemacht werte der Gesellschaft. Die kleinen Unterneh- den. Selbst das Wirtschaftsinstitut DIW mer, die hier zwischen 50 000 und bis zu sagt, von den 30 Milliarden Mark sind nur 200 000 Mark verdienen, das ist die Substanz derer, die Arbeitsplätze schaffen. Wir * Oben: auf dem Bundesparteitag in Erfurt am 26. April; haben in Deutschland mehr als 2,7 Millio- unten: im Wahlkampf in Wilhelmshaven am 2. Februnen Betriebe, und davon sind 2,3 Millionen ar 1998. d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 27 T. SANDBERG ler des gebrochenen Wortes. Es gab bisher keinen Kanzler, der so locker Zusagen gemacht hat und sie dann bricht. Es muß wieder stärker über die Frage der Glaubwürdigkeit diskutiert werden: Wie ist jemand an die Macht gekommen? SPIEGEL: Kohl ist nur durch den Verrat der Liberalen an der Regierung Helmut Schmidt an die Macht gekommen, wenn Sie so wollen. Stoiber: Ein Koalitionswechsel ist in der Demokratie Normalfall, der Bruch von Wahlversprechen nicht. Schröder hat ganz bestimmten Zielgruppen, die ihn später dafür stark unterstützt haben, sehr präzise Wahlversprechen gemacht – zum Beispiel den Rentnern. Ich war in vielen Altersheimen: Schröders Versprechen, er werde die Reformen der Union rückgängig machen, hat dort mächtig eingeschlagen. Die Leute haben ihm vertraut. SPIEGEL: Aber es ist nicht verboten, eine als Fehler erkannte Politik zu korrigieren. Mit der Vorlage des Sparpakets, der Rentenkürzung und den vorgelegten Eckwerten für eine Steuerreform hat sich die Regierung doch einen Ruck gegeben. Stoiber: Ganz und gar nicht. Die Rentenreform ist in Wahrheit eine Sparaktion für den Haushalt, die an den strukturellen Problemen der auf den Kopf gestellten Alterspyramide nichts ändert. Und auch die Steuerreform erfüllt in keiner Weise die Erwartungen. SPIEGEL: Immerhin: Erstmals seit langem werden die Unternehmen entlastet. Stoiber: Sie müssen beide Stufen der Steuerreform gemeinsam betrachten: Die erste Stufe in diesem Jahr hat die Unternehmen mit zehn Milliarden Mark belastet. Die Entlastung für die Unternehmen, also Stufe zwei, war für nächstes Jahr versprochen. Sie ist jetzt auf 2001 verschoben. Angekündigt waren Entlastungen von acht Milliarden Mark, jetzt zeichnet sich ab, daß es eher auf sechs Milliarden Mark hinausläuft. Das heißt, es bleibt netto weiterhin bei einer Belastung von vier Milliarden Mark für die Wirtschaft. So schafft man keine Arbeitsplätze. Im Mai und Juni ist die Arbeitslosigkeit saisonbereinigt sogar wieder gestiegen. SPIEGEL: Aber die angekündigte Höchstbelastung von Unternehmensgewinnen mit 35 Prozent wird doch von Parteien, Verbänden und Unternehmen begrüßt. Stoiber: Viele kennen die Auswirkungen der neuesten Steuerpläne noch nicht. Erst seit Anfang dieser Woche liegen die von der Regierungskommission durchgerechneten Fallbeispiele vor: Wenn jemand als Bäckermeister demnach 50 000 Mark Gewinn aus seinem Gewerbebetrieb herausholt und davon lebt, zahlt er heute 3200 Mark an Steuern. Nach Eichels Vorschlag zahlt er künftig 12 500 Mark, also 9300 Mark Steuern mehr. Ein verheirateter Steuerpflichtiger mit einem Gewinn vor Steuern von 100 000 Mark zahlt nach den Be- K.-B. KARWASZ Deutschland Deutschland A. POHLMANN in der Genforschung. Und rungen zu vermitteln, aber doch einfacher wir haben bei alledem un- als die SPD. Wir haben diese Diskussion in sere Staatskasse in Ordnung der CSU schon lange begonnen. gehalten. Wir haben in den SPIEGEL: Wie soll daraus eine Strategie zur vergangenen fünf Jahren al- Ablösung der Regierung werden? lein durch Privatisierungen Stoiber: Das ist ohnehin ein langer Weg. 5,5 Milliarden Mark zusätz- Ich sage das, weil manche nach den Heslich investiert. sen-Wahlen und nach dem glanzvollen SPIEGEL: Was erwarten Sie Sieg bei der Europawahl glaubten, die Regierung sei jetzt schon mehr oder weniger jetzt von Schröder? Stoiber: Ich möchte zu- waidwund. nächst, daß die Regierung SPIEGEL: Aber wenn sich die Chance zur Stoiber, SPIEGEL-Redakteure*: „Ich fühle mich hier wohl“ ihr Steuerkonzept wieder schnellen Ablösung bietet, stehen Sie als 17 Milliarden Mark wirkliche Einsparun- zurückzieht und ein Entlastungskonzept Kanzlerkandidat bereit? gen, und 13 Milliarden sind Umschich- für kleine und mittlere Betriebe vorlegt. Stoiber: Ich stelle fest, daß Sie es nicht tungen vom Bund zu den Ländern und Das gleiche gilt für den Sparhaushalt, die lassen können! Die Aufgaben eines MiniRente inklusive. Ich sage klipp und klar: sterpräsidenten in einem so großen Land Kommunen. SPIEGEL: Ihr sächsischer Ministerpräsiden- Für die Union gibt es keine Rentenge- wie Bayern, in einem sich verändernden tenkollege Kurt Biedenkopf war großzü- spräche mit der Bundesregierung, solange Europa, wo es immer mehr auf die Regiger, er hat die Regierung für ihre Spar- der Rentenbetrug nicht vom Tisch ist. gionen ankommt, ist doch eine großartiDem Paket insgesamt fehlt auch die so- ge Herausforderung. Ich fühle mich hier anstrengungen gelobt. Stoiber: Er hat das Ausmaß des Eichel-Pa- ziale Balance. Die notwendige Moderni- sehr wohl. kets zu dem Zeitpunkt vielleicht noch nicht sierung des Standorts läßt sich so nicht SPIEGEL: Dieses Land ist wunderbar, Sie im Detail gekannt. Das belastet natürlich bewerkstelligen. haben einen tollen Job, aber wenn das auch die sächsischen Kommunen außeror- SPIEGEL: Herr Stoiber, Sie müssen sich Nötigen gar kein Ende nimmt, würden Sie dentlich, bei der Sozialhilfe, den Unter- schon entscheiden, was Sie kritisieren wol- auch zu einer Kanzlerkandidatur nicht haltsvorschüssen. len: daß die Regierung ein leichtfertiges nein sagen? SPIEGEL: Dann müssen Sie und Ihre Kollegen in den Ländern eben auch mal den Großes Minus für die Kleinen Rotstift ansetzen. Ausgewählte Steuerbelastung für einen verheirateten Unternehmer (Personenunternehmen) Stoiber: Dann muß die Regierung in Bonn REFORMVORSCHLAG des Finanzministeriums BISHERIGES RECHT* aber doch vorher mit uns reden. Die Regierung kann doch nicht das Kindergeld DurchschnittsGewinn vor Gewinn nach Durchschnitts- Gewinn nach erhöhen, sich dafür feiern lassen, und dann Steuern in Mark belastung Steuern in Mark Steuern in Mark belastung zahlen 15 Prozent der Kindergelderhöhung die Kommunen und die Länder noch ein47,94% 39,04% 1 000 000 520 563 609 943 mal 42,5 Prozent. Dabei ist die neue Regierung mit der Ankündigung angetreten, sie wolle nicht zu Lasten anderer sparen. 43,39% 37,38% 500 000 283 068 313 116 SPIEGEL: Wenn man Sie hört, hat man den Eindruck, der Staat kann nirgendwo sparen. 29,78% 31,50% 140 440 137 010 200 000 Stoiber: Das will ich nicht behaupten. SPIEGEL: Dann sagen Sie uns doch, wo ein Kanzler Stoiber sparen würde. 150 000 114 578 105 684 23,61% 29,54% Stoiber: Den Kanzler Stoiber gibt es nicht, aber ich würde einem Kanzler, der auf mei84 710 72 750 100 000 15,29% 27,25% nen Rat hören würde, raten, jedenfalls *Berechnet nach dem Einkommensteuertarif des Jahres 2002 Quelle: Finanzministerium nicht an den Investitionen zu sparen. SPIEGEL: Daß die Regierung Ihrer Meinung nach nichts taugt, ist deutlich geworden. Versprechen abgegeben hat oder daß sie Stoiber: Ich weiß, daß Personalfragen und Unklar ist nur: Was wollen Sie anders dieses Versprechen bricht und das richtige erst recht die Frage nach der Kanzlerkanmachen? tut, womöglich noch nicht kraftvoll genug. didatur beliebte Fragen sind. Aber erstens Stoiber: In Bayern kann man doch sehen, Stoiber: Das stimmt doch nicht. Wenn die stellt sich für mich die Frage nicht, niemand wie wir im Rahmen der Landespolitik Im- Regierung den Rentnern nur den Inflati- nötigt mich. Und zweitens wäre das Führen pulse für Wachstum und Arbeitsplätze set- onsausgleich gewährt und damit ihre Zu- der Personaldiskussion aus dem Blickzen: Wir tun was für Existenzgründer, ha- wendungen für die Rentenkasse um 3,6 winkel der Union ein schwerer Fehler. Die ben allein 30 Gründerzentren aufgebaut. Milliarden Mark entlastet, dann spart sie an Union hat eine ganze Reihe von AbstimWir unterstützen die Handwerksmeister fremdem Vermögen. Sie gibt den Rentnern mungen zu Sachaussagen zu erledigen, bis mit ordentlich dotierter Förderung und nicht das, was ihnen zusteht. wir an die Adresse Schröders sagen können: Meister-Preisen, unsere Selbständigenquo- SPIEGEL: Sie haben doch mit Ihrer CSU die- Sie haben fertig, und wir stehen bereit. te ist deutlich über dem Bundesdurch- selben Probleme wie die SPD. Es fällt Ihnen SPIEGEL: Wann muß die Frage des Spitzenschnitt, unsere Arbeitslosenquote deutlich schwer, eine klare Modernisierungsstrategie kandidaten entschieden sein? darunter. Wir fördern High-Tech-Firmen in zu verfolgen, weil Ihre Wählerklientel noch Stoiber: Die Personalfrage sollten wir nicht der Luft- und Raumfahrt, in der Software- mit der alten Bundesrepublik verhaftet ist. vor dem Februar des Jahres 2002 entscheiIndustrie, in der Telekommunikation, Für die bedeutet Globalisierung nicht den. Jede verfrühte Debatte schadet der Chance, sondern Bedrohung. Union und ihren Wahlchancen. Stoiber: Wir haben es generell sicher nicht SPIEGEL: Herr Stoiber, wir danken Ihnen * Gabor Steingart, Stefan Aust, Christian Reiermann in der Münchner Staatskanzlei. leicht, die Notwendigkeit von Verände- für dieses Gespräch. 28 d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Deutschland 32 d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 Deutschland Nicht mehr kompatibel Für Härtefälle gibt es das sogenannte Betreuungshandy. „Ein Gespräch, ohne daß jemand mithört“, bietet der evangelische Militärpfarrer Werner Herrmann, 49, Soldaten an, wenn die Stimmung auf dem Nullpunkt ist, wenn etwa die Freundin per Brief oder Telefon in dürren Worten das Ende verkündet hat. „Du stehst hier und sie 2500 Kilometer weiter – was willst du da retten?“ sagt einer, der es auch schon hinter sich hat. Und Truppenpsychologe Jens Kowalski, 36, ergänzt: „Die meisten Frauen sind auch nicht mehr umzustimmen.“ Partnerschaften, die DPA Die gefährlichste Mission der Truppe fordert vor allem Opfer an der Heimatfront: Den Soldaten laufen die Frauen und Freundinnen weg. ein Programm zur Zerstörung der sozialen Beziehungen von Soldaten“, ärgert sich Heide Rasch, 44, aus Kempten, die seit 20 Jahren mit einem Panzerfahrer verheiratet ist. Viele Frauen wollen zu der Belastung regelmäßiger Versetzungen und langer Lehrgänge ihrer Männer fern der Wohnorte nicht auch noch über viele Monate auf den Lebensgefährten verzichten. Als Angehörige einer ehemaligen Verteidigungsarmee, die bis vor wenigen Jahren fast ausschließlich an deutschen Standorten dienten, tun sich die Soldaten und ihre Frauen jetzt mit den privaten Folgen AFP / DPA BUNDESWEHR Deutsche Soldaten beim Abschied daheim, gefeiert als Befreier (in Prizren): „Was macht sie gerade?“ T ruppenpsychologe Oberstleutnant Paul Evers, 52, aus Düsseldorf weiß schon früher als seine Patienten, wann eine Seelenkrise droht: bei der Heimkehr. „Erwarten Sie nicht einen zu großen Empfang“, bereitet er die Männer aus dem ersten Kfor-Kontingent, die jetzt nach Deutschland zurückkehren, in der Feldzeitung auf Enttäuschungen vor. Zu Hause, so Evers, sei nach vier Monaten Absenz oft nichts mehr, wie es war. Im Einsatz eben noch als Helden gefeiert, haben etliche Bundeswehrsoldaten den Kampf an der Heimatfront schon verloren. Im Kosovo wurden vier Gebirgsjäger eines 24 Soldaten starken Zuges aus Schneeberg bereits im ersten Monat Kriegseinsatz von ihren Freundinnen verlassen. „Und das ist erst der Anfang“, glaubt Zugführer Stefan Ebneth, 34. Den Fahrer des Kommandeurs der Kosovo-Einsatzbrigade, Fritz von Korff, traf die Trennung von der Freundin unerwartet bei einem Kurzurlaub. Beim Telefonat vor der Heimreise schien alles in Ordnung, am Flughafen holte ihn schon niemand ab, zu Hause war die Wohnung leer. Ab Januar 2000 sollen alle Männer zudem statt bislang vier Monate gleich ein halbes Jahr im Einsatz bleiben. „Das ist 34 der Friedenseinsätze in den Krisengebieten sichtlich schwer. Bei den zumeist sehr jungen Männern, die in langen Nächten in den Panzern Wache schieben, „nagt schon die Frage, was sie gerade macht“, sagt ein Gefreiter. Und auch die Frauen bleiben nicht ohne Zweifel,wenn sie im Fernsehen verfolgen, wie die Soldaten von hübschen Kosovarinnen als Befreier gefeiert werden. Bis zur Ausgangssperre um 24 Uhr sind im Zentrum von Prizren die Bars geöffnet. Die jungen Mädchen, obwohl gläubige Musliminnen, tragen modische westliche Kleidung und flirten gezielt mit Helfern, Journalisten und Soldaten – wer westliche Kontakte hat, steigt in der Hierarchie. Noch sind Verbindungen zwischen Befreiern und den Schönen von Prizren enge Grenzen gesetzt. Die Bundeswehrsoldaten dürfen in ihrer Freizeit bis dato die Camps aus Sicherheitsgründen nicht verlassen. Fällt die Sperre, ahnt der stellvertretende Kommandeur Rolf Bescht, 52, „bricht zu Hause der Sturm des Protestes los“. Probleme können auch nicht ausdiskutiert werden: Die Feldpost dauert derzeit bis zu 30 Tage, das Mobilfunknetz funktioniert im Kosovo nicht. Jeder Soldat darf zweimal in der Woche je zwei Minuten über Satellitentelefon mit der Heimat sprechen – kontrolliert wird mit der Stoppuhr. d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 noch einmal notdürftig stabilisiert werden, zerbrechen häufig nach der Heimkehr. „Du denkst, du bist noch immer der Herrscher der Fernbedienung, aber Fehlanzeige“, beschreibt Oberleutnant Ralf Uffelmann, 28, aus Ottobrunn bei München zudem den Machtverlust nach der Rückkehr, wenn die Frau zu Hause die Tagesgeschäfte übernommen hat, von der Kontoführung bis zur Kfz-Reparatur. Die verschiedenen Welten der Partner erweisen sich oft als kaum noch kompatibel. „Sie beschäftigt, daß der Wein bei Aldi teurer geworden ist, und ich erzähle von Leichengeruch, Massengräbern und Verbrechen“, sagt Stabsfeldwebel Norbert Reitmeier, 46, aus dem niederbayerischen Regen. „Da muß man das Räderwerk, das einmal gut ineinandergegriffen hat, erst wieder langsam zusammenführen“, erklärt Oberfeldwebel Christian Wiederer, 27 – und nicht immer gelingt das. So fordert die gefährlichste Mission der Bundeswehr ihre Opfer vor allem auf dem Schlachtfeld der Liebe. Rechtsberater Oberst Gert Both, 59, der sich eigentlich um die juristischen Fragen des Einsatzes kümmert, steht den Soldaten in dringenden Fällen auch als privater Rechtsanwalt zur Seite – derzeit liegen auf seinem Schreibtisch die Akten von einem halben Dutzend Scheidungsfällen. Susanne Koelbl Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Deutschland MEDIZIN „Ende eines Traumberufs“ Chefärzte und Klinikmanager nutzen die Stellenknappheit, um Wohlverhalten zu erzwingen. Ein „Klima der Angst“, klagen Assistenzärzte, herrsche in den Krankenhäusern. D π warf ein Assistenzarzt den frisch gewaschenen Kittel eines Kollegen schon mal „postwendend in den Wäschesack“, damit der Konkurrent „aufgrund fehlender sauberer Kittel einen unordentlichen Eindruck“ hinterlasse; π träufelte jemand dem Kollegen Betäubungsmittel in ein Getränk, auf daß der Mitbewerber seinen Nachtdienst verschlafe; π fälschte ein Doktor die vom Kollegen geführten Patientenakten, um ihn beim Chefarzt in Mißkredit zu bringen. Beinahe durchgängig aber erzeugt die Existenzangst bei den Assistenzärzten einen „enormen Wohlverhaltensdruck“ (Henke). Und so gilt in großen Universitätskliniken wie in kleinen Kreiskrankenhäusern oder den vielen kirchlich getragenen Hospitälern: Nie zuvor war die Macht der Chefs über ihre Untergebenen so groß wie heute – und wohl noch nie machten die so ungeniert davon Gebrauch. Allein in Berlin, schätzt Günther Jonitz, Präsident der Landesärztekammer, gebe es „mindestens 500 aktuelle Mobbing-Fälle“. Aber nicht nur Assistenzärzte machen sich das Leben gegenseitig schwer, oft seien „die Chefs die treibende Kraft“. Der Kammerpräsident kennt den Fall eines Chefarztes, der „bis heute seine Leute bei Visiten vor Patienten zusammenschreit, bis er Nasenbluten bekommt“. Und selbst das könne den Tobenden nicht stoppen: „Er stopft sich ein Taschentuch in die Nase und schreit weiter.“ Nur diejenigen blieben in der Abteilung, „die es ertragen, ständig angebrüllt zu werden“. Manche ertragen noch mehr. Ein Assistenzarzt aus Niedersachsen nahm es hin, daß sein Chefarzt ihn regelmäßig ohrfeigte. Weder wehrte er sich, noch kündigte er. Das sei keineswegs nur eine Frage mangelnder Zivilcourage gewesen, sagt Thomas T. HEIMANN A. KULL / VISION ie Assistenzärztin an der Medizini- beitslos. Und in naher Zukunft, fürchtet schen Hochschule Hannover hatte Thomas Rottschäfer, Sprecher des Bundes, den schlimmsten Fehler gemacht, seien in deutschen Hospitälern wegen weiden sich deutsche Nachwuchsmediziner terer Sparmaßnahmen „noch ein paar tauzuschulden kommen lassen können: Sie send Stellen gefährdet“. Die Angst um den Arbeitsplatz wird von hatte sich beschwert. Ihr Bericht zur Lage der Station war zu Klinikleitungen und Chefärzten noch geeiner einzigen Anklage gegen den Chefarzt schürt. Neun von zehn Assistenzärzten, geraten: Die ohnehin regelmäßigen Über- schätzt Rudolf Henke, Vizechef des Marstunden nähmen überhand, die häufigen burger Bundes, werden befristet eingeNacht- und Wochenenddienste ließen kaum stellt. Gelinge es einem Assistenzarzt in Zeit zur Regeneration. Solche Arbeitsbe- dieser Zeit nicht, im Kreis der Favoriten dingungen, so die Ärztin, dienten weder der seines Chefs zu bleiben, „droht die ArAusbildung noch dem Wohl der Patienten. beitslosigkeit“. Die heile Welt, die in den beliebten TVVon Stund an wurde die Assistentin von ihrem Chef mit unbeliebten Arbeiten über- Serien beschworen wird, ist längst nicht mehr auf den Krankenhaushäuft, im Dienstplan tauchfluren oder in den Operatite ihr Name auch dann auf, onssälen zu finden. Ganze wenn sie um Freizeit gebeHeerscharen junger Mediten hatte. Selbst ein schon ziner konkurrieren um die genehmigter Urlaub wurde Verlängerung der Zeitverkurzfristig gestrichen. träge und um die raren unFür Personalrätin Brigitbefristeten Stellen – mitunte Stryk sind solche Winter mit dubiosen Methokelzüge „ein klassischer den. Das von der BundesFall von Mobbing“ – bei ärztekammer und der Kasdem die Opfer nicht einmal senärztlichen Bundesvermit der Solidarität der Koleinigung herausgegebene legen rechnen können. In „Deutsche Ärzteblatt“ prämehreren Abteilungen der sentierte eine Fallsammhannoverschen Univerlung besonders trickreicher sitätsklinik herrsche, so Mobbing-Mediziner. So Stryk, vor allem unter den Ärztefunktionär Jonitz Assistenzärzten ein „Klima der Angst“. Aus Sorge um die Karriere werde selbst bei gröbster Schikane geschwiegen. So sei es selbstverständlich, daß Mediziner mit Halbtagsstellen ein volles Tagespensum ableisten und darüber hinaus auch noch „Überstunden ohne Bezahlung und ohne Freizeitausgleich akzeptieren“. Die Existenzangst der Ärzte ist durchaus begründet. In den Krankenhäusern wurden in den vergangenen Jahren bundesweit Tausende Arztstellen gestrichen, 12 000 bis 15 000 Doktores sind nach Angaben des Marburger Bundes, der Interessenvertretung der Klinikärzte, bereits ar- Ärzte im Operationssaal: „Assistenten zittern, wenn der Chef in den Saal kommt“ 38 d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 So verliert die Karriere im weißen Kit- senärztliche Vereinigungen und Krantel, lange Ziel ganzer Generationen von kenkassen lassen kaum noch neue PraEinser-Abiturienten, viel von ihrem Reiz. xen zu. Die aussichtslose Lage ihrer NachgeJeder sechste Arzt würde seinen Beruf, so eine Umfrage des „Forschungsverbunds ordneten macht es den Chefärzten leicht, Public Health“ der Technischen Univer- eine Rolle zu spielen, die längst abgeschafft sität (TU) Berlin, „bestimmt nicht mehr schien – die des Herrgotts in Weiß. So erlaubt die Klinikordnung dem Chefwählen“, gut jeder zweite hätte „einige Bedenken“. Schon sprechen Experten wie arzt, einen Assistenten ohne Begründung TU-Forscher Klaus Stern vom „Ende ei- von der Liste der Operateure zu streichen. Das wird beispielsweise in der Orthopänes Traumberufs“. Der Mediziner-Nachwuchs wird, warnt die als probates Zuchtmittel angesehen: die Bundesärztekammer, „leergepreßt wie Wer zur Facharztprüfung zugelassen wereine Zitrone“. Die Jungärzte, mit einem den will, muß unter anderem 180 EingrifBruttogehalt von knapp 5000 Mark trotz fe an Becken, Bein und Fuß nachweisen. Es gebe „Assistenten, die nur noch zitsiebenjähriger Ausbildung schlechter bezahlt als ein Facharbeiter, dürfen die tern, wenn der Chef in den Saal kommt“, Lehrjahre auch schon lange nicht mehr sagt ein Kölner Orthopädie-Oberarzt. Er als Investition in eine goldene Zu- habe Nachwuchsmediziner erlebt, die „so kunft betrachten – die Einkommen auch stark mit dem Skalpell zitterten, daß sie gestandener Krankenhaus-Medizinmän- nicht einmal einen Hautschnitt machen ner sind längst auf Normalmaß abge- konnten“. In der Gynäkologie eines kirchlichen schmolzen. Dennoch halten vor allem jüngere Kol- Krankenhauses in Niedersachsen verlegen, weiß Hans Engelhard, Vorsitzender sammeln sich abends um halb acht die des Mobbing-Ausschusses der rheinland- Assistenzärzte, um ihren Chef im Gänsepfälzischen Ärztekammer, „aus Angst um marsch zur Visite zu begleiten. Die meisten ihren Arbeitsplatz lieber den Mund und haben dann zwölf Stunden Dienst hinter sich, hätten ihren Arbeitsballen die Faust in der Taplatz schon vor zwei Stunsche“. Noch nie in der den verlassen können. Sie Nachkriegszeit, behauptet könnten „ja einfach nach Funktionär Henke, „wurde Hause gehen“, hat ihnen einer Ärztegeneration der ihr Vorgesetzter mit einem Widerspruch so schwergesubtilen Lächeln erklärt. Es macht“. stehe ihnen aber selbstDenn Alternativen gibt verständlich frei, ihn es kaum. Flüchteten Ärzte „während der Freizeit zur früher nach Querelen mit beruflichen Fortbildung zu ihrem Chef aus den Kranbegleiten“. kenhäusern in die Praxen, Dennoch ist es eher die müssen sie heute durchAusnahme, wenn wie in halten. Der Sparzwang Berlin die Ärztekammer eiim Gesundheitswesen hat nem Chefarzt die Weiterdie Niederlassungsfreiheit bildungsbefugnis entzieht, praktisch aufgehoben, Kas- Ärztefunktionär Henke weil es ihm „an persönlicher Eignung“ fehle. Der Mann hatte Mitarbeiter schikaniert und sich auch einem Gespräch mit Vertretern der Kammer verweigert. Nicht selten werden Ärzte durch die Tortur am Krankenbett selbst krank. Sie flüchten dann, wie der Psychiater Wolf-Rainer Krause beobachtet hat, vorzugsweise in Alkoholmißbrauch oder Tablettensucht. Krause, Chefarzt im sachsen-anhaltinischen Blankenburg, hat aber auch schon mehrfach Kollegen behandelt, die sich aus Verzweiflung über ihre Arbeitsbedingungen „vor den nächsten Zug werfen wollten“. Ärzte bei der Visite: „Der Nachwuchs wird leergepreßt wie eine Zitrone“ Carsten Holm R. BERMES / LAIF M. WOLTMANN Rottschäfer vom Marburger Bund in Köln: „Er wußte, daß Chefärzte miteinander telefonieren. Wer dabei als renitent eingestuft wird, hat kaum noch eine Chance.“ Selbst wenn der Sprung vom Assistenten zum Klinikarzt geschafft ist, bleibt der Druck bestehen. Denn immer noch hat der Chef die Möglichkeit, bei Unbotmäßigkeit des Untergebenen die Karrierebremse zu ziehen. Wie subtil das geschieht, zeigen Fallstudien des Marburger Bundes aus Bayern – sie lesen sich wie eine Anklageschrift gegen die Mediziner-Elite: π Der Oberarzt einer Uniklinik, ein international erfahrener Herzspezialist, durfte nach Streitereien mit seinem Chefarzt monatelang keine klappenchirurgischen Eingriffe mehr vornehmen. Erst nach einer Intervention des Marburger Bundes gab der Chef klein bei. π Der Psychiatrie-Stationsarzt eines Klinikums bekam in vier Jahren der Weiterbildung nur viermal die Möglichkeit, wissenschaftlich begründete Gutachten zu erstellen. Für die Anmeldung zur Facharztprüfung ist der Nachweis von zehn Expertisen erforderlich – ein Abschluß rückte so in weite Ferne. π Der Leitende Gynäkologie-Oberarzt eines oberbayerischen Krankenhauses, der aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr den sogenannten Hintergrunddienst absolvieren konnte und dieses durch ein Attest nachwies, wurde prompt degradiert. Der rauhe Alltag drückt mächtig auf die Stimmung. Jeder vierte Klinikarzt klagt nach einer Umfrage des Marburger Bundes über ungerechte Kritik seines Chefs und unerträgliche Konkurrenz unter den Kollegen. Fast sechs von zehn Ärzten beurteilen das Klima in ihrem Krankenhaus als „mäßig“, jeder siebte bewertet es als „schlecht“. 75 Prozent haben Angst um ihren Arbeitsplatz. d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 39 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite W. M. WEBER Schulschwänzer, Polizisten in Nürnberg: Blaumachen als „Einstiegsdroge für kriminelles Verhalten“? SCHULEN Am Schlafittchen in die Schule In Nürnberg werden Schulschwänzer von der Polizei eingefangen. Das Projekt wird in Bayern als vorbildlich angesehen – doch der pädagogische Wert ist umstritten. G o! Hätte er den Computerbefehl wörtlich genommen und nicht einfach das nächste Autorennen gestartet, dann wäre ihm das alles erspart geblieben. Die blonde Frau hält dem Jungen einen grünen Ausweis unter die Nase. Polizeiobermeisterin Britta Frank, 22, hat ihn an der Spielkonsole im Elektronikkaufhaus Saturn in der Nürnberger Innenstadt schon von weitem erspäht und geht schnurstracks auf ihn zu. „Hast du keine Schule?“ fragt sie ihn, während sich ihr Kollege Stefan Walter, 27, neben ihm aufbaut. Der 13jährige Johannis K. klammert sich ängstlich am Joystick der Nintendo-Konsole fest. Er gibt auf der Stelle zu, daß er eigentlich in der Schule sein müßte. Wer in Nürnberg die Schule schwänzt, bekommt es mit der Polizei zu tun. Seit September vergangenen Jahres haben sämtliche Streifenpolizisten den Auftrag, nach verdächtigen Kandidaten Ausschau zu halten. Beamte in Zivil durchkämmen die Kaufhäuser nach Schulpflichtigen. In44 zwischen wurden etwa hundert Schulflüchter aufgegriffen. Die Aktion gehört zum „Sicherheitspakt der Stadt Nürnberg“, einem Modellprojekt zur kommunalen Kriminalprävention. Der Pakt, im Mai 1998 zwischen Polizeidirektion, Stadt und Justiz geschlossen, soll die Kinder- und Jugendkriminalität eindämmen. Die Zahl der Tatverdächtigen hatte sich von 1993 bis 1998 um 39,2 Prozent erhöht. Bayerns Innenminister Günther Beckstein ist von der Idee der Schulsheriffs ganz begeistert. „Daß der Schulschwänzer von einem uniformierten Polizisten am Schlafittchen in die Klasse hineingeführt wird“, ist dem bayerischen Hardliner ein persönliches Anliegen. Für die Polizeiinspektionen landesweit soll das Nürnberger Modell deshalb Vorbild sein. Der ertappte Johannis wirkt verstört. Auf die Frage, warum er nicht in die Schule gehe, antwortet er, die Mitschüler würden ihn immerzu auslachen. Polizist Walter übermittelt Namen und Schule per Funk an einen Kollegen auf der Wache. d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 Dort werden routinemäßig alle Angaben überprüft. Johannis’ Geständnis macht es den beiden Fahndern einfach. Sie können sich sofort mit dem kleinen Sünder auf den Weg zur Polizeiinspektion NürnbergMitte machen, die direkt gegenüber vom Kaufhaus liegt. Von der Wache aus ruft die Polizistin Frank den Vater von Johannis an. Der befürchtet als erstes, daß sein Sohn beim Stehlen erwischt worden ist. Das ist er nicht, aber im Dienstzimmer, unter Streifenpolizisten und mit einem eigenen Aktenzeichen versehen, muß er sich wie ein erwischter Dieb fühlen. Die meiste Zeit wird er ignoriert. Dem ehrgeizigen Vater leuchtet Johannis’ Erklärung nicht ein. Daß die anderen Kinder ihn hänseln, könne schon sein, sei aber kein Grund, von der Schule fernzubleiben. Da Johannis’ Unterricht inzwischen beendet ist, wird er nicht, wie Leidensgenossen vor ihm, direkt zur Schule gebracht. Der schmächtige Junge, der immer kleiner Deutschland STEGMANN / HÖHN zu werden scheint, muß warten, bis ein dung zwischen Schwänzen und krimineller Eltern ihre Kinder geradezu vom SchulbeVerwandter ihn abholt. Die obligatorische Karriere zu ziehen. Die vorliegenden Da- such abhalten.“ Vor allem Mädchen, die „Ereignismeldung“ an den Allgemeinen ten seien zu unsicher. In der Hansestadt doch ohnehin später mal heiraten, haben Sozialdienst (ASD) und das zuständige kümmern sich Sozialpädagogen um die nach Meinung mancher Väter und Mütter keinen dauernden Schulbesuch nötig. Die Schulamt wird noch am selben Tag abge- Schulschwänzer. schickt. Die Nürnberger Sozialpädagogen vom müßten beispielsweise immer wieder mal Die Gesetzesgrundlage für die Jagd auf ASD sehen dagegen durchaus Vorteile in in der Küche des elterlichen Restaurants Schwänzer ist etwas vage: Das Polizei- der Zusammenarbeit mit der Polizei. Die mit anpacken. Die polizeiliche Autorität wirkt nicht imaufgabengesetz gibt den Beamten nicht nur Ereignismeldung gibt den Bezirkssozialden Auftrag, Verbrechen zu bekämpfen, pädagogen der Stadt einen handfesten An- mer. Bei Iwan S., einen 15jährigen Rußsondern auch den, die öffentliche Ordnung laß, Kontakt mit den Eltern aufzunehmen landdeutschen, ist der Jugendbeauftragte zu schützen. In Nürnberg stört Schul- und ihnen Hilfe anzubieten. Meistens wird der Polizeiinspektion Nürnberg-Ost, Werschwänzen offensichtlich die öffentliche sie auch angenommen, denn viele Erzie- ner Würfel, 45, am Ende seiner Macht. Auch die Androhung eines Bußgeldes Ordnung. hungsberechtigte fühlen sich im Umgang kann den zornigen, verstockten Jungen Schulpflicht ist nun mal Gesetz, deshalb mit ihrem Nachwuchs überfordert. droht Dauerschwänzern die „DurchDaß Mundpropaganda auf den Schul- nicht bewegen, Würfel in die Schule zu beführung des Schulzwangs“ nach Artikel höfen dazu führen könnte, potentielle gleiten: „Da gehe ich nicht mehr hin.“ Als Grund für sein häufiges Fehlen gibt 118 des Bayerischen Erziehungs- und Un- Schwänzer abzuschrecken, halten sowohl terrichtsgesetzes. Durch den Nürnberger die Ordnungshüter als auch die ASD- Iwan, der seit vier Jahren in Deutschland Sicherheitspakt soll jetzt die Polizei das Jugendexperten für unwahrscheinlich. lebt, „Langeweile“ an. Seine Lehrerin Gesetz anwenden. Aber derjenige, der den Machtapparat der glaubt ihm das aufs Wort. Denn nach eiWenn alle disziplinarischen Maßnahmen Polizei einmal zu spüren bekam und noch nem heftigen Krach mit einem Lehrer an der Schule versagen, können die Lehrer nicht zu den gewohnheitsmäßigen Blau- der Hauptschule muß der Teenager seit eieinen Schüler nach zehn Tagen unent- machern gehört, könnte durch den Schock nem knappen Jahr wieder eine sogenannte Übergangsklasse speziell für Immigranschuldigten Fehlens durch einen Antrag fürs erste geheilt werden. ans Schulamt polizeilich vorführen lassen. Absentismus, das wiederholte Fernblei- tenkinder besuchen – aus LeistungsgrünSpätestens hier stellt sich die Frage nach ben vom Unterricht, ist kein Massenpro- den, wie es hieß. Da Iwan aber wesentlich der Verhältnismäßigkeit der Mittel. blem – ganze 0,4 Prozent der Volks- und besser deutsch spricht als seine Klassenkameraden, ist der gesamNicht jeder, der te Unterricht für ihn schwänzt, wird automazwangsläufig lästig. tisch zum Verbrecher, so Anstatt zur Schule zu Walter Kimmelzwinger, gehen, traf er sich immer 44, Leiter der Polizeiöfter mit anderen Aussieddirektion Nürnberg und lerjugendlichen und beMiterfinder der Schulgann zu trinken. Er stahl, sheriffs. Aber die Laufprügelte sich und hing auf bahn vieler Straftäter habe der Straße herum. Innermit dem Blaumachen behalb eines Jahres wurde er gonnen. mehrmals straffällig, so Bei Pädagogen sind daß er mittlerweile als judie flächendeckenden gendlicher Intensivtäter Fahndungen allerdings polizeilich bekannt ist. umstritten. Uwe MorgenWürfel muß unverrichstern, 55, Vorsitzender des teter Dinge abziehen. Er Deutschen Berufsverbanhätte Kollegen in Uniform des für Sozialarbeit, Sozianfordern können, die alpädagogik, HeilpädagoIwan notfalls in die Schule gik im Bezirk Franken, ist tragen müßten. Diese über die Nürnberger handgreifliche Variante Einsätze „entsetzt“. Eine wird aber in Nürnberg derartige Kontrolle unter Nürnberger Polizeidirektor Kimmelzwinger: 100 Schulflüchter gefaßt nicht praktiziert. dem Vorwand der PrävenEs muß ja auch nicht immer die Polizei tion kommt für ihn einem Orwellschen Sonderschüler Nürnbergs sind als DauerAlptraum nahe. Geriete sein Kind „in schwänzer erfaßt. Doch hinter diesen sein, die chronische Absentisten einfängt. diese Maschinerie“, würde er wahrschein- vergleichsweise wenigen Fällen steckt fast An der Nürnberger Ludwig-Uhland-Schulich „bis vors Bundesverfassungsgericht immer ein gravierendes soziales Problem: le übernimmt das eine festangestellte Soziehen“, meint er aufgebracht. Mobbing der Klassenkameraden, Streß mit zialpädagogin. Monika Paul, 52, führt alOb das Projekt mit dem Datenschutz- dem Lehrer, Versagensängste, Alkoholis- lerdings vor allem Beratungsgespräche mit gesetz im Einklang steht, scheint Morgen- mus eines Elternteils, Angstpsychosen von Eltern und Kindern der Hauptschule, die stern zumindest fragwürdig. Der Schwän- Müttern, die nicht allein zu Hause bleiben mit schulischen und häuslichen Problemen zer wird für ein Schuljahr gespeichert; wird können, allgemeine Verwahrlosung – die zu ihr kommen können. Sie kümmert sich aber auch per Hauser in dieser Zeit noch einmal gefaßt, ver- Liste ist schier endlos. längert sich die Speicherung um ein weiManfred Schreiner, 53, Leiter des Amts besuch um Schwänzer. Bisher ist sie immer teres Jahr. für Volks- und Sonderschulen in Nürnberg, mit dem Schlingel im Schlepptau in der In anderen Bundesländern schrecken die gab seine anfänglichen Vorbehalte gegen Schule erschienen. „Hätten alle Schulen Schulbehörden vor der Drohung mit der die Polizei auf. Er sieht Schwänzen als eine eine eigene Sozialpädagogin“, davon ist Polizei zurück. Der Hamburger Schulpsy- „Einstiegsdroge für kriminelles Verhalten“, ihr Schulleiter Ditmar Heinl, 52, überzeugt, chologe Christian Böhm, 37, hält es für un- die bekämpft werden müsse. „Allerdings“, „wäre der Einsatz der Polizei bald überverantwortlich, eine unmittelbare Verbin- so Schreiner, „gibt es auch Fälle, in denen flüssig.“ Katharina Stegelmann d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 45 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Institutschef Reemtsma in der Hamburger Wehrmachtsausstellung: „Immer wieder Diskussionen um Details“ M. SCHWARTZ S P I E G E L - G E S P R ÄC H „Die Wucht der Bilder“ Der Sozialwissenschaftler Jan Philipp Reemtsma über die Gründe für das Publikumsinteresse an der Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“, über produktive Mißverständnisse und die Beweiskraft von Fotos für die Geschichtsschreibung ren startete Ihr kleines, bis dahin nicht sonderlich bekanntes Institut für Sozialforschung … Reemtsma: … der nicht fachkundigen Öffentlichkeit nicht sonderlich bekanntes Institut … SPIEGEL: … eine ambitionierte Ausstellung. Sie ist mittlerweile von 860 000 Besuchern in 32 Städten gesehen worden, sie wird verklärt und verteufelt. Sind Sie vom Erfolg überwältigt worden – findet da eine Enteignung durch Rezeption statt? Reemtsma: Tatsächlich hat eine öffentliche Aneignung stattgefunden, die nicht einmal mit unseren ursprünglichen Intentionen übereinstimmt. SPIEGEL: Was wollten Sie ursprünglich? Reemtsma: Die Ausstellung war Teil eines wesentlich weiter gefaßten Projekts, zu dem die Veröffentlichung einer Reihe von Forschungsarbeiten, Vortragsreihen und eine weitere Ausstellung gehörten – ein Projekt, das einen Blick auf die Geschichte der Destruktivität im 20. Jahrhundert warf. Die * Mit Redakteuren Gerhard Spörl, Fritjof Meyer, Klaus Wiegrefe in Reemtsmas Büro im Hamburger Institut für Sozialforschung. 48 ist. Sie ist aber nur eine Ausstellung über drei Kriegsschauplätze – und über Kriegsverbrechen. Der falsche Name führt immer wieder zu dem Vorwurf, daß in der Ausstellung nur ein bestimmter Aspekt der Wehrmacht gezeigt wird – was stimmt, aber als Vorwurf unsinnig ist. SPIEGEL: Die Wehrmacht als aktiver Mittäter am Holocaust – das ist doch auch die grundlegende These. Die Besucher reagieren also auf den Sinn der Ausstellung. Reemtsma: Wenn sie sich mit dieser These auseinandersetzen, ja. Die Wehrmacht ist ein aktiver Teil der Massenmordpolitik des Deutschen Reiches gewesen. SPIEGEL: Das ist eigentlich keine ganz neue Erkenntnis. Wie erklären Sie sich die große Resonanz? Reemtsma: Damit, daß diese These über einen Kreis von Fachhistorikern hinaus eben doch nicht so weit verbreitet gewesen ist. SPIEGEL: Neu ist, daß die Ausstellung den Schuldvorwurf nicht auf die BefehlsReemtsma (l.) beim SPIEGEL-Gespräch*: „Falscher Name“ geber der Wehrmacht be- Ausstellung „Vernichtungskrieg“ demonstrierte in diesem Rahmen eine Dimension des Krieges, die ohne Präzedenz in der Moderne gewesen ist: die Vernichtung von großen Teilen der Zivilbevölkerung eines Landes als integraler Teil der Kriegsplanung. Darum der Titel „Vernichtungskrieg“. Sehr schnell ist daraus „Wehrmachtsausstellung“ geworden, ein Sprachgebrauch, der nicht mehr aus der Welt zu schaffen ist. SPIEGEL: Sollte er denn? Reemtsma: Er suggeriert, daß es eine Ausstellung über die Wehrmacht als solche – mit allen ihren verschiedenen Facetten – M. ZUCHT / DER SPIEGEL SPIEGEL: Herr Reemtsma, vor über vier Jah- d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 Deutschland tate aus der Erinnerung wie: „Meine Mutter sagte damals: Sie tragen das Kleid der Schande.“ Es geht den Besuchern darum zu verstehen und zu beurteilen. SPIEGEL: Für die Ausstellungsmacher waren die Texte ursprünglich viel wichtiger, für die Besucher der Ausstellung aber von Anfang an die Fotos, in die sie sich einfühlen können. Darin liegt eben das Mißverständnis, das den Erfolg der Ausstellung begünstigt. Reemtsma: „Einfühlen“ ist wohl kaum das richtige Wort. Aber es stimmt: Museumspädagogisch Vorbelastete hatten uns gewarnt – zu textlastig, die Bilder zu klein, zu wenig schockierende Effekte usw. Niemand werde eine solche Ausstellung besuchen. SPIEGEL: Wollten Sie denn schockieren? Reemtsma: Informieren. Sonst wären wir den Ratschlägen ja gefolgt, nach einem Jahr hieß es: Die Ausstellung wirkt durch die Wucht der Bilder – sie wurde zur „Fotoausstellung“. SPIEGEL: Eine Umdeutung durch die Besucher. Gegenteil, für die These vom Morden der Wehrmacht. Reemtsma: Es geht der Ausstellung an keiner Stelle darum zu belegen, die Verbrechen seien erfolgt, weil die Mannschaften mordlüstern gewesen seien. Der Befehl belegt gerade, daß die Morde keine Folge irgendwelcher Eskalationen oder Exzesse waren, sondern planmäßig erfolgt sind. SPIEGEL: Warum werden die Gründe, die zum Reichenau-Befehl führten, vernachlässigt? Warum die Verengung auf die Befehlsstruktur? Reemtsma: Es gibt keinerlei Belege für Befehlsverweigerung oder -umgehung. Die Befehle sind der Beleg dafür, daß die Wehrmacht als Organisation planmäßig und nicht zufällig hier oder dort Verbrechen durchgeführt hat. SPIEGEL: Aus dem Reichenau-Befehl ergibt sich nicht, daß er befolgt wurde. Reemtsma: Das ergibt sich aus den Vollzugsberichten der unterstellten Divisionen und den Berichten der mit der 6. Armee vorrückenden Einsatzgruppe von der guten Zusammenarbeit beim Judenmord. SPIEGEL: In welchem Ausmaß barbarische Befehle wie der von Reichenau ausgeführt wurden, ist aber entscheidend. Deshalb gibt es ja auch soviel Wirbel um die Ausstellung. Reemtsma: Niemand kann Ihnen den Grad der Beteiligung in Prozentzahlen angeben. Man weiß aufgrund der bisherigen Forschung, daß er höher war, als die offizielle Rhetorik bisher einDemonstration in München*: „Emotionen besonderer Art“ gestehen wollte – da war immer von Einzelfällen und Reemtsma: Ja, aber gleichzeitig werden die Exzessen die Rede. Wie sehr diese RhetoTexte gelesen. Manche Besucher bleiben rik die öffentliche Wahrnehmung domistundenlang. Otto Graf Lambsdorff hat in niert hat, sehen wir an den Reaktionen auf der Debatte im Bundestag, bei der er sich die Ausstellung. deutlich von unserer Grundthese distan- SPIEGEL: Seit vier Jahren ist die Ausstelzierte, von seinem Besuch in München ge- lung unterwegs. Zumindest in ihren Ansprochen: von der Ernsthaftigkeit des Pu- fängen schien es so, daß die Organisatoren blikums, von den vielen, die lange bleiben ihr Material selbst nicht hinreichend geund lesen. Die Ausstellung agitiert nicht. prüft hatten. SPIEGEL: Vielleicht werden die Besucher Reemtsma: Es ist immer wieder versucht nicht agitiert, aber mit problematischen In- worden, einzelne Fotos zu bezweifeln und formationen traktiert. Da ist zum Beispiel damit die ganze Ausstellung zu kritisieren. der berühmte Befehl von Generalfeldmar- Ein Foto – das in vielen Publikationen zu schall Reichenau vom 10. Oktober 1941, finden ist – haben wir aus der Ausstellung der dazu auffordert, Juden und Russen als genommen, nachdem wir feststellen mußUntermenschen auszurotten. Offenkundig ten, daß, obwohl es in verschiedenen inhatten sich große Teile der Wehrmacht dem ternationalen Archiven mit fünf verschieVerbrechen entzogen und mit der Bevöl- denen Bildlegenden versehen ist, nur eine kerung, selbst mit Partisanen fraternisiert. Quelle sicher nachweisbar ist: eine NSReichenau, der Oberbefehlshaber der 6. Propaganda-Broschüre. Ein anderes Foto Armee, ruft die Mannschaften zur Ord- haben wir herausgenommen, das finnische nung, weil sie nicht mordlüstern waren. Er Soldaten zeigte – Verbündete der Wehrwird in der Ausstellung zitiert – für das macht und unter ihrem Kommando, aber eben keine Wehrmachtssoldaten. Bei anderen Fotos haben wir im Laufe der Zeit * Gegendemonstration linker Gruppen gegen Neonazis am 1. März 1997. Orts- und Zeitangaben präzisieren können. AP schränkt, sondern auf die große Mehrheit der Soldaten ausweitet. Reemtsma: Verbrechen werden nicht nur angeordnet, sondern auch begangen. Begangen haben die Verbrechen nicht alle Soldaten. Von denen, die sie begangen haben, haben nicht alle das gern oder aus Überzeugung getan. Viele schon. SPIEGEL: Umstritten sind sowohl die Ausstellung als auch der Begleitband wegen des Kollektivvorwurfs, der in Sätzen wie diesem erhoben wird: Die „Mannschaftsgrade der Wehrmacht unterschieden sich nicht mehr von der Mentalität der Himmler-Truppe“. Das wird mit Bezug auf das Jahr 1941 behauptet. Reemtsma: Nein, auf die zweite Hälfte des Jahres 1942, nach dem Scheitern der Hoffnungen auf einen schnellen Sieg, nach einjähriger Gewöhnung an die Verbrechen. SPIEGEL: Da werden doch Wehrmacht und SS gleichgesetzt. Reemtsma: Hier wird über einen bestimmten Zeitpunkt geredet und über die Beteiligten an den Verbrechen. Es wird keine pauschale Aussage über die Wehrmacht getroffen – weder in dem zitierten Text noch in der Ausstellung. SPIEGEL: Sind Sie der Auffassung, daß unter durchschnittlichen Landsern Mordlust und Gefühlskälte wie bei den Einsatzgruppen und Polizei-Bataillonen geherrscht haben? Reemtsma: Es hat auch in den Einsatzgruppen und den Polizei-Bataillonen Menschen gegeben, die sich geweigert haben, an den Mordaktionen teilzunehmen; geschehen ist ihnen übrigens nichts. Dort wie in der Wehrmacht läßt sich aber feststellen, daß es zur Durchführung von Mordaktionen nie an Freiwilligen gefehlt hat. Es hat schließlich keine mentale Vorauswahl gegeben. Der Schriftsteller Dieter Wellershoff beschreibt, wie er kurz davor war, in die SS einzutreten. Sein Vater hat ihm dann abgeraten, und er ist zur Wehrmacht gegangen. SPIEGEL: Das war normal, sich der SS zu entziehen. Reemtsma: Mir geht es darum, eine solche Biographie ernst zu nehmen, auch das Moment des Zufälligen darin. SPIEGEL: Das Problem der Ausstellung ist die Verallgemeinerung. Wer den „täglichen Rassismus der Mannschaften“ behauptet, bewegt sich in der Nähe von Goldhagens Generalthese – alles willige Vollstrecker. Reemtsma: Nicht alle, aber eben sehr viele. Viel zu viele. Wer die Ausstellung besucht, urteilt übrigens in der Regel nicht so undifferenziert, wie Sie unterstellen. SPIEGEL: Läßt sich das belegen? Reemtsma: Umfragen des Frankfurter Instituts für Sozialforschung zeigen das, Interviews, Eintragungen in die Gästebücher zeigen das. Zwar wimmelt es da auch von Stereotypen pro und contra, aber dann beginnen oft die Erzählungen: „Ich verstehe jetzt meinen Vater besser, der Alpträume hatte.“ Da finden Sie keine Mentalität der Pauschalisierung – zuweilen allerdings Zi- d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 49 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Deutschland Reemtsma: Nicht die Mitarbeiterinnen und etwa Fotos aus dem galizischen Zloczów, Mitarbeiter sind akademische Außenseibei denen man nicht genau weiß, ob dar- ter, sondern das Institut ist akademischer auf die vom sowjetischen NKWD Ermor- Außenseiter, weil es nicht staatlich finandeten gezeigt werden oder die von der ziert ist, sondern privat – was hierzulande Wehrmacht ermordeten Juden. bei manchen als Einwand gilt. In den USA Reemtsma: Der Vorgang als solcher ist un- würde man sich totlachen über so was. strittig. Es hat Morde des NKWD gegeben SPIEGEL: In Amerika werden auch Fotos – die wurden zum Vorwand genommen, selbstverständlich zu historischen Zwecken 3000 Juden zu ermorden. Eines unserer Fo- herangezogen wie in der Wehrmachtsaustos zeigt Opfer des NKWD. Zwei weitere stellung. Die Frage ist nur: Wo ist die Grenzeigen von Deutschen Ermordete. Wir ha- ze zwischen Illustration, Beleg und Beweis? ben noch drei weitere Fotos hinzugefügt. Reemtsma: Das hängt vom VerwendungsSPIEGEL: Ärgern Sie sich, wenn Sie Kor- zweck ab. Die Ausstellung geht deduktiv vor: die Bilder zeigen, wovon in den Texrekturen machen müssen? Reemtsma: Wer mit Materialien solcher ten die Rede ist. Zu Beweiszwecken werArt arbeitet, weiß, daß es immer wieder zu den sie nicht herangezogen und müssen Diskussionen um Details kommen wird. Wir haben von Anfang an um Hinweise, Ergänzungen, Korrekturen gebeten. Keine Ausstellung in diesem Land dürfte jemals so genau beobachtet und kontrolliert worden sein; aber nur in unserem Falle haben Fehler, wie sie überall vorkommen können, oder eben oft auch bloß aufgrund fragwürdiger Quellen vermutete Fehler ganze Zeitungsartikel zur Folge gehabt. SPIEGEL: Der Dauerkonflikt um die Fotos trägt zum Dauererfolg der Ausstellung bei. Reemtsma: Nur mal gerechtigkeitshalber: Die 1991 gezeigte Ausstellung „Krieg gegen die Sowjetunion“ hatte auf einem Foto Polizeiangehörige als Wehrmachtssoldaten ausgewiesen, die ständige, 1996 umgearbeitete Ausstellung des Deutschen Bundestags „Fragen an die deutsche Geschich- Mord an Zivilisten 1941*: „Masken der Pflicht“ te“ zeigt das Foto der Erschießungen im jugoslawischen Pan‡evo, das auch nicht, weil der Beweis aus den das dem SPIEGEL einmal als Titelbild ge- schriftlichen Quellen geführt wird. Wo das dient hat, unter der Rubrik „Krieg gegen möglich ist, sind die Fotos mit exakten Zeitdie SU“. Dasselbe Foto findet man in der und Ortsangaben versehen. Wo nicht, wird „Topographie des Terrors“ mit richtiger eine für den Betrachter nachvollziehbare Orts-, aber falscher Zeitangabe. Solche ein- ungefähre Zuordnung vollzogen. Fotos zelnen Fehler werden nie als Einwand ge- ohne Orts- und Zeitangaben finden sich gen die Seriosität des ganzen Unterneh- dort, wo sich auch keine Texte finden, nämmens ins Feld geführt. Aber bei unserer lich in der Installation des Eisernen KreuAusstellung sind die Emotionen eben von zes. Sie sind ein Beitrag zur Mentalitätsgebesonderer Art. schichte. Es sind Fotos, die Landser geSPIEGEL: Dazu gehört vielleicht auch die be- macht haben: ihr Blick auf das Geschehen. leidigte akademische Welt, deren Professo- SPIEGEL: Was kann man wirklich auf diesen ren dicke, kluge Bücher verfassen und jetzt Bildern von Morden und Hinrichtungen an mit Argwohn verfolgen, wie ein kleines In- Juden und Partisanen sehen, die zumeist stitut mit akademischen Außenseitern … deutsche Soldaten geknipst hatten und die Reemtsma: … ebenso dicke und ebenso Ihr Institut in Archiven auftrieb? kluge Bücher nicht zuletzt zur Rolle der Reemtsma: Sie können – mit Vorsicht – geWehrmacht schreibt … wisse Rückschlüsse auf die Art der BeteiSPIEGEL: … aus bekannten Thesen einen * Im serbischen Pan‡evo. riesigen Ausstellungserfolg macht. DHM SPIEGEL: Es gibt mehr solcher Problemfälle, 52 d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 ligung oder der Nichtbeteiligung ziehen. Es gibt die Fröhlichen, die Gleichgültig-Amüsierten, die Masken der Pflicht. SPIEGEL: Damit befinden wir uns auf dem Gebiet der Psychologie. Reemtsma: Ist das ein Einwand? An einigen Fotos fällt auf, daß eine Gruppe mißhandelter Juden wie auf einem Klassenfoto arrangiert ist. Auf einem anderen stellt sich jemand neben einen Toten, einen Erhängten, einen Leichenberg – wie ein Urlauber neben eine Sehenswürdigkeit. SPIEGEL: Das läßt sich auch so interpretieren: Menschen versuchen Situationen, mit denen sie innerlich nur partiell fertig werden, durch Positur zu bewältigen. Reemtsma: Eine mögliche Interpretation. Eine andere, die dem nicht widerspricht, führt weiter: Normalerweise legen Gesellschaften sehr großen Wert darauf, die Zonen, in denen Gewalt untersagt ist, und die Zonen, in denen Gewalt geboten oder erlaubt ist, scharf zu trennen. Deshalb liegt Bedeutung darin, daß das Alltagsverhalten des Fotografierens einen solchen Platz im Kriegs- und Mordgeschehen einnimmt. Die Soldaten fotografieren sich gegenseitig an Orten, an denen barbarische Taten stattfinden. Die Barbarei wird zum Objekt eines Alltagsmediums – ein Zeichen dafür, daß die Grenzen zwischen verboten, geboten und erlaubt undeutlich werden und partiell aufgehoben sind. SPIEGEL: Was schließen Sie daraus? Reemtsma: Einer der wichtigsten rhetorischen Topoi des NS-Regimes war, daß der Krieg der eigentliche Zustand der Gesellschaft sei. Das Ziel des Krieges ist nicht mehr der Frieden, sondern die Gesellschaft braucht den fortwährenden Krieg, um nicht zu denaturieren. Solche Fotos geben Hinweise darauf, woran zu sehen sein könnte, wo und inwieweit Rhetorik und Verhaltensweisen des einzelnen korrespondierten. SPIEGEL: Das sind ziemlich komplizierte Rechtfertigungen für die umstrittene Methode der Ausstellung – eigentlich Anschlußüberlegungen, die sich auch wegen der permanenten Auseinandersetzung um die Ausstellung aufdrängen. Reemtsma: Das sind keine Rechtfertigungen, es sind Hinweise, in welcher Weise das in der Ausstellung präsentierte Material intellektuell genutzt werden kann – wenn man das denn möchte. SPIEGEL: Das Institut hält sich zugute, daß mit der Wehrmachtsausstellung das letzte Tabu des Zweiten Weltkriegs gebrochen worden ist. Ist es nicht eine Illusion zu glauben, daß es letzte Tabus gibt, die ein für allemal zerstört werden können? Reemtsma: Es war das vorläufig letzte und wird demnächst das vorletzte gewesen sein. Wichtig ist, daß über die Rolle der deutschen Wehrmacht nicht mehr so gesprochen und geschrieben werden wird, wie das früher noch an vielen Orten getan worden ist. SPIEGEL: Herr Reemtsma, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. Werbeseite Werbeseite INVESTOREN Absurdes Brandenburg: Die Beschäftigten von BMW-RollsRoyce sollen nicht mit privaten, sondern mit öffentlichen Bussen zur Arbeit fahren. D ie Fahrgäste, allesamt beim Flugzeugturbinenhersteller BMW-RollsRoyce in Dahlewitz beschäftigt, hatten wie jeden Morgen den Shuttle-Bus bestiegen, der sie vom S-Bahnhof Mahlow an ihren Arbeitsplatz südlich von Berlin bringen sollte. Es war – so genau steht es in den Akten – 7.03 Uhr, als mit der „Durchsetzung des unmittelbaren Zwanges“ begonnen wurde. Ein Fremder, der sich als Mitarbeiter des brandenburgischen Landesamtes für Verkehr und Straßenbau auswies, enterte den Bus und forderte die Insassen auf auszusteigen. Dann hallte vom Bahnsteig eine Ansage „für alle Beschäftigten der Firma BMW-Rolls-Royce“ herüber: „Bitte benutzen Sie den Linienbus der Linie 792.“ A. FRIESE Sozialismus im Speckgürtel Busunternehmer Zoschke: „Wir sind mit der Fabrik mitgewachsen“ Die Fahrgäste, darunter einige Engländer, blieben sitzen; der Fahrer gab Gas. Da sprang Polizeioberkommissar Müller, mit fünf weiteren Beamten der „Sonderüberwachungsgruppe“ im Einsatz, vor den Bus, den dann auch noch zwei Polizeiwagen einkeilten, „um ein Wegfahren mit den Fahrgästen im weiteren zu verhindern“. Das erzwungene Ende der Dienstfahrt ist Teil eines grotesken Bus-Krieges im Speckgürtel von Berlin, wo der Staatssozialismus der DDR offenbar fließend in einen neuen übergegangen ist. Dabei spielt in Dahlewitz eigentlich eine Erfolgsgeschichte. Rund zwei Milliarden Mark investierte BMW-Rolls-Royce in das Werk, in dem Triebwerke für Flugzeuge vom Typ Boeing 717 gebaut werden. Der Standort, schwärmt das Potsdamer Wirtschaftsministerium, trage „maßgeblich“ zur Exportbilanz Brandenburgs bei. 1000 Beschäftigte, darunter Ingenieure aus 35 Ländern, haben inzwischen in der HighTech-Fabrik Arbeit. Aber auch die Unternehmer Peter und Monika Zoschke erlebten ihren persönlichen Aufschwung Ost. Nachdem sie 1993 die Ausschreibung für einen Shuttle-Service gewonnen hatten, erklärte ihnen ein Konzernmanager, wenn alles klappe, „können Sie für uns bis zur Rente fahren“. Längst sind es nicht mehr wie am Anfang nur ein paar Manager, die per Handy eine Limousine ordern, um möglichst schnell zum nächsten Jet zu kommen. So war denn auch bald die Kapazität von Taxen und Kleinbussen ausge- Deutschland reizt. Die Zoschkes investierten eine Million Mark, kauften luxuriöse Busse, ohne Subventionen zu verlangen, und stellten Fahrer an, um morgens und abends rund 800 Beschäftigte hin- und herzufahren. „Wir sind mit der Fabrik mitgewachsen“, sagt Monika Zoschke, 37, heute, und ihr Ehemann Peter, 40, fügt hinzu: „Die konnten sich auf uns verlassen und wir uns auf sie.“ Doch die Entwicklung war wohl zu dynamisch für die zuständige Behörde und das Personenbeförderungsgesetz von 1961. Weil die Zoschkes nur „Genehmigungen zur Durchführung von Gelegenheitsverkehren mit Mietwagen sowie mit Taxi“ und eben nicht für einen relativ regelmäßigen „Verkehr mit Kraftomnibussen (KOM)“ hatten, erklärte das brandenburgische Landesamt für Verkehr und Straßenbau den Shuttle für „illegalen, parallelen Linienverkehr“. Die Behörde hatte einem anderen BusUnternehmer den Zuschlag für den Betrieb der „Ämterlinien“ erteilt. Daß dessen vom Land subventionierte Busse länger brauchen, nicht kurzfristig auf Abruf kommen und damit den Anforderungen nicht gerecht werden, interessierte im Amt weniger. Die Zoschkes fuhren weiter, um den Vertrag mit BMW-Rolls-Royce zu erfüllen. Die Behörde antwortete mit diversen Kontrollen, mit amtlichen Verfolgungsfahrten und jenem Polizeieinsatz, der Monika Zoschke an billigste Krimi-Klischees erinnert: „Die kamen an, als hätten wir Rauschgift in den Bussen.“ Dabei hatte das um juristischen Rat gebetene Innenministerium noch gewarnt. Es sei fraglich, ob „den Fahrgästen der Einstieg verwehrt werden darf“. Doch die Beamten im Haus des Verkehrsministers Hartmut Meyer (SPD) scherten sich ebensowenig um die Bedenken wie um ein wachstumsförderndes Klima im Lande. Als gäbe es für das Land mit fast 19 Prozent Arbeitslosen Investoren in Hülle und Fülle, forderte Abteilungsleiter Ulrich Mehlmann in einen Brief an die Geschäftsführung, die BMW-Rolls-Royce-Manager sollten ihre Mitarbeiter gefälligst dazu bringen, ab sofort mit dem Linienbus 792 zu fahren. In dem dreiseitigen Schreiben findet sich auch die unverhohlene Drohung mit einer „möglichen Ruf- und Imageschädigung“. Bei weiteren Verstößen wäre „die Nennung des Unternehmens BMW-Rolls-Royce als eigentlicher Urheber der Auseinandersetzung unvermeidbar“. Brandenburgs Wirtschaftsminister Burkhard Dreher schwant indes, daß der BusKrieg wohl eher dem eigenen Land als dem Konzern Imageverlust einbringen könnte. Mündlich wie schriftlich forderte er vom Kabinettskollegen eine friedliche und vor allem baldige Lösung des Konflikts. Die deutsch-britischen Manager lassen die Untiefen des brandenburgischen Nah- Flugzeugturbinen-Werk in Dahlewitz „Mögliche Ruf- und Imageschädigung“ verkehrs indes unbeeindruckt. Sie stehen zu ihrem Vertrag mit den Zoschkes, deren Flexibilität mache sie „rundum zufrieden“. Die Zoschkes fahren also immer noch und müssen erleben, daß neun Jahre nach dem Untergang der DDR im Reich des „IM Sekretär“ die Methoden von StasiChef Erich Mielke noch immer Anwendung finden. Mal folgt ihnen ein Wagen des Landesamtes (Tonbandprotokoll: „16.20 Uhr: Wir folgen dem KOM“), mal wird ihr Bus einfach eingekeilt. Mitunter baut sich sogar ein Späher des Verkehrsministers Meyer mit einer Kamera in schönster Stasi-Manier demonstrativ vor einem Shuttle-Bus auf und fotografiert den „illegalen Verkehr“. Stefan Berg Deutschland Für immer stumm Aussagen der Opfer sind oft einziger Beweis für Greueltaten der Serben in Bosnien. Noch ehe die Täter angeklagt werden, droht den traumatisierten Flüchtlingen die Abschiebung. N Fast 200 000 Menschen aller Volksgrupachts verläßt Behija, 38, regelmäßig das Schlafzimmer ihrer Wohnung pen waren während des Krieges in Bosniim Hamburger Stadtteil Bramfeld. en-Herzegowina in Lagern interniert. Die Sie kann es nicht ertragen, wenn sich ihr meisten auf serbischer Seite. 40 Prozent Ehemann Sinad Osmanoviƒ*, 42, in Alp- der Verschleppten waren Frauen. Mindeträumen windet und schreit: „Nicht, bitte stens 20 000, so schätzt der Verband der nicht schon wieder.“ Im Schlaf sieht Os- ehemaligen Lagerhäftlinge in Bosnien-Hermanoviƒ, wie er sich am Boden krümmt, zegowina, sollen vergewaltigt worden sein. um ihn herum ein Dutzend Männer mit schweren Stiefeln, die über Stunden auf sein blutendes Gesicht und seinen Körper eintreten. Die Bilder quälen ihn so lange, bis er sich nichts mehr wünscht als den Tod: „Wo ist der größte, der brutalste Stiefel, der mir den letzten, tödlichen Schlag versetzen kann?“ Osmanoviƒ gehört zu den Überlebenden von Manja‡a, dem neben Omarska berüchtigtsten Folterlager während des Krieges in Bosnien. Von den rund 8000 Muslimen und Kroaten, die etwa 30 Kilometer von Banja Luka entfernt eingesperrt wurden, starben nach Schätzungen der Gesellschaft für bedrohte Völker rund 4000 Menschen an Mißhandlungen, sind verhungert – oder wurden kaltblütig ermordet. Die muslimische Köchin Enisa, 40, und ihre Töchter Jasminka, 13, und Merima, 18, aus einem bosnischen Dorf bei Ko- Massengrab in Bosnien: „Um jeden Beweis froh, der erhalten bleibt“ zarac waren im Lager Trnopolje interniert. In einer ehemaligen Schule Insgesamt starben oder verschwanden fast fürchten Kritiker, könne die Opfer für imhausten dort 30 Frauen auf 15 Quadratme- 40 000 Menschen. mer stumm und damit als Zeugen wertlos tern. Sie schliefen auf blankem Beton. Zu Jetzt wiederholte sich die Geschichte machen. essen gab es einmal täglich eine dünne der Barbarei – im Kosovo. Die Kfor-TrupVon den rund 75 000 bosnischen FlüchtSuppe mit einem Stückchen Brot. Jede pen fanden nach Kriegsende weit über lingen in Deutschland, die noch nicht wieNacht kamen die Folterer in die Zimmer hundert Massengräber. Und wieder gab es der in ihre Heimat zurückgekehrt sind, waund holten sich ihre Opfer. Sie vergewal- Berichte von Lagern und Folterungen. Die ren etwa 830 in serbischen Lagern intertigten die Frauen, die Männer wurden bis Zeugenaussagen der Flüchtlinge und niert. Viele von ihnen wären heute bereit, zur Ohnmacht geprügelt. „Wir hörten das Überlebenden decken sich vielfach mit als Zeugen beim Bundeskriminalamt oder Geheule, das Gejammere, das Geröchel den Erfahrungen, die ihre bosnischen vor dem Haager Internationalen Kriegsund Flehen der Verletzten und fürchteten Landsleute vor sieben Jahren machen verbrechertribunal gegen ihre Peiniger jede Minute um unser Leben“, sagt Enisa, mußten. auszusagen – für die Zusage eines Bleibedie heute mit ihrem Ehemann und den KinAuch jetzt hoffen die Opfer auf Sühne rechts in der Bundesrepublik. dern ebenfalls in einem Vorort von Ham- und Gerechtigkeit durch das KriegsverDoch darauf wollen sich die Innenminiburg wohnt. 3000 von 10 000 Menschen brechertribunal in Den Haag. Experten si- ster auf keinen Fall einlassen. Sie fürchten überlebten das Lager Trnopolje nicht. chern die Spuren, zu Tausenden werden eine Schwemme unerbetener ZeugenausOpfer befragt. Deren Aussagen sind oft sagen ausreiseunwilliger Bosnier und beeinziger Beweis für die an ihnen verüb- harren auf der bisherigen Regelung: Die * Alle Namen zum Schutz der Betroffenen von der ten Kriegsverbrechen. Und sie allein sind begehrte Aufenthaltsbefugnis sollen auch Redaktion geändert. 56 d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 GAMMA / STUDIO X KRIEGSVERBRECHEN es, die auch die Täter, die längst wieder in Serbien leben, identifizieren können. Doch die Erfahrungen bei der Aufarbeitung der Greueltaten in Bosnien lassen zweifeln, ob der Aufwand auch zum Ziel führt. Nur 25 der rund 70 vom Internationalen Gerichtshof in Den Haag gesuchten mutmaßlichen Täter sind in Gewahrsam, lediglich 8 wurden bislang verurteilt. In Deutschland, wo bei der Generalbundesanwaltschaft in Karlsruhe derzeit rund 50 Verfahren wegen Völkermordes im ehemaligen Jugoslawien anhängig sind, mußten sich bislang nur 4 Männer vor Gericht verantworten. Dennoch sollen nun, und das ist eine der Merkwürdigkeiten des geltenden Ausländerrechts, mögliche Zeugen dorthin zurückgeschickt werden, wo sie gefoltert wurden. Die Nähe zu ihren Peinigern, so mindestens hundert Menschen erschossen wurden. Er kann Angaben machen über die als besonders grausame Schläger verrufenen Wachmänner „Fustar“, „Kole“, „Banoviƒ“ und „Gnatoviƒ“. Die Ermittler aus Den Haag waren bereits bei ihm und nahmen seine Aussagen zu Protokoll, ebenso das BKA. Doch die Verlängerung der Duldung des zweifachen Familienvaters ist jedesmal wieder fraglich, da die Ermittlungen nur langsam vorankommen. Daß nicht der Inhalt der Aussage, sondern der Stand des Verfahrens über den Schutz des Zeugen entscheidet, hält der Rechtsreferent des Ausländerbeauftragten in Hamburg, Rainer Albrecht, für „absolut unakzeptabel“. Ein „potentieller Zeuge“ könne nicht schlechter sein als ein vor Gericht geladener. FOTOS: R. JANKE / ARGUS in Zukunft nur diejenigen Personen erhalten, die vom Internationalen Gerichtshof im Rahmen eines Kriegsverbrecherprozesses oder bei der Generalbundesanwaltschaft in einem Ermittlungsverfahren als Zeugen geladen sind. „Wir greifen nicht auf Vorrat ins Ausländerrecht ein“, sagt Bundesanwalt Rainer Griesbaum, der die Kriegsverbrecher Du∆an Tadiƒ, 43, und Nikola Jorgiƒ, 52, angeklagt hat. Der Besitz von Informationen dürfe ausländerrechtlich nicht zum Vorteil werden, sonst könne sich das Gericht „vor Zeugenaussagen kaum retten“. Allerdings sind viele Verfahren erst durch Aussagen von Flüchtlingen im deutschen Exil in Gang gekommen. Im Fall Tadiƒ hatte ein Hamburger Jurist in der Hansestadt auf eigene Faust bei Bosniern Berichte über Mißhandlungen in den Lagern gesammelt. Opfer Osmanoviƒ, Enisa, Kariƒ: „Wir fürchteten jede Minute um unser Leben“ Er erstattete Anzeige, als der ehemalige Gastwirt und Karatelehrer Tadiƒ, der am serbischen Überfall auf das muslimische Dorf Jaskici beteiligt war und im Lager Omarska wehrlose Gefangene mißhandelte und ermordete, von Augenzeugen in München auf der Straße erkannt wurde. Setzen sich die Innenminister, die verstärkt auf die Rückkehr auch aussagebereiter Flüchtlinge setzen, mit ihrer harten Linie durch, sind solche Zeugen für die Gerichte bald verloren. Viele der befristeten Aufenthaltsbefugnisse und Duldungen laufen in diesen Wochen aus. Der ehemalige Buchhalter der Bahn in Prijedor, Emir Kariƒ, 43, ein schmächtiger Mann mit Sommersprossen, war im Lager Keraterm interniert, als eines Nachts im Juli 1992 unmittelbar neben seiner Zelle Albrecht fordert für die Aussagewilligen und ihre Familienangehörigen, bundesweit etwa 4000 Menschen, ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht, wie es in anderen Ländern der Europäischen Union selbstverständlich sei. Traumatisierte Flüchtlinge zur Rückkehr in ihre auch heute noch von Serben dominierte Heimat zu zwingen, hält der Jurist für einen „Bruch der Europäischen Menschenrechtskonvention“, wonach „niemand unmenschlicher Behandlung unterworfen werden“ darf. Als „rechtlich fragwürdig“ im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention werten auch der Asylrechtsexperte Hubert Heinhold und Mitarbeiter des Münchner Beratungszentrums für Folteropfer die zwangsweise Rückführung der ehemals Internierten. Kirchliche Gruppen wie Pax Christi, die d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 Evangelische Ausländerarbeit und der Ökumenische Arbeitskreis Schwabing forderten in einem offenen Brief an den bayerischen Innenminister Günther Beckstein (CSU) bereits ein Bleiberecht für die 280 in Bayern lebenden Ex-Häftlinge aus dem früheren Jugoslawien ein. Der Hamburger Neurologe und Psychiater Hans Ramm betreut mehr als die Hälfte der 35 in Hamburg lebenden ehemaligen Lagerinsassen. Zu seinen Patienten zählen seit Jahren Opfer deutscher Konzentrationslager und der DDR-Justiz. Sie alle leiden – auch wenn die schrecklichen Erlebnisse schon viele Jahre zurückliegen – unter ähnlichen Symptomen: Schlafstörungen, Panikattacken und unkontrollierte Aggressionsausbrüche. Ramm attestiert den Betroffenen ein „Angstsyndrom“ und „erhebliche Depressionen“. Keinesfalls könnten die Bosnier derzeit in ihre Heimat zurückkehren, die heute von Serben kontrolliert wird. Die Hamburger Psychiaterin Edelgard Müller bescheinigt dem Elektrotechniker Osman Turkoviƒ, 42, aus Modri‡a, der dort zwei Monate im Lager gepeinigt wurde, eine Abschiebung würde gegenwärtig seine „bestehende Suizidialität verstärken und möglicherweise eine entsprechende Kurzschlußreaktion bewirken“. Die Leidensgeschichten vieler ehemaliger Lagerhäftlinge sind in Sarajevo in einem Archiv dokumentiert. Doch bislang wurden nach Auskunft des Präsidenten der Interessengemeinschaft, Irfan Ajanoviƒ, nicht einmal 600 der einstigen Internierten als Zeugen für Den Haag bestellt. Der Gerichtshof ist mit der Vielzahl der Verbrechen völlig überfordert. Er verfügt gerade mal über drei Ermittlungskammern und 15 Richter. Die juristische Aufarbeitung der jugoslawischen Kriegsverbrechen kann noch Jahrzehnte dauern – und einziger Beweis werden stets Zeugenaussagen sein. Im öffentlichen Gerichtssaal von Den Haag Auge in Auge seinem Peiniger gegenüberzutreten, erfordert mitunter erheblichen Mut. „Da bin ich um jeden Beweis froh, der mir erhalten bleibt“, kritisiert ein Staatsanwalt die rigide Rückführungspraxis in Deutschland. Auch der Bosnien-Beauftragte der Bundesregierung, Hans Koschnick, der selbst in Mostar zwischen die Fronten geraten und mit dem Tod bedroht worden war, empfiehlt dringend einen verbesserten Zeugenschutz für die Opfer: „Wer in Den Haag aussagt, ist zu Hause nicht mehr sicher.“ Susanne Koelbl 57 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Gesellschaft Szene TRENDS Gepflegter Kurzhaarschnitt G. LEFKOWITZ W Ashby, Fashion-Magazin „Dazed & Confused“ TRENDS Geoutete Dachse Der britische Designer David Elliott, 20, über seine Erfindung – einen elektronischen Lockruf für Homosexuelle SPIEGEL: Herr Elliott, dank Ihnen gibt es neuerdings den „Gaydar“, einen batteriebetriebenen Apparat, der im Umkreis von acht Metern diskret vibriert, wenn er einen anderen Träger registriert. Wie kamen Sie auf die Idee, Homosexuellen ein solches Gerät zur Partnersuche anzudienen? Elliott: Ich war gerade dabei, eine vibrierende Türklingel für Gehörlose zu entwickeln. Aber dann klagten mir zwei schwule Freunde ihr Leid, bei der Partnersuche immer auf dieselben Szenelokale angewiesen zu sein. Und ich Elliott dachte, denen kann ganz leicht geholfen werden mit einem solchen elektronischen Erkennungsapparat. SPIEGEL: Da haben Sie Ihre Erfindung einfach umgewidmet? er glaubt, die Sache mit den Achselhaaren sei jeder Frau Privatangelegenheit, kennt die Amerikaner nicht. Deren Lieblingsschauspielerin Julia Roberts löste eine stürmische Diskussion aus, als sie bei ihrer letzten Filmpremiere nicht vollendet ausrasiert im ärmellosen Kleid erschien. Chrissy Iley, Kolumnistin der „Sunday Times“, verfolgte den Meinungsstreit und entdeckte statt Nachlässigkeit einen Trend. Als Urheberin ermittelte sie die in Los Angeles lebende Schauspielerin Louise Ashby, 27, die das Rasieren ein paar Tage vergaß und feststellte: „Kurzes Achselhaar ist sexy.“ Die Redakteure des Fashion-Magazins „Dazed & Confused“ reagierten sofort. In der neuesten Ausgabe hebt eine Schöne die Arme und offenbart einen gepflegten Kurzhaarschnitt. Kolumnistin Iley weiß, was los ist: „Amerikas Frauen rebellieren gegen die Unterdrückung der Natur.“ Elliott: Ja. Ich war inspiriert von der Idee, daß Treffen von Schwulen in irgendwelchen Szene-Darkrooms dank dieses Geräts bald Vergangenheit sind. SPIEGEL: Und wird es angenommen? Elliott: Beim britischen Erfinderclub sind immerhin schon 5000 Bestellungen eingegangen. Obwohl der „Gaydar“ erst im August auf den Markt kommt. SPIEGEL: In der Londoner Szene kursiert das Gerücht, bei ersten Versuchen habe Ihr Transmitter vor allem Dachse angelockt. Elliott: Das stimmt sogar, und es war sehr komisch. Wir machten mit dem Gerät, das in der ersten Phase auf Schallsignale reagierte, Freiversuche im Wald und konnten beobachten, daß Eichhörnchen und Dachse darauf reagierten. SPIEGEL: Nicht ganz im Sinne des Erfinders. Was haben Sie verändert? Elliott: Auf elektronische Signale umgerüstet. Die können Dachse nicht wahrnehmen. d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 Pumps von Couv-Bonnaire SCHUHE Galopp auf Stöckeln A uch wenn Schuhfetischisten es nicht wahrhaben wollen: Stöckel tun beim Laufen weh, weil das Körpergewicht der Trägerin auf den vorderen Ballen verlagert wird. Einen eleganten Lösungsversuch dieser Absatzprobleme bei Pumps probierte die französische Designerin Stéphane Couv-Bonnaire. Inspiriert vom balancierten Galopp der scheinbar vorn überladenen Giraffe, teilte sie den Absatz in zwei Hälften und verdoppelte damit dessen Aufsatzfläche. In diesen High Heels können Frauen endlich die Flucht ergreifen, ohne sich den Fuß zu verstauchen. 61 Gesellschaft Warnschild in Bönningstedt, Dorfpolizist Wiebling, Autofan R.: Die Angst hat aus lauter netten Leuten lauter mißtrauische Aufpasser K R I M I N A L I TÄT „Wir gucken genau hin“ Amerikanische Verhältnisse in der deutschen Provinz: In einem schleswig-holsteinischen Dorf wachen die Nachbarn. Verdächtige werden sofort der Polizei gemeldet. Von Bruno Schrep W er ist eigentlich eine verdächtige Person? – Das sei doch ganz einfach, erklärt der freundliche Herr aus dem Haus Nummer 4. „Verdächtig ist jeder, der hier nicht hingehört. Der trotzdem hier rumschleicht, die Straße hoch, die Straße wieder runter. Der nicht erklären kann, was er hier will.“ Herr R. wohnt in einer netten, kleinen Straße am Rande des netten, kleinen Dörfchens Bönningstedt in Schleswig-Holstein. Eine idyllische Wohngegend: Es riecht nach frisch gemähtem Gras von den Wiesen ringsum, in den alten Bäumen nisten Vögel, die im angrenzenden Hamburg längst nicht mehr vorkommen. Manchmal, in der Dämmerung, wagen sich sogar Rehe bis in die Gärten der letzten Häuser und knabbern die Stiefmütterchen an. Damit andere Eindringlinge fernbleiben, hat Herr R. ein massives Aluminiumschild montiert, mit Reflexfolie, damit es auch nachts zu sehen ist: ein symbolisches weißes Auge auf blauem Grund, mit großer schwarzer Pupille. Dazu die Inschrift: „Hier wacht das Auge des Nachbarn. Ver62 dächtige Personen werden sofort der Polizei gemeldet.“ Die Warntafel hängte Herr R. an ein öffentliches Halteverbotsschild, ein bißchen illegal. „Hätte ich gefragt, hätte ich bestimmt keine Erlaubnis bekommen“, vermutet er. „Also habe ich nicht gefragt.