Lenin und die Oktoberrevolution

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Lenin und die Oktoberrevolution
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DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN
Hausmitteilung
19. Juli 1999
Betr.: Schatzsucher, Israel, Nachbarn
S
eit kurzem ist SPIEGEL-Redakteur Klaus Brinkbäumer, 32, Geheimnisträger. Er
weiß, wo bei den Kapverdischen Inseln die britische „Princess Louisa“ gesunken ist. Das Schiff war vor 250 Jahren im Sturm auf ein Riff gekracht, Mann und
Maus ertranken. An Bord hatte der Segler auch einen Haufen Silbermünzen – rund
sieben Millionen Mark sollen die heute wert sein. Ein deutsch-portugiesisches Konsortium will den Schatz jetzt heben und hat Taucher an den Ort der historischen
Havarie geschickt. Brinkbäumer konnte die Truppe fünf Tage und Nächte an Bord
des Expeditionsschiffs „Polar“
begleiten und in 20 Meter Wassertiefe beobachten, wie die
Männer in harter Arbeit an kaum
erkennbaren Wrack-Resten klopfen, meißeln und dann Teile nach
oben befördern. „Ein irrwitziger
Job“, so Brinkbäumer, „die Leute werden alle paar Minuten von
schweren Wellen weggezogen
und müssen dann immer wieder
zurückschwimmen.“ Widrige
Brinkbäumer
Bedingungen, die Schatzsucher
vielerorts auf sich nehmen, wie die SPIEGEL-Redakteure Clemens Höges, 37, und
Erich Wiedemann, 56, in der Titelgeschichte beschreiben. Mit gewaltigem technischen Aufwand, detektivischem Spürsinn und peniblen Archivrecherchen suchen
die modernen Glücksritter nach den Wracks. Finanzieren lassen sie sich das durch
mutige Investoren, die auf reiche Ausbeute hoffen. „Oft verlieren die aber ihr
Geld“, so Wiedemann, „es gibt viele windige Gestalten in der Szene“ (Seite 68).
D
as Heilige Land ist zum Mekka der Hochtechnologie geworden, vor allem dank
der russischen Neueinwanderer, die in Israel ein regelrechtes Cyber-Fieber ausgelöst haben. SPIEGEL-Autor Erich Follath, 50, traf zwischen Jerusalem, Haifa und
Tel Aviv ehemalige Gulag-Häftlinge, frühere sowjetische Militärs sowie Dutzende
computerbegeisterte Twens aus St. Petersburg und Sibirien, die zwar nach ein paar
Jahren in Israel immer noch kein Wort Hebräisch können, dafür aber geniale Projekte aushecken und verwirklichen. Auf Fragen nach Hobbys oder Interessen außerhalb des Berufs reagieren sie mit Unverständnis: „Die Leute arbeiten zwischen 16
und 18 Stunden am Tag“, so Follath, „Freizeit ist für die Cyber-Junkies nur ein anderes Wort für Schlaf“ (Seite 88).
M
R. JANKE / ARGUS
ißtrauische Blicke hinter Hecken und Gardinen
verfolgten SPIEGEL-Reporter Bruno Schrep,
53, beim ersten Besuch im schleswig-holsteinischen
Bönningstedt. Er war verdächtig, denn im feinen Viertel der Ortschaft ist das jeder Fremde. Nach amerikanischem Vorbild wachen hier die Nachbarn und rufen die Polizei, wenn Unbekannte in der Gegend herumlungern – es könnten ja Ganoven sein.Viele waren
schon Opfer von Einbrüchen, nun, seit sie gemeinsam
aufpassen, trauen sich Diebe kaum mehr her. Schrep
war den Nachbarn bald vertraut, sie winkten ihm zu,
wenn er kam. Doch bei einigen Anwohnern sei der
Argwohn zur Marotte geworden, sagt Schrep: „Die
spitzen bei jedem Laut ihre Ohren“ (Seite 62).
Schrep
Im Internet: www.spiegel.de
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In diesem Heft
Titel
Aus Angst in den Untergrund
Deutschland
VARIO-PRESS
Panorama: Fahnder beim NOK-Chef /
SPD bremst Strom-Wettbewerb ...................... 17
Affären: Zielfahnder sollen untergetauchten
Ex-Geheimdienstchef Pfahls jagen.................. 22
Ärzte: Verbandsfunktionäre kassieren ab ....... 25
Reformen: SPIEGEL-Gespräch mit
CSU-Chef Edmund Stoiber über EuroSchwäche, Sparpaket und den
nächsten Kanzlerkandidaten der Union.......... 26
Pfahls
Bundeswehr: Beziehungsprobleme bei den
deutschen Kfor-Soldaten ................................. 34
Medizin: Mobbing im Krankenhaus
verunsichert Assistenzärzte ............................ 38
Schulen: Polizei gegen Schwänzer ................. 44
Zeitgeschichte: SPIEGEL-Gespräch mit
Jan-Philipp Reemtsma über
die Wehrmachtsausstellung und die
Beweiskraft der Dokumente ........................... 48
Investoren: Absurder Krieg um
die Beschäftigten von BMW-Rolls-Royce
in Brandenburg............................................... 54
Kriegsverbrechen: Bosnischen Zeugen
fürs Haager Tribunal droht Abschiebung ........ 56
Gesellschaft
Szene: Elektronische Hilfe zum Kennenlernen / Kurzes Achselhaar als neuer Trend .... 61
Kriminalität: Angst in der Provinz –
Nachbarn schieben Wache .............................. 62
Legenden: War Robin Hood schwul? ............. 65
Wirtschaft
Trends: Telekom-Vorstand prüft Fusion mit
Telefónica / Baulöwe Schneider vor der
Haftentlassung / Neues Steuerchaos in Bonn.. 81
Geld: EM-TV in den Dax? /
Boom der Bankaktien..................................... 83
Unternehmen: Ex-McKinsey-Manager will
die Post zum Börsenstar machen .................... 84
Zukunft: Russen als High-Tech-Pioniere ........ 88
Steuerfahndung: Wie Kaiserslautern zur
Oase für Steuersünder wurde ......................... 94
Familienfirmen: Schlammschlacht im
Hause Kuemmerling ....................................... 96
Er soll Schmiergelder kassiert haben,
er wird per Haftbefehl gesucht und wollte sich stellen – doch der einstige Staatssekretär und heutige Daimler-Manager
Holger Pfahls, der im Verteidigungsministerium einen umstrittenen Panzer-Deal
mit Saudi-Arabien durchsetzte, tauchte
in Asien unter. Jetzt sollen Zielfahnder
den ehemaligen Vertrauten von Franz
Josef Strauß aufspüren. Die Justiz ließ
eine Zwangshypothek auf Pfahls’ Haus
eintragen und sein Gehalt pfänden.
Das Auge des Nachbarn
Seite 62
Fremde Autos erkennen sie schon am
„Rollgeräusch der Räder“. Unbekannte
Fußgänger lösen sofort Argwohn und
hektische Aktivitäten aus: Bewohner eines Dorfes in der schleswig-holsteinischen Provinz, die oft von Einbrechern
heimgesucht wurden, passen genau auf,
wer zu ihnen gehört und wer nicht. Jeder Verdächtige, warnt ein Schild am
Anfang der Straße, werde sofort der
Polizei gemeldet. Seit die Nachbarn
wachen, passiert angeblich viel weniger. Warntafel der Bürgerinitiative
Der Banker, die Witwe und die Meute
Medien
M. TINNEFELD / PEOPLE IMAGE
Trends: Fußballprofi Mario Basler
wird Kinostar / „Tagesspiegel“Chef Giovanni di Lorenzo über
Zoff mit der Redaktion.................................. 101
Fernsehen: Männer mögen
Journalistinnen / Pro Sieben setzt weiter
auf Herz und Schmerz .................................. 102
Vorschau ....................................................... 103
Boulevard: Der Banker und die BrandtWitwe – Szenen einer Treibjagd .................... 104
SPIEGEL-Gespräch mit Brigitte SeebacherBrandt über ihre Kultur-Aktivitäten
für die Deutsche Bank und die mediale
Anteilnahme an ihrem Privatleben................ 108
Zeitschriften: Das überraschende Comeback
des „Stern“-Machers Werner Funk ................ 110
Rechtsprechung: Gisela Friedrichsen
über ein neu erschienenes Handbuch zum
„Medienrecht“ .............................................. 112
6
Seite 22
Seiten 104, 108
Eine Liebe in Deutschland beschäftigt
die Öffentlichkeit. Hilmar Kopper, Aufsichtsratsvorsitzender der Deutschen
Bank, trennt sich nach 38 Jahren Ehe von
seiner Frau und bekennt sich zu Brigitte
Seebacher-Brandt, der Witwe des ehemaligen Kanzlers Willy Brandt. Die Boulevard-Presse findet ihr Sommerthema,
verteilt Moral-Zensuren und fragt scheinheilig: „Darf man das?“ Im SPIEGELGespräch zeigt sich die Historikerin von
der schreibenden „Meute“ unbeeindruckt und erklärt lieber ihre Kulturarbeit für die Deutsche Bank: „Man muß
den Widerspruch fördern.“
Seebacher-Brandt, Kopper
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R. JANKE / ARGUS
Goldrausch in den Weltmeeren....................... 68
Meeresforscher Franck Goddio über den
Streit mit den Schatzsuchern .......................... 72
Die Suche nach der „Prins Frederik“ ............. 77
Sport
Formel 1: Michael Schumachers Pläne
für ein schnelles Comeback ........................... 114
Fußball: Italien bricht alle Transferrekorde ... 117
Ausland
H. SCHWARZBACH / ARGUS
Verbindung über den Øresund
Ohne Fähre ins Land der Elche
Seite 138
Mitte August wird das letzte Teilstück an der Øresund-Brücke eingeklinkt – und das
dänische Festland mit Südschweden verbunden. Politiker und Wirtschaftsbosse sehen
in der Brückenregion eine neue Hanse von Malmö bis St. Petersburg.
Powerbooks statt Pampelmusen
Seite 88
Russische Immigranten sind die ehrgeizigste High-Tech-Führungsreserve der Welt. In
Israel finden die Neueinwanderer die ideale Förderung durch den Staat – Software
schlägt inzwischen Zitrusfrüchte beim Export.
„Wir genossen unseren Triumph“
Seite 176
SYGMA
Vor genau 30 Jahren betraten
Neil Armstrong und Edwin
Aldrin als erste Menschen den
Mond. Ursprünglich war Apollo-Astronaut Eugene Cernan
für diese Pioniertat vorgesehen. Er ging dann aber als vorerst letzter Mondbesucher in
die Annalen ein. Im SPIEGELGespräch schildert Cernan
seine Erlebnisse auf dem Erdtrabanten.
Apollo-11-Astronaut Aldrin auf dem Mond (1969)
DPA
Eine Frau in Bayreuth?
Ehepaar Wagner, Tochter Katharina (l.)
Seite 168
Der Festspielleiter Wolfgang Wagner denkt nicht
an Rückzug vom Grünen Hügel. Vor allem die
Gefährdung des Festival-Etats durch „Bonner Finanzkapriolen“ würden seinen Verbleib erzwingen. Selbst im Jahr 2001, sagt der KomponistenEnkel im SPIEGEL-Gespräch, sei mit seinem Abschied „noch nicht zu rechnen“. Derweil rüstet
sich Wolfgangs Ehefrau Gudrun zur künftigen
Übernahme der Festspielleitung auf: „Ja, das
könnte ich.“
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Panorama: Schwedens glückliche
Hühner als Vorbild / Schweiz: Geldwäsche
für Jelzin-Clan? ............................................. 119
China: Eskalation im Konflikt mit Taiwan ..... 122
Iran: Studentenaufruhr schwächt
den reformwilligen Präsidenten Chatami ...... 125
Nordirland: Rückschlag im Friedensprozeß... 127
Serbien: Offerten des „Tigers“ ..................... 128
Rußland: Gewalt gegen Juden ...................... 130
Saudi-Arabien: Interview mit Prinz Talal
Ibn Abd el-Asis über
notwendige Reformen im Königreich ............ 134
Argentinien: Menems letzter Tango ............. 136
Türkei: Belagerte Kurdenprovinz.................. 137
Ostsee: Blütenträume am Øresund .............. 138
Spiegel des 20. Jahrhunderts
Das Jahrhundert des Kommunismus:
Lenin und die Oktoberrevolution .............. 141
Porträts: Kollontai, Bucharin, „Parvus“ ... 150
Standpunkt: Michail Gorbatschow
über sein Idol Lenin................................... 151
Kultur
Szene: Kunstsammler Berggruen als
Glossenschreiber / Streit um „Bunker“-Anbau
für das Barockschloß von Nümbrecht ........... 155
Autoren: SPIEGEL-Gespräch mit dem neuen
Büchner-Preisträger Arnold Stadler
über Heimatliteratur und Martin Heidegger.. 158
Martin Walser über Stadlers verschwiegene
Sprachkunst................................................... 161
Bestseller ..................................................... 162
Film: Stanley Kubricks Ehekrisenstück
„Eyes Wide Shut“ ......................................... 163
Ausstellungen: Karl der Große und seine
Epoche in Paderborn..................................... 164
Musiktheater: SPIEGEL-Gespräch
mit Wolfgang und Gudrun Wagner über die
Zukunft der Bayreuther Festspiele................ 168
Theater: Sarah Kanes Schock-Drama
„Gesäubert“ in Stuttgart ............................... 171
Wissenschaft + Technik
Prisma: BSE-Test für deutsche Schlachthöfe /
Insektenjagd in fränkischen Baumkronen...... 173
Prisma Computer: Internet-Uhr von Swatch /
Multimedia-Konsole im Gefängnis................. 174
Raumfahrt: SPIEGEL-Gespräch mit Eugene
Cernan, dem letzten Mann auf dem Mond .... 176
Computerspiele: Automaten-Klassiker
„Pac-Man“ bezwungen ................................. 181
Automobile: Der neue Punto –
Fiats Hoffnungsträger .................................... 182
Debatte: Ist die Rationierung der Medizin
unausweichlich? ............................................ 184
Antarktis: Krebskranke Ärztin in
Polarstation gefangen .................................... 186
Briefe ............................................................... 8
Impressum .............................................. 14, 188
Leserservice ................................................ 188
Chronik ......................................................... 189
Register........................................................ 190
Personalien .................................................. 192
Hohlspiegel/Rückspiegel ............................ 194
7
Briefe
„Wer es noch nicht gemerkt hat, wird es
spätestens nach Ihrem Artikel
wissen. Die DDR ist in dieser Hinsicht
nicht weg, sondern nur besser
und größer geworden. Je mehr Handys, je
mehr Online-Bankgeschäfte, je
mehr Geldgeschäfte ohne Bares, desto
mehr Kontrolle.“
SPIEGEL-Titel 27/1999
Kai Scholz aus Lübeck zum Titel
„Digitale Vollkontrolle – Das Ende des Privaten“
der Internet-Nutzung nicht ausreichend
behandelt. Insbesondere bei Internet-Versteigerungen, Gratis-Webcommunities und
ECommerce geben viele Surfer unbedacht
persönliche Informationen preis. Doch
scheint das die Benutzer nicht zu stören.