“ Nicht den Bönningstedter Dorfsheriff, den Oberkommissar Holger Wiebling, der sich im Garten hinter der Polizeistation eine große Spielzeugeisenbahn mit vielen Häuschen und Figürchen aufgebaut hat. Auch nicht den ehrenamtlichen Bürgermeister, einen Genossen, der im Hauptberuf dem Altersheim vorsteht. Noch nicht einmal die Nachbarn – das war wohl auch nicht nötig. Herr R. ist heimlicher Chef der netten, kleinen Straße, in der noch viele andere freundliche Leute wohnen: gute Nachbarn, die sich alle grüßen, sich beim Vornamen rufen, sich gegenseitig helfen; ordentliche Deutsche, die ihre Häuser und Gärten auf Zack halten und beim Schreddern und Rasenmähen die vorgeschriebene Mittagsruhe nicht stören. d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 Die meisten finden das Schild von Herrn R. ganz prima. Seit es hängt, sind sie viel wachsamer als früher. „Wir spitzen alle die Ohren“, versichert der Apotheker H. aus Nummer 2, der neulich einen „dünnen, blassen Jüngling, wahrscheinlich süchtig“, aus seinem üppig blühenden Blumengarten verscheuchte. „Wir gucken ganz genau hin“, schwört auch der pensionierte Ingenieur Z. von schräg gegenüber, der nach 32 Jahren bei Blohm + Voss und Herzproblemen noch rüstig genug ist, sich auffällige Fremdlinge auf der Straße vorzuknöpfen: „Suchen Sie was Bestimmtes?“ „Ich sehe mehr als andere“, behauptet Rentner S. aus der Nummer 6, der bei der Hamburger Wirtschaftsbehörde die Pachthöfe der Hansestadt verwaltete. Seit seiner Pensionierung unternimmt der ehemalige Landwirt, der aus Ostpreußen stammt, täglich mehrere Rundgänge. Fällt ihm Ungewöhnliches auf, fackelt er nicht lange. „Verdächtige Personen werden sofort der Polizei gemeldet.“ gemacht, die Fremden schnell unterstellen, sie wollten ihnen etwas wegnehmen Frau S. sitzt auf einem Vorposten: Sie wohnt im ersten Haus rechts. Kommt ihr etwas komisch vor, versteckt sie sich hinter der Hecke ihres Gartens, um ungestört beobachten zu können. Sie fürchtet, daß Bösewichte in ihr kleines Reich eindringen, die jahrelang gesammelten und gehegten Gartenzwerge demolieren, die Scheiben ihres kleinen Hauses einschlagen und ihre Wertsachen stehlen. Um Gauner abzuschrecken, hat Frau S. die Fensterbänke ihrer Wohnung von innen mit Vasen und Töpfen zugestellt, die beim Runterfallen richtig poltern. Bisher hat es allerdings noch nie gescheppert – eine Ausnahme. Fast in jedes zweite Haus wurde zumindest versucht einzubrechen, bei mehreren Anwesen hatten die Diebe Erfolg. Die Bewohner fühlen sich bedroht. Viele stammen aus Hamburg, haben es weit gebracht, sind Ärzte, Apotheker, selbständige Kaufleute oder leitende Angestellte. Als sie in den siebziger Jahren in Bönningstedt ihre Einfamilienhäuser bauten, mitten auf freiem Feld, glaubten sie, den Plagen der Großstadt für immer entkommen zu sein – dem Lärm, dem Verkehr, vor allem der Kriminalität. Und jetzt? Entdeckt Frau S. in der Sackgasse ein fremdes Auto, notiert sie sich das Kennzeichen und meldet den Nachbarn telefonisch die Nummer weiter. Die wählen dann 110. „Verdächtige Personen werden sofort der Polizei gemeldet.“ „Dreimal wurden wir heimgesucht“, klagt die blonde Frau K. aus dem moder- nen Haus im Friesenstil, „dreimal“. Die Freude über das tolle Grundstück mit dem riesigen Garten sei in Verbitterung umgeschlagen. Nach dem letzten Einbruch habe die Versicherung den Einbau einer Alarmanlage verlangt, Kostenpunkt: 12 000 Mark. Am Küchentisch zählt Frau K. auf, was in den letzten Jahren weggekommen ist: die teure Fotoausrüstung, die neue Stereoanlage, der wertvolle Schmuck, den der Ehemann aus Ägypten mitgebracht hat. Richtig schlimm sei jedoch der Verlust unersetzbarer persönlicher Dinge. So hätten die Diebe sogar eine Videokassette mit drolligen Aufnahmen über den ersten Skikurs der beiden Kinder gestohlen. „Bei uns waren sie auch“, berichtet die Professorengattin N. aus der Nummer 10, deutet von der halbgeöffneten Eingangstür ins gediegen ausgestattete Hausinnere: „Mehrfach ausgeräumt, während wir verreist waren.“ Und die Täter? „Gefaßt wurde nie jemand“, sagt Frau N., winkt ab. Und die Polizei? „Die sagte nur, da wären wohl wieder Albaner oder Rumänen unterwegs.“ Nach ein paar Monaten sei jeweils ein Formschreiben von der Staatsanwaltschaft gekommen: Verfahren eingestellt. Seit jedoch die Anwohner besser aufpaßten, seit Telefonketten von Haus zu Haus funktionierten und beim Sirenenklang einer Alarmanlage alle losstürmten, passiere kaum noch was. Erst vor ein paar Tagen hätten Nachbarn obskure Figuren vertrieben, die ums Haus herumschnüffelten. Und kürzlich habe nachts die Frau von gegenüber aufgeregt angerufen, weil ein Auto mit auswärtigem d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 FOTOS: R. JANKE / ARGUS Nummernschild in der Einfahrt parkte. In dem Wagen habe aber nur ein Liebespaar geschmust. Auch Zeitschriftenwerber,Vertreter oder harmlose Passanten, die auf der öffentlichen Straße irgendwie Aufsehen erregen, müssen mit plötzlichen Kontrollen rechnen. Zunächst kommen zwei oder drei Anwohner („Können wir Ihnen helfen?“), dann der große Hund aus dem Haus Nummer 8, dann die Polizei. „Die Bürger dort rufen einfach öfter an als andere“, bestätigt ein Beamter. „Verdächtige Personen werden sofort der Polizei gemeldet.“ Die Angst hat aus lauter netten Leuten lauter mißtrauische Aufpasser gemacht, die Fremden schnell unterstellen, sie wollten ihnen etwas wegnehmen. Die meisten haben viel zu verlieren. Der freundliche Herr R., der das Warnschild installierte, pflegt ein exklusives Steckenpferd: Er kauft im Ausland alte englische Sportwagen, baut sie wieder detailgetreu zusammen und fährt damit Oldtimer-Rennen. In seinen Schränken stapeln sich Siegespokale und Trophäen, unter anderem von der „Rallye Maritim“ in Timmendorfer Strand und der „Eifel-Klassik“ auf dem Nürburgring. Den dunkelgrünen Austin-Healey 100, Baujahr 1954, hat er als Wrack auf einem Hühnerhof bei Rugby in Großbritannien aufgestöbert und in Einzelteilen nach Bönningstedt transportiert. Nach über 1400 Arbeitsstunden, in denen Herr R. neue Bleche zusammenschweißte, die Ventile des Vierzylindermotors feilte und Teil um Teil des Autos zusammenschraubte und polierte, 63 Gesellschaft Nachbarschaftswächterin S., Nachbarn: Erst kommen die Anwohner, dann der große Hund, dann die Polizei blinkt und glänzt der 45 Jahre alte Zweisitzer, als käme er gerade aus der Fabrik. Fünf solcher Karossen besitzt Herr R., eine nobler als die andere und zusammen so wertvoll, daß keine Versicherung das Risiko übernehmen will. Bei einem Diebstahl müßte er den Verlust selbst tragen. Die Idee mit dem Schild brachte Herr R., der mit Leichtmetall handelt, aus Bradenton (US-Staat Florida) mit. Am Rande einer kleinen Siedlung entdeckte er die metallene Originalversion mit der Aufschrift „Neighborhood Watch“, zu deutsch: „Nachbarschaftswacht“ – das Symbol einer typisch amerikanischen Bürgerbewegung. Was hier noch als Rarität gilt, nur vereinzelt praktiziert wird, gehört in den USA längst zum Alltag. Millionen Amerikaner spielen in ihrer Freizeit Detektiv, jagen hinter echten oder vermuteten Gaunern her, sind in großen und kleinen NeighborhoodWatch-Clubs organisiert. Sicherheit ist zur Obsession geworden. Vor allem in den Domizilen der Mittelständler, den Vororten und Kleinstädten, den blitzsauberen „Smallvilles“, lauern freiwillige Nachbarschaftswächter nahezu überall: In vielen Straßen patrouillieren teils bewaffnete Bürger, die quasi Polizeigewalt ausüben, die Fremde kontrollieren, bei Verdacht festnehmen und notfalls auch schießen. Die Botschaft ist eindeutig: Gut ist nur, wer hierhergehört. „Verdächtige Personen werden sofort der Polizei gemeldet.“ Die andere Seite so inniger Nachbarschaft ist auch in Bönningstedt zu spüren: Weil jeder den anderen genau kennt, schon am Motorengeräusch des Autos unterscheiden kann, bleibt kaum etwas geheim. Die Nachbarn kriegen mit, wer krank ist, in welcher Ehe es kriselt, ob jemand um seine Existenz bangen muß. Wer nicht der Norm entspricht, gerät schnell ins Abseits. 64 „Seit dem Tod meines Mannes bin ich hier außen vor“, behauptet die Arztwitwe R. aus Haus 14. Einerseits vermißt Frau R. die engen nachbarlichen Kontakte von früher. Andererseits ist ihr die funktionierende soziale Kontrolle inzwischen lästig: Natürlich wissen die meisten in der Straße, daß die beiden Söhne noch nicht so reüssierten, wie die Mutter sich das wünscht. Natürlich kennen die Bewohner auch die Geschichte von Herrn B. aus Nummer 11. Onkel Willy, wie ihn jeder nennt, ist der einzige echte Bönningstedter in der kleinen Straße. Einst gehörte dem Bauernsohn sämtliches Land auf der rechten Straßenseite.Weil er kein Landwirt sein wollte, lieber ein Lebensmittelgeschäft in Hamburg führte, verkaufte er nach und nach die einzelnen Grundstücke – zu Preisen, für die ihm die Nachbarn bis heute dankbar sind. Jetzt ist er 88, fährt noch immer Auto, hat genug Geld – und findet, daß letztlich alles vergeblich gewesen ist: die elende Kriegszeit, der mühsame Wiederaufbau, die erfolgreichen Jahre danach. Wenn er über die Ursachen spricht, verliert er schnell die Fassung: 1944, als er in Rußland kämpfen mußte, starb sein erster Sohn durch Fliegerbomben. Rund 50 Jahre später ist der langersehnte Enkel, der einzige Erbe, tödlich verunglückt: Der Junge wurde mit seinem Mofa, das er zum 15. Geburtstag bekommen hatte, auf einem ungesicherten Bahnübergang von einem Zug überfahren. Die Nachbarn, die ihn damals zu trösten versuchten, empfindet Herr B. wie eine große Familie. „Nur gute Freunde“, versichert er, die unbedingt weiter zusammenhalten müßten. Die sich wehren müßten gegen jeden Versuch, den Frieden in der kleinen Straße zu stören. Deshalb sei er auch zu „200 Prozent“ für das Warnschild. Von außen, so die Bilanz des 88jährigen, kann nur Verderben kommen. d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 „Verdächtige Personen werden sofort der Polizei gemeldet.“ Einen sicheren Zufluchtsort suchte auch Lehrerin B. aus Nummer 7. „Damit meine Tochter nicht in Hamburg aufwachsen muß“, begründet die alleinerziehende Mutter den Umzug aus der Metropole. Bönningstedt kam ihrer Utopie von einem Leben ohne Gefahren und Anfechtungen am nächsten. Früher, vor 20 Jahren, suchte die Frau nach riskanten Abenteuern. Da war es ihr viel zu eng in Deutschland, in Europa, da wollte sie weit, weit weg. Dreimal überquerte sie auf einer zwölf Meter langen Segeljacht mit ein paar anderen Aussteigern den Ozean, hielt Sturmböen und Entbehrungen aus, gönnte sich eine Ahnung von Freiheit. „Das war mein erstes Leben“, sagt sie heute. Im zweiten Leben hat sich Frau B. fest unter Kontrolle. An die Segeltörns erinnern nur noch alte Fotos. Im Flur hängt ein hölzernes Schild: „Frieden im Herzen ist Sonnenschein im Haus.“ Unordnung duldet die Lehrerin nur noch in ihrem Arbeitszimmer. Wenn sie bei offenem Fenster Arbeiten korrigiert, registriert sie automatisch, ohne besonders darauf zu achten, jede Veränderung. Unbekannte Autos erkennt sie am „Rollgeräusch der Räder“. „Verdächtige Personen werden sofort der Polizei gemeldet.“ Die 13jährige Tochter ist jedoch immer weniger zu bändigen, ignoriert häufig die mütterlichen Anordnungen, läßt sich nicht einbinden in die abgeschlossene Welt der netten, kleinen Straße. Das Mädchen amüsiert sich über die Bürgerängste in der „Boomtown-Metropole Bönningstedt“, spottet respektlos über das „Bökaff“. Fremde, die bei den anderen Verdacht erregen, grüßt sie demonstrativ. Das Schild nennt sie „einfach bescheuert“. ™ LEGENDEN Der mit dem Mann tanzt Robin Hood, der britische Volksheld und Räuber aus dem Sherwood Forest, war schwul – das behauptet ein Literaturprofessor. RÖHNERT J Filmstar Flynn als Robin Hood (1938): Tunten unter Tannen? Professor jedenfalls ist sicher: Aus den frühesten Texten über Hood und seine Diebesbande – die Balladen entstanden zwischen 1450 und 1500 – lassen sich „durchaus die Werte einer schwulen Lebensgemeinschaft“ herauslesen. Und werde da nicht, so fragt der Schriftdeuter nur noch rein rhetorisch, an einer Stelle von einem handfesten Krach zwischen Robin und Little John, seinem Lieblingskumpel, berichtet, in dem es genauso zugehe „wie bei einem richtigen Ehepaar?“ Jungfer Marian, bislang als Robins Herzensdame identifiziert und in jedem Film der gegengeschlechtliche Lichtblick, komme in den frühen Überlieferungen ohnehin nicht vor. Erst im 16. Jahrhundert habe man die Maid dazuerfunden, um den Männer-Mythos nicht zu schwul wirken zu lassen. Aber nicht nur das sorgfältige Studium der Verse brachte den Forscher aus Wales mit seiner HomoThese weiter. Auch aus rein praktisch-logistischen Gründen muß es, so glaubt er, zu erfolgreichen Gay-Versuchen im Räuberlager gekommen sein: Wer so lange in exklusiver Männerbündelei ohne Frauen zusammenlebt, greife allein aus schierer Sex-Not auf seinesgleichen zurück. Zudem hat Knight sich fachlichen Beistand ge- Autor Knight d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 holt: Ein auf diesem speziellen Testosteron-Terrain bewanderter Kollege, Historiker seines Zeichens, hat ihm ausführlich von Piraten-Banden berichtet, bei denen gleichgeschlechtliche Triebabfuhr zum üblichen Deck-Ritual auf hoher See gehörte. Die Reaktionen auf die Enthüllungen vom Homo-Hood waren im Mutterland der Gentlemen, so der über das weltweite Echo erfreute Urheber, „gespalten“. Neben herber Kritik habe er auch viel Verständnis erfahren. Besonders mitfühlend sei man beim britischen Militärsender BFN gewesen. Der Interviewer habe sich, ein Soldat unter Soldaten, ganz gut in Robins Kungeleien mit den Kameraden hineinversetzen können. Während die englischen Schwulen-Aktivisten über den erfreulichen Neuzugang für ihre Outing-Listen jubeln, raufen sich Traditionalisten die Haare. Mary Chamberlain, Geschäftsführerin der nationalen Robin-Hood-Gesellschaft, bezichtigt Stephen Knight, „sich auf Kosten eines der beliebtesten britischen Volkshelden einen Namen zu machen“. Doch der Professor zeigt sich wenig einsichtig. Er wird sein Beweismaterial demnächst als Buch vermarkten. Titelvorschlag: „Rosa Robin“. Joachim Kronsbein H. EWANS ahrhundertelang stromerte der stramme Beau als Macho-Held durchs kollektive Bewußtsein seiner Landsleute – ein leuchtendes Beispiel für mannhaften Widerstand gegen staatliche Willkür und Ungerechtigkeit. Mittelalterliche Balladen besangen zuerst den Mut des unerschrockenen Robin Hood, der mit einer wehrhaften Männerriege im finsteren Sherwood Forest reisenden Besserverdienern blitzschnell den Geldbeutel raubte und die Beute mit den hungernden Armen teilte. Nur bei Frauen, so überlieferten es die Quellen, war der rastlose Räuber mit dem goldenen Herzen auffallend rücksichtsvoll und ungewöhnlich schüchtern. Das hätte den Briten zu denken geben sollen. Ein Literaturprofessor aus Cardiff, der die Engländer schon vor ein paar Jahren mit der These schockierte, Hood sei Schotte, bringt die Insulaner und ihr Idol nun erneut in Schwulitäten. Ohne Rücksicht auf sensible Nationalgefühle und pünktlich zur einsetzenden Sommerflaute versetzte Stephen Knight vorige Woche seinen Landsleuten einen herben Schlag: Robin, der mittelalterliche Mustermann mit seiner Bruderschaft von mildtätigen Wegelagerern, so behauptet der Gelehrte aus Wales keck, war schwul. Die verschworene Männergemeinschaft, die mit Pfeil und Bogen zu ihren Beutezügen ausrückte, eine rosa Zelle von weibischen Weicheiern? Tunten unter Tannen? Ein Weltbild kam ins Wanken. Tief und fest bargen die Briten bislang ihren Macho-Robin im Herzen. Die kräftigsten Kerle aus Hollywoods Star-Club – von Errol Flynn bis Kevin Costner – hatten den gerechtigkeitsliebenden Grünrock immer wieder gern im Kino dargestellt: aufrecht, königstreu und stockhetero. Und nun das. Hatte etwa der schamlose US-Komiker Mel Brooks recht, der seine gnadenlos alberne Hood-Parodie schon 1993 „Helden in Strumpfhosen“ nannte und den großherzigen König der Diebe als effeminierten Faun darstellte? Ginge es nach Professor Knight, müßte nun so manches Skript ganz neu geschrieben werden. Costner käme dann womöglich als „Der mit dem Mann tanzt“. Der 65 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Titel „Pyramiden der Tiefsee“ Fortschritte in der Ortungstechnik haben einen Goldrausch im Ozean ausgelöst. Moderne Schatzsucher durchkämmen mit ihren Expeditionsschiffen die Meere – auf der Suche nach legendenumwobenen Wracks, Ruhm und Reichtum. A ls die „Polar“ sachte auf die vorberechnete Position nahe der Kapverdeninsel Maio zuläuft, ist es wie in jener Katastrophennacht vor 250 Jahren: Der Sturm pfeift, die Brecher lassen das Expeditionsschiff übel rollen, eine starke Strömung macht es zum Spielball der Natur. Das Riff, ein paar hundert Meter entfernt, liegt knapp unter der Wasseroberfläche und ist kaum zu sehen. Die Besatzung läßt den Anker ausrauschen. Von nun an wiederholt sich dreimal am Tag dasselbe Ritual. Acht Männer lassen sich in den Atlantik fallen, schwimmen zum Riff und meißeln sich in den Stein – bis die siebte Welle kommt. Jede siebte, eine Taucherweisheit, ist eine große Welle. Sie trägt die Männer bis zu 30 Meter weit weg, dann werden sie wie von Geisterhand wieder zurückgesogen. Später sitzen sie in einer der Kajüten der „Polar“ zusammen und werten die 68 Dive Logs, die Protokolle der Tauchgänge, aus. Was immer sie mit an Bord gebracht haben, wird auf Detailkarten eingetragen und im Computer registriert – das Puzzle könnte ja auf die Spur führen. Wo jetzt die „Polar“ ankert, sollte am 18. April 1743 die „Princess Louisa“ Maio passieren. Der Segler der englischen Ostindienkompanie war 498 Registertonnen schwer, hatte 99 Mann Besatzung und 30 Kanonen an Bord. Doch der hölzerne Rumpf war offenbar den Grundseen hier nicht gewachsen. Die „Louisa“ schlug leck, um 20 Uhr ließ Kapitän John Pinson erstmals eine Kanone abfeuern, um Hilfe zu rufen. Vorsichtig tastete sich das Schwesterschiff „Winchester“ heran. Was dann mit der „Louisa“ passierte, steht im Logbuch der „Winchester“: „Um zwei Uhr feuerte sie zwei Kanonen ab. Um halb drei schoß sie eine Kanone ab, und wir sahen sie nahe den Felsen. Um vier Uhr d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 morgens konnten wir die ,Louisa‘ nicht mehr sehen.“ Im Beiboot versuchten die „Winchester“-Matrosen, Überlebende vom Riff zu retten, „aber wir erkannten, daß die See so hoch und wellig war, daß wir nicht weiterkommen konnten. Sie schwenkten ihre Hüte, aber wir konnten nicht verstehen, was sie riefen“. Wenig später „waren nur noch einige Balken zu sehen und kein einziger Mann. Wir setzten die Segel, weil wir nichts mehr retten konnten. Ich fürchte, es gibt keinen Überlebenden“. Die „Princess Louisa“ war auf dem Weg nach Bombay. Sie hatte unter anderem Schießpulver geladen, Pistolen, Elefantenstoßzähne – und Silber. Viel Silber: 20 Kisten voll, 72846 Münzen genau, damals insgesamt 19 765 Pfund wert. Heute liege der Wert bei mindestens 50 Dollar pro Münze, schätzt David Hebb, der für das deutsch-portugiesische Schatztaucherkonsortium Arqueonautas das Schick- Die Wissenschaftler sehen mit Grausen, wie manche Schatztaucher unwiederbringliche Denkmäler der Tiefe auf der Suche nach Gold, Silber und Edelsteinen hemmungslos unterpflügen: „Es ist wie im Wilden Westen: eine wilde Schießerei um zwölf Uhr mittags, und nachher fragen alle, wo war eigentlich der Sheriff“, sagt Entdecker Ballard. Immer drängender versuchen deshalb Denkmalschützer der Unesco, Wrackplünderern mit einem internationalen Abkommen das Handwerk zu legen, doch bislang konnten sich die Nationen noch nicht einigen. Einen regelrechten „Goldrausch im Ozean“ prognostiziert der kalifornische FOTOS: MB ILLUMINATIONS (li.); P. CLYNE (M.); X. DESMIER / RAPHO / AG. FOCUS (r.) OSSADA / NATIONAL GEOGRAPHIC / HILTI FOUNDATION Mit Satellitenhilfe durchkämmen die Expeditionsschiffe der Schatzsucher den Meeresgrund, im Schlepp meist torpedoförmige Maschinen des Computerzeitalters. Sie können Wracks aufspüren, die noch bis vor kurzem auf immer in lichtloser Tiefe verschollen schienen. Sogenannte nukleare Resonanz-Magnetometer messen das natürliche Magnetfeld der Erde und entdecken schon kleinste Anomalien. So registrieren sie das Eisen einer Kanone, wo jedes menschliche Auge versagt. Sub-Bottom-Profiler schauen durch Sandschichten hindurch, Side-Scan-Sonare senden Fächer von Schallwellen auf den Meeresgrund. Schnelle Computer errech- Geborgene Schiffsladungen: Überall quoll Gold aus dem geborstenen Rumpf sal der „Princess Louisa“ recherchiert hat – bei insgesamt rund sieben Millionen Mark. Diverse Überbleibsel des Schiffes haben die Arqueonautas-Leute schon geborgen. „Ich wette eine Flasche Champagner“, sagt der Brite Martin Woodward, Bergungsprofi und Berater von Arqueonautas, „daß wir das Silber bald finden.“ Arqueonautas ist nur eine von vielleicht 20 großen und mehreren hundert kleinen Firmen, die derzeit fieberhaft versuchen, mit modernstem Suchgerät den Deckel zur Schatztruhe Ozean zu öffnen. „Wir sehen jetzt den Beginn des großen Zeitalters der Untersee-Entdeckungen“, sagt Peter Hess. Der US-Anwalt aus Delaware ist auf die oft hochvertrackten Rechtshändel um versunkene Schiffe spezialisiert. Endlich gebe es „die Technik, um Objekte überall auf der Welt zu finden“. * Gemälde von Rafael Monleón y Torres (1873). d e r s p i e g e l Forscher Graham Hawkes: „Alles, was auf den Meeren verlorenging, wird in den nächsten 25 bis 50 Jahren gefunden werden.“ Zehntausende Schiffe sanken in den letzten 2000 Jahren, sie liefen auf Riffe, wurden zerschossen, Stürme zerfetzten ihr Rigg oder sie flogen in die Luft, als ihre Pulverkammern explodierten: spanische Galeonen und Galeassen, chinesische Dschunken, portugiesische Karacken, die Brigantinen der Piraten, Goldtransporter der beiden Weltkriege, Ostindienfahrer aus ganz Europa. Etwa 2000 vielleicht richtig lohnende Ziele hat Carsten Standfuß, bedachtsamer BRIDGEMAN ART LIBRARY Bergungstaucher am Wrack der Galeone „San Diego“ (vor den Philippinen) nen aus dem Echo einen Schattenriß, der so ähnlich aussieht wie die Ultraschallbilder beim Internisten. „Die Technologie bringt uns jetzt zu den Pyramiden der Tiefsee“, sagt Robert Ballard, der die „Titanic“ gefunden hat. Solch spektakuläre Entdeckungen beflügeln die Phantasie der Geldgeber, ihrer Techniker und Taucher. Ballard selbst hat schon mit einem atomgetriebenen Spionage-U-Boot der US-Marine die Handelswege der Phönizier und Römer abgetaucht und kehrte begeistert zurück: „Das Ding hat ein Sonar, für das es sich zu sterben lohnt.“ Doch die Technik muß bezahlt werden; vorn mitmischen können neben prominenten Forschern wie Ballard nur noch professionelle Schatzsucher. Mit dem Millionenkapital risikofreudiger Anleger im Rücken machen sich weltweit operierende Aktiengesellschaften auf die Jagd nach allem, was Profit verspricht – mißtrauisch beäugt von Unterwasserarchäologen. Historische Seeschlacht (1762)*: Lizenz zum Gelddrucken 2 9 / 1 9 9 9 69 Titel Wrackforscher aus der Gegend von Bremen, in seinem Computer. Andere geben sich optimistischer: Allein von den 10 635 Schiffen der spanischen Silberflotte aus der Zeit zwischen 1503 und 1660 „blieben rund 3000 vermißt“, schreibt die Hamburger Finanzierungsgesellschaft Seabed Invest und lockt so zögerliche Kapitalgeber in ihre Boote. Glaubt man alten Erzählungen, Legenden, aber auch vergilbten Dokumenten, dann liegen da draußen tatsächlich Milliardenschätze. Allein fast die Hälfte der spanischen Armada verschwand spurlos. Ihr heutiger Wert ist nicht abzuschätzen. Die holländische Ostindienkompanie verlor im Lauf ihrer Geschichte 250 Schiffe, davon 150 mit wertvoller Fracht. Rund um die Keys vor Florida werden immer noch bei jedem Hurrikan Dublonen (Goldmünzen aus der Kolonialzeit) an den Strand gespült. Eine Flotte spanischer Galeonen verschwand hier in einem Sturm des Jahres 1554. An Bord hatten die Schiffe wahrscheinlich Schätze, die heute Milliarden wert sein könnten. Ein ganz neues Eldorado erschließt derzeit das Unternehmen Visa Gold Resources. Den kanadischen Schatzsuchern ist es vor einem Jahr als erster Westfirma gelungen, von Kubas Máximo Líder Fidel Castro eine Bergungslizenz zu bekommen. Die Nordwestküste der Karibikinsel gilt als einer der größten Schiffsfriedhöfe der Welt. Kenner schätzen, daß hier etwa 400 Frachtsegler aus jener Zeit, in der die Mayas versunkene schiffe und ihre schätze auf dem meeresgrund „Wenn du einmal Gold gefunden hast, träumst du jede Nacht von Gold“ niedergemacht und ihre Schätze nach Europa geschafft wurden, auf Grund sanken. Der tiefe Hafen von Havanna war damals die Drehscheibe der Neuen Welt. Durch die Straße von Florida liefen die meisten Gold- und Silbertransporte – ein tückisches Revier, voller Untiefen, jedes Jahr ab Spätsommer wieder von vernichtenden Wirbelstürmen aufgepeitscht. Das Bernsteinzimmer der Tauchergemeinde aber, das ganz große Ding, liegt vor der Ostküste von Sumatra: die „Flor de la Mar“, ein portugiesisches Schiff, kommandiert von Alfonso de Albuquerque. 7 CENTRAL AMERICA 1857 sank der Raddampfer mit Münzen und wohl 21 Tonnen Gold in einem Sturm 1,9 Milliarden Mark 17 Eine Auswahl teilweise geborgener Wracks 8 LA CAPITANA JESÚS MARÍA 1654 mit Gold und Silber auf dem Weg von Callao, Peru, nach Panama gesunken 75 Millionen Mark geschätzter heutiger Wert der Ladung N 13 16 15 14 18 19 Raddampfer Central America Galeone Atocha 12 7 1 5 2 3 4 6 Kapverdische Inseln 11 Ilh 10 as 9 do Barla 50 km Ilh 1 16 SPANISCHE GALEONEN 1554 mit Juwelen, Gold- und Silberbarren untergegangen (2 bereits geborgen) 3 Milliarden Mark 2 WRACKS VON KAP CATOCHE 1614 sanken 7 spanische Schiffe etwa 2 Milliarden Mark 3 SANTISIMA TRINIDAD 1711 im Sturm mit 4 Schwesterschiffen untergegangen 700 Millionen Mark as do S vento otavento vor Kap Verde gesunken: Santé André Lejmuiden HMS Hartwell Princess Louisa Maio Atlantik 8 12 LAS CINQUE CHAGAS 5 MADALENA 9 SAN JOSÉ Nur 16 von 300 Passagieren überlebten 1563 das Schiffsunglück; Ladung: Juwelen, Silber- und Goldbarren 100 Millionen Mark sank 1708 mit Goldbarren und Smaragden zwischen 800 Millionen und 19 Milliarden Mark 10 I-52 Japanisches U-Boot ging 1944 mit großen Mengen Gold verloren Wert: unbekannt Piratenstützpunkt Robinson-Insel 1594 ging bei einer Schlacht die Ladung aus Gold, Silber, Edelsteinen, Elfenbein und Porzellan unter 74 Millionen Mark 13 MEHRERE GELDTRANSPORTER aus den beiden Weltkriegen; meist torpediert 3 Milliarden Mark 4 ATOCHA 1622 kenterte die spanische Galeone in einem Hurrikan mit Gold und Silberpesos 700 Millionen Mark 70 6 13 SPANISCHE 11 HMS HARTWELL GALEONEN 1715 gestrandet 65 Millionen Mark d e r s p i e g e l fuhr 1787 nach einer Meuterei mit Gold und Silber auf ein Riff 7,5 Millionen Mark 2 9 / 1 9 9 9 14 SPANISCHE ARMADA 1588 mit Schmuck, Golddukaten und Kunstwerken versenkt Wert: unschätzbar J. SALTER / SABA MB ILLUMINATIONS Thompson Fisher K. BRINKBÄUMER / DER SPIEGEL 1511 stach der Gouverneur des indischen Goa in See, um den fabelhaft reichen Seehafen Malakka zu überfallen. Danach belud er die „Meeresblume“ mit der Beute: Mit Blattgold überzogene Sänften sollen an Bord gewesen sein, Löwen aus Gold sowie der Thron der Königin von Malakka, angeblich mit Edelsteinen übersät. Doch dann geriet Albuquerques Flotte in einen Sturm, und die „Flor de la Mar“ sank. Schatzfreaks streiten seit Jahren, was ihre Ladung heute wert wäre. Phantastische Summen zwischen 2 und 15 Milliarden Mark werden gehandelt. Daß Schätze dieser Größenordnung nicht immer nur Träumereien von großen Jungs mit teuren Spielzeugen sind, belegen spektakuläre Funde – vor allem die Ent- 15 SANTA CRUZ sank 1679; Ladung: Truhen voll Gold und Silber 100 Millionen Mark 16 LUTINE Sandizell 1799; britische Fregatte, mit Goldund Silberbarren untergegangen; nur ein Überlebender 100 Millionen Mark Wracktaucher 17 HMS EDINBURGH 1942 wurde das britische Kriegsschiff versenkt; 1981 geborgen 135 Millionen Mark 18 POLLUCE 1806 gesunken mit Schätzen aus dem Königspalast Neapel, darunter wohl eine goldene Kutsche Wert: unschätzbar 19 ROMMELS SCHATZ 1943 mit Raubbeute aus der italienischen Staatsbank versenkt 30 Millionen Pfund Sterling 20 FLOR DE LA MAR 1511; Ladung: exotische Goldschätze und Sklaven; Bergung bisher erfolglos zwischen 2 und 15 Milliarden Mark N . P I C K F O R D / D E L I U S K L AS I N G V LG / D O R L I N G K I N D E R S L E Y LTA . / C U LV E R P I C T U R E S portugiesische Karacke Flor de la Mar Quelle: u. a. Nigel Pickford 20 deckung der „Central America“. Drei Tonnen Gold in Münzen und Barren hat Tommy Thompson, König der Schatztaucher und Expeditionsleiter der Columbus-America Discovery Group aus Ohio, bislang aus 2500 Meter Tiefe geborgen. Jetzt arbeitet er daran, weitere 18 Tonnen hochzuholen. Geschätzter Sammlerwert der gesamten Ladung: nicht ganz eine Milliarde Dollar, grob gerechnet 1900 Millionen Mark. Das Schicksal des Schaufelraddampfers und die abenteuerliche Suche nach dem Wrack, meisterhaft erzählt in Gary Kinders neuem Buch „Das Goldschiff“, begann 1857, während des Goldfiebers in Kalifornien*. Es gab damals noch keinen sicheren Landweg von San Francisco an die Ostküste, und auch der Panamakanal war noch nicht gebaut. Zwei Flotten von Schaufelraddampfern, eine im Pazifik, eine im Atlantik, schafften also die Digger und ihr Gold von der West- an die Ostküste. Nur über die Landenge von Panama fuhren die Goldgräber mit der Bahn. Am 8. September des Jahres stach die „Central America“, die zur Atlantikflotte gehörte, nach einem Zwischenstopp von Havanna aus in See, Kurs Heimathafen New York. An Bord waren rund 580 Menschen, das private Gold der Glücksritter und dazu vermutlich eine geheime Ladung, mit der die Nordstaaten ihre Wirtschaft in Schwung bringen wollten. Doch vor der Küste von North Carolina geriet das Holzschiff in einen schweren * Gary Kinder: „Das Goldschiff“. Malik-Verlag, München; 586 Seiten; 39,80 Mark. d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 AP „Der wahre Schatz wartet noch“ Ballard Sturm und schlug leck. Der erfahrene Kapitän William Lewis Herndon ließ die Goldgräber mit Eimer-Ketten um ihr Leben schöpfen, doch immer schneller gurgelte das Wasser in den Rumpf. Schließlich löschte es die Feuer unter den Heizkesseln. Das war das Todesurteil. Ohne Fahrt im Schiff konnte der Rudergänger den Bug nicht mehr gegen die Brecher halten, die „Central America“ schlug quer zu den Wellen, die nun ungehemmt die Aufbauten zertrümmern konnten. Knapp 150 Passagiere konnten von zwei Seglern gerettet werden, Kapitän Herndon versuchte nicht einmal, von Bord zu kommen. Er versank mit seinem Goldschiff. Gut 120 Jahre später kam Thompson, Ingenieur am angesehenen Battelle-Forschungsinstitut, auf die Idee, nach dem Wrack zu suchen. Sonderlich originell war das nicht, schließlich gilt der Untergang der „Central America“ als größtes Schiffsunglück Amerikas im 19. Jahrhundert. Nur: Bis dahin war der Dampfer unauffindbar, ist der Atlantik an der Unfallstelle doch über 2000 Meter tief. Technische Probleme, so dachte sich der leidenschaftliche Tüftler Thompson, seien dazu da, gelöst zu werden. Mitte der achtziger Jahre klapperte er also Geschäftsleute aus der Gegend von Columbus ab, um Investoren zu finden. Die hielten den Mann 71 Titel „Gold allein ist uninteressant“ Der Meeresforscher Franck Goddio über den Streit um die Schatzsucher ACTION PRESS Goddio, 52, ist Gründer des „Europäischen Instituts für Unterwasserarchäologie“ in Paris und einer der prominentesten Entdecker versunkener Altertümer. Der Franzose fand in Asien die im Jahr 1600 untergegangene Galeone „San Diego“ und Schiffe der englischen Ostindienkompanie, er erforscht versunkene Paläste vor Alexandria und Napoleons vernichtete Flotte bei Abukir. SPIEGEL: Herr Goddio, Sie ha- Taucher Goddio: „Wracks sind wie Zeitmaschinen“ ben bislang fast alle Wracks gefunden, die Sie gesucht haben – warum phantastische Archivquellen vorzeigen. haben Sie noch nicht längst einen Millio- Wie verläßlich sind solche historischen nenschatz gehoben? Dokumente? Goddio: Weil mich das nicht interessiert. Goddio: Sie sind sehr oft falsch, zuminAlles, was wir finden, wird archäologisch dest unpräzise. In den ersten Dokumenausgewertet und schließlich an Museen ten über die „San Diego“ etwa stimmte abgegeben. Und die wollen historisch in- gar nichts: Der Bericht an den Gouverteressante Artefakte, aus denen man et- neur war falsch, der an den König ebenwas über eine bestimmte Epoche lernen so. Erst viel später fanden wir in einem kann. Gold allein ist uninteressant. Zehn Archiv vertrauliche Berichte mit brauchMünzen, ja – aber was wollen Sie aus baren Informationen. 10 000 Münzen der gleichen Art lernen? SPIEGEL: Kann neue Technologie Fehler in Damit kann man nur reich werden. Ich der Recherche ausgleichen? habe mit der Hilti-Stiftung einen Spon- Goddio: Die modernen Magnetometer sor, der nicht an Profit interessiert ist. und Sonare helfen schon sehr. Nur: Wenn Wollen die Finanziers einer Expedition Sie die an der falschen Stelle durchs Wasjedoch Gewinne sehen, beginnen die ser ziehen, nützt die Technik gar nichts. Und viele Wracks sind von der Strömung Probleme. derart eingeebnet oder liegen unter Sand SPIEGEL: Inwiefern? Goddio: Für einen Archäologen ist es nicht und Bewuchs so verborgen, daß sie kaum nur wichtig, ein Artefakt zu haben. Er zu finden sind – selbst wenn man weiß, muß auch wissen, wo es gefunden wurde, wo sie ungefähr sein müssen. und er interessiert sich oft viel mehr für SPIEGEL: Lohnt sich der Aufwand für die eine Keramikscherbe als für Gold. Schatz- Historiker? taucher hingegen suchen nach etwas, das Goddio: Auf jeden Fall. Ein gesunkenes sich gut verkaufen läßt. Gehen sie brutal Schiff ist wie eine gut verkorkte Flavor, zerstören sie wichtige Spuren. schenpost aus einer lange vergangenen SPIEGEL: Aber viele haben inzwischen Ar- Epoche. Bei Ausgrabungen an Land finchäologen an Bord. den sie in der Regel Ablagerungen andeGoddio: Schon, doch wenn sie es perfekt rer Zeiten schichtweise über ihrem eimachen würden, könnten sie nur selten gentlichen Ziel. Das ist oft ein elendes profitabel arbeiten. Will man allein den Durcheinander. Unter Wasser aber finSchatz eines Schiffes bergen, kann man den wir gebündelte Informationen über das manchmal in ein paar Wochen erle- eine ganz bestimmte Zeit, es ist, als wären digen. Aber über dem Ostindienfahrer sie beim Untergang eingefroren worden. „Griffin“ etwa lagen wir 14 Monate, um Wracks sind wie Zeitmaschinen. alles zu vermessen und festzuhalten. Die- SPIEGEL: Was bringt das? ser Aufwand würde sich für Schatzsucher Goddio: Bevor wir losziehen, wissen wir kaum rentieren. aus historischer Recherche immer schon SPIEGEL: Viele Schatzfirmen umwerben eine Menge über unser Objekt. Aber Anleger mit Broschüren, in denen sie wenn man dann tatsächlich taucht, fin- 72 d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 det man immer wieder Fakten, die den Büchern widersprechen. Unter den Resten der „San Diego“ etwa entdeckten wir ein Navigationsinstrument, das bis dato unbekannt war. Es half dabei, den Längengrad zu bestimmen. Das klingt nach einer Fußnote in der Geschichte der Navigation. Aber die Fähigkeit, ein Schiff dorthin steuern zu können, wo man es haben will, hatte enormen Einfluß auf den Erfolg einer Nation – im Handel oder bei Eroberungen. SPIEGEL: Manchen staatlichen Archäologen ist es nicht geheuer, daß ein Privatmann derartige Expeditionen unternimmt, gesponsert von der Industrie. Goddio: Die meisten Archäologen können doch gar nicht so arbeiten wie wir. Wir haben die Erfahrung und das Geld. Staatliche Wissenschaftler haben die Erfahrung, aber selten das nötige HighTech-Equipment. Außerdem müssen sie das finanzielle Risiko fürchten, das bei der Wracksuche immer besteht. Manchmal gibt man Millionen aus und findet gar nichts. Wir sind keine kommerziellen Schatzsucher, aber auch keine Beamten. Wir gehen den dritten Weg, und davon profitiert doch jeder. Die Wissenschaftler bekommen alle Informationen und Artefakte, die sie brauchen. Unsere Sponsoren können sich völlig zu Tauchexpedition vor dem ägyptischen Alexandria (1995) Interview: Clemens Höges K. BRINKBÄUMER / DER SPIEGEL SYGMA Recht der Erfolge rühmen. Und die Öffentlichkeit bekommt Ausstellungen und Bücher. SPIEGEL: Jüngst haben Denkmalschützer auf einer Konferenz der Unesco in Paris erneut gefordert, private Schatztaucherei in nationalen Gewässern weltweit zu unterbinden. So soll Wrackplünderern das Handwerk gelegt werden – aber damit wären auch Sie draußen. Goddio: Eine solche Regelung macht keinen Sinn und hat kaum Chancen. Dazu ist die Unterwasserarchäologie zwischen den Staaten viel zu umstritten. So denkt beispielsweise die französische Regierung, daß ein französisches Wrack ihr gehört – egal wo es gefunden wird. Die Ägypter hingegen sagen: Alles, was in unseren Hoheitsgewässern liegt, gehört uns. Als wir jetzt Teile von Napoleons Flaggschiff „Orient“ vor Ägypten bargen, mußten wir vorher einen Kompromiß erarbeiten. Ich schlage eine große Wanderausstellung mit den Artefakten vor. Dann sollte wieder alles nach Ägypten gehen. Aber um den Denkmalschützern gerecht zu werden, wäre es sinnvoll, international Mindeststandards für Wracktaucher durchzusetzen. SPIEGEL: Wie könnten die aussehen? Goddio: Wer immer ein Wrack bergen will, müßte sich verpflichten, archäologisch sauber zu arbeiten. Jede Bergungsgesellschaft sollte zudem unter der Kontrolle des Landes arbeiten, vor dessen Küste sie taucht. Die historisch interessanten Artefakte müßten dann den Museen vorbehalten bleiben, aber Massenware könnte die Firma verkaufen. in den Turnschuhen zwar für berty Star“, ein Bergungsein wenig spinnert, gaben schiff, mit dem die Nasa ihm aber für den Start über manchmal Trägerraketen suvier Millionen Dollar an die chen ließ. Die „Liberty Star“ Hand. Es konnte losgehen. war „vom Kiel bis zum Mast An die Zimmerwand im pures High-Tech“ („Geo“), Haus eines Freundes und auf der Brücke kommanPartners hängte Thompson dierte Burt Webber, ein eine fast 16 Quadratmeter hemdsärmeliger Schatzjäger. große Skizze, auf der die beiThompson konnte sich denden alles notierten, was sie ken, was Webber wollte. aus alten Archiven über die Taucher Woodward Thompsons Truppe verKatastrophe erfahren konnharrte über dem Wrack wie ten. Dann nutzten sie Rechenmodelle der eine Henne über ihrem Gold-Ei. Ein ausU. S. Air Force, einst entwickelt, um deut- getüfteltes System aus mehreren Propelsche U-Boote zu jagen. Ein Computer kal- lern, von Satelliten gesteuert, hielt ihre kulierte anhand von Strömungen und „Nicor Navigator“ metergenau auf PosiWindstärken, wo das Wrack liegen könnte. tion. Als die „Liberty Star“ trotzdem achtIm Juni 1986 war Thompsons Crew so- kant auf sie zuhielt, funkte Thompson den weit, sie stach erstmals mit dem gammeli- Gegner an: „Wenn Sie in unser Operagen Motorschiff „Nicor Navigator“ in See tionsgebiet eindringen, können wir eine – an Bord freilich das damals ausgefeilte- In-extremis-Situation nicht ausschließen.“ ste Sonar und ein selbstentwickelter Ro- Das war die seerechtlich einwandfrei forboter, der sogar in 3000 Meter Tiefe noch mulierte Androhung einer Kollision. arbeiten konnte. Lauernd lagen sich die beiden Schiffe geTagelang, wochenlang fuhren sie stur genüber, tagelang. Doch wie immer fiel parallele Kurse in ihren Suchquadranten Thompson schließlich etwas ein: eine Opeab, so wie ein Bauer seinen Acker pflügt. ration in James-Bond-Manier. Er mußte Schließlich hatten sie einen Sonarschatten Webber juristisch vertreiben – nur wie? Sie auf dem Schirm, der aussah wie ein Schiff lagen 300 Meilen vom nächsten Gericht mit wuchtigen Rädern an den Seiten. Sie entfernt, und eigentlich ist ein US-Richter ließen den Roboter hinab. für Streitigkeiten in internationalen GeWas die Maschine fand, war tatsächlich wässern keineswegs zuständig. Also mußte ein Wrack. Artig schleppte der Roboter Ar- Thompson das Wrack auf amerikanisches tefakte hoch – einen Becher etwa mit der Hoheitsgebiet schaffen – gewissermaßen. Aufschrift „Gott gibt den Fleißigen“ und Per Funk heuerte er einen Piloten mit ein Stück Kohle. Davon lagen dort unten Sportflugzeug an. Ein Wasserflieger hätte Berge herum, was auf ein Dampfschiff bei dem Seegang nicht landen können. Der schließen ließ. Pilot, so Thompson, solle schleunigst herSie schienen auf der richtigen Spur – da fliegen und auf dem Weg einen Enterhaken tauchte noch ein anderes Schiff auf, das an einem langen Stahlseil herablassen. offenbar dasselbe Gebiet abfuhr: die „LiDerweil packte der Expeditionschef das gefundene Stückchen Kohle in einen leeren Mayonnaise-Eimer und verknüpfte diesen mit einer langen Tau-Schleife. Als die Propellermaschine am Horizont auftauchte, hielten Thompsons Leute die Schlinge mit Hilfe langer Stangen in die Luft. Im Tiefflug donnerte der Pilot heran und schaffte es tatsächlich, mit dem geschleppten Enterhaken die Schlinge am Mayonnaise-Eimer zu packen und das Stück Kohle nach Norfolk im US-Staat Virginia zu fliegen. Auf Antrag von Thompsons Anwalt beschlagnahmte es der örtliche Marshall. Ein Richter entschied im Eilverfahren, Thompson sei offenbar Finder des Wracks und damit eine Art Besitzer. Konkurrent Webber mußte abdrehen. Nur: Das Stück Kohle stammte zwar von einem gesunkenen Dampfer – aber nicht von der „Central America“. Jedenfalls fand der Roboter kein Gold. Thompson zog sich zurück, grübelte, bastelte. Er ließ einen besseren Roboter bauen, dazu analysierte ein Spezialist alle Sonaraufnahmen. Neue Software half schließlich weiter: Ein Objekt unweit des vermeintlichen Schatzschiffes, das auf dem Sonarbildschirm mit bloßem 73 Titel Taucher Matroci schwamm gegen eine Wand – sie war aus purem Silber ber gestapelt.Vom Laderaum der „Atocha“ hatte nur der Inhalt überdauert. 35 Tonnen Silber hoben Fishers Leute, dazu Juwelen sowie Goldketten mit einer Gesamtlänge von rund 600 Metern – alles in allem ein Schatz von rund 700 Millionen Mark. Der Erfolg seines inzwischen verstorbenen Chefs läßt Matroci nicht mehr ruhen. Im Moment fahndet er nach einer Galeone bei Guam, als nächstes sind Wracks vor Venezuela dran: „Wenn du einmal Gold gefunden hast, träumst du jede Nacht von Gold.“ Matrocis britischer Kollege Keith Jessop hat sein Vermögen mit einem weit neueren Wrack gemacht. Am 29. April 1942 stach das englische Schlachtschiff HMS „Edinburgh“ vom russischen Murmansk aus in See. An Bord 4,5 Tonnen Gold, mit denen Stalin seinen Waffennachschub bezahlen wollte. Tags darauf lief die „Edinburgh“ in der eisigen Barentssee dem deutschen U-Boot „U 456“ vor die Torpedorohre. Sie sank später auf 245 Meter Tiefe – „weiter weg als der Mond“, sagt Jessop. „Kaum jemand glaubte, daß ich es schaffen könnte. Alle waren fasziniert von diesen Geschichten über Tonnen von Gold – aber dann gingen sie weg und murmelten, was für ein mondsüchtiger Irrer ich doch sei.“ Als Jessop mit einer Tauchglocke und einem Sonar an Bord auslief, steckte er bis über beide Ohren in Schulden. Als er zurückkam, wartete auf der Pier ein neuer, silberner Porsche auf ihn. Der mondsüchtige Irre hatte gerade Stalins Gold gehoben, rund 130 Millionen Mark wert. 74 „Der historische Wert eines Wracks interessiert mich nicht“, so Rauhbein Jessop, „mich interessiert nur das Geld.“ Schatzsucher genau diesen Schlages fürchten Unterwasser-Archäologen besonders: „Sie sprengen einfach Krater in den Meeresboden“, entrüstet sich Ole Varmer, Jurist der US-Meeresbehörde National Oceanic and Atmospheric Administration. Um die Bermudas und vor Australien wurden auf diese Weise leicht erreichbare Wracks regelrecht zerpflückt. Ein Jammer sei das, klagt der Meeresforscher Franck Goddio, denn „ein gesunkenes Schiff ist wie eine gut verkorkte Flaschenpost aus einer lange vergangenen Epoche“ (siehe Interview Seite 72). Seit Jahrzehnten bekriegen sich Archäologen und Schatztaucher, doch inzwischen erkennen manche Wissenschaftler, daß sie ohne privates Geld jene Technik gar nicht bezahlen können, die ihnen allein unerforschte Tiefen erschließen kann. Und viele Bergungsunternehmen kooperieren inzwischen gern mit den Forschern. Denn eine Münze, deren Herkunft einwandfrei Bergungsunternehmer Lühring, Erkundungsroboter dokumentiert wird, bringt unter Sammlern weit mehr ein als irgendein Stück Gold. Schon als der Amerikaner Greg Stemm vor neun Jahren Teile des sogenannten Tortuga“-Wracks barg, eines vor Florida gesunkenen spanischen Schiffes, holte er deshalb den Archäologen im Team alles hoch, was die haben wollten. Heute leitet Stemm die US-Aktiengesellschaft Odyssey Marine Side-Scan-Sonar bei der Suche nach der „Central America“ Exploration, die nach eigenem Bekunden auf dem Weg ist, „welt- simpel: Liegt ein Schatzschiff innerhalb der weit Marktführer auf dem Gebiet der kom- 24-Meilen-Zone eines Staates, kann der merziellen Ausbeutung von Schiffswracks“ entscheiden, was mit den Artefakten paszu werden. Derzeit sucht er nach einem siert. Die meisten Regierungen nehmen britischen Goldtransporter im Mittelmeer, sich die Hälfte oder ein Viertel des Fundes. Codename „Cambridge“. In internationalen Gewässern regelt die Wirtschaftlich sei nach wie vor „jede Brüsseler Konvention von 1910 das Problem: Operation ein Experiment, das einiges an Wer ein herrenloses Schiff findet, dem Risiko birgt“, meint Stemm. Und dabei ver- gehört es. Nur wann ist ein Schiff herrenlos? fügt seine Firma mit der „Seahawk Re- Die „Central America“ war herrenlos – bis triever“ über ein 65 Meter langes Expedi- Tommy Thompson das Gold hob. Da meltionsschiff mit allen Schikanen, im Schlepp deten sich auf einmal Juristen von 39 Versieines der besten Sonarsysteme. Auf Deck cherungsgesellschaften, die einst einen wartet der dreieinhalb Millionen Mark teu- Bruchteil des Schadens beglichen hatten. re Tauchroboter Merlin, der schon am Sie wollten das Gold, und zwar sofort. „Tortugas“-Wrack zum Einsatz kam. Das Die Prozesse dauerten Jahre. Als typische Budget für eine Suchexpedition Thompson gewonnen hatte und immerhin allein belaufe sich schnell auf eine Million 90 Prozent des Schatzes behalten durfte, Dollar – ohne Bergung, versteht sich, aber meldeten sich die Nachfahren jener PassaRisiko inklusive. giere, die mit dem Dampfer untergegangen Denn selbst wenn eine Firma einen waren. Die Verhandlungen laufen noch. Schatz geborgen hat, ist das Geschäft noch Um eine Goldmine ausbeuten zu könnicht perfekt – dann legen meist die An- nen, räsoniert das US-Fachblatt „Treasure wälte los. Theoretisch ist die Rechtslage Quest Magazine“, brauche man manchmal MB ILLUMINATIONS Auge aussah wie ein Steinhaufen (Fundstellenname: „Galaxy II“), könnte die „Central America“ sein. Was der neue Roboter dann unten beim Sonarziel „Galaxy II“ fotografierte, verschlug der Crew oben den Atem. Der Boden um das Wrack war mit Gold gepflastert. Überall quoll es aus dem geborstenen Rumpf: Barren, Münzen, Nuggets. Die Sturheit hatte Thompson sich abgeguckt von einem Mann, für den er mal als Handlanger gearbeitet hatte: Mel Fisher, verkrachter Hühnerzüchter aus Indiana. 16 Jahre lang hatte Fisher nach der „Nuestra Señora de Atocha“ gesucht, einer legendenumwobenen spanischen Galeone. Fishers Sohn starb bei der Suche, die Schwiegertochter ebenfalls, mindestens acht Millionen Dollar verpulverte der Besessene. Kaum jemand außer Fisher selbst glaubte schließlich noch an die „Atocha“ – bis sein Taucher Andy Matroci plötzlich gegen eine Wand schwamm. Es war eine Wand aus purem Silber: 984 Barren, groß wie Brotlaibe, nach Jahrhunderten noch sau- d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 MARINE SONIC TECHNOLOGY TECHNOL UTE GMBH C. HÖGES erst eine Silbermine. Oder reiche Aktionäre. In den USA werden längst Anteile von diversen SchatzsucherGesellschaften öffentlich gehandelt. „Immer mehr Unternehmen, die nach wertvollem Gut auf dem Boden der Ozeane suchen“, schreibt das „Handelsblatt“, „entdecken die Kapitalmärkte als Finanzierungsquelle.“ Den Markt beherrschen US-Amerikaner, Kanadier und Engländer, aber auch Deutsche mischen mit. „Die Zeit ist reif für das kalkulierte Abenteuer“, so umwirbt etwa die Hamburger Seabed Invest auf ihrer InternetSeite (www.boat.de/seabed/) potentielle Anleger. Anteile an Schatzexpeditionen, so das Unternehmen des gestandenen Bergungsprofis Klaus Keppler, seien „nicht nur eine faszinierende High-Tech bei der Wracksuche Investition, sondern zudem „Die Zeit ist reif für das kalkulierte eine extrem profitable“. Zur Abenteuer“ Erkundungs-U-Boot Vorsicht warnt Keppler allerdings, auch heute könne „niemand eine hundertprozentig erfolgGPS-Satelliten reiche Suche garantieren“. Findige Helfer Ebenso wie Keppler wird auch sein KonOrtung und Bergung von Wracks kurrent Olaf Lühring in den nächsten Tagen wieder Richtung England auslaufen. Drei Projekte verfolgt der ExpeditionsleiDas GPS (Global Positioning System) ermittelt mit Hilfe von US-Militärsatelliten ter der deutsch-schwedisch-englischen BerDGPSdie ungefähren Koordinaten des momengungstruppe Marine Salvage Group derEmpfänger tanen Standorts. Ein Korrektursender an zeit, die er Anlegern ebenfalls, inzwischen DGPSLand (Differential GPS) schickt ein branchenüblich, via Internet schmackhaft Korrektursender weiteres Signal, mit dem die Position bis macht (www.wrecksalvage.com). auf wenige Meter genau ermittelt wird. Ein dritter Deutscher ist Nikolaus Graf Expeditionsschiff Sandizell. Als er vor fünf Jahren zum Schatzsucher wurde, erfüllte er sich damit einen KindSide-Scanheitstraum. Sandizell grünAufnahme Das Schleppmagnetometer dete die Firma Arqueoregistriert Anomalien im nornautas, ließ sie auf Madeira malen Magnetfeld der Erde. registrieren und umgab sich Störungen durch Eisenteile mit Spezialisten wie Margaeines gesunkenen Schiffes Das Side Scan Sonar ret Rule und Mensun Bound werden angezeigt. sendet Schallwellen, vom Institut Mare der Oxdie den Grund abtaford University. sten. Die reflektierten Dann sammelte er InveSignale werden vom storen, die mit jeweils minComputer zu Schalldestens 25 000 Dollar AnSchatten-Bildern zusammengesetzt. teil einstiegen. 168 Anleger beteiligten sich: Ärzte, Ferngelenkte Roboter Schmuckhersteller, Rechtsanwälte – erkunden die Wracks Zocker mit einem Faible für maritime und bergen Artefakte. Abenteuer. Mittlerweile bereitet das Emissionshaus New York Broker den Gang der Arqueonautas an die amerikanische Technikbörse Nasdaq vor. Der Zeitpunkt ist günstig, denn kürzlich haben Sandizells Leute vom Wrack der „Princess Louisa“ das Elfenbein und 40 000 Silbermünzen im Wert von nicht d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 75 Titel CHRISTIES AMSTERDAM ganz drei Millionen Mark ans Licht ge- briefe, um zu prüfen, was schon früher ge600 Fässer Geschmeide soll borgen worden sein könnte. Glücksritter, holt. Pirat Anson am Taucher Woodward ist allerdings leicht Suchtrupps der Reederei und Piraten, so Skorpionfelsen vergraben haben verwirrt, denn die Geldstücke sind nicht fand er heraus, hatten sich nach dem UnNach Selkirks Zeit hatte George Anson, von jener Art, die 72 846 Münzen in den tergang einen Wettlauf geliefert. Etwa die Frachtpapieren des Ostindienfahrers be- Hälfte der Ladung holten sie aus dem Freibeuter im Auftrag Ihrer Britischen Mascheinigt wird. „Es muß auch privates Geld Wrack. Der Rest könnte also noch dasein. jestät, 1741 das Eiland angelaufen, soviel Derartige Archivrecherche ist neben steht fest. Als er zwei Jahre später nach an Bord gewesen sein“, hofft Woodward, „der wahre Schatz wartet noch auf uns.“ technischem Gerät das Haupthilfsmittel London zurückkehrte, mußten mehr als 40 Rund acht Millionen Mark hat Sandi- aller Schatzsucher. Aktenlager wie das Ochsenkarren seine Beute in die Stadt zells Firma bislang für das Kapverden- Archivo de Indias im spanischen Sevilla schaffen, auch das ist relativ sicher. Aber das soll nur ein Teil seines Schatzes Abenteuer ausgegeben. Seine Truppe setzt horten noch tonnenweise vergilbte Dokusich zusammen aus verwegenen Abenteu- mente: Aussagen von Überlebenden, Log- gewesen sein, und da beginnen die Legenrern und Wissenschaftlern aus aller Welt. bücher, Ladelisten, Untersuchungsproto- den: Den Rest, 600 Fässer mit Geschmeide, Der Südafrikaner Julien von Rensburg ist kolle, Positionsskizzen – oft Jahrhunderte vermuten manche Historiker, habe der Pirat vorher auf der Robinsoninsel vergraeiner der besten Taucher im Team, der alt (siehe Seite 77). Etwa zwei von drei Expeditionen wür- ben, beim sogenannten Skorpionfelsen. Franzose Christophe Noyen kam direkt Nach heftigen Regenfällen finden Invon der Armee und Alejandro Mirabel von den trotz gründlicher Archivrecherche weCarisub, den kubanischen Meeresfor- nig erfolgreich enden, schätzt Wrack- sulaner tatsächlich ab und an einzelne schern. Einheimische, die bislang Langusten fingen, tauchen jetzt für die Männer auf der „Polar“ und verdienen 600 Dollar im Monat. Viel Geld auf den Kapverden, aber auch gefährlich verdient: Im Februar 1996 wurde der britische Arqueonautas-Taucher David Baxter gegen einen Felsen geschmettert. Er brach sich das Genick. Am vorvergangenen Wochenende hat Woodward neben den üblichen Schalen, Krügen und Pfeifen eine unversehrte Porzellantasse gefunden. Das könnte bedeuten, daß die Unterwasser-Ausgräber sich der ehemaligen Kapitänskajüte nähern. Dort war meist alles Wertvolle verstaut. Wo eine feine Tasse liegt, könnte also auch das Silber nicht weit sein. Oft ankert das Expeditionsschiff auch vor der Nachbarinsel Boa Vista. Das ist ein guter Ort für Arqueonautas, denn es war ein fürchterlicher Ort für Segel- Schatz-Auktion (1995 bei Christie’s): „Mich interessiert nur das Geld“ schiffe. Auf den Karten jener Zeit waren die Kapverden um einige Mei- forscher Standfuß. So wollten Schatztau- Goldmünzen, die offenbar vom Berg herlen falsch plaziert, die Strömungen sind cher 1993 das deutsche Weltkriegs-U-Boot untergespült werden. Doch die Amerikaheftig. Dutzende Male haben die Taucher „U 534“ aus dem Kattegat ziehen. Doch ner, angerückt mit einem Schwarm von Reein „W“ für Wrack in ihre Riffpläne ein- statt der vermuteten Schätze fanden sie portern, Archäologen und chilenischen Pogezeichnet, und gleich drei halten sie für nur Kartoffelreste und Kondome. 33 Mil- lizisten, gruben dort vergebens. „Ich sulionen Mark hat die Operation leichtgläu- che weiter“, tönte der US-ExpeditionsleiGoldschiffe. ter Bernard Keiser. Die „Hartwell“ soll eins davon sein. Sie bige Anleger gekostet. Ähnlich erging es einem US-amerikaniEine „richtige Investoren-Falle“ nennt hat es 1787 gleich auf ihrer Jungfernfahrt erwischt, mit 129 Mann Besatzung und 72 schen Team im Pazifik. Nach jahrelanger Unternehmer Lühring die britische FreKisten voller Münzen an Bord. Irgendwann Recherche wollten die Schatzsucher auf gatte „Lutine“ – „da sieht alles so schön auf der Überfahrt meuterten die Matro- der chilenischen Robinsoninsel einen Pi- einfach aus“. 1799 schickte die Admiralität sen, drei Tage lang konnten die Offiziere ratenschatz im Wert von rund 17 Milliarden das Schiff nach Hamburg, an Bord 1000 Goldbarren, 500 Silberbarren und 140 000 vor Angst nicht schlafen, neun Seeleute la- Mark ausgraben. Anfang des 18. Jahrhunderts war der Pfund in Münzen. Die deutschen Banken gen in Ketten. Kapitän Edward Fiott steuerte Boa Vista an, um die Meuterer dem schottische Obermaat Alexander Selkirk standen durch die Französische Revolution Gouverneur zu übergeben. Dabei setzte auf dem winzigen Fleckchen Land im Süd- und den Krieg zwischen Paris und London die übermüdete Crew das Schiff aufs Riff. pazifik ausgesetzt worden. Dessen Schick- vor dem Zusammenbruch, die Engländer David Hebb, der Historiker in Arqueo- sal diente dem Schriftsteller Daniel Defoe wollten ihre Verbündeten stützen. Am 9. Oktober fuhr das Kriegsschiff in nautas-Diensten, stieg in Bibliotheken und als Vorbild für seine Romanfigur Robinson Yarmouth los, wenig später lief es auf eine Archive, las Logbücher, Akten und Fracht- Crusoe, daher der Name der Insel. 76 d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 Clemens Höges, Erich Wiedemann JADE PEILSCHIFF „Terschelling“-Suchroboter in der Biskaya: Wer zuviel wagt, geht unter Eine Art Meisterstück Der Schatzsucher Nigel Pickford spürte in detektivischer Tüftelarbeit ein versunkenes Silberschiff auf – und enthüllte nebenbei einen über hundert Jahre alten Justizskandal. N ebel über der Biskaya. Kapitän Die „Prins Frederik“ ist tödlich getrofKlaas Visman gibt Order, Dampf fen. Sie sinkt in weniger als acht Minuten. aus den Kesseln zu nehmen. Bei Trotzdem kommen 176 von 183 Menschen Einbruch der Dämmerung ist die Suppe so rechtzeitig in die Rettungsboote. Die „Mardick, daß man von der Brücke aus nicht pessa“ wird bei dem Zusammenstoß am einmal mehr die Spitzen der Ladebäume Bug schwer beschädigt. erkennen kann. Deshalb geht Visman mit Das war am Mittwoch, dem 25. Juni der Geschwindigkeit noch weiter herun- 1890. Die Londoner Schiffahrtszeitung ter. Er sagt später vor Gericht aus, die „Lloyd’s List“ meldete die Katastrophe „Prins Frederik“ habe zum Schluß nur am folgenden Samstag mit drei lakoninoch knapp drei Knoten Fahrt gemacht. schen Sätzen: „Kabel erhalten. Eine MilSüdwestlich der Insel lion Gulden an Bord. Alles Ouessant vor der Westspitze verloren.“ der Bretagne reißt die NeDie 400 000 silbernen belwand kurz auf. Vom „Rijksdaalder“ im GegenDeck aus kann man vereinwert von einer Million Gulzelt sogar den Mond sehen. den waren für die Garnison Aber jedesmal nach ein in Batavia in Niederlänpaar Minuten schlägt das disch-Ostindien bestimmt. nasse graue Elend wieder Sie sind heute, je nach Präüber dem Schiff zusammen. gung und ErhaltungszuUm 22.10 Uhr hört die stand, zwischen 15 Millionen Besatzung die Sirenen eines und 30 Millionen Mark wert. Der bröselige, vergilbanderen Schiffes. Es ist wie te Zeitungsausschnitt aus ein quäkender, drohender „Lloyd’s List“ war das Schrei, und er ist so laut, daß Deckblatt in der Akte man nicht weiß, aus welcher „Prins Frederik“, die der Richtung er kommt. Der Ka- Taucher Keppler Schatzschiffsucher Nigel pitän sieht von der Brücke das milchige Toplicht eines Dampfers an Pickford aus Cambridge von seinem Vater Steuerbord und wirft den Maschinentele- geerbt hatte. Der alte Pickford war ein kleigraphen sofort auf volle Kraft voraus. Aber ner Wrack-Scout bei der britischen Marine es ist zu spät. Der Bug des britischen gewesen. Nebenbei hortete er auch DokuFrachters „Marpessa“ bohrt sich in voller mente über gesunkene Schatzschiffe. Nigel Pickford hat die DokumentenFahrt mittschiffs in den holländischen Postdampfer „Prins Frederik“ und reißt ihm sammlung in jahrelanger Kleinarbeit komplettiert und dem Bergungsunternehmer die Bordwand bis zur Wasserlinie auf. H. SAMEL / JADE Sandbank vor der niederländischen Insel Terschelling – warum, konnte nie geklärt werden, denn nur eines von fast 300 Besatzungsmitgliedern überlebte. Die „Lutine“ kenterte und verschwand. Schon kurz nach dem Untergang hatten die rabiaten Strömungen der Nordsee die Fregatte unter mehreren Metern Sand begraben. Doch eines Tages spülte die Tide den Rumpf plötzlich wieder frei. Taucher bargen einen kleinen Teil der Ladung, dann schob die Flut auch schon wieder meterweise Sand über das Wrack. Man kann ihn gar nicht so schnell wegbaggern, wie ihn die nächste Flut zurückbringt. Immer neue Bergungsunternehmer versuchten es in den folgenden Jahren. Dampfgetriebene Schaufelbagger wühlten im Watt, riesige Taucherglocken sollten über den Ort der Katastrophe gestülpt werden, ein Amerikaner wollte gar eine Stahlröhre durch den Sand vorantreiben. 1980 versuchte die neuseeländische Bergungsgesellschaft Caribbean Marine Recovery (CMR), die „Lutine“ freizuschaufeln, vergebens. Rund anderthalb Millionen Mark waren dahin. „Ein Mann hat uns 65 000 Pfund gegeben“, berichtet CMR-Chef Henry Newrick, „und gesagt, es würde ihm nichts ausmachen, das Geld zu verlieren. Er beteilige sich pro Jahr an zehn solcher Unternehmungen. Wenn nur ein Projekt funktioniere, reiche ihm das.“ Die Gier nach dem Gold lockt auch viele schräge Typen an – kaum ein Gewerbe eignet sich so sehr zum Abzocken wie die Schatztaucherei. Die Investoren können nur selten kontrollieren, ob ihr Kapital genutzt wird, um in entlegenen Meeren nach Schätzen zu suchen – oder ob es in entlegenen Steuerparadiesen auf Nummernkonten landet. „Es gibt Firmen, die wollen gar nichts finden“, sagt der britische Archivrechercheur Nigel Pickford. Manchen reicht schon eine malerisch zerfledderte Akte mit alten Dokumenten und Pickfords renommiertem Namen auf der Expertise. Die kommt dann oftmals einer Lizenz zum Gelddrucken gleich. Denn nichts ist leichter, als Goldfieber zu schüren – zumindest kurzfristig. Anfang 1997 verkündete die norwegische Bergungsfirma La Capitana Invest, daß sie das Wrack der spanischen GoldGaleone „La Capitana Jesús María“ gefunden habe, die in einem Pazifiksturm sank. Seit fast 350 Jahren mühen sich Abenteurer aller Herren Länder, das Schiff zu finden, das wohl Inka-Gold an Bord gehabt hat. Die Botschaft an die Zocker: Es ist höchste Zeit zu investieren. Dann mußte Cheftaucher Anton Smith aber einräumen, bei dem georteten Objekt könne es sich auch um ein Fischerboot handeln. Schließlich wurde es still um das Projekt. Scharen von Capitana-Aktionären guckten in die Röhre. Klaus Brinkbäumer, d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 77 Titel suchen sollten. Er ist selbst noch nie mit rausgefahren. Die Seefahrt interessiert ihn nicht. Er sagt, er habe zu Hause über 10 000 Akten über versunkene Schiffe, die er noch aufarbeiten wolle. Da hat er keine Zeit zum Schiffchenfahren. Pickford hat schon viele Schatzschiffe aufgespürt. Die detektivische Besessenheit, mit der er die Tragödie der „Prins Frederik“ rekonstruierte und wie er das Wrack lokalisierte, so sagen Kollegen, hätte sicher auch ausgereicht, um Jack the Ripper zu finden. Sie war nicht sein wertvollstes Schiff, aber sie war eine Art Meisterstück. E N G L A N D SouthDie „Prins Frederik“ war ein ampton Falmouth propellergetriebener Eisendampfer ederik der Luxusklasse: 11,5 Knoten Ouessant Prins Fr Spitzengeschwindigkeit, 2978 Bruttoregistertonnen, 107 Meter lang, Cherbourg 50° zwei hochleistungsfähige ZweiZylinder-Compound-Maschinen. FRANKSie hatte nur Erste-Klasse-Kabinen. REICH Eigentümer war die Reederei 48° Stoomvaart Maatschappij in Amsterdam, deren Schiffe die Route Festland- Klaus Keppler aus Sasbach am Oberrhein dann für 20 000 Mark und einen Gewinnanteil, dessen Höhe er nicht verrät, ein befristetes Nutzungsrecht an der Akte eingeräumt. Keppler, Hauptanteilseigner der Jade Peilschiff GmbH, will den Millionenschatz, der mit der „Prins Frederik“ unterging, jetzt heben. Nigel Pickford leistet die intellektuelle Vorarbeit für die tollkühnen Kerle, die märchenhafte Schätze aus finsteren Meerestiefen holen. Ohne ihn und seine Zunft wüßten die Schatzsucher gar nicht, wo sie Zusammenstoß der Marpessa mit der Prins Frederik am 25. Juni 1890 sa es rp Ma G o l f von Bi s kay a Holland–Java bediente. Die „Prins Frederik“ war am 21. Juni von Amsterdam nach Southampton ausgelaufen. Von dort nahm sie am 24. Juni Kurs auf Batavia. An Bord waren 83 Mann Besatzung, 75 Offiziere und Soldaten der niederländischen Kolonialarmee und 25 Passagiere. Die Fracht war so wertvoll, daß sich fünf Schiffsversicherer das Verlustrisiko geteilt hatten. Neben den Truhen voll Silbermünzen waren in einer mit dicken Eisenplatten ausgekleideten Kammer im Heck Postsendungen sowie große Mengen Bargeld und Goldbarren gelagert, die die mitreisenden Kaufleute als Betriebskapital für ihre Geschäfte in Fernost benötigten. Der gesamte Versicherungswert von Schiff und Fracht wird mit über 200 000 Pfund Sterling veranschlagt. Das sind nach heutiger Kaufkraft ungefähr 40 Millionen Mark. Vor Nigel Pickford und Klaus Keppler haben Schatzsucher aus Schweden, Frankreich und Großbritannien versucht, die „Prins Frederik“ zu orten. Sie suchten aber weitab von der späteren Fundstelle, einfach weil sie sich auf das Urteil des sockel 46° S PA N I E N 8° 6° 4° 2° 0° Luxus-Liner „Prins Frederik“, Wrack-Scanner-Foto: „Eine Million Gulden an Bord – alles verloren“ FOTOS: JADE PEILSCHIFF Wrack-Scout Pickford 10 000 Schatzakten in Arbeit Londoner High Court of Admiralty vom 11. August 1891 verließen, in dem die Schadensersatzklage von Stoomvaart Maatschappij gegen Fenwick & Co., die Reederei der „Marpessa“, abgewiesen und in dem Klaas Visman das Kapitänspatent aberkannt worden war. In der Urteilsbegründung hatte der Vorsitzende, Richter Butt, die holländischen Kläger beschuldigt, sie hätten unredlicherweise versucht, aus der Katastrophe Kapital zu schlagen. Die Holländer waren empört: Dies sei ein Justizskandal. Sie hatten recht. Nigel Pickford durchkämmte gut hundert Jahre später Archive in Holland, Großbritannien und Frankreich, sichtete alte Zeitungsartikel, Prozeßakten, Briefe, Versicherungspolicen und Seekarten und fand bei Durchsicht der Gerichtsprotokolle den Verdacht der Holländer bestätigt, daß Richter Butt sich bei der Rechtsfindung mehr vom patriotischen Zeitgeist als von der Faktenlage hatte leiten lassen. Daß in der Verhandlung Recht und Wahrheit offenbar verbogen worden waren, ergab sich aus dem Protokoll der Aussage von Captain Geary, das Pickford wieder ausgrub. Geary hatte auf Befragen der gegnerischen Anwälte zugegeben, daß die Logbuch-Eintragung über die Geschwindigkeit, mit der sein Schiff nach dem Unfall die Reise fortgesetzt hatte, nachträglich von sechs auf acht Knoten geändert worden war. Allerdings nur, so sagte er, um einen Flüchtigkeitsfehler zu korrigieren. Der Richter sagte, die Begründung sei glaubhaft. Pickford glaubte das nicht. Er rechnete nach und kam zu dem Ergebnis: Die „Marpessa“ hätte die im Logbuch festgehaltene Distanz in der Unglücksnacht und am Tag danach nicht bewältigen können, wenn sie vor der Kollision, wie Geary sagte, nur drei und danach nur sechs Knoten gefahren wäre. Damit die Rechnung aufging, sattelte Geary die Knoten, die er von der vor dem Unglück gefahrenen Geschwindigkeit abgezogen hatte, auf das Tempo nach dem Zusammenstoß drauf. Nach der Aussage von „Marpessa“-Kapitän William Geary ereignete sich das Unglück auf 6.30 Grad West, 47 Grad Nord, nach Angaben von Kapitän Visman dage- abzuscannen. Die Biskaya gehört seit Jahrgen 70 Seemeilen westsüdwestlich von hunderten zu den meistbefahrenen und Ouessant, was ungefähr der Höhe 6.40 stürmischsten Seegebieten der Erde. DesGrad West, 47.55 Grad Nord entsprach. halb liegt dort auch besonders viel SchiffsMit Bleistift, Zirkel und Millimeterpa- müll auf dem Meeresboden. Die „Terpier entwarf Pickford zwei alternative schelling“ überprüfte in dem von Pickford Szenarien – eines nach der Aussage von vorgegebenen Planquadrat 37 gesunkene Captain Geary und eines nach der von Schiffe, die ungefähr so groß waren wie Captain Visman. Resultat: Vismans Anga- die „Prins Frederik“. ben waren schlüssiger. Am 20. Juli vergangenen Jahres meldeDie „Marpessa“ konnte ihre Position gar te die „Terschelling“ nach Sasbach: „Wir nicht bestimmt haben. Wegen der schlech- haben sie.“ Die „Prins Frederik“ lag 150 ten Sicht konnte man die Sterne nicht an- Meter tief, fast auf die Meile genau an der peilen. Außerdem war die „Marpessa“, die Stelle, die Kapitän Visman vor Gericht anmit einer Ladung Korn aus Taganrog am gegeben hatte: 70 Seemeilen westsüdwestAsowschen Meer kam, seit mindestens lich von Ouessant. zwei Tagen außer Sichtweite des Festlands Um die Identifizierung zu erleichtern, gefahren, so daß die Besatzung auch keine hatte Nigel Pickford eine Kopie des fünf geodätischen Hilfspunkte hatte, um ihre Meter langen Bauplans der „Prins FredeKoordinaten zu bestimmen. rik“ aus dem Archiv der Schiffswerft John Pickford fand Vismans Positionsangabe Elder & Co. in Glasgow beschafft. Darauf ehrlicher und realistischer, weil sie nicht war jede Decksplanke zu erkennen, auf so genau war wie die von Captain Geary. dem Vorschiff auch eine Dampfwinde, wie Sie war auch deswegen glaubwürdiger, weil sie nur die „Prins Frederik“ und ihr bausie weiter draußen auf See lag und weil gleiches Schwesterschiff, die „Prins AlexVisman, der als einer der erfahrensten ander“, hatten. Schiffsführer der niederländischen HanEin zweites Beweisstück verwahrt Klaus delsmarine galt, wissen mußte, daß man Keppler in seiner Schreibtisch-Schublade: bei Nebel Distanz zur Küste hält. eine handgestrichene holländische WandWeil Nigel Pickford ein vorsichtiger kachel. Der Bergungsbagger hat sie aus Mann ist, der Selbstzweifel für eine Tu- dem Badezimmer über dem Tresorraum gend hält, schlug er den Bogen um die Stel- des Schiffes herausgebrochen. Solche Kale, an der er das Wrack der „Prins Frede- cheln gab es nur in den Kabinen der „Prins rik“ vermutete, viel weiter, als das nach Frederik“ und der „Prins Alexander“. Nigel Pickfords RecherLage der Dinge erforderchen haben nachträglich lich gewesen wäre. Der auch den Beweis erbracht, Suchteppich mit einer daß Klaas Visman ein guFläche von 200 Quadratter und gewissenhafter Seemeilen lag dicht an Kapitän war. Die Reederei der Kante des FestlandStoomvaart Maatschappij, sockels, der vor der Bredie 1891 den Prozeß getagne-Küste nirgendwo gen Fenwick & Co. verlor, tiefer als 150 Meter ist. hätte jetzt sogar gute Wenn die von Captain Kachel von der „Prins Frederik“ Aussichten auf eine ReviGeary angegebene Stelle sion des Urteils. Von eirichtig gewesen wäre, hätBei der Schatzsuche nem Wiederaufnahmeante das Wrack etwa 1500 Meter tief gelegen. Dann müssen Risiko und Ertrag trag wird aber abgesehen, zueinander passen weil beide Gesellschaften hätte sich die Bergung inzwischen von der Reenicht gelohnt. Klaus Keppler ist ein kühl rechnender derei Nedlloyd in Rotterdam übernommen mittelständischer Unternehmer, der seine wurden und weil deshalb der Kläger und Chancen abwägt, bevor er seinen Einsatz der Beklagte identisch wären. Seit Sonntag ist die „Terschelling“ in placiert. Er sagt: „Das Schatzsuch-Business ist ein Geschäft wie jedes andere. Risiko der Biskaya im Berge-Einsatz. Wenn alles und Ertrag müssen zueinander passen.“ nach Plan läuft, sagt Marketing-Leiterin Wer zuviel wagt, muß damit rechnen, daß Monika Wetzke, sei im Herbst alles im Kasten. Sie hat für den 15. Dezember in Paer untergeht und nicht wieder auftaucht. Natürlich macht es mehr Spaß, in der ris, London und Amsterdam Auktionssäle Karibik nach spanischen Gold-Galeonen gebucht, in denen die 400 000 Rijksdaalder zu tauchen. Aber sie sind schwer zu finden simultan versteigert werden sollen. Obund viel schwieriger zu bergen. Die „Prins wohl es bei der Schatzsuche noch nie vorFrederik“, sagt Keppler, sei ein sicheres gekommen ist, daß alles nach Plan läuft. Die Konzernleitung von Nedlloyd hat Objekt. Ordentliche Fracht, günstige Lage, auf einen Anteil am Ertrag des Bergungskeine rechtlichen Komplikationen. Die Crew des Suchschiffes „Terschel- unternehmens verzichtet. Mit einer Einling“, das Keppler für die Operation schränkung: Sie will die Schiffsglocke der gechartert hatte, brauchte 1997 und 1998 „Prins Frederik“. Die hat Klaus Keppler ihr zweimal drei Monate, um die ganze Fläche versprochen. Erich Wiedemann d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 79 Werbeseite Werbeseite Wirtschaft Trends T E L E KO M M U N I K AT I O N Deutsch-spanischer Flirt D Eichel STEUERN Neuer Gesetzesärger N ach dem Chaos um die Gesetze zu 630-Mark-Jobs und Scheinselbständigkeit droht der Regierung ein neues Debakel. Eine neue Steuer für ausländische Dienstleistungen erregt die Import-Wirtschaft. Seit dem 1. April müssen die deutschen Auftraggeber 25 Prozent des Preises für ausländische Dienstleistungen als Einkommensteuer zuzüglich Solidaritäts- zuschlag einbehalten und an den Fiskus abführen. Die neue Regelung zielte ursprünglich auf Bauarbeiterkolonnen, beispielsweise aus England oder Tschechien, die weder Steuern noch Sozialabgaben zahlen und deutsche Baufirmen unterbieten. Tatsächlich aber sind alle Arten von ausländischen Dienstleistungen betroffen: Auch wer Software in London entwickeln läßt oder eine Spedition in Amsterdam beauftragt, muß den 25-Prozent-Abschlag zahlen. Um die wenigen schwarzen Schafe der Bauindustrie zu finden, müssen nun alle Unternehmen, die Aufträge ins Ausland vergeben, einen aufwendigen Papierkrieg führen und anhand von Freistellungserklärungen untersuchen, ob sie die Steuer abziehen oder nicht. „Ein völlig irres Gesetz“, sagt Hermann Grewer, Präsident des Bundesverbands Güterkraftverkehr und Logistik. Das ohnehin angeschlagene deutsche Transportgewerbe hat jetzt Verkehrsminister Franz Müntefering alarmiert, und der forderte Finanzminister Hans Eichel auf, „negative Auswirkungen einer derartigen Gesetzesauslegung zu vermeiden bzw. zu entschärfen“. Böse Briefe kommen auch aus dem Ausland: Fast alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union von Luxemburg bis Großbritannien schrieben empört nach Bonn. d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 JUSTIZ Freiheit für Schneider D er ehemalige Baulöwe Jürgen Schneider, 65, soll im Dezember auf freien Fuß kommen. Das ist das Ergebnis von Gesprächen zwischen Schneiders Strafverteidiger Eckart Hild und dem zuständigen Richter Michael Kehr. Schneider ist schon seit 13 Monaten Freigänger und kehrt nur nachts in den Knast zurück. 1994 hatte er durch betrügerische Immobilienspekulationen eine Milliardenpleite hingelegt und damit Banken geschädigt und zahlreiche Handwerker in große Schwierigkeiten gebracht; 1997 wurde er daraufhin zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren und neun Monaten verurteilt. Nach der geplanten Freilassung hätte Schneider zwei Drittel seiner Haft verbüßt. Schneider ACTION PRESS DPA B. BOSTELMANN / ARGUM WHITE STAR ie Deutsche Telekom möchte mit der spanischen Telefongesellschaft Telefónica fusionieren. „Erste Gespräche“, so ein ranghoher Telekom-Manager, habe es „bereits gegeben“. Die Kontakte laufen seit rund sechs Wochen. Ranghohe TelekomManager halten sich nach Informationen aus dem Unternehmen derzeit Villalonga in Spanien auf; auch EU-Kommissar Martin Bangemannn, der demnächst in den Verwaltungsrat von TelefónicaChef Juan Villalonga einzieht, ist über 1998 Deutsche Telekom Telefónica de España die Gespräche informiert. Das würde auch erklären, warum die Telekom UMSATZ 35,6 17,5 in Milliarden Euro den geplanten Berufswechsel des Industriekommissars nicht kritisierte. GEWINN 2,15 1,3 nach Steuern Noch in diesem Jahr, so das erklärte Sommer in Milliarden Euro Ziel von Telekom-Chef Ron Sommer, 62 000 BESCHÄFTIGTE 179 500 will sich die Telekom im Ausland durch Zukäufe verstärken. Telefónica gilt MOBILFUNK als Perle unter den Telefonfirmen. Auch eine Allianz mit Cable & Wireless Anteil am 41% 70% ist noch immer möglich. heimischen Markt 81 Trends H Y P OV E R E I N S BA N K Neue Beweise V. KOHLBECHER / LAIF m Skandal um dubiose Immobiliengeschäfte der ehemaligen Hypobank, die mittlerweile mit der Vereinsbank fusionierte, gibt es neue Beweise. Der Hypobank wird zur Last gelegt, seit 1989 Zehntausende von Kleinverdienern geschädigt zu haben. Die Kunden waren zum Kauf von „bankgeprüften Immobilien“ mit garantierten Mieten überredet worden. Doch aus der Mietgarantie wurde nichts, viele Käufer verbuchen hohe Verluste. Die Hypobank hat dabei eng mit Strukturvertrieben, sogenannten Drückerkolonnen, zusammengearbeitet. Wer die meisten Kreditverträge vermittelte, durfte nach Mauritius oder New York fliegen. „Mäßigen Sie sich nicht!“ schrieb die Hypo an Vermittler wörtlich, „es lohnt sich.“ Die Bank sagt, es habe keine vertragliche Bindung zwischen den Strukturvertrieben und ihr gegeben. „Die Drücker waren reine Erfüllungsgehilfen der Bank“, sagt dagegen Rechtsanwalt Reiner Fuellmich, der 3500 Opfer vertritt. Die Hypobank Fuellmich habe den Drückerkolonnen, so Zeugen, auch 0,5 Prozent Provision auf die Darlehenssumme bezahlt, was die Bank bestreitet. Außerdem habe sie von den 18,4 Prozent versteckten „internen Provisionen“ gewußt, die alle Erwerber an Treuhänder zahlen mußten. „Die Hypo hätte ihre Kunden darüber informieren müssen“, sagt Fuellmich – ein Haftungsanspruch. Inzwischen fordern 7000 Geschädigte von der ehemaligen Hypobank und anderen Instituten die Rückabwicklung der Verträge. Sollten sie recht bekommen, muß die HypoVereinsbank, in der die Hypo 1998 aufgegangen ist, pro Engagement rund 200 000 Mark abschreiben – alles in allem mehrere Milliarden. ARBEITSMARKT UNTERNEHMEN Rechnungshof gegen Bonn Mondschatten als Firmenevent eldverschwendung ohne Sinn und Verstand – so lautet das vernichtende Urteil des Bundesrechnungshofs über ein Prestigeprojekt der Kohl-Regierung zur Vermittlung von Langzeitarbeitslosen. Drei von elf Modellprojekten – sogenannten Serviceagenturen – hat der Rechnungshof untersucht. Ergebnis: Die Förderung der Projekte (insgesamt: 37 Millionen Mark) sollte „vorzeitig beendet werden“. Die krassesten Ungereimtheiten gab es bei der Emsländischen Service- und Beratungsagentur (ESBA) in Meppen. Die ESBA verfolgt die gleichen Ziele wie eine vor Ort bereits bestehende Serviceagentur, stellen die Prüfer fest. Dennoch bewilligte das Bonner Arbeitsministerium 3,4 Millionen Mark, eine halbe Million mehr als angefordert. Als erstes schafften die Emsländer davon vier neue Dienstwa- J. CARSTENSEN / ACTION PRESS Ehemalige Hypobank-Zentrale in München gen an. Computer blieben ungenutzt, weil Kabel fehlten. Die ESBA vermittelte mit acht Mitarbeitern in acht Monaten so viele Arbeitslose wie das örtliche Arbeitsamt mit zwei bis drei Vermittlern in einem Monat. Ähnlich erfolglos wirtschaftete die Serviceagentur MassArbeit, eine Fördergesellschaft des Landkreises Osnabrück. Sie reklamierte 40 Vermittlungserfolge für sich. Die Rechnungshofexperten stellten aber fest, daß ein Großteil der Vermittlungen auf das Konto des Arbeitsamts Osnabrück gingen. Nur zwölf Personen bekamen am Ende tatsächlich Jobs; für die geringe Erfolgsquote legten sich in der Agentur 20 Mitarbeiter ins Zeug. Das dritte Projekt, WISA in Leer, fiel durch besondere Kreativität auf. Der ostfriesische Landkreis nutzte die Bundesmittel vor allem, um sich von Sozialhilfezahlungen zu entlasten. Das Projekt diene „vorrangig den Interessen des Landkreises Leer“, bemängelten die Prüfer. Arbeitsminister Walter Riester will die Förderung vorerst fortführen. Riester d e r L. BURR / GAMMA / STUDIO X G W. M. WEBER I E in Naturereignis im Dienste der Wirtschaft: Verschiedenste Unternehmen nutzen die Sonnenfinsternis am 11. August für besondere VeranSonnenfinsternis staltungen. So lädt etwa die Dresdner Bank auf die Dachterrasse ihrer Stuttgarter Niederlassung ausgewählte Gäste ein. Das Bekleidungshaus Bräuninger stellt Liegestühle auf das Dach seines Stuttgarter Hauses und verteilt „Sonnenfinsternis-Brillen“ an knapp 500 Kunden. Nach Angaben der Stadtverwaltung nutzen Dutzende von Firmen das seltene Naturereignis für alle möglichen Veranstaltungen. In Stuttgart ist die Sonnenfinsternis am besten zu beobachten. Die Stadt selbst veranstaltet ein mehrtägiges Sonnenfestival – und rechnet mit über einer halben Million Besuchern. Aber auch über München zieht der Mondschatten hinweg. So wird die HypoVereinsbank auf die Terrasse der ehemaligen HypobankZentrale am Arabellapark einladen. s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 Geld 68 66 64 62 60 58 56 54 52 46 Bankaktien in Euro 44 DEUTSCHE BANK 42 DRESDNER BANK 40 38 36 Quelle: Datastream Juni 34 Juli Juni Juli S P E K U L AT I O N Boom der Bankaktien D eutsche Bankaktien holen auf: Die Kurse der vier größten börsennotierten Institute sind dem Dax monatelang hinterhergelaufen – doch in den vergangenen sechs Wochen haben sie im Schnitt gut 30 Prozent zugelegt. Viele Anleger glauben, daß 68 66 64 62 60 58 56 54 52 35 34 33 32 31 30 29 28 27 26 HYPOVEREINSBANK Juni Juli COMMERZBANK Juni Juli die Großbanken möglicherweise schon bald öffentlich-rechtliche Banken übernehmen könnten. Hintergrund der Spekulation ist der Beschluß des EU-Kommissars Karel Van Miert, die WestLB zu zwingen, knapp 1,6 Milliarden Mark Subventionen an den Fiskus zurückzuzahlen. Einige Analysten halten die Euphorie für verfrüht. Britta Graf von der Banque National de Paris: „Bis der EU-Gerichtshof rechtskräftig über die WestLBSubventionen entschieden hat, können Jahre vergehen.“ IMMOBILIEN UNTERNEHMER Staat streicht Steuervorteil EM-TV im Dax? M edienunternehmer Thomas Haffa steigt mit seiner Rechte- und Produktionsfirma EM-TV an der Börse womöglich zu den deutschen Großkonzernen auf. Derzeit diskutiert die Deutschen Börse AG mit Haffa, ob EM-TV den Neuen Markt, die Börse für Zukunftswerte, verlassen und in den Deutschen Aktienindex wechseln sollte. Mit rund zwölf Milliarden Mark Aktienwert läge EM-TV im Dax der 30 größten Firmen derzeit auf Platz 26, vor Linde, Adidas, Henkel, MAN und Karstadt. In dieser Riege könnte Haffa, der TV-Serien wie „Tabaluga“ vermarktet, nach den Ideen der Börsianer für Glamour sorgen. Für 1999 erwartet EMTV rund 260 Millionen Mark Umsatz; auf eine weitere Expansion bereitet sich die Firma mit einer Erweiterung des dreiköpfigen Vorstands vor: Vom Luftfahrtkonzern DaimlerChrysler Aerospace kommt Chefsyndikus Ulrich Goebel als Vorstand Business Affairs, vom Energiedrink-Produzenten Red Bull der Niederländer Hans P. Vriens als Vertriebschef. M. TRIPPEL / IMAGES.DE igentümern leerstehender Immobilien droht Ärger mit dem Fiskus. Vor allem in Ostdeutschland wurden viele Wohnungen am Bedarf vorbei gebaut, manche verfallen bereits. Zwar sei grundsätzlich davon auszugehen, entschied der Bundesfinanzhof, daß der Steuerpflichtige nach anfänglichen Verlusten letztlich doch einen Gewinn erzielen will. Ist jedoch von vornherein absehbar, daß auf die Dauer der Abschreibung gar keine Überschüsse aus Mieteinnahmen erzielt werden können, unterstellen Finanzämter gern eine fehlende „Gewinnerzielungsabsicht“. Der Immobilienbesitz wird von den Behör- Leerstände in Berlin den dann als „Liebhaberei“ abgetan. Gewährte Steuervorteile können sogar nachträglich gestrichen werden. Da wird es noch „Heulen und Zähneknirschen“ geben, befürchtet der Frankfurter Immobilienexperte Wilfried Tator vom „Gerlach-Report“. D E R I VAT E Neue Wetten B anken locken ihre Kunden mit immer neuen Spekulationsmöglichkeiten. Die Bankgesellschaft Berlin hat nun sogenannte Speed Notes auf die T-Aktie entwickelt. Die Zertifikate wurden am 28. Juni zum Eröffnungskurs von 40 Euro emittiert. Notiert das Telekom-Papier am 15. September 2000 unter 40 Euro, trägt der Anleger den Verd e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 EM-TV-Aktie in Euro 16. Juli 1999 1600 1600 1375 1400 1400 EM-TV-Figur „Biene Maja“ 1200 1000 800 600 400 200 200 H I P P F OTO E Börsengang 30. Okt. 1997 9,08* Quelle: Datastream *bereinigt um Aktiensplit 0 1997 1998 1999 lust. Legt die Aktie bis zu 20 Prozent zu, erhält er den doppelten Kursgewinn, also maximal 40 Prozent. Das aber ist zugleich das Gewinnlimit. Wenn die T-Aktie um mehr als 40 Prozent zulegt, schneidet der Besitzer des Zertifikats schlechter ab als bei einem direkten Kauf der T-Aktie. Auch andere Banken bieten etliche neuartige Anlage-Produkte an, die praktisch Wetten gleichen. „Der Markt ist reif für kompliziertere Papiere“, sagt Torsten Schrader, Derivate-Experte der Deutschen Bank. 83 Post modern Ex-McKinsey-Manager Klaus Zumwinkel greift an: Aus der „Schneckenpost“ soll nach einer milliardenteuren Einkaufstour ein globaler Logistik- und Finanzkonzern werden. So will der Noch-Monopolist gegen die US-Wettbewerber bestehen – auch an der Börse. M anchmal ist Klaus Zumwinkel, 55, richtig neidisch. Da hätte der Manager mit Dienstsitz Bonn lieber ein Büro in Atlanta – als Chef von CocaCola. „Die haben ein Image, das ist einfach sagenhaft“, schwärmt Zumwinkel. Der Getränkeriese müsse schon zehn Jahre lang seine Limonade vergiften, um diesen Ruf zu ramponieren. Bei der Deutschen Post ist es umgekehrt. Seit der McKinsey-Manager Zumwinkel vor fast zehn Jahren angetreten ist, den Staatskonzern für den Wettbewerb zu trimmen, hat er vieles bewegt – doch das Image von der betulichen Schneckenpost hält sich beharrlich in den Köpfen. Alle Kampagnen haben wenig genützt, und auch nicht die schönsten Statistiken: daß 95 Prozent aller Briefe am nächsten Tag ankommen; daß 96 Prozent aller Kunden weniger als fünf Minuten warten müs- 84 sen – wer nimmt das schon wahr? Zumwinkel kennt das Gerede genau: „Das braucht Jahre, bis man das wegbekommt.“ Oder es ist ein Ereignis vonnöten wie im nächsten Jahr, ein Paukenschlag, der alle Skeptiker endlich eines Besseren belehren soll. Im Herbst 2000 will Zumwinkel den einstigen Sanierungsfall Post an die Börse bringen. Einen zweistelligen Milliardenbetrag erhofft er sich davon – und „einen gewaltigen Schub für unser Image“. Wie das gehen kann, hat sein Kollege Ron Sommer mit der Telekom vorgemacht, mit glitzernden Anzeigen und kessen Sprüchen von Schauspieler Manfred Krug. Seither sind Aktien in Deutschland sexy. Die Börse ist zur großen Geldmaschine der Unternehmen geworden: Deshalb plant Zumwinkel den zweitgrößten Börsengang in der Geschichte der Bundesrepublik. d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 Vielleicht, so sinnierte der Postchef jüngst vor Vertrauten, sei die Börsenstory der Post sogar noch besser als die der Telekom. „Wir werden uns“, so Zumwinkel, „als Nummer eins auf dem weltweiten Transport- und Logistikmarkt verkaufen.“ Schon jetzt hat die Post nur noch wenig gemein mit jener unrentablen Behörde, in der vieles nicht klappte und in der das Geld versickerte. Noch 1990 verbuchte die Post zwei Milliarden Mark Verlust, im vergangenen Jahr wies der Staatskonzern dagegen 1,2 Milliarden Mark Gewinn aus. Binnen acht Jahren sank die Zahl der Mitarbeiter bei höherem Output um rund 130 000. Wären die noch da, würde die Firma zehn Milliarden Mark Minus machen. Längst verteilt die Post nicht mehr nur Briefe und Pakete. Der gelbe Riese ist in einigen Bereichen zu einem echten High-Tech-Unternehmen geworden. Wo M. DANNENMANN UNTERNEHMEN früher muffige Postler in angegrauten Hauptpostämtern Briefe sortierten, stehen heute automatische Sortier- und Frachtanlagen. Per Internet kann der Weg wichtiger Sendungen quer durch Deutschland verfolgt werden. Riesige EDV-Zentren und Computeranlagen berechnen für Großkunden wie Tchibo, Siemens, die Telekom oder Quelle die optimale Lagerhaltung und den schnellsten Weg zum Kunden. Durch den radikalen Umbau haben sich auch die Berufsbilder dramatisch gewandelt. Nicht einmal die Hälfte der rund 260 000 Mitarbeiter sind noch klassische Schalterbeamte und Briefträger. In den Postdirektionen tummeln sich zunehmend Software-Ingenieure, Web-SeitenDesigner, Finanzmanager oder Marketingspezialisten. Selbst die einst so mächtige Deutsche Postgewerkschaft mit ihrem knorrigen Vorsitzenden Kurt van Haaren hat ihren Alleinvertretungsanspruch aufgeben müssen. In rund 550 Filialen des Bürospezialisten McPaper beispielsweise, von der Post Anfang vorigen Jahres gekauft, werden demnächst normale Verkäufer an extra eingerichteten Theken Postdienste anbieten – und das zu deutlich niedrigeren Gehältern. Nach und nach verabschiedet sich die Post damit von einer jahrhundertealten Tradition: Denn seit die Brandenburgische Post 1649 erstmals auch die Briefe und Pakete einfacher Bürger annahm, war die Zustellung solcher Sendungen Sache des Staates. Auch Telegramm und Telefon standen später unter der Obhut der Regierungen. Begonnen hatte die Geschichte der Post allerding 1490, als Kaiser Maximilian den Adligen Franz von Taxis mit dem Aufbau eines Kurierdienstes beauftragte. Taxis sollte die Nachrichtenübermittlung zwischen den kaiserlichen Residenzen sicherstellen. Später wuchsen die Aufgaben der Post rasant, die Postillione wurden zu Förde- B. BOSTELMANN / ARGUM Wirtschaft Beladung einer DHL-Maschine: „Die Globalisierung ist unser Treiber“ rern des Fortschritts: So gründeten die Regierungen 1874 den Weltpostverein, Preußen stellte erste Briefkästen auf, und in den Tiefen der Meere wurden Kabel zur Nachrichtenübermittlung verlegt. Bis in die siebziger Jahre dieses Jahrhunderts hatten diese nationalen Monopole fast überall Bestand – dabei waren sie längst zu schwerfälligen Apparaten verkommen. Und so begannen immer mehr Länder, die Staatsbetriebe aufzubrechen. 1989 entschied sich auch Deutschland für eine Reform: Als Aktiengesellschaft sollte die Post im Wettbewerb bestehen können. Doch die Revolution allein im eigenen Land genügte dem ehrgeizigen Manager Zumwinkel nicht. Denn wenn am 31. Dezember 2002 das Briefmonopol endgültig fällt, predigt Zumwinkel seinen Mitarbeitern, könne es trotz aller Erfolge für das Staatsunternehmen eng werden. Dann werden nicht nur Fahrradkuriere gegen den Ex-Monopolisten antreten, sondern potente Konkurrenten wie der amerikanische United Parcel Service (UPS). Und so holte er sich Ende 1997 beim Aufsichtsrat Ausbau im Ausland Schweden Wichtige internationale Zukäufe der Deutschen Post AG seit 1996 50% Securior Group Großbritannien BETEILIGUNGEN 100 % ASG Nedlloyd < 100 % noch offen Niederlande Polen 98% Belgian Parcel Distribution 60% Servisco Belgien 68,3% Ducros Services quickstep Parcel Service Qualipac 98,1%* DANZAS Tschechien Frankreich Schweiz Österreich quickstep Parcel Service IPP Paketbeförderung Italien 90 % MIT USA 100% Global Mail 100% Yellow Stone *Stimmrechte d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 grünes Licht für den gewagten Plan, die Post zu einem globalen Transportkonzern auszubauen. Seitdem rafft Deutschlands oberster Postbote in einer einzigartigen Einkaufstour fast alle Logistik- und Zustellunternehmen zusammen, deren er habhaft werden kann: „Die Globalisierung“, sagt er, „ist unser Treiber.“ Fast im Monatsrhythmus schlug Zumwinkel zu. Der Schweizer Großspediteur Danzas oder der italienische Paketzusteller MIT gingen genauso in sein Netz wie das polnische Frachtunternehmen Servisco, die niederländische Nedlloyd oder Anteile an der weltweit operierenden Luftfrachtgesellschaft DHL. Mehr als zehn Milliarden Mark, über ein Drittel seines gesamten Jahresumsatzes, hat Zumwinkel inzwischen in neue Tochterfirmen investiert. Selbst zwei Finanzinstitute fielen seiner Kauflust zum Opfer. Ende vergangenen Jahres erwarb der oberste Postillion vom Bund die Mehrheit an der Postbank, vor wenigen Wochen kaufte er die ebenfalls staatseigene DSL Bank. Die Banken sollen das Transportgeschäft befördern; schließlich suchen Händler oder Hersteller oftmals nach Möglichkeiten, große Lieferungen per Kredit zu finanzieren. Zudem soll die Postbank zu einer der schlagkräftigsten Internetbanken Europas aufsteigen. Schon jetzt wickeln Hunderttausende Postbankkunden Geldgeschäfte am PC ab. In wenigen Monaten soll die in Deutschland größte Plattform für den elektronischen Aktienhandel hinzukommen. Ein Ende der Expansionsgelüste ist nicht in Sicht. Im kleinen Kreis hat der Postchef bereits angekündigt, daß er den 25prozentigen Anteil an der Luftfrachtgesellschaft DHL aufstocken will. Außerdem ist ein größerer Einstieg in den US-Markt geplant, falls die Testphase mit den beiden bisherigen Erwerbungen Global Mail und Yellow Stone erfolgreich verlaufen sollte. Zumwinkels Kaufrausch hat bei der Post und deren Konkurrenten zu heftigen Diskussionen geführt. Steckt bloß Größenwahn dahinter oder eine geniale Strate85 Wirtschaft PICTURE FACTORY macht haben. Und das in einer Größengie? Kann der staatliche Koordnung von zehn Milliarden Mark, die sie loß die Zukäufe überhaupt dann von der Post zurückfordern müßte. verkraften? Konzernchef Zumwinkel hält die VorDer eingeschlagene Kurs würfe der Wettbewerber für „absurd“. Die birgt für das PostunternehDeutsche Post AG, schimpft der Manager, men hohe Risiken. Seit Jahsei „in puncto Wettbewerb der Musterren klagt die Transport- und schüler Europas“. Zudem habe man deLogistikbranche in ganz Eutailliert nachgewiesen, daß die Gelder aus ropa über fallende Margen. anderen Quellen stammen, beispielsweise Viele Unternehmen, die der dem Verkauf von posteigenen Immobilien. Postchef dem gelben Riesen Zumwinkel will die Sache zügig vom einverleibt hat, schreiben Tisch haben. Nichts wäre schlimmer als ein wie Danzas mit 5,9 MilliarAktienprospekt, der verschämt auf ein solden Mark zwar gewaltige ches Milliardenrisiko hinweist. Umsätze. Die Gewinne daOhnehin muß Zumwinkel seine Anleger gegen fallen bescheiden aus, schon sanft darauf vorbereiten, daß die üpoder es gibt sogar Verluste. pigen Gewinne aus dem Briefgeschäft nicht Außerdem muß die bunvon Dauer sind. Wenn Ende des Jahres te Truppe unterschiedlicher Modell des geplanten Post-Towers: „Schub für das Image“ 2002 das Briefmonopol fällt, erwartet der Firmen und Nationalitäten geordnet und unter ein einheitliches Dach Der umtriebige Wettbewerbskommissar Postchef einen überaus heißen Wettbegebracht werden. Eine kaum zu bewälti- Karel Van Miert zumindest hat inzwischen werb: „Das kann alles noch viel härter gende Aufgabe, meinen die Kritiker. seine Zweifel. Und so will er in dieser Wo- werden als bei der Telekom.“ So prophezeit eine Studie der Koblenzer Zumwinkel selbst läßt solche Argumen- che ein Beihilfeverfahren einleiten. Der te nicht gelten. Durch den Verbund böten Verdacht: Das Geld für die Zukäufe und Wirtschaftsberatungsgesellschaft CTcon sich Marktchancen, die andere Unterneh- den defizitären Paketdienst der Post stam- schon jetzt dramatische Einbrüche für die men erst gar nicht hätten. So sei es der me aus den üppigen Gewinnen, die die Zeiten der Liberalisierung: Knapp zwei Milliarden Mark Umsatz gehen dann verPost inzwischen möglich, Großkunden in Post durch ihr Briefmonopol kassiert. ganz Europa zu bedienen, ohne die LeiDamit könnte sich die Bundesregierung, loren, heißt es in dem Papier, das im Aufstungen fremder Transportunternehmen in die die hohen Portopreise genehmigt hat, trag der Deutschen Post AG erstellt wurde. Anspruch nehmen zu müssen. einer unzulässigen Beihilfe schuldig ge- Auch das Ergebnis dürfte bis 1,24 Milliarden Mark niedriger ausfallen. Auch vor der Integration der zahlreiWegen all dieser Unwägbarkeiten will chen Töchter ist dem Postchef, der in Bonn die Post so lange wie möglich von ihrem mit dem Post-Tower eine neue Zentrale Monopol profitieren. So errichten läßt, nicht bange. Zusammen mit Unternehmensberatern hat er ein detailAggressive Expansion Europas Top 5 der Logistik läßt das Unternehmen bei der Regulierungsbehörde liertes Konzept namens „Premium“ erarVom Briefunternehmen Netto-Umsatz 1998 vorfühlen, ob der Portobeiten lassen. Danach sollen alle Firmen in Milliarden Mark zum Logistikpreis von 1,10 Mark bis bereits Ende des Jahres vernetzt sein und * konzern Deutsche Post 10,7 LOGISTIK 2002 verlängert werden Pakete und Päckchen von Polen bis Spadavon kann. Die bisherige Genehnien unter dem gemeinsamen Logo „EuDanzas 5,9 FINANZmigung läuft im August roexpress“ ausgeliefert werden. Schon ASG 2,6 SERVICE nächsten Jahres aus – just bald werden auch alle Paketautos der neuNedlloyd 2,2 vor dem Börsengang. en Partner im einheitlichen Gelb durch PAKETE Schenker/BTL 10,4 Der Postchef lockt die Europa rollen. PAKETE Kühne&Nagel 5,2 Behörde mit dem VerspreDank eines ausgetüftelten ComputersyBRIEFE Panalpina 5,0 chen, „daß wir das Porto stems kann sich Zumwinkel jederzeit einen BRIEFE NFC 4,8 dann bis Ende 2002 kongenauen Überblick über den Planungs*Ankäufe von ASG und Nedlloyd stant halten“. Doch manstand verschaffen. Wurde ein vorher noch nicht abgeschlossen chem Regulierer reicht dies definiertes Ziel wie beispielsweise die 1990 2000 nicht: Angesichts der RaNeulackierung der Lastkraftwagen eines tionalisierungserfolge der Post halten sie spanischen Betriebs nicht pünktlich 29 28,7 UMSATZ Portosenkungen für geboten. umgesetzt, leuchtet auf Zumwinkels Com27 in Milliarden Mark Im Jahr 2003, auf dem dann vollständig putermonitor eine kleine rote Ampel auf. 25 liberalisierten Markt, wird es ohnehin dazu Bisher, so der Manager, stehe bei der Post 23 kommen. Dann prophezeien die meisten jedoch „fast alles im grünen Bereich“. 21 21,2 Experten einen gnadenlosen Preiskampf. Das könnte sich schnell ändern. Denn 1400 Auch E-Mail und Fax werden dem geldie hemmungslose Einkaufstour hat eu1276 1000 GEWINN ben Riesen weiter zu schaffen machen.Wie ropäische und internationale Wettbewerber in Millionen Mark 600 diese postmoderne Zukunft aussehen wie UPS in helle Aufregung versetzt. Seit 200 könnte, erlebt Zumwinkel schon jetzt daMonaten schon haken sie bei der EU-Kom–200 –180 –600 heim. Sein Sohn Alexander kommuniziert mission nach und intervenierten sogar über via Computer statt per Brief. Und auch die amerikanische Regierung. Geht es bei BESCHÄFTIGTE in Tausend 400 Tochter Nina schickt aus Großbritannien der Expansion der Post wirklich mit rech395 300 lieber elektronische Mails an die Mutter. ten Dingen zu? Oder handelt es sich um 261 200 Familienvater Zumwinkel nimmt es geeine „unzulässige Quersubventionierung“, 100 lassen: „Zu Hause habe ich halt nicht ganz wie der Hamburger Anwalt Ralf Wojtek soviel zu sagen.“ vermutet, der Postkonkurrenten bei ihren Frank Dohmen, Ulrich Schäfer 1991 1998 Klagen in Brüssel vertritt? 86 d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Wirtschaft ZUKUNFT Die sibirischen Surfer Das neue High-Tech-Paradies heißt Israel. Der Nahoststaat verdankt seinen rasanten Aufstieg vor allem den Einwanderern aus Rußland. Die Immigranten werden gefördert und sind hoch motiviert. Womöglich haben sie noch einen Vorteil – ihre komplexe Muttersprache. Von Erich Follath 88 A. BRUTMANN S ie kamen in das Gelobte Land, aus- Neueinwanderer, weit mehr als 1998, und geizigste High-Tech-Führungsreserve der gestattet nur mit ihrer Muskelkraft, so gut wie alle kommen aus dem Gebiet Welt. Sie haben nach Ansicht von Hasso ihrem eisernen Willen – und sie hat- der ehemaligen Sowjetunion. Täglich lan- Plattner, Mitbegründer der deutschen ten einen Traum: Sie wollten den Sozialis- den Maschinen aus Moskau und St. Pe- Software-Schmiede SAP, einen zusätzlimus aufbauen. tersburg. Ende der Achtziger, in der zwei- chen Vorteil gegenüber ihren westlichen Die ersten russischen Immigranten in ten großen Immigrationswelle, sind vor al- Kollegen: „Die komplexe russische SpraPalästina gründeten schon in den zwanzi- lem Familien ins Heilige Land geströmt, che hilft ihnen bei den Computer-Denkger Jahren Kollektivfarmen, wo sie ihre die schöngeistigen Berufe waren in der strukturen und macht viele von ihnen zu kärglichen Erträge, dem steinigen Acker Überzahl: Wer keinen Geigenkasten un- hervorragenden Programmierern.“ Durch den Menschenimport aus dem abgerungen, brüderlich teilten. Viele dieser term Arm hielt, hieß es, war wahrscheinlich ehemaligen „Reich des Bösen“ – und Kibbuzim existieren nicht mehr, doch Gi- ein Pianist. vat Brenner, rund 20 Kilometer südöstlich Jetzt fällt auf, daß immer mehr junge durch die extremen Anforderungen an seivon Tel Aviv, hat überlebt. Avner Zaks, der Männer allein ankommen, mit Adressen ne hochmoderne Armee – hat Israel heute weißhaarige Kibbuzsekretär, erinnert sich, aus Computerzeitschriften in ihren Notiz- mehr Wissenschaftler pro Kopf der Bevölwie bitterlich die meisten russischen Pio- büchern. Gleichgeblieben ist nur das merk- kerung als jedes andere Land (135 auf niere weinten, als sie im März 1953 vom würdig deplazierte Outfit vieler Immi- 10 000, verglichen mit 85 in den USA). Tode des Genossen Stalin hörten – der granten: Sie sind im Hochsommer mit Mehr als 100 israelische Firmen werden an Kommunismus war noch ein Ideal, seine Pelzmänteln behangen. Die Einheimischen der Technologiebörse Nasdaq in New York furchtbaren Menschenopfer hatten sich am Ben-Gurion-Flughafen laufen in Bade- gehandelt; da kann von den Ausländern nicht bis Israel herumgesprochen. shorts herum, mustern die schwitzenden nur noch Kanada mithalten. Jerusalems Heute ist mehr als jeder dritte der 850 Neuankömmlinge mitleidig und rufen sie Exportoffensive zielt nicht mehr auf die Bewohner von Givat älter als 65, in der Kol- mit Spitznamen: Schaut her, die sibiri- Zitrusfruchtmärkte, sondern auf die Informationsmärkte der Welt: High-Tech-Walektivkantine sitzt kein einziger Jugendli- schen Surfer. cher, viele arbeiten außerhalb der ObstplanDie älteren Immigranten klagen über ren machen heute schon fast 40 Prozent tagen. Ein Großteil des Einkommens, das den wachsenden Antisemitismus in Boris der Gesamtausfuhren aus. „Wer es in Israel wirklich schaffen will, den Agrarbetrieb über Wasser hält, stammt Jelzins Reich. Die meisten der jüngeren aus einem Rummelplatz, den die Kibbuz- Zuwanderer ’99 aber sagen ehrlich, daß sie der packt es auch“, sagt Dmitrij Goroniks nahe ihrem angestammten Land be- weder an Zionismus noch an Religion in- schewski, 29, in seinem chaotischen Jerutreiben. „House of Dreams“ heißt der von teressiert sind: Ihre Bibel ist das Internet. salemer Büro, wo zwischen Kisten, ComDisneyland abgeguckte Amüsierpark. Diese neuen Russen sind ökonomische putern und Coca-Cola-Dosen nur der Die Russen der neunziger Jahre haben Flüchtlinge und Computerfreaks – wahr- schlichte Wandschmuck an seine Herkunft andere Träume als ihre gemeinschaftsori- scheinlich die bestausgebildete und ehr- erinnert: Landkarten der Ex-Sowjetunion entierten Vorväter – sie wollen Individualisten sein und das „Internet Telecom“-Firmengründer Sofia und Dmitrij Goroschewski: „Die Russen sind noch nicht satt“ große Geld machen. Ihr Zauberwort heißt „Silicon Wadi“, das Tal der Hochtechnologie zwischen Tel Aviv und Haifa, Symbol für Israels Spitzenplatz in den Zukunftsindustrien. Statt in Bananen und Pampelmusen denken sie in Bits und Bytes. Und sehen sich als zukünftige Porsche-Fahrer: Schon von den Mittzwanzigern Sefi Vigiser und Jair Goldfinger gehört, die ihre israelische Software-Firma Mirabilis an America Online verkauften und jetzt um coole 60 Millionen Dollar reicher sind? Wer reüssiert im Cyber-Fieber und wird der nächste Goldfinger? In diesem Jahr erwartet der jüdische Staat über 60 000 in kyrillischer Schrift. Die Theorie Digitaler Exportschlager von der komplexen Grammatik und ihre Vorteile beim ProgramSoftware-Ausfuhren Israels mieren findet er „faszinierend“, in Millionen Dollar 700* glaubt aber eher, daß die hervorragende mathematische Ausbildung und die Motivation seine Landsleute nach vorne bringen. Der Jungunternehmer lobt auch 540 das „Inkubatoren-Programm“ des israelischen Staates: Einwanderer mit Ideen für neue Hochtechnolo400 gie-Produkte dürfen zwei Jahre Quelle: Israeli Association lang auf Staatskosten forschen. of Software Houses *geschätzt Erst dann müssen sie private Geld300 geber suchen oder sich selbständig machen. In den „High-Tech-Brut220 kästen“ sind schon manche kom175 merzielle Erfolge herangereift. Nicht, daß Goroschewski sol135 110 che Unterstützung gebraucht hät89 te: Der drahtige Leningrader gilt als das neue Wunderkind der Telekommunikation; er hat seine Programme in eigener Regie aus1990 91 92 93 94 95 96 97 98 gebrütet, schon damals, in der Stadt Peters des Großen. Der Sohn einer Rechtsanwältin und eines Ma- granten tüftelt Goroschewski daran, die rinekapitäns kam in Perestroika-Zeiten an Kommunikationskanäle zu revolutionieren die Uni und organisierte für eine Gruppe – und zu verbilligen. Sein neuestes Probesonders Begabter Privatstunden bei den dukt, ein Modem für 3000 US-Dollar, kann besten Professoren. Alles ging in diesen via Internet vier Telefonverbindungen Zeiten – und nichts: Statt Aufbruch in der gleichzeitig schalten: ein riesiger Vorteil Sowjetunion war nur Zusammenbruch. für Firmenvertreter, die weltweit zum OrtsGoroschewski wurde gerade 20, als er mit tarif miteinander reden und Gruppenseinen Eltern nach Israel auswanderte. konferenzen abhalten können. Er landete in irgendwelchen Schlafsälen, Goroschewski hat eine Tochterfirma in an die er sich nicht mehr erinnert, weil er St. Petersburg gegründet, wo ihm 30 nur in Büchern lebte. Er konnte kein Wort hochmotivierte junge Russen zuarbeiten. Hebräisch, nach vier Monaten sprach er es Auch bei seiner Internet Telecom in Israfließend. Er lieh sich Geld, gründete die el sind außer dem Marketing Director nur erste Firma: Serviceleistungen fürs On- Russen angestellt. „Sie sind noch nicht line-Geschäft. „Internet Telecom“ ist sein satt, und sie sind von nichts so besessen drittes Unternehmen. Gemeinsam mit sei- wie von ihrer Aufgabe. Das mag einner Frau Sofia und 20 russischen Immi- dimensional sein, aber dafür leben sie“, A. BRUTMANN Ex-General Dinewitsch mit Radarkarte: Schwerter zu Silikon-Plättchen sagt der Boß. Was er nicht erwähnt: Die meisten der Mitarbeiter sprechen kaum Englisch und gar kein Hebräisch. Sie wollen nur untereinander kommunizieren. Oder gar nicht. Daniel Rasanski, 24, lebt mit seiner russischen Frau, isoliert von der Außenwelt, am Rande des Dorfs Zlafon und züchtet in seiner spärlichen Freizeit Hühner. Anton Jondkewitsch, 25, aus dem sibirischen Kemerowo und erst im vergangenen Jahr eingewandert, verkriecht sich in einer kleinen Kammer in Jerusalem. Er hält die Augen immer gesenkt und kontaktiert nur das Internet. Auch Gregorij Paskar, 24, lebt wie ein Einsiedler. Sie alle hält ein 16-StundenTag in der Firma zusammen und die Aussicht, es gemeinsam „zu schaffen“. Was werden sie mit ihrem Reichtum machen, wenn der Chef das Unternehmen – geschätzter Marktwert 50 Millionen Dollar – verkaufen sollte? Wenn sie über AktienOptionen dann auch an viel Geld herankommen? Vielleicht ein PS-starker Schlitten, sagt ein Programmierer nach einer langen Gesprächspause; auf jeden Fall aber ein modernerer Heimcomputer, da sind sie sich einig. Die Cyber-Junkies interessieren sich kaum für aktuelle Politik oder ihre jüdischen Wurzeln. Bei Goroschewski allerdings hat ein Umdenkungsprozeß eingesetzt, seit er voriges Jahr einen Sohn bekam. Er ging zur Wahl und entschied sich für die linksliberale Merez, eine Partei, die für die Aussöhnung mit den Palästinensern eintritt. Die neuen Russen sind überall dabei, wo im Heiligen Land faszinierende High-TechProjekte ausgeheckt werden. Sie forschen in der Negev-Wüste an revolutionären Verfahren zur Energiegewinnung. Sie testen ein bahnbrechendes Krebs-Früherkennungsverfahren, bei dem sich die angegriffenen Zellen im Zehnminutentest verfärben. Sie entwickeln das ultimative Killerprogramm gegen elektronische Viren mit – und eine Software für orthodoxkeusche Juden, die jede unbekleidete Frau im Internet früherkennt und ausblendet. Die religiösen Juden aus aller Welt können per Mausklick sogar E-Mail-Botschaften zur Klagemauer schicken, die am „Briefkasten Gottes“ gegen Gebühr in die Ritzen gesteckt werden. Doch Israel ist längst nicht für jeden Sowjetmenschen das Land geworden, in dem Milch und Honig fließen. Ältere Wissenschaftler tun sich in der neuen Heimat oft genauso schwer wie Orchestermusiker oder Literaturprofessorinnen. „In manchen Restaurants arbeiten Putzfrauen mit einem Doktortitel“, sagt Edward 89 Wirtschaft bündnis. Diese Trendwende war mit wahlentscheidend. Ein Mann wie Leonid Dinewitsch, 58, hat gute Gründe, sich von Staatsgeschäften fernzuhalten; er ist ein gebranntes Kind. Er hat der UdSSR an exponierter Stelle gedient, als General und Chefmeteorologe der Moldawischen Sowjetrepublik.Wenn er jetzt bereit ist, sich wieder politisch zu engagieren, dann nur, um sein Recht auf Privates zu sichern. Dinewitsch befehligte Ende der achtziger Jahre in Webside Klagemauer: Der „Briefkasten Gottes“ Chi≠inau tausend Mitarbeiter bräisch. Es gibt wenig Anreize zur Anpas- und hatte 45 Radarstationen unter seinem sung: Fast jeder fünfte der knapp sechs Kommando. Er war einer der sowjetischen Millionen Israelis spricht Russisch. Wettergötter und entschied, ob und wann In Städten wie Aschdod, 30 Kilometer sich eine Wolkenfront ausregnen sollte – südlich von Tel Aviv, sind die Neueinwan- Dinewitsch schickte dann speziell ausgederer längst die bestimmende Mehrheit. stattete Raketen in den Himmel. Er beriet Sie treffen sich abends auf dem „Roten auch die Militärführung, bevor er im Kreml Platz“ im Zentrum bei einem Gläschen wegen seiner jüdischen Herkunft suspekt Wodka, bei aufgetauten original sibirischen wurde. 1991 ließen sie ihn nach Israel ausPelmeni oder Borschtsch aus der Tüte – al- wandern. les im Supermarkt um die Ecke erhältlich. Im gleichen Jahr wurde Moldawien ein Sie sehen im Kino russische Filme. Sie le- unabhängiger Staat, und das ermöglichte sen eine der vier landesweiten russisch- dem General einen Coup: Er fuhr zurück sprachigen Tageszeitungen. Und sie infor- nach Chi≠inau und kaufte – für 20 000 mieren sich per Kabelfernsehen in einem Dollar und unterderhand – sein Lieblingsder russischen TV-Programme über Boris radar. Er überwachte persönlich die VerJelzins letzten Aussetzer oder die Schnee- schiffung bei Nacht und Nebel. Jetzt dient stürme von Sachalin. das Gerät den Israelis. Bei den Wahlen vor zwei Monaten waZärtlich streichelt Dinewitsch über ren die Russen die umworbenste Wähler- die Kuppel seines grünen „Mobile Radar gruppe, sowohl „Bibi“ Netanjahu als auch MRL-5“, zeigt stolz den begehbaren InEhud Barak lernten für ihre Wahl- nenraum mit dem Computer. Auf dem Bildkampfauftritte einige Redewendungen in schirm beginnt es zu flimmern. „Ein neuer der fremden Sprache. Während 1996 die Vogelschwarm“, vermeldet der Experte Mehrheit der Russen dem konservativen stolz, „zu hoch, um den startenden MaLikud zuneigten, schenkten die Einwan- schinen am nahen Ben-Gurion-Flughafen derer diesmal ihre Gunst überwiegend gefährlich zu werden.“ Bald werden die Ehud Barak und seinem „Ein Israel“-Wahl- Flugkapitäne sein Software-Programm in ihren Cockpit-Computern testen können, Software-Experte Rasanski bei der Heimarbeit: 24 Stunden erreichbar und doch isoliert das sie vor gefährlichen Vogelzügen warnt. Der andere Zweck der High-Tech-Anlage auf dem strategisch gelegenen LatrunHügel: Ornithologen sollen den Zug der Vögel gen Süden studieren, sogar den mit einem Radiotransmitter ausgestatteten Vogel ihrer Wahl Meter für Meter über ihren Internet-Anschluß verfolgen können. Die Regierung in Jordanien und die palästinensische Autonomiebehörde haben ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit erklärt. Ein General als Menschen- und Tierfreund, das gefällt Dinewitsch, darin sieht er seine wahre Aufgabe: Schwerter zu Silikon-Plättchen. Während um ihn herum, auf dem Gelände des israelischen „Armored Corps Museum“, 120 Kampfpanzer stehen, darunter auch ein eroberter sowjetischer T-72, strahlt Leonid Dinewitsch. Und sagt immer wieder: „Ein Friedensradar. Ich bin der Herr eines Friedensradars.“ ™ A. BRUTMANN Usoskin, Chef der Hermon Laboratories in Binjamina bei Haifa. „Wer nicht in den Zukunftsindustrien reüssieren kann, wird vom israelischen Staat links liegengelassen. Was haben unsere russischen Parteien hierzulande für diese Gruppen getan, allen voran unser früherer Industrieminister und jetziger Innenminister Natan Scharanski?“ Neben dem berühmten Sowjetdissidenten Scharanski dürfte Usoskin, 63, der Mann mit den längsten Gulag-Erfahrungen in Israel sein: Fast zehn Jahre war der Physikprofessor „Gast“ in russischen Gefängnissen und Arbeitslagern, angeklagt unter anderem der Spionage. 1978 endlich ließ die Sowjetmacht Usoskin ziehen. Heute testet der unbeugsame Refusnik mit einem Team von knapp 40 Mitarbeitern Faxgeräte und Fernseher, Computer und Kühlschränke unter Extrembedingungen; zu seinen Kunden gehören weltbekannte Firmen, auch die Deutsche Telekom. Aber weil der Individualist sich nicht an die von der Regierung gesetzten Rahmenbedingungen halten will – er haßt Autoritäten jeder Couleur –, gerät er immer wieder in Schwierigkeiten. Er bekommt trotz seines internationalen Rufs kaum israelische Aufträge und vermutet dahinter Sabotage. „Der Staat bestimmt die Spielregeln, innerhalb deren man kreativ sein darf. Alle anderen werden zu Außenseitern.“ Usoskin führt die Firma, an der seine beiden Söhne beteiligt sind, wie eine russische Großfamilie. Er hat vielen Älteren eine Chance gegeben, die nirgendwo anders mehr untergekommen sind. Aber wer nicht spurt, der fliegt. Der Chef lobt, er mahnt, er tadelt – eine absolute Autorität. „Larissa hier, drei Jahre in Israel, kann kaum Englisch. Und Gregorij und Wladimir, auch schon mehr als zwei Jahre da, nichts außer Russisch.“ Im israelischen Alltag braucht kaum einer der Immigranten Englisch oder He- Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite S T E U E R FA H N D U N G Kungelei in Kaiserslautern In der westpfälzischen Provinzstadt paktieren Ermittler und Steuersünder. Der ungewöhnliche Deal: Die einen ersparen sich Arbeit, die anderen viel Ärger. S teuerfahnder sind unnachgiebig, getrieben vom Jagdfieber spüren sie den Tricksern im Lande hinterher. Ihre schärfste Waffe ist der Durchsuchungsbeschluß, ihr Nutzen für das Gemeinwesen kann sich sehen lassen – allein 1997 flossen zwei Milliarden Mark nachträglich gezahlter Steuern in die Staatskasse. Stephan Becker und Klaus Kehrein haben eine besondere Berufsauffassung. Die zwei Sachgebietsleiter des Finanzamts in Kaiserslautern legen Wert auf einen ganz persönlichen Stil. „Das Übliche ist nicht das, was erstrebenswert ist“, sagt Becker. Die Liebe zum Unüblichen führte in der Westpfalz zu einer ungewöhnlichen Zusammenarbeit zwischen Ermittlungsbehörden und Bankern – zum Wohle zahlrei- DG-Bank-Zentrale in Frankfurt: Brisante Unterlagen cher Steuersünder, die Vermögenswerte nach Luxemburg oder in die Schweiz transferiert hatten.Während bundesweit immer wieder Kreditinstitute von Steuerfahndern durchsucht werden, handelten die Ermittler in Kaiserslautern ihre Arbeitsergebnisse mit den Bankern aus. Die Zusammenarbeit begann, nachdem im März 1997 die DG-Bank-Zentrale in Frankfurt, Dachorganisation aller deutschen Genossenschaftsbanken, durchsucht worden war. Steuerfahnder werteten rund zwei Millionen Daten aus, die aufgearbeiteten Unterlagen verschickten sie an die Fahndungsämter. So gelangten die brisanten Unterlagen auch nach Kaiserslautern. Normalerweise beginnt dann für die Fahnder vor Ort die eigentliche Arbeit – der Gegencheck bei den Banken und ihren Kunden. Durchsuchungen und Ermittlungsverfahren helfen, die Steuersünder zu über- Wirtschaft führen. „Wenn man einen Verantwortlichen in der Bank sucht, macht es schon Sinn, in die Schreibtische zu schauen“, begründet der Koblenzer Leitende Oberstaatsanwalt Erich Jung solche Aktionen. Doch im Bereich der Steuerfahndung Kaiserslautern gingen die Beamten sanfter zu Werke. In einer schriftlichen Vereinbarung stimmten sie mit den Vorständen des jeweiligen Kreditinstituts ihre Vorgehensweise ab. „Die Kunden sind ja nicht die hartgesottenen Steuerhinterzieher“, begründet dies Fahndungschef Becker. So verabredeten Steuerfahnder und die Staatsanwälte in Kaiserslautern mit mehreren Genossenschaftsbanken, daß nur „soweit möglich“ Namen und Anschriften der Kunden mitgeteilt werden, die „im Zeitraum vom 01. 01. 92 bis 31. 12. 93“ Vermögenswerte in die Schweiz oder nach Luxemburg transferiert haben. Der Form halber erwirkten die Fahnder Durchsuchungsbeschlüsse gegen Geldinstitute. So konnten die Banken ihren Kunden glaubhaft machen, daß sie zur Mitarbeit gezwungen seien. Der Hausbesuch der Fahnder fiel freilich aus. „Wir haben die wesentliche Enttarnungsarbeit durch die Bank machen lassen. Da müssen wir uns nicht extra in die fremden Vorgänge einarbeiten“, erklärt Fahnder Kehrein. Dann folgte der nächste und für die Steuersünder äußerst nützliche Schritt der Gesucht – Gefunden Was Steuerfahnder dem Staat einbrachten 1996 1997 eingesetzte Steuerfahnder 1382 1533 Einnahmen von 1,55 1,97 Mehrsteuern Milliarden Mark Milliarden Mark Einnahmen je 1,12 Steuerfahnder Millionen Mark durchschnittliches Jahresbruttogehalt eines Fahnders 80 000 Mark 1,29 Millionen Mark 80 000 Mark Quelle: Deutsche Steuergewerkschaft Kooperation. Die Ermittler teilten den Banken mit, daß ihre Kunden mehrere Wochen Zeit hätten, eine Selbstanzeige zu formulieren oder ihre Steuererklärungen zu korrigieren. Entsprechende Anschreiben an die Anleger wurden gemeinsam aufgesetzt. „Durch die Steuerfahndung beim Finanzamt Kaiserslautern haben wir Kenntnis“, heißt es beispielsweise in einem Brief der Volksbank Pirmasens, daß „nun eine individuelle und detaillierte Überprüfung auch der von Ihnen getätigten Auslandstransaktionen unmittelbar bevorsteht“. Die Behörde habe ihnen bestätigt, daß „derzeit noch“ die Möglichkeit bestehe, durch eine Selbstanzeige Straffreiheit zu erlangen. Die Friedfertigkeit hat sich für alle Beteiligten gelohnt: Die Fahnder hatten weniger Arbeit, die Kunden weniger Ärger, und gegen keinen Mitarbeiter der Banken wurde ein Verfahren wegen des Verdachts der Beihilfe zur Steuerhinterziehung eingeleitet. In Kaiserslautern gilt praktisch eine Amnestie durch die Hintertür. Der Rechtsanwalt der Banken, der Steuerstrafrechtler Alexander Keller, verteidigt die Agreements: „Die Banken haben die Pflicht, ihre Kunden zu schützen.“ Das Ergebnis ist in der Statistik der aufgedeckten Fälle und der erzielten Steuermehreinnahmen dokumentiert: Unter den Steuerfahndungsstellen in RheinlandPfalz rangiert Kaiserslautern auf dem letzten Platz. Die übrigen Steuerfahnder in Rheinland-Pfalz können das laxe Vorgehen ihrer Kollegen kaum fassen. Auf einer Tagung in Neustadt an der Weinstraße empörten sich viele: Kompromisse müsse jeder machen, erzählt ein Ermittler, aber „wer nicht durchsucht, kann auch nichts finden“. Ein anderer hielt das Vorgehen der Kollegen gar für kriminell: „Das sind doch Verdunklungshandlungen, keine Ermittlungen.“ Felix Kurz Wirtschaft FA M I L I E N F I R M E N „Moralische Verkommenheit“ In der Kuemmerling-Familie tobt ein bizarrer Streit ums Geld. Der Junior strich seinem Vater das Schnaps-Deputat, der Senior fordert seine Firma zurück. B 96 Quadratmeter-Penthouse in Schlangenbad bei Wiesbaden. Gediegener residiert sein Sohn in einem schloßähnlichen Anwesen, das nach Kenntnis des Alten 25 Millionen Mark gekostet hat. Kein Zweifel, daß die Bodenheimer Fabrik (rund 280 Millionen Mark Umsatz, 260 Beschäftigte) viel Geld abwirft. Johannes FOTOS: R. ROSICKA / RIRO-PRESS ei seinem letzten Großeinkauf im Verbrauchermarkt deckte sich Johannes Persch, 80, wieder einmal mit Kräuterlikör ein, Marke Kuemmerling, sechs Kartons für 395,28 Mark. Daß er sich den Magenbitter kaufen muß, stößt dem ehemaligen Chef der Kuemmerling GmbH doch arg sauer auf. Denn sein Sohn Jürgen, Herr über die Destille in Bodenheim bei Mainz, gibt ihm kein Fläschchen Schnaps mehr. Als Johannes Persch im Herbst 1983 aus der Firma ausschied, vereinbarte er mit seinem Sohn ein Kuemmerling-Deputat im Wert von 3000 Mark jährlich. Das wurde ihm längst gestrichen. „Die moralische Verkommenheit meines Sohnes ist grenzenlos“, notierte der Senior in einem seiner vielen Aktenvermerke. Es hat ihn auch sehr verbittert, daß Jürgen Persch, 53, ihm den Mercedes 500 SEC aus der Garage holen ließ. Eigentlich sollte er den 500er oder eine vergleichbare Limousine als Firmenwagen bis an sein Lebensende fahren dürfen. Auch diese Vereinbarung ließ sein Sohn vor Gericht annullieren. Seit mehr als 15 Jahren tobt in der Familie eine Schlammschlacht – nicht nur ums Geld. Bei vielen Mittelständlern gibt es Krach zwischen Jung und Alt, wird um Lebenshaltungskosten und Firmenpolitik gestritten. Aber ein so verbissener Zwist wie in der Familie Persch ist selten. Seit seinem unfreiwilligen Abgang aus der Firma hat der Senior drei Anwälte beschäftigt, vergangene Woche ging er zum vierten. Von seinem Sohn fordert er jetzt seine Firmenanteile und Schenkungen zurück, „wegen groben Undanks und niedriger Gesinnung“. „Schwachsinn“, kommentiert Jürgen Persch. Seinen „lieben Vater“, der mit einem Buch über Firma und Familie droht, ermahnte er schriftlich, bei der Wahrheit zu bleiben, „denn ansonsten werde ich Dich unverzüglich auf Schadenersatz verklagen“. Er habe seinen Vater „sehr großzügig abgefunden“, sagt der Junior, „aber der will immer wieder nachbessern“. Das gehe seit Jahren so, „jetzt will er zehn Millionen Mark von mir, und zwar jährlich“. Johannes Persch, ein gelernter Destillateur, ist kein armer Schlucker. Er besitzt ein Haus in Kanada und ein Appartement in Florida; zusammen mit seiner zweiten Frau Ellen und einem Pudel bewohnt er ein 290- gerechnet auf die übliche 0,7-Liter Flasche, einen Flaschenpreis von über 46 Mark – gut dreimal teurer als der Magenbitter Jägermeister. Kuemmerling-Fans in Kneipen legen so viele ausgetrunkene Fläschchen nebeneinander, bis sie wegen ihrer konischen Form einen Kreis bilden. 57 Flaschen müssen dazu geleert werden; eine trinkfeste Gruppe schafft auch die fünf olympischen Ringe. Auf jeder Flasche ist eine zweistellige Nummer eingeprägt – wer die höchste Zahl hat, muß eine Runde spendieren. Steht die Nummer 00 auf einer Flasche, so die von der Kuemmerling GmbH festgelegten Regeln, zahlt der Wirt die Runde. Hocherfreut war die Firma, als einmal ein Freund ihres Kräuterlikörs einen Kronleuchter aus leeren Kuemmerling-Fläschchen bastelte. Sechs Zentner wog das Gerät. Entlassener Kuemmerling-Chef Johannes Persch*, Nachfolger Jürgen Persch: „Der hat nur einen Persch schätzt den Jahresgewinn auf 50 Millionen bis 60 Millionen Mark. 83 Prozent der Deutschen kennen die Marke Kuemmerling, die Nummer fünf unter den meistgetrunkenen Spirituosen (siehe Grafik). Jürgen Persch, ein ebenso unauffällig wirkender Mittelständler wie sein Vater, verhandelt derzeit über den Kauf der Weinbrandmarke Asbach und will damit in die Spitzenliga der deutschen Brenner vorstoßen. Anders als fast alle Konkurrenten leidet das Unternehmen nicht unter den Preiskämpfen der Branche. Der Kuemmerling wird nur in 20-Milliliter-Fläschchen verkauft, der Dreier-Pack kostet im Supermarkt rund vier Mark. Das macht, hochd e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 Bei der soliden Ertragslage fühlt sich Johannes Persch mit seiner damaligen Abfindung von 16,5 Millionen Mark zu billig abgespeist und fordert einen Nachschlag. Doch bei den Perschs geht es nicht nur ums Geld, sondern auch darum, sich gegenseitig ordentlich zu kujonieren. So hat Jürgen Persch im Foyer der Firmenzentrale ein Bild von Friedrich Hugo Kuemmerling aufgehängt, dem „Seniorchef“, wie ein Messingschild verkündet. Johannes Persch schwört, er habe die Marke Kuemmerling erfunden und die Firma gegründet. Falsch, beteuert der Junior: Der Vater seiner Mutter, die sich 1981 * Mit Ehefrau Ellen. K. BERNSTEIN / DER SPIEGEL lassen und seinen Kapitalanteil von 30 Prozent verkaufen. An den Dialog in gewohnt derbem Ton könne er sich noch genau erinnern, berichtet Jürgen Persch: „Vater, ich will gehen, gib mir zwei Millionen.“ „Einen Scheißdreck kriegst du.“ Am 27. Oktober 1983 kam es zum Krach: Johannes Persch wurde von den beiden anderen Geschäftsführern, seinem Sohn und seinem Schwiegersohn Burkhard Riesen, „aus wichtigem Grund“ entlassen: Er habe sich „Sondervorteile“ zu Lasten der anderen Gesellschafter verschafft, wie der Griff in die Kasse juristisch umschrieben wird. Das sei nicht wahr, verteidigt sich der Senior; als die „Mainzer Allgemeine Zeitung“ über seinen Rauswurf berichtete, hat er sich „geschämt wie ein Bettpisser“. Johannes Persch mußte gehen, seinen 40-Prozent-Anteil übernahmen jeweils zur Hochprozentige Absatzrenner Deutschlands Top ten Spirituosen-Marken Umsatz Februar bis Mai 1999 in Millionen Mark 1. Chantré Weinbrand 2. Wilthener Goldkrone 3. Jägermeister 4. Mariacron 5. Kuemmerling Halbbitter 6. Nordhaeuser Klare 7. Gorbatschow inkl. Lemon 8. Bacardi inkl. Limón 9. Berentzen Fruchtige 10. Asbach 76,9 65,0 47,0 40,6 38,6 37,0 34,0 29,6 25,9 24,4 Quelle: A.C. Nielsen, nur Lebensmittel-Einzelhandel Arsch, aber 42 Luxuskarossen“ scheiden ließ, sei der Firmengründer gewesen. Der Generationenkonflikt begann schon Ende der siebziger Jahre. Ziemlich autoritär regierte Johannes Persch den Betrieb, den er nach Kriegsende in Thüringen geleitet und dann in den Westen verlagert hatte. „Wenn einer meinem Vater widersprochen hätte, wäre er durchs Fenster marschiert“, beschreibt Jürgen Persch den Führungsstil. Einmal wagte Finanzchef Edgar Zahler einen Einwand. Vor Mitarbeitern kanzelte Persch seinen kleinwüchsigen Manager ab: „Der Gnom hat hier nix zu melden.“ Entnervt von der rigiden Führung des Alten, wollte der Juniorchef die Firma ver- Hälfte sein Sohn und die beiden Töchter Carin und Evelyn. Eine hohe Abfindung habe die Firma damals nicht verkraften können, versichert der Junior. Die Kuemmerling-Gruppe – inklusive einer eigenen Flaschenherstellung und der weniger lukrativen Produktion von Weinbrand, Fruchtsäften und Pfefferminz – machte einen Umsatz von rund 80 Millionen, aber die Expansion war teuer. Jürgen Persch: „Wir standen kurz vor dem Exitus.“ Fünf Millionen Mark habe der Versuch gekostet, eine Kaugummi-Produktion aufzubauen, 20 Millionen versandeten in Kanada, wo der Seniorchef eine Filiale für den nordamerikanischen Markt erd e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 richten wollte. „Die Firma wäre beinahe den Bach runtergegangen“, erinnert sich Finanzchef Zahler. Glänzend seien die Bilanzen des Unternehmens gewesen, behauptet Johannes Persch, sein Sohn habe Geld verschwendet: „Der hat nur einen Arsch, aber 42 Luxuskarossen.“ Er registrierte unter anderem 15 Ferrari, fünf Porsche, drei Rolls-Royce und einen De Tomaso. Nach langem Feilschen der Anwälte und Streitereien vor Gericht erhielt der ExChef für seine Anteile über 16,5 Millionen Mark und einen lebenslänglichen Beratervertrag, der mit jährlich 200 000 Mark dotiert war. Er sollte bis an sein Lebensende einen schweren Firmenwagen fahren dürfen, ein Magenbitter-Deputat erhalten und 2700 Mark Monatslohn für eine Putzfrau erstattet bekommen. Mit dem Beratervertrag war der Senior weiterhin für die Firma tätig, und das sorgte ständig für Zoff. Denn für das Honorar von rund 17 000 Mark monatlich verlangten die Kuemmerling-Geschäftsführer eine stramme Leistung und gaben ihrem Berater schwierige Aufträge, die er kaum erfüllen konnte. Beispielsweise sollte er für das KuemmerlingNebenprodukt Fruchtsäfte Fragen untersuchen wie etwa: „Entspricht die Farbe der Flasche bezogen auf das Produkt den Erkenntnissen der Farbpsychologie?“ Oder für die inzwischen aufgegebene Pfefferminzproduktion: „Wo liegen die grundlegenden Problemfelder bei der Entwicklung einer Export-Marketing-Konzeption (einheitliche bzw. länderspezifische Vorgehensweise)?“ Derartige Fragen konnte Destillateur Persch nicht beantworten. Nach fünf Jahren – die Kuemmerling-Chefs hatten einige Leistungen als „mangelhaft“ bewertet und nicht honoriert – kündigte er den Beratervertrag. Daraufhin wurde ihm wegen Vertragsbruchs der Firmenwagen entzogen, die Bezahlung der Haushaltshilfe eingestellt und das Deputat gestrichen. Wieder einmal mußten sich die Gerichte mit den Perschs beschäftigen. Der Beratungsvertrag sei in Wahrheit „ein verdecktes Leibrentenversprechen“, argumentierte der Kuemmerling-Senior. Der Streit um 200 000 Mark Jahreshonorar, um Mercedes und Putzhilfe ging bis zum Bundesgerichtshof, Johannes Persch hat weitgehend verloren. 1996 stellte Jürgen Persch seinem Vater einen Scheck über gut 1,5 Millionen Mark aus: den finanzmathematisch kapitalisierten Wert der Beratungshonorare. Der Krach geht mit unverminderter Schärfe weiter. Der Senior habe ihn beim Finanzamt angeschwärzt, stöhnt der Kuemmerling-Junior, und im Streit ums Geld die Industrieund Handelskammer eingeschaltet: „Der stört ständig das Unternehmen, das ist kein Vergnügen.“ Hermann Bott 97 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Medien Trends PRESSE „Kleines Wunder“ Giovanni di Lorenzo, 40, Chefredakteur des „Tagesspiegel“, über Redaktionswirren und Denunzianten SPIEGEL: Sie werden in anonymen Brie- B. BOSTELMANN / ARGUM fen angegriffen, im Blatt sind böswillig fabrizierte Druckfehler. Haben Sie die Kontrolle über die Redaktion verloren? Lorenzo: Wir haben ein erfreuliches halbes Jahr hinter uns, die ersten Veränderungen werden allseits gelobt, die ganze Mannschaft gibt ihr Bestes. Und dann gibt es jemanden, der einen Text manipuliert und anonym einen ekelerregenden Denunziationsbrief verschickt. Wir sind alle keine Betschwestern, aber so etwas gehört in den Papierkorb. SPIEGEL: Ihr Beschluß, als Dienstwagen einen Jaguar zu fahren, paßt kaum zu den roten Zahlen beim „Tagesspiegel“. Lorenzo: Nichts ist in Deutschland geregelter als die DienstwagenverDi Lorenzo ordnung, ich habe genau die Summe beansprucht, die nach dieser Verordnung vorgesehen ist. Ich habe auch weder Cabrio noch Chauffeur, wie der Denunziant streut. SPIEGEL: Es heißt, Michael Grabner, der für Sie zuständige Geschäftsführer beim Holtzbrinck-Verlag, werde extra anreisen, um Ihnen zur Seite zu springen. Warum der Einsatz? Lorenzo: Das ist dann wohl doch ein wenig zuviel der Ehre für diesen Täter. Herr Grabner denkt gar nicht daran anzureisen. SPIEGEL: Die Auflage des „Tagesspiegel“ ist um 417 Exemplare im letzten Quartal gestiegen. Reicht Ihnen das aus? Lorenzo: Bei der Konkurrenz gibt es einen dramatischen Auflagenschwund in Berlin. Unser Zuwachs ist da ein kleines Wunder. Schmidt M U LT I M E D I A AOL plant Verlustjahr S DPA chwere Zeiten für AOL Deutschland: geschäfte im Internet; sein UnternehDie Online-Tochter von Bertelsmann men habe als „Technologieführer“ eiund der amerikanischen AOL rutscht nen neuen Sicherheitsstandard mitentplanmäßig in die Verlustzone – 1999/ wickelt, sagt ein AOL-Sprecher. Bisher 2000 soll ein Minus von 200 Millionen freilich hat T-Online im Homebanking Mark anfallen. Das sehen die Budgets die Nase vorn, und Direktbanken bieten vor, die Bertelsmann und die Zentrale ihre Dienste in der Regel ohne den Umvon AOL genehmigten. Im Ende Juni weg eines Online-Dienstes an. Den derabgelaufenen Geschäftsjahr hatte die zeit gut 900 000 AOL-Mitgliedern stehen Multimedia-Firma noch 30 Millionen 3,3 Millionen Kunden von T-Online geMark Gewinn erwirtschaftet. Hinter- genüber. 1999 gewann die Telekomgrund der Planzahlen: Um endlich den Tochter dank eines Billigtarifs schon Abstand zum Marktführer T-Online über 600 000 Neukunden, AOL akqui(Deutsche Telekom) zu verringern, will rierte nur 100 000 neue Kunden. der neue AOL-Europe-Chef Juni 1999 Andreas Schmidt in den 3,5 T-Online- und AOL-Mitglieder 3,3 in Deutschland nächsten zwölf Monaten et- 3,0 2,7 in Millionen wa 200 Millionen Mark ins Marketing investieren. Rund 2,5 1,9 50 Millionen sollen allein in 2,0 T-Online die TV- und Radiowerbung 1,35 April 1999 fließen; zudem ist eine gün- 1,5 0,97 0,9 stige Online-Pauschalgebühr 1,0 0,6 AOL von 19,90 Mark monatlich 0,4 0,15 vorgesehen. Großen Zulauf 0,5 erhofft sich AOL durch Bank1995 FILM Kinostar Basler en Fußballer Mario Basler (Bayern München) drängt es ins Filmgeschäft. Seit einigen Wochen liebäugelt der Ballprofi damit, eine Gastrolle in dem Kinowerk „Der tote Taucher im Wald“ zu übernehmen, das die Firmen Helkon und MME derzeit produzieren. Der im Fußball als eher lauffaul geltende Basler soll dabei – passenderweise – H. RAUCHENSTEINER D 96 97 98 99 einen Jogger mimen, der einen Toten findet. Für den Trimm-dich-Einsatz sind im August drei Drehtage eingeplant; da Baslers persönliche Filmpremiere aber offenbar nur schwer mit den Trainingsplänen des deutschen Fußballmeisters Bayern München in Einklang zu bringen ist, fehlt bis jetzt die letzte Bestätigung. Vorsichtshalber fahnden die Filmleute schon mal nach Ersatz – unter deutschen Showgrößen des Rockgeschäfts. Basler 101 Medien TA L K S H OW S U ndank ist der Welten und der Männer Lohn. Da haben sich jahrzehntelang unverbesserlich und aus dem Drombusch Mütter der Nation wie Inge Meysel oder Witta Pohl im Fernsehen abgemüht – und nun das. Da betten Nachtschwestern Ingeborg und für alle Fälle barmherzige Stefanies die Kranken – es nützte nichts. Und selbst daß Kommissarinnen, mal burschikos wie Ulrike Folkerts, mal schön und traurig wie Iris Berben, den TV-Polizeidienst versehen, ging spurlos an ihnen vorbei. Deutsche Männer mögen nicht Muttis, sie mögen Journalistinnen, lautet das Ergebnis einer Umfrage der Frauenzeitschrift „Freundin“. Die Herrin der Feder liegt in der Herren Gunst mit 37 Prozent vor der Ärztin (34), der Ingenieurin (31) und – wenn Männer zuviel überlegen – dem Model (26). Der Chronist erhebt sich konsterniert vom elektronischen Schreibgerät, blickt die Redaktionsgänge hinunter. Zweifel durchbebt die Brust: Hat er denn nie die Kolleginnen richtig schätzen gelernt? Es ist ja wohl kaum ein Zufall, daß der Bundeskanzler oder Herr Fischer sich mit einer Journalistin zusammentaten. Und plötzlich erinnert er sich an Thekla Carola Wied und ihre TV-Serie „Auf eigene Gefahr“, in der die Schauspielerin mit spätjüngferlichem Charme für ein Bonner Blatt recherchiert. Ja und das amerikanische Kino: Es feiert weibliche Spürhunde, die das Unrecht aufdecken. Männliche Journalisten kommen da nicht so gut weg. Maupassants „Bel ami“ ist ein schreibender Parvenü, der Reporter-Held der HemingwayÄra versoffen, und bei Böll („Die verlorene Ehre der Katharina Blum“) mutiert der Mann der Vierten Gewalt zum Boulevard-Knecht. Journalistische Sorgfaltspflicht gebietet allerdings ein wenig Skepsis angesichts des männlichen Journalistinnen-Faibles: Wenn Frauenzeitschriften fragen, sieht Mann sich mit Antworten vor und sagt vielleicht nicht die ganze Wahrheit. Reporterin, klär’s auf. 102 Abschied vom Krawall? K aum hat RTL die Trash-Ikone Ilona Christen nach 1164 durchlittenen Moderationen in den verdienten Ruhestand geschickt, da kündigt der Kölner Privatsender jetzt etwas ganz Neues für das Talkshow-Gewerbe an: „Lebenslust und Heiterkeit“. Dafür sorgen soll Oliver Geißen, 29, ein ehemaliger ZDFModerator („X-Treme“) mit Schauspielerfahrung („Alphateam“, „Gegen den Wind“). Geißen wird vom 23. August an auf Christens altem Sendeplatz (wochentags, 13 bis 14 Uhr) über Beziehungen, Kinder, Freunde und Familie reden – also über „das, was bewegt“ (RTL). Doch anders als bei den derzeit elf Konkurrenz-Quatschern von „Vera am Mittag“ (Sat 1) bis „Andreas Türck“ (Pro Sieben) sollen in der von Hans ACTION PRESS Wen Männer mögen Talk-Hoffnung Geißen Meisers Firma CreaTV produzierten „Oliver Geißen Show“ nicht „Konfrontation oder Krawall die Hauptrolle“ spielen; der Moderator, verspricht RTL, werde „keine Betroffenheit heucheln oder gar den Therapeuten spielen“. PROJEKTE Herz am Sonntagabend G efühlsgeladene Fernseh-Movies zu produzieren, um die für die Werbewirtschaft besonders interessanten jungen Frauen an den Bildschirm zu fesseln, ist schwer. Diese Erfahrung hat Borris Brandt, Programmdirektor von Pro Sieben, gemacht. Es fehle, sagt er, vor allem an guten Büchern. Trotzdem wird der Sender auf dem neu eingerichteten Sonntagabendtermin in diesem Herbst und Winter Herz- und Schmerzgeschichten zeigen, darunter eine Schalke-04-Fan-Story mit Uwe Ochsenknecht, den Katja-Riemann-Film „Bandits“ und Peter Maffay als Biker auf einem gefahrvollen Trip durch den Jemen. Der Freitagabend auf Pro Sieben ist jetzt ausschließlich dem Nervenkitzel mit Psycho- und Actionthrillern vorbehalten. QUOTEN Geteilter Kuchen D ie Flut der Reklamespots im Fernsehen täuscht: Print- und elektronische Medien teilen sich seit Jahren den Werbekuchen. Nach Berechnungen der Nielsen Werbeforschung S+P konnten Zeitungen, Zeitschriften und Plakate gegenüber Fernsehen und Radio im vergangenen Jahr ihren Anteil an den Bruttowerbeinvestitionen zum erstenmal seit 1994 wieder leicht steigern: von 51,1 im Jahr 1997 auf 51,7 im vergangenen Jahr. In den Jahren davor war der Printanteil kontinuierlich gesunken. Insgesamt wurden im Vorjahr knapp 30 Milliarden Mark für Werbung aufgewendet, eine Steigerung zum Vorjahr um 9 Prozent. Die deutlichsten Reklamezuwächse im Printbereich gab es bei der Wirtschaftspresse, die im vergangenen Jahr 23,7 Prozent mehr Anzeigen gegenüber 1997 hatte. d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 Bruttowerbe-Investitionen nach Medien Gesamtvolumen 1998: 6,7% 29,9 Milliarden Mark R A D I O 6,0 % 5,6 % 43,0 % 42,8 % 38,4% F E R N S E H E N 52,0% 48,5 % 48,9 % P R I N T M E D I E N 2,9% 1994 P L A K AT E 1995 1996 2,5 % 2,7 % 1997 1998 Fernsehen Vo r s c h a u Einschalten Solange es Liebe gibt Montag, 20.15 Uhr, ZDF So schön kann ein deutsch-italienischer Vierteiler sein: Samtblick, Sentiment, Sizilien. Unter der Regie von Giacomo Battiato werden bekannte Elemente – von Lampedusas „Leopard“ bis zu den berühmten Mafia-Filmen – zu einer süffigen Mischung verquirlt. Zumindest im ersten Teil überschreitet der Film kaum einmal die Grenze zum Kitsch. Ein sizilianischer Baron (Fabrizio Conti), der Ende der fünfziger Jahre mit seiner deutschen Frau (Anja Kling) in seine Heimat zurückkehrt, bekommt wegen eines großen landwirtschaftlichen Projekts, das die Lage der Kleinbauern verbessern soll, Ärger mit der Mafia. Sein Sohn wird entführt, und erst einem schneidigen Kommissar der Carabinieri (Raoul Bova) gelingt es, das Kind zu befreien. Sizilianische Landschaft, die Omertà der Mafiosi und eine schrecklich besorgte und wunderschöne Mama laden mitten im Sommer zu einer Bildschirmreise in den Süden – ohne Streiks, ohne Hitze und ohne Autobahngebühren. Am Mittwoch läuft der zweite Teil. Dr. Vogt: Leben auf dem Spiel Mittwoch, 20.15 Uhr, ARD Auch dieser Film der ARD-Ärztereihe mit Sven-Eric Bechtolf überzeugt. In der heutigen Episode spendet der Oberarzt seinem Vater eine Niere, är- Kling, Bova in „Solange es Liebe gibt“ gert sich mit der Krankenhausleitung herum und muß die Oberschwester auf Entziehungskur schicken. Der Verräter Donnerstag, 23.00 Uhr, ARD Als er sich 1985 bei dem DDR-Grenzoffizier in Marienborn zwecks Übersiedlung in den ersten deutschen Arbeiter-und-Bauern-Staat meldete, bekam er bald statt eines Stuhls einen Sessel angeboten. Denn die DDR-Geheimdienstler hatten schnell begriffen, daß ihnen mit dem Überläufer Hansjoachim Tiedge vom Kölner Bundesamt für Verfassungsschutz ein dicker Fisch ins Netz gegangen war. Reporter Jörg Hafkemeyer ist es gelungen, mit Tiedge, der heute in Moskau als Hans Otto- witsch lebt, ein erstes ausführliches Fernsehinterview zu führen. Darin erzählt der Verräter sichtlich entspannt seine Lebensgeschichte. „Ich habe gesoffen, ohne daß das Amt gelitten hat“, behauptet Tiedge über seinen gesundheitlichen und finanziellen Abstieg, der ihn zum Sicherheitsrisiko beim Kölner Amt machte und zur Flucht in die DDR bewog. Daß durch seine Aussagen bei der Stasi West-Agenten enttarnt wurden – einer von ihnen, Horst Garau, starb während der Haft in Bautzen –, ist Tiedge kein großes Bedauern wert. Unbehelligt vor Strafe demonstriert dieser schräge Schlapphut eine penetrante Selbstgerechtigkeit, die Hafkemeyers interessanter Film schonungslos enthüllt. Ausschalten Fliege Montag, 16.00 Uhr, ARD „Der Feind in meinem Körper – Würmer, Maden“. Der „Gangster da oben“ und seine Statthalter auf Erden, die ARD, ließen den Talkpfarrer letzte Woche nicht fallen. Getreu der alten Weisheit: Mafia, Würmer, Maden gehen selten richtig baden. ton-Verhältnis Monica Lewinsky, ihre edle, vieles erduldende Gegenspielerin Dr. Eva Warden (Beth Broderick) wie Hillary, die Präsidentengattin. Mit sol- chen Äußerlichkeiten muß sich der Zuschauer beschäftigen, denn die klischeehafte Handlung – eine neurotische Frau rächt sich an ihrer Ärztin, weil sie sich fälschlich durch eine Operation unfruchtbar gemacht glaubt – und die stereotype Schauspielerei lassen viel Raum für Ablenkung. Ein Mutterherz läuft Amok Total verrückt!/ Verrückte Welt Dienstag, 20.15 Uhr, Sat 1 Auch der Zufall schreibt seine Storys: Die weiblichen Helden dieses 1996 entstandenen US-Psychothrillers sehen Figuren der Zeitgeschichte verdammt ähnlich. So wirkt die böse, verstockte Tracy Patterson (Delta Burke) wie das aus den Fugen geratene Präsident-Clin- Freitag, 20.15 Uhr, RTL/Sat 1 Burke, Broderick in „Ein Mutterherz läuft Amok“ d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 Matthias Bullach (RTL) und Charles Huber (Sat 1), ExAssi des „Alten“, zeigen um die Wette Pannen und Crashs. Total verrückt? Total einfallslos! 103 Medien B O U L E VA R D Darf man das? In seltener Einmütigkeit rüsten die bunten Blätter zu einer moralischen Treibjagd auf die Liaison von Brigitte Seebacher-Brandt und Banker Hilmar Kopper – mit Dämonisierungen, Feindklischees und einem Salto rückwärts in die fünfziger Jahre. Von Matthias Matussek D iese Schlagzeile traf unvorbereitet. Frost mitten im Sommerloch! Wo wir doch Sinnesfreuden erwarten durften von den Bilderblättern, also Glitzerhochzeiten und Schnellscheidungen in der „Bunten“, Tangas und Girlie-Power im „Stern“, besonders hier, wo ein nacktenfeindlicher Chefredakteur von einer überaus mutigen Redaktion gerade seiner Nacktenfeindlichkeit überführt und aus Büro und Amt gemobbt worden war. Und nun das! An jedem Kiosk dieses vielstimmige, beinernste Plädoyer für die Ehe. Moralische Aufrüstung, daß es nur so kracht. Dort, wo sonst jeder lukrative Partnerwechsel gefeiert wird, wird nun der vor Gott geschlossene Bund so streng eingeklagt, als würden „Bunte“ oder „Stern“ vom Erzbistum Fulda herausgegeben. Was passiert ist? Ein älterer, verheirateter Herr hat sich einer anderen, pardon, älteren Dame zugewandt. Und sie sich ihm. In Frankreich würde man womöglich sagen: „Il n’y a pas de sentiments mauvais“ – es gibt keine bösen Gefühle. Liebesdinge sind so. Verstehendes Lächeln, Achselzucken. Fertig. Nicht so bei uns. Offenbar ist Hilmar Kopper nicht nur Aufsichtsratsvorsitzender von Deutscher Bank und DaimlerChrysler, sondern der von Deutschland. Einer für alle. Zwar gibt es von ihm kein einziges brauchbares Zitat über Katja Riemann, und auch sonst ist nicht viel Remmidemmi mit ihm zu machen, doch „Bild“, allen voran, trieb die Sache ins Grundsätzliche. Dorthin, wo sie zu Hause ist: „Darf ein Mann einfach gehen?“ Man kann sich die betroffenen Gesichter an den Sylter Nacktstränden, in den Berliner Swinger-Bars, den Discos in Mallorca gar nicht betroffen genug vorstellen: Nein! Natürlich nicht! Wenigstens nicht schon nach 38 Jahren. Doch in der kollektiven Trivialmythologie ist die Sache noch komplizierter, noch raffinierter. Daß er seine neue Liebe im Büro gefunden hat, ist eher versöhnlich – jede vierte Beziehung wird dort angebahnt. Nein, die Neue ist eine Ex-KanzlerWitwe. Das Ding ist also Zeitgeschichte, 104 und womöglich muß die wieder einmal ganz neu geschrieben werden. Schon knapp eine Woche nach der „Bild“-Schlagzeile also gelingt es kundigen „Stern“-Redakteuren, im biblischen Schurkenstück die politische Schweinerei zu erkennen. Hier ist die Frau die Schlange, und sie ist es schon lange. Schon als junge Frau, so die Zeitschrift, „hatte sie ein Geschick dafür, sich hochzuschrauben“. Eigentlich kein Vergehen, das der „Stern“ normalerweise ahndet. Hier allerdings ist der Sündenfall ein politischer, denn vor Koppers Herz hatte die elegante Brigitte Seebacher das von Willy Brandt erobert. Und schon damals war sie – konservativ! kulation. Vielleicht hat ja Bodo Hombach doch davon geträumt, die Geliebte Hilmar Koppers zu werden, und Spagate geübt und ist jetzt traurig, weil alles umsonst war. Logisch, daß die Jagd auf die Affäre der Saison Bissigkeiten in der Verfolgerrotte ausgelöst hat. Kopper und SeebacherBrandt waren im Berliner Lokal „Borchardt“ gesichtet worden, erfuhr der um Auflage kämpfende „Stern“ im nachhinein. Den Ärger über die verpaßte Abschußmöglichkeit kompensierte das Blatt mit Spott über die Konkurrenz, die ebenfalls geschlafen hatte. Glück hätte das Paar gehabt, höhnte das Blatt, „daß ihr Berlin-Händel nicht gleich am nächsten Tag in Springers BoulevardBlatt ,BZ‘ stand“, denn das „Borchardt“ sei „immerhin Stammlokal des gefürchteten Chefredakteurs Franz Josef Wagner“. Wagner selber räumt freimütig ein, daß er sich ärgerte. Geschichten wie diese Affäre sind sein Geschäft. „Aber“, stöhnt er, „ich kann da doch nicht jeden Abend herumsitzen.