Magstadt (Bad.-Württ.)
Bildschirme, die Netzhäute zerstören,
Computer und Fax-Signaltöne, die hochfrequent wie ein Skalpell ins Trommelfell
schneiden – von schwindender Individualität und Kultur ganz zu schweigen –, dies
alles zeigt nur allzu deutlich, auf welcher
Stufe dieses „Häuflein“ Mensch wirklich
steht.
Rosenheim (Bayern)
Nr. 27/1999, Titel: Digitale Vollkontrolle –
Das Ende des Privaten
Die „little Brothers“ rauben dem Menschen immer mehr seine Persönlichkeit,
perverse Datenhändler verkaufen jetzt
buchstäblich ihre Mutter.
Bremen
Marcus Grätsch
Der Artikel bringt die Dinge auf den Punkt
und zeigt anschaulich die aus Digitalisierung und Vernetzung für den einzelnen
entstehenden Gefahren. Die Kernfragen
bleiben jedoch offen: Wie damit umgehen?
Was dagegen tun? Wer überwacht die Bewacher?
Hannover Dr. Wolfgang Sander-Beuermann
Die Titelstory zeichnet ein sehr ernst zu
nehmendes Szenario. Hier sind alle gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Kräfte aufgerufen, Möglichkeiten zu
finden, damit sich der Segen des Internet
nicht zum Fluch wandelt.
Freiburg im Breisgau
Holger Eggs
Warum eigentlich die ganze Aufregung?
Neue Techniken und Medien, die so deutlich für mehr „Transparenz“ auch auf dem
Ernährungssektor sorgen, sind nur zu begrüßen. Endlich wissen jetzt wenigstens
Chefs, was sich in ihren Kaffeekannen befindet. Oder was ihre Sekretärin mit dem
Hintern anstellt. Beruhigend! „Otto Normalverbraucher“, der zunächst immer
noch bei vielen Dingen von Zweifeln über
Inhalt und Hintergründe geplagt wird, ist
auch bald schlauer und zufriedener bei dieser so rasant voranschreitenden „Transparenz“. La vie en rose?
Seesen (Nieders.)
Niels Kruse
Kundenprofile können nicht nur von datenhungrigen Webseiten-Betreibern erstellt
werden, sondern vor allem vom jeweiligen
Internet-Provider selbst. Kein Anbieter
wird es sich nehmen lassen, sämtliche verfügbaren Daten seiner Kunden dauerhaft
Gerade im Internet können persönliche Daten leicht, da digital,
an unbefugte Dritte weitergegeben werden. Darauf hinzuweisen ist richtig. Sicherlich
falsch ist es aber, bestimmte
Technologien, wie zum Beispiel
„Cookies“ (Kekse), durch unvollständige Aussagen als potentiell sicherheitsgefährdend
darzustellen – ohne deren eigentlichen Sinn zu erläutern.
Trossingen (Bad.-Württ.)
Mate Jovic
Es ist nicht nur ungeheuerlich, Kameraüberwachung*: Verlust der Privatsphäre
was sich die US-Amerikaner in
unserem Land leisten – bei solchen Freun- zu speichern –, also besuchte Webseiten,
den braucht man keine Feinde mehr –, unverschlüsselte E-Mails, aber auch beauch was die deutsche Versicherungswirt- vorzugte Einwahlzeiten und Verweildauer
schaft an Kundendaten sammelt und ver- im Netz. Wenn man bedenkt, daß viele Inmauschelt, stinkt zum Himmel. Von Schutz ternet-Anbieter in große Unternehmen
für die Versicherten kann nicht die Rede eingebunden sind, erscheint mir zumindest
sein, wenn zwischen den Versicherungsun- die Gefahr eines Mißbrauchs von Kundenternehmen höchst sensible Kundendaten informationen innerhalb der eigenen Konhin- und hergeschoben werden – ohne jeg- zernstrukturen sehr hoch.
liche Transparenz für die Versicherten.
Dortmund
Dirk Hesse
Neckarsulm
Dr. Armin E. Maetz
Die ständige Beeinträchtigung der Privatsphäre hat der Beitrag hervorragend herausgestellt. Leider wurden die Gefahren
Ich glaube nicht, daß die ständige Überwachung so viele Nachteile und Risiken
* Im Frankfurter Hauptbahnhof.
Vor 50 Jahren der spiegel vom 21. Juli 1949
Armin Naujok
Noch vor wenigen Jahren wären Datenschützer auf die Barrikaden gegangen, hätte die Deutsche Telekom, respektive Deutsche Post, detaillierte Protokolle über das
Telefonverhalten ihrer Kunden geführt, wie
es mittlerweile üblich ist. Heutzutage pochen selbst Verbraucherschützer auf kostenlose Einzelverbindungsnachweise – mit
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Hamburg
Peter Neuhalfen
B. BOSTELMANN / ARGUM
Wer überwacht die Bewacher?
aufgeschlüsselter Telefonnummer und Anrufdauer. Da zeigt sich, daß die meisten
Mitbürger doch lieber in ihr Portemonnaie
als auf gesellschaftliche Entwicklungen
schauen.
Jan Theofel
SED-Altvater Pieck installiert Familien-Dynastie Ex-Fliesenleger Staimer als Polizeichef. Dekret des Vatikans Pius XII. verkündet Exkommunikation der Kommunisten und ihrer Anhänger. Isaac Deutschers
gefeierte Stalin-Biographie Jede Urkunde tiefengeprüft. Bruch in gaullistischer Sammlungsbewegung Der General hat sich verrechnet. Künstliche Herzen gleichzeitig in Stockholm und Paris entwickelt Mit Maschinen zurück ins Leben. Pierre Billon verfilmt Karriere des berühmten Musik-Clowns Grock Philosoph des feinen Humors.
Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter http://www.spiegel.de
Titel: Pieck-Schwiegersohn Richard Staimer
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Briefe
bringt, wie immer behauptet wird. Es ist
doch ein Erfolg, wenn das Sicherheitsgefühl
der Bevölkerung einer Stadt so nachhaltig
bestärkt wird. Für Erfolge auf dem Gebiet
der Verbrechensbekämpfung muß man
auch einiges in Kauf nehmen. Die Bewohner Newhams haben entschieden, daß sie
die „Überwachung“ in Ordnung finden,
eine völlig demokratische Entscheidung.
Laßt uns in Deutschland nicht immer alles
down machen. Der Hang zum Kritisieren
und Lamentieren, eine typisch deutsche
Eigenschaft, taugt nicht für
das nächste Jahrhundert.
Göttingen
brachte Verpackung ist. Bei Mehrwegverpackungen kann der Verbraucher sie umgehen – sie tendiert hier gegen Null. Außerdem hätten sie die kombinierte Rücklaufquote als Mogelpackung entlarvt. Mit den
subventionierten Billigdosen wird Krieg
geführt gegen 250 000 Arbeitsplätze in
Brauereien, im Getränkefachgroßhandel,
bei Zulieferern und Abfüllern.
Düsseldorf
Günther Guder
Bundesverband des Deutschen
Getränkefachgroßhandels
Thomas Linke
ULLSTEIN BILDERDIENST
Endlich werden die immer
stärker werdenden Zweifel
an der hochgelobten Superinformationsquelle Internet
bestätigt. Die totale Vernetzung bedeutet auch die totale Transparenz eines jeden
Benutzers. Doch was der
Normalbürger tun soll,
wenn bei jedem Online-Einkauf Kreditkartennummer
und weitere persönliche Daten angegeben werden müssen, bleibt offen. Ohne es zu
bemerken, wird der Inter- Cola-Produktion: Krieg mit subventionierten Billigdosen?
net-User die Kontrolle verlieren und durchschaubar sein wie nie zu- Daß die Expo-Veranstalter oftmals ziemvor. Trotzdem ist das Internet das Medium lich danebengreifen, ist bekannt. Der im
der Zukunft, jeder wird es in verschieden- Vorfeld abgeschlossene Vertrag mit Cocaster Art und Weise nutzen. Online sein wol- Cola paßt da wieder einmal hervorragend
len wir schließlich alle.
ins Bild. Den Ausspruch des Coca-ColaSprechers darf man so nicht hinnehmen,
Ahaus (Nrdrh.-Westf.)
Jan Philipp Goebel
zumal das Unternehmen nach den Skandalen um vergiftete Cola-Dosen derzeit
nicht die beste Reputation im Lande geMogelpackung
nießt. Vor der Expo sollte man eigentlich
Nr. 27/1999, Verpackung:
gemeinsam mit den Umweltbehörden zum
Der unaufhaltsame Vormarsch der Einwegdosen;
Millionen Büchsen für die Expo
Boykott von Cola-Dosen aufrufen.
Handeloh (Nieders.)
Wieso scheut man sich so sehr vor dem
Pfandsystem? Ist es doch wirklich nicht
notwendig, in jedem größeren Supermarkt
teure Automaten einzurichten – ein paar
Großsammelstellen pro Stadt täten es
auch. Den Rest erledigt eine Schar von mittellosen Mitbürgern, denen die Bequemlichkeit der Wohlstandsgesellschaft bare
Münze ist. Die Dose ist ein genormtes Produkt. Daher läßt sie sich auch nach Gewicht abrechnen, was das Handling vereinfacht. Ist es ein schlechter Gedanke,
einem Mitbürger, der mich um einen Groschen angeht, meine soeben ausgetrunkene
Getränkedose anzuvertrauen, in der Gewißheit, daß er sie zu versilbern weiß und
ich so nicht nur ihm, sondern auch der Umwelt einen Dienst erwiesen habe?
Lissabon
Félix Romanik
Hätten die Redakteure zu Ende recherchiert, hätten sie herausgefunden, daß die
vorgeschlagene Einwegsteuer in Wirklichkeit eine Steuer auf jede in Verkehr ge12
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Stefan Hartung
Spitze der Peinlichkeitsskala
Nr. 27/1999, Karriere: EU-Kommissar
Martin Bangemann verkauft sich an Telefónica
Auf der nach oben offenen Peinlichkeitsskala hat Bangemann wieder einen Spitzenplatz erobert. Ob er den Telefoniceros
mit seiner oft bewiesenen Nanokompetenz
allerdings die gewünschte Hilfe sein kann,
muß man bezweifeln.
Göttingen
Klaus-Peter Köster
Recht hat er, der Martin B. in Brüssel, weil
es anscheinend legitim ist, was er macht,
oder durch Nichtreaktionen der EU-Kommission legitimiert wird. Alle kreischen
nun, nur die FDP nicht, denn sie ist bekanntlich immer noch die Partei der Besserverdienenden. Die entrüsteten Politiker
sind im Grunde nur neidisch-verärgert,
weil Bangemann ein Tabu gebrochen und
offengelegt hat, daß das Füllen der eigenen
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Taschen zum politischen Selbstverständnis gehört. Für die Wähler ist das nicht neu.
Die beschämend niedrige Beteiligung aus
den Europawahlen zeigt das.
Bonn
Horst-Günter Haxel
Würde Bangemann nicht in die Privatwirtschaft gehen, erhielte er „mit allen Ehren“ seine Pension von der EU. Anfang der
sechziger Jahre haben Politiker, die die
USA bereisten, von einem „Elitentausch“
gesprochen. Wann endlich haben wir ein
Bündnis für Leistung und nicht eines für
staatlich gelenkte Arbeit?
Itzehoe (Schlesw.-Holst.)
Corvin Fischer
Das Peter-Prinzip machts möglich. Alle
Nieten aus Politik und Wirtschaft werden
nach oben gelobt. Eine geschlossene Gesellschaft.Wer sich nicht gar zu dämlich anstellt, hat die Stufe seiner Inkompetenz
und einen lukrativen Job flugs erreicht.
Niedernhausen (Hessen) Hannelore Hammer
Durch seine Geldgier hat der hochkarätige Politiker seiner FDP – einer ohnehin
überlebten, wahrscheinlich aussichtslos
kämpfenden Partei – ein kräftiges blaues
Auge geschlagen. Nun kann er seine angebliche Intelligenz als Top-Manager unter
Beweis stellen. Viele sind gespannt, wie
lange die „Ronaldo-Orgie“ gutgeht.
Köln
Karl-Heinz Schumacher
Auf die Müllhalde
Nr. 27/1999, Einzelhandel:
Berlin will den Ladenschluß kippen
Das moderne Berufsleben fordert heute
Anpassung; Mehrarbeit und Flexibilität
werden zur Selbstverständlichkeit. Die
Freizeit wird dementsprechend wertvoller,
und wer möchte sich dann noch diktieren
lassen, wann er seine Einkäufe zu erledigen
hat? Wichtiger als die Frage, wann und wie
lange man arbeitet, ist doch die nach den
Arbeitsbedingungen.
Dortmund
Ingo Heinsch
Das Ladenschlußgesetz ist das Produkt
einer markt- und damit verbraucherfeindlichen wirtschaftspolitischen Irrlehre. Es
hätte längst auf die Müllhalde des „Sozialismus“ gehört.
Wiesbaden
Eckart Zachmann
Wenn der Ladenschluß endlich liberalisiert
würde, könne Herr X, da er jetzt mehr Zeit
hat, fast doppelt soviel Lebensmittel und
Kleidung von seinem Gehalt kaufen. Frau
und Herr Y – beide im Einzelhandel tätig
– könnten sich, von den durch höhere Umsätze und Gewinne zwangsläufig gestiegenen Gehältern, mehr Urlaub leisten. Den
hätten sie auch nötig, da sie sich und ihre
Kinder aufgrund sehr unterschiedlicher Arbeitszeiten kaum noch sehen.
Paderborn
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Armin Struckmeier
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Briefe
Neue Therapien prüfen
Grüne Schlauch, Berninger
Völlig veraltete Partei
Bald wieder in Turnschuhen?
Nr. 29/1999, Grüne: Rebellion
der Nachwuchskräfte; Interview mit Rezzo Schlauch
über die Selbstzerfleischung der Partei
Zwar brauchen Kubaner ihre ärztliche Versorgung nicht zu bezahlen, viel erwarten
dürfen sie aber auch nicht. So kennt man
auf der Insel kaum den Begriff „Einwegspritze“, denn aus Mangel an Nachschub
werden die Kanülen so lange verwendet,
bis sie ihren Geist aufgeben. Brillengläser
entsprechen selten der tatsächlichen Sehschwäche, da genommen werden muß, was
unter großen Schwierigkeiten aufzutreiben ist. Die wenigen ausländischen Medikamente, die trotz des Embargos ins Land
kommen, gelangen fix in Kliniken für zahlungskräftige Ausländer. Kubanische Produkte indes werden sofort verkauft. So
mag die Medizin zwar beachtliche Erfolge erzielt haben, die
Einheimischen selbst
spüren recht wenig
davon.
Berlin
Die einzige Chance der Grünen besteht
darin, sich als Lobby der jungen Generation zu profilieren. Aber nicht im Sinne einer grenzenlosen Selbstverwirklichung auf
Staatskosten, wie es den Linken offenbar
vorschwebt, sondern für ein zukunftsfestes
Rentensystem und gegen die Rentenmafia
der großen Parteien. Dort gibt es eine
große Glaubwürdigkeitslücke, in die eine
erneuerte grüne Partei stoßen könnte.
Kassel
Jörg Vater
Daß Joschka Fischer als einziger GrünenPolitiker noch Ansehen und Autorität verteidigen konnte, liegt daran, daß er versucht, die Ziele und Ansichten der Regierung und des Volkes zu übernehmen und
nicht die einer völlig veralteten Partei, deren Herumreiterei auf ihren Grundsätzen
langsam peinliche Züge annimmt.
Bochum
Markus Pietraszek
Joschka Fischer will vermitteln. Er weiß,
daß Trittin – um sein Gesicht zu wahren –
ein Erfolgserlebnis braucht, denn der hat
bis jetzt total versagt. Fischer indes will es
nicht zum Bruch der Koalition kommen
lassen und möchte sich zum Retter der
Grünen-Partei profilieren, weil er sonst
bald wieder in Turnschuhen herumlaufen
kann.
Bottrop
Klaus Wendt
Wann endlich ringt der Kanzler sich durch,
seinen Umweltminister für dessen schon
jetzt unsterbliche Verdienste – speziell um
die Arbeitsplatzbeseitigung – mit dem
„Trittin-Kreuz“ auszuzeichnen? Der so
Geehrte fände dann vielleicht Gelegenheit,
sich einen Jugendtraum zu erfüllen: auf einer Öko-Magerwiese, fernab von allen Arbeitslosen, als Ziegenhirte tätig zu sein.
Köln
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Bad Nauheim
Dr. Rainald von Gizycki
Vorsitzender
Pro Retina Deutschland e. V.
Karen Grunow
Die sterile Homogenität und Einseitigkeit
der Schulmedizin in
Deutschland treibt kritische Patienten ins
Ausland. Das Scheitern
der Technologie im
Umgang mit chronischen fortschreitenden
Erkrankungen des visuellen Apparats wird
von den wissenschaft- Impfung in Kuba: Einheimische haben wenig vom Bioboom
lichen und berufsständischen Organisationen bis heute nicht zugegeben. Ein Vertrösten der SehbehinderNeugierig machen
ten auf Mikrochips (künstliches Sehen) ist
Nr. 27/1999, Autoren:
mitunter nur Bluff, um mehr ForschungsGünter Grass schaut zurück auf „Mein Jahrhundert“
gelder zu bekommen.
Der Artikel hat bei mir das Gegenteil desNeutraubling (Bayern)
Werner Schönbach
sen erreicht, was beabsichtigt war: Er
Selbsthilfegruppe Maculadegeneration
macht mich neugierig auf den neuen Grass.
Unsere Selbsthilfevereinigung verfolgt seit Ich werde mir nun die teure Ausgabe mit
einem Jahrzehnt die Bemühungen des ku- den Aquarellen leisten.
banischen Augenarztes Orfilio Peláez, die Heere (Nieders.)
Birgit Rühe
Retinopathia pigmentosa (RP) mit einer
Daß der Magier unter den lebenden deutschen Literaten nicht längst enttäuscht seinem Land den Rücken gekehrt hat, muß an
VERANTWORTLICHER REDAKTEUR dieser Ausgabe für Panorama,
dem Wissen liegen, daß seine Werke geÄrzte,Diplomatie,Schulen,Zeitgeschichte: Michael Schmidt-Klingenberg;
liebt werden von Menschen, die leidenfür Titel (S. 68, 72), Affären, Bundeswehr, Medizin, Investoren, Kriegsschaftliche Leser guter Bücher sind. Es beverbrechen, Chronik: Heiner Schimmöller; für Reformen,Trends, Geld,
Unternehmen, Steuerfahndung, Familienfirmen, Medien, Zeitschriften:
ruhigt zu wissen, daß Grass nicht für ein
Gabor Steingart; für Szene,Legenden,Fernsehen,Boulevard (S.107),AuHäuflein gelangweilter Kritiker schreibt.
toren,Bestseller,Film,Ausstellungen,Musiktheater,Theater: Dr.Mathias
Schreiber; für Formel 1,Fußball: Alfred Weinzierl; für Panorama,Titel (S.
77), China, Iran, Nordirland, Kosovo, Serbien, Rußland, Saudi-Arabien,
Argentinien, Türkei, Ostsee: Dr. Olaf Ihlau; für Spiegel des 20. Jahrhunderts: Dr. Dieter Wild; für Prisma, Raumfahrt, Computerspiele, Automobile,Debatte,Antarktis: Olaf Stampf; für die übrigen Beiträge: die Verfasser; für Briefe, Register, Personalien, Hohlspiegel, Rückspiegel: Dr.
Manfred Weber; für Titelbild: Stefan Kiefer; für Layout: Wolfgang Busching; für Hausmitteilung: Hans-Ulrich Stoldt; Chef vom Dienst: Holger Wolters (sämtlich Brandstwiete 19, 20457 Hamburg)
TITELFOTO: AKG; Kurt Amsler; Columbus-America Discovery Group
Prof. Mathias Driesch
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Berlin
Dolores Brandt-Langner
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit
vollständiger Anschrift und Telefonnummer – gekürzt zu
veröffentlichen.
Einer Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe liegt eine
Beilage vom manager magazin, manager magazin Verlagsgesellschaft, Hamburg, bei.
S. CREUTZMANN / ZEITENSPIEGEL
DPA
Nr. 27/1999, Medizin: Kubas Aufstieg
zur Biotech-Nation
Kombination aus medikamentösen und
operativen Verfahren zu heilen. Bis heute
legte er jedoch keine überzeugende Langzeitstudie über die Wirksamkeit der Operation vor. Nach Ansicht vieler europäischer Netzhautspezialisten fehlt auch
seinem medikamentösen Verfahren die
wissenschaftliche Grundlage. Erfolgsberichte von Patienten erklären sich nach
Meinung des wissenschaftlichen Beirats der
Pro Retina durch einen Placeboeffekt, der
die Risiken im Einzelfall nicht rechtfertigt.
In vielen Negativ-Berichten ist von Augenschiefstellung, Doppelbildsehen bis
hin zum schnelleren Erblindungsverlauf
die Rede. Andererseits sollten alle realen
Chancen einer RP-Therapie geprüft und
genutzt werden.
Werbeseite
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Werbeseite
Deutschland
Panorama
NAT O
Ruf nach Scharping
D
PRESSEFOTO WEREK
ie US-Regierung hält offenbar die
Entscheidung von Bundeskanzler
Gerhard Schröder, seinen Verteidigungsminister Rudolf Scharping nicht als
Nato-Generalsekretär nach Brüssel zu
entsenden, nicht für unumstößlich. Obwohl die Hardthöhe zum Wochenende noch einmal betonte, „Scharping
wechselt nicht nach Brüssel“, machen
die Amerikaner nach Meinung eines
Bonner Insiders „enormen Druck“, um
ihren Lieblingskandidaten doch noch
durchzusetzen. In der Zentrale der Allianz ließen die Amerikaner wissen, daß
sie die anderen genannten europäischen
Amtsanwärter für „politisch zu leichtgewichtig oder zu unerfahren“ halten. Das
gilt vor allem für den britischen Liberalen Paddy Ashdown, den ehemaligen
belgischen Regierungschef Jean-Luc
Dehaene und den dänischen Verteidigungsminister Hans Haekkerup. Für drei
ebenfalls genannte Ex-Verteidigungsminister, die Briten Malcolm Rifkind und
Michael Portillo und den Deutschen
Volker Rühe, könnte sich das Weiße
Haus wohl erwärmen. Sie gelten aber
Tröger
S
teuerfahnder durchsuchten im Juni
mehrere Objekte des Nationalen
Olympischen Komitees (NOK), unter
anderem Wohnungen des Präsidenten
Walther Tröger, weiteren NOK-Angestellten sowie Büros des NOK in Berlin
und Frankfurt. Tröger ist nach Auskunft des Frankfurter Oberstaatsanwalts
Job Tilmann Beschuldigter in einem Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts
der Steuerhinterziehung. Auslöser
der Ermittlungen (Aktenzeichen: 94 JS
KANZLER
Ärgerlicher Flop
M
it dem Empfänger eines
seiner Briefe, die er im
Wahlkampf 1998 an diverse
Bürger und Prominente
schrieb, hat Bundeskanzler
Gerhard Schröder Pech. In
dem Brief-Buch „Und weil
wir unser Land verbessern“
hatte er unter anderen einen
Karabunar
Türken namens Tanju Karabunar angeschrieben: „Ich hoffe Sie an
meiner Seite, damit wir gemeinsam ein
modernes Deutschland schaffen können.“ Angeblich leitete der Türke einen
„Turkish College Club“ und bemühte
sich um die „Förderung von türkischstämmigen Studenten“. In Wahrheit jedoch hatte es den Club nie gegeben und
Karabunar, 31, war kurz zuvor aus ei-
nem holländischen Gefängnis
entlassen worden, nachdem er
dreieinhalb Jahre Haft wegen
Geiselnahme an einem Niederländer verbüßt hatte. Mit
dem Schröder-Lob suchte Karabunar dann Investoren für
seine Anfang des Jahres in
Düsseldorf gegründete Softwarefirma Microtech 2000.
Jetzt ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen ihn wegen
Betrugs, und die Ausländerbehörde des Kreises Mettmann erwirkte eine unbefristete Ausweisungsaufforderung. Derweil rätselt
die SPD, wie es zu dem „verdammt ärgerlichen Flop“, so ein Beamter im
Kanzleramt, kommen konnte. Sicher ist
nur, daß die Angaben Karabunars, der
sich der Wahlkampfleitung in Bonn mit
einem Brief empfohlen hatte, nie von
der SPD nachgeprüft wurden.
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K. MÜLLER
Fahnder
beim NOK
23903.6/98) ist die Strafanzeige eines
ehemaligen NOK-Mitarbeiters. Der hatte den Behörden mitgeteilt, daß Tröger
vom NOK eine Zahlung von über
400000 Mark erhalten habe, nachdem er
vom Posten des bezahlten Generalsekretärs in das Ehrenamt des NOK-Präsidenten gewechselt war. Dieses Geld
sei als Rentenzahlung deklariert worden, um möglicherweise Steuern zu sparen. Auf die Bitte des SPIEGEL zu einer
Stellungnahme reagierte Tröger nicht.
Den Betrag hatte er früher als Einmalzahlung in bestehende Versicherungsverträge bezeichnet, die gemäß rechtlichen Vorschriften vorgenommen worden sei. Die Staatsanwaltschaft prüft
nun auch, ob die Überweisung an den
Spitzenfunktionär mit den Statuten des
NOK vereinbar war.
H. AKDUMAN / ANADOLU AJANSI
FUNKTIONÄRE
Scharping, Soldaten
aus unterschiedlichen Gründen als unwahrscheinliche Kandidaten: Rifkind ist
nicht interessiert, Portillo gilt in London
als zu rechtslastig, und Rühe hat sich gerade erst dazu entschlossen, SchleswigHolstein für die CDU zurückzuerobern.
Seine Ernennung gäbe Schröder zwar
die Gelegenheit, seine unter Druck geratene Parteifreundin Heide Simonis im
Wahlkampf zu entlasten und zugleich
der bei der Besetzung der EU-Kommission zu kurz gekommenen CDU einen
internationalen Posten zuzuschanzen.