“ Dann, mürbe lächelnd: „Doch Schlagzeilen in „Bunte“, „Bild“: Hysterie im Namen der Moral Für die Linkshedonisten des Blattes hat sie damit die Sozialdemokratie vergiftet und verraten. Sie hat, schrieben die RedakteurInnen pikiert, die neue Mitte verkörpert, „schon lange bevor der Begriff überhaupt erfunden“ wurde. Aus der Herzensangelegenheit von Kopper/Seebacher wird nun ein reaktionärer Coup: „Von der Frau des SPD-Vorsitzenden zur Gefährtin des Chefs der Deutschen Bank – von solch einem Spagat hat Bodo Hombach nicht mal zu träumen gewagt.“ Das allerdings, „Stern“, ist natürlich Sped e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 selbst wenn ich sie gesehen hätte, hätte ich mir wahrscheinlich nur gedacht: zwei ältere Herrschaften, eine besoffene Nacht.“ Wie „Stern“ bedient sich auch die „Bunte“ der Mythologie der eiskalten Femme fatale, der Frau als Räuberin. Sie titelt über die Brandt-Witwe: „Schon wieder bricht sie in eine Ehe ein.“ Immerhin justiert sie die Waage neu. Beide sind schuld. Beide sind gemein. „Das herzlose Liebespaar.“ Willkommen in den fünfziger Jahren! So weit, so verlogen. Nun ist die Verwertungsmaschine erst richtig in Schwung ACTION PRESS Paar Seebacher-Brandt, Kopper: „Jeder soll sich trennen, wie er es für richtig hält“ geraten. Das meiste ist ohnehin abrufbarer Stehsatz unter den Rubriken Macht und Sex, Gehörnte und Betrüger, Power-Ehen seit Kleopatra. Natürlich die jüngste Ahnengalerie: Kanzler Schröder und Mercedes-Schrempp, mal mit der aktuellen, mal mit der früheren Gefährtin, dazu Clinton, mit und ohne Hillary, mit und ohne Lewinsky, und natürlich hat sie auch der SPIEGEL griffbereit. Doch immer wieder sind die hysterischen Pusteln, die die Blätter in solchen Affären werfen, rätselhaft. Zur Erinnerung: Wir leben nicht in Iran, sondern in Deutschland, in einem Alltag der Trennungen also, der so als normal empfunden wird. Rund jede zweite Großstadtehe wird geschieden, die meisten bereits nach wenigen Jahren. Zweit-, Dritt- und Viertehen gehören mittlerweile zum Standard, samt des bedauernswerten Geschachers um die Kinder, die bei diesem Paarungszirkus regelmäßig vom Karussell fallen. Rein rechnerisch haben die meisten, die sich da über Kopper/Seebacher auslassen, eine oder mehrere Scheidungen hinter sich. d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 Als Bund fürs Leben verstehen die Ehe, Umfragen zufolge, nur noch die allerwenigsten. Und: Zum überwiegenden Teil sind es die Frauen, die gehen. Häufigste Begründung: „Ich habe mich eingeengt gefühlt.“ Besonders in Frauenzeitschriften werden Thesen wie die des Beziehungsgurus Anthony Giddens heftig ventiliert. Sie begreifen Partnerwechsel als „Individualisierungsschub“, als wünschenswerten Zuwachs an „Authentizität“ und ernten damit beifälligen Applaus. Gerade also im feministischen Diskurs ist der Ausbruch aus der Ehe ein Schritt in die Unabhängigkeit. Nora verläßt das Puppenheim. Nur: Muß das nicht auch für den Mann gelten? Dennoch darf zunächst festgestellt werden: In der Lesart unserer fröhlichen Scheidungsgesellschaft hat sich Hilmar Kopper spät, aber nicht zu spät, zu regelkonformem Verhalten entschlossen. Zwar hatte er sich störrisch-unaufgeklärt 38 Jahre in dieser Ehe verbarrikadiert, aber schließlich doch den Mut aufgebracht, sich zu emanzipieren. „Die Entfesselung eines Kontoristen“, wie der „Stern“ in Anspielung auf einen Buchtitel spöttelt. Woher dann die Hysterie? Ganz einfach: Wir fühlen offenbar nicht auf der Höhe unserer eigenen Frischwärts-Parolen. Es gibt sie ja, diese selten ausgesprochene Sehnsucht nach Dauer, nach Loyalität und Vertrauen. Darüber hinaus leben unter all den windschnittigen Aufgeklärtheiten die uralten Märchen und Mythologien weiter, und die müssen erzählt werden. Von der Macht und dem Mann also oder von der Räuberin, der Femme fatale und ihren Opfern. Ein elendes DiskursGehedder. Eine feste Größe ist dort die des schillernden Machtmenschen, der über Frauenleichen geht. Selbst die Olympier sind nicht sicher vor dieser Rasterfahndung, die am allerwenigsten: Die jüngsten Veröffentlichungen über Goethe entlarven ihn als Frauenfeind und Lewinsky, Clinton empfehlen, seine unsterbliche Liebeslyrik rückwirkend als Ausdruck schlechten Gewissens neu zu lesen. Ohne die ausgebeutete Christiane Vulpius, so das Fazit, kein „Faust“ – schließlich hat sie den Abwasch besorgt und ihm damit den Rücken freigehalten. Allerdings eignen sich weder Hilmar Kopper noch Frau Irene für derartige Klischees. Sie: eine intelligente Bibliothekarin, die in der Frankfurter Gesellschaft beliebt ist und eigene Engagements verfolgt. Er, der sich aus schlichten Verhältnissen nach oben gearbeitet hat: ein Wirtschafts105 Viertehe als Normalfall Rut Brandt (1970) ACTION PRESS J. H. DARCHINGER kapitän mit 14-Stunden-Tagen und, anders als sein von der RAF ermordeter Vorgänger Alfred Herrhausen, kein Partylöwe, sondern Arbeitsbulle. In die Schlagzeilen gerät er nur, als er nach der geplatzten Schneider-Gaunerei die 50 Millionen Mark offener Handwerkerrechnungen „Peanuts“ nennt, womit er, rein bilanztechnisch, natürlich recht hatte. Ein Leben wie ein Schienenstrang. Die Kinder konnten in unerschütterbarem Familienverbund aufwachsen – und das, immerhin, kann heutzutage als singuläre Langstrecken-Leistung bezeichnet werden. Längst sind sie aus dem Haus. Nun, kurz vor der offiziellen Pensionsgrenze, entscheidet sich Kopper für ein zweites Glück mit einer Dame der Gesellschaft. Nicht für viele Frauen, sinnierte schon vor einem Jahr im „Stern“: „Wenn du über 30 bist, möchtest du auch nicht mehr jeden Fredel haben. Da hat man schon gewisse Ansprüche.“ Und da ist es erst mal nicht wichtig, ob Nicht-Fredel verheiratet ist, was er natürlich meistens ist – Hauptsache, Nicht-Fredel genügt den Ansprüchen. Ludowigs ZDF-Kollegin Nina Ruge hatte es vorgemacht, als sie den verheirateten BMW-Boß Reitzle zum Freund erwählte. Allerdings – nicht Ruge, sondern der neue Gefährte riskierte die öffentlichen Watschen. Bald wechselte er die Firma, und beide wechselten das Land. Heute leben sie in London, im Schatten des laxen englischen Königshauses. Dennoch scheinen sich in der Kommentierung des Falles Kopper/Seebacher in erster Linie weibliche Befreiungsstrategien zu verheddern: Da ist stets eine moralische Falle, aus der es kein Entrinnen gibt. Auch das Opfer der Erfolgsfrau nämlich ist meistens – eine Frau. Opfer des neuen Rollenmodells ist also buchstäblich das alte. Und das ist mit einem gewissen Frösteln verbunden. Selbstverständlich also leuchtete Ludowig den Fall Kopper/Seebacher in „Exclusiv-Weekend“ am vergangenen Sonntag aus. Nicht ohne schon vor der Sendung ihren persönlichen Standpunkt ganz klarzulegen: „Natürlich darf ein Mann seine Frau nicht verlassen. Meine Eltern sind seit über 30 Jahren verheiratet, das ist doch toll.“ Melancholische Kußhand hinüber, in die seligen alten Zeiten. Zwei Lebensmodelle also: Das alte, samt Treuegelübde und Bund fürs Leben, bedeutet leider auch die eiserne Entschlossenheit, Frustrationen zu ertragen. Und dann dieses neue: Nehmen, was man kriegen kann. Beide gleichzeitig gehen nicht. Auflösen läßt sich der Widerspruch aber auch nicht – also läuft er heiß. H. MOELLER / BILD ZEITUNG AP Kanzlergattin Köpf, Gatte Schröder gerade der Stoff, aus dem sich Funken schlagen lassen. Was hier also wie von selber aufrauscht, hat überhaupt nichts mit den realen Koppers zu tun, sondern mit Archetypen und Feindklischees, Neid und ganz besonders mit weiblichen Rollenstrategien, die sich selbst in die Quere kommen. Zum Beispiel denen der „Nur-Ehefrau“ und der „Erfolgsfrau“. Mit der Nur-Ehefrau und Mutter hatte man von „Stern“ über „Brigitte“ bis „Emma“ in der Vergangenheit wenig Federlesens gemacht – in bizarrer Erbarmungslosigkeit wurde sie als außer Mode geratenes, bewußtseinsmäßig unterentwickeltes Auslaufmodell belächelt. Erfüllung, so das weibliche Mittelstandscredo, sei nur in der Karriere. Anders gesagt: Frauen wie Irene Kopper schenkte diese Journalistengeneration stets wenig Achtung. Wenn über sie berichtet wurde, dann in der Herablassung des Mitleids. Daß sie nun in die Schlagzeilen gezerrt wird, hat allerdings mit Achtung ebensowenig zu tun. Sie ist brauchbar als öffentliches Opfer in der Tirade gegen den Mann. Kein Wunder, daß sie sich darin nicht wohlfühlt, doch dazu später. Womit wir bei der schillerndsten Figur dieser Ménage à trois wären: Brigitte Seebacher-Brandt. Sie sollte den Glamourpart der neuen Frauengeneration eigentlich übererfüllen. Sie ist klug. Sie ist charmant. Als Kultur-Direktorin bei der Deutschen Bank glänzt sie auf gesellschaftlichem Parkett (siehe Gespräch Seite 108). Sie beweist, daß eine Frau auch jenseits der 50 verführerisch sein kann. Die Mächtigen hören auf ihr Wort. Doch auch sie gerät ins Sperrfeuer. Eigentlich machte sie alles richtig. Selbst als sie in einem Interview mit der „Welt am Sonntag“ die Flucht nach vorn antritt und über ihre Liebe zu dem mächtigen Banker spricht, klingt es richtig. RTL-Moderatorin Frauke Ludowig, selbst Karriere-Modell Hiltrud Schröder (1996) Irene Kopper Verlassene Ehefrauen: Partnerwechsel nach den Regeln der entwickelten Scheidungsgesellschaft 106 d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 Medien ROGER-VIOLLET Auffällig ist, daß die Beziehungsexper- se, so Erlwein, fielen dann die Sätze, die gibt, hauptsächlich aber, weil sie einfach tinnen, die in den Boulevardmagazinen seither die Öffentlichkeit in Wallung brin- scheiße singt.“ Doch, leider, hat es der Boulevard nicht über Kopper und Seebacher befragt wer- gen. Sätze, die harmloser nicht sein könnden, stets einander ausschließende Vor- ten. „Es stimmt, wir trennen uns.“ Und: mit souveränem Witz, sondern mit geheu„Wenn ich keine Lust habe, zu Abend zu cheltem Gefühl. Beliebt ist die ungefragte würfe gleichzeitig vorbringen. Nähe durch Mitleid, ist die fürsorgliche BeIn der „Bunten“ ist Kopper feige, weil er essen, dann will ich auch nichts essen.“ Kopper bestreitet sie nicht. Wohl aber, lagerung des Opfers. Das ist nun mal der „nicht dazu steht, was er wirklich will“. Gleichzeitig aber eine klassische männliche daß er sie einer „Bild“-Reporterin anver- Job, und da gibt es durchaus Könner. Nicht Hauptfigur, nämlich „skrupellos in seinen traut habe. „Die Dame hat sich mir nicht nur „Bild“, auch die „Bunte“ schickt ihre Entscheidungen, verletzend – und das auch als Journalistin vorgestellt“, sagte er ge- Leute. Offenbar verbittet sich Irene Kopper noch öffentlich“. Gleichzeitig feige und öf- genüber dem SPIEGEL. „Ich hätte nie die Belagerung. „Ich möchte noch nicht fentlich – egal, was der Kerl macht, er macht damit gerechnet, daß so etwas am näch- sprechen, verstehen Sie das?“ sten Tag in der Zeitung steht. Ich hatte So wird sie zitiert. Doch sogar ihre Abes falsch. Durch die „Stern“-Story wiederum eine eigene Erklärung vorbereitet, die ich fuhr wird als Moll-Kadenz in der Reportermarschiert Seebacher-Brandt sowohl als in den nächsten Tagen bekanntgegeben Serenade verbraten: „Selbst im Augenblick der tiefsten Demütigung ist diese Frau noch unabhängige Frau, „immer auf dem Weg hätte.“ Wie auch immer: Die Unbeholfenheit, stark genug, das zu sagen, aufrecht statt nach oben“, wie auch als Schwerstabhängige, nämlich von der „Erotik der die da dem Banker abgerungen wird, ist höflich zu sein, sich nicht zu verkriechen.“ klassisch. Sie übersetzt die Auskühlung Natürlich lachen da die Hühner, und die Macht“. Branche grinst beifällig über Jeder und jede hat eine den sicher gestandenen SalMeinung, ein schnelles Urto in den Kitsch. teil. Rühmliche Ausnahme Freunden gegenüber emunter nahezu allen Befragpört sich Irene Kopper über ten – es sind in erster Linie ihre Behandlung auf dem Frauen, die befragt wurden – Boulevard, über die Darist die Schauspielerin Anja stellung als Opfer mit rotKruse. Die sagte, schlicht und geweinten Augen. „Davon würdevoll: „Jeder soll sich so kann gar nicht die Rede trennen, wie er es für richtig sein.“ hält. Ich bin bei dieser TrenAber, wie erwähnt, geht nung nicht dabei gewesen, es gar nicht um die Kopund deshalb steht mir keine pers und ihre schwierigen, weitere Meinung zu.“ schmerzhaften PrivatangeleDa Koppers Ehebruch auf genheiten. Es geht um Ardem Boulevard – wenn er die chetypen, um Hohlräume, in eigenen, hedonistischen Spieldie jeder – Schreiber wie Leregeln ernst nimmt – eigentser – seinen eigenen Schutt lich nicht geächtet werden aus Ängsten und Sehnsüchdarf, muß dieser das Unbeten kübeln kann. hagen darüber in AusweichUnd davor machen sogar manövern loswerden. Also: seriöse Blätter nicht Halt. die Stilfrage. Man ringt dem Die „Süddeutsche“ gönnt treulosen Ehemann Äußerunsich einen Amoklauf Willi gen ab, nennt sie taktlos – und Winklers, der in dem Thema empört sich weitere Tage nicht den Geschlechter-, sonüber diese Taktlosigkeit. dern den Klassenkampf entUnd das geht so: Als die Mark Anton, Kleopatra*: Power-Affären von der Antike bis heute deckt. „Bild“, jubelt der Au„Bild“-Reporterin Petra Erlwein sich am vorvergangenen Mittwoch einer Beziehung in Banalitäten und wirkt tor schadenfroh, habe Kopper und dem unter die hochkarätigen Gäste eines Tref- geradezu unschuldig angesichts der Gesamtkapital einen vernichtenden Schlag fens der Städel-Freunde mischte, hatte sie Schmutzlawinen, die sonst durch die Ge- zugefügt, jenen also, die „mit Geld um sich klare Zielvorgaben: nicht Kunst, sondern richtssäle bei Scheidungsprozessen rollen. schmeißen, Konzerne verschmelzen, stänKopper. „Wir wollten endlich rauskriegen, Wovon sie reden, wenn sie von der Liebe dig neue Leute entlassen“. Bisher waren sie „unangreifbar“ – doch nun darf nachob die Trennungsgerüchte stimmen.“ Denn reden? Vom Essen, zum Beispiel. Natürlich ist das, selbst wenn es denn öf- getreten werden. daß Kopper nur noch eine Fassaden-Ehe Für so was allerdings ist sich selbst der führte, war Frankfurtern offenbar seit Jah- fentlich wird, eher ein Fall fürs Kabarett als einer fürs Scherbengericht. Und tatsäch- „gefürchtete“ Franz Josef Wagner zu fein. ren bekannt. Erlwein sprach den Wirtschaftsboß an, lich ist es wie immer Harald Schmidt, der Der „BZ“-Chef öffnete die Seiten seines trat mit ihm auf die Museumsterrasse hin- als einziger den Überblick behält: „Eines bunten Hauptstadtboulevards einer Umaus. Dann gabeln sich die Erinnerungen. sollte man ganz klar trennen: Hilmar Kop- frage, ohne selber Seite zu beziehen. Petra Erlwein sagt, sie habe sich als „Bild“- per verläßt seine Frau, weil es immer Essen Überschrift: „Wer verhält sich richtig, wer Reporterin vorgestellt. Kopper habe sich gab. Dieter Bohlen hat seine Frau verlas- falsch?“ Die Öffentlichkeit tagt. Das ist tatsächlich die Frage der Fragen, gnädig gezeigt: „Sie tun ja nur Ihren Job.“ sen, weil es nie etwas zu essen gab. GerErlwein ihrerseits ermunterte den Banker. hard Schröder hat Hillu verlassen, weil in den Bars und an den Stränden dieses „Ich habe ihm gesagt, daß Trennungen es immer nur vegetarisch zu essen gab. Sommers. Wer darf was? Ein Gesellheutzutage ja normal sind, und eigentlich Und die nächste, die verlassen wird, ist schaftsspiel, eine Gesamt-Talkshow, zu der Kati Witt: Weil es immer nur Dany-Sahne jeder eingeladen ist. Und morgen heißt überhaupt nichts dabei ist.“ Kopper schon wieder anders. In diesem gegenseitigen Verstehen, dieDas Wetter. sem erwachsenen Parlando auf der Terras- * Gemälde aus dem 19. Jahrhundert. d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 107 Medien S P I E G E L - G E S P R ÄC H „Ein tolles Schauspiel“ B. BODTLÄNDER Brigitte Seebacher-Brandt über ihre Kulturarbeit bei der Deutschen Bank und die Endlichkeit menschlicher Beziehungen Kulturmanagerin Seebacher-Brandt: „Streitlust entspricht nicht meinem Naturell“ SPIEGEL: Frau Seebacher-Brandt, seit Herbst 1995 leiten Sie die Abteilung „Kultur und Gesellschaft“ der Deutschen Bank und vergeben bis zu sieben Millionen Mark jährlich für Projekte wie die Donaueschinger Musiktage. Enttäuscht es Sie, daß sich die Medien für diese Kulturarbeit weniger interessieren als für Ihre privaten Beziehungen? Seebacher-Brandt: Nein. Zu unserer Auffassung von Kulturförderung gehört es, daß wir kein Sponsoring betreiben, also eher im Stillen wirken und keinerlei Gegenleistung verlangen. Selbst wenn das Logo der Kultur-Stiftung der Deutschen Bank auf Veranstaltungsplakaten erscheint, ist das freiwillig. Es geht uns gerade nicht um Quote und Masse und Tamtam. Wir betreiben Mäzenatentum in moderner Form. Über 108 Anerkennung freuen wir uns. Im übrigen ist die Mediengesellschaft, wie sie ist. SPIEGEL: Weswegen auch wir Sie nicht nur nach Ihrer Arbeit, sondern auch nach dem augenblicklichen Rummel um Ihre Person fragen werden. Seebacher-Brandt: Was ich nicht beantworten will, beantworte ich nicht. SPIEGEL: Sie sind bekannt geworden als Historikerin und streitlustige politische Publizistin.Wie sind Sie bei der Kultur gelandet? Seebacher-Brandt: Streitlust entspricht nicht meinem Naturell, wohl aber entschiedene Meinungsäußerung. Als es um den Nachlaß Willy Brandts ging, habe ich das vertreten, was er testamentarisch vorgegeben hatte. Die längst gefundene Regelung stellt alle Beteiligten zufrieden. Das Schreiben hat mir Spaß gemacht, aber schreiben können d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 muß man, was man meint. Das wurde nach dem Tod meines Mannes immer schwieriger … SPIEGEL: … als auch die „FAZ“ Ihre Artikel nicht mehr drucken wollte. Seebacher-Brandt: Das wäre mir neu. Es waren nur zu wenige, um zu existieren. Auch vom SPIEGEL hatte ich ja kein Angebot zu schreiben. Sonst wäre vielleicht alles anders geworden. Jedenfalls habe ich in dieser Situation ein Angebot der Deutschen Bank bekommen und das Schreiben – vorläufig! – an den Nagel gehängt, auch weil ich der Streitigkeiten um meine Artikel müde war. Zur Deutschen Bank gab es die ersten Kontakte schon 1992, als ich ins Kuratorium der Alfred Herrhausen Gesellschaft berufen wurde. Mein Mann hat sich darüber sehr gefreut. SPIEGEL: 1994 fingen Sie an, Reden für Herrn Kopper zu schreiben, wie Sie das schon für Willy Brandt getan hatten. Seebacher-Brandt: Aber diesmal richtig schön bezahlt. SPIEGEL: Aus welchen Motiven richtete die Deutsche Bank eine Kultur-Stiftung ein – um ihren Ruf zu verbessern nach der Affäre um den Bauspekulanten Schneider und um die „Peanuts“-Äußerung des damaligen Vorstandssprechers Hilmar Kopper? Seebacher-Brandt: Dafür wäre Kultur kaum das geeignete Genre. Anlaß war das 125jährige Jubiläum der Deutschen Bank. Das Kultur-Engagement eines Geldhauses hat ja eine uralte Tradition. Maecenas war ein reicher Kaufmann zur Zeit des Kaisers Augustus.Wo viel Geld war, wurde immer viel für die Kunst getan. Warum das so ist, darüber läßt sich wunderbar philosophieren. SPIEGEL: Sind ein Stiftungsvermögen von 100 Millionen Mark und eine Jahresausschüttung von 7 Millionen nicht ein wenig mickrig angesichts der Milliarden, die die Deutsche Bank bewegt? Seebacher-Brandt: Alles ist relativ. 7 Millionen sind für einen privaten Förderer ganz gut. Die Kunstsammlung und die Wissenschaftsförderung der Deutschen Bank gehen ohnehin extra. Und zu den Vorzügen der Stiftung gehört, daß unser kulturelles Engagement auf Dauer gesichert ist. Wir sind unabhängig von den Launen der Chefs: Wenn zukünftige Chefs das Engagement einstellen wollten, dann fielen die 100 Millionen Mark automatisch an die Stiftung Preußischer Kulturbesitz. SPIEGEL: Und Sie entscheiden nun völlig autonom über die Vergabe der Fördermittel? B. BODTLÄNDER J. H. DARCHINGER Seebacher-Brandt: Gemeinsam mit meinem Dieter Hildebrandt engagiert, aber in der immerhin drei Millionen Mark lockermacht? Kollegen Münch. Und unser Chef, Herr heutigen Zeit ist Schlingensief passender. Breuer, weiß um jede Zusage. Wir bekom- SPIEGEL: Woran scheiterte die Schlingen- Seebacher-Brandt: Ich sehe den Unterschied men 40 bis 50 Anfragen pro Woche. Im Jahr sief-Aktion? zwischen der Welt von Stein und der von fördern wir knapp 90 Projekte – mit Be- Seebacher-Brandt: Ich habe schon vorher Schlingensief. Ich mag beide Welten. Die trägen zwischen 10 000 und drei Millionen scherzhaft gesagt, daß ich nicht am Tag nach eine ohne die andere wäre trostlos. Stein Mark. Die prominente Ausnahme, bei der der Aktion gekündigt werden möchte. Wir sagt ja selbst etwas kokett: „Ich bin 19. wir von uns aus aktiv wurden, sind die Do- hatten uns auf einige Regeln verständigt Jahrhundert.“ Sein „Faust“ wird noch einnaueschinger Musiktage. Vor drei Jahren und uns immer wieder neu zu wechselsei- mal ein Fest der Hochkultur werden – im ging ein Sturm der Entrüstung nicht nur tigem Vertrauen verpflichtet. Zwei Tage vor Bewußtsein, daß da etwas zu Ende geht. durch die deutschen Feuilletons, als der der Veranstaltung entnahm ich der Presse, SPIEGEL: Zugleich ist Steins Expo-„Faust“, Südwestfunk seinen Obolus reduzierte.Wir daß Schlingensief und seine Mitstreiter un- der nächstes Jahr in Hannover und danach sind an den Oberbürgermeiin Berlin und Wien gezeigt ster herangetreten, ob überwerden soll, das, was man haupt Interesse besteht, und heute „Event-Kultur“ nennt – sind dann eingesprungen. So ein Spektakel jenseits des gewurden wir zum Retter, wöhnlichen Kulturbetriebs. der dafür sorgte, daß die MuSeebacher-Brandt: Unfug.Ansiktage weiter jährlich stattders als bei einem Konzert finden. der drei Tenöre, die für mich der Inbegriff der Event-KulSPIEGEL: Wie kam es dazu, tur sind, müssen Sie sich beim daß Sie neben so noblen und „Faust“ anstrengen und 18 unstrittigen UnternehmunStunden lang dieser Sprache gen wie dem Kleist-Preis und zuhören. Das fordert auch von der Restaurierung des Pe- Ehepaar Brandt (1991): „Er hat sich sehr gefreut“ Ihnen eine große Leistung. ter-Huchel-Hauses kürzlich auch die zumindest politisch SPIEGEL: Peter Stein hat eine umstrittene Berliner Volksstarke Wandlung durchgebühne und den Künstler macht, vom linken GesellChristoph Schlingensief mit schaftsveränderer zum eliFördergeld bedachten? tären Konservativen. Sehen Sie da Ähnlichkeiten zu Ihrer Seebacher-Brandt: Als Kuleigenen Entwicklung? turmensch weiß man schon, daß die Kultur nicht nur aus Seebacher-Brandt: Der Verder Sicherheit und dem Etagleich zu einem so großen blierten besteht. Man muß Künstler ist völlig unangeauch den Widerspruch förmessen. Ich habe eine gewisdern. Und so haben wir erst se Neigung zum Widerspruch für eine Diskussionsver– das stand schon in meinem anstaltung der Volksbühne ersten Schulzeugnis. Aber Geld gegeben und wollten wenn Sie Stein einen Kondann für die eineinhalbtägiservativen nennen, unterge Tagung der Alfred Herrschätzen sie ihn gewaltig. Er hausen Gesellschaft im Ber- „Welt am Sonntag“-Bericht vom 11. Juli: „Flucht nach vorne“ macht große Kunst und spielt liner Reichstag zum Thema – auch mit dem Kapital. „Der Kapitalismus im 21. Jahrhundert“ ter den anwesenden Gästen Geld eintreiben SPIEGEL: Inwiefern? Schlingensief engagieren. und auch unser Stiftungsgeld von der Seebacher-Brandt: Ich werde nie den NachSPIEGEL: Und der sollte die Spitzen von Po- Reichstagskuppel werfen wollten. Das fan- mittag vergessen, als wir gemeinsam mit den wir dann nicht mehr so lustig. Peter Stein in Stuttgart waren, um Jürgen litik und Wirtschaft unterhalten? Seebacher-Brandt: Zu den Tagungsrednern SPIEGEL: Halten Sie die Idee, mit Schlin- Schrempp zu überreden, daß Daimler wie gehörten Bundeskanzler Schröder, Jürgen gensief zusammenzuarbeiten, mittlerweile die Kultur-Stiftung der Deutschen Bank drei Millionen für den „Faust“ gibt. Das war Schrempp und der Greenpeace-Chef Thilo für einen Fehler? Bode, für das Abendessen am Eröffnungstag Seebacher-Brandt: Nein. Schon der Kontakt während der Fusionsverhandlungen mit sollte Schlingensief etwas zum Nachdenken mit dieser unorthodoxen Szene war richtig Chrysler. Die amerikanischen Herren warteten draußen, während Stein, wie immer bieten. Den Titel „Rettet den Kapitalismus“ und witzig und eine schöne Erfahrung. hatte ich vorgegeben. Vor 20 Jahren hät- SPIEGEL: Sehen Sie gar keinen Wider- schwarz gewandet, vor dem halben Daimte man wahrscheinlich den Kabarettisten spruch darin, mit einem Subkultur-Ra- ler-Vorstand vorsprach. Stein kann begnadet bauken wie Schlingensief erzählen, und das tat er, eine Dreiviertelebenso über gemeinsame stunde lang, am Stück. Sein Thema lautete Projekte zu reden wie mit „Goethe, Faust und ich“, und dann sprach Peter Stein, dem grimmi- er darüber, daß er der Sohn eines Untergen Apologeten einer eli- nehmers sei, eines Zulieferers in der Autotären Hochkultur, für des- mobilindustrie – der Mann ist über 90 und sen „Faust“ die Kultur-Stif- dressiert übrigens derzeit den Pudel für den tung der Deutschen Bank „Faust“. Nach 45 Minuten sah Schrempp auf die Uhr und sagte: „Wieviel wollen Sie haben?“ Das war ein tolles Schauspiel. * In ihrem Frankfurter Büro, mit den SPIEGEL: Man hört Ihrer Schilderung das Redakteuren Wolfgang Höbel und Vergnügen am Umgang mit den MächtiSeebacher-Brandt beim SPIEGEL-Gespräch*: „Kein Tamtam“ Martin Doerry. d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 109 Medien 110 ZEITSCHRIFTEN Oldie but Goldie Verlagschef Schulte-Hillen auf Zickzackkurs: Erst kürzlich verabschiedete er „Stern“-Macher Funk. Nun kehrt Funk zurück – als Chef der Chefredakteure. ablöste: Er sei „prinzipientreu, aber nicht dumm; standhaft, aber geschmeidig; widerborstig, aber nicht bis zum Scheiterhaufen“. Nach nur einem halben Jahr hat die Realität die Rollen neu verteilt – Maier mußte fristlos gehen, Funk feiert ein triumphales Comeback. Als Herausgeber kehrt er zurück an die Spitze des „Stern“. In einer beispiellosen Recycling-Aktion holte Vorstandschef Gerd SchulteHillen, 58, vergangene Woche ausgerechnet jenen Journalisten zurück, den er vorher eigenhändig abgemeiert hatte. Damit war klar: Der Spitzenmanager hatte nicht nur den Falschen geholt, er hatte auch den Richtigen gefeuert – jedenfalls nach seinen neuen Erkenntnissen. Künftig repräsentiert Funk, 62, erneut das bunte Blatt – bis Ende 2000. Unter und neben sich die neue Chefredaktion: Dort kümmert sich Thomas Osterkorn, 45, um harte politische Themen. Vor drei Wochen noch wollte ihn Maier los„Stern“-Herausgeber Funk: Kein Leichtgewicht werden. Ihm zur Seite steht ede gute Geschichte braucht einen ab September Andreas Petzold, 44. Der Helden und einen Bösewicht, befand Chef des TV-Blatts „Hörzu“ gilt als FachMedienjournalist Peter Turi. Und die mann fürs Bunte. Mit derselben Verve, mit der SchulteRolle des Bösewichts in seiner Geschichte für die Zeitschrift „Max“ war fest reser- Hillen einst Funks Abschied verteidigt viert – für den gerade abgetretenen hatte, erläutert er nun dessen Rückkehr. „Mit Dr. Funk war die Nachfolge leider „Stern“-Chef Werner Funk. Der habe „einen Schädel wie ein nicht zu regeln, wir mußten handeln“, hieß Deoroller, einen Schnauzer wie eine es im vorigen Jahr. Vergangene Woche teilSchuhbürste und den soliden Ruf, ein Kotz- te Schulte-Hillen der verdutzten Redakbrocken zu sein“, schrieb er im Dezember tion mit: „Funk ist kein Leichtgewicht“, vergangenen Jahres. Erst im letzten Mo- er werde künftig „einen wichtigen Beitrag ment verhinderte der Zeitschriftenvorstand leisten“. Die Redakteure jedenfalls müssen sich des Hamburger Großverlags Gruner + Jahr („Stern“, „Geo“, „Brigitte“), daß der Ex- auf einen aktiven Herausgeber einstellen. „Stern“-Chef in dem Traktat mit einer Ver- Zwar verfügt die neue alte Galionsfigur des „Stern“ über kein direktes Weisungsbalinjurie („A…“) tituliert wurde. Turis Held war im Gegenzug ein „höfli- recht gegenüber der Redaktion, aber Funk cher Mensch mit guten Manieren“ – Mi- hat genügend Aufgaben, die ihm ein weites chael Maier, der Funk als Chefredakteur Spielfeld eröffnen. Der Verlag, in dem S. JAKOBS gen des Kapitals an. Hat das, ähnlich wie bei Herrn Stein, auch bei Ihnen etwas Spielerisches? Seebacher-Brandt: Berührungsängste hatte ich jedenfalls keine. Das Schöne an unserer Arbeit ist doch, daß man mit dem Geld des Kapitals Kunst, auch subversive, ermöglichen kann. Und daß dies hier bei der Deutschen Bank mit großer Selbstverständlichkeit getragen wird. SPIEGEL: Sind Sie unglücklich mit Ihrer aktuellen Darstellung durch die Medien? Seebacher-Brandt: Ob Sie es glauben oder nicht: Das nehme ich kaum wahr. Jeder hat seine Schutzmechanismen. Ich lese „FAZ“ und „taz“, das reicht. Die „Welt am Sonntag“ hätte die private Meldung eh’ gebracht, nur deshalb habe ich die Flucht nach vorn gewagt. Für die Öffentlichkeit wird sich das Thema in Bälde erledigt haben. SPIEGEL: Was macht Sie so zuversichtlich? Seebacher-Brandt: Social life ist mir total fremd. In Donaueschingen wird die Meute kaum erscheinen – und auch nicht im „Faust“. SPIEGEL: Immerhin begleitet Sie Herr Kopper zu den Spielen Ihres gemeinsamen Lieblingsvereins Werder Bremen? Seebacher-Brandt: Da würde er sehr protestieren. Werder gehört nur zu mir. SPIEGEL: Fürchten Sie nicht das Image, die Zerstörerin der Ehen mächtiger Männer zu sein? Seebacher-Brandt: Wollten wir über Kultur oder über Klischees reden? SPIEGEL: Hat sich die Haltung der Öffentlichkeit gegenüber dem Privatleben Prominenter grundsätzlich gewandelt – ablesbar beispielsweise an den Reaktionen auf die amouröse Neuorientierung des Bundeskanzlers Schröder? Seebacher-Brandt: Ja, enorm. Der Voyeurismus ist übel, die Kehrseite ist es nicht: Leben und leben lassen. Schröders Trennung von seiner Ehefrau und seine Wiederheirat haben doch niemanden im Wahlverhalten beeinflußt. Es ist offensichtlich, daß es in unserer Zeit lebenslange Beziehungen ebenso selten gibt wie lebenslange Beschäftigungsverhältnisse. Das hängt mit Selbständigkeit und Selbstbewußtsein der Frauen zusammen, und natürlich auch damit, daß die Menschen immer älter werden. SPIEGEL: Wird sich durch das Bekanntwerden Ihrer Beziehung zu Herrn Kopper irgend etwas an Ihrer Arbeit ändern? Seebacher-Brandt: Etwas wird sich immer ändern. SPIEGEL: In einem Porträt des Fachblatts „Theater heute“ werden Sie mit dem erstaunlichen Satz zitiert: „Bankmenschen sind nicht zum Lieben.“ Seebacher-Brandt: Erstens dachte ich bei diesem Satz an die Spezies, und zweitens bestätigt die Ausnahme die Regel. SPIEGEL: Frau Seebacher-Brandt, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. J d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 M. WOLF / VISUM C. AUGUSTIN Funk hatte sich selbst für die SpitzenFührungskräfte üblicherten läßt, provozierte geraweise mit 60 abdanken, dezu Gehässigkeiten. Die position ins Spiel gebracht. „Wenn ihr in traut seinem Senior noch „Süddeutsche“ überschrieb Not seid“, ließ er Schulte-Hillen wissen, immer eine Menge zu: Er ein Funk-Porträt mit „Dr. „dann stehe ich bereit.“ Und Schulte-Hillen war in Not. soll den „Stern“ bei WerWerner und Mr. Funk“. Zunächst favorisierten er und Zeitbekunden vertreten, ihn Seine Untergebenen, auf öffentlichen Veranstalnicht selten in Angst um schriftenvorstand Rolf Wickmann eine tungen repräsentieren – den Job, nannten ihn „Kim Doppellösung: Funk sollte Herausgeber, und er muß von den ChefIl Funk“. Immer wieder Michael Jürgs, 54, Chefredakteur werden. Erfolgsautor Jürgs, von 1986 bis 1990 an redakteuren bei wichtigen mal forderte der „Stern“Themen konsultiert werRedaktionsbeirat die sofor- der Spitze des „Stern“ und inzwischen freier Schriftsteller, urlaubte in der Woche den. In den Verträgen von tige Entlassung. Osterkorn und Petzold Verlagschef Schulte-Hillen Die langsame, aber be- nach dem überstürzten Maier-Abgang mit steht: ständige Talfahrt der 1948 seiner Frau auf der Belle-Île vor der bre„Der Chefredakteur berät sich in allen gegründeten Illustrierten konnte der Routi- tonischen Küste. Wickmann flog nach Pagrundsätzlichen Fragen, die über das Ta- nier nicht stoppen. Zum Schluß seiner ris, die beiden trafen sich zum ersten Gegesgeschäft und die aktuelle Heftproduk- Amtszeit verkaufte das Blatt mit 1,1 Millio- spräch in einem Bistro am Flughafen. Zwei Tage später war auch Funk mit von tion hinausgehen, mit dem Herausgeber nen Exemplaren elf Prozent weniger als bei des ,Stern‘.“ seinem Start. Allein 1998 mußte der Verlag der Partie. Das gemeinsame Abendessen Zu wichtigen Personalfragen, also der fünfmal die Auflage mit „Sonderverkäufen“ im Hotel „Castel Clara“ auf der AtlantikEinstellung und Entlassung von Top-Leu- stützen, bei denen jeweils über 100000 Ex- insel endete ohne Einigung. Der Grund: ten, heißt es: „Die Chefredakteure wer- emplare zu Vorzugskonditionen losgeschla- Wickmann legte Jürgs einen üblichen Standardvertrag des Verlags vor, doch der wollden sich mit dem Herausgeber beraten.“ gen wurden – an wen auch immer. Das sei eine „Beratungspflicht“, erklärt Schulte-Hillen wurde allmählich unge- te die entscheidende Klausel auf keinen Schulte-Hillen, um keine Zweifel an der duldig, denn ein Nachfolger für Funk war Fall akzeptieren: „Der Verlag, vertreten durch den VorHerausgeberrolle aufkommen zu lassen. nicht in Sicht. Das vertraglich geregelte Auch sein journalistisches Ego braucht Versprechen, Funk werde eigenhändig ein standsvorsitzenden, bestimmt in Abstimmung mit dem Herausgeber die grundFunk nicht allzusehr zu zügeln. Die Ver- Jungtalent aufbauen, blieb ohne Folgen. träge der beiden Chefredakteure räumen Im Herbst 1998 ging auf einmal alles ganz sätzliche redaktionelle Linie der Zeitdem „Stern“-Obersten das Recht ein, je- schnell: Der Verlag wartete die Feiern zum schrift gegenüber dem Chefredakteur. Der derzeit Kommentare zu verfassen: „Der 50. Geburtstag des „Stern“ aus Pietäts- Chefredakteur vertritt diese gegenüber Herausgeber hat das Recht, insbesondere gründen noch ab, dann erfuhr Funk, daß die der Redaktion und überwacht deren Einzu politischen und wirtschaftlichen Fragen Trennung nahte. Geschickt versuchte der haltung.“ Nach dem Essen genossen die drei HerEditorials zu publizieren.“ Taktiker noch im letzten Augenblick, OsterSchulte-Hillen ist auch diesmal über- korn als Stellvertreter durchzusetzen – er ren den Blick aufs Meer, aber allen war zeugt, richtig gehandelt zu haben. „Wir mußte ja, so stand es in seinem Vertrag, klar, daß Jürgs als Chefredakteurs-Kandidat nicht mehr in Frage kam. Funk hatte haben eine Lösung gefunden, die sitzt“, einen Nachfolger benennen. sagt und glaubt der Verlagschef. Schriftlich forderte der Noch-Chefre- sich geweigert, seine Herausgeberrolle zuDie beiden Chefredakteure würden sich dakteur den Noch-Nicht-Vize Osterkorn gunsten des Chefredakteurs einschränken „hervorragend ergänzen“, erklärt Schul- auf, sich schon einmal Gedanken über ei- zu lassen. Am nächsten Tag sagte Jürgs ofte-Hillen. Funk sei ein „gestandener Ma- nen Dienstwagen zu machen. Der hocher- fiziell ab. Schulte-Hillen, seit 1981 Verlagschef, gazinmann“, ein „animal politicum“, des- freute Leiter des Deutschland-Ressorts sen Erfahrung man nutzen solle. Er sei konnte freilich nicht ahnen, daß ihn Funk glaubt nun voller Zuversicht an die Drei„eine Führungsperson mit Ecken und Kan- im Abfindungspoker benutzte. Wenige er-Kombination. Falls das Trio Funk/Osterten, die sich eine Menge Respekt verschafft Tage später war klar, daß Funks Ära ende- korn/Petzold dennoch floppen sollte, ist er selbstverständlich bereit, auch dafür die hat“ – Oldie but Goldie. te, vorläufig jedenfalls. Viele in der Redaktion und der Medien„Wir haben die Sache in einem Ge- volle Verantwortung zu übernehmen. Als branche können den Loopings des Kon- spräch hinter verschlossenen Türen aus- es mit „Stern“-Chef Maier schiefging, habe zernchefs nur mühsam folgen. Denn in vier geräumt“, sagt Osterkorn heute. Und: „Ich er schließlich „auch mit seinem breiten Jahren beim „Stern“ provozierte Funk, der bin nicht nachtragend.“ Das würde ihm Rücken dies besser auffangen können als Kaufmannssohn aus dem Hannoverschen, auch schlecht bekommen – er ist gezwun- jemand, der neu im Amt ist“. vor allem eine Menge Widerwillen. gen, mit seinem alten Chef wieder eng zuKonstantin von Hammerstein Hans-Jürgen Jakobs Nach seinem Amtsantritt 1994 galt der sammenzuarbeiten. frühere Universitätsassistent bei Wirtschaftsikone Karl Schiller und spätere Gruner+Jahr-Zentrale in Hamburg: „Der Verlag bestimmt die redaktionelle Linie“ Chefredakteur von „Manager Magazin“ und SPIEGEL in der „Stern“-Redaktion schnell als Machtmensch, der mit seinem Personal zuweilen rabiat umging. In der Riege seiner Stellvertreter verscheuchte Funk zuerst den altgedienten Michael Seufert und dann Andreas Lebert, den er erst Monate zuvor vom Magazin der „Süddeutschen Zeitung“ nach Hamburg gelotst hatte. Damit war der überzeugte Einzelkämpfer, der bei Bedarf auch charmant sein kann, allein an der Spitze. Sein sprunghafter Charakter, der ihn mal höflich galant, dann wieder ruppig auftre- Medien verurteilt werden? Josef Augstein, der bis dahin den Arzt vertreten hatte, war geRECHTSPRECHUNG storben. Auf Empfehlung bekam Prinz das Mandat. Und er hatte Erfolg. Das OLG München stellte den Fall ein. Freilich – der Arzt war Julius Hackethal. Und da der in den Medien als Promi gehandelt wurde, mutierte Prinz zum PromiDie Promi-Anwälte Matthias Prinz und Butz Peters Anwalt. Hinzu kam, daß der Fall nicht haben aus der Schule geplaudert – in einem nur strafrechtliche, sondern wegen überwiegend negativer Berichterstattung auch Handbuch zum Medienrecht. Von Gisela Friedrichsen eine Fülle medienrechtlicher Fragen aufwarf. Als der umstrittene Arzt im Strafprozeß gegen den 80jährigen Erich Honecker und andere in Berlin als Berater der Nebenklage 1992 vortragen ließ, der Hauptangeklagte sei nicht krebskrank, sondern leide wohl nur an einem Fuchsbandwurm, war Prinz schon nicht mehr sein Anwalt. Längst hatte er erkannt, daß Hackethal den Streit mit der Schulmedizin auch um des Streites willen suchte – ein Fall für einen Anwalt, der Prinz nicht sein wollte. Da er nun als Prominentenanwalt galt, drängte zu ihm die Kundschaft, die nur die Nebenschauplätze seines Einsatzes für Hackethal zur Kenntnis genommen hatte: die Auseinandersetzung mit den Medien. Kritiker versäumen nicht hinzuzufügen, auch er habe sich zur Kundschaft gedrängt. Als Caroline von Monaco seine Mandantin wurde, gelangen ihm weithin beachtete Erfolge. 1992 erschienen in der „Bunten“ drei erfundene Titelgeschichten über die Prinzessin. Das Landgericht und das OLG Hamburg verurteilten den betroffenen Verlag zum Abdruck von Richtigstellungs- beziehungsweise Widerrufserklärungen auf den Titelseiten und zur Zahlung von 10 000 Mark Schmerzensgeld je Geschichte. 1994 hob der Bundesgerichtshof (BGH) das Urteil auf und verwies die Sache zurück. Das Schmerzensgeld war nach Auffassung der Richter zu niedrig. Die Entscheidung sollte der Prävention dienen. Es Autoren Prinz, Peters: 790 Seiten Materialschlacht sollte sich für die Klatschpresse nicht mehr lohnen, ie wird man Spezialist für bekundeten schriftlich, sorglos PersönlichkeitsMedienrecht? Der Hamburger die Nebenstraße sei an jerechte zu verletzen. Nur Rechtsanwalt Matthias Prinz, 42, nem Tag nicht ausreidann, so der Gedanke hatte sich während seines Studiums auf in- chend gestreut gewesen. Das Landgericht sprach Gegendarstellung auf „Bunte“-Titel des Gerichts, entstehe ternationales Recht konzentriert, Medienein „echter Hemmungsrecht war nie sein Ziel. Seine Laufbahn be- dem Offizier 70 Prozent gann 1986 mit einem ganz normalen an- Schadensersatz zu, das Oberlandesgericht effekt“. Caroline von Monaco erhielt (OLG) bestätigte das Urteil. „Bild“ be- 180 000 Mark. waltlichen Gesellenstück. Prinz focht fortan für Claudia Schiffer Am 9. Januar jenes Jahres geriet ein richtete: „Hamburg muß zahlen“ und Offizier der Bundeswehr und „Tornado“- druckte Prinz’ „Tip für Glatteisopfer“ ab. und Michael Stich, Reinhold Messner, GloAuch mit dem nächsten größeren Fall ria von Thurn und Taxis und Henry MasPilot mit seinem Opel Manta beim Einbiegen von einer eisfreien Straße in eine spie- erregte der junge Anwalt, schon wegen des ke, um nur ein paar Namen zu nennen, gelglatte Nebenstraße in Hamburg-Wil- emotional aufgeheizten und kontrovers aber auch für Fußballtrainer, für Politiker helmsburg ins Rutschen und landete an ei- diskutierten Themas, Aufsehen. Ein Arzt wie Walter Scheel und andere. Viele dieser nem Laternenpfahl. Der Offizier, vertre- hatte einer unheilbar krebskranken Frau absoluten oder relativen Personen der Zeitten von Prinz, verklagte die Stadt wegen Zyankali verschafft, mit dem sie sich töte- geschichte wollen im Licht stehen und Verletzung der Streupflicht. 60 Anwohner te. Würde er wegen Tötung auf Verlangen trotzdem selbst bestimmen, wann das J. RÖTTGER / VISUM Es begann mit Glatteis W 112 d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 PANDIS / TELEPRESS Licht, in dem sie sich sonnen, zu erlöschen hegte – zu einem Band über das Medien- was Gesetze und Rechtsprechung und hat. Mancher treibt ein böses Spiel: Dem recht und die zivilrechtlichen Ansprüche, Prinz und Peters von ihm verlangen. Es einen Medium verkauft er seine Privat- die sich aus Verstößen ergeben. Seit Ende reicht manchmal bis an die Grenze zum sphäre gegen Geld – und vom anderen for- 1997 moderiert Peters überdies „Akten- Grotesken. „Es ist ja nicht der Journalist, der freidert er Geld wegen Verletzung derselben. zeichen XY ungelöst“, was nicht nur bei Es ist alte Übung, einen Anwalt mit seinen denen, die die Erfolge der Kanzlei zu willig Witwen schüttelt“, sagt Prinz, „sonMandanten zu identifizieren und der spüren bekommen, Naserümpfen auslöst. dern es ist der Druck von oben, der ihn Ein Handbuch sollte es werden, mit dem dazu bringt. Doch wenn eine Sache erst heimlichen Komplizenschaft zu bezichtigen. Prinz wird vorgeworfen, er sorge für „Hof- die Autoren dem Leser vor Augen führen einmal als rechtswidrig anerkannt ist, wird berichterstattung“ (etwa bei der Hochzeit wollen, daß der rechtliche Einsatz für die man es sich überlegen, ob man sie vom von Caroline von Monaco mit Ernst Schönen und Reichen nur eine Seite, die Mitarbeiter verlangen kann.“ Wie bestellt zur AusliefeAugust von Hannover). Doch rung des Bandes, entschied die Rechtsordnung gesteht jeder VI. Zivilsenat des BGH dem, vom Mörder bis zum dieser Tage über eine Klage Steuerbetrüger, Verletzten des Prinzen Ernst August und Beleidigten, zu, sich zur von Hannover (nicht gerade Wehr zu setzen und auf das ein Sympathieträger, Prinz’ zu berufen, was ihm die Gevielleicht heikelster Mansetze und die Rechtsprechung dant) auf Unterlassung der garantieren und einräumen. Veröffentlichung bestimmter Die Versorgung ausgeTeile eines Zeitschriftenberechnet Prominenter mit horichts über seine Ehescheihen Schmerzensgeldern hat dung. Die Klage wurde abeinen weiteren, einen bittegewiesen. ren Beigeschmack: Noch imDie Hamburger Gerichte mer besteht ein kaum erhatten zuvor für Ernst Auträgliches Mißverhältnis gust entschieden. Der BGH etwa zu den Beträgen, die hingegen befand, daß die Gewalt- oder Unfallopfern Pressefreiheit „nicht nur für von den Gerichten zuge,wertvolle‘ Informationen, standen werden. Ein Mann, sondern grundsätzlich auch Anfang 20, der bei einem Prinz-Mandanten Caroline, Ernst August: „Echter Hemmungseffekt“ zugunsten der UnterhalUnfall die rechte Hand und den rechten Unterschenkel verlor, der fünf Show-Seite von Bemühungen ist, die auch tungs- und Sensationspresse und damit Monate im Krankenhaus lag, seitdem zu dem Schutz des Normalbürgers dienen. So auch für Mitteilungen besteht, die ledig100 Prozent erwerbsunfähig ist und sein findet sich in dem Band unter anderem lich das Bedürfnis einer mehr oder minder Leben lang unter Phantomschmerzen lei- eine Entscheidung des Landgerichts Ans- breiten Leserschicht nach oberflächlicher den wird, bekommt weit weniger als Prin- bach, das einen Verlag zur Zahlung von Unterhaltung befriedigen“. Rechtsanwalt Prinz wird möglicherzessin Caroline, nämlich allenfalls 115 000 immerhin 75 000 Mark Schmerzensgeld Mark Schmerzensgeld. Prinz hat schon verurteilte: Ein Mann war, ohne daß der weise das Verfassungsgericht anrufen, 1991 in einem Aufsatz auf diese peinliche Sachverhalt nachgeprüft wurde, als per- wenn die Begründung des Senats vollverser Kinderschänder geschildert worden. ständig bekannt ist. Vorerst wird geraunt, Diskrepanz hingewiesen. Über dem Glanz der – natürlich auch lu- Dabei war er rechtskräftig freigesprochen. wie es die Juristen pflegen, und nicht Hinter Prinz und Peters liegt eine Mate- nur bei den Klatschjournalisten herrscht krativen – Promi-Mandate wird oft vergessen, daß in der Kanzlei Prinz Neidhardt rialschlacht. 790 Seiten für 148 Mark sind Erleichterung: Endlich werde die MeEngelschall (Engelschall, 77, war einmal es geworden, eine voluminöse Bestands- dienrechtsprechung wieder zurückVorsitzender Richter der Pressekammer aufnahme von Entscheidungen aus dem gedreht, endlich ein Mißerfolg für den in Hamburg, bevor er in den Ruhestand Äußerungsrecht von Presse, Hörfunk und Hallodri mit seiner illustren Kundschaft, und bei Prinz eintrat) auch wenig oder gar Fernsehen – verfaßt aus der Sicht derer, die der längst Teil des Geschäfts sei. Die etablierten Handbücher des Pressenicht bekannte Personen beraten wurden Gegendarstellungen und Schmerzensund werden, die sich einen Anwalt wie gelder nicht abzuwehren, sondern durch- rechts von Soehring, Löffler oder Wenzel, so argumentieren Prinz’ Kritiker, seien Prinz eigentlich nicht leisten können. Ge- zusetzen versuchen. Zutreffend sagt der Verlag C. H. Beck, keineswegs überholt. Das neue Handbuch rade über die Rechte des sogenannten kleinen Mannes wird bisweilen mit einer Sorg- das Buch werde alle Praktiker auf dem Ge- wird sich also durchzusetzen und zu belosigkeit ohnegleichen hinweggegangen: biet des Medienrechts beschäftigen – haupten haben. Prinz hat den renommierDa finden sich Eltern, die um ihr soeben Rechtsanwälte, Richter, Redakteure, Jour- ten Autoren eines voraus: Den Journaliertrunkenes Kind weinen, auf der Titel- nalisten, Verlage und andere Medien- stenalltag, den Druck des Redaktionsseite eines Boulevardblattes wieder; an- unternehmen –, liegt sein Nutzwert doch schlusses, das Gezänk in und zwischen den dere werden in den Medien mit Bildern vor allem darin, potentiell Geschädigte auf Ressorts, die Abläufe in den Verlagen kennt der nackten Leiche ihrer vergewaltigten die Möglichkeiten einer Gegenwehr auf- er als Sohn von Günter Prinz, Ex-Chefremerksam zu machen. dakteur von „Bild“ und VorstandsvorsitTochter konfrontiert. Doch was wird der Nachwuchs etwa hin- zender des Axel Springer Verlages, von 1996 trat in die Kanzlei Butz Peters ein, wie Prinz promovierter Jurist und Journa- sichtlich der „Pflicht zur Recherche“ sagen, Kindesbeinen an. Der Verlag wirbt für die Neuerscheilist dazu, lange Jahre Leiter des Ressorts wie sie die Autoren fordern? Der Kampf Rechts- und Medienpolitik beim NDR- um Auflage ist nicht weniger hart als der nung, indem er von einem „neuen HandHörfunk. Im selben Jahr entstand der Plan um Einschaltquoten, er spielt sich nur eher buch im Mediendschungel“ spricht. Es zu einem gemeinsamen Buch, den der „Ro- hinter den Kulissen ab. Mancher Journalist könnte ein Leitfaden für die sein, die diebin Hood der Reichen“ (so die Hamburger wird sich fragen, wie er seinen Auftrag er- ser Dschungel zu verschlingen droht. Dafür „Morgenpost“ über Prinz) schon lange füllen soll, wenn er sich strikt an das hält, gibt es nicht von allen Seiten Beifall. ™ d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 113 LAT Ferrari-Pilot Schumacher nach dem Frontalunfall in Silverstone: „Zum Gasgeben reicht es schon“ FORMEL 1 Der eilige Patient Michael Schumachers Unfall hat die Diskussion um die Sicherheit neu entfacht. Grand-PrixPiloten bewerten einen Beinbruch als unvermeidbares Restrisiko. Der Ferrari-Star ist derweil wieder im Training. Schafft er die Rückkehr zum Großen Preis von Belgien Ende August? 114 nahe zur Schumi-Crash-Sondersendung. Zwischen zwei Beiträge „live vom Northampton General Hospital“ quetschte der Formel-1-Sender immerhin noch ein paar Schnipsel über die Weltläufte. Ex-Weltmeister Jackie Stewart juxte aus England mit gespielter Verwunderung: „Ich verstehe die Aufregung gar nicht, es ist doch nur ein Beinbruch.“ Und am Mittwoch, als der Strom des Entsetzens in der Motorsport-Gemeinde abzuklingen drohte, legte die „Bild“-Zeitung noch mal kräftig nach: „Alles viel schlimmer“, titelte Schumis Hausdepesche und berichtete bang: „Gewebe ist zerstört.“ Das klingt verheerend, ist aber in Wirklichkeit ein Vorgang, den so oder ähnlich pro Jahr über 9000 deutsche Skifahrer erleben. Drei Monate, Minimum, veranschlagte das ferndiagnostisch versierte Blatt bis zur Rückkehr des Helden. Die Prognose deckt sich nicht mit den Vorstellungen des Patienten. Insgeheim hat der zweifache Weltmeister, bei optimalem Verlauf, das letzte August-Wochenende für sein Comeback anvisiert. In Spa, beim Großen Preis von BelREUTERS A ls der Ferrari mit Startnummer 3 die Direttissima Richtung Leitplanken nahm, hatten die üblichen Verdächtigen erst mal Ruhe. Jürgen Trittin zum Beispiel, zuletzt ein Liebling des Boulevards, genoß die publizistische Feuerpause. Auch Jürgen Bangemann und Hilmar Kopper vermochten im Sog des roten Rennautos abzutauchen. Schuld hatte der junge Mann aus Kerpen. Michael Schumacher, 30, war in Runde eins beim British Grand Prix infolge einer lockeren Schraube an der Hinterradbremse vom Weg abgekommen. Der Einschlag geriet gewaltig, Schien- und Wadenbein im rechten Unterschenkel waren glatt gebrochen. Die Fernsehbilder von dem Ritt übers Kiesbett, der Bergung zwischen weiß getünchten Altreifen und der Überführung per Hubschrauber quollen wie heiße Lava in die Nachrichtensendungen – kein Autounfall bekam so viele Sonderseiten, seit der Hotelangestellte Henri Paul vor zwei Jahren die Princess of Wales zu Tode fuhr. Am Tag nach der Karambolage geriet „RTL aktuell“ bei- Schumacher d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 gien, könnte Michael Schumacher wieder im Cockpit sitzen. Die düsteren Orakel, von seinem Manager Willi Weber durchaus gestützt, kommen Schumacher indes gelegen. So kann er ohne Druck an seiner Heilung arbeiten – und seine Fan-Schar nach wundersam frühzeitiger Genesung beglücken. Schon am Montag nahm er das Projekt Wiederkehr persönlich in die Hand und erkundigte sich via Telefon europaweit nach den besten Einrichtungen für seine Reha-Behandlung. Dann begann er mit krankengymnastischen Übungen. Mitte der Woche, inzwischen in die Schweiz verfrachtet, ortete er als einzige Beeinträchtigung ein „Nadelkissengefühl im rechten Fuß“ – den der Ferrari-Mann im übrigen schon wieder zu bewegen vermochte. „Zum Gasgeben“, erklärte er zufrieden, würde die Beweglichkeit des operierten Beins schon reichen. Das ist nicht mal übertrieben. Die Rennwagen haben schon lange keinen herkömmlichen Gaszug mehr. Wie beim Flugzeugbau ist die Mechanik durch Elektronik („Fly by wire“) ersetzt. Das Gaspedal, dessen Signal über Kabel an die Drosselklappe fließt, erfordert kaum mehr Kraftaufwand als ein Mausklick. Ungleich schwerer ist das Bremsen. Mit 60 Kilogramm müssen DPA A. THILL / ATP Sport Grand-Prix-Pilot Zonta bei seitlichem Aufprall in São Paulo, Fahrer Wurz bei Überschlag in Montreal: Wie zerbröckelte Schokolade sich die Piloten zuweilen gegen das Pedal stemmen, um ihr Gefährt – beispielsweise – in 2,5 Sekunden von Tempo 160 auf Null zu bringen. Doch das bewerkstelligt Schumacher sowieso mit links; seit einigen Jahren werden die Gänge nicht mehr per Kupplungspedal und Schaltknauf eingelegt, sondern elektronisch über eine Handwippe am Lenkrad. Daß der zweifache Vater keine schlimmeren Verletzungen als die Fraktur von Tibia und Fibula davontrug, hatte mit Glück wenig zu tun. Bei dem überschaubaren Unfallhergang standen ihm vielmehr seine körperliche Konstitution und, wie es die „Frankfurter Allgemeine“ formulierte, die „Gnade der späten Geburt“ zur Seite. Etwa 100 Stundenkilometer verlor der Ferrari auf den Kieselsteinen, mit einer Restgeschwindigkeit von 107 km/h tauch- te er laut Fahrtenschreiber in die dreifachen Reifenstapel ein. Mit mindestens 20 g*, also dem Zwanzigfachen des eigenen Körpergewichts, wurde Schumacher in seinen Hosenträgergurt gepreßt. Gewöhnliche Autofahrer hätten die in Fahrtrichtung drängenden zwei Tonnen womöglich nicht so schadlos überstanden. Doch Formel-1-Fahrer, weiß der Salzburger Physiotherapeut Erwin Göllner, der den früheren Weltmeister Jacques Villeneuve betreut, „sind im Nacken-, Schulter- und Brustbereich muskulär so gut trainiert, daß sie so was verkraften“. Zugleich profitierte Schumacher von den stetigen Verbesserungen an der Fahrerzelle, Monocoque genannt. Seit Anfang der achtziger Jahre bedient sich die Formel 1 eines Materials, das für die Raumfahrt entwickelt wurde: Kohlefaser. Der Kunststoff hat den Vorteil, leichter als Aluminium und fester als Stahl zu sein. UnbehanChrashtests in der Formel 1 delt mutet er an wie eine Beim Frontaufpralltest rast die Fahrerzelle samt Frontnase eine 15 m grobe, lichtdurchlässige lange Rampe hinunter und wird mit knapp 75 km/h gegen einen StahlTapete. Verklebt und unbetonblock katapultiert. Die Frontnase soll von der Aufprallenergie verter sieben bar Druck in formt werden, die Fahrerzelle muß unversehrt bleiben. Beim Seitenaufeinem überdimensionalen pralltest trifft eine Stahlplatte mit etwa 25 km/h und der Wucht von Backofen gehärtet, kann 780 kg seitlich auf die Fahrerzelle. Fahrerzelle mit Frontnase (blau) Fomel-1-Fahrerzelle und Dummy Crashmauer mit Dummy 15 m lange Rampe Pedalöffnung S U T TO N M OTO R S P O RT I M AG E S Kopfstütze Cockpit-Polster er kinetische Energie aufnehmen wie kein vergleichbarer Werkstoff. Mehrfach wurden in den letzten Jahren die Crash-Test-Vorschriften verschärft. So muß das Monocoque den seitlichen Anprall eines 780 Kilogramm schweren Stahlträgers überstehen, der mit einer Geschwindigkeit von sieben Metern pro Sekunde einschlägt. Der Überrollbügel hat 7,6 Tonnen zu ertragen. Am anspruchsvollsten ist die gezielte Verformung der Frontpartie. Sie muß für drei Millisekunden eine maximale Belastung von 60 g aushalten – danach sieht die Nase aus wie zerbröckelte Schokolade vom vorletzten Nikolaustag. „Wir könnten die Autos noch stabiler konstruieren“, sagt Bill Millar, Entwicklungsingenieur im Benetton-Team, „aber das wäre unsinnig: Der Rennwagen würde den Crash überleben, der Fahrer nicht.“ Das Problem ist, daß innere Organe sich nicht anschnallen lassen. Selbst wenn ein Fahrer seinen Helm an der Kopfstütze des Sitzes befestigen würde: Bei einem Aufprall mit 80 g würde das Gehirn ungebremst gegen die vordere Schädeldecke sausen, die Blutgefäße würden hinten abreißen. Kaum anders erginge es den Arterien von Herz, Leber oder Nieren. Äußerlich wären dem Piloten keine Verletzungen anzusehen, im Körper könnten die Blutungen jedoch von niemandem mehr gestoppt werden. Kaum anders erging es dem Österreicher Roland Ratzenberger 1994 in Imola. Bei seinem Unfall mit Tempo 300 war die Bremswirkung durch eine Mauer schlicht zu hoch – sein Genick brach. Zweimal war es knapp: Karl Wendlinger raste im selben Jahr in Monte Carlo in die Streckenbegrenzung und verbrachte 19 Tage im Koma. Mika Häkkinen prallte Ende 1995 in Adelaide gegen eine Mauer. Monatelang laborierte er an den Folgen seines Schädelbasisbruchs. Als Konsequenz wurden die Monocoques vergrößert, deren Cockpitwände erhöht und gepolstert. Mit Erfolg: Bei den jüngsten Havarien gab es keine Kopfverletzungen mehr. Die * 1 g = 9,81 m/s2 (Erdbeschleunigung). d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 115 Formel 1 hat damit, was die passive Sicherheit der Fahrerzellen angeht, offensichtlich ein Maximum erreicht. Sämtliche Kollisionen hatten ähnliche Schadensmuster wie im Fall Schumacher: π Im Juni 1997 fuhr der Franzose Olivier Panis mit Tempo 232 frontal in einen Reifenstapel, er brach sich beide Beine. π Im April dieses Jahres prallte der Brasilianer Ricardo Zonta mit 170 km/h seitlich in eine Leitplanke, er riß sich vier Sehnen am linken Fuß. π Im Juni schlug der Mönchengladbacher Heinz-Harald Frentzen mit 180 km/h rückwärts in eine mit Reifen gesicherte Leitschiene, er erlitt drei Haarrisse am oberen Ansatz von Schien- und Wadenbein. Also alles „Business as usual“, wie die neue Nummer eins bei Ferrari, Eddie Irvine, den Unfall seines Teamkollegen spontan bewertet hatte? Unter Fahrern wird ein Beinbruch unter Restrisiko verbucht – mithin unvermeidbar. In die Diskussion, wie derlei Blessuren zu verhindern seien, geriet der Grand-Prix-Zirkus diesmal nur, weil der Cheflenker betroffen war. Zur schnelleren Heilung Schumachers schlugen die Ärzte einen 30 Zentimeter langen Marknagel ins Zentrum des hohlen Schienbeinknochens. Als Mittel, Patienten fix zum Laufen zu bringen, hat sich die Methode bewährt. Schumachers Kernproblem liegt jedoch in der Horizontalen – wenn er, mit dem Gesäß praktisch auf dem Fahrzeugboden sitzend, demnächst wieder Gas geben soll. Ein Formel-1-Auto rollt je nach Tempo mit zwei bis drei Zentimeter Bodenfreiheit über den Asphalt. Bei höheren Geschwindigkeiten ist der Federweg gleich null. Bodenunebenheiten nimmt der Wagen nahezu ungefiltert auf. Diese Vibrationen sind Gift für einen heilenden Knochen. Der Nagel hilft nur die Achse zu halten. Wird am Bruchspalt immer wieder gerüttelt, kann es sein, daß die Enden zwar abheilen, aber nicht zusammenwachsen. Ob die vereinigenden Knochenzellen wirklich eine Verzahnung herstellen, ist auf dem Röntgenbild zu sehen – frühestens ab der vierten Woche. „Ich höre auf den Rat der Mediziner“, verspricht der Kerpener. Um gleich wieder konkurrenzfähig zu sein, muß er auch dem Muskelverlust des operierten Beins vorbeugen. Denn Kraft ist vonnöten: Bei schnellen Linkskurven etwa wird das rechte Bein mit Schlägen gegen die Cockpitwand traktiert; geht es rechts herum, muß es sich gegen die mit bis zu 4 g zerrenden Fliehkräfte stemmen. Vor allem aber sollte Schumacher einen neuerlichen Crash vermeiden. Bei einem vergleichbaren Unfallverlauf würde der Marknagel im schlimmsten Fall das Schienbein zum Splittern bringen. Die Nägel der Chirurgen sind ähnlich stabil wie die Monocoques der Formel 1. Alfred Weinzierl d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 Sport Wie Schinken verkauft In Italien brechen Ablösesummen und Spielergagen alle Rekorde. Und im Fernsehen gibt es künftig Fußball total: bis zu 16,5 Stunden live in der Woche. D er junge Mann ist wortkarg und nicht besonders helle. Zu Immobilien in Nizza und Monte Carlo, in Mailand und Paris hat er es trotzdem gebracht. Und gern rühmt er sich seiner Fähigkeiten, an einem Abend gleich drei junge Damen abzuschleppen. Christian „Bobo“ Vieri, 26, ist der teuerste Fußballer der Welt. Rund 91 Millionen Mark hat Inter Mailand gerade für ihn bezahlt, fast doppelt soviel wie 1997 für den brasilianischen Wunderstürmer Ronaldo. In kollegialer Konkurrenz zu dem soll Vieri nun für Inter Tore schießen. Doch während Ronaldo noch für 7,5 Millionen Mark per annum kickt, kassiert Vieri rund 10 Millionen. Netto, Steuern und Abgaben trägt der Verein. Spielergehälter und Ablösesummen „sind außer Kontrolle geraten“, klagen die Clubchefs, und ein „Gefühl der Ungläubigkeit“ beschleicht nicht nur Giovanni Trapattoni, den von München nach Florenz heimwärts gewanderten Fußball-Lehrer. „Zynisch“ sei der Fußball geworden. Auch Bischöfe mahnen. Die Zeitung des Papstes, „L’Osservatore Romano“, lamentiert, die Millionenbeträge seien „eine Beleidigung für die Armen“. Und noch im Abschiedsbrief eines jungen Selbstmörders aus Rom findet sich die Anklage an eine fußballverrückte Welt: So viel Geld für Vieri sei doch „absurd“. Doch nicht nur „Bobos“ Preis schießt in den Himmel: Die italienische Liga stürmt auf breiter Front in eine neue Dimension. Von den 16 europäischen Top-Transfers des Sommers enden 12 bei italienischen Clubs, für zusammen 524 Millionen Mark (siehe Grafik). Im Vergleich dazu zahlt die Bundesliga wie im Schlußverkauf: Der teuerste hiesige Transfer, die Verpflichtung des Nigerianers Victor Ikpeba durch Borussia Dortmund, taucht mit 15 Millionen nicht mal im zweiten Dutzend auf. Mit den Ablösesummen explodieren südlich der Alpen auch die Gehälter der Spieler. Für knapp 500 Millionen Mark rackerten sich die Teams der italienischen Serie A noch in der Saison 1995/96 ab. Ein Jahr später kassierten sie schon gut 600 Millionen; jetzt haben die Personalkosten 800 Millionen Mark überschritten. Ein rundes Dutzend Profis streicht Nettogagen zwischen vier Millionen und sieben Millionen Mark ein; Alessandro del Piero (Juventus Turin) setzt unter neun Millionen kein Bein mehr vor das andere. Beträge, die sich die Vereine gar nicht leisten können. Vor allem die Bilanzen der Mailänder Teams, aber auch von Parma, Bologna und Florenz enden hoffnungslos im Minus. Auf knapp 100 Millionen summieren sich die Verluste der Liga. Die „Erpressung durch die Spieler“, jammern die Vereinsbosse, treibe die Gagen in stratosphärische Höhen. „Eklig“ nennt einer die verkommene Moral unter den Stars: mehr Geld oder weniger Torlust. „Gehaltsstopp“, „Obergrenzen für Spielergagen“ werden diskutiert, um die armen Vereine vor der Gier der Kicker zu schützen. Dabei mischen die Eigentümer und Manager der Clubs selber kräftig mit. „Die Wahrheit ist doch“, so Nationalmannschaftskapitän Paolo Maldini, „daß die Vereinspräsidenten uns diese fachen seines Anfangspreises gehandelt. Gold, Kunst, High-Tech-Aktien – nichts kann mit der Geldmaschine Vieri mithalten. Angeheizt wird das Millionenspektakel vor allem von den Fernsehstationen, insbesondere den privaten Pay-TV- und AboSendern. Die bieten jährlich mehr für die Übertragungsrechte. Knapp 500 Millionen Mark waren es in der vorigen Saison, 700 Millionen bis 800 Millionen sollen es im nächsten Fußball-Jahr werden. Die Clubs profitieren davon, daß sie ihre Spiele zum Teil einzeln vermarkten dürfen. Ein Vorgang, den auch Bayern-Manager Uli Hoeneß beim DFB vorige Woche erneut für seinen Verein reklamierte. Der Preis der geschäftlichen Freiheit ist absehbar: In Italien werden die Spiele künftig vom traditionellen Fußball-Sonntag auf mehrere Tage verteilt – so können mehr Partien direkt gesendet werden. Wöchentlich sind bis zu 16,5 Stunden LiveGekicke mit der Fernbedienung verfügbar. Die Stadien sollen von schlichten Sportstätten zu Vergnügungszentren umgebaut, Goldfüßchen Christian Vieri Die teuersten Transfers in Europa 1999 Einkäufe italienischer Clubs Transfer von – zu Christian Vieri Amoroso AC T I O N - S P O RT FUSSBALL Quelle: „Kicker“ Veron Amoroso Juan Sebastian Veron Vincenzo Montella Andrej Schewtschenko Darko Kovacevic Walter Samuel Sonny Anderson Dani Enrico Chiesa Simone Inzaghi Gianluca Zambrotta Angelo Peruzzi Michel Salgado Dietmar Hamann Edwin van der Saar schwindelerregenden Summen anbieten.“ Sein Chef Cragnotti habe ihn schließlich „verkauft, um daran zu verdienen“, erregt sich auch Vieri über Vorwürfe ob seiner Maßlosigkeit. Der habe dabei „35 Millionen Mark mehr eingenommen, als er für mich bezahlt hat“. In der Tat ist die Wertschöpfung mit dem Torjäger beachtlich. 1990 brachte das damals 16jährige Fußballtalent seinem toskanischen Drittligaverein Prato 20000 Mark in die Kasse. 1992 bekam sein neuer Besitzer schon zwei Millionen für ihn, dann wurde er für vier Millionen, für acht Millionen verhökert. Heute, nach neun Jahren und neun Trikotwechseln, wird er zum 4500d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 Lazio Rom – Inter Mailand Udinese Calcio – AC Parma AC Parma – Lazio Rom Sampdoria Genua – AS Rom Dynamo Kiew – AC Mailand San Sebastian – Juventus Turin Boca Juniors – AS Rom FC Barcelona – Olympique Lyon RCD Mallorca – FC Barcelona AC Parma – AC Florenz FC Piacenza – AC Mailand AS Bari – Juventus Turin Juventus Turin – Inter Mailand Celta Vigo – Real Madrid Newcastle Utd. – FC Liverpool Ajax Amsterdam – Juventus Turin Ablöse in Mark 91 Mio. 64 Mio. 53 Mio. 50 Mio. 41 Mio. 41 Mio. 40 Mio. 34 Mio. 30 Mio. 30 Mio. 30 Mio. 30 Mio. 28 Mio. 24 Mio. 24 Mio. 23 Mio. noch mehr Werbung soll um die FußballEvents plaziert werden. „Ein geschätztes Marktvolumen von 24 Millionen Menschen“ haben die Freizeitstrategen fest im Blick. Wenn die Konsumenten nur nicht fußballmüde werden von der Dauerberieselung: „In wenigen Jahren“, prophezeit der bekannteste italienische Sport-Moderator Fabio Fazio düster, werde der Fußball verschwinden, sollte er „weiter wie Schinken verkauft“ werden. Christian Vieri ist weniger besorgt. „Zehn, fünfzig, hundert Millionen, das interessiert mich nicht.“ Denn, so die Philosophie des Multimillionärs, „Geld macht keine Tore“. Hans-Jürgen Schlamp 117 Werbeseite Werbeseite Ausland Panorama Kaschriel: Niemand kann das versprechen. Wir haben eine sehr kleine, extreme Minderheit, die sogar von außerhalb unterstützt wird. Diese Extremisten schaden unserer Sache. Wir versuchen, sie so gut es geht zu kontrollieren.Aber wenn die Regierung uns provoziert, wird das schwieriger. SPIEGEL: Meinen Sie die Ankündigung, alle Investitionen in den besetzten Gebieten Kaschriel zu stoppen? Kaschriel: Ich bin einverstanden, wenn die Regierung alles überprüft und sagt, den Siedlungen geht es gut, jetzt sind mal andere Städte dran. Aber nicht, wenn man uns austrocknen will. SPIEGEL: Akzeptieren Sie die Palästinenser als Nachbarn? Kaschriel: Sie sind hier, das ist ein Faktum, und wir sind hier. Wir müssen zusammenleben, und es ist besser, jetzt damit anzufangen und nicht auf Terror und Blutvergießen zu warten. Von einer Zusammenarbeit würden alle profitieren. SPIEGEL: Warum sind Sie gegen einen palästinensischen Staat? Kaschriel: Die Palästinenser können ihre Flagge haben, ihr Parlament, Autonomie in allen Fragen, auf keinen Fall eine Armee. Einen Staat sehe ich allenfalls in ferner Zukunft, zur Zeit können wir das nicht zulassen. ISRAEL A. BRUTMANN „Nur wenn sie uns wegtragen“ Siedler-Chef Benni Kaschriel, 48, ist der erste nichtreligiöse Vorsitzende des Siedler-Rates Jescha und Bürgermeister von Maale Adumim, das noch unter der Regierung Netanjahu an Groß-Jerusalem angegliedert wurde. BALKAN-HILFE Graswurzel-Start D ie Hilfe der industrialisierten Staaten für das Kosovo und die Anrainerstaaten soll beim Wiederaufbau zerstörter Häuser und bei der Landwirtschaft ansetzen. Das verlangte Finanzminister Hans Eichel auf dem ersten Treffen der Geberländer vergange- AP To t e s M eer J O R DA N I E N SPIEGEL: Premier Ehud Barak steuert mit hohem Tempo auf einen Frieden zu. Sind die Siedler bereit zu Kompromissen? Kaschriel: Wir waren bei Barak. Er hat uns nichts versprochen. Aber wir haben vereinbart, uns wechselseitig nicht zu überraschen. Wir wollen miteinander reden, um vertretbare Lösungen zu finden. Rabin kehrte uns den Rücken, das hat Widerstand provoziert. Wer Frieden will, sollte niemand an die Wand drängen. SPIEGEL: Sie wollen kooperieren? Kaschriel: Barak ist auch mein Premier, selbst wenn ich ihn nicht gewählt habe. Unser Job ist es, die Lebensqualität der Siedlungen zu verbessern, und nicht auf jeden Hügel zu rennen und dort Container aufzustellen. SPIEGEL: Das sind unbekannte Siedlungen Töne. Bisher errichteten Siedler im Westjordanland ständig neue Wehrdörfer. jüdische Siedlungen Kaschriel: Es gibt eine Wende. Als palästinensische neuer Vorsitzender des Siedler-RaSelbstverwaltung tes stehe ich für eine pragmatische palästinensische Zivilverwaltung, israelische Politik. In der Demokratie muß ich Sicherheitshoheit auch Dinge respektieren, mit denen ich nicht einverstanden bin. Dschenin SPIEGEL: Auch, daß Siedlungen WESTJORDANLAND geräumt werden? Tulkarm Nablus Kaschriel: Alle Regierungen wollKalkilja ten die Siedlungen, von Golda Meïr bis heute. Ich werde nicht um jeden Wohnwagen kämpfen. Aber Ramallah wir lassen uns nicht evakuieren. Jericho Da ist unsere Schmerzgrenze. SPIEGEL: Was können Sie tun? Jerusalem Kaschriel: Wir werden Widerstand Betlehem Maale leisten bis zum Ende. Und: Wie bei Adumim der Räumung des Sinai 1982 – man müßte uns schon aus unseren HäuHebron sern wegtragen. SPIEGEL: Wer garantiert, daß es auf seiten der Siedler nicht zu Gewalt ISRAEL kommt? 30 km Jüdische Siedler im Westjordanland ne Woche. Große Infrastrukturvorhaben – der Wiederaufbau von Brücken und Autobahnen – sollen erst beginnen, wenn die regionale Wirtschaftstätigkeit wieder angekurbelt ist. Dieses „Graswurzel-Konzept“ fordert auch die Weltbank. Wenn ihre 181 Teilhaber-Länder mitmachen, sollen im Kosovo mit 60 Millionen Dollar Kleinkredite an lokale Handwerksbetriebe, Lohnzahlungen für Beamte oder die Mitarbeiter der Wasd e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 ser- und Kraftwerke finanziert werden. Langfristig sind größere Summen nötig: Der Internationale Währungsfonds bezifferte allein für 1999 den Bedarf der sechs Balkan-Anrainerstaaten Jugoslawiens an Zahlungsbilanzhilfen auf eine Milliarde Dollar. Konkrete Zahlen gibt es noch nicht. Weltbank und EU-Kommission wollen bis zum 28. Juli, der ersten offiziellen Geberkonferenz, eine rohe Schadensermittlung vorlegen. 119 Panorama SCHWEDEN Mozart für Hennen D Äthiopische Soldaten an der Eritrea-Front AFRIKA Die Spender sind müde U ngewöhnliche Hitze, mangelnde Niederschläge und hoher Schädlingsbefall bedrohen das Leben von mehreren Millionen Menschen in Äthiopien, Eritrea, Somalia und Nord-Kenia. Doch Hilfsorganisationen können derzeit nur bedingt eingreifen, weil die internationale Gemeinschaft ihre dringenden Finanzierungsappelle bisher kaum beachtet: So benötigt das Uno-Welternährungsprogramm monatlich 65 000 Tonnen Nahrungsmittel, um 1,2 Millionen Menschen in sechs äthiopischen Provinzen zu versorgen; wegen des BELORUSSLAND FRANKREICH Minderheit unter Druck Kaputte Kohabitation S.-O. AHLGREN / FLT-PICA I Glückliches Schweden-Huhn zu finden. Auf jeden Fall aber werden Schwedens sechs Millionen Hennen gegenüber ihren kontinentaleuropäischen Schwestern den Schnabel vorn behalten. Denn die nationale Gesetzgebung verpflichtet in einer „Funktionsordnung“ die Hühnerhalter, schon bis 2002 die Käfige zu vergrößern und mit Ruhestange und Staubbad „gemütlicher“ zu gestalten. Empfohlen wird nach kostspieligen Untersuchungen von Verhaltensforschern, die gestreßten Legehennen mit Musikberieselung zu beruhigen, zum Beispiel mit Mozart. 120 n Belorußland werden die rund 400 000 Polen seit dem Nato-Beitritt Polens im März Schikanen ausgesetzt. In vielen Schulen des Umlands von Grodno wurden polnischsprachige Klassen geschlossen, die Kinder auf russische Klassen verteilt. In Nowogrodek, der Geburtsstadt des polnischen Nationaldichters Adam Mickiewicz, verboten die Behörden den Bau einer polnischen Schule, obwohl die landsmannschaftliche Vereinigung bereits das Geld dafür aufgebracht hatte. Selbst Schulbücher in polnischer Sprache sind neuerdings untersagt. Jetzt will das Lukaschenko-Regime der Vereinigung der Polen sogar den legalen Status entziehen, sollte diese größte polnische Minderheiten-Vertretung des Landes ihre Grundhaltung nicht ändern. Minsk gefällt nicht, daß die Vereinigung offiziell für die Gründung von Schulen und Pflege des kulturellen Erbes auftreten darf. Proteste gegen diese Schikanen sind gefährlich: Tadeusz Gawin, Vorsitzender der PolenVereinigung, wurde bereits wegen „Beleidigung von Staatsbediensteten“ zu einer hohen Geldstrafe verurteilt. d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 S eit Präsident Jacques Chirac verkündete, er wolle bis zum Ablauf seiner siebenjährigen Amtszeit regieren, ist die politische Wohngemeinschaft („Kohabitation“) des rechten Staatschefs und des linken Sozialisten-Pre- Chirac miers Lionel Jospin in Gefahr – der Kampf um das höchste Amt der Republik, bei dem Chirac im Jahr 2002 gegen Jospin antreten dürfte, lähmt schon jetzt die Staatsgeschäfte. Beispiel Europapolitik: Chirac, der Gaullist im Elysée, schickt den Parteigänger Michel Barnier in die EU-Kommission, Regierungschef Jospin entsendet seinen Vertrauten Pascal Lamy. Und weil sich die Konkurrenten auch bei der Außenpolitik belauern, ist Paris bei Gipfeltreffen stets doppelt vertreten. Nach Chiracs Beteuerung, die Vernunftehe sei ein „Beweis der Demokratie“, höhnte Sozialistensprecher Alain Claeys: In Wahrheit sei der Präsident „geschwächt und ohne Perspektiven“. AFP / DPA ie Regierung in Stockholm will als Vorkämpfer der tierischen Würde eine drastische Verbesserung der von der EU im Juni beschlossenen „Richtlinie zum Schutz der Legehennen“ durchsetzen. Bei der Brüsseler Sitzung des Agrarministerrats an diesem Montag will sie die Vorschrift erweitern, die alle EU-Mitgliedstaaten verpflichtet, ab 2003 den Hühnern in Batteriehaltung 550 Quadratzentimeter Platz pro Henne zuzugestehen – einen Bierdeckel mehr Fläche als bisher. Die Schweden plädieren für eine Ausweitung auf 900 Quadratzentimeter, von denen 600 für ein Nest mit Halm- oder Jutebelag reserviert werden müssen. Außerdem soll der Käfig ein Sandbad sowie eine Sitzstange enthalten und das schräge Gestell der Eierabrollanlage die Henne nicht stören. Deutsche Agrarministeriale geben dem skandinavischen Vorstoß für das geschundene Federvieh wenig Chancen. Vor allem der Südschiene der EU, aber auch den Niederlanden, Frankreich und Großbritannien gehen die Schutzvorschriften schon jetzt zu weit. Schweden dürfte es schwerfallen, bei einer Abstimmung genügend Partner für die Mobilisierung einer Sperrminorität Ausland BELGIEN Mysteriöser Tod eines Staatsdieners er neue belgische Justizminister Marc Verwilghen hat einen schriftlichen Bericht bei der Lütticher Generalstaatsanwaltschaft angefordert zu den mysteriösen Todesumständen im Fall Hubert Massa. Der leitende Staatsanwalt, befaßt mit dem brisanten Fall des Kinderfängers Dutroux sowie dem Mord an dem Sozialistenführer André Cools in Lüttich, war am vergangenen Dienstag abend erschossen im Arbeitszimmer seiner Wohnung aufgefunden worden. Ein Arzt diagnostizierte umgehend Selbstmord, zwei Tage später wurde Massa ohne Obduktion beerdigt. Bei den von ihm bearbeiteten Dossiers war es am politisch verfilzten Lütticher Gericht immer wieder zu Justizskandalen gekommen. Die Hintermänner des Attentats auf Cools sollen Mitarbeiter eines belgischen Ministers gewesen sein. In der Kinderschänder-Affäre gab es viele haarsträubende Fahndungspannen. Mehrere Zeugen kamen auf rätselhafte Weise um. Nach dem Tod des Staatsanwalts wird jetzt mit weiteren Prozeßverzögerungen gerechnet. Staatsanwalt Massa, Gedenken für Dutroux-Opfer Geldwäsche für den Jelzin-Clan? A uf Ersuchen der russischen Justiz hat die Schweizer Bundesanwältin Carla Del Ponte in Lausanne die Büros von zwei Finanzgesellschaften durchsuchen lassen und eine LkwLadung Akten beschlagnahmt. Nach der Aktion Anfang Juli forderte sie Banken in Lausanne und Genf auf, die Konten Verdächtiger zu melden. Betroffen sind die Firmen Andava und Forus Services, die laut „Iswestija“ von dem Moskauer Finanzmogul Boris Beresowski und dem Schweizer Handelshaus André gegründet wurden – im Jahre 1994, exakt einen Tag nach der Teilprivatisierung der russischen Fluggesellschaft Aeroflot. Aktionäre der beiden neuen Firmen wurden neben Beresowski zwei ehemalige Aeroflot-Manager. Dies weckte bei den Ermittlungsbehörden in Moskau den Verdacht, es handele sich um Geldwaschanstalten: 400 Millionen Schweizer Franken von der Aeroflot sollen auf die Konten Finanzier Beresowski von Andava und Forus d e r Services geflossen sein. Die Moskauer Justiz hatte Akten der Aeroflot, die von Jelzins Schwiegersohn geleitet wird, beschlagnahmt und im April gegen den im Ausland weilenden Beresowski einen Haftbefehl erlassen. Dieser wurde jedoch aufgehoben, als der umtriebige Geschäftsmann, der den letzten Wahlkampf des Präsidenten Boris Jelzin mitfinanziert hatte, nach Rußland zurückkehrte und sich den Behörden stellte. Das Verfahren werde im Sande verlaufen, da die Vorwürfe gegen ihn erfunden seien, erklärte Beresowski wohlgemut. Im Frühjahr soll sich Beresowski, vormals auch Sekretär des Sicherheitsrats Rußlands, laut dem Moskauer Blatt „Kommersant-daily“ mit Vertrauten in seiner Villa an der Côte d’Azur beraten haben, wie die Abwehr der Justizrecherchen zu organisieren sei. Beresowski, einer der Reichsten Rußlands, fand eine Lösung: Bei den DezemberWahlen zur Duma, dem russischen Parlament, will er sich um ein Mandat bewerben. Als Abgeordneter genießt er Immunität. Als hervorragende Eigenschaft lobte der Kandidat seine Unbestechlichkeit: „Sollte ich Abgeordneter werden, wäre es unmöglich, mich zu kaufen.“ s p i e g e l MOSCOOP SCHWEIZ 2 9 / 1 9 9 9 121 SIPA PRESS D REUTERS AFP / DPA aktuten Geldmangels können aber nur 20 000 Tonnen verteilt werden. Daß die Spender müde sind, ist kein Wunder; Äthiopien verpulvert täglich eine Million Dollar im mörderischen Grenzkrieg gegen das Nachbarland Eritrea – die Kämpfe dauern an, obwohl das Gipfeltreffen der afrikanischen Staatschefs vorige Woche in Algier einen Friedensplan erarbeitet hatte. Die verfeindeten Staaten – in Äthiopien leiden 48 Prozent der Kinder an Unterernährung, in Eritrea 41 Prozent – gehören zu den ärmsten der Erde; dennoch erwarben sie 1998 für mehrere hundert Millionen Dollar schwere Waffen. Ein Aufruf von Uno-Generalsekretär Kofi Annan an Afrikas Regierungen, Waffen- und Munitionskäufe auf 1,5 Prozent ihres Bruttosozialprodukts zu begrenzen, blieb ungehört. Hilfsmaßnahmen für Somalia scheitern zudem an der Sicherheitslage: In dem zerfallenen Staat bekämpfen sich rivalisierende Clans. Ausländer riskieren, als Geiseln genommen zu werden. Ausland CHINA Nach deutschem Vorbild Eskalation der Spannungen in Ostasien: Die Volksrepublik droht Taiwan mit der Invasion und verstört die Nachbarn in der Region mit der Nachricht vom Besitz der Neutronenbombe. D ie Ordnung muß so groß wie ein Berg sein, die Disziplin so hart wie Eisen“. Die großen Schriftzeichen an der Anlegestelle von Quemoy sind an die Soldaten gerichtet, die in den vielen Bunkern und Geschützstellungen der kleinen Insel Wache schieben. Das winzige Quemoy („Goldenes Tor“) mit seinen 40 000 Einwohnern und ebenso vielen Militärs ist Taiwans gefährlichster Wohn- und Dienstort: Nur zwei Kilometer entfernt liegt das kommunistische Festland. Bei klarem Wetter ist die Stadt Xiamen zu erkennen. Bewohner wie Beschützer wären bei einem Angriff der Volksrepublik auf Taiwan wohl die ersten Opfer. Seit einigen Tagen stehen die am kleinen Hafen beschworenen militärischen Tugenden von Ordnung und Disziplin wieder ganz oben auf dem Dienstplan. Der schläf- rige Vorposten ist erwacht, die Gefechtsbereitschaft in den Kasematten erhöht. Denn in der vergangenen Woche rutschte das Verhältnis zwischen China und Taiwan auf einen neuen Tiefpunkt. Kaum hatten die süd- und nordkoreanischen Kriegsschiffe im Streit um den Grenzverlauf im Gelben Meer ihren Kollisionskurs verlassen, zog in Ostasien die nächste Krise herauf. Die Aktienkurse auf Taiwan und China sackten weg wie eine leckgeschlagene Dschunke im Südchinesischen Meer: Der kleine chinesische Drache war seinem großen Bruder gehörig auf den Schwanz getreten – und der fauchte vor Wut und Schmerz. Pekings Militärs drohten unverblümt mit der Invasion Taiwans und vermeldeten gleichzeitig, sie hätten schon vor Jahren die Neutronenbombe entwickelt – jene furchtbare Waffe, die der deutsche SPD-Politiker Egon Bahr einst als „ein Symbol der Perversion des Denkens“ bezeichnete, weil sie Personen tötet, aber vergleichsweise wenig materiellen Schaden anrichtet. Auslöser des chinesischen Zorns war Taiwans scheidender Präsident Lee Teng-hui, 76. Bei künftigen Kontakten zwischen Peking und Taipeh, so verkündete der Politiker mit zum Lächeln gefletschten Zähnen vorletzte Woche, handele es sich fortan um „Beziehungen zwischen Staaten“ oder mindestens um „Beziehungen besonderer Art zwischen Staaten“. Die seit 1991 geltende Formel von „einem chinesischen Staat, zwei eigenständigen politischen Gebilden“ gehöre der Vergangenheit an. Was wie eine stilistische Feinheit klingt, ist in Wirklichkeit ein dramatischer Kurswechsel: Taiwan verabschiedete sich damit Landeübungen chinesischer Marineeinheiten: „China wird nicht einen Zentimeter seines Territoriums verlieren“ GAMMA / STUDIO X REUTERS AP Premier Zhu, Staatschef Lee: „Beziehungen besonderer Art zwischen Staaten“ von der „Ein-China-Politik“, nach der Insel und Festland zwei Teile ein und desselben Landes sind. Zwar vermied es Lee sorgfältig, von einem „unabhängigen“ Taiwan zu sprechen. Auch unternahm er noch keinen Vorstoß, die Verfassung an die neu proklamierte Politik anzupassen. Doch Pekings Politiker reagierten wie von der Tarantel gestochen. Seit der Flucht der nationalchinesischen Truppen 1949 auf die Insel betrachten sie Taiwan als abtrünnige Provinz, die es nach dem „Ein Land – Zwei Systeme“-Motto des verstorbenen KP-Patriarchen Deng Xiaoping möglichst schnell heim ins Reich zu holen gilt. Jedenfalls hat Peking stets versichert, es werde die Insel besetzen, sollte sie sich für unabhängig erklären. Auch Abraham Lincoln, rechtfertigte Premier Zhu Rongji jüngst die kriegerische Doktrin, habe zu den Waffen gegriffen, um sein Land beim Abfall der Südstaaten zu einen. Für Chinas KP ist die Zugehörigkeit Taiwans zur Volksrepublik eine Existenzfrage wie der Glaube an Marx und Mao. Die Genossen wissen genau, daß sie nicht nachgeben dürfen, weil sie sonst einen wichtigen Teil ihrer Legitimität als Garanten der chinesischen Einheit verspielen würden. Die Volksrepublik werde weder „separatistische Verschwörungen dulden noch untätig auch nur einen Zentimeter des Territoriums verlieren“, drohte die „Tageszeitung der Befreiungsarmee“. Verteidigungsminister Chi Haotian meldete volle Kampfbereitschaft: Seine Soldaten seien je- derzeit bereit, die „territoriale Integrität“ zu wahren und jeden Versuch „zu zerschmettern, das Land zu teilen“. Taiwans Unbotmäßigkeit, so das Parteiorgan „Volkszeitung“, könne mit einer „kolossalen Katastrophe“ enden. Das Streben nach Unabhängigkeit bedeute, die eigene Kraft zu überschätzen – „so wie eine Ameise, die einen Baum umstürzen will“. Schon erwägen Militärs neue Kriegsspiele vor den Küsten Taiwans, um die ungehorsamen Brüder und Schwestern jenseits des Meeres zur Räson zu bringen. Schon 1996 hatten sie Testraketen in Richtung der Insel abgefeuert, um – vergebens – die demokratische Wahl des ungeliebten Lee zu verhindern. Die Amerikaner ließen damals zwei Flugzeugträger in Richtung Taiwanstraße dampfen. Die sollten Peking vor einer Eskalation warnen. Lee ist für die Pekinger Funktionäre seit jeher ein „Krimineller“, der in den „Mülleimer der Geschichte“ gehöre. Beseelt von der Mission, seiner Heimat eine stärkere Rolle auf der Weltbühne zu verschaffen, treibt der gelernte Agrarökonom und gebürtige Taiwaner die Genossen immer wieder zur Weißglut. „Zu erwarten, daß Lee Teng-hui, der nicht einmal weiß, was Chiin Milliarden Wirtschaft Dollar Bruttoinlandsprodukt 960,9 Devisenreserven 149,2 Handelsbilanzüberschuß 48,7 Militär Soldaten Kampfpanzer U-Boote Großkampfschiffe Kampfflugzeuge Atomraketen na darstellt, die Beziehungen zwischen den beiden Seiten der Taiwanstraße verbessern könnte, wäre so, als wollte man auf einen Baum klettern und Fische fangen“, schimpfte Pekings Parteiorgan „Volkszeitung“ bereits vor Jahren. Dabei war Lee es, der das absurde politische Ziel seiner „Kuomintang“-Partei aufgab, die „kommunistische Rebellion“ niederzuschlagen und eines Tages wieder ganz China zu regieren. 1995 verschaffte er sich eine Einladung an seine alte Alma mater, die Cornell-Universität im Bundesstaat New York, und befreite sich damit wenigstens für einen Moment aus der internationalen Isolation – „eine Leistung, so schwer wie die Reise zum Mond“, triumphierte Lee. Sein jüngster Handstreich war, wie ein Kuomintang-Insider berichtet, durch eine Sonderkommission des Präsidialamts von langer Hand vorbereitet worden. Nach zähen Diskussionen über die Zukunft Taiwans entschieden sich die Experten für das deutsche Modell: So wie die Bundesrepublik und die DDR als zwei deutsche Staaten existierten, soll es fortan auch zwei Staaten chinesischer Nation geben – mit der Option auf die Wiedervereinigung, wenn das Festland demokratisch geworden ist. Die deutsche Komponente ist offenkundig auch der Grund, warum Lee den Kurswechsel symbolträchtig in einem Interview mit der Deutschen Welle bekanntgab. Der Präsident kann auf die Stimmung unter den 22 Millionen Bürgern bauen. Kaum ein Insulaner hält die Wiedervereinigung mit China für möglich, geschweige denn für erstrebenswert. In Umfragen befürwortete die Mehrheit letzte Woche Lees Wende zur Zweistaatlichkeit. Mit seiner Initiative kann Lee mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen: Da er bei den Präsidentschaftswahlen im nächsten März nicht mehr antritt, treibt ihn die Idee, auch nach seiner Amtszeit die Fest- Ungleiche Brüder Wie stark sind China und Taiwan? 2 820 000 8800 63 53 3566 125 in Milliarden Wirtschaft Dollar Bruttoinlandsprodukt 261,4 Devisenreserven 90,3 Handelsbilanzüberschuß 10,4 Militär Soldaten Kampfpanzer U-Boote Großkampfschiffe Kampfflugzeuge Peking CHINA Quelle: EIU, IISS d e r Taipeh s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 376 000 719 4 36 529 TA I WA N 123 124 Laternenfest in Taipeh Zukunft nach deutschem Modell Besitz dieses Typs von Technologie, räsonierte die Tageszeitung „Sewodnja“, mache „die Möglichkeit eines Regionalkonflikts mit Einsatz von Massenvernichtungswaffen nicht so unrealistisch“. Rosig war das Verhältnis zwischen Festland- und Inselchinesen noch nie. Besonders blutig ging es auf Quemoy zu. Bis 1979 beschossen chinesische Truppen immer wieder die Insel. Im August 1958, immerhin fast neun Jahre nach der Flucht des Generalissimus Tschiang Kai-schek und seiner rund zwei Millionen Gefolgsleute, schlugen allein an einem Tag innerhalb von zwei Stunden 40 000 Granaten ein. Der Angriff dauerte insgesamt 44 Tage. Während der Kulturrevolution (1966 bis 1976) beschimpften sich die Kontrahenten über die Meeresenge hinweg zudem über riesige Lautsprecheranlagen. So wie sich kleine Kinder im Sandkasten Murmeln abluchsen, beschäftigen sich immer wieder Chinesische Rakete „Langer Marsch“ „Durch eigene Anstrengungen“ GAMMA / STUDIO X land-Politik Taiwans zu prägen. Sein von ihm als Nachfolger favorisierter Vize Lien Chan soll auf den neuen Kurs festgezurrt werden. „Er will ihn zu einem Punkt drängen, wo er nicht mehr zurück kann, und ihm gleichzeitig die Gelegenheit geben, Kritik auf ihn zu abzuwälzen“, sagt Antonio Chiang, Herausgeber der „Taipei Times“. Gleichzeitig hofft Lee, der Demokratischen Fortschrittspartei (DPP) das Wasser abzugraben. Die DPP, mittlerweile ärgster Rivale seiner nationalistischen Kuomintang, plädiert seit jeher für die Unabhängigkeit Taiwans. Außerdem will Lee den Parteidissidenten James Soong in die Enge treiben. Der populäre Ex-Gouverneur könnte bei den Präsidentschaftswahlen als unabhängiger Kandidat antreten. Im Gegensatz zu Lee ist Soong ein „Softie“, der die Festländer mit „Sonnenschein“-Politik milde stimmen will. Den Zeitpunkt für seine Ankündigung hat Lee bewußt gewählt: Das Verhältnis zwischen China und den USA war selten so schlecht wie in jüngster Zeit. Die Amerikaner sind wütend, weil die Chinesen angeblich wichtige Atomgeheimnisse ausspioniert haben; die Chinesen nehmen den Amerikanern die Nato-Bombardierung ihrer Botschaft in Belgrad übel. In der Stimmung des von Washington betriebenen „China-Bashing“ sieht Lee die Chance, Sympathien für Taiwan zu gewinnen. Ausgerechnet in dieser aufgeheizten Atmosphäre verkündete Staatsratssprecher Zhao Qizheng vergangenen Donnerstag, China sei in der Lage, die Neutronenbombe zu bauen. Während des Kalten Krieges sei es „logisch und natürlich“ gewesen, auch diese Waffe zu entwickeln – „durch eigene Anstrengung“, wohlgemerkt. Zhao versuchte damit den amerikanischen Cox-Report ins Lächerliche zu ziehen, der den Chinesen vorwirft, in dem Atomforschungszentrum von Los Alamos Daten über Nuklearwaffen ausbaldowert zu haben. Ob sie mit der Nachricht nicht nur Washington ärgern, sondern auch die eigenen Landsleute auf der Insel mit der Neutronenbombe bedrohen wollten, ließen die Chinesen letzte Woche bewußt offen. Sicher jedenfalls ist, daß die Genossen ihre Informationspolitik nur selten dem Zufall überlassen. Außerdem war es eigentlich unnötig, das Thema erneut aufzutischen: Peking hatte den Cox-Report bereits dementiert. Die Newsbombe von der Neutronenwaffe, die angeblich im September 1988 erstmals erfolgreich getestet worden war, verstörte Chinas Nachbarn gehörig. Peking solle von dieser Technologie ablassen, forderte ein japanischer Regierungssprecher. Russische Kommentatoren orteten eine Veränderung der militärstrategischen Lage in der gesamten asiatischen Region, auch im Blick auf das komplizierte Verhältnis zwischen Indien, Pakistan und China. Der AP Ausland Scharen von Diplomaten (und Geldgebern) allein damit, dem Rivalen diplomatische Partner abzuwerben. 1998 zog Peking etwa Südafrika, die Zentralafrikanische Republik, Guinea-Bissau und Tonga auf seine Seite. Taipeh gewann dafür die Marshallinseln, Mazedonien und Papua-Neuguinea. Beide Seiten rüsten derzeit kräftig militärisch auf. Taipeh kaufte amerikanische F-16-Kampfflugzeuge sowie französische Fregatten und Mirage-Jets, Peking erwarb jüngst russische Suchoi-Maschinen. Die Volksbefreiungsarmee stockte in den südlichen Küstenprovinzen ihr Arsenal an Kurz- und Mittelstreckenraketen von etwa 50 auf rund 200 Stück auf. Die Festländer sehen sich als Ziel einer internationalen Verschwörung durch eine Allianz aus Washington, Tokio und Seoul – mit Taiwan als einem Brückenkopf. Denn die Amerikaner erwägen, neben Japan und Südkorea auch die Insel in das „Theater Missile Defence“-System (TMD) einzubeziehen. Obwohl der Schutzschirm dieses Raketenabwehrsystems bislang nur auf dem Reißbrett existiert, fürchten die Genossen, ins militärische Hintertreffen zu geraten und den Gedanken abschreiben zu müssen, jemals Taiwan erobern zu können. Dürfe die Insel unter den Raketenschirm schlüpfen, sei dies ein „feindlicher Akt“ der Amerikaner – so „als ob wir in einem US-Bundesstaat Raketen aufstellen würden“, wütet ein Funktionär. Sollten sich nach der Lee-Initiative die Beziehungen zwischen China und Taiwan weiter verschlechtern, steht nicht nur die Sicherheit Asiens auf dem Spiel, sondern auch viel Geld. So paradox es bei all dem Säbelgerassel klingt: Beide Seiten verdanken einander ein gut Teil des wirtschaftlichen Aufschwungs. Obwohl taiwanische Geschäftsleute nach wie vor nicht direkt nach China reisen, ihre Post nur über Hongkong befördern dürfen und die Regierung immer wieder den Handel mit strengen Auflagen behindert, gehören sie mit 30 Milliarden Dollar zu den wichtigsten Investoren auf dem Festland. Seitdem die KP Ende der siebziger Jahre das Land öffnete, zieht es vor allem High-Tech-Fabrikanten wegen der billigen Löhne nach China. Auch im Handel ist das Festland inzwischen zweitgrößter Partner. Präsident Lee scheint sich durch die Drohgebärden aus Peking nicht beeindrucken zu lassen. Seine Minister und Diplomaten wies er trotzig an, den neuen taiwanischen Standpunkt offensiv in der Welt zu verbreiten. „Äußere Spannungen sind immer gut, sie führen zu innerer Einheit“, meint Journalist Antonio Chiang. Der Konflikt hat bei aller Dramatik journalistisch auch eine komische Seite: Die Deutsche Welle strahlte das LeeInterview erst mit tagelanger Verspätung aus – sie hatte seine Brisanz nicht erkannt. Andreas Lorenz IRAN „Nieder mit den Diktatoren“ E AFP / DPA s ist ein geradezu idyllisches Bild: In sen etliche Studenten getötet wurden, den Schlafsälen stehen noch die Bal- konnten die Proteste nicht unterdrücken. Im Gegenteil: Mit jedem Übergriff von kontüren offen. Auf der Wäscheleine im Park flattern Socken und Unterhosen. Milizen, Polizei und Geheimdienst wuchs Es herrscht Nordwind, eine kühle Brise in der Bevölkerung die Solidarität mit den weht aus dem Albors-Gebirge hinunter in Studenten. Zeitweilig gingen über 25 000 Staatspräsident Chatami Menschen gegen die Herrschaft der Mul- „Gesicht der Güte“ die stickige iranische Hauptstadt. Der Campus der Universität Teheran, lahs auf die Straße. Wie ein Lauffeuer erfaßte der Aufruhr Ausschreitungen nur der – vorläufige – bis vor kurzem eher bekannt als Hort angepaßter Gelehrsamkeit, liegt ruhig und auch andere Städte wie Täbris und Orumi- Höhepunkt im Machtkampf zwischen dem verlassen in der Mittagssonne. Wenn sich je im Westen, Maschhad im Osten, Rascht vergleichsweise liberalen Staatspräsidennicht zerfetzte Gardinen aus eingeschla- im Norden und Isfahan im Zentrum ten Mohammed Chatami und dem erzfungenen Fensterscheiben bauschen würden, des Landes – für den weitgehend abge- damentalistischen religiösen Führer Ajagäbe es kaum einen Hinweis darauf, daß in schotteten Gottesstaat mit seinen allge- tollah Ali Chamenei? Soviel ist sicher: Im Jahre 21 nach der den Schlafbungalows zwischen dem Insti- genwärtigen Geheimdiensten ein schier unMachtergreifung erinnert die Bevölkerung tut für Geophysik und dem Gebäude der glaublicher Volksaufstand. Nicht nur bei den eher linken Volks- die politischen Erben Ajatollah Chomeinis Ingenieurwissenschaften ein Kampf getobt hat, wie ihn Professoren seit den histori- mudschahidin, die einst gemeinsam mit in ungeahnter Schärfe daran, wofür sie schen Revolutionstagen nicht erlebt haben: den Mullahs gegen den Schah protestiert einst den Blutzoll der Revolution bezahlt 400 Polizisten und Aktivisten religiöser hatten, weckten die Parolen und die ent- hatte: für Freiheit und Gerechtigkeit, nicht Schlägertruppen hatten sich stundenlang fesselte Volkswut Erinnerungen an den für neue Tyrannei im Namen Allahs. Die meisten Iraner haben längst den bittere Schlachten mit aufgebrachten Stu- Aufstand gegen den Pfauenthron. Mudenten geliefert. Danach zogen die De- dschahidin-Führer Massud Radschawi, der Glauben an den Gottesstaat verloren, könmonstranten vom noblen Norden der Stadt den Gottesstaat mit aller Gewalt bekämpft, nen die ewigen Heilsversprechen ihrer reüber das riesige Gelände der Hochschule hörte aus dem Exil bereits die „Toten- ligiösen Führer nicht mehr hören. Vor allem die Jugendlichen, die über die Hälfte und belagerten den zentralen Enghelab- glocken für das Mullah-Regime läuten“. Sollten die schwersten Unruhen seit dem des 65-Millionen-Volkes stellen und unter Platz. Doch die Ruhe ist trügerisch, die am ver- Sturz Mohammed Resa Pahlewis 1979 dem Mullah-Regime aufgewachsen sind, gangenen Freitag in der iranischen Haupt- tatsächlich das baldige Ende der Islami- wollen sich nicht länger auf ein seliges Jenstadt herrschte. Auf dem Campus der Uni- schen Republik einläuten? Oder waren die seits vertrösten lassen, sondern fordern im versität wachen sämtliche Gattungen der Sicherheitskräfte: Studentenprotest gegen die Mullah-Führung in Teheran: „Gerechtigkeit oder eine neue Revolution“ die Pasdaran, die sogenannten Revolutionswächter, ganz normale Stadt- und Verkehrspolizei, dazu Armee-Einheiten und jede Menge Geheimagenten in Zivil. Die zahlreich patrouillierenden Sicherheitskräfte lassen die Furcht der Mullahs erahnen, daß sich jener Volkszorn jederzeit wieder Bahn brechen könnte, der Teheran so erschütterte wie zuletzt die Rebellion gegen den verhaßten Schah vor rund 20 Jahren. „Freiheit oder Tod“ hatten seit einer Woche Zehntausende von Studenten skandiert, immer wieder „Nieder mit den Diktatoren“ und „Gerechtigkeit oder eine neue Revolution“ gefordert. Selbst die brutalen Einsätze der Sicherheitskräfte, bei denen nach Angaben aus Oppositionskrei- REUTERS Countdown in Teheran: Trotz Drohungen des Mullah-Regimes wollen die Studenten ihren Kampf für größere Freiheiten fortsetzen. Religiösen Eiferern kommen Unruhen gelegen. Demonstration von Fundamentalisten: „Unser Leben gehört dem religiösen Führer“ Hier und Jetzt Aufgaben und Perspektiven. Vergebens. Die Arbeitslosenquote liegt bei schätzungsweise 30 Prozent; wer einen Job hat, ist oft unterbezahlt. Auch moralisch haben sich die Religiösen in den Augen vieler Bürger disqualifiziert. Der schiitische Klerus, der Sauberkeit und Ordnung predigt, steht mittlerweile ebenso im Ruch der Vetternwirtschaft wie einst das Schah-Regime. „Das Volk muß betteln, die Mullahs leben wie die Götter“, hallte es vergangene Woche immer wieder über den Campus der Teheraner Universität. Vor allem aber will sich die Bevölkerung nicht länger von „den Bärtigen“ bevormunden lassen. „Wir haben die Nase voll von der Zensur unserer Bücher, Filme und Bilder“, erklärt Manutschehr Mohammadi, 27, die Protestwelle. Der Generalsekretär der Nationalen Studentenunion gehört zu den Organisatoren des Aufstands und macht auch kein Hehl daraus, gegen wen sich der Zorn seiner Kommilitonen vor allem richtet: den religiösen Führer Chamenei. Wie einst der Greis Chomeini giftet auch sein Nachfolger Chamenei gegen jegliche Liberalisierung und Westöffnung. Daß etwa die TV-Satellitenschüsseln verboten wurden, mit denen Hunderttausende den Propagandaprogrammen des Staatsfernsehens entkommen konnten, haben viele Iraner noch immer nicht verwunden. In die Parole „Chamenei, schäme dich und steig vom Pfauenthron“ will aber selbst der aufmüpfige Mohammadi nicht eingestimmt haben – Kritik am religiösen Staatsoberhaupt kommt der Blasphemie gleich, und darauf steht die Todesstrafe. Die Hoffnungen auf größere Freiheiten und wahre Demokratie konnte bislang aber auch Staatspräsident Chatami nicht erfüllen. Der als „Gesicht der Güte“ gefeierte Religionsgelehrte versuchte zwar nach seinem Erdrutsch-Sieg über den Kandidaten der reformunwilligen Islamisten im Mai 1997, den eisernen Griff des Klerus zu lockern. Die Sittenwächter sollten nicht 126 mehr gleich durchgreifen, wenn Frauen auf der Straße ihr Kopftuch etwas offener tragen. Sogar die Zulassung von Parteien wurde diskutiert. Doch liberale Gesetzesinitiativen scheitern im Parlament. Dort haben die Unerbittlichen die Mehrheit, zumindest noch bis zu den Wahlen im nächsten Frühjahr. Um ihre Macht zu retten, schlagen die Extremisten um Chamenei seit Monaten jeden Ruf nach Neuerung brutal nieder, durchaus im Wortsinn. Die fundamentalistischen Schlägertruppen der „Ansar-e Hisbollah“, der Helfer der Partei Gottes, oder auch der Bürgerwehr „Bassidsch“ drangsalieren kritische Intellektuelle ebenso wie Aktivisten von laizistisch geprägten Gruppen. Strafen müssen sie nicht fürchten. Ihr Spiritus rector Chamenei kontrolliert nicht nur Justiz und Streitkräfte, sondern auch den Staatsfunk und die Sicherheitskräfte. Selbst vor Mord schrecken die Handlanger der Ultras nicht zurück. Ende vergangenen Jahres wurden fünf Regimekritiker umgebracht, darunter der bekannte Demokratie-Vorstreiter Dariusch Foruhar und dessen Frau Parvaneh. Präsident Chatami verurteilte zwar die Morde, die landesweit Entsetzen ausgelöst hatten; weil die Täter und ihre Hintermänner im dunkeln blieben, ereiferten sich aber schon damals Studentenführer: „Chatami, sag nur ein Wort, und wir marschieren.“ Aber Chatami, obzwar durch den Volkswillen legitimiert, muß aufpassen; er darf sich nicht offen gegen Chamenei stellen, sonst würde er einen Putsch der Konservativen herausfordern. Ein Konflikt zwischen dem gewählten Präsidenten und dem sakrosankten obersten Glaubenshüter würde die Grundlagen der Islamischen Republik erschüttern. Das macht den Ausgang der Protestbewegung so unberechenbar. Für die Ausschreitungen bedurfte es nur eines vergleichsweise nichtigen Vorfalls. Wie so oft hatten die Ultras am vorvergangenen Mittwoch die Schließung eines unliebsamen d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 Blattes erzwungen. Opfer der Zensur war diesmal die Tageszeitung „Salam“. Sie hatte aufgedeckt, daß der Geheimdienst als treibende Kraft hinter der kurz zuvor im Parlament beschlossenen Verschärfung des Pressegesetzes steckte. Schon diese neue Machtdemonstration der erzkonservativen Abgeordneten hatten die Studenten als Skandal empfunden. Bei ihren Protestaktionen konnten die Studenten zumindest anfangs auf die stille Sympathie des Präsidenten zählen. Pressefreiheit garantiert auch die Verfassung der Mullah-Republik, formal zumindest. Unter dem Druck der Öffentlichkeit bekundete selbst Revolutionsführer Chamenei Verständnis für die Empörung der Studenten – ein unerwarteter Rückschlag für die Radikalen im Mullah-Staat, die sich bislang der vorbehaltlosen Unterstützung ihres Mentors sicher sein konnten. Doch auch Staatspräsident Chatami haben die Studenten in Bedrängnis gebracht. Der Staatschef ist kein iranischer Gorbatschow. Seine Vorstellungen von einer „zivilen Gesellschaft“ zielen auf eine vorsichtige Öffnung des Systems, die grundsätzliche Herrschaft der Religionsgelehrten will er nicht antasten. Viele Studenten aber stellen die Macht des religiösen Führers selbst in Frage und fordern eine „andere Republik“. Dadurch zwangen sie den Präsidenten zum Schulterschluß mit seinem eigentlichen Widersacher Chamenei. Ganz im Sinne des Chomeini-Nachfolgers drohte Chatami, gegen die „Angriffe auf die Fundamente des Staates“ mit „Macht und Entschiedenheit“ vorzugehen. Mitte vergangener Woche überließen die Studenten, wohl aus Angst vor einem iranischen Tiananmen-Massaker, die Straße den Kräften der Gegenreformation. Mobilisiert vom Regime, bezeugten weit über 100 000 Menschen dem Gralshüter der Revolution in Sprechchören ihre Treue: „Unser Leben gehört dem religiösen Führer Chamenei.“ Obgleich Sondertrupps Büros der Studentenverbände stürmten und über 500 Aktivisten festnahmen, geben sich die Studenten nicht geschlagen. „Der Kampf wird weitergehen“, kündigte der Bund der Islamischen Studentenvereine neue Protestaktionen an. Und auch Studentenführer Mohammadi behauptete: „Wir lassen uns nicht einschüchtern“ – bevor er, verfolgt von seinen Häschern, verschwand. Wie viele Iraner hofft auch der Mediziner Hossein Resaji, ein Angehöriger des alteingesessenen Teheraner Großbürgertums, daß die Heißsporne unter den Studenten ihre Drohungen nicht wahrmachen. Seiner Familie habe die islamische Revolution nur Nachteile gebracht. Deshalb sei er mit dem Herzen auf seiten der Widerständler. Aber Gewalt spiele nur den Islamisten in die Hände. Resaji: „Meine Hoffnung heißt Chatami.“ Dieter Bednarz Ausland Die Unterbrechung des Friedensprozesses gefährdet Blairs größten politischen Erfolg. Der Premier will weitermachen – notfalls ohne die Nordiren. F reund und Feind im Nordirlandkonflikt hatten sich behaglich eingerichtet im protzigen Parlamentsgebäude des Stormont, hoch über der Hauptstadt Belfast. Die Londoner Regierung hatte den Volksvertretern der Krisenprovinz üppige Gehälter und großzügige Spesenregelungen eingeräumt. Die prunkvolle Umgebung bot den Abgeordneten reichlich Gelegenheit für gewichtige Selbstdarstellungen. Damit könnte es schon in dieser Woche vorbei sein. Wie streikenden Mitarbeitern eines Betriebs drohen den nordirischen Parlamentariern Gehaltskürzungen und sogar die Vertreibung aus ihrem kleinen Paradies, weil sie gegen die Grundregel des Friedensabkommens vom Karfreitag 1998 verstoßen haben: Alle wichtigen Entscheidungen müssen von den Widersachern gemeinsam getragen werden. Doch vorigen Donnerstag weigerten sich die Unionisten, die beiden großen britentreuen protestantischen Parteien, Minister für eine gemeinsame Regierung mit den katholischen Republikanern zu ernennen. Damit war die Londoner Nordirlandministerin Mo Mowlam gezwungen, das historische Friedensabkommen nur 15 Monate nach der Sinn-Fein-Chef Adams*: Unmißverständliche Botschaft Unterzeichnung zunächst außer Kraft zu setzen. Eine gemeinsame Bestandsaufnahme der Regierungen von Großbritannien und Irland soll bis zum Herbst zeigen, ob es noch Chancen gibt, das Werk zu retten. Um überhaupt Katholiken und Protestanten nach einem 30jährigen blutigen Konflikt und 3200 Toten zur Zusammenarbeit zu bewegen, hatte der britische Premier Tony Blair versucht, das Hindernis zu umgehen, an dem zuvor alle Friedensbemühungen gescheitert waren – die Entwaffnung der Terrorgruppen beider Seiten bis zum Mai des Jahres 2000. Von Anfang an hielten die Unionisten diese Regelung für ein Zugeständnis an die Terroristen der katholischen IRA. Die * Am 14. Juli im Stormont. FOTOS: AFP / DPA Zeit für Plan B hatten jahrelang versucht, abkommens zugleich deseine Vereinigung Ulsters sen Ende sei, glauben in mit der Republik Irland Nordirland nur wenige, imherbeizubomben. Trotzmerhin sind in diesem Jahr dem durften sie ihr tödlisogar die Umzüge proteches Arsenal behalten. stantischer und katholiDer designierte protescher Fanatiker friedlich gestantische Premier David blieben. Panik vor einem Trimble und seine AnhänRücksturz in die Gewalt ger bemühten sich deshalb herrscht vorerst nicht, weil nachträglich, die Entwaff- Unionisten-Führer Trimble sogar Sinn Fein versichert, nung zur Vorbedingung für trotz der Schwierigkeiten eine gemeinsame Regierung zu machen. sei der Friedensprozeß „unwiderruflich Vergebens: Unmißverständlich ließ die IRA und unzerstörbar“. Auch Tony Blair geüber Sinn-Fein-Führer Gerry Adams klar- lobte, er werde „niemals aufgeben“. stellen, daß sie allenfalls freiwillig, unter Braucht er auch nicht. Denn obwohl seikeinen Umständen aber auf Druck ihrer ne Regierung immer wieder versichert hat, Gegner, die Waffen herausrücken würde. es gebe keinen „Plan B“, falls der FrieAls „traurigen Tag“ bezeichnete Mini- densprozeß scheitere, verfügt Blair über sterin Mowlam das Scheitern der Regie- ausreichende Druckmittel, um wieder Berungsbildung. Die Euphorie, mit der die wegung in die scheinbar ausweglose SiNordiren den Friedensprozeß begleitet hat- tuation zu bringen. ten, ist dem alten Fatalismus gewichen. Beide Seiten haben erneut den Punkt erreicht, an dem bereits frühere Friedensbemühungen zu Fall gekommen waren: Ohne Aufgabe der Waffen kein Fortschritt, sagen die Unionisten; ohne Fortschritte keine Entwaffnung, entgegnen die Republikaner – nur eben nicht so höflich. Bei der entscheidenden Parlamentssitzung pöbelten die Abgeordneten einander als „Mörder“ oder „Friedensverhinderer“ an. Reverend Ian Paisley, der wortgewaltige Gegner des gesamten Friedensprozesses, bejubelte sich selber als „Mann mit der Axt“, dem es vergönnt sei, „das Untier zu erledigen“. Doch da jubelte der Gottesmann wohl zu früh. Daß die Aussetzung des Friedens- Umzug nordirischer Protestanten DPA NORDIRLAND In diesem Jahr friedlich geblieben Die Daumenschrauben des Premiers sind keineswegs auf eine Gehaltskürzung für die nordirischen Abgeordneten und die mögliche Auflösung des Stormont-Parlaments beschränkt. Die Regierungen in Dublin und London könnten den Friedensprozeß auch ohne Rücksicht auf die störrischen Nordirlandpolitiker vorantreiben. Die im Friedensabkommen geplante Reform der bislang zu protestantenfreundlichen Polizei erfordert beispielsweise nicht mehr als einen Parlamentsbeschluß in Westminster. Die große Labour-Mehrheit könnte auch das Paket von Bürgerrechtsund Gleichheitsgarantien billigen, das jede Diskriminierung von Katholiken in Nordirland endgültig beseitigen soll. Den bislang empfindlichsten Rückschlag seiner ersten beiden Amtsjahre nahm der Londoner Regierungschef nicht mit Gleichmut auf. Freunde berichten, Blair habe getobt, daß ausgerechnet Friedensnobelpreisträger Trimble ihn im Stich ließ. Zorn war auch in seinem öffentlichen Kommentar zu spüren: „Wenn diese Leute nicht lernen, einander zu vertrauen, wird es in Nordirland niemals normale Politik geben.“ Hans Hoyng 127 antwortliche und Kronzeugen serbischer Greueltaten allmählich heiß. Immer mehr „Mitwisser“ werden irgendwo tot aufgefunden. Andere wollen sich teuer verkaufen. So erkundete Multimillionär Arkan, glaubt man dem belgischen Anwalt Panik in der Gefolgschaft Pierre Chome, noch am 25. von Milo∆eviƒ: Freischärler-Chef Juni die Möglichkeit eines Arkan sucht den Absprung. straffreien Aufenthalts für die Familie Raznatoviƒ in eine Berufungen sind so vielfältig wie Belgien. Brüssel lehnte ab. seine gefälschten Pässe. Letztere wer- Gleichzeitig soll Arkan via den auf etwa 40 geschätzt. Er selbst Mittelsmänner versucht ha- Familienvater Arkan: Fußballclub für Gattin Ceca sieht sich als Zuckerbäcker, Fußballpräsi- ben, die Ankläger von Den dent und Diener seines Vaterlands. Foto- Haag zu einem Deal zu überreden: Straf- riere mit dem Wüten der von ihm dirigiergrafieren läßt sich der Vater von neun Kin- freiheit vor dem Kriegsverbrechertribunal ten paramilitärischen Einheiten und Abenteurer im Konflikt mit Kroatien um Ostdern bevorzugt in monarchistischer serbi- gegen Beweismaterial über Milo∆eviƒ. Die Philosophie des Zuckerbäckers, sei- slawonien. Dort sollen Arkans Leute auch scher Uniform, mit Säbel unterm Arm. Für Interpol zählt der 47jährige zu den nen Kopf durch Feilschangebote aus der für das Massaker an 250 Kroaten verantmeistgesuchten Kriminellen der Welt. Das Schlinge zu ziehen, basiert auf lebens- wortlich sein, die nach der Eroberung der Haager Kriegsverbrechertribunal stellte langer Erfahrung. Seit Anfang der siebziger Stadt Vukovar durch die Serben vom Kran1997 einen geheimen Haftbefehl auf ihn Jahre soll Arkan, nach einer Jugendkarrie- kenhaus per Bus auf ein Feld gefahren und aus. Denn ◊eljko Raznatoviƒ – genannt Ar- re als Taschendieb, für den jugoslawischen abgeschlachtet wurden. Im nachfolgenden Bosnien-Krieg schritt kan, „der Tiger“ – wird beschuldigt, als Geheimdienst UDBA Attentate auf Exider Para-Kommandant bereits vor TVKommandeur paramilitärischer Einheiten lanten organisiert haben. Eine kriminelle Karriere ohne Beispiel Kameras salutierend die Reihen seiner einer der brutalsten Verbrecher im Krieg gegen Kroatien und Bosnien gewesen (Arkan: „Jugendsünden, für die ich mich Freischärler ab. Die gnadenlose Vertreiheute schäme“) begann: Serienüberfälle bung der Muslime, vor allem aber seine zu sein. Auch im Kosovo-Krieg, berichten serbi- auf Banken und Juweliere, unter anderem Plünderungsfeldzüge in verlassenen Dörsche Armeedeserteure, mischte Arkans Sol- in Jugoslawien, Schweden, Holland, fern machten ihn reich. Das serbische Vaterland dankte und dateska übel mit. Gedeckt wurde der Mann Deutschland und Belgien. Immer wieder mit dem bleichen Babygesicht und den ste- wurde Arkan verhaftet – und verschwand schickte den gesuchten Bankräuber im Dechenden Augen stets von Präsident Slobo- genauso geheimnisvoll aus jeder Zelle, of- zember 1992 ins Parlament. Im folgenden dan Milo∆eviƒ persönlich. Schon 1997 klag- fenbar mit Hilfe des jugoslawischen Ge- Jahr gründete er seine eigene Partei der te US-Vermittler Richard Holbrooke öf- heimdienstes. 1978 floh er aus einem Ge- Serbischen Einheit. Ermutigt von Milo∆eviƒs Solidarität gefentlich: „Milo∆eviƒ lehnt jede Diskussion fängnis in Belgien, 1981 aus Amsterdam über den Kriegsverbrecher Arkan hart- und Frankfurt, 1983 aus der Schweizer noß Vaterlandsheld Arkan den Ruhm der Begüterten, bewacht von kurzgeschorenen Haftanstalt Thorberg. näckig ab.“ 1990 wurde der „Tiger“ in Kroatien ver- Bodyguards. 1995 heiratete er als dritte Doch seit der Schutzpatron selbst in Den Haag angeklagt wurde und sein politisches haftet. Doch die Präsidenten Tudjman und Ehefrau die Folksängerin Svetlana VeEnde näherrückt, herrscht unter der willi- Milo∆eviƒ einigten sich bereits im März li‡koviƒ – Künstlername Ceca. Bei der gen Gefolgschaft Panikstimmung. Selbst 1991 auf eine „Befreiung ohne Aufruhr“. Trauungszeremonie wurden Goldmünzen im eigenen Land wird der Boden für Ver- Kurz danach begann Arkans Patriotenkar- aus Säcken in die Schar der Gäste gekippt. Der Belgrader Fußballclub Obiliƒ, einst Milizenführer Arkan (1995): „Befreiung ohne Aufruhr“ drittklassiger Hoppelverein, wurde durch Arkans Kauf von Weltklassespielern zum Senkrechtstarter – selbst auf internationalem Rasen. Doch dann erinnerte man sich plötzlich der kriminellen Vergangenheit des Clubpräsidenten. Arkan mußte Ceca zur Nachfolgerin ernennen. Nur leider: Der Europäische Fußballverband Uefa verbannte Obiliƒ für die kommende Saison aus dem internationalen Kicker-Geschehen. Deshalb räumte Ceca mit tränenvollem Blick vergangene Woche den Vorsitz. Nun will sie nur noch singen. Im Ausland wird Ceca allerdings vorerst allein auftreten müssen. Und selbst Arkans finanzielle Pfründen, gehortet auf Geheimkonten, sind nicht mehr sicher, seit Washington intensiv danach forschen läßt. „Das alles hat mir die CIA eingebrockt“, sinniert, durch Belgrad schnürend, der „Tiger“, „die Amerikaner wollen mir das Leben versauern.“ Renate Flottau SERBIEN DPA S ZENIT / LAIF Stunde des Tigers Werbeseite Werbeseite Ausland sei so groß, tönt Barkaschow, „daß wir es nicht nötig haben, zum Terror Zuflucht zu nehmen“. Gleichwohl schürt der völkische Führer und Träger des schwarzen Karategürtels mit gezielten Schlägen antijüdische Ressentiments. Mehr als 50 Prozent des russischen Kapitals, agitiert er, seien „bei einer Gruppe von Personen jüdischer NationaDas Attentat auf einen lität konzentriert: Beresowski, Gussinski, jüdischen Funktionär in Moskau Chodorkowski, Smolenski und andere“. ist Gipfel einer Kette von Solche Parolen verfangen leicht im erst partiell demokratisierten Rußland. Gegen judenfeindlichen Anschlägen. die „Jidden“, die „ins Grab“ gehörten, hetzte im vorigen Oktober auf einer Kundgebung der General a. D. Albert Makaschow, immer noch Mitglied des Zentralkomitees der russischen KP. Nach einem weiteren provokativen Auftritt Makaschows im Februar im südrussischen Nowotscherkassk („Wenn 80 Prozent der Medien in den Händen von Semiten sind, werden wir Antisemiten und werden siegen“) prüfte die Staatsanwaltschaft in Rostow am Don, ob der General zum Völkerhaß aufstachele – im März stellte sie das Verfahren ein. Nach öffentlichem Druck distanzierte sich KP-Chef Gennadij Sjuganow von dem Scharfmacher, nahm ihn persönlich ins Gebet und versicherte danach im Parlament, es werde von Makaschow „weitere solche Aussagen nicht geben“. Daran hat sich der poltrige Parteisoldat gehalten. Doch Wladimir Gussinski, Präsident des Kongresses der jüdischen Gemeinden Rußlands und Medienzar, macht Rechtsradikale in Moskau: „Wir werden euch alle abstechen“ die Kommunisten für die Moskauer Bluttat mit verantworter schlanke junge Mann mit Brille, Gotteshaus im fernöstlichen lich. Die KP-Führung, wettert der am vorigen Dienstag, mittags Birobidschan die Scheiben ein. Gussinski, habe eine „antisegegen ein Uhr, das Gebäude der Im August 1996 plazierten Atmitische Hysterie“ provoziert, Synagoge in der Spassoglinischtschowski- tentäter eine 300-Gramm-TNTderen Folge das Attentat auf Gasse in Moskau betrat, weckte keinen Sprengladung bei der neuen Kaimowski sei. Verdacht. Doch Nikita Kriwtschun, 20, Synagoge im Moskauer MariSolche Vorwürfe weist GenJurastudent der Akademie für Arbeit und enwäldchen, im Mai 1998 folgnadij Sjuganow, im Westen soziale Beziehungen, wollte weder die te ein Bombenanschlag. Drei bemüht um das Image eines Bibliothek nutzen noch über religiöse Fra- Menschen wurden verletzt. Sozialdemokraten, weit von Die Täter konnten nicht gegen diskutieren. sich. Seine Partei, beteuert Er marschierte stracks in die dritte Eta- faßt werden. Am Mittwoch, so der KP-Führer, sei „für Völkerge, wo sich die Räume des Jüdischen Kul- der Moskauer Oberrabbiner Leopold Kaimowski freundschaft und kategorisch turzentrums befinden. Dort zückte er ein Adolf Schajewitsch, habe er Jagdmesser, stürzte sich auf Leopold Kai- den anonymen Anruf eines jungen Mannes gegen jede Erscheinung des Nationalismus mowski, 52, den Wirtschaftsdirektor des erhalten, der weitere Anschläge angekün- – sowohl Russophobie als auch AntisemiZentrums, stach mehrmals zu und rief: digt und sich als Anhänger der „Bar- tismus“. Doch ein „russisches Gesicht“, sagte er kaschowzen“ ausgegeben habe. „Wir werden euch alle abstechen.“ Gemeint sind die uniformierten Kämp- unlängst, sei im russischen Fernsehen eine Mit lebensgefährlichen inneren Verletzungen wurde Kaimowski ins Krankenhaus fer der Russischen Nationalen Einheit Seltenheit. Er rühmte Stalin, der „die alte abtransportiert. Noch nach zwei Tagen be- (RNE) des Moskauer Karatelehrers Alex- Garde von professionellen Russophoben fanden Ärzte seinen Zustand als ernst. ander Barkaschow, 45. Dessen Organisa- und Christusbekämpfern auseinandergeKriwtschun, von einem Wachmann über- tion, landesweit schätzungsweise 10 000 jagt“ habe. Die chauvinistische Wochenzeitung wältigt, wird in der Haft auf seinen Gei- Mann stark, ist in der Hauptstadt nach eisteszustand untersucht, die Staatsanwalt- nem von Oberbürgermeister Jurij Lusch- „Sawtra“ verlieh Makaschow im Dezemkow erwirkten Gerichtsurteil vom April ber denn auch einen „Stalin-Preis“. Das schaft ermittelt wegen Mordversuchs. Kampfblatt warnt unermüdlich vor dem Die Bluttat ist der bislang brutalste Ge- verboten. Barkaschow tritt zu den Parlaments- „furchtbaren Feind Rußlands, dem Zioniswaltakt, den von Judenhaß getriebene Täter in den letzten Jahren in Rußland be- wahlen im Dezember ganz legal mit ei- mus“. Zu den Autoren gehört auch RNEgangen haben – seit dem Zerfall der So- nem „Nationalen Block“ an, der für die Chef Barkaschow. Auf die Frage, ob er wjetunion, in der die Geheimpolizei KGB „nationale Wiedergeburt“ Rußlands trom- Antisemit sei, sagte er: „Ich weiß gar nicht, antisemitische Umtriebe verfolgte und, melt. Der Zulauf zu den Nationalisten was das ist.“ Uwe Klußmann RUSSLAND P. KASSIN Furchtbarer Feind doppelbödig, zugleich „antizionistische“ Ressentiments nährte. Trotz eines latenten Antisemitismus sind die gerüchteweise wiederholt mit Datum angekündigten Pogrome ausgeblieben, doch ein harter Kern von Judophoben hat sich radikalisiert. Seit 1993 attackierten Antisemiten in mehr als hundert Fällen Synagogen oder jüdische Kulturzentren, schändeten Friedhöfe. So verwüsteten unbekannte Täter im März eine Synagoge in Nowosibirsk, im Mai warfen Rabauken einem jüdischen AP D 130 d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Ausland Ein Königreich in der Wüste an der Schwelle zur neuen Zeit 왗 Der Staatsgründer Ölreichtum 왘 Abd el-Asis eroberte den Kern der Arabischen Halbinsel unter dem Banner des Wahhabismus (Rückbesinnung auf den Ur-Islam) und gründete 1932 das Königreich Saudi-Arabien. SIPA PRESS GAMMA / STUDIO X Der Machthaber 왘 König Fahd (r.), ein Sohn des Staatsgründers, regiert seit 1982. Nach ihm soll Kronprinz Abdullah (l.) die Herrschaft übernehmen. bescherte den 20 Millionen Saudiarabern anhaltenden Wohlstand. Der Staat garantierte kostenlose Ausbildung bis zur Universität und freie medizinische Versorgung. Gastarbeiter halten die Wirtschaft in Gang. Angesichts fallender Ölpreise bröckelt die Überflußgesellschaft. S AU D I - A R A B I E N „Frischer Wind muß wehen“ Prasserei der Herrscherfamilie, hohe Arbeitslosigkeit und eine fundamentalistische Opposition, die den Thron hinwegfegen will – nur schnelle Reformen, glaubt Prinz Talal Ibn Abd el-Asis, können den Fortbestand des Ölreichs sichern. 134 SPIEGEL: Warum schottet sich Saudi-Arabi- en derart von der Außenwelt ab? Prinz Talal: Wir haben eine sehr junge Ge- B. BARBEY / MAGNUM / AGENTUR FOCUS SPIEGEL: Prinz Talal, in Jordanien bestieg der junge König Abdullah den Thron, in Syrien bereitet Staatschef Hafis el-Assad seinen Sohn Baschar auf die Machtübernahme vor. In Saudi-Arabien hingegen ist der potentielle Thronfolger, König Fahds Halbbruder Abdullah, schon 76 Jahre alt. Wäre nicht auch in Riad ein Generationswechsel an der Spitze fällig? Prinz Talal: Was sich derzeit in manchen arabischen Staaten vollzieht, finde ich durchaus fortschrittlich. Die Herrscher, die einen Generationswechsel fürchten, glauben nicht an einen modernen Lebens- und Führungsstil. Statt an die Zukunft ihres Volkes zu denken, klammern sie sich an ihre eigene Macht. SPIEGEL: In der Herrscherfamilie sind Sie bislang der einzige, der sich für eine Verjüngung an der Staatsspitze ausspricht. Prinz Talal: Als Mitglied der Königsfamilie ist es meine Pflicht, die Kontinuität unserer Herrschaft zu sichern. Dafür aber müssen wir der jungen Generation den Weg an die Macht ebnen, ihr Gelegenheit geben, Verantwortung für die Zukunft zu übernehmen. Wir müssen die Fenster aufstoßen, damit ein frischer Wind durch unser Herrscherhaus weht. Und dies muß sofort geschehen, denn wir dürfen uns nicht von der Welt isolieren. SPIEGEL: Welche Reformen sind unausweichlich? Prinz Talal: Wir leben in einer Phase des blitzschnellen, weltweiten Informationsaustauschs. Die Ausübung von Zensur paßt nicht mehr in diese Zeit. Talal Ibn Abd el-Asis zählt zu den aufgeschlossensten der über 40 Söhne des Staatsgründers Abd el-Asis. 1960 wurde Prinz Talal zum stellvertretenden Ministerpräsidenten ernannt, erregte mit seinen Reformvorschlägen jedoch den Unwillen des Königs; er mußte die Regierung verlassen und für Jahre ins Exil gehen. Heute engagiert sich Talal, 68, der sich mit der Herrscherfamilie wieder ausgesöhnt hat, vorwiegend für soziale Projekte, unter anderem beim Kinderhilfswerk Unicef. Auch als Ratgeber in Riad ist der Prinz gefragt. d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 schichte. Vergessen Sie nicht, daß vor der Entstehung des Königreichs auf der arabischen Halbinsel Stammesfürsten herrschten, die absolut tun und lassen konnten, was sie wollten. Es war mein Vater, Abd elAsis, der aus diesen Stämmen eine Gemeinschaft formte. Das war ein gewaltiger Entwicklungsschritt. Später hat König Fahd dann verfügt, daß für die Thronfolge nicht nur das Alter entscheidend ist, sondern auch die Befähigung. SPIEGEL: Das Herrscherhaus steht bei der Diskussion um die Nachfolge Fahds unter Zeitdruck. Der König ist schon 76 und gilt als schwer krank. Prinz Talal: König Fahd ist weder durch Krankheit noch sonstwie verhindert, seine Amtsgeschäfte zu führen. Von dem schweren Leiden, das ihn 1995 befallen hatte … SPIEGEL: … Sie meinen König Fahds Schlaganfall und Zuckerkrankheit? Prinz Talal: Das will ich nicht kommentieren. Wichtig ist nur, daß der König fast geheilt ist. Erst vor wenigen Tagen noch bin ich mit ihm in Riad zusammengetroffen, und er hat mit mir rege diskutiert. Aber es stimmt, daß er seinem Halbbruder und Thronfolger Abdullah viele Aufgaben übertragen hat. SPIEGEL: Droht nach dem Tode von König Fahd ein blutiger Machtkampf um den Thron? Prinz Talal: Kronprinz Abdullah ist als politischer Erbe unumstritten. Langsam aber L. v. d. STOCKT / GAMMA / STUDIO X Mekka 왘 zieht als höchstes Heiligtum des Islam Jahr für Jahr Millionen Gläubige an. Während der Hadsch brachen 1979 und 1987 politisch motivierte Unruhen aus: Pilger attackierten die saudische Regierung wegen Korruption und ihrer engen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten. PACIFIC PRESS SERVICE müssen wir ernsthaft darüber nachdenken, wie ein friedlicher Machtwechsel auch in Zukunft garantiert werden kann. Zwar haben wir ein Gesetz, das in seinem ersten Paragraphen festschreibt, daß der Thronfolger „ausgewählt und ernannt“ wird. Aber die Regelung birgt Konfliktstoff, weil nicht klar ist, wer den Thronfolger ernennen und auswählen darf. SPIEGEL: Ihr Sohn Walid, der als erfolgreicher internationaler Geschäftsmann durch Beteiligungen an Luxushotels und Euro Disney bekannt geworden ist, kritisiert gleichfalls, daß die Thronfolge nicht eindeutig geregelt ist. Steckt hinter dieser deutlichen Kritik ein versteckter Anspruch auf die Nachfolge Fahds? Prinz Talal: Nein, weder mein Sohn noch ich sind Thronkandidaten. Ich sorge mich nur um den Erhalt unserer Macht. SPIEGEL: Während sich die Prinzen weiterhin ein Luxusleben leisten, steigt der Unmut in der Bevölkerung, die den wirtschaftlichen Niedergang durch den Verfall des Ölpreises in den letzten Jahren zu spüren bekommt. Allein unter den 25jährigen, die über die Hälfte der Bevölkerung stellen, herrscht eine Arbeitslosigkeit von 35 Prozent. Prinz Talal: Das ist ein großes Problem, das wir schleunigst bewältigen müssen. Doch zum einen haben wir keine Beschäftigungsmöglichkeiten wie Industrie, Landwirtschaft oder Tourismus. Zum anderen studieren unsere jungen Menschen eher Fächer wie Literatur oder Theologie. Was wir jedoch brauchen, sind Ärzte, Techniker, Wissenschaftler. SPIEGEL: Für Dienstleistungen sind sich Ihre Landsleute offensichtlich zu schade. Sie überweisen jährlich etliche Millionen USDollar an ausländische Arbeitnehmer, vorwiegend Asiaten, die sich bei Ihnen als Kindermädchen, Dienstboten oder Handwerker verdingen. Prinz Talal: Sicher könnten wir viele Stellen schaffen, schon allein, wenn wir nur alle Chauffeure in ihre Heimat zurückschickten – allerdings müßten wir dann zuvor den saudiarabischen Frauen erlauben, ihre Autos selbst zu fahren. SPIEGEL: Ist dieses Fahrverbot für Frauen ein Tribut an die islamistische Opposition, die das Königshaus am liebsten hinwegfegen möchte? Prinz Talal: Ich will hier nicht sagen, warum wir diese Regelung beibehalten. Es gibt Tabus, an die ich nicht rühren kann. SPIEGEL: Fürchtet das Herrscherhaus den Verlust seiner Macht, wenn es sich den Forderungen der Fundamentalisten widersetzt? Prinz Talal: Wir werden die Macht behalten, solange die Bürger überzeugt sind, daß sie bei uns in guten Händen sind. Voraussetzung ist allerdings, daß alle Bürger, egal welchen Geschlechts und welcher Herkunft, vor dem Gesetz gleich sind. Auch müssen wir ihnen erlauben, ihre Meinung frei zu äußern, und wir müssen ihnen eine Beteiligung an den Entscheidungen des Staates garantieren. SPIEGEL: Wären politische Parteien dafür nicht hilfreich? Prinz Talal: Wir sind noch immer eine Stammesgesellschaft, die für politische Parteien nicht reif ist. SPIEGEL: Ihre Nachbarn am Golf sind da schon weiter. In Kuweit gibt es bereits ein d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 Parlament; in vier Jahren dürfen dort auch die Frauen wählen. Katar, Oman und Bahrein sind gleichfalls fortschrittlicher. Prinz Talal: Ich begrüße sehr die demokratische Entwicklung in Kuweit. Das ist ein großer Schritt voran. Doch auch unsere Gesellschaft ist nicht immun gegen das Virus der Demokratie und des Fortschritts. Die ersten Viren haben sich bei uns sogar schon verbreitet, das kann ich regelrecht spüren. SPIEGEL: Fürchten Sie, daß Liberalisierungsmaßnahmen das Königshaus weiter in die Schußlinie der religiösen Betonköpfe bringen? Prinz Talal: Ich will mit meinen Vorschlägen nicht dem Koran, den Worten Gottes und seines Propheten, widersprechen. Alle Reformen, die wir anstreben, müssen im Einklang stehen mit der Scharia, dem islamischen Recht. Doch es gibt hervorragende muslimische Aufklärer, die den Koran modern interpretieren. Die Islamisten aber wollen uns mit Gewalt ins Mittelalter zurückwerfen. SPIEGEL: Glauben Sie, daß die Herrscherfamilie den Richtungskampf zwischen westlich geprägten Reformern und religiösen Fanatikern politisch überstehen wird? Prinz Talal: Wir leben in einer orientalischen Gesellschaft, an deren Spitze immer ein „Sajjid“, ein Herrscher, stand. Und die Herrscher werden ihre Macht nicht aus der Hand geben. Interview: Adel S. Elias 135 Ausland ARGENTINIEN Ende der Party Unmittelbar vor Präsident Menems Abgang versinkt das Land in sozialen Unruhen und in einer tiefen Rezession. W Nachfolgekandidaten de La Rúa, Duhalde Platzhalter für den Vorgänger? Depressionen“ verfallen, berichten seine Freunde. Der nahende Verlust der Macht nagt an „El Jefe“, wie ihn seine Anhänger immer noch ehrfürchtig nennen. Dabei ist ihm ein Platz in den Geschichtsbüchern sicher: Kein Präsident Argentiniens hat so lange ununterbrochen 136 AP AP AFP / DPA ird der Papst ein Wort an höchster Stelle für Argentinien einlegen? Eduardo Duhalde, Präsidentschaftskandidat der Peronisten bei den Wahlen im Oktober, reist diese Woche nach Rom. Der Vatikan soll den Südamerikanern bei Gesprächen mit ihren Gläubigern über die Auslandsschulden beistehen. Zweifel an der Zahlungsfähigkeit hatten vergangene Woche die Börsen ganz Lateinamerikas erschüttert. Dabei galt Argentinien bislang als Darling unter den Schwellenländern. Jetzt spekulieren einige sogar auf eine Abwertung des Pesos, der im Verhältnis 1:1 an den Dollar gekoppelt ist. Der feste Wechselkurs, als Bollwerk gegen die Inflation gefeiert, verteuert die Produkte Argentiniens auf dem Weltmarkt. Ein halbes Jahr vor dem Regierungswechsel versinkt Argentinien in einer tiefen Rezession. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 14,5 Prozent, Streiks und soziale Unruhen erschüttern das Land. Erstmals herrscht Hunger in den Armenvierteln. Heerscharen von Bettlern bevölkern die Straßen der Hauptstadt. Auch die Kriminalität hat dramatisch zugenommen: Buenos Aires, einst die sicherste Stadt Lateinamerikas, ist heute so gefährlich wie jede beliebige Metropole der Region. Taxifahrer berauben Fahrgäste mit vorgehaltener Waffe. Gangster mit Maschinenpistolen überfallen die Restaurants des vornehmen Viertels Recoleta. Dem Präsidenten entgleitet zunehmend die Kontrolle. Carlos Menem sei in „tiefe „Sein Verhalten ist schamlos angesichts des Elends im Lande“, sagt Sylvina Walger, Autorin eines Bestsellers über die Menem-Ära. In seiner ersten Amtszeit hatte sich kaum jemand über Menems Eskapaden erregt. Der einstige Provinz-Caudillo, der quasi aus dem Nichts an die Macht marschierte, verkörperte den Aufstieg der Neureichen. Argentinien unter Menem – das war eine scheinbar endlose Party mit dem Präsidenten als Gastgeber. Er posierte mit Claudia Schiffer, den Rolling Stones und Alain Delon. Er erwarb einen Ferrari, ließ in seiner Residenz Los Olivos Golf- und Tennisplätze anlegen und kaufte ein mit allen Schikanen ausgestattetes Präsidentenflugzeug. Besondere Attraktion des Fliegers „Tango Uno“: ein weinrotes Plüschbett im KingsizeFormat. Ein hofeigener Friseur, Stylisten und Schönheitschirurgen trimmten ihn auch äußerlich zum Staatsmann: Sie stutzten die buschigen Koteletten, strafften seine Gesichtszüge und halfen mit Transplantationen, die Haarpracht zu bewahren. Der Schönheitschirurg wurde zur Symbolfigur der Menem-Ära. Walger: „Wer etwas auf sich hielt, mußte unPräsident Menem: Eskapaden des Tango-Tänzers ters Messer.“ Die europäisch geprägte alte Elite des regiert – zehn Jahre. Alles hatte er drangesetzt, um noch einmal anzutreten. Er Landes rümpfte zunächst die Nase über versuchte, die Verfassung zu ändern, die den Parvenu. Doch Menem überzeugte sie mehr als zwei aufeinanderfolgende Man- mit einer neoliberalen Roßkur, die kein date verbietet, nahm die Spaltung seiner Präsident vor ihm gewagt hatte. Er beenPartei in Kauf und verschleppte wichtige dete die Hyperinflation, stabilisierte die Währung und öffnete die Wirtschaft. Reformen. Außenpolitisch suchte er die AussöhDoch die Peronisten kürten den mächtigen Gouverneur der Provinz Buenos Aires, nung mit London und den Schulterschluß den „zweitwichtigsten Mann im Land“ mit Washington. Er spielte Tennis mit („La Nación“), zum Kandidaten. Duhalde George Bush und tanzte Tango mit Hillary wurde zu Menems Intimfeind. „Der Präsi- Clinton. Argentinien, so gaukelte er seinen Landsleuten vor, sei endlich in der Erdent unterstützt mich nicht“, klagt er. Menem, 64, setzt kaum verhohlen auf ei- sten Welt angekommen. Aus seiner Verachtung für die demokranen Sieg der bürgerlichen Opposition. Mit deren Kandidat Fernando de la Rúa hätte tischen Institutionen machte er indes nie er im Jahr 2003, wenn er wieder antreten ein Hehl. Er regierte oft per Dekret und darf, ein leichteres Spiel als mit dem Wi- manipulierte die Justiz. Gleichzeitig blühte die Korruption. Nahezu die gesamte dersacher aus den eigenen Reihen. Im Kopf-an-Kopf-Rennen mit Duhalde Entourage des Präsidenten ist in Skanhat de la Rúa derzeit die Nase vorn. Der dale verwickelt. „Menem hat ein schamlospröde Bürgermeister von Buenos Aires ses Verhältnis zur Macht“, sagt Autorin gilt zwar als Langweiler. Doch nach dem Walger. Für „El Jefe“ steht fest, daß er im Jahr frivolen Regierungsstil Menems kommt das 2003 in die Casa Rosada zurückkehrt. einer Auszeichnung gleich. Mehr denn je ist der Präsident der so- „Auch Perón hat nie daran gedacht, die zialen Realität entrückt. Er pflegt einen Macht aufzugeben“, zitiert Carlos Menem aufwendigen Lebensstil, reist gern ins Aus- sein Vorbild. „Ich bin sein treuester land und empfängt Popstars und Models. Schüler.“ Jens Glüsing d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 Unter permanenter Lebensgefahr TÜRKEI Müder Mehmet A bends um halb acht gehen über Tunceli die Scheinwerfer an. Zuerst wird der Felsen im Norden der Stadt ins Flutlicht getaucht, dann folgen die beiden Berge im Osten. Kurz nach neun Uhr strahlt die ganze Stadt wie ein Christbaum. Früher sind im Schutz der Dunkelheit kurdische Rebellen nach Tunceli eingesickert, heute wären sie chancenlos: Die Armeeposten registrieren jeden Hasen, der sich in den Talkessel der Provinzhauptstadt in Türkisch-Kurdistan verirrt. Tunceli ist die am schärfsten bewachte Stadt der Türkei. Nach offizieller Sprachregelung ist es „ein Konflikt von minderer Intensität“, der die massive Armeepräsenz in dieser idyllischen Gebirgsprovinz nötig macht. Tatsächlich geht von hier seit 15 Jahren der Pulsschlag einer Rebellion aus. Unter Rekruten der türkischen Armee gilt ein Marschbefehl nach Tunceli als Himmelfahrtskommando. Von allen Fronten des Kurdenkriegs sind die Täler des Munzur- und des Pülümür-Flusses die gefährlichsten. Schwer traumatisierte Tunceli-Veteranen berichten von brutalen PKK-Anschlägen und ebenso brutalen Gegenattacken der türkischen Armee, von Massenerschießungen, Verstümmelungen toter Rebellen und der planmäßigen Zerstörung kurdischer Dörfer. 157 000 Einwohner zählte die Provinz vor Beginn des Kurdenaufstands Anfang der achtziger Jahre. Bei der Volkszählung 1997 waren es noch 86 000. Der Exodus der Zivilbevölkerung hält bis heute an. ri s Tig In 15 Jahren Krieg brachte Ankara eine ganze Kurden-Generation gegen sich auf. Jetzt hat das Parlament die Chance zum Einlenken. AP Militärpatrouille bei Tunceli Nach 15 Jahren Bürgerkrieg ist das Land dort angekommen, wo es Anfang der neunziger Jahre schon einmal stand: Die offizielle Anerkennung der „kurdischen Realität“ könnte unmittelbar bevorstehen. Auf diese Formel hatte sich die Regierung des einstigen Präsidenten Turgut Özal geeinigt. Özal, selbst kurdischer Abstammung, starb im April 1993. Vier Wochen später machte ein Anschlag auf 33 unbewaffnete Rekruten die Hoffnung auf eine politische Schwarzes Meer Siedlungsgebiete Lösung zunichte. der Kurden Was Özal von seinen Vorgängern und Nachfolgern unARMENIEN Tunceli terschied, war seine für einen türkischen TÜRKEI Zivilpolitiker ungewöhnliche Selbständigkeit gegenüber der allmächtigen Armee. Bingöl Ob die seit Ende Mai amtierende RegieIRAN rung des Ministerpräsidenten Bülent Ecevit die gleiche Standfestigkeit aufbringen Diyarbakir kann, ist allerdings fraglich. Zwar regiert der sozialdemokratische Patriot mit einer parlamentarischen Rekordmehrheit von S Y R I E N Euph rat 351 Stimmen. Doch kaum jemand traut der IRAK Koalition den Willen zu, das blutigste Ka100 km pitel der türkischen Geschichte politisch zu beenden. Dabei bietet ausgerechnet das TodesurIn Tunceli seien „Dinge passiert, die nicht gewollt waren“, sagte Staatspräsident teil gegen Öcalan dafür eine Chance. Die Süleyman Demirel vergangene Woche ei- Verfassung gewährt dem Parlament das ner verblüfften Besuchergruppe aus der letzte Wort über das Schicksal des umkämpften Region. Nun gehe es darum, PKK-Chefs; damit gibt sie den gewählten die Vertriebenen zurückkehren zu lassen. Volksvertretern die seltene Gelegenheit, In der Sache hat er damit bestätigt, was die Initiative vom militärisch dominierten auch der Rebellenführer Abdullah Öcalan Nationalen Sicherheitsrat für die zivilen während seines Prozesses bis zur Er- Instanzen zurückzugewinnen. Die Armee würde eine politische Löschöpfung wiederholte: Der türkische Staat habe in seinen Südostprovinzen jah- sung des Kurdenkonflikts vermutlich sorelang nur „Unerbittlichkeit und Härte“ gar begrüßen. Anders als die gut bezahlten gezeigt und die Glut der Rebellion damit Polizeikräfte, die im türkischen Südosten immer aufs neue angefacht. Die Vision ei- Dienst tun, sind viele Rekruten den gefährlichen Einsatz im Kurdennes Kurdenstaats, gab Öcalan gebiet leid. Mehmetçik („der zu, sei zwar unrealistisch gekleine Mehmet“), wie der einwesen, aber: „Gebt den Kurfache Soldat der türkischen Arden ihre Sprache und ihre mee genannt wird, ist müde. Würde zurück, und ihr seid Noch düsterer sieht die Biden Aufstand los.“ lanz auf der Gegenseite aus. Jeder Geschäftsmann, jeder Der türkische Staat hat eine Handwerker, jeder Tagelöhganze Generation junger Kurner in Tunceli würde diese den in die Entfremdung geAussage des zum Tode verurtrieben. Die meisten von ihnen teilten PKK-Chefs unterschreifristen ein bitteres Dasein in ben. Jahrelang hatten Historiden Slums der türkischen Meker und Menschenrechtler das Kurdenführer Öcalan tropolen. Wer das Stigma des gleiche gesagt. Jahrelang waren sie von Ankara dafür gerichtlich ver- Geburtsortes Tunceli in seinem Ausweis folgt worden. Nun sprach der leibhaftige stehen hat, sieht zu, daß er noch weiter Staatsfeind die magischen Worte – und auf weg kommt. „Ich habe fünf Kinder“, sagt der pensioeinmal scheinen sich auch kompromißlose Nationalisten mit dem Offensichtlichen ab- nierte Lkw-Fahrer Hikmet Ulusoy, „meine zufinden. „Die Türkei“, schrieb wenige Tochter lebt in Istanbul, zwei Söhne sind in Tage vor Öcalans Verurteilung ein Kolum- die Schweiz gezogen, die anderen beiden nist, „muß einsehen, daß die Kurden auf nach Deutschland. Sie sind nie wieder zurückgekommen.“ ihrem eigenen Boden leben.“ Bernhard Zand d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 137 Bauarbeiten an der Øresund-Brücke: „Das Herz von Europa rückt immer dichter nach Norden“ dikale Erneuerung“ des skandinavischen Verkehrsnetzes, es könnte für den gesamten Ostseeraum „eine kleine Revolution“ bedeuten, so zumindest die Hoffnung der beteiligten Regierungen. Mit der Øresund-Region, wie die offizielle Bezeichnung für die Küstenabschnitte Ein gigantisches Bauwerk, die feste Verbindung zwischen zu beiden Enden der Brücke lautet, wird Dänemark und Schweden, soll den Ostseeraum zu zum erstenmal ein grenzüberschreitender Wirtschafts- und vor allem Wissenschaftsneuer Blüte führen – eine moderne Renaissance der Hanse. und Forschungsstandort gemeinsam veriels Helveg Petersen, 60, ist in Die fast 16 Kilometer lange Verbindung marktet und auf einen Schlag an europäiseinem Leben viel herumgekom- von Kastrup im Süden Kopenhagens nach sche Metropolen wie Paris, London und men. Zum Studium zog es ihn bis Lernacken vor den Toren Malmös besteht Moskau herangeführt. Politiker und Wirtschaftsbosse träumen nach Kalifornien, beruflich unter anderem aus einem Tunnel (4,050 Kilometer), der nach Brüssel. Und als Politiker bereiste künstlich aufgeschwemmten Insel Peber- bereits von einer „Renaissance des Oster in diplomatischer Mission schon die holm (4,055) sowie einer Hochbrücke seeraums und einer neuen Hanse“, so der halbe Welt. (7,845). Das Ganze gilt neben der 1998 ein- Kieler Europaminister Gerd Walter. Der Nur über die schmale Meerenge vor der geweihten Brücke über den Großen Belt mittelalterliche Städte- und Kaufmannseigenen Haustür, den Øresund zwischen als derzeit beispiellose Ingenieurleistung. bund, im 12. Jahrhundert über den einträglichen Ostseehandel Kopenhagen und Malmö, hat es der däniZum 1. Juli kommenden mit Heringen und Stocksche Außenminister bislang nicht geschafft. Jahres – fast sechs Monate fisch entstanden, umfaßte „Ich bin noch nie ein Wochenende nach vor der Zeit – sollen die zu seiner Blütezeit im Südschweden gefahren“, sagt der Chef- vierspurige Auto- und die 14. Jahrhundert über 100 diplomat. Der Aufwand für die Fahrt quer doppelgleisige Bahntrasse, größere und kleinere Städdurch die Stadt zum Hafen Dragør sowie die zum Teil zweistöckig te und Seehäfen – von Lüdas Warten und Einschiffen auf die nur im verlaufen, für den Verkehr beck bis Reval, von BerStundentakt verkehrende Autofähre freigegeben werden. Begen bis Nowgorod. schreckten ihn ab, obwohl das Speedboot reits am 14. August wird Tatsächlich leuchtet die kaum mehr als 30 Minuten für die eigent- das letzte Brückenteilstück Zukunft am „Meer der liche Überfahrt braucht. eingehängt. Dann ist die Träume“ (der britische Das Versäumte will er demnächst nach- Heimat der Elche vom „Economist“) nach jahrholen. Den Weg für Kurztrips zu neuen zentraleuropäischen Festzehntelanger Stagnation Ufern macht ein imposantes Bauwerk frei: land aus erstmals ohne überaus rosig. Seit dem Fall Die erste feste Ostseequerung vom däni- Fähre erreichbar. des Eisernen Vorhangs schen zum schwedischen Festland soll die Das rund fünf Milliarrückt das baltische Meer Fahrtzeit von Zentrum zu Zentrum auf den Mark teure Bauwerk wieder in die Mitte Euro20 Minuten verkürzen. bringt nicht nur eine „ra- Minister Helveg Petersen OSTSEE Meer der Träume FOTOS: H. SCHWARZBACH / ARGUS N 138 d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 Ausland künftig mit Unternehmen der Pharma-, Bio- und Medizintechnologie; das Label „Medicon Valley“ zeigt, wohin der Ehrgeiz geht. Die wissenschaftliche Begleitung übernimmt die Medicon Valley Academy, ein virtuelles Bündnis akademischer Fachbereiche und Forschungsstellen zwischen Malmö, Roskilde und Helsingborg. Zentraler Brückenkopf der neuen Boomregion wird nach dem Willen der Planer der umund ausgebaute Flughafen Kopenhagen-Kastrup. Nach AbTunnelarbeiten im Øresund: „Kleine Revolution“ schluß der Arbeiten sollen sich Helsinki hofft, neben seiner strategi- binnen zehn Jahren die Passagierzahlen schen Bedeutung zum großen Nachbarn auf jährlich 20 Millionen verdoppeln. Der Rußland auch vom Wirtschaftsboom in den Airport wäre damit nicht nur das bedeubaltischen Ländern oder dem Austausch tendste Luftkreuz Skandinaviens, sondern mit St. Petersburg zu profitieren. Ein spe- zugleich auch unmittelbare Konkurrenz zieller Aktionsplan der EU zur Zusam- für Hamburg oder Berlin. Dort sehen die eroberungserprobten menarbeit in Umweltfragen oder bei der Erdgasförderung soll die „nördliche Di- Skandinavier nach bester Wikinger-Tramension“ der Europapolitik unter finni- dition auch ihre wahren Perspektiven. Nicht mehr die nordischen Bruderlänscher Ratspräsidentschaft ausbauen. Am weitesten sind die Planungen der der, sondern Mittel- und Osteuropa gelDänen und Schweden gediehen. Die Øre- ten als das eigentliche Ziel ihrer Expansund-Region mit insgesamt 3,2 Millionen sion. „Berlin und Warschau sind die nächEinwohnern katapultiert den Wirtschafts- sten Hauptstädte zu Kopenhagen, nicht standort, gemessen am Bruttoinlandspro- Oslo oder Stockholm“, stellt Außenminister Helveg Petersen fest. Seine Kabidukt, europaweit auf Platz acht. 14 Hochschulen beiderseits des Sundes nettskollegin bekräftigt: „Es gibt nur zwei bilden künftig einen Wissenschafts- und For- Plätze in Europa mit einer faszinierenden schungsverband, der zu den Topadressen Entwicklung“, so Pia Gjellerup, „Berlin Europas gehört. Der Zusammenschluß zur und den Øresund. Und wenn der große Øresund University mit gemeinsamem Dok- Bruder mit der kleinen Schwester spielen torandenprogramm und wissenschaftlicher soll, muß die ihm auch was bieten.