Doch hat der Kanzler im kleinen Kreis
auch betont, daß er Scharping unterstützen würde, „wenn der will“.
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Panorama
STROM
Zuviel
Wettbewerb
K
DPA
aum profitieren die Kunden –
auch private Haushalte – von
sinkenden Strompreisen, da soll
der Wettbewerb schon wieder eingedämmt werden. Die Sozialdemokraten bereiten eine Neufas- Umspannwerk (in Freiburg)
sung des Energierechts vor. Nach
einem „Eckpunktepapier“ der SPD-Arbeitsgruppe Energie soll
es den Strom-Zwischenhändlern künftig erheblich erschwert
werden, mehrere Haushaltskunden kostensparend zu einem
Einkaufsverbund zu bündeln.
Was die Kunden freut, ärgert die Gemeinden. Denn mit der
Bündelung sinkt die bisher vom Stromlieferanten an die Gemeinde abzuführende Konzessionsabgabe auf rund ein Zwanzigstel des Normalbetrags, das will die SPD verhindern. Die Ge-
meinden befürchten erhebliche Ausfälle bei den Konzessionsabgaben von zuletzt 6,4 Milliarden Mark im Jahr 1998.
Wirtschaftsminister Werner Müller will dagegen auf keinen
Fall das von seinem Vorgänger Günter Rexrodt (FDP) liberalisierte Energierecht ändern. „Bleibt der Wirtschaftsminister bei
seiner Linie“, so ein Sozialdemokrat, „dann knallt es.“ Rund
200 SPD-Abgeordnete, prophezeit Energieexperte Volker Jung
(SPD), werden für die Energierechtsreform stimmen.
Chef der Schwerpunktstaatsanwaltschaft für Wirtschaftsstrafsachen in Mannheim, soll dem
Fiskus rund 15 000 Mark Steuern
durch Transfers über die Commerzbank in Luxemburg vorenthalten haben. Dazu gibt es bei
ei den Ermittlungen gegen
der Finanzverwaltung Mannheim
Kunden der Commerzbank
einen Vorgang unter der Steuerwegen des Verdachts auf Steuer- Wechsung
fahndungslistennummer 1999/94.
hinterziehung ist jetzt auch der
Der hohe Ermittlungsbeamte weist den
Heidelberger Leitende OberstaatsanVorwurf zurück: „Gegen mich wird
walt Peter Wechsung ins Visier der
nicht ermittelt.“
Fahnder geraten. Wechsung, jahrelang
GESUNDHEIT
Verdacht gegen
Staatsanwalt
Schröders neues
Bündnis
B
S. KRESIN
STEUERHINTERZIEHUNG
I
PVC-SPIELZEUG
Deutsches Verbot
ie Bundesregierung will Spielzeug aus PVC verbieten, das Weichmacher enthält.
Während alle Bonner Ressorts einer Verbotsverordnung des Gesundheitsministeriums bereits zugestimmt haben, zögert das Wirtschaftsministerium noch – offenbar
auf Druck der Chemieindustrie. Die Unternehmen befürchten eine PVC-Verbotswelle auch bei anderen Produkten und den Verlust von
Arbeitsplätzen. Nach dem Entwurf des Gesundheitsministeriums sollen Spielzeuge aus gefährlichem
Weich-PVC wie etwa Baby-Beißringe nach einer
Übergangsfrist vom deutschen Markt verschwinden.
Die Zusätze (Phtalate) treten beim Lutschen aus
und können Krebs verursachen. Mitte dieser Woche
sollen Abschlußgespräche im Wirtschaftsministerium
Einigung über den Entwurf bringen; danach muß
noch der Bundesrat zustimmen und die EU informiert werden. In Brüssel scheitert ein europaweites
Verbot bislang am Widerstand des mittlerweile beurlaubten Industriekommissars Martin Bangemann.
Sieben EU-Staaten haben das gefährliche Spielzeug
inzwischen im Alleingang vom Markt verbannt.
Kinderspielzeug mit Weich-PVC
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C. AUGUSTIN
D
n den Streit um die Gesundheitsreform hat Bundeskanzler Gerhard
Schröder eingegriffen und ein informelles Bündnis für Gesundheit geschaffen.
Während der anstehenden Gespräche
würden die Ärzte „von öffentlichen
Auseinandersetzungen absehen“, heißt
es im Kanzleramt. Nach den Ärzteprotesten der vergangenen Wochen, bei
denen es immer wieder zu heftigen Debatten und zu teilweise persönlichen
Angriffen auf Schröders Gesundheitsministerin Andrea Fischer kam, soll nun
wieder Ruhe einkehren.
Bei einem Treffen mit Gesundheitsstaatssekretär Erwin Jordan, dem Präsidenten der Bundesärztekammer, JörgDietrich Hoppe, und Winfried Schorre,
dem Vorsitzenden der Kassenärztlichen
Bundesvereinigung, stimmten die überraschend konsensbereiten Ärztevertreter Schröders Vorschlag zu, mit den
Koalitionsfraktionen und Gesundheitsministerin Fischer über alle wichtigen
Themen zu sprechen. Diskutiert werden
soll eine flexible Verwendung der begrenzten finanziellen Mittel, eine Überprüfung neuer Formen der ambulanten
und stationären Versorgung, verbessertes Kostenbewußtsein, etwa durch
Rechnungen für die Patienten, sowie die
Sicherung einer bedarfsgerechten Krankenhausversorgung.
Deutschland
Durchgehend
arbeitsfähig
Roger Cloes, 42, Leiter der Projektgruppe „Steuerung Umzug Berlin“, über die
Umsiedlung des Bundestages
SPIEGEL: Seit zwei Wochen reist das Bun-
CH. BACH
destags-Inventar durch die Republik. Wie
viele Akten sind schon weg?
Cloes: Bis jetzt wird noch nichts dauerhaft vermißt. Viele Kisten sind noch
nicht ausgepackt oder stehen schon
mal am falschen Platz. Meinen Karton habe ich im Erdgeschoß entdeckt, als Türstopper. Insgesamt
läuft alles termingerecht. Ende
Umzugsarbeiten in Berlin, Cloes
GEHEIMDIENSTE
Mann von Interesse
E
rstmals sind jetzt aus dem Bestand
der sowjetischen Botschaft in der
DDR-Hauptstadt Berlin Akten aufgetaucht, die ein ungewöhnlich enges Verhältnis des damaligen Kirchenjuristen
und heutigen brandenburgischen Ministerpräsidenten Manfred Stolpe zu den
Sowjets dokumentieren. Als vor sechs
Jahren ein Kooperationsvertrag zwischen Moskaus KGB und der Stasi über
den Einsatz des Spitzenmannes „IM Sekretär“ bekannt wurde, hatte Stolpe
diesen Vertrag als „Luftblase“ heruntergespielt. Das Abkommen sah vor, den
„IM Sekretär“ einzusetzen, um den
„Einfluß antikommunistischer Kräfte
auf den Weltkirchenrat zurückzudrängen“. Offenbar mit Erfolg: Im Vergleich
zum „reaktionär gesinnten Bischof
Gottfried Forck“ vertrat Stolpe laut einer internen Analyse der Geheimdienste
die „Linie der konstruktiven Zusammenarbeit mit dem Staat“.
Bei einem Empfang 1984 mäkelte der
sowjetische Diplomat Gorald Gorinowitsch dennoch bei Manfred Stolpe, daß
d e r
nächster Woche haben wir die Ausstattung für 4058 Arbeitsplätze in Berlin.
SPIEGEL: Klappt die Bürotechnik?
Cloes: In der Regel gut, nur die Vizepräsidenten des Bundestages können erst
Ende Juli nach draußen telefonieren.
Wegen Schwierigkeiten beim U-BahnBau in der Nähe des Palais am Brandenburger Tor konnten die Kabel nicht
rechtzeitig gelegt werden.
SPIEGEL: Und trotzdem ist der Bundestag arbeitsfähig?
Cloes: Dafür ist durchgehend gesorgt.
Selbstverständlich kann etwa der Verteidigungsausschuß kommende Woche in einem abhörsicheren Raum des Reichstags
zusammentreten.
SPIEGEL: Manche Bedienstete
besitzen nach dem Umzug
nicht einen, sondern vier
Schreibtische und fünf Stühle.
Wieso?
Cloes: Womöglich haben einige Kollegen zu viele Bonner
Möbel mit Aufklebern für
Berlin versehen, weil sie nicht
glaubten, hier wirklich neue
Tische oder Stühle vorzufinden. Aber die Kollegen werden froh sein, das Zeug abgeben zu können. Die Räume
nämlich sind viel zu eng, da
läßt sich nichts bunkern.
J. H. DARCHINGER
BERLIN-UMZUG
er „die UdSSR und die USA auf ein Niveau stelle“ und so die „Position der
Äquidistanz zu den Blöcken“ beziehe.
Schon bei der nächsten Sitzung des
DDR-Friedensrates im August 1984 hielt
Stolpe im Palast der Republik eine Rede
und betonte, „Äquidistanz zu den
Hauptmächten der heutigen Bündnisse“
verbiete sich. Die sowjetische Botschaft
befand später in dem Sondertelegramm
Nummer 48 vom 23. April 1985: „Dieser
Mann ist für uns von Interesse“ und teilte Moskau mit, Stolpe habe „zu verstehen gegeben, daß er eine Reise auf die
Krim machen möchte“. Das vom KGB
durchsetzte Staatsamt für Kirchenfragen
kabelte 24 Stunden später zurück: „Die
Leitung der russisch-orthodoxen Kirche
schickt demnächst eine Einladung.“
Stolpe verbrachte drei Wochen in der
Schwarzmeer-Stadt Sotschi im teuren
Hotel mit Chauffeur und Begleiter. Die
Brandenburger Staatsanwaltschaft, die
gegen Stolpe wie gegen den Stasi-Mann
Klaus Roßberg wegen des Verdachts ermittelt, einer von beiden müsse über die
Stasi-Verwicklungen Stolpes falsch ausgesagt haben, hat die Moskauer Akten
bislang nicht gesehen und will das Verfahren einstellen.
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Panorama
Deutschland
Am Rande
20
DPA
Deutschland hat
kein Loch Ness
und folglich auch
kein Ungeheuer.
Gut, wir haben
Karl Dall, der
sieht wenigstens
ein bißchen so aus. Die breite
Masse will allerdings im Sommerloch etwas anderes sehen.
Tauglich sind hierzulande Frauen und Känguruhs, wobei letztere im vergangenen Jahr so
gehäuft herumhüpften, daß niemand mehr wußte, ob er gerade
Manni I oder Manni II gesehen
hatte. Dieses Jahr ist schon wieder mindestens ein Känguruh abgängig.
Bei den Frauen ist die Sache einfacher: Zum einen hopsen sie
nicht durch die Gegend, und zum
anderen bieten sie männlichen Politikern die fabelhafte Chance, sich
ebenso gefahr- wie folgenlos als
Streiter für die Gleichberechtigung in Szene zu setzen: Allsommerlich findet sich jemand, der
„Frauen ans Gewehr“ fordert. In
diesem Jahr war es Rudolf „Eichenlaub“ Scharping, im vergangenen verlangte der damalige Verteidigungsminister Volker Rühe,
die Bundeswehr mehr für Frauen
zu öffnen, 1997 jemand von der
FDP, und 1996 redeten fast alle
darüber, inklusive Helmut Kohl.
Beim Sommertheater mitzumischen ist nur für linke Bundeswehrgegner problematisch: Wer
Frauen nicht an die Waffen lassen
will, ist ein Chauvi, wer sie zur
Bundeswehr schicken will, ein
Kriegstreiber. Pazifist und Frauenfreund gleichzeitig zu sein
ist schwer: „SoldatInnen sind
MörderInnen“ ist einfach kein
guter Slogan.
B. BOSTELMANN / ARGUM
Sommerpausenclowns
Kamera-Auto von Tele-Info
DAT E N S C H U T Z
Haus-Fotografen
gestoppt
B
ürger müssen es sich nicht gefallen
lassen, daß ihre Häuser und Grundstücke von einem Unternehmen fotografiert werden, das die Fotos zu einer
gewaltigen Datensammlung zusammenfügen will. Das Hamburger Landgericht
untersagte in einer einstweiligen
Verfügung dem niedersächsischen
Tele-Info-Verlag, Fotos von den
Immobilien des Klägers anzufertigen und gemeinsam mit der
Adresse zu veröffentlichen oder
zu vertreiben.
Tele-Info ist seit Monaten in der
Bundesrepublik mit Spezialautos
unterwegs und knipst in diversen Städten sämtliche Häuser, Grundstücke und
Straßenzüge. Die Bilddatenbank soll an
Behörden, Feuerwehr und Rettungsdienste verkauft werden; auch für Immobilienhändler wäre das Material interessant. Datenschützer waren bislang
davon ausgegangen, daß der Firma juristisch kaum beizukommen sei – und
trösteten sich mit dem vagen Versprechen, Tele-Info würde Proteste einzelner Bürger respektieren.
U N T E R S U C H U N G S AU S S C H Ü S S E
Juristisches Neuland
I
n dieser Woche noch will der Untersuchungsausschuß des Berliner Abgeordnetenhauses zur Aufklärung der
Kurden-Krawalle die Bundesregierung
verklagen. Vom Bundesverwaltungsgericht sollen zunächst Innenminister
Otto Schily (SPD) und der Präsident
des Bundesamts für Verfassungsschutz,
Peter Frisch, zur Aussage vor dem Ausschuß gezwungen werden.
Die Bundesregierung verweigerte bisher für alle Kabinettsmitglieder und Beamten Aussagegenehmigungen. Grund
dafür ist, so argumentiert das Innenministerium, daß der Berliner Ausschuß
auch „eine unzulässige Untersuchung
des Wissens und Verhaltens von Behörden des Bundes“ im Zusammenhang
mit den Kurden-Ausschreitungen plane.
Bisher hat keine Bundesregierung einen
Untersuchungsausschuß vollständig abgeblockt. Das Verfahren gilt daher als
juristisches Neuland.
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Nachgefragt
Ja, aber ...
Der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck hat vorgeschlagen, daß Arbeitnehmer in den
nächsten beiden Jahren nur noch
einen Inflationsausgleich erhalten,
um „das Sozialsystem zu stabilisieren und zur Wettbewerbsfähigkeit
der Wirtschaft beizutragen“.
Würden Sie auf reale Lohnzuwächse verzichten?
Jahoch,
, der Lebensstandard ist so
daß Deutschland sich
Lohnverzicht leisten kann
Ja
, aber nur wenn die Wirtschaft verbindliche Zusagen
für neue Arbeitsplätze macht
Emnid-Umfrage für den
SPIEGEL vom 13. und 14. Juli;
rund 1000 Befragte; an 100
fehlende Prozent: keine Angabe
Nein
11%
38%
46%
Werbeseite
Werbeseite
R. SUBBIAH
Deutschland
Daimler-Manager Pfahls (in Singapur 1998), Spürpanzer „Fuchs“, Förderer Strauß mit Persönlichem Referenten Pfahls (1979): „Ich kann leider
A F FÄ R E N
Operation Fuchs
Der mit Haftbefehl gesuchte ehemalige Verfassungsschutzchef Holger Pfahls
ist in Südostasien abgetaucht. Er soll die Schlüsselfigur in einem
Schmiergeld-Kartell gewesen sein. Als Staatssekretär im Verteidigungsministerium
soll er einen umstrittenen Panzer-Deal mit Saudi-Arabien durchgesetzt haben.
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stets bestritt, schien lange auf eher wackligen Beweisen zu fußen.
Doch was jetzt geschah, adelt den Verdacht der Augsburger Fahnder: Der ehemalige Agentenchef tauchte in Hongkong
unter wie ein ertappter Anlagebetrüger.
Das Ermittlungsverfahren 502 Js 127135/95,
das zeigen dessen jüngste Ergebnisse, könnte sich zu einer Staatsaffäre
auswachsen. Mit Pfahls würde erstmals seit der Flick-Affäre wieder
ein, wenn auch ehemaliges, Mitglied
einer Bundesregierung wegen krimineller Machenschaften vor Gericht stehen.
Der Daimler-Manager muß einen
Prozeß jedenfalls gefürchtet haben.
Er rief aus dem Krankenhaus einen
ehemaligen Ministerialbeamten in
Bonn an, den er lange kennt. Dem
klagte Pfahls, er könne leider nicht
beweisen, daß er unschuldig sei, desP. ECKENROTH / JOKER
E
in Schlaganfall, so glauben die Ärzte, 3,8 Millionen Mark dafür gesorgt zu haben,
hatte den Manager während einer daß 1991 gegen Bedenken und zeitweiliDienstreise aufs Krankenbett gewor- gen Widerstand sowohl seines Ministers
fen. Dennoch empfing der malade Deut- und der Heeresführung als auch des Aussche im Veterans General Hospital der tai- wärtigen Amtes 36 „Fuchs“-Panzer an Sauwanischen Hauptstadt Taipeh zwei An- di-Arabien geliefert wurden. Der Vorwurf,
wälte aus der Heimat. Holger Pfahls, 56, den Pfahls („Ich habe nie Geld gesehen“)
einst Präsident des Bundesamtes für
Verfassungsschutz und heute Spitzenmanager des Automobilkonzerns
DaimlerChrysler in Südostasien,
hatte gravierende juristische Probleme zu besprechen – gegen ihn
liegt ein Haftbefehl wegen Bestechlichkeit und Steuerhinterziehung
vor.
Die Staatsanwaltschaft Augsburg
wirft dem Ex-Geheimdienstler, der
vor dem Daimler-Job auch schon als
Staatssekretär im Bonner Verteidigungsministerium Karriere gemacht
hatte, vor, für ein Schmiergeld von Bundesamt für Verfassungsschutz
S. v. HEYDEKAMPF
S. MÜLLER-JÄNSCH
sponnenen Geflecht aus dienstbaren Politikern, gierigen Industriellen und dubiosen
Mittelsmännern gewesen sein, das sich Millionensummen ergaunerte.
Zum Kreis der Verdächtigen, die bei dem
Geschäft mit den Saudis abkassiert haben
sollen, zählen der ehemalige Parlamentarische Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium, Erich Riedl (CSU), 66, StraußSohn Max Josef, 40, Ex-CDU-Schatzmeister
Walther Leisler Kiep, 73, sowie die damaligen Thyssen-Manager Jürgen Maßmann,
56, und Winfried Haastert, 58.
Auf deren Spur war die Augsburger
Staatsanwaltschaft gekommen, als sie 1995
den Kauferinger Geschäftsmann Karlheinz
Schreiber, 65, einen alten Kumpan von
Strauß, wegen anderer Vorwürfe überprüfte (SPIEGEL 48/1995). Schreiber war
damals nach Überzeugung der Staatsanwaltschaft für verschiedene Industrieunternehmen im In- und Ausland tätig,
indem er „Kontakte zu Entscheidungsträgern in Politik und Wirtschaft eröffnet“.
In den konfiszierten Dokumenten fanden die Ermittler Hinweise, daß der Patriot und Geschäftsmann („Ich liebe dieses
Land und insbesondere den Freistaat Bayern“) auch der Essener Thyssen Industrie
AG beim Panzer-Deal als „Berater für Marketingzwecke in der Golf-Region“ diente.
nicht beweisen, daß ich unschuldig bin, deshalb werde ich untertauchen müssen“
Insgesamt plante Thyssen „ausweislich des
halb müsse er wohl untertauchen. Der Be- Swissair-Fluges SR 550 aus Zürich. Doch aufgefundenen Projektleitblatts“, bei dem
kannte, ein Jurist, riet dringend ab. Pfahls Pfahls war nicht, wie angekündigt, an Bord. Gesamtauftragsvolumen von 446,4 Milliogab sich scheinbar geschlagen: „Sie haben Erste Ermittlungen ergaben, daß der Ex- nen Mark für die Panzer 219,7 Millionen als
Geheimdienstler seinen Flug in die Obhut „Provisionen oder nützliche Aufwendunrecht, ich muß mich stellen.“
Auch Daimler sorgte sich um seinen der deutschen Justiz in Hongkong abge- gen“ zu verteilen. 24,4 Millionen davon
Asien-Repräsentanten, der in der konzern- brochen hat – seitdem ist er untergetaucht. sollen an den Vermittler Schreiber geflos„DaimlerChrysler wird das Arbeitsver- sen sein, der dieses Geld großteils weiterinternen Hierarchie zur Führungsebene
E 1 zählt, die direkt unterhalb des Vor- hältnis mit Herrn Pfahls beenden“, erklär- geleitet habe.
In einem Aktenvermerk – „Betrifft: Zahstands angesiedelt ist. Zunächst wurde der te vorigen Freitag Konzernsprecher Chriehemalige Kommunikationschef von stoph Walther. Der Konzern hat nur ein lungen von Karlheinz Schreiber an InduDaimlerChrysler in Singapur, Han Tjan, Problem – er weiß nicht, wo er Beurlau- strie und Politik unter Verwendung von
Decknamen und Abkürzungen“
nach Taiwan geschickt, dann wurden die bung und Kündigung zustellen
– hielten die Fahnder ihre Theokann.
Anwälte Pfahls’ eingeschaltet.
Verräterische rie fest, die sich auf Zahlen und
Sollte sich Pfahls noch in
Die Juristen mühten sich, dem GesuchZahlen und
sonderbare Namenskürzel in eiten klarzumachen, daß er sich stellen sol- Hongkong befinden, kann er sich
sonderbare
nem beschlagnahmten Schreile. Pfahls wurde eine gute medizinische vorerst ziemlich sicher fühlen –
Versorgung an Bord, wenn nötig sogar ein die Chinesen gelten bei der Namenskürzel ber-Kalender stützt. „Holgert
3,8“ bedeute demnach, Holger
Sanitätsflugzeug und ärztliche Begleitung Rechtshilfe als ziemlich unbereauf einem
Pfahls habe von Schreiber 3,8
zugesagt. Die Stuttgarter glaubten offenbar chenbare Partner. Die Justiz hat
KalenderMillionen kassiert. „Waldherr 1“
an die Unschuld ihres leitenden Angestell- seit einiger Zeit den Druck erblatt
und „Winter 1,200“ hießen,
ten, der bei rund 600 000 Mark Jahresein- höht. Sie läßt Pfahls’ stattliches
Walther Leisler Kiep und Winkommen für das gesamte operative Ge- Gehalt pfänden, seine Villa am
schäft des Konzerns in Südostasien ver- Tegernsee ist mit einer Zwangshypothek fried Haastert hätten eine Million beziebelegt. Die Augsburger Fahnder erwägen hungsweise 1,2 Millionen Mark bekommen.
antwortlich war.
Die Anwälte kehrten Anfang Juni mit nun, ein Zielfahndungskommando auf den „Jürglund 4,125“ bedeute, Jürgen Maßdem Versprechen Pfahls’ zurück, sich zu ehemaligen Geheimdienstler anzusetzen. mann habe 4,125 Millionen erhalten.
stellen, sobald er flugtauglich sei. Den Er- Denn Pfahls soll, wenn voraussichtlich „Maxwell 500“ interpretieren die Staatsmittlern übergaben sie ein kurzes Attest nächstes Jahr der Prozeß um den Panzer- anwälte als halbe Million für Max Strauß.
Alle Beschuldigten bestritten die vorgedes Veterans General Hospital mit der Dia- Deal beginnt, mit auf der Anklagebank sitgnose „Suspected to be recurrent stroke“ zen – als angeblich käuflicher Staatsse- worfenen Zahlungen. Das tun sie auch heute noch. Ihre Anwälte sprechen von „Fik– Verdacht auf einen neuerlichen Schlag- kretär a. D.
Pfahls, früher einmal Büroleiter von tionen“ und „abenteuerlichen Konstrukanfall. Zusage und Attest sollten die Fahnder beruhigen – ein Auslieferungsabkom- Franz Josef Strauß und dank der Protekti- tionen“ der Staatsanwaltschaft.
on des bayerischen Ministerpräsidenten im
Doch die Ermittler trugen Stein für Stein
men mit Taiwan gibt es ohnehin nicht.
So warteten denn am Dienstag morgen Verteidigungsministerium untergekom- zu einem Mosaik zusammen, das im April
vorvergangener Woche Polizeibeamte am men, soll vor seinem Wechsel in die Indu- zu Haftbefehlen gegen Pfahls sowie die
Münchner Flughafen auf die Ankunft des strie eine Schlüsselfigur in einem feinge- beiden Spitzenmanager führte. Zwar hat
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J. H. DARCHINGER
Wolfgang Krach, Georg Mascolo
Schreiber
Maßmann
KNIPPERTZ PRESSEDIENST
W. SCHUERING
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Fünf Monate später lag die Ausfuhrgenehmigung für Thyssen Henschel mit einem Mal doch auf dem Tisch. Am 27. Februar 1991, der Krieg der Alliierten gegen
den Irak war schon fast vorbei, stimmte
der Bundessicherheitsrat der Ausfuhr der
36 Panzer zu. Weil Thyssen nicht so viele
auf Lager hatte, lieferte die Bundeswehr
gebrauchte Fahrzeuge nach Saudi-Arabien,
der Industriegigant füllte den Bestand des
Heeres mit neuen Tanks wieder auf.
Ziemliche Probleme bereitet den Staatsanwälten noch immer die Beweisführung
gegen Riedl, Leisler Kiep und Strauß junior. Einstellen will man die Verfahren aber
vorerst nicht. Vielleicht, hofft man in Augsburg, packt im geplanten Prozeß gegen
Maßmann, Haastert und Pfahls ja doch
noch jemand aus.
Vor allem bei Max Strauß, der alle Vorwürfe gegen sich als „absurd“ zurückweist,
tut sich die Staatsanwaltschaft mit der Unschuldsvermutung schwer. Die Festplatte
seines Computers war, kurz nachdem die
Staatsanwaltschaft mit den Durchsuchungen in Sachen Schreiber und Co. begonnen
hatte, von einem wundersamen Virus befallen und dadurch „geputzt“ worden.
Riedls Ehefrau Gertrud gab zudem den
Ermittlern noch einen besonderen Auftritt
des Strauß-Sohnes Max zu Protokoll, den es
laut Strauß nie gegeben hat: Kurz nach dem
Besuch der Fahnder bei Strauß habe dieser
eines Abends plötzlich an die Fensterscheibe geklopft. „Ihr habt doch 500000
Mark von Thyssen bekommen“, habe er losgepoltert. Riedls Frau dementierte energisch, Strauß habe getobt: „Beseitigen Sie
alles. Das muß alles weg, alle Telefonnummern, Visitenkarten vernichten.“ Ihren
Mann solle sie „nur noch von Telefonzellen
aus anrufen“, die Schweizer Konten „beseitigen“. Dann sei Strauß junior in der
Nacht verschwunden, nicht ohne ihr zuvor
einzuschärfen: „Dieser Besuch hat nicht
stattgefunden.“
Dietmar Hawranek,
J. H. DARCHINGER
Foto. Wenigstens einmal, sagt ein ehemaliger Mitarbeiter, habe sein Chef dabei von
Saudi-Arabien aus mit Schreiber telefoniert, gegen den mittlerweile ein Haftbefehl wegen Steuerhinterziehung in zweistelliger Millionenhöhe vorliegt.