“ Das haben inzwischen auch die nordNachwuchsförderung umfaßt akademische Institutionen wie die Traditionsuniversität deutschen Nachbarn erkannt. Der HamLund, die mit über 30000 Studenten größ- burger Hafen verlagert Umschlagkapate Lehranstalt Skandinavi- zitäten nach Lübeck, um sich als „Hafen an ens, oder in Kopenhagen zwei Meeren“, mit Zugang zur Nord- und Helsingborg die Uni (30000 Studenten) zur Ostsee, zu etablieren. Die Hansestadt Helsingør und die School of Econo- möchte sich als Drehscheibe für den GüSCHWEDEN D Ä N E M A R K mics and Business Admini- tertransport und den Tourismus empfehlen, Lund aber auch als maritime „Endstation“ für stration (17 000). Roskilde Forschungsinstitute wie Importe aus Fernost in den hohen Norden zwei neue, mit dreistelli- behaupten. „Wir müssen stärker als vorher Seeland gen Millionenbeträgen ge- begreifen, daß Hamburgs Stellung in der förderte Zentren für Bio- Welt unmittelbar mit seiner Stellung im Fünen technologie in Lund und Ostseeraum zusammenhängt“, hat EuropaKopenhagen kooperieren senator Willfried Maier erkannt. Ein eigens gegründeter „Initiativkreis Lolland Ostsee“ soll zudem die Einbindung SchlesFlensburg 10 km wig-Holsteins in die Verkehrsplanungen Rødby Kopenhagen garantieren. Schon ist von einer weiteren Fehmarn Puttgarden Ostseequerung die Rede: über den 18 Kilometer breiten Fehmarn-Belt von PuttSaltholm Kiel garden nach Rødby. Dann rücken Malmö und Südschweden bis auf zweieinhalb AuTunnel D E U T S C H L A N D tostunden an Hamburg heran. Wismar „Es ist schon erstaunlich“, freut sich Malmö Lübeck der Leiter der Kieler Europaabteilung, Brücke Werner Kindsmüller, „wie so ein Brückenbau, kaum sind die ersten Pylonen zu künstliche Insel sehen, auf einmal die Phantasie freiHamburg „Peberholm“ setzt.“ Manfred Ertel Ø r e s u n d pas, mit Wachstumsraten, die den Ostseeraum „zu einer der dynamischsten Regionen des Kontinents machen“, wie Helveg Petersen sagt. Prognosen zufolge soll sich der Handel in weniger als zwei Jahrzehnten verzehnfachen. Bestes Beispiel ist die Verschiebung in der traditionell transatlantisch orientierten deutschen Wirtschaft: Über zehn Prozent ihres Exports gingen bereits 1997 in die Nachbarländer der Ostsee – fast soviel wie nach Amerika und Japan. Der Motor des Wirtschaftswunders entlang den Bernsteinküsten ist das abnehmende Wohlstandsgefälle zu den östlichen Nachbarn. Mit steigender Kaufkraft von rund 50 Millionen Menschen in Polen, den baltischen Reformdemokratien Estland, Lettland und Litauen – allesamt EU-Anwärter – sowie St. Petersburg und Umland ist stetige Nachfrage garantiert. Die Handelsbeziehungen zu den einstigen Gegnern werden enger, die Wirtschaftskooperationen für alle Seiten attraktiver. Die Handy-Riesen Nokia aus Finnland und Ericsson aus Schweden, weltführende Mobiltelefonhersteller, lassen bereits in großem Stil in Estland produzieren. Mercedes-Benz plaziert seine Nordeuropa-Zentrale am Øresund – mit geteilten Niederlassungen, auf jeder Seite eine. Die Fahrzeiten zu Metropolen wie Oslo und Stockholm werden künftig glatt halbiert. „Das Herz von Europa rückt immer dichter nach Norden“, freut sich Dänemarks Industrieministerin Pia Gjellerup. Vom Boom wollen alle etwas haben. Der nordische Regionalverbund Pomerania, in dem ostdeutsche Landkreise, polnische Woiwodschaften und südschwedische Gemeinden zusammenarbeiten, verspricht sich einen Aufschwung für die heimische Hafenwirtschaft und die Handelsbilanzen. d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 139 Werbeseite Werbeseite FOTOS: AKG (li. o.); GAMMA / STUDIO X (li. u.); SYGMA (re. o.); ROGER-VIOLLET (re. u.) X. DAS JAHRHUNDERT DES KOMMUNISMUS: 1. Lenin und die Oktoberrevolution (29/1999); 2. Stalin und der Stalinismus (30/1999); 3. Das Sowjetimperium (31/1999); 4. Gorbatschow und das Ende des Kommunismus (32/1999) Lenin (März 1919); Ärzte im Lenin-Mausoleum; gestürztes Lenin-Denkmal in Addis Abeba (1991); Revolution in Petrograd (1917) Das Jahrhundert des Kommunismus Lenin und die Oktoberrevolution Als das Zarenreich zusammenbrach, putschte sich der Berufsrevolutionär Lenin an die Macht. Brutal setzte er, noch vor Stalin, die russische Auffassung von Marxismus durch – mit Konzentrationslagern und 140 000 Exekutionen. d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 141 Das Jahrhundert des Kommunismus: Lenin und die Oktoberrevolution „Auf der Stelle erschießen“ Staatsgründer Wladimir Iljitsch Lenin / Von Fritjof Meyer daß er sich von den ihm anerzogenen Wertvorstellungen zu lösen begann. Er war aufgewachsen in der liberalen Bildungswelt seines Vaters, eines in den erblichen Adelsstand erhobenen Pädagogen kalmückischer Herkunft, und seiner Mutter, Tochter des deutschstämmigen Juden Alexander Blank, und einer Anna Großschopf, deren Vater aus Lübeck kam. Zu den entfernten Verwandten der Mutter gehörten der Archäologe und Prinzenerzieher Ernst Curtius wie der WehrmachtsGeneralfeldmarschall Walter Model. Wladimir, nach der zaristischen Rangtabelle selbst Edelmann („Dworjanin“), verweigerte sich fortan den abendländischen ethischen Normen, die ihm sein Elternhaus vermittelt hatte: „Wir glauben nicht an eine ewige Moral und entlarven alle Märchen über die Moral als Betrug.“ Das Schicksal seines von ihm stets bewunderten Bruders ließ ihn Sentimentalitäten verdrängen. Er hörte gern dem Klavierspiel zu: „Ich kenne nichts, was größer wäre als die Appassionata, ich würde sie mir gern jeden Tag anhören …“ Doch sofort korrigierte er sich: „Sie geht einem auf die Nerven und verleitet einen dazu, dumme, freundliche Sachen zu sagen, und Menschen, die etwas so Schönes zu schaffen vermochten, während sie in dieser widerwärtigen Hölle lebten, den Kopf zu streicheln. Man darf nämlich niemandem den Kopf streicheln, es könnte einem dabei die Hand abgebissen werden. Man muß ihnen erbarmungslos auf den Kopf schlagen, obwohl es unser Ideal ist, gegen niemanden Gewalt anzuwenden.“ Wladimir Uljanow, der sich seit 1901 aus Tarnungsgründen Lenin nannte, nahm sich vor, das Vermächtnis seines gehenkten Bru- ders zu erfüllen – eine eigene Geheimorganisation zu gründen und mit ihr das Zaren-System zu stürzen. „Dabei macht man sich natürlich die Hände schmutzig“, räumte er ein. „Die Partei ist kein Pensionat für höhere Töchter. Irgendein Verbrecher kann uns gerade deshalb nützlich sein, weil er ein Verbrecher ist.“ Wer aus der Romanow-Dynastie sollte mit dem Tode büßen? „Natürlich die ganze Familie!“ zitierte Lenin einen Terroristen und fügte hinzu: „Das ist doch einfach genial!“ So geschah es am 17. Juli 1918. Folgte Lenin anfangs noch einem grandiosen politischen Plan – die Monarchie zu fällen, Rußland zu modernisieren, den Sozialismus zu schaffen und über den ganzen Erdball zu verbreiten –, so entfernte er sich später Schritt um Schritt von diesen Zielen. Er verfiel völlig dem Götzen der Macht und opferte ihm ungerührt Millionen Menschenleben. So wurde er der erste Regierende dieses Jahrhunderts, der die eigene Gewaltausübung zum Staatsziel erhob, ein Muster für eine ganze Reihe jener Gestalten, welche die Welt in Barbarei stürzten. Lenin trägt die Verantwortung dafür, daß bis heute unter „Sozialismus“ gemeinhin nicht Marx’ eher sozialdemokratisches Programm verstanden wird, sondern eine terroristische Diktatur. Seinen Nachahmern, den Tyrannen des 20. Jahrhunderts, gelang es mit ihrer Herrschaft über Staatsgewalt und Massenmedien, ihre millionenfachen Mordtaten durch ideologische Phrasen zu verschleiern. So gilt denn auch Lenin weithin als der gute Bolschewik, im Vergleich zu seinem Nachfolger Stalin, dem bösen. Lenin, 1920 Der Weg zur Macht 1870 22. (10.*) April: Wladimir Iljitsch Uljanow (Lenin) wird in Simbirsk (heute Uljanowsk) an der Wolga geboren 1872 „Das Kapital“ von Karl Marx erscheint in russischer Sprache 1903 Zweiter Kongreß der Russischen Sozialdemokratischen Partei: Spaltung in reformistische „Menschewiki“ und radikale „Bolschewiki“ 1904/05 Russisch-japanischer Krieg, in dessen Verlauf 400 000 Russen fallen *Zeitangaben in Rußland folgten bis zum 31. Januar 1918 dem Julianischen Kalender, dann dem Gregorianischen. 142 1905 22. (9.) Januar: Blutsonntag in St. Petersburg. Regierungstruppen schießen auf Demonstranten, etwa 200 Tote und 800 Verletzte 1916 Lenin verfaßt im Schweizer Exil seine Schrift „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“: Nur eine Revolution könne Rußland befreien 1917 Februarrevolution: Am Internationalen Frauentag protestieren Frauen und Arbeiter gegen die schlechte Versorgungslage, drei Tage später schießen Armee und Polizei auf sie: Über tausend 1906 Zulassung von Demonstranten sterben allein in Petropolitischen Parteien: grad; März: Die Macht übernehmen ein Soldaten tragen die rote Fahne, 1917 erstes Parlament in RußPetrograder Rat (Sowjet) von Arbeiterverland (Duma) nimmt seine tretern und eine bürgerlich-liberale ProviArbeit auf sorische Regierung, zunächst unter Fürst Lwow, später unter dem Sozialdemokraten Alexander 1914 Rußland mobilisiert, Deutschland Kerenski; Zar Nikolai II. dankt ab; 7. November erklärt den Krieg; Umbenennung der Hauptstadt (25. Oktober): Trotzki organisiert die fast unblutige St. Petersburg in Petrograd Oktoberrevolution, ein Rätekongreß wählt Lenin in d e r ROGER-VIOLLET Spiegel des 20. Jahrhunderts D er Biologie-Student Alexander Uljanow, 21, starb am Galgen am 20. Mai 1887, und vier Genossen wurden mit ihm gehenkt. Sie hatten eine illegale Gruppe gebildet, die den Zaren Alexander III. umbringen wollte. Als die jungen Leute dessen Fahrtroute zur St. Petersburger Kathedrale erkundeten, wurden sie verhaftet. Während Mitverschwörer Józef Pilsudski – später Diktator und Marschall von Polen – mit fünf Jahren Verbannung davonkam, verurteilte ein Gericht die anderen zum Tode. In jenem Jahrzehnt wurden nur noch insgesamt zwölf weitere Russen von der Justiz des Zaren aus politischen Gründen hingerichtet. Die Exekution des Alexander Uljanow aber hinterließ welthistorische Spuren: Seinen vier Jahre jüngeren Bruder Wladimir, der gerade das Abitur ablegte, traumatisierte das Ereignis derart, s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 Dabei nahm sich Stalin bei seinen Verbrechen bis ins Detail seinen Lehrer zum Muster. Nach dem Urteil des Kampfgenossen Molotow war Lenin sogar „härter“ als Stalin (der Molotows Frau in den Gulag steckte, mit seinem Tod kam sie frei). Als mentales Gegengewicht zu den Zwangsmitteln schuf Stalin den Kult um Lenin, den hochgebildeten und persönlich der darauffolgenden Nacht zum provisorischen Regierungschef; Dezember: Felix Dserschinski gründet die Geheimpolizei Tscheka, Vorläufer des KGB 1918 Januar: Russische Sowjetrepublik konstituiert; Aufbau der Roten Armee; März: Moskau wird neue Hauptstadt; durch den Friedensvertrag von Brest-Litowsk mit den Mittelmächten scheidet Rußland aus dem Ersten Weltkrieg aus und verzichtet auf das Baltikum, Polen, Finnland, die Ukraine und Teile des Kaukasus; Frühjahr (bis November 1920): Bürgerkrieg: Die Rote Armee kämpft gegen antikommunistische „Weißgardisten“ und Bauernverbände; Juli: Bauern werden gezwungen, ohne Bezahlung Lebensmittel herauszugeben, die der Staat kostenlos an Städter und Rotarmisten verteilt 1919 Gründung der Kommunistischen Internationalen (Komintern) in Moskau; ein „Politbüro“ wird so bescheidenen Revolutionär, der sich für die arbeitende Klasse aufrieb und eine bessere Gesellschaft anvisierte. Millionen einfacher Menschen und viele Intellektuelle fielen dieser Täuschung * Von Wladimir Serow, 1947; auf Verlangen von Nikita Chruschtschow 1962 umgestaltet. Hinter Lenin standen zuvor Stalin, Dserschinski und Swerdlow. als Führungsgremium der Kommunistischen Partei zuständig für „Fragen, die keinen Aufschub dulden“ 1920 Strenge Zensur, 90 Prozent des in Rußland hergestellten Papiers gehen an den Staat; Lenin richtet Strom-Kommission ein: „Kommunismus – das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes“ 1921 Gründung der staatlichen Planwirtschaftsbehörde Gosplan; Matrosenaufstand in Kronstadt wird niedergeschlagen; Hungerkatastrophe: USRegierung schickt Medizin und Nahrungsmittel, die deutsche Malerin Käthe Kollwitz wirbt: „Rettet die Kinder“ 1922 Rapallo-Vertrag zwischen Sowjet-Rußland und Deutschland soll beide Staaten aus der außenpolitischen Isolierung lösen; Josef Stalin d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 wird erster KP-Generalsekretär; der Staat reißt die Leitung der russisch-orthodoxen Kirche an sich und stellt den Patriarchen Tichon unter Hausarrest; Gründung der UdSSR aus den Republiken Rußland, Ukraine, Belorußland und Transkaukasien 1923 Verfassung der Sowjetunion, der alle Länder, wenn sie Sowjetrepubliken werden, beitreten können S YG M A DAVID KING COLLECTION Propagandabild „Lenin proklamiert die Sowjetmacht“*: Dem Götzen der Macht verfallen anheim. Henri Barbusse und Lion Feuchtwanger, Georg Lukács und Ernst Bloch, gar Ultrarechte wie Arthur Moeller van den Bruck und Josef Goebbels bis hin zu Rudi Dutschke und Michail Gorbatschow zeigten sich von Lenin, dem angeblichen Philosophen auf dem Thron, fasziniert. Dieser unscheinbare Mann mit den listigen Augen und schwacher Stimme machte nichts von sich her, im Westenanzug mit Schirmmütze sah er einem Katasterbeamten ähnlicher als einem Weltenwandler. Scharfsinnig und scharfzüngig war er und unerhört belesen, und er übte eine außergewöhnliche Selbstzucht. Er trank nicht, mit 18 hatte er sich auf Wunsch der Mutter das Rauchen abgewöhnt, Schachspiel und Skilaufen gab er für die Politik auf. Dank Fürsprache seines Schuldirektors Kerenski wurde er zum Studium zugelassen und machte sich an der Universität mit den Theorien von Marx und Engels bekannt. Bald wegen Teilnahme an einer Protestkundgebung relegiert und für Monate verhaftet, legte er dennoch im Fernstudium sein juristisches Examen ab. Unter komfortablen Bedingungen überstand er drei Jahre Verbannung in Sibirien, wohin er sich von zu Hause Jagdgewehre und Glacéhandschuhe schicken ließ. Er heiratete dort auch und schrieb an einer Studie über Rußlands Rückständigkeit. Noch 1905 befand er auf gut marxistisch, in Rußland leide die Arbeiterklasse weniger unter dem Kapitalismus als unter dessen „mangelhafter Entwicklung“, sie sei deshalb an der „breitesten, freiesten und schnellsten Entwicklung des Kapitalismus interessiert“. Nach Marx erfüllte die Bourgeoisie nämlich eine progressive Rolle; eine Gesellschaftsordnung konnte erst untergehen, wenn sie ihre Volkswirtschaft nur noch behinderte, sich weiterzuentwickeln. In der deutschen und schweizerischen Emigration lernte Lenin von 1900 bis 1917 den Vormarsch der Sozialdemokratie kennen, der im unterentwickelten Rußland die soziale Basis fehlte. Die SPD finanzierte ihm seine nach Rußland zu schmuggelnden Dissidentenblätter, Lenin aber brach zum er- 1924 Am 21. Januar stirbt Lenin; Stalin tritt US-Lebensmittelhilfe, 1921 nach Machtkampf mit Trotzki die Nachfolge an; Petrograd erhält den Namen Leningrad 143 stenmal mit der reinen Lehre: Anstelle der von Marx proklamierten Selbstbefreiung der Arbeiter sollten Intellektuelle als berufsmäßige Agenten unmündige Proletarier auf den rechten Weg bringen: „Das politische Klassenbewußtsein kann in den Arbeiter nur von außen hineingetragen werden.“ So schrieb er es in München, wo er anfangs unter dem Decknamen „Meyer“ lebte, in seine Programmschrift „Was tun?“ Damit stellte er Marx’ zentrale These, das gesellschaftliche Sein bestimme das Bewußtsein, auf den Kopf. In der Führung seiner kleinen, konspirativen Parteifraktion, der „Bolschewiki“ („Mehrheitler“, obwohl sie innerhalb der russischen Sozialdemokratie in der Minderheit waren), fand sich denn auch nur ein Arbeiter, und der war auch noch ein Polizeispitzel. Die Lehre des Sozialismus stamme nun einmal von „gebildeten Vertretern der bürgerlichen Klassen“, argumentierte Lenin – er selbst brauchte sich seinen Lebensunterhalt nie selbst zu verdienen; die Mutter hatte ihr Landgut verkauft und unterhielt ihn bis zu seinem 46. Lebensjahr. Lenin entwickelte Talent für außergewöhnliche Methoden der Geldbeschaffung. Der Moskauer Möbelfabrikant Nikolai Schmitt vermachte einen Teil seines Vermögens der Arbeiterbewegung, an das die Bolschewiki herankamen; für den Rest stellten sie ihr Parteimitglied Wiktor Taratuta ab, eine Erbin zu heiraten. „Welch eine Niedertracht gegenüber dem Mädchen“, beschwerte sich ein Genosse. „Weder Sie noch ich könnten eine reiche Kaufmannstochter des Geldes wegen heiraten“, erwiderte Lenin, „Wiktor hat es getan, das bedeutet, er ist ein nützliches Mitglied der Partei.“ Er selbst nahm Geld vom Feind seines eigenen Landes, dem kaiserlichen Deutschland, auch als der Zar schon gestürzt war und noch bis drei Monate vor der deutschen Novemberrevolution 1918, insgesamt 82 Millionen Goldmark. Damit baute er aus der Ferne seine Parteiorganisation in Rußland auf und nach seiner Heimkehr einen mächtigen Propaganda-Apparat – die deutsche Reichsregierung finanzierte die „Prawda“ ebenso wie die paramilitärischen „Roten Garden“. Die deutsche Heeresleitung, verstrickt in einen nicht gewinnbaren Zweifrontenkrieg, setzte darauf, Lenin werde, wenn er an der Macht sei, einen Separatfrieden schließen. General Ludendorff ließ ihn deshalb samt 31 Genossen aus der Schweiz in einem Zug durch Deutschland über Schweden nach Rußland transportieren. Von dort funkte ein deutscher Agent: „Lenin: Eintritt nach Rußland geglückt. Er arbeitet völlig nach Wunsch.“ SYGMA Spiegel des 20. Jahrhunderts Das Jahrhundert des Kommunismus: Lenin und die Oktoberrevolution Zar Nikolaus II. und Familie (1901), Bolschewiki im Panzerwagen 1917 vor dem Petrograder Lenin war nun einmal germanophil, am meisten imponierte ihm die deutsche Bürokratie. „Jawohl, lerne beim Deutschen!“ gab er als Parole aus. „Es ist so gekommen, daß jetzt gerade der Deutsche neben dem bestialischen Imperialismus das Prinzip der Organisation, des harmonischen Zusammenwirkens auf dem Boden der modernsten Maschinenindustrie, der strengsten Rechnungsführung, der Kontrolle verkörpert.“ Unter den mehr als 6700 Lenin-Dokumenten, die von seiner Partei über Jahrzehnte versteckt gehalten und erst nach ihrem Ende 1991 bekannt wurden, findet sich auch, in einem Brief an den Führungsgenossen Kamenew, eine Fortsetzung der schönen Parole: „Lernt von den Deutschen, ihr verlausten russischen kommunistischen Faulenzer!“ Er hatte durchaus begriffen, daß sein Entwicklungsland die notwendige Gesellschaftsepoche, den Kapitalismus, nicht überspringen konnte, um in den Sozialismus zu gelangen. Also folgerte er, der Kapitalismus müsse von seiner eigenen Intellektuellenpartei organisiert werden. Anstelle der Ideen Marx’ von einer Arbeiterselbstverwaltung proklamierte er, be- eindruckt von der Zuverlässigkeit der Deutschen Reichspost: „Unser nächstes Ziel ist es, die ganze Volkswirtschaft nach dem Vorbild der Post zu organisieren.“ Das Resultat sollte zu einem OrwellStaat gerinnen: „Die ganze Gesellschaft wird ein Büro und eine Fabrik mit gleicher Arbeit und gleichem Lohn sein … Alle Bürger werden Angestellte und Arbeiter eines das ganze Volk umfassenden Staats‚Syndikats‘.“ Als zentrales Planungsorgan nahm er sich das Waffen- und Munitions-Beschaffungsamt („Wumba“) der deutschen Kriegswirtschaft zum Muster: „Macht, was die Wumba macht!“ Die Partei machte daraus die Lenkungsbehörde Gosplan, welche die russische Volkswirtschaft für ein halbes Jahrhundert fesselte und schließlich an den Abgrund führte. Von Ludendorff, Deutschlands faktischem Diktator der letzten Kriegsjahre, übernahm Lenin die allgemeine Arbeitspflicht. In Deutschland sei das ein „staatsmonopolistischer Kriegskapitalismus“, wußte er, ein „Militärzuchthaus für Arbeiter“. Für Rußland bedeute es aber „unweigerlich einen Schritt, ja Schritte zum Sozialismus!“ Seine Nachfolger behaupte- „Im Leben Lenins verbindet sich Treue zu einem ungeheuren Werke notwendigerweise mit Unerbittlichkeit gegen alle, die es stören wollten.“ Heinrich Mann, 1924 144 d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 SÜDD. VERLAG Smolny-Institut: „Je mehr Reaktionäre wir hinrichten können, desto besser“ Um dennoch das Volk hinter sich zu ten später, der Staatsmonopolismus sei sobringen, versprach er den Arbeitern die gar schon der Sozialismus. Im Februar 1917 war durch eine Arbei- Fabriken, den Bauern den Boden, allen naterrevolution, die Lenin im Exil völlig über- tionalen Minderheiten die Selbstbestimraschte, das vollbracht worden, was er sich mung und – statt eines Sieges über die selbst vorgenommen hatte: der Zar ge- Deutschen – den sofortigen Frieden. Den stürzt und eine provisorische sozial-libe- schloß er denn auch, alle übrigen Versprerale Regierung etabliert. Nun blieb ihm chen aber brach er. Die Regierung des Sozialdemokraten nur noch der zweite Akt: seine Partei und Alexander Kerenski, Sohn von Lenins damit sich selbst in den Kreml zu setzen. Als Lenin per Bahn – bis Sassnitz unter Schuldirektor, setzte – an der Seite der Aufsicht eines deutschen Rittmeisters – am Westalliierten – den Weltkrieg gegen 16. April 1917 nach Petrograd zurückge- Deutschland fort, zum Mißfallen ihrer Solkehrt war, trommelte er sofort für den datenräte. Die junge Demokratie mußte Sturz der Revolutionsregierung und ver- die überfälligen Bodenreformen aufschiekündete den Übergang zum Sozialismus – ben, derweil sich die Bauern schon selbst des Gutsherrenlandes bemächtigten, so wie wie er ihn verstand. Und er fragte rhetorisch: „In welchen die Arbeiter der wenigen, aber voluminöBüchern steht denn geschrieben, daß der- sen Rüstungsfabriken. Nach einem mißratenen artige Eingriffe in die geAufstandsversuch im Juli wöhnliche historische Ab1917 von der Regierung Kefolge unzulässig oder unrenski als „deutscher Spion“ möglich sind?“ verdächtigt, flüchtete Lenin Er wollte die Macht, und nach Finnland und drängte zwar eine Diktatur.Was hieß per Post auf einen Putsch – das? „Nichts anderes als die ein von Marx und Engels durch nichts eingedämmte, verdammtes Mittel der weder durch Gesetze noch Machteroberung. durch allgemeingültige ReLenins Mitarbeiter Leo geln beschränkte, unmittelTrotzki organisierte am 25. bar auf der Gewalt basierenOktober 1917 den Staatsde Macht“, so Lenin. Zulässtreich, er kostete nur sechs sig sei im Sozialismus auch Tote, weil die Petrograder die „diktatorische Macht einGarnison bereitwillig mitzelner Personen“. Alexander Uljanow d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 machte. Lenin hatte sich, mit Perücke und ohne Bart, erst am Tag zuvor in der Aufstandszentrale, der Höheren Mädchenschule Smolny, eingefunden, Stalin blieb überhaupt verschwunden; den meisten Einwohnern von Petrograd entging der Machtwechsel, der für den Allrussischen Rätekongreß am nächsten Tag vollendete Verhältnisse schuf. Dort zeigte sich am Abend Lenin auch erstmals öffentlich. Als Sozialrevolutionäre und Sozialdemokraten unter Protest den Saal verließen, war die Minderheit der Bolschewiki zur stärksten Fraktion geworden. Einen Tag später schickte Berlin eine Prämie von 15 Millionen Mark. Das war die „Große Sozialistische Oktoberrevolution“, durch sie wurde Lenin über Nacht Regierungschef. „Ein steiler Aufstieg aus dem Keller an die Macht“, sagte er, „mir dreht sich der Kopf.“ Die folgenden allgemeinen Wahlen zu einer verfassunggebenden Nationalversammlung aber brachten den Kommunisten weniger als ein Viertel der Stimmen. Lenin ließ das erste wirklich frei gewählte Parlament Rußlands schon auf seiner Gründungssitzung am 18. Januar 1918 auseinanderjagen. Er führte Todesstrafe und Pressezensur wieder ein, unterband jegliche regimekritische Demonstration. Er nahm in den folgenden Monaten den Arbeitern, die ihre Betriebe besetzt hatten, und den Bauern ihren neuen Besitz wieder ab, indem er die Fabriken und den gesamten Grund und Boden verstaatlichte. Das Land durften Kleinbauern noch bewirtschaften, doch Lenin richtete sogleich 5000 Staatsgüter und 6000 Kolchosen ein. Freimütig proklamierte er den „Staatskapitalismus“. Das müsse jeder begreifen, erklärte er, der „nicht den Verstand verloren und sich nicht den Kopf vollgestopft hat mit Bruchstücken von Bücherwahrheiten“, womit er Marx’ Theorie meinte. Zugleich erhob der Zyniker aber den Marxismus zum Dogma, um sich – mit durchschlagendem Erfolg – für seine linke Anhängerschaft zu kostümieren: „Die Beschäftigung mit allen anderen Theorien führt zur Verwirrung und Lüge.“ Den besonders populären und entschlossenen Anarchisten gegenüber trat er gar als einer auf, der ausgerechnet Staat, Gefängnisse, Geld und abhängige Arbeit – die er selbst nie kennengelernt hatte – abschaffen wollte. Seine Zeitgenossen, verkündete Lenin, würden dieses Paradies noch erleben. Davon blieb der „Kriegskommunismus“: Rotarmisten beschlagnahmten die gesamte Ernte der Bauern, auch das Saatgut, und verteilten das Getreide gratis, auf Bezugschein, an die Städter. Die Versorgung brach zusammen. Die allgemeine Gleichheit galt nicht für alle. Von der Administration eines großen Landes hatten Lenins Intellektuelle keine Ahnung, so griffen sie auf die Kader der Zaren-Bürokratie zurück. 89 Prozent der 145 Auf einem Kongreß der Parteijugend am Er kümmerte sich um Details: Zur BeFührungsbeamten im Finanzministerium behielten ihren Schreibtisch, die meisten 2. Oktober 1920 erläuterte Lenin: „Wenn schattung Verdächtiger empfahl er „beKollegen vom Kaiserlichen Ministerium für ein Bauer sich den Getreideüberschuß an- sondere Trennwände, Holzverschläge oder Staatskontrolle saßen nun im Volkskom- eignet, den er auf seinem Land erwirt- Umkleidekabinen, Blitzdurchsuchungen; missariat für Staatskontrolle. Selbst die Ge- schaftet hat, also Getreide, das weder er Systeme zur doppelten und dreifachen Sofängnisdirektoren blieben im Amt, derweil noch sein Vieh zum Überleben benötigen, fortüberprüfung“. Er riet,Verhaftungen am die Gefangenen wechselten. 41 Prozent des … dann hat er sich bereits in einen Aus- besten nachts vorzunehmen; Parteimithöheren Offizierskorps der neuen „Roten beuter verwandelt“, in einen „Kulaken“. glieder hätten alles Auffällige der Staatssicherheit zu melden. Arbeiter- und BauernarAls gleich nach dem Oktoberputsch die mee“ hatten schon dem Genossen die Todesstrafe für Deserteure Zaren gedient. abgeschafft hatten, erregte sich Lenin: „So Lenin mußte die übergeein Unsinn. Wie kann man denn eine laufenen Fachleute mit eiRevolution ohne Erschießungen durchner „sehr hohen Bezahführen?“ Allein 1921, vier Jahre nach dem lung“ locken, obwohl er als Sieg, wurden 4337 Rotarmisten exekutiert. entscheidende revolutionäEinige wörtliche Befehle Lenins: re Neuerung angekündigt π „Einen von zehn, die sich des Müßighatte, „daß alle beamteten gangs schuldig machen, auf der Stelle Personen ein den durcherschießen.“ schnittlichen Arbeiterlohn π „Können nicht weitere 20 000 Petrogranicht übersteigendes GeLenin, Trotzki bei einer Parade in Moskau (1919) der Arbeiter mobilisiert werden, plus halt beziehen“ würden. „Ein für allemal reich und mächtig werden“ 10 000 Bourgeois, mit hinter ihnen aufDa wollten die Parteigenosgestellten Maschinengewehren, die ein sen nicht nachstehen, und Lenin entschied, Sogar „gegen die schwankenden und hempaar hundert erschießen?“ Kommunisten bräuchten Sonderverpfle- mungslosen Elemente der arbeitenden gung, Sonderläden, Sonderzuteilungen, Menschen selbst“ sei Gewalt anzuwenden, π „Hunderte von Prostituierten, welche die Soldaten betrunken machen, eheund hochgestellte Kommunisten die Villen befand Lenin. Sein Programm: „Säuberung der russimalige Offiziere und dergl. sind zu erder verjagten oder erschossenen Kaufleute schießen und abzutransportieren.“ und Adligen oder die Suiten der Mos- schen Erde von allem Ungeziefer, von den kauer Luxushotels, dazu Leibärzte und Flöhen, den Gaunern, von den Wanzen – π „Bieten Sie sämtliche Kräfte auf, um die korrupten Beamten und Spekulanten angesichts des zerrütteten Verkehrssystems den Reichen und so weiter und so fort“, von Astrachan zu erschießen. Man auch noch Sonderzüge für Kuren im auch von „bürgerlichen Intellektuellen“ und „Arbeitern, die sich vor der Arbeit muß diesem Pack eine derartige Lehre Ausland. erteilen.“ Er selbst ließ sich in einem Rolls-Royce drücken“. Gemeint waren die Schriftsetzer und winters in einem Spezial-Citroën mit von Petrograd, die bis zum Januar 1918 und π „Solange wir nicht mit Terror gegen Spekulanten vorgehen, also keine standRaupenketten kutschieren, auch Büchsen- wieder im April 1919 gegen die Diktatur rechtlichen Erschießungen durchführen, fleisch, Schnürbänder und andere Mangel- der Bolschewiki streikten. Lenin wandte sich gegen Sozialdemowird nichts dabei herauskommen.“ waren vom Geldboten aus Berlin mitbringen. Anfangs wohnte er im Moskauer Ho- kraten, die da sagten: „Die Revolution ist π „Mit Räubern muß man ebenso verfahren und sie auf der Stelle erschießen.“ tel „National“, dann in der Zarenburg, zu weit gegangen.“ Ihnen solle man antdem Kreml – erst unter Boris Jelzin wur- worten: „Gestattet uns, euch dafür an die π „Meiner Meinung nach muß man den Einsatz von Erschießungen (als Ersatz de die als Heiligtum bewahrte Zimmer- Wand zu stellen.“ Bei Bedarf war er auch Antisemit. „Befür die Verbannungen ins Ausland) verflucht Lenins aufgelöst –, und auf dem stärken.“ Landschloß des früheren Stadtkomman- handelt die Juden in der Ukraine mit eiserner Faust“, trug er den ukrainischen Ge- π „Bürger, die sich weigern, ihren Namen danten. zu nennen, werden auf der Stelle und „Lenin und seine Mitstreiter sind zu je- nossen auf und schrieb danach an den ohne Gerichtsverhandlung erschossen … dem Verbrechen fähig, sie sind bereits vom Rand: „Formuliert es freundlicher: die jüFamilien, die Banditen verstecken, werfaulen Gift der Macht infiziert“, wagte der dischen Kleinbürger.“ Schriftsteller Maxim Gorki aufzubegehren – bis seine Zeitschrift „Nowaja schisn“ im Juli 1918 verboten wurde und schließlich auch Gorki sich unterwarf und mit Stalin kollaborierte. Andere Geistesgrößen beugten sich schon früh dem revolutionären Willen Lenins und seinen Visionen von einer schönen neuen Welt: Chagall und Kandinsky machten kunstvolle Propaganda, die Revolutionärin Alexandra Kollontai, die Lenin beim Geldtransfer aus Deutschland geholfen hatte, warb für die freie Liebe. Trotzki sagte voraus, im vollendeten Kommunismus würden die Menschen schöner, größer und gesünder sein. Gorkis Empörung richtete sich vor allem anderen gegen den Terror, mit dem Lenin und seine Kumpanen das Land in den Griff zu bekommen sowie den Zusammenbruch der Versorgung zu verhindern suchten. Unterernährte Waisenkinder in Samara (1920): „Die Hungersnot dient dem Fortschritt“ 146 d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 SYGMA AP Spiegel des 20. Jahrhunderts Das Jahrhundert des Kommunismus: Lenin und die Oktoberrevolution Tausende verhungerten, den verhaftet und vererteilte Lenin seinem Altbannt. Der älteste Argenossen Molotow zur Inbeiter der Familie ist formation des Politbüros ohne Verfahren sofort eine Weisung, die bis zum zu erschießen. Dieser Ende des HerrschaftsBefehl ist erbarmungssystems geheimgehalten los auszuführen.“ wurde. Patriarch Tichon Die Erschießungshatte Ikonenschmuck und obsession hatte Lenin andere kirchliche Wertsaschon, ehe er erwarten chen, die nicht rituellen konnte, sie in die Tat umZwecken dienten, für die zusetzen. Auf die Frage, Hungerhilfe freigegeben. was nach einem Sieg mit Das brachte Lenin auf den Beamten des alten seine Idee: Regimes geschehen solle, „Gerade jetzt und nur hatte er in der Emigrajetzt, da in den Hungertion keinen Augenblick gebieten Leute Mengezögert: „Wir werden schenfleisch essen und den Mann fragen: ‚Wie Hunderte, wenn nicht stellst du dich zur RevoTausende Leichen die lution? Bist du dafür, Straßen säumen, können oder bist du dagegen?‘ und müssen wir die BeWenn er dagegen ist, schlagnahme der kirchliwerden wir ihn an die chen Wertgegenstände Wand stellen. Ist er dafür, mit der rohesten und erso werden wir ihn willbarmungslosesten Enerkommen heißen und ihn gie durchsetzen, ohne auffordern, mit uns zu aufzuhören, jeden Wiarbeiten.“ derstand zu zermalmen.“ Ehefrau Nadeschda Warum? „Komme, was Krupskaja grummelte gewolle, wir können auf genüber Lenin: „Ja, und die entschlossenste und ihr werdet selbstverständschnellste Weise für uns lich die wertvolleren Meneinen Fonds von mehreschen erschießen, weil sie ren hundert Millionen den Mut haben, zu ihrer Rotarmisten mit Plündergut in Moskau*: Kirchenschatz für die Revolution Goldrubeln sichern (man Überzeugung zu stehen.“ Mag sein, daß die Vorstellung von sei- schießungen und 87 000 Verhaftungen. Für bedenke nur die gewaltigen Reichtümer einem am Strick erstickenden Bruder Alex- die aktive Regierungszeit Lenins vom De- niger Klöster und Pfarreien). Ohne diesen ander bei Lenin Sado-Phantasien weckte, zember 1917 bis zum Februar 1922 lassen Fonds können wir weder unseren Staat die sich zum Blutrausch steigerten. Dieser sich mindestens 140 000 Exekutierte und noch unsere Wirtschaft aufbauen.“ Da Lenin bei Gläubigen auf Widerstand Lenin erfand für Rußland auch jene Geißel, ebenso viele bei der Unterdrückung von welche die Tyrannen des 20. Jahrhunderts Aufständen Getötete zählen. Welch ein stieß, wurden fast 70 000 der 80 000 Kirzur Korrektur ihrer Untertanen bevorzug- Multiplikator der Opferzahl des Zaren – chen zerstört sowie 14 000 Priester und ten: „Man muß schonungslos Massenter- eine orgiastische Vergeltung für den Tod Mönche erschossen; die Strecke ließ sich Lenin täglich rapportieren: „Je mehr Verror anwenden“, telegraphierte er 1918 zur des Bruders Alexander. Über das Land breitete sich derweil eine treter der reaktionären Geistlichkeit und Niederschlagung eines Bauernaufstands, „verdächtige Personen in ein Konzentra- Hungerkatastrophe aus. Schon als 1892 an Bourgeoisie wir dabei hinrichten können“, tionslager außerhalb der Stadt einsperren.“ der Wolga 14 Millionen Menschen darb- hatte er bekundet, „desto besser.“ Der Sowjetstaat requirierte genug für So geschah es, erst in entweihten Klöstern ten, soll sich der junge Lenin – fünf Jahre und Kirchen, dann auf der Sklaveninsel nach Alexanders Tod – ungerührt gezeigt seinen Zweck: 540 Kilo Gold, 377 000 Kilo Solowezki, schließlich im riesigen Archi- und von Hilfsaktionen abgeraten haben: Silber und 35 670 Diamanten binnen weni„Die Hungersnot dient dem Fortschritt. ger Monate. Allein im Hungerjahr 1922 verpel Gulag. Drei Wochen nach der KZ-Verfügung Das Gerede über die Sättigung der Hun- wendete er Preziosen im Wert von 19 Milschoß die Sozialrevolutionärin Fanni Ka- gernden ist nur ein Ausdruck der saccha- lionen Goldrubel zur Förderung dessen, plan auf Lenin: „Ich halte ihn für einen rinsüßen Sentimentalität, die für unsere In- was Lenin unter Weltrevolution verstand. Der Mann, der vor seinem Machtantritt Verräter“, sagte sie unter der Folter, „je telligenzija so charakteristisch ist.“ Über länger er lebt, desto mehr wird die Idee des die Lebensmittelrationierung 1920 – unter und zu ebendiesem Zweck das SelbstbeSozialismus entstellt. Und das auf Dut- seiner Regierung – schrieb er: „Mögen stimmungsrecht der Völker erfunden hatte, zende von Jahren.“ Sie wurde ohne Ge- noch Tausende zugrunde gehen, das Land erklärte als Machtinhaber: „Kein einziger Marxist kann bestreiten, daß die Interessen richtsurteil im Kreml erschossen, die Re- aber wird gerettet.“ Als Anfang 1922 über 25 Millionen Men- des Sozialismus höher stehen als die Ingierung dekretierte den massenhaften „roschen nichts zu essen hatten und jeden Tag teressen des Selbstbestimmungsrechts.“ ten Terror“ . Die Interessen des Sozialismus geboten In den folgenden 18 Monaten meldete die Eroberung von Kasan. Lenin telegradie Geheimpolizei Tscheka 8389 Er- * Vor dem Simonow-Kloster 1925. Aus Lenin, der die Selbstherrschaft hatte stürzen wollen, war ein neuer Zar geworden. d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 147 phierte seinem Heerführer Trotzki: „Meiner Meinung nach darf man die Städte nicht verschonen und weiter zögern, sondern muß sie erbarmungslos vernichten.“ Er befahl auch, alle Vorbereitungen zu treffen, „um Baku im Fall einer Invasion vollständig niederzubrennen“. Im Bürgerkrieg mit den Armeen der Antikommunisten 1918 bis 1920 (bis zu zehn Millionen Tote) holte er mit Hilfe der Roten Armee die von ihm selbst zur Unabhängigkeit ermunterten nichtrussischen Völkerschaften im Kaukasus und in Mittelasien sowie die Ukraine zurück, er rekonstruierte das Zaren-Imperium. Es fehlten nur noch Polen, die baltischen Staaten und Bessarabien, die sich Stalin später von Hitler schenken ließ. Lenin versuchte es auch im Baltikum mit Gewalt, die Balten obsiegten mit Hilfe der Briten und deutscher Freikorps. 1920 führte er sogar Krieg gegen Polen und dachte an der Grenze zu Deutschland nicht haltzumachen: „Durch den Angriff auf Warschau tragen wir zur Sowjetisierung Litauens und Polens sowie zur Revolutionierung Deutschlands bei.“ Aber die Polen stoppten die Russen an der Weichsel. Im gleichen Jahr erwog Lenin zudem die „Sowjetisierung Ungarns“ – wo die Kommunisten gerade mit einer Sowjetrepublik gescheitert waren –, „vielleicht sogar Tschechiens und Rumäniens“, auch von Italien war die Rede, von England. Die Dokumente mit diesen Lenin-Ambitionen aus dem Zentralen Parteiarchiv in Moskau sollten, so empfahl dessen Direktor Georgij Smirnow noch 1990 dem Politbüro, geheimgehalten werden, weil sie „nicht anders denn als Ermutigung zur Gewalt gegen souveräne Staaten interpretiert werden können“. Lenin probierte es aber auch mit Propaganda, Bestechung, Unterwanderung. Seine Emissäre reisten mit Koffern voller Gold, Brillanten, Perlen und Devisen ins Ausland. Ein bislang nicht identifizierter deutscher „Genosse Thomas“ empfing Schmuck und Devisen im Wert von 62 Millionen Mark für den Aufstand der KPD 1921 (und unterschlug einen großen Teil) – Lenin zahlte sozusagen des Kaisers Subventionen in gleicher Münze zurück. In jenem Jahr hatte er den Aufstand im eigenen Land. Allerorts rebellierten die betrogenen Bauern, streikten die verratenen Arbeiter, erhoben sich wieder die Matrosen von Kronstadt. Doch die „Rote ArbeiLITERATUR Angelica Balabanoff: „Lenin. Psychologische Beobachtungen und Betrachtungen“. Verlag für Literatur und Zeitgeschehen, Hannover 1961; 184 Seiten – Die russisch-italienische Komintern-Sekretärin distanzierte sich von Lenin, der sie respektierte. Maxim Gorki: „Unzeitgemäße Gedanken über Kultur und Revolution“. Insel Verlag, Frankfurt am Main 1972; 336 Seiten – Sammlung der 1917 /18 in Petrograd geschriebenen Artikel für die Zeitung „Nowaja schisn“ (Neues Leben). 148 SIPA PRESS Spiegel des 20. Jahrhunderts Das Jahrhundert des Kommunismus: Lenin und die Oktoberrevolution Lenin kurz vor seinem Tod*: Auf dem Land Champignons und Kaninchen züchten * Mit Schwester Marija in Gorki 1923. matische Anerkennung Sowjetrußlands, Lenin hielt daran fest, es sei „unsere Aufgabe, den Staatskapitalismus der Deutschen zu erlernen, ihn aus aller Kraft zu übernehmen, keine diktatorischen Methoden zu scheuen, um diese Übertragung der westlichen Kultur auf das barbarische Rußland zu beschleunigen, ohne dabei vor barbarischen Methoden des Kampfes gegen die Barbarei zurückzuscheuen“. Er nannte das wirkliche Ziel: „Gerade das braucht die Russische Sozialistische Sowjetrepublik, damit sie aufhöre, armselig und ohnmächtig zu sein, damit sie ein für allemal reich und mächtig werde.“ Dietrich Geyer: „Die Russische Revolution. Historische Probleme und Perspektiven“. Vandenhoeck und Ruprecht Verlag, Göttingen 1985; 170 Seiten – Knapp formuliertes, sehr informatives Standardwerk. John Reed: „Zehn Tage, die die Welt erschütterten“. Dietz Verlag, Ost-Berlin 1983; 520 Seiten – Augenzeugenbericht eines amerikanischen Journalisten und Kommunisten über die Oktoberrevolution. Richard Pipes (Hrsg.): „The Unknown Lenin. From the Secret Archive“. Yale University Press, New Haven und London 1996; 204 Seiten – Auswahl bisher ge- heimer Dokumente, die Lenin als brutal und menschenverachtend erscheinen lassen. Adam Ulam: „The Bolsheviks. The Intellectual and Political History of the Triumph of Communism in Russia“. Harvard University Press, Cambridge 1998; 598 Seiten – Eines der besten Werke über den Aufstieg Lenins und der bolschewistischen Partei in Rußland. Dimitri Wolkogonow: „Lenin. Utopie und Terror“. Econ Verlag, Düsseldorf 1996; 608 Seiten – Biographie unter Berücksichtigung der erst vor kurzem geöffneten russischen Archive. ter- und Bauernarmee“ erstickte die Revolte mit äußerster Brutalität. Die Partei beendete notgedrungen den „Kriegskommunismus“, die totale staatliche Verteilungswirtschaft, und trat den Rückzug zu einer „Neuen Wirtschaftspolitik“ (NEP) an, zum Programm der längst erschossenen, verhafteten oder vertriebenen Sozialdemokraten: freier Markt für Gewerbe, Kleinhandel und Landwirtschaft bei Staatseigentum an den Großbetrieben. Lenin hing weiter seinem deutschen Vorbild an. Die Weimarer Republik vollzog als erster großer Staat in Rapallo die diplo- d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 Maxim Gorki in einem Petrograder Zeitungsartikel vom 20. Dezember 1917 (Auszug) Jetzt hat das Proletariat die Macht in der Hand und damit auch die Möglichkeit freier schöpferischer Arbeit. Was bringt die Revolution also Neues; wie verändert sie unsere tierische russische Lebensweise; wird sie in der Finsternis des Volkslebens viel Licht verbreiten? Seit dem Ausbruch der Revolution hat es schon zehntausend Fälle von „Lynchjustiz“ gegeben. Diebstahl und Plünderungen nehmen zu; schamlose Beamte lassen sich ebenso skrupellos bestechen wie früher die Beamten des zaristischen Regimes. Die Brutalität der Vertreter der „Regierung der Volkskommissare“ wird allgemein beklagt, und das mit Recht. Allerlei kleine Leute, die sich an der neuen Macht ergötzen, behandeln den Bürger wie einen besiegten Feind, d. h. genauso, wie die Polizei des Zaren ihn behandelt hat. Sie brüllen jeden an. Das alles geschieht im Namen des „Proletariats“ und der „sozialen Revolution“, ist ein Sieg unserer Vertierung und vertieft weiter unsere Primitivität, an der wir bei lebendigem Leibe verfaulen … Reichtum und Macht für Rußland also statt eines Endes der Lohnabhängigkeit, statt Selbstbestimmung der Nationalitäten und Absterben des Staates. Entfremdung? Dieser Marx-Begriff findet sich nirgendwo in den 55 veröffentlichten Bänden der Werke Lenins – schwer lesbaren theoretischen Abhandlungen voll ätzender Polemik. Die Nachricht vom Oktober 1922, die Pazifik-Festung Wladiwostok („Beherrsche den Osten“) sei den Japanern wieder entrissen worden, kommentierte Lenin auf gut imperialistisch: „Niemals werden wir eine einzige Eroberung, die wir gemacht haben, wieder herausgeben!“ An ebendieser territorialen Raublust verdorrte sein Regime am Ende des Jahrhunderts. Im Dezember 1914 hatte er sich zum „Nationalstolz des Großrussen“ bekannt, er sah die schwache, von ihm oftmals verachtete Arbeiterschaft Rußlands zur „Avantgarde“ des internationalen Proletariats aufsteigen und formulierte die streng nationale Alternative, Grundgesetz der UdSSR sei „Entweder untergehen oder die fortgeschrittenen Länder auch ökonomisch einholen und überholen“. AFP / DPA Die Versprechungen der Revolution So kommt bei Lenin ein großrussischer diktieren. Er empfiehlt, endlich auch ArChauvinist zum Vorschein, ähnlich gewebt beiter in das ZK aufzunehmen, Genossenwie sein georgischer Nachfolger Stalin. Aus schaften zu fördern, nationalen MinderLenin, der die Selbstherrschaft hatte stür- heiten Autonomie zu gewähren. zen wollen, war ein neuer Zar geworden. Ungewiß bleibt, ob er überhaupt noch Nach nur gut vier Herrschaftsjahren, An- seinen Willen bekunden konnte, wieweit fang 1922, fühlt er sich ausgebrannt. Der Ehefrau Krupskaja das, was sie ihm von Berliner Internist Georg Klemperer, Bruder den Lippen ablas, zumindest gedanklich des Tagebuch-Autors Victor, diagnostiziert redigierte. Sie übermittelte den Lenin-Rateine steckengebliebene Kugel Fanni Ka- schlag, die Partei solle sich von Stalin („zu plans, die auf die Halsschlagader drückt. grob“) als Generalsekretär trennen. Am Lenin wird operiert. Er sorgt dafür, daß 9. März 1923 trifft ihn der dritte Schlag, Stalin Generalsekretär wird. Lenin verliert endgültig sein SprachverSieben Wochen später, an demselben mögen. Sein Wortschatz beschränkt sich Tag, an dem vor 35 Jahren Bruder Alexan- auf „da“, „führe!“, „geh“, „oh, là, là!“ der am Galgen starb, zieht sich Lenin auf Am 20. Januar 1924 läßt sich Lenin Ersein Landgut zurück, wo ihn sechs Tage zählungen von Jack London vorlesen und darauf ein Schlaganfall lähmt. winkt lachend ab, als die Krupskaja ihm Den (von Trotzki später geäußerten) sagt, die nächste Story sei „von bürgerliVerdacht, das langsame Sterben befördert cher Moral durchtränkt“. Am Tag darauf zu haben, versuchte Stalin mit der Erzäh- stirbt er, 53 Jahre alt. lung zu entkräften, Lenin – sprachgelähmt Stalin versagte ihm ein Grab, ließ ihn – habe ihn um Zyankali gebeten, das er aber tausendfach in Bronze und in Gips ihm jedoch verweigert habe. im ganzen Sowjetreich erstehen. Als MuLenins Leidenszeit währte knapp zwei mie blieb Lenin bis heute aufgebahrt im Jahre, in denen er sich politisch eines Bes- eiskalten Keller unter dem Moskauer Roseren besonnen haben soll. Er beschuldigt ten Platz, fast religiös angebetet von den Stalin des „großrussischen Chauvinismus“ Kommunisten aller Länder. bei der Annexion Georgiens, dagegen werDer heutige Patriarch der russisch-orde er sich wehren, wenn er – so ernst scheint thodoxen Kirche, Alexij II., empfahl vor er die Annexion doch nicht genommen zu wenigen Wochen, ihn endlich der Erde haben – seine Zahnschmerzen los sei. zurückzugeben – trotz aller Drohungen Immerhin befiehlt er Stalin noch die der letzten Leninisten mit einem dann fäl„erbarmungslose“ Deportation mehrerer ligen Bürgerkrieg. hundert Wissenschaftler, Literaten und Künstler nach Deutschland und erteilt der Geheimpolizei richterliche Vollmachten. Dann wieder redet er davon, nur noch Champignons und Kaninchen züchten zu wollen. „Es scheint, ich habe mich vor den Arbeitern Rußlands sehr schuldig gemacht“, ließ er hören, „wir haben den alten Staatsapparat übernommen, und das war unser Unglück“. Aber der Staatskapitalismus, beharrte er, sei ein „Fortschritt“. Doch auch: „Wir können kaputtgehen … Wir kommen zu spät.“ Auf Stalins Weisung ist Kommunisten in Moskau (1994): Traum vom Paradies der Kranke streng isoliert worden, Lenin klagt: „Wenn ich in FreiEr gehört nach Ansicht vieler Russen in heit wäre …“ die Stadt, die einmal als „Leningrad“ seiNach Aussage seiner Schwester Marija nen Namen trug, dort sind auch Mutter ruft Lenin keinen Genossen so oft zu sich und Schwestern begraben. Der gehenkte wie Stalin, der in den schwersten Phasen Bruder Alexander wurde in einem Masder Krankheit als einziges ZK-Mitglied vor- sengrab an unbekanntem Ort verscharrt – gelassen wird. Die anderen Führungsfigu- so wie fast alle Opfer Lenins. ren dürfen Lenin nur durch ein Guckloch im Vorhang oder in der Wand beobachten. Fritjof Meyer, 67, Autor des Buches „WeltSieben Tage nach seinem zweiten macht im Abstieg – Der Niedergang der Schlaganfall, am 23. Dezember 1922, ver- Sowjet-Union“ (1984), leitet seit 1966 die sucht Lenin, sein politisches Testament zu Ost-Berichterstattung des SPIEGEL. d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 149 Das Jahrhundert des Kommunismus: Lenin und die Oktoberrevolution PORTRÄTS Weggefährten der Revolution Alexandra M. Kollontai Die Feministin Spiegel des 20. Jahrhunderts tional trug Madame Kollontai, so die Anrede auf diplomatischem Parkett, 1944 zum Waffenstillstandsabkommen zwischen Moskau und Helsinki bei und ermöglichte Finnland den Ausstieg aus dem Zweiten Weltkrieg. Als sie acht Jahre später starb, verwehrte Stalin ihr ein Grab an der Kreml-Mauer. Statt dessen wurde sie am Moskauer Jungfrauenkloster beigesetzt, wo später auch der ungeliebte Nikita Chruschtschow seine letzte Ruhe fand. Nikolai I. Bucharin Der Ökonom Es war eine intelligente, eloquente und dazu auch noch elegante Frau, die 1924 als Botschafterin des gerade gegründeten Arbeiter-und-Bauern-Staats Sowjetunion nach Norwegen (später auch nach Mexiko und Schweden) kam: Alexandra Michailowna Kollontai. Erst spät hatte sich die Tochter eines aristokratischen Zaren-Generals dem Revolutionär Lenin angeschlossen. Der vertraute der Pädagogin nach der Revolution die Frauenabteilung des ZK an. Für ein soziales Gesundheitswesen setzte sie sich ein, für bessere Arbeitsbedingungen für Frauen, für legale Abtreibung und Scheidung – mehr noch: für die „neue Frau“, die nach eigenem Gutdünken nicht nur arbeiten, sondern auch lieben sollte. Unter ihren männlichen Genossen war sie schnell als eigensinnige Feministin verschrien. Obschon sie zu erkennen gab, daß ihr die Partei nicht radikal genug war bei der Realisierung der kommunistischen Gesellschaftsordnung, schonte sie der Generalsekretär Stalin und ernannte die resolute 52jährige Genossin sogar zur Diplomatin. Von nun an verstummte sie bei innenpolitischen Diskussionen. Interna- 150 KEYSTONE / SYGMA Kollontai (1921) Einen „herausragenden Politiker“ nannte Lenin den Moskauer Nikolai Iwanowitsch Bucharin, den „Liebling der Partei“. Der hagere Intellektuelle, Inhaber einer Wirtschaftsprofessur und von 1922 bis 1929 Chefredakteur der Parteizeitung „Prawda“, predigte nach der Revolution einen radikalen Kriegskommunismus: Staatsproduktion und -verteilung sowie Abschaffung des Geldes. Er wollte den „alten Traditionen die Zähne ausbrechen“. Das Experiment schlug fehl, Bucharin setzte nun auf das gegenteilige Konzept: Die Neue Ökonomische Politik sah einen kontrollierten Markt innerhalb der Planwirtschaft vor. Die Bucharin-Kritiker Kamenew und Sinowjew ließ Stalin kaltstellen. Da wohnte Bucharin auf Wunsch Stalins noch im Kreml, duzte ihn und arbeitete noch am neuen sowjetischen Grundgesetz, der Stalin-Verfassung von 1936. Zwei Jahre später war Bucharin tot. Weil er sich gegen die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft ausgesprochen hatte, wurde er zum Volksfeind und Konterrevolutionär erklärt. Trotz der Vorwürfe glaubte Bucharin bis zum Schluß an die Partei und ihren Generalsekretär. Drei Monate vor seiner Hinrichtung bat er Stalin in einem Brief aus der Haft Bucharin (um 1928) „um Verzeihung“. d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 Israel L. Helphand „Parvus“ Der Finanzier Ohne ihn wäre der im Exil lebende Jurist Lenin im Oktober 1917 in Petrograd wohl kaum an die Macht gekommen. Doch statt Parvus, so das Pseudonym von Israel Lasarowitsch Helphand, zu danken, verleugnete Lenin den Gönner. Der russische Sozialrevolutionär Helphand, geistiger Miturheber der Theorie von der permanenten Revolution, die Trotzki populär machte, war ein genialer Abenteurer. In Basel zum Nationalökonomen ausgebildet, hatte er als einflußreicher Finanzberater der osmanischen Regierung in Konstantinopel während des Ersten Weltkriegs ein Vermögen gemacht. Dieses Geld und seinen Einfluß wollte er einsetzen, um das verhaßte Zarenreich zu Fall zu bringen. Mit Chuzpe gelang es ihm, die an einer Schwächung des Kriegsgegners Parvus (1906) Rußland interessierte deutsche Regierung davon zu überzeugen, mit ihm gemeinsam Lenins Bolschewiki zu unterstützen. Helphand organisierte den Sonderzug, mit dem Lenin und weitere 31 russische Emigranten im April 1917 aus Zürich von deutschen Soldaten schwer bewacht durch Deutschland fuhren und nach Petrograd zurückkehrten. Insgesamt zahlte Berlin bis 1918 etwa 82 Millionen Goldmark in die Kassen der Bolschewiki. Lenin soll dabei direkt mit Helphand korrespondiert und um „mehr Material“ gebeten haben. Doch als der inzwischen von Preußen eingebürgerte Helphand nach dem Zarensturz um Einreise nach Rußland ersuchte, lehnte Lenin ab. Auch das besiegte Deutschland verweigerte eine weitere Zusammenarbeit. Enttäuscht zog sich der sozialistische Millionär und Bonvivant in seine Berliner Villa auf Schwanenwerder zurück und starb einsam 1924 – im selben Jahr wie Lenin. Reinhard Krumm STANDPUNKT Lenin in meinem Leben Von Michail Sergejewitsch Gorbatschow rierenden christlichen größte Politiker des Staaten, welche ihre nun zu Ende gehenden Völker in ein europaJahrhunderts. Als Poliweites Blutbad getiker erscheint mir Lestürzt hatten. Als der nin nach wie vor geKriegskommunismus nial – und als Mensch in eine Sackgasse führhoch anständig: weil er te, war Lenin Realist selbst zur Einsicht gegenug, das Steuer langte, daß mit Gewalt scharf umzureißen. allein kein Paradies auf Heute sind AnordErden zu errichten ist. nungen und Notizen Wären ihm noch einige Lenins veröffentlicht, Lebensjahre vergönnt in denen er den Aufgewesen, wäre unser altrag erteilt, mit Gegler Geschichte ganz annern der Sowjetmacht, ders verlaufen. mit der Kirche und Leider gab das Leihren Bediensteten ben ihm und uns diese Gorbatschow (1950) gnadenlos kurzen ProChance nicht. Die Erleuchtung kam zu spät. Der schwerfäl- zeß zu machen. Da wir von Kindheit an lige Zug der Diktatur raste weiter, ge- zu der Vorstellung erzogen wurden, Letrieben von der Kraft einer großen Re- nin sei ein Edelmann ohne Fehl und Tavolution, die Lenin zum Sieg geführt del gewesen, lösen solche Zeitdokuhatte. Der Mann am Steuer, der an Le- mente Bitterkeit aus.Wir können sie danins Stelle trat, hat verhindert, daß die mit erklären, die Lage sei so gewesen, Weichen anders gestellt wurden. Der daß die Feinde hinterlistig und brutal Zug fuhr in die falsche Richtung. Er riß vorgingen und Lenin eine leidenschaftliche Natur war. Doch ich kann und will Hunderttausende mit in den Tod. Die Frage, ob Lenin für all das ver- solche Handlungen nicht rechtfertigen. Als Folge des erbarmungslosen und antwortlich zu machen ist, was die Sowjetmacht anrichtete, muß ich negativ haßerfüllten Bürgerkriegs herrschte in beantworten. Zugleich bin ich weit da- Rußland eine Atmosphäre, in der sich die bolschewistische Diktatur zum Tervon entfernt, ihn zu vergöttern. Obwohl Lenin ein bekennender Mar- ror bekannte. Lenins Erfindung war der xist war, dachte und handelte er entge- Terror nicht, er wurde offiziell nach gen der verbreiteten Meinung – im Gei- einem Attentat auf Lenin ohne sein ste der russischen Kulturtradition. Le- Wissen verkündet. Lenin hat sich nicht nins Strategie zielte darauf ab, Ordnung widersetzt. Er verlangte nur, daß die in die soziale Verwirrung Rußlands zu berüchtigte Tscheka gezügelt werde und bringen, ein neues Staatswesen zu sich auch jedes andere Staatsorgan an schaffen, dessen Einheit wiederherzu- das Gesetz halten sollte. Erkennt man die Rolle der Persönstellen. Diese Ziele wurden erreicht. Der Preis war hoch: gewaltige Men- lichkeit in der Geschichte an, hat Lenin schenopfer in einem Bürgerkrieg, den die Weltgeschichte im 20. Jahrhundert Lenin hatte vermeiden wollen, und eine am stärksten, wenn auch nicht unzweideutig beeinflußt: als eine große, ja eine verarmte Gesellschaft. Lenin teilte den Irrglauben vieler sei- großartige Gestalt unserer Epoche. ner Zeitgenossen, der Kommunismus sei eine Alternative zur moralischen Michail Gorbatschow, 68, war bis 1991 Verwilderung der sich als zivilisiert ge- der letzte Generalsekretär der KPdSU. DPA W ie für sehr viele, die in der Sowjetzeit aufwuchsen, war Lenin für mich einmal das, was Gläubige in Christus, Mohammed oder Buddha sehen – etwas Unerreichbares, Unantastbares, eine unwiderrufliche Autorität. Zeit und Erfahrungen haben mein Verhältnis zu ihm geändert. Ich fand die kommunistischen Ideen untadelig und war bereit, jeden Parteiauftrag zu erfüllen. Das sage ich ganz aufrichtig, wie bei einer Beichte. Ich war jung, als ich in die große Politik kam. Das sowjetische System lief offenkundig nicht mehr rund. Deshalb machte ich mir, wie viele damals, Gedanken über Veränderungen, die ihm seine Funktionsfähigkeit zurückgeben könnten. Das mußte zwangsläufig zu grundsätzlichen Überlegungen führen – über das Schicksal des Sozialismus. Als ich Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU geworden war, sahen wir uns alle, meine Kampfgefährten und ich, die ganze Partei, mit der Notwendigkeit konfrontiert, die Grundlagen zu überdenken, die über sieben Jahrzehnte für uns verbindlich waren. Bei der Umsetzung umfassender Reformen konnten wir uns sogar auf Lenin berufen, hatte er doch einen seiner letzten Beiträge so resümiert: „Wir müssen unsere Haltung gegenüber dem Sozialismus grundlegend ändern.“ Ich verteidigte jene Ideen Lenins entschlossen, die uns auf den Weg der Reformen gebracht hatten und helfen konnten, sie weiter durchzusetzen. Jeder Schritt fiel uns sehr schwer, weil er auf den Widerstand von Reformfeinden stieß und sich damit die Frage nach der Reformierung der Partei selbst stellte. In dieser Phase entstand der Entwurf eines neuen Parteiprogramms, das im Juli 1991 auf dem ZK-Plenum angenommen wurde. Wir strebten eine Sozialdemokratisierung an und dadurch eine Spaltung der KPdSU. Welche Empfindungen hege ich heute für Lenin? Ohne Zweifel ist er der DIE THEMENBLÖCKE IN DER ÜBERSICHT: I. DAS JAHRHUNDERT DER IMPERIEN; II. … DER ENTDECKUNGEN; III. … DER KRIEGE; IV. … DER BEFREIUNG; V. … DER MEDIZIN; VI. … DER ELEKTRONIK UND DER KOMMUNIKATION; VII. … DES GETEILTEN DEUTSCHLAND: 50 JAHRE BUNDESREPUBLIK; VIII. … DES SOZIALEN WANDELS ; IX. … DES KAPITALISMUS; X. DAS JAHRHUNDERT DES KOMMUNISMUS; XI. … DES FASCHISMUS; XII. … DES GETEILTEN DEUTSCHLAND: 40 JAHRE DDR; XIII. … DER MASSENKULTUR d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 151 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Kultur Szene ARCHITEKTUR Beton und Barock B FOTOS: J. BINDRIM / LAIF etonklotz oder Meisterstück – darüber streiten ein Architektur-Preisgericht und die Bewohner der oberbergischen Provinzstadt Nümbrecht. Der Förderverein für das dortige Barockschloß Homburg hatte einen europaweiten Wettbewerb zur Museumserweiterung ausgeschrieben. Einstimmig entschied sich Anfang Juni eine qualifiziert besetzte Jury für den Entwurf des jungen Hamburger Büros Konermann, Pawlik, Siegmund: Der festungsartige, kubische Betonanbau, der auf den Grundmauern einer alten Burg errichtet werden soll, sei funktional und pfiffig. Allerdings würde der Neubau den Blick aufs alte Schloß verstellen – und vorbei wäre es mit den traditionellen Hochzeitsfotos vor historisch-romantischer Kulisse. Nun tobt der wütende Streit um das Nümbrechter Wahrzeichen: Kreistagsabgeordnete ließen eigens „Rettet unser Schloß“-Plakate drucken, ein Minnesänger trug Barockschloß Homburg, Modell des geplanten Anbaus Protestlieder vor, Leserbriefschreiber bezeichneten das Modell als „bunkerähnlich“. Al- von Gerkan, Marg und Partner gilt als gesichtslos und langlerdings kommen der zweite und dritte Platz ebenfalls nicht in weilig. Vorläufige Entwarnung für Brautpaare: Ob und was nun Betracht. Der Glasbau des Münchner Büros Botti und Huber gebaut wird, entscheidet sich wohl erst nach der Kommunalist zu klein, der T-förmige Entwurf des Hamburger Großbüros wahl im kommenden Herbst. BUCHMARKT „Auch die Giganten machen Fehler“ Der Berliner Verleger Oliver Schwarzkopf, 32, über die Vorteile von Fusionen großer Buchverlage für die Kleinen der Branche kannten Namen. Und die müssen dann mit Großauflagen Geld bringen. Doch dazwischen bleiben vor allem im Sachbuch höchst reizvolle, bisweilen sogar komfortable Nischen. In unserem Fall: Szene, Kultur, Jugend, Lifestyle von HipHop und Graffiti bis Gothic und Techno. SPIEGEL: Kürzlich haben sich die Riesen Holtzbrinck, Axel Springer und Weltbild mit dem Online-Dienst der gangenen Woche hat Brüssel die Entscheidung über die Buchpreisbindung nochmals vertagt. Sind Sie als Independent-Verleger erleichtert? Schwarzkopf: Die Buchpreisbindung ist eine große Kulturleistung. Falls sie jemals fällt, wird sich die Verlagskonzentration beschleunigen. Interessanterweise haben wir aber bisher von den Fusionen der Großen durchaus profitiert. Die Giganten sind so nervös, daß sie einen Fehler nach dem anderen machen und sich gegenseitig kannibalisieren. SPIEGEL: Welche Fehler? Schwarzkopf: Viele Großverlage setzen nur noch auf wenige Autoren mit be- W. BELLWINKEL SPIEGEL: Herr Schwarzkopf, in der ver- Schwarzkopf d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 Deutschen Telekom zum InternetBuchhandel „Booxtra“ zusammengeschlossen. Was bedeutet das für Ihren Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf? Schwarzkopf: Online-Anbieter verkaufen in der Regel jedes Buch, das lieferbar ist. Und im Internet sieht ein kleiner Verlag fast genauso aus wie ein großer. Die Leute suchen nach einem Thema. Wenn sie das Stichwort HipHop eingeben, finden sie vielleicht 20 Bücher, und unter den ersten drei sind dann auch wir. Es steht nicht daneben, daß dieses Buch von einem unabhängigen Verlag geliefert wird, der wenig Werbegelder hat. Das Internet demokratisiert den Buchvertrieb, es gibt kleinen Verlagen große Chancen. Die neuen Technologien kommen den Independents sehr zugute. SPIEGEL: Träumt nicht jeder Verleger davon, irgendwann wenigstens einen mittelgroßen Betrieb zu führen? Schwarzkopf: Auf gar keinen Fall, ehrlich nicht. Die Branchenkonzentration, das Wegbrechen so vieler mittelgroßer Verlage zeigt es ja: Zu groß zu werden, das wäre unser Ende. 155 Szene KUNST Frankensteins Kinder D NATIONAL GALLERY OF AUSTRALIA, CANBERRA ie Muse war eine billige, noch dazu kopflose Puppe: Seit 1924 hing die Schaufensterfigur in der Pariser Zentrale der Surrealisten. Und hinterließ Eindruck: Exzentriker Salvador Dalí ließ sich gern von der irrealen Welt der Menschendoubles zu Thrillerkreationen animieren. 1938 behelmte er eine Modepuppe mit einem Haifischgebiß und setzte sie ans Lenkrad seines Autos – als Chauffeuse einer Kunstblondine, über die 200 Schnecken krochen. Sein deutscher Kollege Hans Bellmer zerstückelte die starren Mannequins, schraubte aus den Einzelteilen Monster zusammen. Doch nicht nur Surrealisten vergriffen sich an den Scheinwesen. Ob Marionetten oder Perückenbüsten: Puppen, lebensnah und leblos zugleich, faszinierten viele Künstler des frühen 20. Jahrhunderts, Futuristen wie Dadaisten. Die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf widmet der Irritationsquelle der Avantgarde von Samstag an die gut bestückte Schau „Puppen Körper Automaten. Phantasmen der Moderne“ (bis 17. Oktober). Ausgestellt werden über 400 Werke, Giorgio de Chiricos eiköpfige Gliederfiguren und plumpe Leiber Fernand Légers, der den Menschen als Maschine begriff. Ab 1908 spazierten auch echte Menschen als bunte Puppen durch die Straßen: Arbeitslose verdienten, zwischen Reklametafeln geklemmt, als sogenannte Sandwichmänner ihren Lebensunterhalt – Künstlerin Alexandra Exter inspirierten sie wiederum zu einem Kunstwerk. Exter-Sandwichmänner (1926) AU S S T E L L U N G S S T O P P Kino in Kürze „So haben wir gelacht“. Glaubt man diesem trübgestimmten Nachkriegsdrama des italienischen Star-Regisseurs Gianni Amelio („Gestohlene Kinder“, „Lamerica“), so muß im Turin der Jahre 1958 bis 1964 ununterbrochen Fiese Intrige? Z um Eklat kam es fünf Tage nach der Eröffnung: Die Essener Kunstschau „art open“ (SPIEGEL 28/1999), bis zum 8. August geplant, mußte am Donnerstag schließen. Die Messe, in deren Hallen die Ausstellung stattfand, schickte die Kündigung. Begründung: zuwenig Wachpersonal. Ausstellungschef Dieter Walter Liedtke vermutet eine Intrige. Er solle weichen, damit ein Neubau auf dem Areal vorangetrieben werden kann. Auch habe die Stadt Essen Stimmung gegen ihn gemacht: „Die fürchten mein ungewöhnliches Konzept“, wütet Liedtke, der endlich seiner „Kunstformel“ zur Berühmtheit verhelfen wollte. N. ENKER der Junge und jedes Mädchen gut aussieht, sobald er oder sie die Brille absetzt, ist eine menschenfreundliche Legende, die gern verbreitet wird. Auch die Außenseiterin (Rachael Leigh Cook) entpuppt sich als süße Maus, sobald sie Individualität, Grips und Augengläser an der Garderobe abgibt. Zur Strafe hat sie einen gutaussehenden High-SchoolSprecher, Einserschüler und Top-Athleten an der Hacke. Die als Aschenputtelromanze getarnte Konformitätsepistel spiel- Cook te in den USA spektakuläre 65 Millionen Dollar ein. Dafür hätten sich die Zuschauerinnen lieber schicke Brillen kaufen sollen. schlechtes Wetter geherrscht haben. In sechs Kapiteln – pro Jahr einem – blättert Amelio die Geschichte des tatkräftigen, idealistischen Analphabeten Giovanni auf, der aus Sizilien in den unwirtlichen, aber reicheren Norden zieht, um seinem labilen Bruder Pietro bei dessen Ausbildung zum Lehrer zu helfen. Im Laufe der Jahre verkompliziert sich die Beziehung der ungleichen Bauernsöhne; sie verstricken sich in ein Wirrwarr aus Bruderliebe und Bruderhaß, Geheimnissen und Opferwillen. „So haben wir gelacht“, der 1998 den Hauptpreis des Filmfests von Venedig gewann, beruft sich auf große Vorläufer des italienischen Neorealismus, gerade Viscontis „Rocco und seine Brüder“, reicht aber nicht an sie heran. Amelio lädt die politische und moralische Tragik einer ganzen Ära auf den Schultern seiner verstörten Helden ab. Das ist mehr, als sie tragen können. KINOWELT „Eine wie keine“. Daß je- Liedtke 156 d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 Kultur L I T E R AT U R Schimpf und Schande V or zwei Jahren machte der Vorfall Schlagzeilen: Ein Berliner Bassist unterzeichnete, ausgerechnet während eines Israel-Gastspiels seines Orchesters, in der Hotelbar eine Rechnung mit „Adolf Hitler“. Vergebens beteuerte der Musikus danach, sein fataler Mißton sei einer Augenblicks-Idiotie entsprungen: Er wurde mit Schimpf und Schande nach Hause geschickt und fristlos entlassen – den Schriftsteller Friedrich Christian Delius, 56, inspirierte der Fall nun zu einer Erzählung. „Was mir am meisten fehlt, ist der Beifall“, hebt der Ich-Erzähler an; auf Rat des Anwalts, der ihn gegen die Kündigung vertritt, führt er eine Art Tagebuch. Der trostlose Held ist nach dem Willen des Autors Opern-Posaunist. „Die Flatterzunge“ – so der Delius-Titel – gehört zu den schwierigsten Techniken des Metiers. Seit seinem Blackout flattern dem Musiker eher die Nerven: „Die Frauen meiden mich. Aus allen Vereinen geschmissen, Lehrauftrag gestrichen, bald gelte ich als gemeingefährlich.“ 25 Jahre in der Anonymität des Orchestergrabens hat er hinter, nackte Existenzangst vor sich. Mehr als die falschen Feinde, die ihn wegen seines Ausrasters als Verbrecher behandeln, fürchtet er die falschen Freunde – Antisemiten, die ihm nun gratulieren. Dem Selbstmord nahe, grübelt er, welcher Teufel ihn geritten hatte. Brachte ihn der selbstgefällige israelische Barmann auf? War er unzurechnungsfähig, weil ihm die Freundin kurz vor der verhängnisvollen Unterschrift einen Korb gab? Er sinniert auch über das Unisono fürchterlicher Verdammung: Warum muß er, der blöde Berliner Blechbläser, der Nation als Sündenbock für das angestaute Unbehagen über die Vergangenheit dienen? Am Ende wird er unter Hinweis auf seine unvergessene Bar-„Performance“ („Es war ein Augenblick seltsamer Wahrheit“) von einer Avantgardetruppe aus Tel Aviv zu einem musikalischen Gastspiel eingeladen: „Die Flatterzunge“ gibt sich, ohne großes literarisches Raffinement, als kleines Denkstück. Am Rande Nackte Wahrheit Friedrich Christian Delius: „Die Flatterzunge“. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg; 144 Seiten; 29,80 Mark. HÖRBUCH „Viel zu deutsch“ ie Berliner dürfen sich mindestens bis zum Jahr 2016 an der Ausstellung „Picasso und seine Zeit“ erfreuen: Kunstsammler Heinz Berggruen, 85, hat die Frist seiner Dauerleihgabe, im Stülerbau gegenüber von Schloß Charlottenburg zu bewundern, um zehn Jahre verlängert: Werke von Picasso, Cézanne und van Gogh sind zu sehen – ein Kunstschatz. „Ich verleugne in keiner Berggruen (in San Francisco 1939) Weise meine jüdische Herkunft, aber ich bekenne mich zu Deutschland“, so der in Berlin geborene Mäzen im Juni bei der Übergabe des Nationalpreises; 1936 hatte Berggruen dem Land den Rücken gekehrt, seit einigen Jahren lebt er wieder hier. Seine Stimme ist jetzt auf einer CD verewigt, wo er Glossen und eigene Erzählungen liest. Er schrieb sie 1946 als US-Soldat im zerstörten Deutschland für eine Illustrierte, 1947 machte Rowohlt ein Buch („Angekreidet“) daraus. Berggruen, der später in Paris einen Kunsthandel aufbaute, zog in den Miniaturen über die Rechtfertigungsversuche der Nachkriegsdeutschen her („Und wenn wir durchgehalten hätten, was würden wir alle für ein Leben führen!“). Da wird ein Brief in die USA geschickt, an den vertriebenen Mr. Silbermann, der ein Leumundszeugnis ausstellen soll über den Ex-Nachbarn: Rollenprosa vom Feinsten – wie die Erklärung des Kunstprofessors, der seine Spitzweg-Studien nicht fortsetzen will („viel zu deutsch im Moment“). Die Texte, von großer Anschaulichkeit, wurden 1998 unter dem Titel „Abendstunden in Demokratie“ bei Rowohlt Berlin neu aufgelegt, und so heißt nun auch die CD (Deutsche Grammophon, produziert von Bernstein Voices) – entlehnt einer Kleinanzeige im „Darmstädter Echo“: „Junge Dame, Büroangestellte, gibt Abendstunden in Demokratie nach sechs.“ d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 BPK D „Homo homini lupus“ sagte der englische Staatstheoretiker Hobbes – der Mensch ist der schlimmste Feind des Menschen. An deutschen Gestaden ist in diesem Sommer eine historisch neue Steigerungsform dieser ewigen Wahrheit zu besichtigen: Der nackte Mensch wird verfolgt vom angezogenen, homo homini nudo lupus. „NacktKrieg an der Ostsee“ – so rüttelte „Bild“ uns dezente Freunde von Armani auf, wie stets als erste zur Stelle, wenn Errungenschaften der Zivilisation bedroht sind. Selbst bei ausdrücklichem Verbot tummelt sich nach einer Bademeister-Blitzumfrage inzwischen jeder vierte Urlauber hüllenlos im heißen Ostsee-Sand. „Schamlos!“ schallt es immer häufiger aus textilbewußten Strandkörben, und nur mit Mühe können Strandwächter handfeste ethische Säuberungen verhindern. Doch was will er eigentlich, der nackte Mensch, der nicht am FKKStrand, sondern mitten unter uns seine primären Geschlechtsmerkmale präsentiert, als gehörten sie zur Auslage einer Ladengalerie? Will er uns – mit Rousseau, Loriot und den Sprüchen vom Damenklo – zurufen, daß Natur überall und immer schön sei? Wir alle wissen: Die Wahrheit sieht anders aus. Sie trägt Hängebauch, hat fleckige Haut und krumme Beine, während ihr Protagonist mit dem winzigen Vorderlader übers Gelände paradiert wie ein taumelnder Spatz, der sich zum Pfau berufen fühlt. Der Homo nudus ist nicht nur ein Visionär des perfekten Pos, ein Prophet von Brust und Beinen, sondern auch ein blinder Phantast und rettungsloser Utopist – eine Gefahr für die Menschheit. Deshalb fordern wir: Nfor-Truppen an die Ostseefront. Entwaffnung aller Nackten. Zieht ihnen die Hosen an. 157 Kultur AU T O R E N „Lektion der Vergänglichkeit“ SPIEGEL-Gespräch mit dem Schriftsteller Arnold Stadler über den Büchner-Preis, seine südbadische Geburtsstadt Meßkirch, Gott und den Tod als Romanthema D G. GERSTER händler“ – so die vom Autor geie erste nachdrückliche und wünschte Titelschreibweise*. prominente Empfehlung kam Dabei erzeugt die scheinbare Nähe 1994 von Martin Walser und von Ich-Erzähler und Autor einen poestand im SPIEGEL (31/1994): „Das ist tischen Schwebezustand zwischen Fikein Ton“, begann trompetengleich der tion und Realität: „Nach der ReifeHinweis des Mannes vom Bodensee prüfung die erste Reise meines Lebens. auf den in Meßkirch geborenen jünBis dahin war ich eigentlich nur nach geren Kollegen. Die schönste Wirkung Schwackenreute, Meßkirch oder in eines Buches sei doch, schrieb Walser den Stall gekommen, wo ich eigentin Anspielung auf einen Satz von Marlich am liebsten war.