Schon vor dem ersten Abflug der Thyssen-Leute nach Riad lief der Bonner Regierungsapparat auf Hochtouren. Mit in Gang gebracht hatte ihn Staatssekretär Pfahls. Der wies am
10. September 1990 den
Hauptabteilungsleiter Rüstung sowie den Führungsstab des Heeres an,
eilig zu klären, ob
„Fuchs“-Panzer „aus Bundeswehr-Beständen an
Saudi-Arabien entgeltlich
abgegeben werden können“. Dem Ministerium ist
dieser Auftrag immer noch
ein Rätsel: „Der mögliche
Export“ sei bis zum Tag
Pfahls-Villa am Tegernsee: Mit Zwangshypothek belegt
der Pfahls-Anordnung
verdacht“ der Untreue und Steuerhinter- „offensichtlich nicht diskutiert worden“,
heißt es in einem Vermerk der Hardthöhe.
ziehung weiter bejaht.
Auch Pfahls kann oder will sich nicht so
Bei ihrer Recherche sind die Fahnder
tief in die Regularien des „Bundessicher- genau erinnern. Er ließ sein Ministerium
heitsrates“, eines der geheimsten Gremien 1996 wissen, die ganze Sache sei für ihn
der Republik, eingedrungen – und haben „nach nunmehr fünf Jahren nicht mehr rekonstruierbar“.
Erstaunliches zutage gefördert.
Am 25. September 1990 fragte Thyssen
Unter Vorsitz des Kanzlers entscheiden
dort die wichtigsten Kabinettsmitglieder, Henschel beim Auswärtigen Amt an, ob
was Deutschland an High-Tech-Kriegsgerät für die „Fuchs“-Ausfuhr nach Saudi-Araexportiert. Pfahls, der bei der Durchsu- bien mit einer Genehmigung nach dem
chung seiner Villa noch gestöhnt hatte, Kriegswaffenkontrollgesetz „zu rechnen
„meine Karriere ist zu Ende“, ließ seine ist“. Das AA war nicht begeistert. Pfahls inAnwälte vortragen, es könne „wohl aus- tervenierte im Kanzleramt, schaltete den
geschlossen werden, daß sich der Bundes- damaligen Kohl-Vertrauten Horst Teltschik
kanzler und fünf Bundesminister von ei- ein. Den bat er um „geeignete Einflußnem beamteten Staatssekretär in irgendei- nahme auf die Haltung des AA“, da dieses
„offensichtlich nicht bereit“ sei, „auf bisner Weise präjudizieren lassen“.
Ganz so abwegig ist dieser Verdacht der herige Grundpositionen zu verzichten“.
Augsburger nicht. Aus den Akten der Mi- Eine davon lautete: keine Rüstungsliefenisterien läßt sich ersehen, daß Pfahls 1990 rungen nach Saudi-Arabien.
und 1991 auf der Hardthöhe nicht nur engstens in die Ausfuhrentscheidung eingeIns Visier der Justiz
bunden war, sondern sie auch gegen alle
Bedenken verteidigte und forcierte.
sind die Pfahls-Bekannten Karlheinz
Die Operation Fuchs begann im SomSchreiber, Geschäftsmann aus Kaufemer 1990, kurz nachdem der irakische Dikring, Jürgen Maßmann, Geschäftsführer
tator Saddam Hussein das Nachbarland
Henschel Wehrtechnik, Erich Riedl, ExKuweit am 2. August besetzt hatte. Auf diStaatssekretär im Bundeswirtschaftsmiplomatischen Kanälen sowie über ihre
nisterium, Winfried Haastert, Vorstand
langjährigen Geschäftskontakte zu Schreibei Thyssen-Krupp Automotive, und
ber und Thyssen ließen die Saudis die BonMax Josef Strauß geraten.
ner Regierung wissen, sie wollten dringend
mit Panzern aus Deutschland aufrüsten.
Maßmann, im Thyssen-Henschel-Vorstand zuständig für Wehrtechnik, reiste den
Ermittlungen zufolge Ende September 1990
nach Riad, um im dortigen Verteidigungsministerium erste Gespräche über die Lieferung der Spürpanzer zu führen. Mitte
Oktober kamen die Industriellen ein zweites Mal und präsentierten 14 saudischen
Riedl
Haastert
Generälen das Wundergerät auf Film und
M. HANGEN
das Oberlandesgericht München die Haftbefehle gegen Haastert, inzwischen Personalvorstand der ThyssenKrupp Automotive AG, und Maßmann, mittlerweile Geschäftsführer der Henschel Wehrtechnik
GmbH, gegen Kaution in Höhe von je einer Million Mark außer Vollzug gesetzt.
Bei beiden wurde aber der „dringende Tat-
Strauß junior
Üppiger
Übergang
Viele Ärztefunktionäre arbeiten
ehrenamtlich – kassieren aber
Spitzenbezüge. Gesundheitsministerin Andrea Fischer will die
dubiose Finanzierung stoppen.
d e r
s p i e g e l
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ARIS
U
lrich von Sassen hat es wenigstens
mal versucht. Ob nicht einige der
teuren elf Bezirksstellen der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen
eingespart werden könnten, fragte der Chef
der Vertreterversammlung, einer Art Ärzteparlament, letzten Herbst seine Kollegen.
„Die Meinung der Basis ist mir wichtig“,
schrieb von Sassen an fast 20 000 Ärzte.
Die unschuldige Anfrage kostete den In- Gesundheitsministerin Fischer*
ternisten aus Hannover beinahe sein Amt. Professionell und transparent
Die Leiter der Bezirksstellen,
deren Einkünfte von bis zu
11 000 Mark pro Monat weggefallen wären, organisierten den
Widerstand: Einen Mißtrauensantrag überlebte von Sassen
knapp, einen Rechtsstreit verlor er – die Umfrage ist längst
eingestampft. Einziger Trost für
den Reformer: In Bayern und
bei der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein scheiterten
ähnliche Versuche.
Die Verbandsfunktionäre der
Ärzte fürchten um ihre Privilegien. Kaum ein Berufsstand
honoriert seine Interessenvertreter so großzügig und so
unauffällig wie die Mediziner
ihre Spitzenleute in den Kas- Reformer von Sassen*: Unschuldige Anfrage
senärztlichen Vereinigungen
(KV). Obwohl die Doktoren ehrenamt- 17 500 Mark. Hinzu kommen wahlweise
lich arbeiten, kassieren sie oft Summen, 10 500 Mark oder das Gehalt für einen andie durchschnittliche Mediziner kaum gestellten Arzt, der ihn in seiner Praxis
noch durch ihre ärztliche Tätigkeit ver- vertritt. Damit nicht genug: Mehrere taudienen.
send Mark pro Monat sind für einen VorWieviel die Amtsträger erhalten, wird standsposten in der Kassenärztlichen Bunmeist verschwiegen. „Eine interne Vermö- desvereinigung fällig.
gensangelegenheit“ sei das, meint etwa RüZu den Spitzenverdienern gehört auch
diger Balthasar, Hauptgeschäftsführer der Winfried Schorre, der für zwei SpitKV Westfalen-Lippe.
zenämter Entschädigungen erhält: Die
Sein Verband hat Grund zur Heimlich- Chefposten in der Kassenärztlichen Buntuerei: Anstößig ist vor allem die üppige desvereinigung und bei der VereiniÜbergangsentschädigung, die den Vor- gung Nordrhein – beides sind Ehrenämstandsvorsitzenden Ulrich Oesingmann nach ter – bringen ihm im Jahr etwa 470 000
dem Ausscheiden erwartet. Bliebe er bis Mark.
Ende 1999 im Amt, bekäme er anschließend
Das erschien sogar dem nordrhein-westrund 2,1 Millionen Mark. Das entspricht ei- fälischen Landessozialgericht zuviel. „Für
ner monatlichen Rente von 8750 Mark für ei- ehrenamtliche Tätigkeit gilt der Grundsatz
nen Zeitraum von 20 Jahren.
der Unentgeltlichkeit“, heißt es in einer
Momentan erhält Oesingmann zusätzlich zu seinen Praxiseinkünften eine * Oben: am 1. Juni auf dem Ärztetag in Cottbus; unten:
monatliche Aufwandsentschädigung von in seiner Praxis in Hannover.
Urteilsbegründung. Als Ersatz für Praxisund Verdienstausfall könne der Vorsitzende einer Kassenärztlichen Vereinigung
jährlich nur bis zu 170 000 Mark beanspruchen. Doch selbst bei kleinen rheinlandpfälzischen Selbstverwaltungen, denen
zum Teil nur wenige hundert Ärzte angehören, liegen die Gesamteinkünfte bei
über 200 000 Mark im Jahr.
Nun will die grüne Gesundheitsministerin Andrea Fischer per Gesetz erzwingen,
was den Ärzten selbst nicht gelingt: Die
undurchsichtigen Vergütungsstrukturen der
Ärztefunktionäre sollen klarer, die Arbeit
der Selbstverwaltungen effizienter werden.
Wichtigster Punkt dabei: Wer seine Lobbyund Verbandsarbeit als Fulltime-Job macht,
soll wie ein Vollprofi bezahlt und auch behandelt werden. „Es ist ein Armutszeugnis,
daß die Ärzte das nicht selber regeln“, sagt
Lothar Wittek, Chef der KV Bayerns. Doch
vor Ort hat sich eine fatale Allianz gebildet
– aus Funktionären, die einander schützen, Mitgliedern, die gar nicht ahnen, was
mit ihren Zwangsbeiträgen geschieht, und
Aufsichtsbeamten in den Ministerien, die
sich oft für die Mißstände nicht
wirklich interessieren.
Bisher bekommen die Funktionäre zwar kein Gehalt, doch
entgangene Arbeitszeit wird
gleich mehrfach ausgeglichen:
π durch Aufwandsentschädigungen, die selbst beim Chef der
KV von Sachsen-Anhalt 18000
Mark monatlich betragen,
π durch ein Honorar für angestellte Ärzte, die sich um die
verwaisten Praxen kümmern,
π durch Übergangsentschädigungen für die Zeit nach dem
Ehrenamt – als Ausgleich
dafür, daß der Funktionär
seine Praxis nicht in Schuß
halten kann.
Soviel Großzügigkeit ist in
der deutschen Verbandsszene
rar: Die Präsidenten der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände
und des Deutschen Industrie- und Handelstages, Dieter Hundt und Hans Peter
Stihl, bekommen für ihre Lobbyarbeit keinen Pfennig. Beide führen ihre Unternehmen nebenher; wie das gelingt, ist allein ihr
Problem.
Nach Fischers Plänen werden die Funktionärseinkünfte nicht überall niedriger ausfallen. Die Ministerin will mehr
hauptamtliche Manager, ihr geht es um
Professionalität und Transparenz. Den
Ärztefunktionären jedoch leuchtet das
nicht ein. Die Politik wolle nur „einen aufmüpfigen Berufsstand mundtot machen“,
vermutet etwa Dieter Krenkel, Vorstandsmitglied in der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung. Das müßten die Zahnärzte unbedingt verhindern, behauptet er:
„Das Geld ist uns doch völlig Wurscht
dabei.“
Elisabeth Niejahr
W. SCHMIDT / NOVUM
ÄRZTE
25
F. HELLER / ARGUM
Ministerpräsident Stoiber*: „Schröder ist der Kanzler des gebrochenen Wortes“
S P I E G E L - G E S P R ÄC H
„Die Regierung muß weg“
Edmund Stoiber, bayerischer Ministerpräsident, CSU-Chef und möglicher Kanzlerkandidat
der Union, über Euro-Schwäche, Sparpaket und seine Doppelstrategie
SPIEGEL: Der Euro erreicht nahezu täglich
ein neues Rekordtief, und Sie machen
dafür die SPD-geführte Regierung verantwortlich. „Die haben fertig“, behaupten
Sie. Ist das Ihre vorgezogene Bewerbung
um die Kanzlerkandidatur?
Stoiber: Meine Analyse wird von vielen Experten geteilt. Daß der Euro sinkt, hängt
unzweifelhaft auch damit zusammen, daß
die Märkte dem Euro-Raum, anders als den
USA, eine schlechte Zukunftsprognose
ausstellen. Es fehlt an Vertrauen, daß die
notwendigen strukturellen Reformen im
Euroland angepackt werden und sich die
Konjunktur erholt. Sonst würden die
Marktteilnehmer stark auf Europa, vor allem auf Deutschland setzen und in den
Euro investieren.
SPIEGEL: Der Reformstau begann in der Ära
Helmut Kohl. Die immer wieder verschobene Rentenreform, der zu üppige Sozialstaat, die enorm hohe Steuerbelastung –
das alles wollen Sie der neuen rot-grünen
Regierung anlasten?
Stoiber: Alle Strukturreformen, die die alte
Bonner Koalition eingeleitet hatte – viel* Im Dasa-Werk Manching am 7. Mai 1998.
26
leicht spät, aber immerhin –, sind von
Schröder und seiner Truppe zurückgenommen worden. Die Rentenreform, die
Lockerung beim Kündigungsschutz, die
Änderung bei der Lohnfortzahlung, alles
wurde zurückgedreht. Das Ergebnis wundert mich nicht: Die großen Wachstumsraten, die wir vergangenes Jahr noch hatten, müssen laufend nach unten korrigiert
werden. Deutschland balgt sich heute mit
den Italienern um den letzten Platz. Die
Bilanz der neuen Regierung ist negativ,
der sinkende Euro ist dafür ein untrügliches Zeichen.
SPIEGEL: Wie kann man den Vertrauensschwund stoppen? Auf Ihren Kundgebungen empfehlen Sie: Schröder abwählen!
Stoiber: Als erstes muß das angekratzte
Vertrauen in die strikte Einhaltung des Stabilitätspakts wiederhergestellt werden. Es
war ein schwerer Sündenfall der Regierung
Schröder, bei der ersten Bewährungsprobe
Italien eine höhere Neuverschuldung als
im letzten Jahr vereinbart zu gestatten.
Hinzu kommt: Deutschland als größte
Volkswirtschaft im Euro-Raum marschiert
mit Atomausstieg, Öko-Steuer, 630-MarkGesetz, Scheinselbständigkeit, Schlechtd e r
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wettergeld genau in die falsche Richtung.
Deshalb muß die rot-grüne Ministerriege
wieder weg.
SPIEGEL: Ist Ihre aggressive Oppositionspolitik nicht allzu durchsichtig? Der Wähler
hat die von FDP, CDU und CSU geführte
Regierung doch gerade erst abgewählt.
Stoiber: Aber Sie müssen auch sagen, warum er uns abgewählt hat. Der Wähler hat
uns abgewählt, weil Herr Schröder und
Herr Lafontaine gesagt haben, die Regierung Kohl betreibe sozialen Kahlschlag,
unsere vorsichtige Rentenpolitik wurde
als brutal diffamiert. Es gebe eine massive
Gerechtigkeitslücke, so wurde im Wahlkampf getönt.
SPIEGEL: Andere sagen: Schröder hat die
Wahlen in der Mitte gewonnen, weil er Reformen in Aussicht gestellt hat, zu denen
das Kohl-Kabinett offenbar nicht mehr in
der Lage war.
Stoiber: Bei den Reformen ist Schröder vor
der Wahl nie konkret geworden, im Gegenteil: Er hat die Rücknahme der eingeleiteten Reformen versprochen. In Wahrheit wurde im Wahlkampf der LafontaineKurs übernommen. Schröder ist für mich
nach seiner bisherigen Amtszeit der Kanz-
rechnungen der unabhängigen Kommission zur Reform der Unternehmensbesteuerung heute 15 290
Mark. Nach dem neuen Modell, für das sich Herr Eichel
entschieden hat, insgesamt
27 250 Mark. Das ist eine
Durchschnittsbelastung von
27,3 Prozent gegenüber 15,3
Prozent.
SPIEGEL: Die Senkung der
Steuersätze produziert nicht
nur Verlierer. Unterm Strich CDU-Politiker Wulf, Schäuble, Rühe*: „Ein langer Weg“
wird die Wirtschaft weniger
belastet als von der Vorgängerregierung.
Stoiber: Natürlich gibt es
auch Gewinner – und das
sind ausgerechnet die größeren Firmen. Wie schaut es
aus, wenn zum Beispiel ein
verheirateter Steuerpflichtiger einen Gewinn vor Steuern von 500 000 Mark erwirtschaftet? Er zahlt heute
insgesamt 216 932 Mark, er
zahlt künftig bei Herrn Eichel nur noch 186 884 Mark, Wahlkämpfer Schröder*: „Die Bilanz ist negativ“
wird also um 30 000 Mark
entlastet. So steht es in den offiziellen Li- Personengesellschaften oder Einzeluntersten von Eichels Reformkommission. Für nehmer. 99 Prozent unserer Betriebe sind
mich ist es ein absoluter Wahnsinn, daß mittelständische Unternehmen mit weniger
man nach diesem Vorschlag die kleinen als 500 Mitarbeitern. Sie müssen steuerUnternehmen nicht entlastet, sondern be- lich entlastet werden, weil sie die Substanz
lastet. Dieses Steuermodell kommt ausge- bilden, die wir brauchen, um die Arbeitsrechnet von einer Partei, die sich sozialde- losigkeit zu bekämpfen. Bei aller Wertmokratisch nennt – von Bebel über Brandt schätzung für BMW, DaimlerChrysler oder
zu Brioni.
VW: Diese Unternehmen werden unsere
SPIEGEL: Sie nehmen den Vorschlag der Re- strukturelle Arbeitslosigkeit nicht entgierung vielleicht zu ernst. Die Erfahrung scheidend verändern können.
lehrt, daß in Zeiten der rot-grünen Re- SPIEGEL: Ihr strategisches Ziel ist offenbar
gentschaft stets Nachbesserungen folgen.
eine Mehrheit im Bundesrat, um genau das
Stoiber: So kann man aber doch Deutsch- zu machen, was die SPD-Bundesratsmehrland auf Dauer nicht regieren. Wir haben heit in der Endphase Kohl gemacht hat:
Gott sei Dank bald eine Reihe von Volks- blockieren.
abstimmungen.
Stoiber: Nein, im Gegenteil: Wir wollen die
SPIEGEL: Sie interessieren doch wohl vor Regierung zwingen, mit der Opposition zu
allem die Landtagswahlen im Saarland und einem vernünftigen Steuerpaket zu kommen. Wir blockieren nicht, wir wollen eine
in Schleswig-Holstein?
Stoiber: Nicht allein. Aber in beiden bisher Steuerreform, die Wachstum und neue Jobs
SPD-regierten Ländern sieht es für die mobilisiert, und zwar schnell.
Union sehr gut aus. Es ist doch äußerst er- SPIEGEL: Sehen Sie überhaupt keinen Hinfreulich, daß der CDU-Kandidat für das weis auf eine Kursänderung, nachdem
Saarland, Peter Müller, in den Umfragen Oskar Lafontaine von Bord gegangen ist?
vorne liegt. Und dann wollen wir mal se- Stoiber: Im Reden und Papiereverfassen
hen, ob die Lockerheit bei Herrn Schröder schon, aber nicht im Regierungshandeln.
Da kann ich keinen klaren Kurs erkennen.
danach noch anhält.
SPIEGEL: Werden Sie dem Entwurf für die SPIEGEL: 30 Milliarden aus dem Etat rausUnternehmensteuerreform im Bundesrat zustreichen, ist das nichts?
zustimmen?
Stoiber: Konsolidieren ist grundsätzlich
Stoiber: So auf keinen Fall. Wir sind eine richtig und muß sicherlich auch gemacht
Partei für den Mittelstand und für die Mit- werden, aber es muß richtig gemacht werte der Gesellschaft. Die kleinen Unterneh- den. Selbst das Wirtschaftsinstitut DIW
mer, die hier zwischen 50 000 und bis zu sagt, von den 30 Milliarden Mark sind nur
200 000 Mark verdienen, das ist die Substanz derer, die Arbeitsplätze schaffen. Wir * Oben: auf dem Bundesparteitag in Erfurt am 26. April;
haben in Deutschland mehr als 2,7 Millio- unten: im Wahlkampf in Wilhelmshaven am 2. Februnen Betriebe, und davon sind 2,3 Millionen ar 1998.
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T. SANDBERG
ler des gebrochenen Wortes. Es gab bisher
keinen Kanzler, der so locker Zusagen gemacht hat und sie dann bricht. Es muß wieder stärker über die Frage der Glaubwürdigkeit diskutiert werden: Wie ist jemand
an die Macht gekommen?
SPIEGEL: Kohl ist nur durch den Verrat
der Liberalen an der Regierung Helmut
Schmidt an die Macht gekommen, wenn
Sie so wollen.
Stoiber: Ein Koalitionswechsel ist in der
Demokratie Normalfall, der Bruch von
Wahlversprechen nicht. Schröder hat ganz
bestimmten Zielgruppen, die ihn später
dafür stark unterstützt haben, sehr präzise Wahlversprechen gemacht – zum Beispiel den Rentnern. Ich war in vielen Altersheimen: Schröders Versprechen, er
werde die Reformen der Union rückgängig
machen, hat dort mächtig eingeschlagen.
Die Leute haben ihm vertraut.
SPIEGEL: Aber es ist nicht verboten, eine als
Fehler erkannte Politik zu korrigieren. Mit
der Vorlage des Sparpakets, der Rentenkürzung und den vorgelegten Eckwerten für eine Steuerreform hat sich die Regierung doch einen Ruck gegeben.
Stoiber: Ganz und gar nicht. Die Rentenreform ist in Wahrheit eine Sparaktion für
den Haushalt, die an den strukturellen Problemen der auf den Kopf gestellten Alterspyramide nichts ändert. Und auch die
Steuerreform erfüllt in keiner Weise die
Erwartungen.
SPIEGEL: Immerhin: Erstmals seit langem
werden die Unternehmen entlastet.
Stoiber: Sie müssen beide Stufen der Steuerreform gemeinsam betrachten: Die erste
Stufe in diesem Jahr hat die Unternehmen
mit zehn Milliarden Mark belastet. Die
Entlastung für die Unternehmen, also Stufe zwei, war für nächstes Jahr versprochen. Sie ist jetzt auf 2001 verschoben.
Angekündigt waren Entlastungen von acht
Milliarden Mark, jetzt zeichnet sich ab,
daß es eher auf sechs Milliarden Mark hinausläuft. Das heißt, es bleibt netto weiterhin bei einer Belastung von vier Milliarden
Mark für die Wirtschaft. So schafft man
keine Arbeitsplätze. Im Mai und Juni ist
die Arbeitslosigkeit saisonbereinigt sogar
wieder gestiegen.
SPIEGEL: Aber die angekündigte Höchstbelastung von Unternehmensgewinnen mit
35 Prozent wird doch von Parteien, Verbänden und Unternehmen begrüßt.
Stoiber: Viele kennen die Auswirkungen
der neuesten Steuerpläne noch nicht. Erst
seit Anfang dieser Woche liegen die von
der Regierungskommission durchgerechneten Fallbeispiele vor: Wenn jemand als
Bäckermeister demnach 50 000 Mark Gewinn aus seinem Gewerbebetrieb herausholt und davon lebt, zahlt er heute 3200
Mark an Steuern. Nach Eichels Vorschlag
zahlt er künftig 12 500 Mark, also 9300
Mark Steuern mehr. Ein verheirateter Steuerpflichtiger mit einem Gewinn vor Steuern von 100 000 Mark zahlt nach den Be-
K.-B. KARWASZ
Deutschland
Deutschland
A. POHLMANN
in der Genforschung. Und rungen zu vermitteln, aber doch einfacher
wir haben bei alledem un- als die SPD. Wir haben diese Diskussion in
sere Staatskasse in Ordnung der CSU schon lange begonnen.
gehalten. Wir haben in den SPIEGEL: Wie soll daraus eine Strategie zur
vergangenen fünf Jahren al- Ablösung der Regierung werden?
lein durch Privatisierungen Stoiber: Das ist ohnehin ein langer Weg.
5,5 Milliarden Mark zusätz- Ich sage das, weil manche nach den Heslich investiert.
sen-Wahlen und nach dem glanzvollen
SPIEGEL: Was erwarten Sie Sieg bei der Europawahl glaubten, die Regierung sei jetzt schon mehr oder weniger
jetzt von Schröder?
Stoiber: Ich möchte zu- waidwund.
nächst, daß die Regierung SPIEGEL: Aber wenn sich die Chance zur
Stoiber, SPIEGEL-Redakteure*: „Ich fühle mich hier wohl“
ihr Steuerkonzept wieder schnellen Ablösung bietet, stehen Sie als
17 Milliarden Mark wirkliche Einsparun- zurückzieht und ein Entlastungskonzept Kanzlerkandidat bereit?
gen, und 13 Milliarden sind Umschich- für kleine und mittlere Betriebe vorlegt. Stoiber: Ich stelle fest, daß Sie es nicht
tungen vom Bund zu den Ländern und Das gleiche gilt für den Sparhaushalt, die lassen können! Die Aufgaben eines MiniRente inklusive. Ich sage klipp und klar: sterpräsidenten in einem so großen Land
Kommunen.
SPIEGEL: Ihr sächsischer Ministerpräsiden- Für die Union gibt es keine Rentenge- wie Bayern, in einem sich verändernden
tenkollege Kurt Biedenkopf war großzü- spräche mit der Bundesregierung, solange Europa, wo es immer mehr auf die Regiger, er hat die Regierung für ihre Spar- der Rentenbetrug nicht vom Tisch ist. gionen ankommt, ist doch eine großartiDem Paket insgesamt fehlt auch die so- ge Herausforderung. Ich fühle mich hier
anstrengungen gelobt.
Stoiber: Er hat das Ausmaß des Eichel-Pa- ziale Balance. Die notwendige Moderni- sehr wohl.
kets zu dem Zeitpunkt vielleicht noch nicht sierung des Standorts läßt sich so nicht SPIEGEL: Dieses Land ist wunderbar, Sie
im Detail gekannt. Das belastet natürlich bewerkstelligen.
haben einen tollen Job, aber wenn das
auch die sächsischen Kommunen außeror- SPIEGEL: Herr Stoiber, Sie müssen sich Nötigen gar kein Ende nimmt, würden Sie
dentlich, bei der Sozialhilfe, den Unter- schon entscheiden, was Sie kritisieren wol- auch zu einer Kanzlerkandidatur nicht
haltsvorschüssen.
len: daß die Regierung ein leichtfertiges nein sagen?
SPIEGEL: Dann müssen Sie und Ihre Kollegen in den Ländern eben auch mal den
Großes Minus für die Kleinen
Rotstift ansetzen.
Ausgewählte Steuerbelastung für einen verheirateten Unternehmer (Personenunternehmen)
Stoiber: Dann muß die Regierung in Bonn
REFORMVORSCHLAG des Finanzministeriums
BISHERIGES RECHT*
aber doch vorher mit uns reden. Die Regierung kann doch nicht das Kindergeld
DurchschnittsGewinn vor
Gewinn nach
Durchschnitts- Gewinn nach
erhöhen, sich dafür feiern lassen, und dann
Steuern in Mark
belastung
Steuern in Mark Steuern in Mark belastung
zahlen 15 Prozent der Kindergelderhöhung
die Kommunen und die Länder noch ein47,94%
39,04%
1 000 000
520 563
609 943
mal 42,5 Prozent. Dabei ist die neue Regierung mit der Ankündigung angetreten,
sie wolle nicht zu Lasten anderer sparen.
43,39%
37,38%
500 000
283 068
313 116
SPIEGEL: Wenn man Sie hört, hat man
den Eindruck, der Staat kann nirgendwo
sparen.
29,78%
31,50%
140 440
137 010
200 000
Stoiber: Das will ich nicht behaupten.