“ Das ist der von cel Proust, „daß wir beim Lesen empWalser beschworene Stadler-Ton: Lafinden, wir läsen gar nicht mehr in konisch, auch komisch wird da ein Leeinem anderen Leben, sondern im eiben zwischen Kindheit in der Bauerngenen“. stube und Theologiestudium in Rom In diesem Jahr nun wird der so gebeschrieben. Stadler, der später noch lobte Arnold Stadler, 45, den BüchnerGermanistik studierte, promovierte Preis, den bedeutendsten deutschen Li1986 und publizierte den Gedichtband teraturpreis, erhalten – nachdem er zu„Kein Herz und keine Seele“. vor schon diverse Förderpreise und Die neue Ehe- und Dreiecksge1998 den Kaschnitz-Preis entgegennehschichte bietet pure Rollenprosa: Sein men konnte. Zugleich trat er das tradiErzähler, ein frühpensionierter Getionsreiche Amt des Stadtschreibers schichtslehrer, ist ein mehr als fragvon Bergen-Enkheim an. Dort, im würdiger Gewährsmann. Er berichtet, Stadtschreiberhaus, fand jetzt auch das wie ein Schrotthändler namens AdriSPIEGEL-Gespräch statt, in dem Stadan der Dritte im Bunde wird und daler einem oft geäußerten und vom Gebei – trotz Erpressung und Terror – stus seiner Prosa nahegelegten Verdacht Autor Stadler: Eine Art Grabredner nicht allein die Ehefrau, eine Ärztin, entgegentritt: „Obwohl ich dauernd ,ich‘ sage und schreibe, spricht so stets nur ein Stellvertreter-Ich – erotisch fasziniert. Auch für dieses Buch gilt, was Martin Walser in seiner Huldigung Stadlers (siehe Seite 161) treffend formuliert meine Bücher sind nicht autobiographisch gemeint.“ Dennoch geht von allen diesen Büchern eine bezaubernde hat: Oft bilde sich eine ganze „Existenzdimension“ in einem autobiographische Suggestion aus: beginnend mit der heimatli- einzigen Satz ab. chen Romantrilogie „Ich war einmal“ (1989), „Feuerland“ (1992) und „Mein Hund, meine Sau, mein Leben“ (1994) bis hin zu * Arnold Stadler: „Ein hinreissender Schrotthändler“. DuMont Buchverlag, Köln; dem gerade erschienenen Roman „Ein hinreissender Schrott- 240 Seiten; 39,80 Mark. SPIEGEL: Herr Stadler, auf welchem Fuß hat Sie die Nachricht erwischt, daß Sie den diesjährigen Büchner-Preis bekommen? Stadler: Als ich vom Büchner-Preis am Telefon erfuhr, es war an einem Freitag fünf vor zwölf mittags, stand ich aufrecht, mit beiden Beinen, in der kleinen Küche hier im Stadtschreiber-Haus von Bergen-Enkheim. Spontan habe ich über das Handy dem Anrufer Christian Meier, dem Präsidenten der Akademie, die den Preis vergibt, gesagt: „Sie zeigen mir meine Vergänglichkeit vor“ – das entsprach meinem Gefühl. SPIEGEL: Meinten Sie das so, wie es in einem Ihrer Bücher heißt: „Je mehr wir wurDas Gespräch führte SPIEGEL-Redakteur Mathias Schreiber. 158 den, desto weniger war ich“? Endlich berühmt, aber verloren die Kraft und der Charme des Frühwerks? Stadler: Sie drohen mir ja direkt damit! Nein, als Schriftsteller wird man heute doch nicht mehr berühmt. Das werden allenfalls Models, Popstars, Rennfahrer. SPIEGEL: Ist Grass nicht berühmt? Stadler: Nicht so wie Michael Schumacher. SPIEGEL: Ein Kapitel Ihres neuen Romans „Ein hinreissender Schrotthändler“ hat die Überschrift „Unser Name steht auf dem Triumphbogen“. Eine Ahnung bevorstehenden Dichter-Lorbeers? Stadler: Auf dem Pariser Triumphbogen steht der Ortsname „Meßkirch“, er steht für die Besiegten einer historischen Schlacht. Also ein trauriger Ruhm. d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 SPIEGEL: In Ihrem Buch „Mein Hund, meine Sau, mein Leben“ tritt der Philosoph Martin Heidegger auf, der wie Sie in Meßkirch geboren wurde. Der Denker gehört zu den „erbittertsten Feinden der schwarzen Kuh“, die aus Ostfriesland in den südbadischen „Fleckviehgau“ importiert wurde. Mitstreiter des Philosophen ist sein Vetter, der „Viehhändler Heidegger“, der für den Denker uralte, vermeintlich heile Wörter sammeln mußte. Haben Sie das alles erfunden? Stadler: Nein, in Meßkirch habe ich das Gymnasium besucht, als es, nach einem Heidegger-Text, den Namen „Gymnasium am Feldweg“ erhielt – dazu schickte der Philosoph ein Grußwort; seit seinem Tod heißt es „Heidegger-Gymnasium“. Ich sehe Heidegger noch vor mir, wie er nach einem T. BARTH / ZEITENSPIEGEL Stadler-Thema Meßkirch in Südbaden: „Jede ernstzunehmende Dichtung ist auch Heimatdichtung“ rollt hat. Heidegger glaubte, in jener entlegenen Gegend sei die Sprache noch heil; ich dagegen erkenne dort eher die Heillosigkeit der Sprache. Das Meßkircher Deutsch, meine Muttersprache, war meine erste Fremdsprache. SPIEGEL: Sie beschreiben die dörfliche Idylle als ziemlich wüste Gegend: Drohbriefe, Schläge mit dem Stecken, schamlose Lügen, eingeleitet durch die Formel: „Ich soll tot umfallen, wenn das nicht stimmt!“, Selbstmordgelüste, Streit um Alimente, genannt das „Hosenladengeld“, überhaupt jede Menge Grobheit und „Geschrei im Herrgottswinkel“. Sind kleine Dörfer wie Schwackenreute oder Kreenheinstetten … Stadler: … die heißen dort wirklich so ... SPIEGEL: … für Sie große Höllen? Stadler: Ich wollte mich nicht mit dieser Welt soziologisch auseinandersetzen, ich D. MELLER MARCOVICZ Vortrag, mittags um halb zwei, mit seinem Bruder nach Hause schlurfte, wohl zum Mittagsschlaf. Er hat ja immer wieder in Meßkirch gesprochen. Der Viehhändler ist erfunden, aber es könnte so gewesen sein, Heidegger hatte solche Verwandte und schätzte urtümliche Wörter. Was ist gegen einen Viehhändler zu sagen? SPIEGEL: Nichts. Aber wieso kämpfen Denker und Händler gegen die schwarze Kuh? Stadler: Die schwarze Kuh ist mehr mein Problem. Sie repräsentiert einen Zustand, von dem Heidegger auch sprach: die Konstitution des Menschen auf dem Land. Ich meine eine bestimmte Krankheit dieses Menschen: sein langsames Aussterben, die Schmerzlaute seiner Sprache, daß seine Schweine in die Städte verfrachtet und industriell ausgeschlachtet werden wie seine alten Wörter, die das Fernsehen längst über- wollte mein Buch schreiben, und da kann man nur von seiner kleinen Welt ausgehen. Während ich über diese Welt schrieb, wurde sie mir immer weniger geheuer, aber auch immer einleuchtender. Ich bin mit der Ungeheuerlichkeit und Hinfälligkeit dieser Dinge groß geworden – es war meine erste Erfahrung des Befremdetseins. Und wichtiger als alles, was ich schildere, ist die Sprache, die ich dabei finde. SPIEGEL: Wieso kommen Sie dann regelmäßig auf Schwackenreute zurück? Stadler: Ich finde diesen Namen eindrücklich lächerlich – er steht gut für die eindrückliche Lächerlichkeit all dieser Untergangsgeschichten, die ich erzähle. SPIEGEL: Wollen Sie auch Heidegger, wie Thomas Bernhard oder Günther Grass es taten, lächerlich machen? Stadler: Ich habe zu Heidegger – anders als Bernhard, der in „Alte Meister“ bloß einen Heidegger-Bildband paraphrasiert – durchaus eine Beziehung. „Sein und Zeit“ ist für mich eines der allergrößten Bücher dieses Jahrhunderts, ich lese immer wieder darin, etwa über die Angst, die Sorge und den Tod, in diesem Buch von 1927 hat Heidegger vielen Schriftstellern Stichworte und Schlüsselsätze geliefert, an denen sie weiterschreiben konnten. Ich lese „Sein und Zeit“ als Literatur, etwa so wie „Don Quijote“, nicht als Traktat. SPIEGEL: Sind Sie wirklich, wie Sie einmal schreiben, mit dem barocken Prediger Abraham a Sancta Clara verwandt? Ehepaar Heidegger im Schwarzwald (1968) In urigen Landstrichen Suche nach urtümlichen Wörtern 159 D. MELLER MARCOVICZ strich, wo über Jahrhunderte allenfalls 2000 Menschen am sogenannten Geschlechtsverkehr teilnehmen und es kaum Migration gibt, wäre das kein Wunder. SPIEGEL: Im „Hinreissenden Schrotthändler“ leidet ein bodenständiger, frühpen- Gymnasium in Meßkirch, Schüler: Grußwort vom Denker sionierter Geschichtslehrer unter seiner Ehefrau, einer flatterigen, un- Stadler: Lustvoll schmerzvoll und treu, aber treuen Ärztin und Zeitgeist-Muse aus dem unglücklich, mit dem Blick darauf, daß für feinen Hamburg, die nicht einmal die Na- mich das Schreiben eine Art Beschäftimen ihrer Großeltern auswendig kennt. gungstherapie aus Schmerz über Kürze Steckt darin nicht doch ein Liebesgruß an und Verlauf dieses Lebens hier bleibt, also das ach so kranke, aber immerhin traditi- stets mehr meint als Schwackenreute. onsverbundene Dorf im Süden? Sind Sie, Eigentlich ist es kein Eintauchen ins Verbei allem Sarkasmus, nicht doch ein heim- lorene, sondern eine Vergegenwärtigung – licher Heimatdichter? darin steckt auch eine, wahrscheinlich Stadler: Heideggers „Feldweg“-Text von vergebliche und nur nachträgliche, Wi1949, das ist Heimatdichtung, furchtbar derstandsleistung gegen die Uniformiekitschig und fast Blut und Boden. So etwas rung und gegen den totalitären Zugriff war schon damals unmöglich. Ich fühle der Glotze, die ja bewirkt hat, daß etwa mich nicht derartig mit der Heimat ver- die alemannische Muttersprache – „’s isch bunden. Man bringt fälschlicherweise, oft schad derfür!“ – praktisch ausgestoraus Unkenntnis, „Heimat“ mit „Land“ zu- ben ist. sammen. Jede ernstzunehmende Dichtung SPIEGEL: Wieso ist es darum schade, wenn ist auch Heimatdichtung, wo Ort und Spra- es doch die Sprache von lauter kranken che einander begegnen, zum Beispiel: Tho- Dörflern war? mas Mann und Lübeck, Alfred Döblin und Stadler: Das ist eine der Aporien, der unBerlin. Die merkwürdige Landschaft, aus lösbaren Widersprüche meiner Arbeit, da der ich komme, ermöglichte mir einen gebe ich Ihnen recht. Aber ich werte ja den Sprachraum, aber noch lange keine Hei- Zustand dieser kleinen Welt nicht eigentmat. Auch wenn ich eine von meiner Ge- lich, ich reagiere nur sprachlich und fragmeinde ausgestellte sogenannte Heimat- mentarisch auf meinen Raum, mit einem berechtigung besitze, ein amtliches For- lachenden Auge, das weint. mular, aus dem hervorgeht, daß ich „durch SPIEGEL: Die Sprache, sagen Sie einmal, Abstammung und Geburt hier heimatbe- geht „über Leichen“. rechtigt“ bin. Meine Erfahrung ist aber im Stadler: Auch der Leser dieser Sprache. Grunde mehr eine der Heimatlosigkeit ... SPIEGEL: Danke. Im „Hinreissenden SchrottSPIEGEL: ... bei deren Übersetzung in Spra- händler“ intoniert Gabi die Wendung che Sie lustvoll in eben diese Heimatwelt „mein Mann“, als ob „sie ,mein Grabstein‘ gesagt hätte“. Häufig spielt das sehr selbsteintauchen. T. BARTH / ZEITENSPIEGEL Stadler: In einem Land- Heidegger in Todtnauberg (mit Rudolf Augstein, 1966): Schlüsselsätze über die Angst 160 d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 kritische Stadlersche Erzähler-Ich mit dem Gedanken, „Schluß zu machen“. Neigen Sie zur Selbstgeißelung? Stadler: Ich bin nicht mein Psychiater. Gewiß enthält meine Sprach-Welt lauter Lektionen unserer Vergänglichkeit, darum habe ich ja zunächst Theologie studiert. Der Tod verschlägt mir die Sprache, aber er ist auch etwas zum Lachen, er macht in gewisser Weise das Leben sogar leichter. Ich hasse den Tod nicht, wie es zum Beispiel Elias Canetti tat. Ich bin doch auch als Schriftsteller eine Art Grabredner: Vergegenwärtiger von etwas, das vorbei ist. SPIEGEL: Kardinal Buffi, eine Ihrer Romanfiguren, will Papst werden – „wie ich“. Spricht da das reale Ich von Arnold Stadler, dem Ex-Theologen? Stadler: Da spricht das katholische Kind vom Land. Ich selbst habe davon nie geträumt. Obwohl ich dauernd „ich“ sage und schreibe, spricht so stets nur ein Stellvertreter-Ich – meine Bücher sind nicht autobiographisch gemeint. SPIEGEL: Aber sie sind autobiographisch grundiert. Sie haben davon geträumt, Stellvertreter Gottes auf Erden zu sein? Stadler: Das sind wir doch alle, sofern wir an Gott glauben.Wir müssen für ihn durchsetzen, was „Liebe“ sein könnte. SPIEGEL: Es sei, sagen Sie an einer Stelle des „Schrotthändlers“, heute leichter, ohne Schamröte das Wort „ficken“ auszusprechen, als über Gott zu reden. Stadler: Eine meiner Figuren sehnt sich nach einem Menschen, mit dem sie über Gott reden kann, ohne dabei ausgelacht zu werden. Gott ist ein neues Tabu, wohl das letzte Tabu unserer Zeit. Das ist auch verständlich, andererseits, da der Mensch jahrhundertelang mit Gott-Gerede traktiert wurde. SPIEGEL: Ist Gott nicht – endgültig – in Auschwitz gestorben? Stadler: Der allmächtige Gute ja, aber den hat es eigentlich nie gegeben. Lesen Sie mal die Psalmen, ich habe gerade 50 neu übersetzt. Wir sehnen uns zuweilen nach Dingen, die es möglicherweise gar nicht gibt. So könnte das mit Gott auch sein. SPIEGEL: Ist Gott mehr als eine Metapher für das letztlich ungelöste Rätsel unseres Daseins? Stadler: Ich hatte bisher noch keine Erscheinung. Aber ich kann im SPIEGEL keine Beichte ablegen, ob ich an Gott glaube oder nicht. Es wäre schön, wenn es diesen Gott Abrahams gäbe – und wenn diese Welt nicht so miserabel wäre. SPIEGEL: Sie haben Johann Peter Hebels Gedicht „Die Vergänglichkeit“ in einem Essay als „Einsamkeitserklärung eines Übriggebliebenen“ gedeutet. War das eine Selbsterkenntnis? Stadler: Die Einsamkeit ist eines der Standbeine des Menschen, auch eines von mir, denn auch ich bin ein Mensch. SPIEGEL: Herr Stadler, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. A. STEFFEN Kultur Autoren Walser, Stadler (am Bodensee): „Wir sind ein Orden“ Über das Verbergen der Verzweiflung Von Martin Walser W ann immer ich Arnold Stadler lese, merke ich, daß er weiß, es schicke sich nicht zuzugeben, wie verzweifelt man ist oder sein kann oder eigentlich sein müßte. Arnold Stadlers Prosa lebt von abenteuerlichen Aufschwüngen, von mutwilligen Fiktionen, die ihm so konkret gedeihen, daß ein argloser Leser glauben kann, ihretwegen, dieser konkreten Fiktionen wegen werde erzählt. Aber arglos kann ein Arnold-Stadler-Leser nicht bleiben. Im übermütig schweifenden Prosafluß tauchen ganz jäh, aber nur scheinbar unvermittelt, Sätze auf, die schmerzlich scharf sind. „Was mich an Bord hielt, war mein fehlender Charakter“, heißt es da auf einmal. Arnold Stadler ist ein Selbstbezichtigungsvirtuose. Das Unstatthafte dieser Virtuosität, das heißt, der Umstand, daß man im Sichheruntermachen kein Meister sein darf, weil ja ein Meister keinen Grund hat, sich herunterzumachen, dieses rein Stadlersche Dilemma wird zur Quelle seines Humors, den man einen schreienden Humor nennen darf, oder seiner Ironie, die eine krasse Ironie genannt werden muß, oder eben, wenn ihm nach nichts mehr zumute ist, zur Quelle einer Verzweiflung, die er auf eine sie entblößende Art verbergen muß. Einmal sprachen wir über jemanden, den wir beide kennen; Arnold sagte: „Den mag ich nicht.“ Und fügte gleich hinzu: „Aber da kann der nichts dafür.“ Also, Arnold ist selber schuld, daß er jemanden nicht mag. Es könnte ja befreiend, sogar ein bißchen erlösend wirken, wenn man einem Freund sagt, den und den mag ich nicht.Wenn man aber gleich dazufügen muß, daß der, den man nicht mag, nicht verdient, nicht gemocht zu werden, dann kehrt sich die Aussage schnell gegen den Aussagenden. Er wirft es sich nahezu vor, daß er den und den nicht mag. Das ist Selbstbezichtigungsvirtuosität. Und wie tief drin die entspringt, zeigt sich, wenn sie so gesprächsweise und beiläufig herauskommt. Ich spüre darin die Urverfassung des Sprachmenschen: die Abgeneigtheit und Unfähigkeit, auf sich zu bestehen. Die wohnt eng zusammen mit der Hoffnung, die ganze Welt erlösen zu müssen, erlösen zu können, erlösen zu dürfen. Natürlich nicht durch Religionsstiftung, sondern durch Witz und Aberwitz.Aber was ist Religionsstiftung anderes. Diese nichtswürdige Gloriole ist uns bekannt von Pascal bis Robert Walser. Und erzbekannt durch Seuse. Unseren lokalen Nichtswürdigkeitsausbund, der uns gelehrt hat, aus Wunden Rosen zu machen und die Rosen dann als Wunden vorzuführen. Das Prinzip: sich selber geißeln, weil das die Welt vielleicht davon abhält, uns zu geißeln, und weil es, wenn man’s selber besorgt, weniger weh tut. Das ist jetzt natürlich arg verd e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 nünftig gesagt. Von seinem Johann Peter Hebel sagt Arnold Stadler einmal, er sei gewesen „… fromm und ungläubig, glaube ich“. Die schöne Aufgehobenheit, die er durch die beiden Adjektive stiftet, wird durch den ebenso sanften wie virtuosen Unmaßgeblichkeitsschlenker, durch ein gerade noch hingehauchtes „glaube ich“ ins Wanken gebracht. Es darf nicht nur nichts übrigbleiben; es darf nicht einmal übrigbleiben, daß sicher ist, daß nichts übrigbleibt. Diese Figur beherrscht Arnold Stadler besser als jeder andere, nein, nein, unmöglich zu sagen, er beherrsche diese Figur, wo doch diese Figur, diese Zerreibungspotenz es ist, die ihn beherrscht. „Mich zerriß es vor Schmerz, daß es mich nicht vor Schmerz zerriß.“ Das ist die Auflösung von gar aller Positivität in die reine Bewegung. Negationsbewegung. Das ist Arnold Stadlers Infinitesimalbewegung. Es darf nichts bestehen bleiben. „Der Heuberg, der meiner Traurigkeit entgegenkam.“ Damit könnte man doch einen Eindruck machen. Aber bei Arnold Stadler: „Wenn es Traurigkeit war, was es war.“ Oder: „Kurzes Leben, kurzer Schmerz.“ Würde auch dem und jenem genügen. Aber bei Arnold Stadler steht an anderer Stelle: „Aber ich glaube nicht, daß die Zeit vergeht.“ Ich will Arnold Stadler jetzt nicht auf diesen Zerreibungszwang spezialisieren und festlegen. Aber daß er ein Meister dieser Figur ist, wird man wohl sagen dürfen. Und jetzt will ich nicht noch einmal, wie am Anfang, auf die sentimentale Amateurmoral hereinfallen, die meint, es sei unsittlich, im Ausdruck des Nichtsseins ein Meister zu sein. Es ist ja der Ausdruck, der gelingt, nicht das so und so flackernde Dasein. Das meldet sich, nachdem es wieder einmal ausgedrückt worden ist, in seiner ganzen Unbestehbarkeit zurück. Wie heiter man scheinen muß, wenn man ausdrücken muß, wie unheiter man ist, das ist „Wo Schmerz durchbrechen will, wird er in Grund und Boden geschrieben“ bei Arnold Stadler zu erfahren. Man muß den Schein züchten, bis er sich selber fortsetzt. Aber er läßt eben bei Arnold Stadler nie vergessen, daß er Schein ist. Bei Arnold Stadler stört er sich immer wieder selber, der Schein. Aber wo und wann auch immer der reine Schmerz durchbrechen will, hochbluten will, wird er gleich wieder niedergeschrieben, zugeschrieben, in Grund und Boden geschrieben, zum Verstummen gebracht durch nichts als Ausdruck, dem man natürlich ansieht, daß er eine Schmerzverstummungsgeste ist. Öfter bildet sich seine Existenzdimension in einem einzigen Satz ab. Die Fischvergiftung, die seinem erzählten Ich, seiner höchstpersönlichen Abenteurerversion im „Ausflug nach Afrika“ verpaßt wird, quit161 Kultur tiert der Erzähler so: „… doch das hat nur zu einer Leberschwellung und diese zum Schmerz und dieser zu mir geführt.“ Das ist Sprachmenschenart à la Stadler. Wir sind ein Orden. Die Regel ist nicht formuliert, aber jedem bekannt. Bekannt, solange er nicht versucht, sie zu formulieren. Eine Zeitlang habe ich gedacht, unse- Bestseller rem Orden, dem Sprachmenschenorden gehöre der eine mehr an als ein anderer. Jetzt glaube ich, der Orden zähle viel, viel mehr Mitglieder, als man ahnen kann. Lesende und Schreibende gleichermaßen. Und alle Unterschiede zu anderen Ordensmitgliedern sind, verglichen mit den Unterschieden zu anders Handelnden, verIm Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin „Buchreport“ Belletristik Sachbücher 1 (1) John Irving Witwe für ein Jahr 1 (2) Sigrid Damm Christiane und Goethe Insel; 49,80 Mark Diogenes; 49,90 Mark 2 (2) Henning Mankell Die falsche Fährte Zsolnay; 45 Mark 2 (1) Waris Dirie Wüstenblume 3 (–) Donna Leon Nobiltà 3 (3) Corinne Hofmann Die weiße Massai A1; 39,80 Mark Diogenes; 39,90 Mark Commissario Brunetti ermittelt diesmal in Adelskreisen 4 (3) Henning Mankell Die fünfte Frau Schneekluth; 39,80 Mark 4 (5) Tahar Ben Jelloun Papa, was ist ein Fremder? Rowohlt Berlin; 29,80 Mark 5 (4) Klaus Bednarz Ballade vom Baikalsee Europa; 39,80 Mark 6 (6) Ruth Picardie Es wird mir fehlen, das Leben Wunderlich; 29,80 Mark Zsolnay; 39,80 Mark 5 (4) John Grisham Der Verrat 7 (9) Daniel Goeudevert Mit Träumen beginnt die Realität Hoffmann und Campe; 44,90 Mark Rowohlt Berlin; 39,80 Mark 6 (5) Walter Moers Die 131/2 Leben des Käpt’n Blaubär Eichborn; 49,80 Mark 8 (7) Dale Carnegie Sorge dich nicht, lebe! Scherz; 46 Mark 7 (6) Marianne Fredriksson Simon 9 (8) Guido Knopp Kanzler – Die Mächtigen der Republik W. Krüger; 39,80 Mark 8 (7) Maeve Binchy Ein Haus in Irland Droemer; 39,90 Mark C. Bertelsmann; 46,90 Mark 10 (10) Jon Krakauer In eisige Höhen Malik; 39,80 Mark 9 (8) John le Carré Single & Single Kiepenheuer & Witsch; 45 Mark 10 (9) Minette Walters Wellenbrecher Goldmann; 44,90 Mark 11 (10) P. D. James Was gut und böse ist Droemer; 39,90 Mark 11 (13) Jon Krakauer Auf den Gipfeln der Welt Malik; 39,80 Mark 12 (11) Gary Kinder Das Goldschiff Malik; 39,80 Mark 13 (12) Peter Kelder Die Fünf „Tibeter“ Integral; 22 Mark 12 (12) Paulo Coelho Der Alchimist 14 (–) Bodo Schäfer Der Weg zur 13 (11) Tom Clancy Operation Rainbow finanziellen Freiheit Diogenes; 32 Mark Heyne; 49,80 Mark 14 (15) Terry Brooks Star Wars – Episode 1: Die dunkle Bedrohung Campus; 39,80 Mark Ein Millionär gibt Ratschläge fürs Reichwerden Blanvalet; 29,90 Mark 15 (14) David Guterson Östlich der Berge Berlin; 39,80 Mark 162 15 (14) Gerd Ruge Sibirisches Tagebuch Berlin; 39,80 Mark d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 nachlässigenswert. Jeder von uns macht seine Mitgliedschaft auf seine Weise kenntlich. Fast ein Grundzug: und verbirgt sich in der Kenntlichmachung auf seine Weise. Das Verbergenmüssen zeichnet uns mehr aus als das Aussprechen. Wer davon lebt, davon existiert, daß er sich zur Sprache bringt, demonstriert, daß man im Verbergenmüssen mehr von sich preisgibt als im Gestehen. Wer nichts zu verbergen hat, hat nichts zu sagen. Und Verzweiflung ist unter dem, was zu verbergen ist, nicht das Unwichtigste. Stilistik ist weit mehr Verbergens- als Ausdruckskunst. Und durch diesen gebändigten Schein brechen dann zum Beispiel bei Arnold Stadler die Satzgeschosse durch. „Wer weint, hat recht“ heißt es plötzlich. Dann geht’s weiter im Text. Das heißt: in der Disziplin. Auf Arnold Stadlers Seiten kann man hinschauen wie auf eine Landschaft, die sich geniert, schön zu sein, und die deshalb „In der Sprache finden sich alle unsere Einsamkeiten zusammen zu einer einzigen“ regelmäßig wüste Vulkanereien anstellt, einfach um den Frieden zu stören, der eben nicht Schein ist, sondern falscher Schein. Das heißt, undurchschaute Stimmung. In der Sprache, die Ausdruck genannt werden darf, finden sich alle unsere Einsamkeiten zusammen zu einer einzigen. Und obwohl das nichts bringt, zu nichts führt, zu nichts Positivem, Lebbarem, Beruhigendem, Einfriedendem, ist es doch eine schöne Vorstellung, daß die Sprache ein Element sei, in dem sich lauter einsame und natürlich stumme Fische tummeln, und daß wir verbunden scheinen miteinander durch dieses Element, in dem wir ausdrücken, daß wir ziemlich stumm sind. Ich bin froh, Arnold Stadler in der Sprache begegnet zu sein, weil seine Art, Sprachmensch zu sein, mich erleben läßt, wie unterhaltend es sein kann, der Verzweiflung die Schau zu stehlen. Dafür danke ich ihm jetzt und noch länger. Schließen möchte ich mit einer Stadler-Passage, die in aller Kürze die ganze Strecke enthält: „Als ich nach Hause kam, ging ich zuerst zum Kühlschrank und habe meinen Durst gelöscht mit Bier. Dann habe ich geweint. Ich habe so laut geschrien, daß die Bilder von der Wand fielen. Aber es hingen keine Bilder an der Wand, und sie wären nicht von der Wand gefallen. Und ich hörte auch bald wieder auf zu weinen und machte etwas anderes.“ Das ist sein Programm. Das hat er im Titel seines Gedichtbandes, vollkommen einfach und einfach vollkommen, so ausgedrückt: Kein Herz und keine Seele Man muß es singen können. ™ FILM Schwarze Messe Das letzte Geheimnis des amerikanischen Kinosommers ist gelüftet: Stanley Kubricks „Eyes Wide Shut“ erweist sich als schwergängiges Ehekrisenstück. I FOTOS: WARNER BROS. n der englischen Grafschaft Hertfordshire ist es nicht erlaubt, daß Leute sich im eigenen Garten beerdigen lassen. Die einzige Ausnahme, bis vor kurzem, wurde für den Schriftsteller George Bernard Shaw gemacht, immerhin vor einem halben Jahrhundert. Und nun die zweite, für den Filmemacher Stanley Kubrick: Seit vier Monaten liegt er im Park seines An- Star-Paar Cruise, Kidman: Ist Begehren männlich oder weiblich? wesens bei St. Albans begraben. Er liegt dort nicht allein, sondern im Kreis der Kubrick hat die Filmrechte an der Er- führungslust, Sehnsucht und untergründiHunde und Katzen, die ihm im Lauf der zählung, die wohl im Wien der Jahrhun- ger Angst vor sich selbst ausspielt und wie Jahre vorausgestorben sind. Kubrick soll dertwende spielt, vor bald 30 Jahren er- ihr Gegenüber Tom Cruise, von Eifersucht ein seltsam menschenscheuer, berüh- worben – mit Hilfe eines Strohmanns, weil wie von einem Blitz getroffen, erbleicht, errungsscheuer Monolith gewesen sein, doch er seit je ein Geheimniskrämer war und starrt, verstummt und schließlich in die er liebte die Körpernähe von Tieren. um nicht durch seine Prominenz den Preis Nacht hinausflieht: Das hat eine atemrauEr ist, wie die Redensart sagt, nach ge- hochzutreiben –, und er hat angeblich da- bende Intimität, eine Spannung auf höchtaner Arbeit sanft entschlafen, knapp eine mals auch alle Exemplare der englisch- stem Ingmar-Bergman-Niveau, wie sie geWoche nachdem er seinen letzten Film sprachigen Buchausgabe aufgekauft, als rade im US-Kino kaum je zu finden ist. Diese Szene findet ein Gegenstück von „Eyes Wide Shut“ fertiggestellt hatte. Und würde dadurch erst sein Geheimnis ganz vergleichbarer Intensität, als der Mann nach er war noch seinen letzten Lebenstag lang ihm allein gehören. damit beschäftigt, in stunWelches literarische Mo- einer abenteuerlich-alptraumhaften Nacht denlangen Telefonaten die tiv ihn so traf und faszi- ins Ehebett zurückfindet, wo nichts je Werbekampagne für desnierte, macht „Eyes Wide wieder sein wird, wie es einmal war. Dasen Kinostart zu instruShut“ offenbar: Es ist die zwischen jedoch, Episode um Episode mentieren: Der Film sollte Geschichte eines Mannes, Schnitzlers Vorgaben treu, erlebt der Mann in ein großes Geheimnis der durch einen plötzlichen – während in seinem Hinterkopf als Endgehüllt werden. Ausbruch von Paranoia aus losschleife der imaginierte Eifersuchtsfilm Leider muß man ja erst seinem Seelenfrieden und läuft, der ihm seine Frau in den Armen des sterben, um eine Apotheoseiner sicheren Lebens- Fremden zeigt – eine Folge von Begegnunse zu kriegen. Zumindest bahn geworfen wird. Ku- gen mit anderen Frauen: immer erregender, den Werbestrategen also brick hat den Stoff ins heu- bizarrer, frustrierender. Höhe- und Schlußpunkt dieser Initiamuß Kubricks Tod geletige New York transponiert, gen gekommen sein, um wo es am vornehmsten ist: tionsreise ist ein großes Maskenfest, bei das kaum noch erwartete Da bewohnt der Arzt dem eine Orgie im Stil einer schwarzen Comeback eines AltmeiDr. Harford mit Frau und Messe zelebriert wird. Dieses pathetische sters (zwölf Jahre nach seiTöchterchen eine elegante Sex-Ritual hat schon in Schnitzlers Schilnem letzten Film) zum sin- Regisseur Kubrick (1998) Wohnung, und da hat er derung wenig Realität, vielmehr die Fiebgulären Ereignis hochzustieine Millionärsklientel, die rigkeit einer Männerphantasie aus der lisieren. Nun aber, da das außerordentliche seine Fürsorge und Verläßlichkeit zu schät- Klippschule des Marquis de Sade, und sein Nachvollzug im New York von heute beGeheimnis am Wochenende in mehreren zen weiß. tausend US-Kinos enthüllt worden ist, breiEines Abends, als er mit seiner Frau, fördert es auf die Kippe zur Lächerlichkeit. Da auch andere Details anachronistisch tet sich Verlegenheit aus: „Eyes Wide Shut“ schon auf der Bettkante, einen Joint raucht ist kein Offenbarungseid, doch auch keine und in ein Gespräch über männliches und bleiben und auch die Musik im walzerseliOffenbarung; Kubricks letzter Film (sein weibliches Begehren gerät, überrascht sei- gen Salonsound früherer Zeiten schwelgt, fünfter nur im Lauf von 30 Jahren) ist von ne Frau ihn mit dem Geständnis, sie sei drängt sich die Frage auf: Hätte nicht Kuseiner unvergleichlichen Handschrift und wenigstens einmal in ihrem Leben, im letz- brick mit seiner überwältigenden ImaginaKraft geprägt, doch auch unentschieden, ten Urlaub, durch den bloßen Blick eines tionskraft das Wien der Belle Époque herja brüchig, und schleppt, bei 159 Minuten Fremden so in Flammen gesetzt worden, aufbeschwören können wie niemand seit Spieldauer, streckenweise schwer an der daß sie sich diesem Mann (der dann aber Stroheim und Ophüls? Mit New York, wo er Obsession, die er verfolgt und von der er verschwand) auf der Stelle auf Gedeih und ja seit 1968 selbst nie mehr war, hat sein Film wenig zu tun; er erinnert, zutiefst nosich nicht zu einer zwingenden eigenen Vi- Verderb ausgeliefert hätte. sion zu befreien vermag: Arthur SchnitzWie Nicole Kidman in dieser großen stalgisch, an eine Zeit, als die Sexualität lers „Traumnovelle“. Szene die Nuancen von Koketterie, Ver- noch ein Geheimnis war. Urs Jenny d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 163 AKG Kaiserkrönung Karls des Großen*: Raffinierter Deal mit dem Heiligen Vater AU S S T E L L U N G E N Glanz in der Wildnis In Paderborn, wo vor 1200 Jahren der Papst Karl den Großen um Hilfe bat, wird nun ein üppiges Epochen-Panorama entfaltet: Erstaunliche Kunstwerke aus einer kriegerischen Zeit. W ie müssen die Verhandlungsführer taktiert und getüftelt haben. Wie genau wird jeder Kniefall, jede Umarmung, jeder Friedenskuß der Empfangszeremonie im voraus festgelegt gewesen sein. Bei diesem Gipfeltreffen durften kein Schritt und keine Geste dem Zufall überlassen werden. Taktisch war es raffiniert: Frankenkönig Karl der Große ließ im Sommer 799 den zu Hause schwer unter Druck gesetzten, hilfesuchenden Papst Leo III. 1600 Kilometer weit ausgerechnet in die sächsische Wildnis anreisen, zur Pfalz Paderborn in einem kurz zuvor noch blutig umkämpften Herrschaftsgebiet. Bestimmt ging es zwischen den beiden nicht allein um eine Rehabilitierung des Heiligen Vaters. Die war bloß der halbe Deal. Als Gegenleistung wurde gewiß schon der große Staatsakt des folgenden Jahres vorbesprochen: die Kaiserkrönung Karls in der römischen Peterskirche. „Falsche Christen, ja Heiden und Söhne des Teu* Gemälde von Friedrich Kaulbach (1861). ** Museum in der Kaiserpfalz und Diözesanmuseum, bis 1. November. Zweibändiger Katalog im Verlag Philipp von Zabern; zusammen 988 Seiten; 98 (Buchhandelsausgabe 140) Mark; ergänzender Aufsatzband 758 Seiten; 80 (125) Mark; alle drei Bände 148 (238) Mark. 164 fels“, so die offiziöse vatikanische Lesart, hatten Leo in Rom überfallen, ihn mißhandelt und mit Vorwürfen wie dem des Meineids und des Ehebruchs zur Abdankung gedrängt; fränkische Gesandte führten ihn nach Paderborn. Der Schauplatz und ein feierlicher Militär-Aufmarsch demonstrierten ihm da die Macht des Königs über widerspenstige Völker – dieser Monarch hatte Anspruch auf den Kaisertitel. Andererseits half diese neue Würde dann auch den besiegten, zwangsbekehrten Sachsen im Lande, das Gesicht zu wahren und sich mit ihrem Schicksal zu versöhnen. Eroberungsstrategie, Missionsdrang, Repräsentationsbedürfnis und europäische Ordnungspolitik Karls des Großen griffen ineinander. Die Papstreise ins ferne, unwegsame Deutschland und die Kaiserkrönung sind Wendepunkte einer Epoche des Um- und Aufbruchs, die viele Linien regionaler und abendländischer Geschichte vorgezeichnet hat. 1200 Jahre nach der Begegnung von Paderborn schildert hier eine große Ausstellung vom Freitag dieser Woche an „Kunst und Kultur der Karolingerzeit“: das glänzende Panorama ihrer international vernetzten Elite-Ästhetik ebenso wie ein Puzzle unscheinbarer, doch sprechender Bodenfunde aus der Region Westfalen. Ein klotziger Katalog überschüttet den Leser mit Neuigkeiten zum frühen Mittelalter**. Als Person bleibt der Held des Zeitalters unvermeidlich schemenhaft. Halb Geistererscheinung, halb Kinoheld – so scheint er dem Ausstellungsbesucher gleich im Entree hoch zu Roß entgegenzustürmen. Doch die Projektion ist eine Fotomontage aus einem Pferd der Gegenwart und einer karolingischen Reiterstatuette, die vielleicht gar nicht Karl den Großen zeigt, sondern dessen Enkel Karl den Kahlen – ein Blendwerk ähnlich den Historienschinken, die Maler des 19. Jahrhunderts zusammenfabulierten. Noch bei authentischen Bildnismünzen des „Imperator Augustus“ bleibt die Frage nach der Porträtähnlichkeit offen. Schnitzwerk mit Kreuzigung (frühes 8. Jahrhundert) Putzfragment mit Wandmalerei aus der Pfalz Paderborn (um 800) Kultur FOTOS: MUSEUM DER KAISERPFALZ (S. 164 li.); A. HOFFMANN (re.); A. MÜNCHOW (S. 165 li.); R. SACZEWSKI (re.) Auch mit kaiserlichen Requisiten müs- an klassischer Norm ausgerichteten Letsen sich die Ausstellungsmacher Matthias tern, in prächtigen Zier- und Bildseiten und Wemhoff und Christoph Stiegemann be- fein geschnitzten Elfenbeindeckeln. helfen. Keiner behauptet, Karl habe just Den Glanzpunkt der Paderborner Ausjenen Klappstuhl benutzt, der in einer An- stellung bildet das „Lorscher Evangeliar“ deutung der Empfangsszene von 799 die aus der „Hofschule“ des Herrschers, eines Position des Herrschers markiert. Ob ein seit der frühen Neuzeit zerteilten Bandes, byzantinischer Seidenstoff mit dem Motiv dessen Teile hier erstmals seit 34 Jahren aus des Wagenlenkers tatsächlich als sein Lei- drei Kollektionen komplett zusammenchentuch diente, wie die Tradition es will, kommen; einer Lorscher Vor-Schau fehlist zu bezweifeln. Wer im letzten Schau- te noch der vordere Buchdeckel. Weil saal den spätantiken Marmorsarkophag be- ein Handschriftenteil für eine Luxusrestaunt, in dem Karl 814 zumindest höchst- produktion des Luzerner Faksimile-Verwahrscheinlich bestattet worden lags (Subskriptionspreis: 35 400 ist, weiß nicht, ob dies auch auf Mark) auseinandergenommen Der reiche seinen Wunsch geschah. worden ist, können mehrere Westen gab Und wenn schon. AussageDoppelblätter zugleich gezeigt kräftig bleibt das grandiose Stück Heiligenleiber werden. mit der heftig bewegten Relief- als Transfergut Nicht zwangsläufig ging solch darstellung vom Raub der schöan die Ossis künstlerischer Aufschwung dinen Proserpina durch den Unrekt auf die Antike zurück. Gedes frühen terweltgott Pluto allemal. Ob rade die Buchmalerei sieht der Mittelalters englische Kunsthistoriker John Karl der Große es nun aus Italien an seinenAachener Hof holte Mitchell auch von der Hochkuloder ob er es im Rheinland vorfand – daß tur des italienischen Langobardenreichs er ein Auge dafür hatte oder in diesem angeregt. Die hatte ihre Renaissance schon Punkt auf einsichtige Ratgeber hörte, vollzogen, als Karl der Große 774 auf einen spricht für seine Aufgeschlossenheit. Er je- Hilferuf des damaligen Papstes den König denfalls störte sich nicht an den erregten Desiderius besiegte und beerbte. Immer heidnischen Figuren, die 1843 offenbar so neue Funde, von der Bauplastik bis zur anstößig wirkten, daß der Sarkophag auf Bodenfliese und zum Wandmalerei-Frageine dem Volk unzugängliche Empore des ment, demonstrieren den erlesenen GeAachener Doms gehievt wurde, wobei er schmack langobardischer Höfe. abstürzte und in 18 Stücke zerschellte. DaAuf Paderborn scheint ein Abglanz danach notdürftig zusammengesetzt, ist er erst von gefallen zu sein. Hier steht keine Kajetzt für die Paderborner Ausstellung gründ- rolinger-Architektur mehr aufrecht, doch lich und mit glänzendem Ergebnis restau- Ausgräber sind auf eine Abfolge zunehriert worden. mend anspruchsvoller Bauten aus dem Der Proserpina-Sarkophag ist nur der 8. Jahrhundert gestoßen. Zwischen den massivste Beleg jener Antikenbewunde- Fundamenten lagen Tausende bemalter rung, die unter Karl dem Großen eine wah- Putzstückchen; in der Ausstellung sieht re Renaissance hervorrief. Überreich spie- man einige zu fragmentarischen Schriftzeigelt sie sich in der Buchproduktion mit len, dekorativen Ranken oder zu Gewandihren penibel edierten Texten – in schönen, partien addiert – ein nördlich der Alpen Evangelienbuch der Aachener Schatzkammer (um 800) damals beispielloses Schmuckprogramm. Stammt es von Werkleuten aus Italien? Spärlich hingegen sind die Bodenfunde an Glas; denn Kostbarkeiten wie jene trichterförmigen Trinkgefäße, die ex zu leeren und dann kopfüber auf den Tisch zu stellen waren, blieben nicht am Ort.Was beim Gelage in Scherben ging, wurde wieder eingeschmolzen. Was heil blieb, trug der Troß weiter zur nächsten Pfalz. Voller Geschichtszeugnisse steckt das Land ringsum. Erst kürzlich gab es eine primitiv aus Knochen geschnitzte Kreuzigungsgruppe frei (siehe Foto) – wohl von einem angelsächsischen Missionar verloren. Gleichfalls verscharrt waren die grausigen Relikte der Sachsenkriege, die rauhen Schwerter, die gespaltenen oder eingeschlagenen Schädel. Als nach all den Gemetzeln, Geiselnahmen und Deportationen endlich Frieden herrschte, wuchsen die vereinigten Herrschaftsgebiete erstaunlich glatt zusammen. Für die Ossis hatte sich das Leben gründlich geändert – sie übernahmen fränkische Bau- und Begräbnisweisen, gingen wohl oder übel zur Kirche und teilten ihre Tage nach dem Schlag der strikt vorgeschriebenen Glocken ein. Wo die hingen, war nicht egal: Kirchen- und Bistumsgründungen des 9. Jahrhunderts legen die Zentren der Region bis heute fest. Die Transferleistung, die Chronisten am liebsten und ausführlichsten beschrieben, war die Übertragung von Reliquien. Gerade die Paderborner zehren noch davon. Ihnen überließ 836 die französische Stadt Le Mans aus ihrer „großen Menge von heiligen Leibern“ die Gebeine des Bischofs Liborius, und der wird seither jedes Jahr mit einem rauschenden Glaubens- und Volksfest gefeiert. Diesen Freitag, am ersten Ausstellungstag, geht es wieder los. Jürgen Hohmeyer Antike Bronzeskulptur („Wölfin“) aus der Aachener Pfalz Karls des Großen Bildnis-Münze Karls des Großen als Kaiser Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Kultur S P I E G E L - G E S P R ÄC H „Ich weiche nicht von dieser Stelle“ Der Bayreuther Festspielleiter Wolfgang Wagner und seine Frau Gudrun über Inszenierungen, finanzielle Probleme und die heikle Nachfolgefrage auf dem Grünen Hügel kel ist derzeit zwar Alleinherrscher auf Lebenszeit, hat aber Anfang dieses Jahres erste Schritte zur Nachfolgefindung vorgezeichnet. Danach kann jeder der vier „Stämme“ des WagnerClans der „Richard-Wagner-Stiftung“ vorschlagen, wer künftig auf dem Grünen Hügel das Zepter schwingen soll. „Grundsätzlich“, laut Paragraph 8 der Stiftungsurkunde, soll das ein Wagner sein. Pikanterie der aktuellen Konstellation: Mehrere Anwärter aus Richard Wagners zerstrittener Nachkommenschaft lockt es ins Festspielhaus, und neuerdings mischt auch Wolfgangs zweite Frau Gudrun, 45, mit: „Ja, das könnte ich.“ SPIEGEL: Frau Wagner, Herr Wagner, am Sonntag beginnen mit einer neuen „Lohengrin“-Inszenierung die 88. Bayreuther Festspiele, die letzten in diesem Jahrhundert. Wird der Mythos des Grünen Hügels noch für ein weiteres Jahrhundert reichen? Gudrun Wagner: Ich bin kein Prophet. Aber der Zauber ist, frei nach „Tannhäuser“, ungebrochen. Wolfgang Wagner: Bayreuth ist immer noch was Besonderes und wird das wohl auch fürs erste bleiben. Aber der Begriff von Kultur und von dem, was wir darunter verstehen und dafür tun, ist überall im Umbruch. Diese Entwicklung wird auf Dauer wohl auch Bayreuth nicht verschonen. SPIEGEL: Immerhin hat jetzt erstmals in der Festspielgeschichte ein Regisseur den ehrenvollen Job auf dem Grünen Hügel hingeschmissen. Willy Decker lehnte es ab, den neuen „Lohengrin“ zu inszenieren. War das nicht doch ein Menetekel für die verblassende Faszination Bayreuths? Gudrun Wagner: Wenn einer fast zwei Jahre von seinem „Lohengrin“-Auftrag weiß und ein Jahr lang einen unterschriebenen Vertrag hat, zeugt vor allem die späte Absage von einem höchst befremdlichen Benehmen. Nicht Bayreuth war blamiert, sondern Decker hat sich bloßgestellt. SPIEGEL: Haben Sie sich nach der Wagner-Familie Gudrun, Katharina, Wolfgang (1997) Absage rasch zum ehelichen Brainstorming vereint, Motto: Jetzt muß Ersatz Wolfgang Wagner: Gott sei Dank ist der Diher? rigent Antonio Pappano, der sich Decker ja Gudrun Wagner: Nicht zum ehelichen, aber ausdrücklich gewünscht hatte, nicht abgezum gemeinsamen. Ein ganz normaler sprungen. Wir haben dann gemeinsam eine Reihe anderer Regisseure geprüft, und meiVorgang. 168 d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 ne Frau hat sich, weil ich hier unabkömmlich war, anschließend allein und auch mit Pappano noch mehrere Kandidaten angesehen. In Brüssel haben wir schließlich das Team mit dem Regisseur Keith Warner engagiert, das sich nun am Sonntag präsentiert. SPIEGEL: Herr Wagner, Sie haben im vergangenen März die Diskussion um Ihre Nachfolge auf dem Grünen Hügel dadurch in Gang gesetzt, daß Sie die dafür zuständige Stiftung legitimierten, „das vorgesehene Verfahren einzuleiten, um die notwendigen Schritte für einen künftigen Wechsel der Festspielleitung zu ermöglichen“. Einen Termin, sich zurückzuziehen, nannten Sie nicht. Warum nicht? Wolfgang Wagner: Nein, ich habe die komplizierte Prozedur der Nachfolgerfindung erst einmal angestoßen. Doch sich jetzt zurückzuziehen wäre der völlig falsche Moment. SPIEGEL: Sie werden nächsten Monat 80 und kleben an Ihrem Stuhl. Wolfgang Wagner: Falsch. Ich muß die Zukunft bedenken. Wenn so was wie zum Beispiel jetzt – der Bund kappt einfach seinen Zuschuß – schon während meiner Amtszeit passiert, dann kann ich mir ausmalen, und zwar in schwärzesten Farben, was los ist, wenn ich mal nichts mehr zu sagen habe oder nicht mehr bin. Einer muß jetzt die Rechte Bayreuths energisch und kennerhaft gegen alle Attacken verteidigen, und das bin nun mal ich mit immerhin fast 50jähriger Erfahrung vor Ort. SPIEGEL: Wer reitet denn so gefährliche Attacken gegen die nationale Kulturinstitution Bayreuth? SEEGER-PRESS B ayreuths ungewisse Zukunft ist zur Jahrtausendwende das große Thema der internationalen Festspielszene. Geldsorgen erschüttern den Grünen Hügel. Bislang wurde der Jahresetat des Festivals (knapp über 20 Millionen Mark) zu 63 Prozent von den Festspielen durch den Verkauf von Eintrittskarten, Übertragungsrechten, Buchpublikationen und durch private Mäzene aufgebracht. Den Rest steuerte die öffentliche Hand bei. Doch der Bund will jetzt seine Zuschüsse kürzen. Für zusätzliche Verwirrung im Festspielhaus sorgt die immer noch unentschiedene Nachfolgefrage für Wolfgang Wagner, 79. Der Komponisten-En- SPIEGEL: Nun ist schon oft speku- Wolfgang Wagner: Na und? Aber ich fürchliert worden, daß Sie spätestens im te, mir fehlt die Zeit, die Tetralogie noch Jahr 2001, wenn Sie 82 und auf dem einmal ganz neu zu durchdenken. Richard-Wagner-Stiftung Bayreuth Grünen Hügel seit 50 Jahren tätig SPIEGEL: Wie lange wollen Sie Ihre existiezum Stiftungsvermögen gehört u.a. das Festspielhaus samt Nebengebäuden sein werden, zurücktreten. renden Inszenierungen noch in Bayreuth Wolfgang Wagner: Diese Spekula- zeigen? tionen sind falsch. Nach vielfach Wolfgang Wagner: Ich will dafür sorgen, daß VORSTAND verbreiteter Auffassung bin ich ja sie allmählich ausklingen. Wer immer mir Der Stiftungsrat hat 3 Mitglieder auch schon seit Jahren hundertpro- im Amt nachfolgt, soll nicht damit belastet Wolfgang Wagner auf Wolfgang Wagner Lebenszeit zum alleinigen zentig verkalkt, steril und blöd. werden. Vertreter des Bundes Gesellschafter und GeAber ich weiß, was ich Bayreuth SPIEGEL: Wie das? Vertreter Bayerns schäftsführer der 1986 schulde. Ich weiche nicht von dieser Wolfgang Wagner: Nach Bayreuther Brauch gegründeten Festspiel Stelle, bis die Zukunft der Fest- hat jeder Regisseur so lange Zugang zu seiGmbH berufen. Diese STIFTUNGSRAT spiele gerade in finanzieller und ner Arbeit, wie diese auf dem Programm GmbH hat das Festspiel24 Stimmen, verteilt auf rechtlicher Weise absolut gesichert steht. Also müßte auch ich so lange immer haus gemietet und verBundesrepublik 5, Bayern 5, anstaltet die Festspiele. ist. Im Jahr 2001 ist deshalb mit wieder auftauchen, reinreden, mitentFamilie Wagner 4, Stadt meinem Rücktritt noch nicht zu scheiden. Das könnte leicht Ärger geben. Bayreuth 3, Gesellschaft rechnen. SPIEGEL: Also erwartet uns nach Ihrem Abder Freunde von Bayreuth 2, SPIEGEL: Frau Wagner, Ihr Mann ist gang vom Grünen Hügel eine WolfgangBayerische Landesstiftung 2, hier nicht nur der legendäre Kom- freie Zone? Bezirk Oberfranken 2, Oberfrankenstiftung 1 ponisten-Enkel, der gußeiserne Pa- Wolfgang Wagner: Ja. Und wenn ich die altriarch und der oberste Kassenwart, ten Inszenierungen aus dem Programm stellt den Haushaltsplan auf und vermietet das Festspielhaus an er inszeniert auch, 1996 bei den nehme, setze ich kaum neue in die Gegend. den Veranstalter Festspielen zuletzt die „Meister- SPIEGEL: Frau Wagner, Sie haben als Frau singer“. Inszenieren Sie mit? des amtierenden Festspielleiters in der ÖfWolfgang Wagner: Sehen Sie, ich bin derzeit Gudrun Wagner: Ich mache dasselbe wie fentlichkeit nicht das beste Image. Ihnen einziger Gesellschafter und Geschäftsführer mein Mann, auf einer Entscheidungsebene werden krankhafter Ehrgeiz, Profilieder „Festspiel GmbH“ in einer Person. unter ihm. Aber ich inszeniere nicht mit. rungssucht und die Eigenheit nachgesagt, Nach meinem Tode treten der Bund, das Ich bin seine persönliche Referentin mit im Hintergrund die Fäden zu ziehen. Land Bayern, die Stadt Bayreuth und die festem Arbeitsvertrag und erledige drama- Gudrun Wagner: Ich finde das vor allem des„Gesellschaft der Freunde von Bayreuth“ in turgische Vorarbeiten, Werk- und Textana- halb komisch, weil es absolut nicht der diese Rechte als Verantwortliche ein. Die- lysen, ich entscheide bei der Sänger- eben- Realität entspricht. se Basisregelung ist durch die jüngsten Bon- so wie bei der Regisseur- und Dirigenten- SPIEGEL: Sie erwecken aber auch nicht gener Finanzkapriolen ins Wanken geraten. auswahl mit und bin bei allen Proben rade den Eindruck einer stillen Gemahlin SPIEGEL: Rechnen Sie uns das bitte mal vor! dabei. Apropos „gußeiserner Patriarch“ an der Seite des Bayreuther Gralshüters. Wolfgang Wagner: Erst, Anfang dieses Jah- und was der einschlägigen Epitheta mehr Gudrun Wagner: Wenn ich meine Arbeit res, drohte ein völliger Rückzug des Bun- sind – was soll denn das heißen? Mein richtig machen will – und wer will das des aus dem Bayreuther Etat, die 3,2 Mil- Mann ist der Koordinator und Mediator nicht? –, dann habe ich natürlich die Fäden lionen Mark sollten gestrichen werden. der Festspiele schlechthin, und zwar im in der Hand; sonst würde es hier nämlich Dann hat der Kulturbeauftragte Naumann wörtlichen Sinne der Begriffe. nicht laufen. Und es läuft hier ja nicht seit das wieder rückgängig gemacht. Kaum ist SPIEGEL: Können Sie ihm was ausreden? 33 Jahren praktisch reibungslos, weil ich das vom Tisch, tritt er wiederum auf und Gudrun Wagner: Ja, bestimmt. faul und dumm bin. Ich arbeite hart und verkündet einen Abstrich in Höhe von SPIEGEL: Tun Sie’s auch? gern. Aber ich quatsche nicht immer überrund 480 000 Mark. Er hat das in lässigster Gudrun Wagner: Höchst selten. all herum, wie toll ich bin. Das Eigenlob beWeise kommentiert: Wegen so einem biß- SPIEGEL: Können Sie ihm was einreden? herrschen andere besser. chen Geld weniger würden wir nicht ein- Wolfgang Wagner: Beim allgemeinen Män- SPIEGEL: Die Bayreuth-Kritikerin Nike gehen, und außerdem hätten die Bayern ner-Wahn unter den Regie-Machos ent- Wagner hat behauptet, Sie hätten „nicht noch einen „Feuerwehrtopf“. Herr Nau- deckt, bereichert und korrigiert eine Frau das intellektuelle Kaliber“ für den Job der mann ist sich über die rechtlichen und wirt- vor allem die weiblichen Elemente einer Festspielleitung. schaftlichen Konsequenzen leider über- Figur oder die weiblichen Aspekte einer Gudrun Wagner: Wer so etwas sagt, dem haupt nicht im klaren. Geschichte. fehlt es zwar nicht an Arroganz, wohl SPIEGEL: Wegen einer halben Million stürzt SPIEGEL: Aus Ihrer Antwort, ja nun Bayreuths Walhall mit einem Ge- Herr Wagner, folgern wir, samtetat von über 20 Millionen Mark auch daß Ihre Frau kräftig mittatsächlich nicht gleich ein. mischt. Wird sie dazu hier Wolfgang Wagner: Eine halbe Million ist viel im Festspielhaus noch einGeld. Wir rechnen hier mit jedem Pfennig, mal Gelegenheit haben, und ich werde sonst immer als finanzieller wollen Sie noch mal als ReMusterknabe des Kulturbetriebs gelobt. gisseur antreten? Aber es geht um mehr: Die Bundesfinan- Wolfgang Wagner: Nein. Alzierung ist dreifach zementiert worden – lerdings würde mich ein 1953 beim Eintritt in die Gemeinschafts- neuer „Ring“ schon sehr aufgabe, 1973 bei der Begründung der reizen. Stiftung als Mitstifter und 1986, als die SPIEGEL: Bei Wotan! Das GmbH gegründet wurde. Aus dieser Bin- ginge frühestens 2006, weil dung kann sich der Bund nicht rausmo- nächstes Jahr erst einmal geln, das geht ans Eingemachte, und das Jürgen Flimms „Ring 2000“ werde ich nicht zulassen. Ich werde gera- herauskommt, und 2006 de jetzt gebraucht. wären Sie 87. Festspielhaus Bayreuth: „Zauber ungebrochen“ d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 169 B. BOSTELMANN / ARGUM Machtverhältnisse auf dem Festspielhügel Kultur Die Dynastie Vier Generationen Wagner Franz Beidler 1872–1930 Franz Wilhelm 1901–1981 Cosima von Bülow geb. Liszt 1837–1930 Richard Wagner 1813 –1883 Isolde Eva Houston Stewart Siegfried 1869–1930 1865–1919 1867–1942 Chamberlain 1855–1927 Wieland Gertrud Friedelind Wolfgang Reissinger 1917 –1966 1918–1991 1919 1916–1998 Iris 1942 Wolf Siegfried 1943 Nike 1945 Daphne 1946 170 Winifred Williams Klindworth 1897–1980 Ellen Drexel Verena 1920 1919 Bodo Lafferentz 1897–1974 Gudrun Mack 1944 Eva 1945 Gottfried 1947 d e r Katharina 1978 s p i e g e l Amélie 1944 Manfred 1945 Winifred 1947 Wieland 1949 Verena 1952 2 9 / 1 9 9 9 Wolfgang Wagner: Hören Sie – letztes Wort: Daniel Barenboim ist von uns aus nicht ins Gespräch gebracht worden. SPIEGEL: Dann also doch Ihre Frau und Ihre Tochter Eva, die ja immerhin die von Ihnen verlangte Theatererfahrung gemacht und an der Pariser Opéra Bastille, am Londoner Covent Garden und der Houston Opera gearbeitet hat? Wolfgang Wagner: Sie hat dort kaum in selbständig entscheidender, sondern meist in empfehlend-beratender Weise gewirkt. SPIEGEL: Oder doch Nike, die Tochter Ihres Bruders Wieland, die sich immerhin literarisch erfolgreich mit Bayreuth und dessen Dunstkreis beschäftigt hat? Wolfgang Wagner: Es kann jemand mit der Feder gewandt sein. Aber er sollte sich nicht auf Kosten anderer und deren Ehre zu qualifizieren versuchen. SPIEGEL: Hat Nike das getan? Wolfgang Wagner: Sie hat in ihrem letzten Buch unter anderem behauptet, ich, der M. WEISS / OSTKREUZ testens 1976 durch den Rundumschlag in Ihrem berühmten „Playboy“-Interview. Damals haben Sie allen, die aus der Sippe in Frage kamen, die Befähigung für Bayreuth rundweg abgesprochen. Wolfgang Wagner: Das stimmt nicht. Ich habe auf Befragen nur gesagt, daß sie zum damaligen Zeitpunkt die Befähigung vermissen ließen. Das war kein Verdikt für die Ewigkeit. SPIEGEL: Bedeutet diese Einschätzung, daß Sie jetzt Gnade walten lassen und in den Wagner-Stämmen vielleicht doch ein munteres Pflänzchen sprießen sehen? Wolfgang Wagner: Ja, ich schon. Schließlich sind in den für die Nachfolge zuständigen Gremien bereits mehrere Vorbesprechungen gelaufen, über die ich nicht reden darf. Nur soviel: In diesen Gesprächen habe ich gewisse Kombinationsmodelle angeregt, die mir unverständlicherweise nicht abgenommen worden sind. Im übrigen habe ich meinen Vorschlag zur neuen Festspielleitung schriftlich und pünktlich, bis zum 11. Juli dieses Jahres, gemacht. Der liegt jetzt beim Vorsitzenden des Stiftungsrates im Münchner Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst unter Verschluß und wird frühestens im Oktober diskutiert. Bis dahin: kein weiterer Kommentar. SPIEGEL: Aber eine Nachfrage: „Kombinationsmodelle“ bedeutet doch wohl eine Verbindung von Gudrun Wagner mit einer unbekannten Größe X? Ist dieser X, wie so oft spekuliert wird, der Dirigent und häufige Bayreuth-Gast Daniel Barenboim? Wolfgang Wagner: Quatsch. Ich habe gerade, als Barenboim hier zur Probe war, zu ihm gesagt: „Daniel, du bist ein ganz toller Mann! Du wirst von der Presse mit meiner Frau Gudrun, mit meiner Tochter Eva und mit meiner Nichte Nike verkuppelt.“ SPIEGEL: Die Verbindung macht doch Sinn. DPA aber mangelt es ihm an Intelligenz. SPIEGEL: Sie haben sich ja schon vor zwei Jahren öffentlich die Führung der Festspiele „unter gewissen Bedingungen“ zugetraut. Unter welchen? Gudrun Wagner: Unter der Voraussetzung, daß die finanziellen Grundlagen absolut gesichert, die Befugnisse der Ge- Nike Wagner schäftsführung klar umrissen und etwaige Mitspracherechte anderer eindeutig geklärt sind. Bislang ist das alles noch nicht geregelt. SPIEGEL: Und wenn Sie einfach die volle Macht Ihres Mannes übernehmen wollten? Ginge das? Gudrun Wagner: Das geht, wenn es von den beteiligten Rechtsträgern gewollt ist. SPIEGEL: Und Sie bleiben dabei: Das könnte ich. Gudrun Wagner: Ja. Ich habe Erfahrung und, glaube ich, auch den richtigen Riecher für das Metier. Schließlich treiben sich mein Mann und ich das ganze Jahr über auf den Bühnen der Welt herum, um Wagner zu hören und zu sehen. Ein toller Lernprozeß, eine wertvolle Erfahrung. Alles, was ich davon in Bayreuth eingebracht habe, war und wurde stets ein künstlerischer Erfolg. SPIEGEL: Nun sind die anderen Interessenten und Bewerber aus den diversen Stämmen des Wagner-Clans ja auch nicht so ohne. Wolfgang Wagner: Halt! Wer auf diese Stelle will, muß erst einmal etwas zeigen. Nach der Wiedervereinigung beispielsweise gab es viele Möglichkeiten, in die Leitung eines Opernhauses einzusteigen. Keiner der Aspiranten mit den berühmten WagnerGenen hat es auf sich genommen oder sich zugetraut, auf diese Weise wenigstens die Grundbegriffe eigenverantwortlicher Theaterleitung kennenzulernen. SPIEGEL: Herr Wagner, der Bruch mit Ihren Kindern, Nichten und Neffen begann spä- Ehepaar Wagner, SPIEGEL-Redakteur* „Bayreuth gegen alle Attacken verteidigen“ Widerling und Tyrann, sei letztlich der Grund, daß mein Bruder Wieland frühzeitig gestorben sei – eine gemeine Unterstellung und eine einmalige Niedertracht. Gudrun Wagner: Mit solch infamer Behauptung hat sich Nike selbst für ein Bayreuther Amt disqualifiziert. SPIEGEL: Bleibt also Ihre gemeinsame Tochter Katharina, deren Ausbildung – Theaterund Wirtschaftswissenschaft sowie Hospitanzen und Assistenzen an diversen Bühnen – in Richtung Theatermetier verläuft. Erwartet uns demnach eine Doppelspitze aus Mutter und Tochter? Gudrun Wagner: Musik der Zukunft. Wolfgang Wagner: Es wäre völlig verfrüht, über so etwas zu reden. SPIEGEL: Nicht verfrüht aber ist nach allen Äußerungen von Ihnen beiden unser Eindruck, daß Gudrun Wagner erste Wahl ist. Gudrun Wagner: Das will ich auch hoffen. SPIEGEL: Frau Wagner, wissen Sie, was Ihr Mann auf jenen Stimmzettel geschrieben hat, der jetzt in München im Safe liegt? Gudrun Wagner: Und ob ich das weiß! SPIEGEL: Frau Wagner, Herr Wagner, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. * Klaus Umbach (l.) in Bayreuth. T H E AT E R In Dr. Tinkers Himmelreich Der Österreicher Martin Ku∆ej ist der Aufsteiger des Jahres unter den Theaterregisseuren – nun präsentiert er in Stuttgart Sarah Kanes Monsterstück „Gesäubert“. STAATSOPER STUTTGART d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 171 H. J. MICHEL W ieviel Gräßlichkeiten dürfen Menschen einander vor den Augen eines Theaterpublikums antun, und sei es im Namen der Liebe? In „Gesäubert“, dem Stück der britischen Dramatikerin Sarah Kane, ist mitanzusehen, wie einem der Mitspieler Zunge, Hände und Beine abgetrennt werden; auch das Aufspießen eines Mannes mit Hilfe eines Holzstocks, das Absäbeln von Frauenbrüsten und ein angenähter PeKu∆ej-Inszenierung „Gesäubert“ in Stuttgart*: Zufluchtsuche im Folterkeller nis gehören zum Horror-ReMit seiner Hamburger Version von Horpertoire des Schockdramas. wir einander an?“, sondern: Als Peter Zadek das Werk „Warum zerfleischen wir uns váths „Geschichten aus dem Wienerwald“ der damals 27jährigen Britin selbst im Namen der Liebe?“ wurde er beim Berliner Theatertreffen als im vergangenen Dezember In der „Gesäubert“-Insze- Aufsteiger der Saison gefeiert, der neue auf der Bühne der Hamburnierung des Regisseurs Mar- Burgtheater-Chef Klaus Bachler hat ihn für ger Kammerspiele erstmals tin Ku∆ej nämlich ist die „In- den Neuanfang an seinem Haus fest gein deutscher Sprache zeigte, stitution“, in der Folter und bucht. Und all das, wofür die Kritiker Ku∆ej gelang ihm ein wüstes, beVerstümmelung geschehen, früher gern schmähten, rechnen sie nun zu drückendes, packendes Markeine Kafkasche Strafkolonie, seinen Vorzügen: seine Vorliebe für starke tyrium (SPIEGEL 51/1998) – sondern ein Zufluchtsort. (und nur manchmal übermächtige) Bildund doch höhnten nicht we- Regisseur Ku∆ej Gleich im ersten Bild zeigt kompositionen; seinen sensiblen Sturkopf, nige Kritiker über die angebKu∆ej diese Anstalt als riesi- mit dem er eine einmal gefundene Konlich berechnend herbeihalluzinierte Ver- gen, von innen erleuchteten Käfig (den ihm zeption exekutiert – und nicht zuletzt seizweiflungskunst der Autorin, über eine sein Leib-Bühnenbildner Martin Zehet- ne Neigung zu Höllenszenarien im BannWelt aus „Blut und Schmock, Kitsch und gruber gebaut hat), auf dessen Dach die kreis von Tod und Verderben. Dabei erweist sich Ku∆ej auch in „GeKälte“ („FAZ“). späteren Insassen versammelt sind – und Zwei Monate später war Sarah Kane tot, bald die wildesten Verrenkungen anstel- säubert“ als Fachmann für eher intellektuell-atmosphärischen als kulinarisch-blutals eine, der auf Erden nicht zu helfen war, len, um endlich hineinzukommen. durch Selbstmord abgetreten. Wie die meiUnd weil ihnen der Marterkeller, den spritzenden Grusel. Zwar bricht auch in sten Fans wollten auch viele ihrer Gegner Zehetgruber mit japanoiden Gitterschie- Stuttgart das Grauen herein, wenn die Moin ihrem Suizid eine Art Beglaubigung für bewänden ausgestattet hat, wie ein Him- torsäge brüllt und sich in Menschenknodie Todespanik und Todesseligkeit ihrer melreich erscheint, ist auch der Herr der chen frißt – nur müht sich Ku∆ej (anders als Stücke erkennen: das Fanal einer Hochbe- Qualen, der undurchsichtige „Doktor“ Tin- Zadek) gar nicht um Realismus und stellt gabten, die gerade mal vier scheinbar ge- ker, hier kein sardonisch grinsender Ver- die Greuel als Theateraktionen aus: Statt nialisch hingewütete Stücktexte hinterließ, führer, sondern, so wie der Schauspieler blutiger Beinstummel sieht man bloß Turnden spektakulären Abschied einer, wie sie Samuel Weiss ihn spielt, ein freundlicher schuhe auf den Boden fallen. Das Stuttgarter Haus der Leiden erinsich selbst einmal nannte, „hoffnungslosen Dienstleister: Was jeder wünscht, daß man nert an eine moderne Klinik für SeelenRomantikerin“. ihm tu’, das fügt er ohne Mitleid zu. Zu befürchten war nun, daß jede weiteDie Strenge und Genauigkeit, mit der kranke, und Ku∆ej legt nahe, daß sich in re Sarah-Kane-Aufführung fast zwangs- Ku∆ej, 38, dieses Stationendrama einer mör- den Schlächterszenen und Todesbeschwöläufig zum pathosbesoffenen Verklärungs- derischen Erlösungssucht inszeniert, zeich- ungen von „Gesäubert“ vor allem jene Erakt geraten müßte, zur Heiligsprechung ei- net die meisten seiner Theaterarbeiten aus. fahrungen und Alpträume spiegeln, die Saner Märtyrerin. Doch die „Gesäubert“- Obwohl der Österreicher, aufgewachsen im rah Kane von ihren eigenen Aufenthalten Version, die am vergangenen Freitag in ländlichen Kärnten, seit fast zehn Jahren an in psychiatrischen Anstalten kannte. Dazu hat Ku∆ej Texte des Freitod-PhiloStuttgart Premiere hatte, bietet nichts von größeren Bühnen in München, Stuttgart und all dem: Stocknüchtern und mit staunens- Hamburg inszeniert und vor allem für sei- sophen Jean Améry in Kanes Stück eingewerter Klarheit wird da das Rätsel eines ne Musiktheaterarbeiten viel Lob erhielt, woben – und läßt zuletzt nicht nur, wie Folter- und Zerfleischungsakts erkundet – findet er als Schauspielregisseur erst jetzt im Stück vorgesehen, den jungen Robin durch Selbstmord sterben. Auch die Heldin und statt ums Zelebrieren eines feierlich- größere Beachtung. Grace hängt in einer Schlinge: Das Passiblutigen Hochamts im Gedenken an die Autorin geht es darum, Sarah Kanes zen- * Mit Christine Schönfeld, Hüseyin Cirpici (o.), Marcus onsspiel „Gesäubert“ mündet in kollektiver Selbstauslöschung. trale Frage neu zu stellen. Nicht „Was tun Calvin (u.) und Samuel Weiss. Wolfgang Höbel Werbeseite Werbeseite Wissenschaft Prisma ZOOLOGIE Mit Luftschiff auf Insektenjagd D F. BOXLER / TANDEM icht über den Wipfeln des fränkischen Steigerwaldes streifte vorige Woche ein wunderliches Luftschiff dahin. Von der Gondel aus fischte der Würzburger Zoologe Andreas Floren mit einem Kescher die Baumwipfel ab. Er machte reiche Beute. Die Baumkronen sind besonders dicht besiedelte Lebensräume. Im Gewirr der äußersten Zweige und Blätter hausen Käfer, Spinnen und Wanzen in Fülle. Für sie ist das wie eine üppige Wiese, die auf hohen Stelzen steht. Der Mensch aber kommt da nicht ohne weiteres hinauf und weiß deshalb wenig über dieses luftige Biotop. Die kleine Gemeinde der Wipfelforscher versucht sich auf verschiedene Weise zu behelfen. Der Leipziger Botaniker Wilfried Morawetz zum Beispiel sammelt die Wipfel des Regenwaldes in Venezuela von einer Gondel aus ab, die an einem Baukran hängt. Demnächst will Morawetz einen solchen Kran in einen gewöhnlichen Mischwald nahe Leipzig stellen. Andere Forscher vernebeln die Wipfel mit Insektengift und sammeln ein, was herunterfällt. Auf der Insel Borneo erntete Andreas Floren auf diese Weise von 19 Bäumen allein 2000 Käferarten. Viele waren nur mit wenigen Exemplaren vertreten. Über ihr Leben ist fast nichts bekannt; man weiß nicht einmal, wie sie ihre Artgenossen finden. Die rabiate Giftmethode hilft da nicht weiter. Mit dem Luftschiff aber kommt Floren gut an die Wipfel heran, ohne zu stören, und er kann, anders als mit dem Kran, größere Gebiete abgrasen. Floren nutzt den Flugapparat nun für Forschungen in den deutschen Nutzwäldern, um deren überschaubare Wipfelfauna mit dem Artenreichtum der Regenwälder zu vergleichen. Allerdings ist er mit seiner schwebenden Forschungsstation stark vom Wetter abhängig: Bei Wind oder Regen muß das Luftschiff unten bleiben. Wipfelforscher Floren in Luftschiff L U F T FA H R T R I N D E R WA H N S I N N Schwimmende Piste Lizenz zum Testen V or der südlich von Tokio gelegenen Hafenstadt Yokosuka wird derzeit der Prototyp einer 1020 Meter langen und 60 Meter breiten schwimmenden Startund Landebahn montiert, wie sie bei einem weiteren Großflughafen für Japans Hauptstadt Verwendung finden könnte. Die schwimmenden Pisten der Mega Float Technology Research Union, in der japanische Werften und Stahlwerke zusammenarbeiten, könnten den Bau großer künstlicher Inseln überflüssig machen. Noch im Laufe dieses Monats wollen die Ingenieure den knapp 180 Millionen Mark teuren Prototyp fertigstellen. Unmittelbar danach soll mit den ersten Start- und Landeversuchen begonnen werden. Seegestützte Start- und Landebahn in Japan (Modell) d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 K urz vor dem Aufheben des Exportverbots für britisches Rindfleisch hat die EU-Kommission drei BSE-Schnelltests wissenschaftlich anerkannt – doch anwenden müssen die Briten, in deren Land noch immer 3000 Rinder jährlich an BSE sterben, die Verfahren nicht. Schutz für die Verbraucher bahnt sich nun aber von privatwirtschaftlicher Seite an: Drei deutsche Firmen stehen derzeit mit einem der Schnelltest-Hersteller, der Prionics AG in Zürich, in Kontakt. Sie wollen eine Lizenz für den Test erwerben, um Schlachthöfen und Bauern einen Gesundheitscheck ihrer Rinder anbieten zu können. Die Prionics AG verkauft den Test nur zusammen mit dieser Lizenz, um seine Qualität zu sichern. Bislang darf in Deutschland nur das Düsseldorfer Umweltministerium, in dessen Ämtern bereits 5000 Rinder untersucht wurden, mit dem Prionics-Test nach BSE fahnden. Der Test kostet etwa 50 Mark pro Rind – das Steak wird dadurch nur um knapp 20 Pfennig pro Kilo teurer. 173 Prisma Computer INTERNET Schlüssel am Handgelenk Nach einem glücklosen Ausflug ins Autogeschäft drängt Nicolas Hayek, 71, Chef der „Swatch Group of Switzerland“, mit seinen Uhren ins Netz. kann überall den Zugang zum Netz ermöglichen. Empfänger ist ein spezielles elektronisches Mauspad, welches die Uhr über Funk ausliest. SPIEGEL: Kann die Uhr über die Mausunterlage auch etwas empfangen? Hayek: Ja.Wenn Sie an einem Internetspiel teilnehmen wollen, können Sie sich damit identifizieren, und auf Hayek REUTERS SPIEGEL: Wofür soll Ihre E-Mail-Swatch gut sein? Hayek: Die Uhr speichert die Benutzerdaten und Ihre Uhr werden Bonuspunkte übertragen. Jede Uhr hat eine eindeutige Identifikationsnummer, so daß sie auch für elektronischen Handel genutzt werden kann. Wir stehen bereits mit Banken in Kontakt. SPIEGEL: Wird man auch E-Mails am Handgelenk lesen können? Hayek: Wir wollen keine vollständige Agenda dort hineinpacken.Aber die Sekretärin könnte die Termine für die nächsten zwei Tage ins Internet einspeisen, und Sie laden sich die Daten über das Mauspad aus dem Netz. SPIEGEL: Man muß aber zum Empfang immer auch das Mauspad mit sich herumtragen? Hayek: Bis auf weiteres ja. Aber die Unterlage ist doch billig. Die kostet nur zehn Mark. SPIEGEL: Wieviel kann das Gerät speichern? Hayek: Ein Kilobyte, aber mehr ist möglich. SPIEGEL: Und wenn die Uhr mit allen Paßwörtern und Kreditkartennummern geklaut wird? Hayek: Sie können die Daten sofort sperren lassen. Außerdem: Wer soll Ihnen eine Swatch-Uhr klauen – außer wenn Sie in Italien sind. MONITORE Zeitung zum Aufladen Design-Studie zur „elektronischen Zeitung“ chon seit einigen Jahren arbeitet Joseph Jacobson vom Massachusetts Institute of Technology an der Zeitung der Zukunft. Winzige, elektrisch drehbare Partikel – halb weiß, halb schwarz – werden in einen papierartigen Träger eingebettet und stellen in hoher Auflösung und Kontrast digitale Informationen dar. Eine Design-Studie einer solchen mit „elektronischer Tinte“ produzierten Zeitung stellte jetzt IBM vor: 16 beidseitig „bedruckte“ Seiten sollen Inhalte aus dem Internet mit dem „guten alten Zeitungsgefühl“ versehen. Ein marktfähiges Produkt jedoch läßt noch auf sich warten. AP S Teilnehmer der Hackermesse „Defcon 7“ H AC K E R Angriff durch die Hintertür D POLIZEI Daddeln im Arrest E inen ganz besonderen Service bietet das Amsterdamer Polizeipräsidium neuerdings seiner Klientel: In die gekachelten Arrestzellen werden Multimedia-Terminals installiert. Ein seit 1997 laufendes Pilotprojekt hatte gezeigt, daß die sogenannte Techno-Säule aggressionshemmend auf die Inhaftierten wirkt. Von den Geräten – „rostfrei und zerstörungssicher“ – lassen sich Informationen über Verhaltensmaßregeln in sieben Sprachen abrufen sowie die Zellentemperatur und -helligkeit regulieren. Je nach Privilegien der Strafgefangenen liefert die Säule auch Fernsehen, Radio oder Videotext. 174 „Techno-Säule“ in einer Haftzelle er wahre Schrecken der Firmen sind nicht maligne Computerviren. Ein abgestürzter Rechner mit gelöschter Festplatte kann schließlich keine Geheimnisse mehr verraten. Subtiler dringt das Hackerprogramm „Back Orifice“ (Hintereingang) in die PC-Eingeweide vor. Nachdem eine Schlüsselsoftware als Anhängsel einer E-Mail auf dem Zielrechner gelandet ist, gewährt dieser dem Angreifer via Internet unauffällig den totalen Fremdzugriff. Auf dem weltgrößten Hacker-Kongreß „Defcon 7“ in Las Vegas stellte vorvergangenes Wochenende die Gruppe „Cult of the Dead Cow“ die neueste Version ihres Spionagewerkzeugs vor. Mit „Back Orifice 2000“ (BO2K) läßt sich nun nicht nur das verbreitete KonsumentenBetriebssystem Windows 95/98 „fernwarten“, sondern auch Windows NT, das besonders von professionellen Nutzern verwendet wird. Werbeseite Werbeseite Wissenschaft SPIEGEL-GESPRÄCH „Stärkstes Gefühl war die Leichtigkeit“ Eugene Cernan, der letzte Mann auf dem Mond, über seinen Flug zum Erdtrabanten, Schnellfahrten durch die lunare Geröllwüste und Lebenskrisen der Apollo-Astronauten. SPIEGEL: Herr Cernan, vor genau 30 Jahren, am 20. Juli 1969, landete Neil Armstrong auf dem Mond und sprach seinen berühmten Satz vom „gigantischen Sprung für die Menschheit“. Eigentlich waren ja Sie für diese Pioniertat ausersehen. Cernan: Das ist richtig, nach dem ursprünglichen Zeitplan sollte die Mondlandung bereits mit Apollo 10 erfolgen. Ich war Pilot dieser Crew, die acht Wochen vor Apollo 11 zum Mond flog, um erstmals die Landefähre zu erproben. Wir hatten uns der Mondoberfläche bis auf rund 15 Kilometer genähert. Doch dann kehrten wir um. SPIEGEL: Wäre eine Landung damals technisch möglich gewesen? Cernan: Leider nein. Unsere Computer verfügten noch nicht über die notwendige Software zum Abstieg. Zudem hatten wir nicht genügend Treibstoff, um vom Mond wieder aufzusteigen und die mondumkreisende Kommandokapsel mit John Young an Bord zu erreichen. SPIEGEL: Die Versuchung zu landen, so nahe am Ziel und doch nicht ganz, die leugnen Sie nicht? Das Gespräch führten die Redakteure Johann Grolle und Rainer Paul. Fotos aus „Full Moon – Aufbruch zum Mond“ von Michael Light. Frederking & Thaler Verlag, München; 244 Seiten; 98 Mark. Touren zum Trabanten Cernan: Gewiß nicht, aber wir waren ganz einfach noch nicht soweit. Uns fehlte ausreichende Erfahrung mit der Mondlandefähre. Die erste sammelten wir beim Apollo-9-Flug im erdnahen Raum; bei Apollo 10 erfolgte dann der richtige Härtetest im Weltraum. SPIEGEL: Statt der letzte Mensch auf dem Mond wären Sie sonst der erste gewesen. Cernan: Es hätte mir schon gefallen, als erster den Mond zu betreten. Andererseits war Apollo 10 ein großes Abenteuer und technisch eine enorme Herausforderung, zumal wir erstmals die Abstiegsstufe ausprobierten und ebenso das Triebwerk für das Abheben vom Mond. Rückblickend war ich damals nicht enttäuscht. Denn ich würde ja bald wiederkommen. SPIEGEL: Dreieinhalb Jahre später saßen Sie dann in der Apollo-17-Kapsel an der Spitze der riesigen Saturn-5-Rakete, und der Start verzögerte sich um einige Stunden. Ihr Bordkollege Harrison Schmitt nutzte die erzwungene Pause zu einem Nickerchen, und Sie mußten dringend auf die Toilette. Eine volle Blase während der entscheidenden Startphase erscheint uns keine angenehme Vorstellung. Cernan: Wir lagen ja schon einige Stunden in der Kapsel, da füllt und entleert sich dann eben die Blase, es war eine ganz normale Erleichterung. Unsere Raum- Apollo-17-Astronaut Schmitt, Mondauto „Lunar anzüge waren für solche Fälle ausgelegt, schließlich waren wir auch als Astronauten keine Roboter, sondern immer noch Menschen. SPIEGEL: Befürchteten Sie während der Startverzögerung, daß die Mission fehlschlagen könnte? Cernan: Ganz weit im Hinterkopf rechneten wir immer damit, daß etwas Unplanmäßiges passieren könnte, was wir zuvor nicht bedacht hatten und worauf wir nicht vorbereitet waren, wie etwa beim Unglücksflug von Apollo 13. Doch zugleich waren wir bis ins letzte Detail mit unserem Raumschiff vertraut und davon überzeugt, daß wir jeden möglichen Zwischenfall würden meistern können. SPIEGEL: Das klingt ziemlich überheblich. Chronik der amerikanischen Missionen zur bemannten Mondlandung 1968 bis 1972 Apollo 7 Apollo 9 Apollo 12 Apollo 15 11. bis 22. Okt. 1968 Erste bemannte Erdumkreisung mit ApolloRaumschiff W. Schirra, D. Eisele, W. Cunningham 3. bis 13. März 1969 Erster Test der Mondlandefähre im Erdorbit J. McDivitt, D. Scott, R. Schweickart 14. bis 24. Nov. 1969 Mondlandung C. Conrad, R. Gordon, A. Bean 26. Juli bis 7. Aug. 1971 Mondlandung D. Scott, A. Worden, J. Irwin Apollo 10 18. bis 26. Mai 1969 Erster Test der Landefähre im Mondorbit T. Stafford, J. Young, E. Cernan 11. bis 17. April 1970 Die Explosion eines Sauerstofftanks macht die Mondlandung unmöglich. Rückkehr nach Umfliegen des Mondes J. Lovell, J. Swigert, F. Haise Apollo 11 Apollo 14 Apollo 17 16. bis 24. Juli 1969 Erste Mondlandung N. Armstrong, M. Collins, E. Aldrin 31. Jan. bis 9. Febr. 1971 Mondlandung A. Shepard, S. Roosa, E. Mitchell 7. bis 19. Dez. 1972 Letzte Mondlandung E. Cernan, R. Evans, H. Schmitt Apollo 8 21. bis 27. Dez. 1968 Erste Mondumkreisung F. Borman, J. Lovell, W. Anders 176 d e r Apollo 13 s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 Apollo 16 16. bis 27. April 1972 Mondlandung J. Young, T. Mattingly, C. Duke FOTOS: IMAGE COURTESY NASA; PRINTED FROM DIGITAL IMAGE @ 1999 MICHAEL LIGHT STUDIO Rover“: „Gleich kippt er um“ fach: Wenn die Saturn 5 abgehoben hat, kann ich diese mehr als 3000 Tonnen Schubkraft mit meinen eigenen Händen beherrschen. Mit den Steuerungsmitteln an Bord konnte ich die Saturn 5 in den Erdorbit bringen und das Schiff zum Mond fliegen. Meine einzigen Bedenken bei einer Startverzögerung waren, daß wir nach stundenlangem Warten wieder aussteigen müßten, um es erst Tage später wieder zu versuchen. SPIEGEL: Vier Tage später stiegen Sie dann die Leiter hinab und setzten mit Ihrem dicken Stiefel auf der Mondoberfläche auf. Cernan: Und ich habe die Oberfläche tatsächlich durch die Sohlen gefühlt. Sie ist steinig und fest und staubig. Der ganze Mond ist mit Staub bedeckt, an einigen Stellen liegt der Staub zentimeter-, an anderen meterhoch. SPIEGEL: Was hat Sie nach der Ankunft am meisten beeindruckt? Cernan: Das stärkste Gefühl war das der ungeahnten Leichtigkeit. Es gibt nur zwölf Menschen auf der Welt, die erlebt haben, was es heißt, sich in einer Umgebung aufzuhalten, wo die Schwerkraft auf ein Sechstel vermindert ist. Die lunare Leichtigkeit nutzten wir zu Hopsern und Sprüngen. SPIEGEL: Wie übermütige Kinder im Planschbecken? Cernan: Ja, so ungefähr. Ich gehöre zu den Menschen, die, egal wo sie sind, Spaß haben wollen. Ich dachte in diesem Augen- G. SMITH / SABA Cernan: Zugegeben, aber ich wußte ein- Eugene Cernan war erst 29 Jahre alt, als die Nasa den ausgebildeten Navy-Testpiloten 1963 ins Astronauten-Team berief. Drei Jahre später umkreiste er in der Gemini9-Kapsel als jüngster Astronaut die Erde. Zwei weitere Raumflüge folgten, darunter die vorerst letzte bemannte Mondmission. Bis zu seiner Pensionierung 1976 beschäftigte ihn die Nasa als Berater. Heute leitet Cernan, 65, ein Ingenieurbüro, das Bauteile für die Space Shuttle und die Internationale Raumstation entwickelt. d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 blick nicht im geringsten daran, ob wir diesen Ort wieder sicher verlassen könnten. SPIEGEL: Wie sah Ihr Landeplatz denn aus? Cernan: Wir waren in einem weiten Tal gelandet, inmitten von gewaltigen Bergmassiven, die höher waren, als der Grand Canyon tief ist. SPIEGEL: Auch so steil? Cernan: Nein, die Gipfel der Berge ragten in einiger Entfernung 2600 Meter hoch, die Hänge fielen leicht ins Tal ab. SPIEGEL: Genauso wie es Dutzende von Fotos zeigen, die Astronauten zuvor von den mondumkreisenden Kommandokapseln aus aufgenommen hatten? Cernan: Stimmt. Aber wenn man dann selbst den ersten Schritt auf dem Mond tut, dann wird einem bewußt, zum erstenmal auf etwas zu stehen, was nicht die Erde ist. Man kann auf die höchsten Berge klettern und in die tiefsten Ozeane abtauchen – es bleibt immer die Erde. Doch auf dem Mond merkt man plötzlich, sich auf etwas Festem zu befinden, was man nicht selbst mitgebracht hat, wie etwa die Leiter der Mondfähre. Diese Täler, diese Berge und Gesteinsbrocken waren extraterrestrisch. SPIEGEL: Hatten Ihre Vorgänger Ihnen davon nichts erzählt? Cernan: Das kann kein Augenzeugenbericht vermitteln. Auch meine Worte reichen nicht aus, Ihnen diese Erfahrung nahezubringen. SPIEGEL: Fühlten Sie sich einsam auf dem Mond? 177 Wissenschaft IMAGE COURTESY NASA; PRINTED FROM DIGITAL IMAGE @ 1999 MICHAEL LIGHT STUDIO nen, ähnlich denen, wie wir sie von der Erde sehen. SPIEGEL: Ihr Begleiter, der Geologe Harrison Schmitt, hat dann doch noch eine Farbe gesehen. Cernan: Ja, das war eine tolle Überraschung, als er orangefarbenen Staub entdeckte, der im intensiven Sonnenlicht aufblitzte. SPIEGEL: Während Ihres Aufenthalts war es immer taghell. Konnten Sie Sterne sehen? Cernan: Wenn wir unser Gesichtsfeld einschränkten und abdunkelten, konnten wir Sterne sehen. Wir waren sogar darauf angewiesen, denn wir benötigten bestimmte Sterne als Navigationshilfe beim Rückstart vom Mond. SPIEGEL: Aber besonders eindrucksvoll war die Erde? Cernan: Sie war der einzige prächtig erleuchtete Farbklecks im ganzen Universum. Wenn man sich auf dem Mond befindet, steht die Erde für Zuhause, Leben und Liebe. Wir verfolgten jede Drehung des Planeten. Wir sahen auf die Ostküste Nordamerikas, und zwölf Stunden später kam die Landmasse Asiens gleichsam um die Ecke. SPIEGEL: Sie verbrachten rund 22 Stunden außerhalb der Landefähre und hatten viel zu tun. Hat das eigentlich Spaß gemacht? Cernan: Und ob! Insgesamt waren wir 75 Stunden oben, wir lebten praktisch dort. Die Filme von Apollo 17 beweisen, daß wir nicht nur intensiv arbeiteten, sondern auch, daß wir die kurze Zeit genossen, Witze machten und rumtollten. SPIEGEL: War Ihre erste Ausfahrt mit dem Lunar Rover mit einer Autofahrt auf der Erde zu vergleichen? Apollo-9-Mission 1969: „Schwärzeste Schwärze umgibt die Erde“ der totalen Schwärze des Universums die ganze Welt vor mir. Es war eine irre, paradoxe Situation. Ich stand da in grellem Sonnenlicht auf der Oberfläche des Mondes und blickte auf diese vielfarbige Erde, die viermal so groß am Himmel stand, wie der Mond bei Vollmond von der Erde aus zu sehen ist. Und diese Erde war umgeben von der schwärzesten Schwärze, die man sich vorstellen kann. Diese dreidimensionale Schwärze verkörperte für mich die Endlosigkeit von Raum und Zeit. SPIEGEL: Bemerkten Sie während Ihres Aufenthalts Veränderungen? Cernan: Ja; als wir landeten, stand die Sonne tief über dem Horizont im Nordosten, und die Erde hing im Südwesten über den Bergen. Weil die Sonne jeden Tag um etwa Ein Crash-Test im All wird mit der Nasa-Forschungssonde „Lunar Prospector“ unternommen. Am Samstag morgen nächster Woche soll der Motor des mondumkreisenden Roboters ein letztes Mal gezündet werden. Dann nimmt die faßförmige Kapsel Kurs auf einen Krater am Südpol des Mondes. Verläuft alles nach Plan, wird die 161 Kilogramm schwere Sonde im Tiefflug den aufgeworfenen Wall (Höhe: 960 Meter) des Kraters überqueren und schließlich im Kraterinnern zerschellen. Von der Kamikaze-Mission erhoffen sich die Forscher eine Bestätigung der überraschenden Meßdaten, die von dem Prospector bisher übermittelt wurden. In den tief178 zwölf Grad höher stieg, veränderten sich in unserem Landegebiet die Schatten. Am dritten Tag merkte ich, wie meine Hände im Sonnenlicht wärmer wurden. SPIEGEL: Die Sonnenstrahlen durchdrangen Ihren Raumanzug? Cernan: Wir waren natürlich total eingehüllt und durch mehrere Lagen vor Kälte und Wärme geschützt; aber besonders die Oberfläche meiner Handschuhe schien mehr Sonnenstrahlen einzufangen. SPIEGEL: Gleichen die Farben auf dem Mond denen der Erde? Cernan: Es gibt keine Farben auf dem Mond, abgesehen von denen, die wir hinbringen, wie das Weiß unserer Raumanzüge oder das Gold der Schutzfolie um die Landefähre. Der Mond erscheint in faden Grautö- sten Kratern der lunaren Pole hatten die Sensoren der Anfang letzten Jahres gestarteten Raumsonde Hinweise auf Eiskristalle entdeckt, die vermutlich beim Einschlag von Kometen in den Mondstaub gelangten. Erreicht die Sonde das anvisierte Ziel, ist der Aufschlag so heftig, als würden zwei Autos mit jeweils 1600 km/h zusammenstoßen. Der Einschlag wird, so kalkulieren Raumsonde „Lunar Prospector“ die Forscher, so viel Energie freisetzen, daß eine Wolke aus Staub und droxyl-Radikale. Um diese zu entdecken, Wasserdampf aus dem Kraterinnern auf- werden zwei irdische Fernrohre und das steigt. Sobald diese Wolke ins Sonnen- Raumteleskop Hubble auf den lunaren licht gerät, bilden sich sogenannte Hy- Südpol ausgerichtet. NASA Cernan: Überhaupt nicht, ich hatte doch in d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 IMAGE COURTESY NASA; PRINTED FROM DIGITAL IMAGE @ 1999 MICHAEL LIGHT STUDIO Cernan: Überhaupt nicht. Ich hörte nicht den Motor, denn auf dem luftleeren Mond gibt es keine Geräusche. Ich fühlte aber das Vibrieren der vier Rover-Motoren. Der Hauptunterschied zur Erde ist, daß man nicht mit der Straße verankert ist. Wenn wir mit dem Rover eine kleine Unebenheit überquerten, dann sprang das betreffende Rad hoch, und wir fuhren nur noch dreirädrig. SPIEGEL: Bei schneller Fahrt über ein Geröllfeld wurde aus dem Rover eine fliegende Maschine? Cernan: Beinahe, aber nicht ganz. Wir hatten ja keine Tragflächen und auch keine Luft, die uns hätte Auftrieb geben können. Die geringe, durch die schwache Anziehungskraft bedingte Bodenhaftung zeigte sich bei Rover-Fahrten besonders an Abhängen, wo man stets das Gefühl hatte: Gleich kippt er um. Als Commander achtete ich darauf, daß ich immer auf der Bergseite saß und mein Geologe auf der abschüssigen. SPIEGEL: Hat Harrison Schmitt die List durchschaut? Cernan: Klar, und er hat auch gemeckert. SPIEGEL: Haben Sie Staubwolken hinter sich gelassen? Cernan: Aber ja, und sie hielten sich ewig lange im lunaren Raum. Gleich zu Beginn schien der Mondstaub ein Problem zu werden, als ich einen Kotflügel beschädigte, den wir notdürftig durch ein paar mitgeführte Landkarten ersetzen konnten. Ohne Kotflügel hätte der aufgewirbelte Staub uns und die Bordkamera eingenebelt; niemand hätte noch irgend etwas sehen können – wir wären quasi blind auf dem Mond herumgekurvt. SPIEGEL: Sie sind ziemlich steile Hänge hochgefahren, haben Sie mal befürchtet, daß Ihr Mondauto schlappmachen würde? Cernan: Niemals, ich wollte dieses Gefährt auch völlig ausreizen. SPIEGEL: Der Navy-Pilot und Astronaut Cernan wurde auf dem Mond zum Testfahrer? Cernan: Ein bißchen schon, aber es hatte auch eine praktische Seite: Je weiter wir mit dem Rover fahren konnten, desto weniger mußten wir laufen, um so mehr konnten wir erforschen. Zudem war die Arbeit in den schweren Raumanzügen ziemlich ermüdend, und wenn wir im Rover saßen, kam uns das wie eine Ruhepause vor. SPIEGEL: In die Geschichtsbücher gehen Sie auch als schnellster Mann auf dem Mond ein. Cernan: Das stimmt, aber auch nur durch einen Trick. Wir fuhren hügelabwärts, dann gab ich Vollgas und beschleunigte den Rover so auf 14 Stundenkilometer. SPIEGEL: Bei einer Ihrer Ausfahrten entfernten Sie sich sechs Kilometer von der Mondlandefähre, die auf den mitgebrachten Fotos nur noch als ein konturenloser Fleck in der Mondlandschaft steht. Angenommen, der Rover wäre zu diesem Zeit- Apollo-14-Mondlandefähre im Gegenlicht der Sonne: Rückkehr zum letzten Fußstapfen? punkt nicht mehr angesprungen: Hätten Sie es zu Fuß zurück geschafft? Cernan: Dieser kleine Fleck war ein interessanter Anblick, da wurde uns bewußt, daß wir unser Tal richtig erkundeten. Wir hätten unser Basislager auch jederzeit zu Fuß erreicht, denn der Fahrplan war so ausgelegt, daß wir zuerst immer das entfernteste Ziel ansteuerten und auf der Rückfahrt die näher gelegenen Forschungspunkte. SPIEGEL: Wie haben Sie sich denn mit Ihrem wissenschaftlichen Kopiloten verstanden, über dessen Benennung Sie anfangs nicht sonderlich glücklich waren? Cernan: Ich denke, wir haben uns gut ergänzt. Alle Astronauten hatten geologische Grundkenntnisse, wir sollten in Augenschein nehmen, was uns interessant erschien. Mit Harrison Schmitt war es so, daß ich mir gleichsam den ganzen Wald betrachtete und er sich auf einzelne Bäume konzentrierte. SPIEGEL: Sie haben ein markantes Zeichen auf dem Mond zurückgelassen; wie ein Teenager am Strand haben Sie die Initialen Ihrer Tochter Teresa in den Mondstaub geschrieben. Was hat sie dazu gesagt? d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 Cernan: Ich hielt diese Initialen für eine pfiffige Idee. Teresa, die damals neun Jahre alt war, hat es gefallen, und ich glaube, sie ist sehr stolz darauf. Jedenfalls erzählt sie mittlerweile ihren eigenen Kindern davon. Im Mondstaub werden die Initialen für sehr lange Zeit erhalten bleiben, womöglich länger, als es die Menschheit gibt. Der einzige Makel an der Geschichte ist, daß ich die Initialen von Teresa Dawn Cernan nicht fotografiert habe. SPIEGEL: Das ist eigentlich schwer nachvollziehbar, zumal Sie doch darauf gedrillt waren, alles doppelt und dreifach zu fotografieren. Cernan: Stimmt, aber ich hatte die Kamera bereits auf dem Rover festgeschraubt, als mir die Idee mit den Initialen kam. Vielleicht fliegt ja noch jemand hin und kann dieses Foto machen. SPIEGEL: Würden Sie selbst gern noch einmal auf dem Mond landen? Cernan: Ja sicher, doch das ist praktisch natürlich nicht drin. Ich habe das Gefühl, als hätte ich dort noch viele Dinge zu tun. Ich würde furchtbar gern noch einmal meinen letzten Fußstapfen sehen, den ich leider auch nicht fotografiert habe, und eben179 so die Landefähre, die wir zurückgelassen haben. SPIEGEL: Für das Unternehmen Mondlandung zahlten die Apollo-Astronauten einen hohen persönlichen Preis. Einige flippten aus, viele ließen sich scheiden oder begannen zu trinken. Haben Sie dafür aus heutiger Sicht eine Erklärung? Cernan: Eigentlich nicht. Wir genossen in vollen Zügen unsere Triumphe, hatten Konfetti-Paraden und Gala-Empfänge und tourten um die Welt, um vom Mond zu erzählen. Aber wir machten Fehler, für die wir teuer zahlen mußten. SPIEGEL: Was denn für Fehler? Cernan: Der größte war, daß wir uns zuwenig Zeit für unsere Familien nahmen. Wir waren fixiert auf diesen Mondflug, hatten eine Art von Tunnelblick. Wir führten, unter Volldampf und ohne auf jedwedes Sperrfeuer zu achten, unseren eigenen kleinen Kalten Krieg. Wir hatten nur ein einziges Ziel: eher als die Sowjets auf dem Mond zu landen. Zu Hause aber saßen unsere Frauen. Sie mußten sich um die aufgeschlagenen Knie der Kinder kümmern, den Haushalt führen und für die Öffentlichkeit immer die strahlende, tapfere Mrs. Astronaut spielen. Unter den elf dreiköpfigen Apollo-Mannschaften hatten nur wenige Ehen Bestand. Von den meisten Teams ist jeweils mindestens ein Astronaut geschieden. SPIEGEL: Hat der Mond Familien zerstört? Cernan: Nicht der Mond, wir waren es selbst. SPIEGEL: Der letzte Satz eines Menschen auf dem Mond klingt ähnlich getragen wie der des ersten. „Wir gehen nun, wie wir einst gekommen sind, mit Gottes Hilfe, in Frieden und Hoffnung für die gesamte Menschheit“, verzeichnet das offizielle Nasa-Protokoll Ihren Abschied vom Erdtrabanten. Cernan: Für noch mehr Pathos sah ich keinen Anlaß. Denn ich war felsenfest davon überzeugt, daß wir bereits zehn Jahre später zum Mond zurückkehren und dann weiter zum Mars fliegen würden. Doch bis heute habe ich noch immer die Ehre, der letzte Mann auf dem Mond gewesen zu sein. SPIEGEL: In Wahrheit aber haben Sie sich dann, außerhalb des Protokolls, mit einem ziemlich derben Satz vom Erdtrabanten verabschiedet. Cernan: Doch zu diesem Zeitpunkt stand ich nicht mehr direkt auf dem Mond, sondern befand mich schon in drei Meter Höhe in der Aufstiegsstufe, bereit zum Abflug. SPIEGEL: Ihr Mondpilot Harrison Schmitt begann mit dem Countdown – ten … nine … eight … Cernan: … und als er bei fünf ankam, sprach ich die flapsigen Worte „Let’s get this motherfucker out of here“. SPIEGEL: Herr Cernan, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 Technik COMPUTERSPIELE Gefräßige Scheibe Fast zwei Jahrzehnte scheiterten Videospieler an dem Klassiker „Pac-Man“. Jetzt schlug sich ein Amerikaner bis zur letzten Runde durch. I Die Monster gerieten außer Kontrolle und rückten ihm hart zu Leibe. Erst 200000 Punkte später fing er sich, und das Spiel nahm wieder den vorgesehenen Lauf. „Und dann wurde mir klar“, sagt er, „daß ich noch hundert Runden zu überstehen hatte.“ Das war der Hauch der Verdammnis. Mitchell kennt ihn von Kindesbeinen an. Er wuchs auf in Fort Lauderdale, Florida, nahe einer der größten Spielhallen der Welt. Sie war rund um die Uhr geöffnet, und der kleine Bill verbrachte dort mit seinen Kumpanen „jede freie Sekunde“. An manchen Tagen, sagt er, wankten sie um sechs Uhr morgens nach Hause. Die Jungs gehörten nicht zu den üblichen Gelegenheitsdaddlern – sie übten für das vollkommene Spiel. Seit es Videospiele gibt, ist es möglich, perfekt zu sein. Jeder weiß auf den Punkt genau, wieviel ihn noch trennt vom besten aller Spieler oder, noch betörender, vom höchstmöglichen Punktestand. Nicht alle werden damit fertig. Die Computertechnik brachte Spieler neuen Typs hervor. Sie arbeiteten sich Spiel halten. Für Zuschauer war das reine Magie. Ein Dutzend Weltklassespieler gebe es auf Erden, sagt Mitchell, eine einsame Liga. Er überragt sie nun alle. „Niemand kann mich je mehr schlagen“, sagt der Mann, der im wirklichen Leben drei Kinder hat und eine Firma, die höllisch scharfe Würzsoßen herstellt. Im Internet gibt es ein Register mit den besten Punktzahlen Tausender Spiele, geführt von dem Amerikaner Walter Day. Er ist quasi der Hauptbuchhalter der Daddlerbewegung. „Das perfekte Pac-ManSpiel“, sagt Day, „war der Heilige Gral.“ Um zu ermitteln, wie oft Pac-Man jemals gespielt worden ist, hat er alte Automaten aufgeschraubt und in den Zählspeichern nachgesehen. Day rechnete hoch und kam auf mehr als 10 Milliarden Spiele insgesamt. Damit hätte die Menschheit, vorsichtig geschätzt, Hunderttausende von Mannjahren aufgewendet, um Pac-Man zu meistern. Als Bill Mitchell nach seinem Weltrekord vom Hocker sank, sagte er: „Jetzt muß ich dieses verdammte Spiel nie wieder anrühren.“ Ein paar Tage später bekam er das Angebot, Mitte August bei einem großen Wettbewerb in Las Vegas das Wunder noch einmal zu versuchen. Mitchell nahm an. Es winkt ihm der Ruhm eines Mannes, der das perfekte Spiel gleich zweimal geschafft hat. Manfred Dworschak C. KARP / BLACK STAR n der 256. Runde des Automatenspiels Pac-Man dreht die Elektronik durch. Das Zählwerk bleibt stehen, auf dem Monitor blinken wirre Linien. Die Programmierer von Pac-Man haben nicht für möglich gehalten, daß je ein Spieler so weit kommt. Der Amerikaner Bill Mitchell, 33, hat es vor wenigen Tagen geschafft. Sechs Stunden lang bugsierte er die berühmte gelbe Scheibe mit dem gefräßigen Maul durch einen Irrgarten voller Gefahren. Er entging den vier niedlichen Monstern, die ihn unentwegt verfolgten, und er mampfte alle Kirschen, Bananen und Schlüssel, die ihm unterwegs erschienen. Als erster Mensch machte er dabei keinen einzigen Fehler, und am Ende hatte er 3 333 360 Punkte beisammen. Mehr sind in diesem Spiel nicht zu erreichen. Das Mirakel ereignete sich bei einem öffentlichen Schaukampf in einer Spielhalle im US-Staat New Hampshire. Anfang Mai erst war der Kanadier Rick Fothergill zu einem Rekordversuch angetreten, ließ vor dem Ziel jedoch eines seiner drei Leben und verfehlte den Gipfel des Ruhms um 90 Punkte. Seit 1980 streben Punktejäger in aller Welt nach der Meisterschaft. Automatenspiel „Pac-Man“ Damals war Pac-Man in den Spiel- Irrgarten voller Gefahren hallen erschienen. Die große Zeit der Videospiele hatte gerade begonnen, voran mit der Sturheit und Pac-Man galt bald als das größte. Tau- von Elektronengehirnen. sende Frauen und Männer, heißt es, waren In schier endlosen Verentzückt von der fressenden Scheibe, die suchsketten beobachteaussah wie eine Spalttablette. ten Bill Mitchell und seiEin Song namens „Pac-Man Fever“ kam ne Freunde die vier Monin den USA gar in die Top ten. Wettbe- ster, bis sie deren einprowerbe fanden statt, und die besten Spieler grammierte Verhaltensverloren sich für Stunden in den Reizge- muster durchschaut hatwittern der Verfolgungsjagd. Nach einiger ten. Schließlich lernten sie Zeit, so berichteten sie, erlebe man ein selt- alles auswendig. sam schwebendes Glück, ein Gefühl von Mit diesem Wissen entAllmacht und Leichtigkeit. wickelten sie ein paar Beim Stand von 1,9 Millionen Punkten aberwitzig umständliche war auch Bill Mitchell soweit. „Das ist die Zugfolgen, die ihnen für größte Gefahr“, erzählt er. Seit einer Stun- etliche Sekunden Ruhe de war es traumhaft gelaufen, wie von al- vor den Verfolgern verlein. Prompt machte er eine falsche Bewe- schafften. So konnten sie gung. „Ich wäre fast gestorben.“ sich immer länger im Meisterspieler Mitchell: „Ich wäre fast gestorben“ d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 181 Kosmetische Falten Fiat bringt ein neues Modell des erfolgreichen Punto heraus. Der Kleinwagen soll den angeschlagenen Konzern retten. D as jüngste Auto des Fiat-Konzerns ist kaum länger als ein Surfbrett. Und doch kommt dem Wägelchen laut Vorstandschef Paolo Cantarella die Rolle eines Fährschiffs zu. Der neue Punto, erklärte Cantarella vergangene Woche, „ist das Auto, mit dem Fiat ins neue Jahrtausend übersetzen wird“. Schon das Vorgängermodell war zeitweise das meistverkaufte Auto seiner Klasse in Europa. In knapp sechs Jahren Produktionszeit wurde der Punto 3,3millionenmal abgesetzt. Kein anderes FiatModell gewann mehr Kunden. Erstaunlich rasch erfolgt nun die Ablösung. Der zweite Punto, der von September an zu Preisen ab etwa 19 000 Mark in den Handel kommt, ist eine komplette Neukonstruktion. Umgerechnet 1,5 Milli- der Sportversion sieben) Fahrstufen angeboten. Wer selbst schalten möchte, kann den Wahlhebel in eine links von der Schaltkulisse gelegene Gasse mit Tippfunktion drücken – ein Extra, das bisher vorwiegend nur in Autos höherer Preisklasse zu bekommen war. Als weitere technische Neuheit erhält der Punto eine elektrisch betriebene Servolenkung naFiat-Ehrenpräsident Agnelli: Getrübte Feststimmung mens „Dualdrive“. Sie arden Mark hat Fiat in seine Entwicklung ist leichter und raubt dem Motor weniger Leistung als die bisher üblichen investiert. Auf den ersten Blick rätselt der Be- hydraulischen Systeme. Überdies erlaubt trachter, wofür das viele Geld ausgegeben sie den Einsatz einer zweistufigen worden sein mag. Denn der neue Punto Funktion: Im „City“-Modus ist die Lensieht seinem Vorgänger verblüffend ähn- kung extrem leichtgängig, um das Einlich. Abgesehen von einigen kosmetischen parken in enge Lücken zu erleichtern. Falten und auffällig aus den Dachsäulen Im „Normal“-Modus sind größere herausquellenden Heckleuchten hat sich Lenkkräfte erforderlich – bei Überlandam Design des Wagens kaum etwas ge- fahrten reagiert das Auto dann weniger nervös. ändert. Doch Fiat verweist auf zahlreiche Mit seinem Raumangebot legt der neue Detailverbesserungen unter dem Blech. Punto gegenüber dem Vorgänger noch einSo wird nun zusätzlich zum serien- mal zu. In der fünftürigen Version faßt der mäßigen Fünfganggetriebe gegen Aufpreis Kofferraum 297 Liter, laut Fiat „der größein Automatikgetriebe mit sechs (in te seiner Klasse“. REUTERS AU T O M O B I L E Technik Etwas ernüchternd wirkt das karge Kunststoff-Armaturenbrett, traditionell ein Schwachpunkt italienischer Autos. Die verwendeten Materialien erscheinen kaum hochwertiger als bei handelsüblichen Mülltonnen. „Funktion geht über Dekoration“, rechtfertigt sich FiatDesigner Peter Faßbender und verweist stolz auf den ergonomischen Overkill von 26 Ablagefächern. Einen ähnlichen Verkaufserfolg wie beim alten Punto hat Fiat dringend nötig. Der italienische Neuer Fiat Punto: Ergonomischer Overkill Autoriese ist, unter anderem wegen der starken Abhängigkeit von den kaufte Fiat bis 1983; vom Nachfolger Uno schwächelnden Märkten Südamerikas, (1983 bis 1995) waren es weitere 6,3 Milwirtschaftlich schwer angeschlagen und aus lionen. Sicht vieler Experten ein Fusions- oder gar Die Fertigungsqualität jedoch hielt mit Übernahmekandidat (SPIEGEL 23/1999). der Innovationskraft der Piemonteser InNun ruhen wieder alle Hoffnungen auf genieure nicht Schritt. Rostfraß, technische dem Kleinwagenbau, aus Tradition die Defekte und Alltagsärger prägten den stärkste Disziplin mediterraner Fahrzeug- Ruf der Marke Fiat. So weckten unprätechnik. zise Schaltungen den Eindruck, das GeSchon 1971 – in Deutschland liefen noch stänge sei aus Gummi. Crashtest-Ergebdie veralteten VW-Käfer mit Heckmotor nisse gemahnten an die Labilität von Hutvom Band – präsentierten die Turiner den schachteln. Fiat 127, dessen Konzept (vorn quer eingeBesserung brachte eine neue Fabrik, die bauter Motor, Frontantrieb) auf dem eng- weit vom Firmensitz Turin entfernt lag. Im lischen Mini beruhte und sich bald weltweit süditalienischen Melfi errichtete Fiat eine durchsetzte. 5,3 Millionen Exemplare ver- moderne, von Robotern beherrschte Pro- duktionsstätte. Dort läuft seit 1993 der Punto vom Band, der erste Fiat-Kleinwagen, dessen Qualität und Crashsicherheit auf Weltniveau liegen. Daß Fiat zweifellos zu den besten Kleinwagenherstellern der Welt zählt, ist jedoch noch keine Garantie für das eigenständige Überleben des größten italienischen Industriekonzerns, der vorvergangene Woche die Präsentation des neuen Punto mit seinem 100jährigen Jubiläum verband. Der 78jährige Konzernpatriarch Giovanni Agnelli empfing über 3000 Gäste. Als Gastredner huldigte der italienische Ministerpräsident Massimo D’Alema der Lokomotive mediterraner Wirtschaftskraft. Der drohende Zusammenschluß mit einem ausländischen Konzern – als wahrscheinlichste Kandidaten gelten derzeit Ford und Mitsubishi – trübte ein wenig die Feststimmung. Das industrielle Selbstbewußtsein der Apenninenhalbinsel würde unter einer solchen mehr oder weniger freiwilligen Firmenvermählung verlorengehen. Roberto Testore, Vorstandschef der FiatAutosparte, die im vergangenen Geschäftsjahr umgerechnet 200 Millionen Mark Verlust auswies, war immerhin noch zu Scherzen aufgelegt: „Fiat ist ein schönes Mädchen, gerade mal 100 Jahre alt, und kann sich mit der Hochzeit Zeit lassen.“ Christian Wüst Debatte A l p t r au m M e d i z i n Vo n M i c h a e l d e R i d d e r u n d Wo l f ga n g D i s s m a n n Ab 1960 war die Behandlung mit einer künstlichen Niere zunächst nur an einem Krankenhaus in Seattle möglich. Hunderte von Patienten im Endstadium einer Nierenerkrankung drängten auf die lebensrettende Blutwäsche. Unter denen, die für die jährlichen Behandlungskosten von rund 30 000 Dollar nicht selbst aufkommen konnten, sonderte ein Ärztekomitee zunächst diejenigen aus, die nach medizinischen Kriterien eine schlechte Prognose hatten. Ein zweites, aus Bürgern bestehendes Komitee, dessen Mitglieder der Öffentlichkeit unbekannt waren und weluf dem diesjährigen Kongreß der amerikanischen kardio- ches geheim tagte, entschied über Leben oder Tod der Verblielogischen Gesellschaft in New Orleans stellte Dr. Alfred benen nach Kriterien wie diesen: Sollte ein nierenkranker Vater Buxton das Ergebnis einer Studie vor, deren praktische von sechs oder einer von vier Kindern vorrangig in den Genuß Umsetzung die Gesundheitssysteme aller westlichen Staaten vor der Behandlung kommen? War der Kandidat nach Ausbildung, Charakter, Moralvorstellungen und Religionszugehörigkeit ein kaum lösbare finanzielle Hürden stellen wird. Es geht nicht etwa um die Einführung einer neuen kosten- wertvolles Mitglied der Gesellschaft? Erst seit 1972 ist das Dialyseprogramm allen Patienten in den trächtigen Lifestyle-Pille vom Schlage Viagra, sondern um vermeidbare Todesfälle von Patienten mit koronarer Herzerkran- USA kostenlos zugänglich. In Deutschland wenden die Krankung, der häufigsten Todesursache in Europa und den Vereinig- kenkassen jährlich fünfeinhalb Milliarden Mark für 50 000 Patienten auf, zumeist Diabetiker und Hochdruckkranke, die ohne ten Staaten. Ein beträchtlicher Anteil dieser Patienten leidet, von ihnen Nierendialyse oder Nierentransplantation nicht überleben würselbst nicht bemerkt, an Rhythmusstörungen der Herzkammer, die den. Wegen der steigenden Zahl dieser Kranken muß künftig mit Vorboten des plötzlichen Herztodes sind. Die Studie kam zu dem jährlichen Mehrausgaben von sieben Prozent gerechnet werden. Doch es kommt, was Kosten Ergebnis, daß die Implantation eiund Finanzierung angeht, alles nes speziellen Herzschrittmachers noch viel schlimmer. Denn die („Defibrillator“) der konventiowestlichen Gesellschaften stehen nellen, vergleichsweise preisweran der Schwelle einer Ära, die die ten Therapie mit antiarrhythmisch Medizin in ähnlicher Weise revowirkenden Arzneimitteln bei weilutionieren wird wie Mikroskop tem überlegen ist. Gesamtkosten und Röntgengerät, EKG, Antibiopro Patient: 65 000 Mark. tika und Impfstoffe; einer Ära Schon bei der Präsentation der ungeahnter diagnostischer und Studie warf man die Frage auf, ob therapeutischer Eingriffsmöglichdie finanziellen Ressourcen der keiten in heute noch kaum verwestlichen Nationen ausreichten, standene Krankheitsprozesse. Die diese zwar lebensrettende, jedoch künftige Medizin umfaßt die ungemein kostspielige Therapie Voraussehbarkeit, Verhütung und allen Koronarpatienten zukomBehandlung einer Vielzahl von men zu lassen, die sie benötigErkrankungen durch genmediziten. Allein in Deutschland sind, nische Interventionen ebenso wie zurückhaltend geschätzt, jährlich durch eine bislang nicht gekannetwa 70 000 Patienten betroffen: Mediziner de Ridder, Dißmann te medizintechnische Präzision für die Krankenkassen ein finanzielles Volumen von rund 4,5 Milliarden Mark. Dieser Betrag und pharmakologische Zielgenauigkeit bei Eingriffen in Struktur würde sich vervielfachen, wollte man allen während der letzten und Funktion einzelner Organe und Organsysteme. Man wird identische Organreplikate bereitstellen, mentale ErJahre „aufgelaufenen“ Patienten diese Behandlung anbieten. Angesichts dieser hochwirksamen und konkurrenzlosen Be- krankungen zunehmend beherrschen und den Alterungsprozeß handlungsoption den Daumen zu senken, dürfte dem Bundes- verzögern können. All dies wird verbunden sein mit einer Abausschuß der Ärzte und Krankenkassen ungleich schwerer fallen nahme behandlungsbedingter Risiken und Belastungen, mit einem als im Fall Viagra. Denn ein Verzicht auf sie wäre ein folgenrei- Gewinn an krankheitsfreier Lebenszeit und der Aussicht, sie in ein ches Exempel offener Rationierung einer medizinisch unver- zweites Lebensjahrhundert auszudehnen. Doch trüben drückenzichtbaren Leistung und zweifellos unethisch – es sei denn, man de Fragen diese Aussichten: Wo enden die Leistungen genuiner würde auch andere lebenserhaltende und kostspielige Therapien Medizin? Wann wird sie zu einem ethisch fragwürdigen Instruwie Herztransplantationen und Nierendialyse zugunsten höher- ment der „Runderneuerung“ des Menschen? Welchen Stellenwert wertiger Güter aufgeben. Welche Abgründe sich auftun, wenn hat die Medizin für Gesundheit und Wohlergehen des einzelnen die Fortschritte der Medizin zum Sprengsatz der Budgets zu und die Gesellschaft insgesamt? Wer wird über den Zugang zu den werden drohen, zeigt exemplarisch die Geschichte der in den Errungenschaften dieses Fortschritts entscheiden? Und, noch einUSA entwickelten künstlichen Niere, die zur ersten offenen Ra- mal: Wer kann, wer wird ihn bezahlen? Schon derzeit ist die Situation höchst angespannt. Ein unübertionierung moderner High-Tech-Medizin in der westlichen sehbares, stetig wachsendes Angebot ungeprüfter, überflüssiger Welt führte. De Ridder, 52, ist Leitender Oberarzt Innere Medizin der Rettungsstelle und Aufnahmestation im Krankenhaus Am Urban in Berlin-Kreuzberg. Professor Dißmann, 67, war von 1974 bis 1997 Abteilungsleiter Innere Medizin und Intensivmedizin im Krankenhaus Am Urban. Die beiden Ärzte halten die Rationierung medizinischer Leistungen für unausweichlich, wenn weiterhin Milliarden für sinnlose Diagnostik und Therapie verpulvert werden und die Kurzsichtigkeit der Gesundheitspolitik fortbesteht. S. SCHRAPS / IMAGES.DE A 184 d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 U nzureichendes Wissen, mangelhaftes Qualitätsbewußtsein, unvertretbares Gewinnstreben – eingebettet in die schleichende Erosion ethischer Prinzipien – sind die Ursachen dieser Misere. Ein Chefarzt einer kardiologischen Abteilung, der jährlich 1800 Ballondilatationen an Herzkranzgefäßen vornimmt, erhält leichter Forschungsgelder und wird eher zum „Meinungsbildner“ erkoren als ein Kollege, der nur 800 vorzuweisen hat.Wer fragt schon nach der Güte der Indikationsstellung? Ärzteschaft und Politik werden nicht müde zu beteuern, die deutsche Medizin sei die leistungsfähigste der Welt, und auch morgen sei, trotz aller Unkenrufe, allen Bürgern eine hochwertige und umfassende medizinische Versorgung garantiert. Man propagiert mehr Wettbewerb im Gesundheitswesen, Ausschöpfung von Rationalisierungsreserven, Behandlungsrichtlinien, Qualitätsmanagement und größere Eigenverantwortung der Patienten; Konzepte, die nach unserer Auffassung zwar Symptome lindern mögen, ihr eigentliches Ziel aber, unter Berücksichtigung des notwendigen medizinischen Fortschritts eine effektive, bezahlbare und gerechte medizinische Versorgung langfristig zu gewährleisten, verfehlen müssen. Das kommende Jahrhundert wird den Industrienationen einen weiteren Rückgang akuter Erkrankungen und – trotz Aids und Antibiotikaresistenzen – der Infektionskrankheiten bescheren. Beherrschen werden das Morbiditätsspektrum chronische und degenerative Erkrankungen des Gefäßsystems, des Gehirns, des Bewegungsapparates sowie Tumorerkrankungen. Dieser Wandel trifft auf eine längerlebige und anspruchsvollere Bevölkerung, an d e r der in Deutschland die über 60jährigen im Jahr 2020 einen Anteil von 30 Prozent haben werden. Bei abnehmender Erwerbstätigkeit (und damit geringeren Beitragseinnahmen der Krankenkassen) wird folglich die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen steigen. Dies bedeutet unweigerlich Kosten, die potentiell unsere sozialen Sicherungssysteme sprengen. W elche gesundheitspolitischen Strategien sind notwendig und geeignet, dieses unausweichliche Szenario und die mit ihm drohenden schwerwiegenden gesellschaftlichen Verwerfungen zu vermeiden? Wir sind überzeugt davon, daß sich die Gesundheitspolitik künftig nur dann als tragfähig erweisen wird, wenn sie zwei Erkenntnissen Rechnung trägt: Zum einen müssen die Investitionen in die biomedizinischen Wissenschaften massiv intensiviert werden, weil die von ihnen zu erwartenden Resultate die Medizin langfristig effektiver und kostengünstiger machen. Zum anderen sind alle erdenklichen Anstrengungen zu unternehmen, das seit langem bekannte Wissen darüber zu nutzen, daß Krankheit mit einer Fülle von sozioökonomischen Faktoren in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens zusammenhängt. Die Prämisse „Mehr Medizin gleich mehr Gesundheit“ ist falsch. Vielmehr besagen die günstigsten Schätzungen, daß die Leistungen der Medizin mit nicht mehr als zehn Prozent in die Indizes eingehen, mit denen Gesundheit „gemessen“ wird: Kindersterblichkeit, Lebensqualität (gemessen in Krankheitstagen) und Lebenserwartung (Mortalität). Die übrigen 90 Prozent betreffen Faktoren wie individuellen Lebensstil (zum Beispiel Lebenszufriedenheit, Ernährungsgewohnheiten, Rauchen, Bewegung), soziale Bedingungen (zum Beispiel Ausbildung, Einkommen, Arbeitsbelastung), Umweltbedingungen (zum Beispiel Luft- und Wasserqualität) und die genetische Ausstattung des einzelnen. Der weitaus größte Teil der Gesundheitsdeterminanten liegt folglich jenseits des Zugriffs der klassischen Medizin, jedoch im Bereich gesellschaftspolitischer Gestaltungsmöglichkeiten. Sie weiterhin nicht auszuschöpfen hieße substantielle Elemente der Gesundheit des einzelnen wie der Gesamtgesellschaft zu mißachten. Warum verschenkt unsere Gesellschaft die Chance, in den Schulen ein obligates Fach „Gesundheitserziehung und Krankheitslehre“ einzuführen und damit Kindern und Jugendlichen Verhaltensweisen zu vermitteln, ihr wichtigstes „Kapital“ zu bewahren? So – und nur so – könnte im übrigen der vielbeschworene „mündige Patient“ Wirklichkeit werden. Um den drohenden Alptraum einer aus Kostengründen vorsätzlichen und systematischen Verweigerung medizinisch gebotener Leistungen gegenüber bestimmten Patienten und Patientengruppen zu bannen, braucht unser Land eine gestaltungsstarke und sachverständige Gesundheitspolitik, die Prioritäten erkennt und durchsetzt. Gefragt ist zudem eine Ärzteschaft, die den unerläßlichen Selbstreinigungsprozeß nicht scheut. Mehr noch: Alle gesellschaftlichen Gruppen müssen darüber nachdenken, wie die Mittel, die die Erhaltung unseres „höchsten Gutes“ sichern sollen, gerecht verteilt werden können. Andernfalls ist ein übles Ende absehbar: Menschen werden sterben – weit vor der Zeit. ™ s p i e g e l M. SCHOLZ / MELDEPRESS oder wirkungsloser Arzneimittel widersteht jeder angemessenen Beschneidung. Eine kaum quantifizierbare Flut nicht indizierter, besonders medizintechnisch-diagnostischer Leistungen kommt allein ihren Anbietern zugute, nicht den Patienten. Mehrfachuntersuchungen unterliegen keiner Kontrolle. Aufwendige Interventionen ohne irgendeinen Gewinn am Lebensende eines Patienten – vielfach sogar zu seinem Nachteil – sind medizinischer Alltag. Der Sachverständigenrat für die konzertierte Aktion im Gesundheitswesen rügt nachdrücklich brachliegende Wirtschaftlichkeitsreserven: Wesentliche Teile der präoperativen Routinediagnostik seien überflüssig, ebenso zahllose Knochendichtemessungen und Arthroskopien. Die Diagnostik des extrem häufigen, unkomplizierten Rückenschmerzes werde mit unvertretbarem Aufwand betrieben. Die Hälfte der 100 Millionen Röntgenuntersuchungen seien nicht gerechtfertigt. Die Liste aberwitziger ärztlicher Leistungen ließe sich fortsetzen. Ihre finanzielle Größenordnung dürfte in der Bundesrepublik, ähnlich wie in Kanada und den Vereinigten Staaten, bei etwa 30 Prozent aller Aufwendungen für die Gesundheit liegen. Auf der anderen Seite werden Gesundheitsleistungen oft ausgerechnet dort eingeschränkt, wo sie unverzichtbar sind. Zum Beispiel: Nur fünf Prozent aller Tumorpatienten werden nach dem neuesten Stand des medizinischen Wissens versorgt; von den 550 000 Patienten in Deutschland, die stark wirksame Opiate benötigen, erhalten nur 3,6 Prozent Patient auf Intensivstation die erforderliche Therapie. 75 Prozent aller Herzinfarktpatienten werden Cholesterinsenker vorenthalten. 2 9 / 1 9 9 9 185 FOTOS: AP Amundsen-Scott-Forschungsstation: 5000 Kilometer bis zum nächsten Hospital te einen Knoten in ihrer Brust. Seither befindet sie sich auf dem Kontinent der Extreme in einer Extremsituation. Der Knoten hatte sich offenbar sehr schnell gebildet, denn im Dezember, als die Frau für die Expedition ins Ausgerechnet am Südpol stellte Eis eingehend medizinisch eine Ärztin bei sich Brustuntersucht worden war, gab krebs fest. Die Frau kann nicht es die Verhärtungen noch nicht. Eine erste Gewebeproausgeflogen werden – nun muß sie sich selbst behandeln. be, die sich die Ärztin mittlerweile selbst abnahm, er- Medikamentenabwurf*: Flugzeugcrew mit Frostbeulen ede Blinddarmentzündung kommt un- wies sich als beunruhigend. Die einzigen Kontakte zur Außenwelt Die womöglich an Brustkrebs leidende gelegen. Leonid Rogosow jedoch erkrankte zum völlig falschen Zeitpunkt Medizinerin ist in der kältesten und ein- für die Polar-Eremiten erfolgen über Teleam falschen Ort. Als der eitrige Wurmfort- samsten Gegend der Welt gefangen – und fon, Videokonferenzen und Internet. Nur satz zu platzen drohte, arbeitete der junge in der dunkelsten noch dazu. Im März ging wenige Stunden am Tag funktioniert die russische Arzt in der Antarktis-Station die Sonne unter, bis September herrscht in Satellitenverbindung. Bis zum nächsten Flieger kann die ÄrzNowolasarewskaja – mehr als 3000 Kilo- der Eisöde absolute Finsternis. Allein ist die Frau nicht: 40 hartgesotte- tin, deren Name streng geheimgehalten meter vom nächsten Chirurgen entfernt. Weil ihm auf dem Pinguin-Kontinent weit ne, entbehrungsliebende Sternenforscher wird, jedoch nicht warten. Medikamente und Stationsmitarbeiter zur Behandlung von Krebs waren nicht im und breit kein Doktor helüberwintern mit ihr in ei- Marschgepäck. fen konnte, mußte Rogo1000 km Atlantik Mit einem spektakulären Hilfsflug hat ner riesigen, mit Stahlconsow selbst Hand an sich tainern vollgestellten Kup- nun die „National Science Foundation“ legen. pel. Sie alle aber sind so (NSF) als Betreiberin der ForschungsIm April 1961 schnitt A N TA R K T I S isoliert, wie es Menschen station versucht, der kranken Frau im Eis er sich unter lokaler Amundsen-Scottauf diesem Planeten nur zumindest eine Überlebenschance zu verBetäubung die BauchStation sein können. 90 Prozent schaffen. decke auf, assistiert von am geographischen Die NSF schickte eine Transportmaschides gesamten Eises der einem Automechaniker Südpol Welt haben sie um sich ne der US-Luftwaffe 20 000 Kilometer weit und einem Meteorologen. herum und unter sich – aus den USA bis an den Südpol. Nach eiSein Gedärm quoll ihm Pazifik sonst nichts. Die nächste ner Zwischenlandung in Neuseeland und über den Schoß. Kaltblütig Menschensiedlung, eben- weiterem achtstündigen Flug warf der hantierte Rogosow darin eine Stunde lang mit Skalpell und falls eine Forschungsstation, ist 1300 Kilo- „Starlifter“ aus 300 Meter Höhe am vorZange. Eine Woche später zog er sich meter weit weg; das nächste Krankenhaus letzten Sonntag sechs Paletten ab, unter in Neuseeland liegt gar 5000 Kilometer ent- anderem beladen mit zwei Ultraschalldie Fäden. geräten, einem digitalen Mikroskop, MediDie Dramatik dieser erfolgreichen Auto- fernt. Das letzte Flugzeug verließ die Station kamenten zur Brustkrebsbehandlung, friAmputation im Südpol-Eis wird fast noch übertroffen von den augenblicklichen Ge- am 15. Februar, die nächste Maschine schem Obst, Briefen und einem Blumenschehnissen in der amerikanischen Amund- kommt erst Ende Oktober. Vorher kann strauß. Der Flug war äußerst heikel. Hätte die sen-Scott-Forschungsstation. Hier, in men- kein Flugzeug am Südpol landen und schon schenleerer, gottverlassener Gegend, di- gar nicht starten, denn bei Temperaturen Maschine einen Motorschaden erlitten, rekt am geographischen Südpol, hat die von bis zu minus 80 Grad und eisigen Stür47jährige Ärztin der Station im Juni eine men würden Hydraulik und andere wich- * Über der Amundsen-Scott-Station am vorletzten grausige Entdeckung gemacht: Sie ertaste- tige Systeme versagen. Sonntag. A N TA R K T I S Gefangen in der Eiskuppel J 186 d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 Wissenschaft wäre die 21köpfige Crew verloren gewesen. Hoch über dem Pol, in völliger Dunkelheit, mußte die Maschine von einem begleitenden Tankflugzeug Treibstoff übernehmen. Die Besatzung trug Atemmasken und Frostschutzkleidung. Am frostigen Boden hatten Mitarbeiter der Südpolstation brennende Ölfässer als Zielmarkierung in einem Halbkreis aufgestellt. Mit 317 Stundenkilometern donnerte die Maschine um zwei Uhr nachts darüber hinweg. Die Besatzung warf die Paletten nicht wie üblich von der Heckklappe in die Tiefe, denn deren Hydrauliksystem wäre im Extremfrost festgefroren. Die Männer nutzten statt dessen die Seitenluke – und kaum öffneten sie die Tür, war es, als würde das Flugzeuginnere schockgefrieren: Eine Cola-Dose im Cockpit explodierte vor Kälte; ein mitfliegender Mediziner behandelte anschließend die Frostbeulen der Crew. An Fallschirmen hängend und grell beleuchtet von bengalischen Feuern, sanken die Paletten aufs Eis. Für die Stationsmitarbeiter am Boden begann nun ein dramatischer Wettlauf gegen die Extremkälte. Innerhalb von sieben Minuten mußten alle Pakete eingesammelt und in die Station gebracht sein. Schon in der achten Minute wären die ersten Medikamente kaputtgefroren. Die Aktion hat offenbar geklappt. Wie die Stationsbesatzung über E-Mail in die USA meldete, sind lediglich eine Obstkiste und wohl auch das Zusatz-Ultraschallgerät beim Abwurf zerstört worden. Die womöglich krebskranke Frau ist nun damit beschäftigt, sich zu retten. Sie wird versuchen, an sich selbst eine weitere Biopsie vorzunehmen. Mit einer Hohlnadel wird sie sich, geführt vom UltraschallApparat, in den Knoten stechen und eine Gewebeprobe entnehmen. Diese Probe wird sie am Mikroskop untersuchen, dann digitalisieren und zusammen mit Blutuntersuchungen per E-Mail vom Südpol in die USA schicken. Amerikanische Brustkrebsexperten werden die Ärztin beraten über die nächsten Schritte, sollte die Probe tatsächlich den Brustkrebsverdacht bestätigen. Der Starlifter hat ihr Medikamente für die Chemotherapie geliefert, außerdem das brustkrebshemmende Mittel Tamoxifen. Mit welchem Präparat sie beginnt, hängt davon ab, welche Art von Brustkrebs sie hat. Meist wird bei der Diagnose Mammakarzinom zunächst die Brust amputiert und dann mit der Chemotherapie begonnen. Der Frau im Eis haben Experten geraten, mit der Operation möglichst bis zur Rückkehr in die USA zu warten. Im schlimmsten Fall aber wird die Polfahrerin keine andere Möglichkeit haben, als sich selbst die Brust abzunehmen – oder aber Mitinsassen der Polarstation für diesen Eingriff anzulernen. Marco Evers d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 SERVICE Leserbriefe SPIEGEL-Verlag, Brandstwiete 19, 20457 Hamburg Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: leserbriefe@spiegel.de Fragen zu SPIEGEL-Artikeln Telefon: (040) 3007-2687 Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: artikel@spiegel.de Nachbestellung von SPIEGEL-Ausgaben Telefon: (040) 3007-2948 Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: nachbestellung@spiegel.de Nachdruckgenehmigungen für Texte und Grafiken: Deutschland, Österreich, Schweiz: Telefon: (040) 3007-2869 Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: nachdrucke@spiegel.de übriges Ausland: New York Times Syndication Sales, Paris Telefon: (00331) 47421711 Fax: (00331) 47428044 für Fotos: Telefon: (040) 3007-2869 Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: nachdrucke@spiegel.de DER SPIEGEL auf CD-Rom / SPIEGEL TV-Videos Telefon: (040) 3007-2485 Fax: (040) 3007-2826 E-Mail: service@spiegel.de Abonnenten-Service SPIEGEL-Verlag, Postfach 10 58 40, 20039 Hamburg Reise/Umzug/Ersatzheft Telefon: (040) 411488 Auskunft zum Abonnement Telefon: (040) 3007-2700 Fax: (040) 3007-2898 E-Mail: aboservice@spiegel.de Abonnenten-Service Schweiz: DER SPIEGEL, Postfach, 6002 Luzern, Telefon: (041) 3173399 Fax: (041) 3173389 E-Mail: leserservice@dcl.ch Abonnement für Blinde Deutsche Blindenstudienanstalt e. V. Telefon: (06421) 606267 Fax: (06421) 606269 Abonnementspreise Inland: Zwölf Monate DM 260,– Studenten Inland: Zwölf Monate DM 182,– Schweiz: Zwölf Monate sfr 260,– Europa: Zwölf Monate DM 369,20 Außerhalb Europas: Zwölf Monate DM 520,– Halbjahresaufträge und befristete Abonnements werden anteilig berechnet. Abonnementsaufträge können innerhalb einer Woche ab Bestellung mit einer schriftlichen Mitteilung an den SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, Postfach 10 58 40, 20039 Hamburg, widerrufen werden. Zur Fristwahrung genügt die rechtzeitige Absendung. ✂ Abonnementsbestellung bitte ausschneiden und im Briefumschlag senden an SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, Postfach 10 58 40, 20039 Hamburg. Oder per Fax: (040) 3007-2898. Ich bestelle den SPIEGEL frei Haus für DM 5,– pro Ausgabe mit dem Recht, jederzeit zu kündigen. Zusätzlich erhalte ich den kulturSPIEGEL, das monatliche Programm-Magazin. Das Geld für bezahlte, aber noch nicht gelieferte Hefte bekomme ich zurück. 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Autoren, Reporter: Dr. Thomas Darnstädt, Matthias Matussek, Hans-Joachim Noack, Dr. Dieter Wild D E U T S C H L A N D Leitung: Clemens Höges, Ulrich Schwarz. Redaktion: Klaus Brinkbäumer, Annette Bruhns, Doja Hacker, Carsten Holm, Ulrich Jaeger, Sebastian Knauer, Ansbert Kneip, Udo Ludwig, Thilo Thielke, Andreas Ulrich. Autoren, Reporter: Jochen Bölsche, Henryk M. Broder, Gisela Friedrichsen, Norbert F. Pötzl, Bruno Schrep W I R T S C H A F T Leitung: Armin Mahler, Gabor Steingart. Redaktion: Dr. Hermann Bott, Konstantin von Hammerstein, Dietmar Hawranek, Frank Hornig, Hans-Jürgen Jakobs, Alexander Jung, Klaus-Peter Kerbusk, Thomas Tuma. Autor: Peter Bölke A U S L A N D Leitung: Dr. Olaf Ihlau, Dr. Romain Leick, Fritjof Meyer, Erich Wiedemann. Redaktion: Dieter Bednarz, Adel S. Elias, Manfred Ertel, Rüdiger Falksohn, Hans Hielscher, Joachim Hoelzgen, Siegesmund von Ilsemann, Claus Christian Malzahn, Dr. Christian Neef, Roland Schleicher, Dr. Stefan Simons, Helene Zuber. Autoren, Reporter: Dr. Erich Follath, Carlos Widmann W I S S E N S C H A F T U N D T E C H N I K Leitung: Johann Grolle, Olaf Stampf; Jürgen Petermann. Redaktion: Dr. Harro Albrecht, Marco Evers, Dr. Renate Nimtz-Köster, Rainer Paul, Alexandra Rigos, Matthias Schulz, Dr. Jürgen Scriba, Christian Wüst. Autoren, Reporter: Henry Glass, Dr. Hans Halter, Werner Harenberg K U L T U R U N D G E S E L L S C H A F T Leitung: Wolfgang Höbel, Dr. Mathias Schreiber. Redaktion: Susanne Beyer, Anke Dürr, Nikolaus von Festenberg, Angela Gatterburg, Lothar Gorris, Dr. Volker Hage, Dr. Jürgen Hohmeyer, Ulrike Knöfel, Dr. Joachim Kronsbein, Reinhard Mohr, Anuschka Roshani, Dr. Johannes Saltzwedel, Peter Stolle, Dr. Rainer Traub, Klaus Umbach, Claudia Voigt, Susanne Weingarten, Marianne Wellershoff, Martin Wolf. Autoren, Reporter: Ariane Barth, Uwe Buse, Urs Jenny, Dr. Jürgen Neffe, Cordt Schnibben, Alexander Smoltczyk, Barbara Supp S P O R T Leitung: Alfred Weinzierl. 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Dietmar Pieper; Wolfgang Bittner, Felix Kurz, Christoph Pauly, Wolfgang Johannes Reuter, Wilfried Voigt, Oberlindau 80, 60323 Frankfurt a. M., Tel.(069) 9712680, Fax 97126820 H A N N O V E R Hans-Jörg Vehlewald, Georgstraße 50, 30159 Hannover, Tel. (0511) 36726-0, Fax 3672620 K A R L S R U H E Postfach 5669, 76038 Karlsruhe, Tel. (0721) 22737 M Ü N C H E N Dinah Deckstein, Wolfgang Krach, Heiko Martens, Bettina Musall, Stuntzstraße 16, 81677 München, Tel. (089) 4180040, Fax 41800425 S C H W E R I N Florian Gless, Spieltordamm 9, 19055 Schwerin, Tel. (0385) 5574442, Fax 569919 S T U T T G A R T Jürgen Dahlkamp, Katharinenstraße 63a, 73728 Esslingen, Tel. (0711) 3509343, Fax 3509341 REDAKTIONSVERTRETUNGEN AUSLAND BAS E L Jürg Bürgi, Spalenring 69, 4055 Basel, Tel. (004161) 2830474, Fax 2830475 B E L G R A D Renate Flottau, Teodora Drajzera 36, 11000 Belgrad, Tel. (0038111) 669987, Fax 3670356 B R Ü S S E L Dirk Koch; Winfried Didzoleit, Sylvia Schreiber,Bd. Charlemagne 45, 1000 Brüssel, Tel. (00322) 2306108, Fax 2311436 I S T A N B U L Bernhard Zand, Ba≠kurt Sokak No. 79/4, Beyoğlu, 80060 Istanbul, Tel. (0090212) 2455185, Fax 2455211 J E R U S A L E M Annette Großbongardt, 16 Mevo Hamatmid, Jerusalem Heights, Apt. 8, Jerusalem 94593, Tel. (009722) 6224538-9, Fax 6224540 J O H A N N E S B U R G Birgit Schwarz, P. O. Box 2585, Parklands, SA-Johannesburg 2121, Tel. (002711) 8806429, Fax 8806484 K A I R O Volkhard Windfuhr, 18, Shari’ Al Fawakih, Muhandisin, Kairo, Tel. (00202) 3604944, Fax 3607655 L O N D O N Hans Hoyng, 6 Henrietta Street, London WC2E 8PS, Tel. (0044171) 3798550, Fax 3798599 M O S K A U Jörg R. Mettke, Uwe Klußmann, 3. Choroschewskij Projesd 3 W, Haus 1, 123007 Moskau, Tel. (007095) 9400502-04, Fax 9400506 N E W D E L H I Padma Rao, 91, Golf Links (I & II Floor), New Delhi 110003, Tel. 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Schierhorn, Ekkehard Schmidt, Thomas Schmidt, Andrea Schumann-Eckert, Margret Spohn, Rainer Staudhammer, Anja Stehmann, Claudia Stodte, Stefan Storz, Rainer Szimm, Dr. Wilhelm Tappe, Dr. Eckart Teichert, Dr. Iris Timpke-Hamel, Heiner Ulrich, Hans-Jürgen Vogt, Carsten Voigt, Peter Wahle, Ursula Wamser, Peter Wetter, Andrea Wilkens, Holger Wilkop, Karl-Henning Windelbandt B Ü R O D E S H E R A U S G E B E R S Irma Nelles I N F O R M A T I O N Heinz P. Lohfeldt; Andreas M. Peets, Kirsten Wiedner, Peter Zobel K O O R D I N A T I O N Katrin Klocke L E S E R - S E R V I C E Catherine Stockinger S P I E G E L O N L I N E (im Auftrag des SPIEGEL: a + i art and information GmbH & Co.) Redaktion: Hans-Dieter Degler, Ulrich Booms N A C H R I C H T E N D I E N S T E AP, dpa, Los Angeles Times / Washington Post, New York Times, Reuters, sid, Time Nachdruck und Angebot in Lesezirkeln nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages. Das gilt auch für die Aufnahme in elektronische Datenbanken und Mailboxes sowie für Vervielfältigungen auf CD-Rom. SPIEGEL-VERLAG RUDOLF AUGSTEIN GMBH & CO. KG Verantwortlich für Vertrieb: Ove Saffe Verantwortlich für Anzeigen: Christian Schlottau Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 53 vom 1. Januar 1999 Postbank AG Hamburg Nr. 7137-200 BLZ 200 100 20 Druck: Gruner Druck, Itzehoe V E R L A G S L E I T U N G Fried von Bismarck M Ä R K T E U N D E R L Ö S E Werner E. Klatten G E S C H Ä F T S F Ü H R U N G Rudolf Augstein, Karl Dietrich Seikel DER SPIEGEL (USPS No. 0154-520) is published weekly. The subscription price for the USA is $310 per annum. K.O.P.: German Language Publications, Inc., 153 South Dean Street, Englewood, NJ 07631. Telephone: 1-800-457-4443. e-mail: info @ glpnews.com. Periodicals postage is paid at Englewood, NJ 07631, and at additional mailing offices. Postmaster: Send address changes to: DER SPIEGEL, German Language Publications, Inc., 153 South Dean Street, Englewood, NJ 07631. d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 Chronik 10. bis 16. Juli SAMSTAG, 10. 7. MITTWOCH, 14. 7. PROTEST Nach einem blutigen Polizeiein- URTEIL Das Bundesverfassungsgericht billigt die Praxis des Bundesnachrichtendienstes, den internationalen Fernmeldeverkehr ohne konkreten Verdacht abzuhören. satz gegen Studenten protestieren Tausende Demonstranten weiter gegen das Mullah-Regime. LOVE PARADE Während des größten deut- schen Techno-Festivals in Berlin wird ein Mann erstochen. SONNTAG, 11. 7. UNFALL Beim Grand Prix von Großbritan- SCHONFRIST Die EU-Kommission vertagt überraschend ihre Entscheidung zur deutsch-österreichischen Buchpreisbindung. NACHBESSERUNG Eine Regierungskommission beschließt, das Gesetz zur Bekämpfung der Scheinselbständigkeit zu entschärfen. BERUFUNG Der 33jährige SPD-Wirtschafts- politiker Hans Martin Bury wird neuer Staatsminister im Bundeskanzleramt. DIENSTAG, 13. 7. REPORTAGE An der Nordseeküste … Beobachtungen in einer deutschen Ferienlandschaft DONNERSTAG, 15. 7. MONTAG, 12. 7. Scharping schlägt vor, daß BundeswehrSoldatinnen künftig Wachdienst mit der Waffe leisten sollen. Er stößt damit bei den Parteien, außer der PDS, auf breite Zustimmung. SPIEGEL TV BSE verhängte weltweite Exportverbot für britisches Rindfleisch wird von der Europäischen Union aufgehoben. SPARKURS In seiner Regierungsbilanz erklärt Gerhard Schröder, keine Abstriche beim 30-Milliarden-Sparpaket machen zu wollen. Er kritisiert erstmals öffentlich den Kurs von Ex-Finanzminister Oskar Lafontaine. WEHRDIENST Verteidigungsminister Rudolf MONTAG 23.00 – 23.30 UHR SAT 1 FREIGABE Das wegen der Rinderseuche NULLRUNDE Die Gewerkschaften protestieren gegen den Vorstoß des rheinlandpfälzischen Ministerpräsidenten Kurt Beck, Löhne und Gehälter in den nächsten beiden Jahren nur in Höhe der Inflationsrate steigen zu lassen. nien in der Formel 1 rast Michael Schumacher mit 107 Stundenkilometern in einen Reifenstapel – er kommt mit einem Beinbruch davon. SPIEGEL TV RÜCKSCHLAG Die Regierungsbildung für Nordirland scheitert am Boykott der protestantischen Ulster Unionist Party. HEIMKEHR Der gemäßigte Albanerführer Ibrahim Rugova kehrt unter dem Jubel Hunderter Anhänger in das Kosovo zurück. ATOMWAFFEN China gibt erstmals zu, die Neutronenbombe bauen zu können. Zeltvermieter auf Borkum SPIEGEL TV Ob hanseatische Millionäre oder Kegelclubs aus dem Ruhrgebiet: Im Sommer zieht es Menschen unterschiedlichster Herkunft an den plattdeutschen Strand zwischen Sylt und Borkum, auf Campingplätze oder in Nobelhotels, zu Krabbenpul-Partys, Champagnernächten oder einsamen Streifzügen durchs Watt. FREITAG, 16. 7. FUSION Die Aktionäre der Hoechst AG stimmen mit 99,7 Prozent für den Zusammenschluß mit dem französischen Chemiekonzern Rhône-Poulenc. WÄHRUNG Der Euro fällt auf ein Rekord- HAFTSTRAFE Der einstige Profiboxer und tief von 1,0109 Dollar. Die deutsche Wirtschaft reagiert gelassen auf die Talfahrt der europäischen Währung. mehrfache Europameister René Weller wird wegen Drogenhandels zu sieben Jahren Haft verurteilt. T O T E N T A N Z Bei den Proben zu Verdis „Ein Maskenball“ präsentieren die Bregenzer Festspiele eine eigenwillige Bühne im Bodensee: Sie stellt das Lebensbuch dar, in dem der Tod liest. DONNERSTAG 22.05 – 23.00 UHR VOX SPIEGEL TV EXTRA Nightlife nach dem Messestreß – die jährliche Hochkonjunktur im „Château am Schwanensee“. Jedes Jahr kommen drei Millionen Messegäste nach Hannover. 90 Prozent von ihnen sind Männer. Das bedeutet nicht nur die Erwartung von wirtschaftlichem Aufschwung in der Industriebranche. Auch Etablissements wie das „Château am Schwanensee“ oder VIP-Begleitservices machen während der kurzen Messezeit den höchsten Umsatz im gesamten Jahr. SONNTAG 22.10 – 22.55 UHR RTL SPIEGEL TV MAGAZIN REUTERS Goldrausch im Ozean – wie Profi-Schatzsucher reiche Beute machen; Endstation Bahnhofsplatz – mysteriöse Todesserie unter obdachlosen Jugendlichen in Augsburg; Superstars im Crashtest – warum die Formel 1 immer sicherer wird. d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 189 Register lián, John Neumeier oder William Forsythe gingen aus ihren Trainingskursen hervor. Nach Crankos Tod wurde Woolliams Mitdirektorin der Truppe, arbeitete später in Australien und in der Schweiz und leitete von 1993 bis 1996 gemeinsam mit ihrem Mann Jan Stripling das Ballett der Wiener Staatsoper. Anne Woolliams starb am 8. Juli nach langer Krankheit in Canterbury. Gestorben Theodor Eschenburg, 94. Daß er in seinen letzten Lebensmonaten körperlich verfiel, war ihm einfach peinlich. Ein Lübecker Sohn aus bestem bürgerlichen Haus wie er achtete auf Haltung. Die behäbige, selbstsüchtige, traditionsselige Lebenswelt seiner Kindheit beschrieb er plastisch und ironisch in seinen Erinnerungen; am zweiten Band, der nun bald postum erscheinen soll, arbeitete er, solange die Kraft reichte. Als Student der Geschichte hatte Eschenburg Gustav Stresemann kennengelernt, Aufnahme in den Kreis um den Außenminister gefunden. Dessen früher Tod 1929 gab schon eine Ahnung vom Ende der Weimarer Republik. Stresemanns Untergangsphantasien waren dem jungen Eschenburg übertrieben erschienen, Hitler fand er persönlich „weder faszinierend noch beängstigend“ – ein Irrtum, der ihn noch im hohen Alter verblüffte. An der Universität in Tübingen, seiner zweiten Heimat, bekam er 1952 einen Lehrstuhl für Politikwissenschaft, ein Fach, das er im Nachkriegsdeutschland erst begründen half. Er ging zu Adenauers und Erhards Zeiten in Bonn ein und aus, kommentierte in der „Zeit“ politische Ereignisse von exemplarischer Bedeutung. Von ihm stammen Begriffe, die in den allgemeinen Sprachgebrauch übergingen: Kanzlerdemokratie, Gefälligkeitsstaat, Verbändestaat. Er holte Ernst Bloch und Hans Mayer nach Tübingen; beider Pathos war ihm zwar fremd, aber die kleine feine Uni konnte mehr Aufregung vertragen, fand er. Ganze Heerscharen von späteren Journalisten – darunter Theo Sommer und Friedrich Karl Fromme – gingen durch seine Seminare, die der leidenschaftliche Pfeifenraucher Eschenburg mit seiner Erzählkunst und seinem reichen Erfahrungsschatz zum Ereignis machte. Theodor Eschenburg starb am 10. Juli in Tübingen an Herzversagen. 190 d e r Berufliches APA / DPA Anne Woolliams, 72. In der eitlen Welt des Balletts war sie eine der Stillen, Unauffälligen, die im Hintergrund stetig auf Qualität pochte. Die Britin Anne Woolliams, Tänzerin, Pädagogin und Ballettmeisterin, kam 1963 nach Stuttgart, wo sie gemeinsam mit John Cranko eine später weltberühmte Compagnie aufbaute. Bedeutende Choreographen wie Jirí Ky- AP T. KLINK / ZEITENSPIEGEL James Farmer, 79. Er war der letzte Überlebende der großen vier der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, deren berühmtester Vertreter, Martin Luther King, 1968 ermordet wurde. Schon 1942 gründete Farmer den „Congress of Racial Equality“ (Core), der knapp zwei Jahrzehnte später unter seiner Führung zur Speerspitze im Kampf gegen die Rassendiskriminierung in den USA wurde. Der überzeugte Anhänger der Lehren Mahatma Gandhis hatte maßgeblichen Anteil daran, daß sich der zivile Widerstand gegen den amerikanischen Rassismus vorwiegend mit friedlichen Mitteln artikulierte. Gleichwohl wurde er zum Ziel mörderischer Verschwörungen des Ku-Klux-Klan und riskierte mehrfach sein Leben. Als „Friedensstörer“ verbrachte er ausgerechnet den 28. August 1963 hinter Gittern, an dem King in Washington die Nation mit der Rede über seinen Traum aufrüttelte. Farmer starb am 9. Juli in Fredericksburg, Virginia, an den Folgen seiner schweren Diabetes. Fereshta Ludin, 26, muslimische Lehrerin aus Baden-Württemberg, die aufgrund einer Anordnung von Kultusministerin Annette Schavan nicht in den öffentlichen Schuldienst übernommen wurde, weil sie im Unterricht ihr Kopftuch nicht ablegen wollte, hat eine Anstellung gefunden. Vom nächsten Schuljahr an wird Ludin an einer islamischen Grundschule in Berlin-Kreuzberg unterrichten. Der Lehrplan der seit 1995 staatlich anerkannten Privatschule, an der Kinder aus fünf Nationen lernen, entspricht dem der öffentlichen Schulen. Kopftuchzwang herrscht nicht. Für Fereshta Ludin ist Berlin nur eine Zwischenstation. Noch wartet sie auf das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart, wo ihr Anwalt Klage gegen die Entscheidung der Kultusministerin eingereicht hat. Die Deutsche afghanischer Herkunft, muslimischen Glaubens, will vor allem nach Baden-Württemberg zurück, weil sie sich dort „verwurzelt“ fühlt. s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Personalien stige Telefonrechnung sorgt“. Für Müller wäre es auch kein Tabu, wenn sein Ministerium, das Kanzleramt oder andere Abnehmer des Bundes schon bald den wachsenden Wettbewerb ausnutzen und ihren Stromlieferanten wechseln. Selbst auf Staatsunternehmen nimmt der sparsame Wirtschaftsminister keine Rücksicht: „Unsere Telefone und Handys hier im Ministerium laufen auch nicht über die Telekom“, so Müller. Die habe „uns ein viel zu schlechtes Angebot gemacht“. Jürgen Trittin, 44, grüner MATUSCHKA Bundesumweltminister, bekam auf verschlungenen Pfaden die Meinung seines niedersächsischen SPD-Amtskollegen Wolfgang Jüttner über seinen Politikstil zu lesen. Ein Redakteur der „Woche“ hatte mit Jüttner über Trittins Charakter und Amtsführung gesprochen und einige Zitate zur Autorisierung an Jüttner gefaxt – dabei aber die Faxnummer des Bundesumweltministeriums eingegeben. So erfuhr Trittin vorab und exklusiv, wie Jüttner den Bonner Kollegen wegen dessen „Politik im ASta-Stil“ kritisierte. Trittin, selbst nie Mitglied einer Studentenvertretung, zeigte sich tolerant und reichte das Schreiben an Jüttner nach Hannover weiter, mit der Anmerkung, „Jüttner, der ewige Juso, sollte sich mit ASta-Vergleichen besser zurückhalten.“ VG BILD-KUNST, BONN 1999 Matuschka, 45, brustamputierte New Yorker Künstlerin und Aktivistin, hat erfolgreich ihren Operateur verklagt. Vor acht Jahren hatte sie ihre Brustentfernung als provokativen Akt gefeiert – mit Gipsabgüssen und Porträts von ihrem beschädigten Leib. Ihre Aktionen machten Eindruck. Das „New York Times Magazine“ brachte sie auf dem Titelbild, verhüllt mit einer Toga, die Operationsnarbe freigelegt. Sie wollte damals der „Welt zeigen, wie so eine Brustentfernung aussieht und daß auch Frauen mit nur einer Brust akzeptiert und geliebt werden könnten“ (SPIEGEL 44/1993). Inzwischen ist die Künstlerin ganz und gar anderen Sinnes und glaubt, daß die Radikaloperation absolut überflüssig gewesen und die Geschwulst durch einen kleinen Eingriff hätte ebenso entfernt werden können. Sie verklagte ihren Arzt wegen unzureichender Beratung. Ein Gericht in Manhattan sprach ihr einen Schadensersatz in Höhe von 2,2 Matuschka im Gipskorsett Millionen Dollar zu, doch der behandelnde Arzt hat das Urteil ange- Werner Müller, 53, Bundeswirtschaftsmifochten. Nun zieht Matuschka wieder als nister, zeigt auch im Privatleben unerAktivistin durchs Land: „Brustentfernung schütterliches Kostenbewußtsein. Zwar ist Körperverletzung und sollte gesetzlich habe er noch keine Zeit gefunden, beverboten werden.“ Auch macht sie sich kannte der parteilose Ressortchef, zu HauSorgen, ob ihre Aktionen vor acht Jahren se zu einem günstigeren Stromanbieter zu Frauen voreilig zu unnötigen Totalopera- wechseln. Doch „das wird meine Frau ertionen ermutigt hätten. ledigen, so wie sie für eine möglichst gün- Schröder-Porträtvarianten von Uhlig Gerhard Schröder, 55, Bundeskanzler, zeigte sich als anstelli- Abgang Schröders das Werk „ganz neu begonnen wegen der ger Freund der Kunst. Zwei Stunden saß der Kanzler im Februar dem Dresdener Maler Max Uhlig Porträt. „Er hat eisern gesessen“, erinnert sich der Maler, bekannt für nicht naturalistische Porträts mit pastosen Pinselschlägen in Öl, „er wollte es unbedingt durchhalten.“ Es sei nichts getrunken und kaum gesprochen worden (Uhlig: „Ich kann bei der Arbeit keine Unterhaltung führen“). Beim Hinausgehen habe der Kanzler Zustimmung zur Arbeit Uhligs signalisiert. Der aber hatte nach dem 192 d e r Ausnahmesituation“. Für die am vergangenen Sonntag vorgenommene Übergabe des Kanzler-Porträts an das Land Niedersachsen hatte denn auch Uhlig vorsichtshalber gleich fünf Varianten für Schröder zum Auswählen vorbereitet. Was angesichts einer Äußerung, die Schröder noch als Ministerpräsident von Niedersachsen gegenüber Uhlig machte, etwas übertrieben scheint: „Wenn ich hier einmal weggehe, dann ist ein Bildnis fällig.“ s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 Günter Grass, 71, Schriftsteller („Die Blechtrommel“, „Mein Jahrhundert“), hat eine eigene, subtile Form des Anti-Amerikanismus entwickelt. Ob er noch mal Urlaub in den USA mache, hatte ihn der „Stern“ gefragt. Der Pfeifenraucher wehrte ab: „Heute nicht mehr.“ Der Grund: „Weil man in den USA nicht rauchen darf. Da wird man Grass wie ein Aussätziger in die Ecke geschoben. Und das im Land der Demokratie.“ hen, ebenso ein weiteres Werk Catellans, ein ausgestopftes Eichhörnchen, das nach Meinung des „Independent“ „offensichtlich Selbstmord begangen hat“. Susanne Kastner, 52, Parlamentarische EFFIGIE / BILDERBERG Geschäftsführerin der SPD im Bundestag, brachte den bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber, 57, bei der Verleihung des bayerischen Verdienstordens im Kaisersaal der Münchner Residenz nur kurz aus dem Tritt. Die Parlamentarierin wollte von Stoiber wissen, für welche Ver- F. SCHIRMER Maurizio Cattelan, 39, italienischer Künstler, erfreut Ausstellungsbesucher mit toten Tieren. In der Londoner Tate Gallery läßt er ein an Seilen hängendes Pferd von der Decke baumeln. Ähnlich wie die vom englischen Künstler Damien Hirst in Formaldehyd eingelegten Rinderhälften und Schafe starb auch Cattelans Pferd angeblich eines natürlichen Todes. Und der Kurator der Tate ist des Lobes voll, wenn er Hirst mit Catellan vergleicht: „Es ist wie bei Monet und Manet, die verschiedene Dinge zur selben Zeit taten, die aber auch als eng verwandt gesehen wurden.“ Der ausgestopfte Gaul, ein ehemaliges Rennpferd, von Cattelan „Novecento“ („Zwanzigstes Jahrhundert“) betitelt, ist bis zum 26. September in der Tate Gallery zu se- Stoiber, Kastner dienste sie denn den begehrten Orden, den nur 2000 Menschen tragen dürfen (für jeden neuen Ordensträger muß ein alter wegsterben), nun eigentlich erhalte. Stoiber murmelte was von „besonderen Verdiensten“, welche, mochte er nicht sagen. Auch weiteres Nachfragen half der Religionspädagogin nicht. Stoiber drückte ihr hastig die Urkunde in die Hand, Kastner nahm an, noch ein Erinnerungsfoto – und der nächste war dran. CASTELLO DI RIVOLI Jean-Pierre Chevènement, 60, französi- Cattelan-Werk „Novecento“ d e r scher Innenminister und stets zum Streit aufgelegter Nonkonformist, bemühte den französischen Literaturtitanen Honoré de Balzac (1799 bis 1850), um sich seinen Landsleuten zu erklären. Der Politiker war Anfang des Jahres bei einer Operation in ein tiefes Koma gefallen. Die Nachrufe waren schon geschrieben, doch Chevènement kehrte wie durch ein Wunder ins Leben und ins Ministerium zurück. Seit seinem Abstecher ins Jenseits, schmähen nun seine Gegner taktlos, halte er sich für einen Erleuchteten. In einem Interview mit dem „Figaro“ erläuterte der „Wunderfall der medizinischen Wissenschaft“ („Le Monde“), daß es sich bei den Attacken um ein „Syndrom des Colonel Chabert“, der berühmten balzacschen Romanfigur, handle: „Man beweint ihn, wenn man ihn tot im Krieg wähnt, freut sich aber nicht, wenn er zurückkehrt.“ Der Minister legte noch eins drauf: „Die Toten sind fast immer populär, die Wiederauferstandenen werden häufig angefeindet.“ s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9 193 Hohlspiegel Rückspiegel Aus „Sonntag Aktuell“: „Erste Amtshandlungen. Bundespräsident Johannes Rau besuchte gestern Brandenburg. In Jüterbog traf er dabei auch auf den Ziegenbock Hermann.“ Zitat Aus dem „Handelsblatt“ Aus der „Tageszeitung“: „Neues Geld für Rumänien: Bei der bulgarischen Nationalwährung Lew wurden gestern drei Nullen gestrichen und neue Geldscheine und Münzen eingeführt.“ Aus dem „Hamburger Abendblatt“ Aus der Zeitschrift des Kindermissionswerks „Die Sternsinger“: „Wer den Kalender bestellt, tut obendrein ein gutes Werk: 12 DM, die Hälfte des Kaufpreises, gehen als Spende gezielt in gemeinsame Projekte des Kindermissionswerkes und des Deutschen Fußball-Bundes – dorthin, wo die Not am größten ist.“ Die „Süddeutsche Zeitung“ über den Balkanbeauftragten Bodo Hombach und zum SPIEGEL-Titel „Aus Schröders Schublade: Der Plan“ (Nr. 19/1999): In gemütlichen Treffen bei Rotwein und Zigarren versuchte der Westfale, die Tarifpartner auf einen einheitlichen Kurs einzuschwören. Doch was ihm ab und zu gelang, fuhr er dank ungeschickter PR-Arbeit an die Wand. Zum Beispiel das Projekt Niedriglöhne. Im Vergleich zu den USA fehlen hierzulande Hunderttausende Jobs im schlechtbezahlten Servicesektor. Staatliche Zuschüsse könnten hier helfen, viele neue Arbeitsplätze zu schaffen. Das hätte wie ein Vitaminstoß für das schlappe Bündnis gewirkt. Doch als der SPIEGEL das Geheimpapier als „Plan aus Schröders Schublade“ präsentierte, konnte sich Strippenzieher Hombach nicht lange freuen. Sauer auf die Indiskretion, schossen sich die Gewerkschaften auf das Konzept ein. Hombach bekam kalte Füße, der Plan verschwand wieder in Schröders Schublade. So trauern selbst Arbeitgeber, die bei Hombach immer ein offenes Ohr fanden, seinem Abgang in den Kosovo nicht nach. Der SPIEGEL berichtete ... ... in Nr. 14/1999 „Ausländer – Eine zwölfjährige Türkin soll für Formfehler büßen“ über das seit vier Jahren in Hamburg bei den Großeltern lebende Mädchen Ba≠ak, das abgeschoben werden sollte, weil es als Touristin eingereist war und nach dem Ausländerrecht keine Aufenthaltserlaubnis bekommen konnte. Jetzt erteilte das Ausländeramt eine Aufenthaltsbefugnis aus „humanitären Gründen“. Während das Mädchen in der Türkei, wo die psychisch kranke Mutter lebt, weitgehend auf sich allein gestellt gewesen wäre, wächst es in Hamburg bei seinen Großeltern behütet auf. Aus der „Rotenburg-Bebraer Allgemeinen“ Aus einer dpa-Meldung unter der Überschrift „Chruschtschow-Sohn ist stolzer Amerikaner“: „Den Einbürgerungstest hatte Sergej Chruschtschow bereits im Juni mit Bravour bestanden. Von 19 Fragen beantwortete er 20 richtig. Seine Frau Valentina Golenka war sogar noch besser: Sie wußte alles.“ Aus der „Rheinischen Post“: „Es ist bekannt, daß Lenin noch zu seinen Lebzeiten neben seiner Mutter auf einem St. Petersburger Friedhof liegen wollte.“ 194 ... in Nr. 21/1999 SPIEGEL-Titelgeschichte „Was bleibt von Jesus Christus? Rudolf Augstein über den Mythos, der die Welt prägte“. Die Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg machte eine wichtige Personalentscheidung vom rechten Umgang mit dem Beitrag des SPIEGEL-Herausgebers abhängig: Die Bewerber für den Posten als Leiter des Pastoralkollegs, dem Institut für Pfarrerfortbildung der Landeskirche, mußten einen Essay zum SPIEGEL-Titel schreiben und ein Fortbildungsprojekt zum Thema entwickeln. Begründung: Der Provokation Augsteins müsse jeder Pfarrer argumentativ begegnen können. d e r s p i e g e l 2 9 / 1 9 9 9