SPIEGEL: Dann sagen Sie uns doch, wo ein
Kanzler Stoiber sparen würde.
150 000
114 578
105 684
23,61%
29,54%
Stoiber: Den Kanzler Stoiber gibt es nicht,
aber ich würde einem Kanzler, der auf mei84 710
72 750
100 000
15,29%
27,25%
nen Rat hören würde, raten, jedenfalls
*Berechnet nach dem Einkommensteuertarif des Jahres 2002
Quelle: Finanzministerium
nicht an den Investitionen zu sparen.
SPIEGEL: Daß die Regierung Ihrer Meinung
nach nichts taugt, ist deutlich geworden. Versprechen abgegeben hat oder daß sie Stoiber: Ich weiß, daß Personalfragen und
Unklar ist nur: Was wollen Sie anders dieses Versprechen bricht und das richtige erst recht die Frage nach der Kanzlerkanmachen?
tut, womöglich noch nicht kraftvoll genug. didatur beliebte Fragen sind. Aber erstens
Stoiber: In Bayern kann man doch sehen, Stoiber: Das stimmt doch nicht. Wenn die stellt sich für mich die Frage nicht, niemand
wie wir im Rahmen der Landespolitik Im- Regierung den Rentnern nur den Inflati- nötigt mich. Und zweitens wäre das Führen
pulse für Wachstum und Arbeitsplätze set- onsausgleich gewährt und damit ihre Zu- der Personaldiskussion aus dem Blickzen: Wir tun was für Existenzgründer, ha- wendungen für die Rentenkasse um 3,6 winkel der Union ein schwerer Fehler. Die
ben allein 30 Gründerzentren aufgebaut. Milliarden Mark entlastet, dann spart sie an Union hat eine ganze Reihe von AbstimWir unterstützen die Handwerksmeister fremdem Vermögen. Sie gibt den Rentnern mungen zu Sachaussagen zu erledigen, bis
mit ordentlich dotierter Förderung und nicht das, was ihnen zusteht.
wir an die Adresse Schröders sagen können:
Meister-Preisen, unsere Selbständigenquo- SPIEGEL: Sie haben doch mit Ihrer CSU die- Sie haben fertig, und wir stehen bereit.
te ist deutlich über dem Bundesdurch- selben Probleme wie die SPD. Es fällt Ihnen SPIEGEL: Wann muß die Frage des Spitzenschnitt, unsere Arbeitslosenquote deutlich schwer, eine klare Modernisierungsstrategie kandidaten entschieden sein?
darunter. Wir fördern High-Tech-Firmen in zu verfolgen, weil Ihre Wählerklientel noch Stoiber: Die Personalfrage sollten wir nicht
der Luft- und Raumfahrt, in der Software- mit der alten Bundesrepublik verhaftet ist. vor dem Februar des Jahres 2002 entscheiIndustrie, in der Telekommunikation, Für die bedeutet Globalisierung nicht den. Jede verfrühte Debatte schadet der
Chance, sondern Bedrohung.
Union und ihren Wahlchancen.
Stoiber: Wir haben es generell sicher nicht SPIEGEL: Herr Stoiber, wir danken Ihnen
* Gabor Steingart, Stefan Aust, Christian Reiermann in
der Münchner Staatskanzlei.
leicht, die Notwendigkeit von Verände- für dieses Gespräch.
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Deutschland
Nicht mehr
kompatibel
Für Härtefälle gibt es das sogenannte
Betreuungshandy. „Ein Gespräch, ohne
daß jemand mithört“, bietet der evangelische Militärpfarrer Werner Herrmann, 49,
Soldaten an, wenn die Stimmung auf dem
Nullpunkt ist, wenn etwa die Freundin per
Brief oder Telefon in dürren Worten das
Ende verkündet hat.
„Du stehst hier und sie 2500 Kilometer
weiter – was willst du da retten?“ sagt einer, der es auch schon hinter sich hat. Und
Truppenpsychologe Jens Kowalski, 36, ergänzt: „Die meisten Frauen sind auch nicht
mehr umzustimmen.“ Partnerschaften, die
DPA
Die gefährlichste Mission der
Truppe fordert vor allem
Opfer an der Heimatfront:
Den Soldaten laufen die
Frauen und Freundinnen weg.
ein Programm zur Zerstörung der sozialen
Beziehungen von Soldaten“, ärgert sich
Heide Rasch, 44, aus Kempten, die seit 20
Jahren mit einem Panzerfahrer verheiratet
ist. Viele Frauen wollen zu der Belastung
regelmäßiger Versetzungen und langer
Lehrgänge ihrer Männer fern der Wohnorte nicht auch noch über viele Monate auf
den Lebensgefährten verzichten.
Als Angehörige einer ehemaligen Verteidigungsarmee, die bis vor wenigen Jahren fast ausschließlich an deutschen Standorten dienten, tun sich die Soldaten und
ihre Frauen jetzt mit den privaten Folgen
AFP / DPA
BUNDESWEHR
Deutsche Soldaten beim Abschied daheim, gefeiert als Befreier (in Prizren): „Was macht sie gerade?“
T
ruppenpsychologe Oberstleutnant
Paul Evers, 52, aus Düsseldorf weiß
schon früher als seine Patienten,
wann eine Seelenkrise droht: bei der Heimkehr.
„Erwarten Sie nicht einen zu großen
Empfang“, bereitet er die Männer aus dem
ersten Kfor-Kontingent, die jetzt nach
Deutschland zurückkehren, in der Feldzeitung auf Enttäuschungen vor. Zu Hause, so Evers, sei nach vier Monaten Absenz oft nichts mehr, wie es war.
Im Einsatz eben noch als Helden gefeiert, haben etliche Bundeswehrsoldaten den
Kampf an der Heimatfront schon verloren.
Im Kosovo wurden vier Gebirgsjäger eines 24 Soldaten starken Zuges aus Schneeberg bereits im ersten Monat Kriegseinsatz von ihren Freundinnen verlassen.
„Und das ist erst der Anfang“, glaubt Zugführer Stefan Ebneth, 34.
Den Fahrer des Kommandeurs der
Kosovo-Einsatzbrigade, Fritz von Korff,
traf die Trennung von der Freundin unerwartet bei einem Kurzurlaub. Beim Telefonat vor der Heimreise schien alles in
Ordnung, am Flughafen holte ihn schon
niemand ab, zu Hause war die Wohnung
leer.
Ab Januar 2000 sollen alle Männer zudem statt bislang vier Monate gleich ein
halbes Jahr im Einsatz bleiben. „Das ist
34
der Friedenseinsätze in den Krisengebieten
sichtlich schwer.
Bei den zumeist sehr jungen Männern,
die in langen Nächten in den Panzern Wache schieben, „nagt schon die Frage, was
sie gerade macht“, sagt ein Gefreiter. Und
auch die Frauen bleiben nicht ohne Zweifel,wenn sie im Fernsehen verfolgen, wie
die Soldaten von hübschen Kosovarinnen
als Befreier gefeiert werden.
Bis zur Ausgangssperre um 24 Uhr sind
im Zentrum von Prizren die Bars geöffnet.
Die jungen Mädchen, obwohl gläubige
Musliminnen, tragen modische westliche
Kleidung und flirten gezielt mit Helfern,
Journalisten und Soldaten – wer westliche
Kontakte hat, steigt in der Hierarchie.
Noch sind Verbindungen zwischen Befreiern und den Schönen von Prizren enge
Grenzen gesetzt. Die Bundeswehrsoldaten
dürfen in ihrer Freizeit bis dato die Camps
aus Sicherheitsgründen nicht verlassen.
Fällt die Sperre, ahnt der stellvertretende
Kommandeur Rolf Bescht, 52, „bricht zu
Hause der Sturm des Protestes los“.
Probleme können auch nicht ausdiskutiert werden: Die Feldpost dauert derzeit
bis zu 30 Tage, das Mobilfunknetz funktioniert im Kosovo nicht. Jeder Soldat darf
zweimal in der Woche je zwei Minuten
über Satellitentelefon mit der Heimat sprechen – kontrolliert wird mit der Stoppuhr.
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noch einmal notdürftig stabilisiert werden,
zerbrechen häufig nach der Heimkehr.
„Du denkst, du bist noch immer der
Herrscher der Fernbedienung, aber Fehlanzeige“, beschreibt Oberleutnant Ralf Uffelmann, 28, aus Ottobrunn bei München
zudem den Machtverlust nach der Rückkehr, wenn die Frau zu Hause die Tagesgeschäfte übernommen hat, von der Kontoführung bis zur Kfz-Reparatur.
Die verschiedenen Welten der Partner
erweisen sich oft als kaum noch kompatibel. „Sie beschäftigt, daß der Wein bei Aldi
teurer geworden ist, und ich erzähle von
Leichengeruch, Massengräbern und Verbrechen“, sagt Stabsfeldwebel Norbert
Reitmeier, 46, aus dem niederbayerischen
Regen. „Da muß man das Räderwerk, das
einmal gut ineinandergegriffen hat, erst
wieder langsam zusammenführen“, erklärt
Oberfeldwebel Christian Wiederer, 27 –
und nicht immer gelingt das.
So fordert die gefährlichste Mission der
Bundeswehr ihre Opfer vor allem auf dem
Schlachtfeld der Liebe. Rechtsberater
Oberst Gert Both, 59, der sich eigentlich
um die juristischen Fragen des Einsatzes
kümmert, steht den Soldaten in dringenden
Fällen auch als privater Rechtsanwalt zur
Seite – derzeit liegen auf seinem Schreibtisch die Akten von einem halben Dutzend
Scheidungsfällen.
Susanne Koelbl
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Deutschland
MEDIZIN
„Ende eines Traumberufs“
Chefärzte und Klinikmanager nutzen die Stellenknappheit,
um Wohlverhalten zu erzwingen. Ein „Klima der
Angst“, klagen Assistenzärzte, herrsche in den Krankenhäusern.
D
π warf ein Assistenzarzt den frisch gewaschenen Kittel eines Kollegen schon mal
„postwendend in den Wäschesack“, damit der Konkurrent „aufgrund fehlender
sauberer Kittel einen unordentlichen
Eindruck“ hinterlasse;
π träufelte jemand dem Kollegen Betäubungsmittel in ein Getränk, auf daß der
Mitbewerber seinen Nachtdienst verschlafe;
π fälschte ein Doktor die vom Kollegen
geführten Patientenakten, um ihn beim
Chefarzt in Mißkredit zu bringen.
Beinahe durchgängig aber erzeugt die
Existenzangst bei den Assistenzärzten
einen „enormen Wohlverhaltensdruck“
(Henke). Und so gilt in großen Universitätskliniken wie in kleinen Kreiskrankenhäusern oder den vielen kirchlich getragenen Hospitälern: Nie zuvor war die
Macht der Chefs über ihre Untergebenen so groß wie heute – und wohl noch
nie machten die so ungeniert davon Gebrauch.
Allein in Berlin, schätzt Günther Jonitz,
Präsident der Landesärztekammer, gebe
es „mindestens 500 aktuelle Mobbing-Fälle“. Aber nicht nur Assistenzärzte machen
sich das Leben gegenseitig schwer, oft seien „die Chefs die treibende Kraft“.
Der Kammerpräsident kennt den Fall eines Chefarztes, der „bis heute seine Leute bei Visiten vor Patienten zusammenschreit, bis er Nasenbluten bekommt“. Und
selbst das könne den Tobenden nicht stoppen: „Er stopft sich ein Taschentuch in die
Nase und schreit weiter.“ Nur diejenigen
blieben in der Abteilung, „die es ertragen,
ständig angebrüllt zu werden“.
Manche ertragen noch mehr. Ein Assistenzarzt aus Niedersachsen nahm es hin,
daß sein Chefarzt ihn regelmäßig ohrfeigte. Weder wehrte er sich, noch kündigte er.
Das sei keineswegs nur eine Frage mangelnder Zivilcourage gewesen, sagt Thomas
T. HEIMANN
A. KULL / VISION
ie Assistenzärztin an der Medizini- beitslos. Und in naher Zukunft, fürchtet
schen Hochschule Hannover hatte Thomas Rottschäfer, Sprecher des Bundes,
den schlimmsten Fehler gemacht, seien in deutschen Hospitälern wegen weiden sich deutsche Nachwuchsmediziner terer Sparmaßnahmen „noch ein paar tauzuschulden kommen lassen können: Sie send Stellen gefährdet“.
Die Angst um den Arbeitsplatz wird von
hatte sich beschwert.
Ihr Bericht zur Lage der Station war zu Klinikleitungen und Chefärzten noch geeiner einzigen Anklage gegen den Chefarzt schürt. Neun von zehn Assistenzärzten,
geraten: Die ohnehin regelmäßigen Über- schätzt Rudolf Henke, Vizechef des Marstunden nähmen überhand, die häufigen burger Bundes, werden befristet eingeNacht- und Wochenenddienste ließen kaum stellt. Gelinge es einem Assistenzarzt in
Zeit zur Regeneration. Solche Arbeitsbe- dieser Zeit nicht, im Kreis der Favoriten
dingungen, so die Ärztin, dienten weder der seines Chefs zu bleiben, „droht die ArAusbildung noch dem Wohl der Patienten. beitslosigkeit“.
Die heile Welt, die in den beliebten TVVon Stund an wurde die Assistentin von
ihrem Chef mit unbeliebten Arbeiten über- Serien beschworen wird, ist längst nicht
mehr auf den Krankenhaushäuft, im Dienstplan tauchfluren oder in den Operatite ihr Name auch dann auf,
onssälen zu finden. Ganze
wenn sie um Freizeit gebeHeerscharen junger Mediten hatte. Selbst ein schon
ziner konkurrieren um die
genehmigter Urlaub wurde
Verlängerung der Zeitverkurzfristig gestrichen.
träge und um die raren unFür Personalrätin Brigitbefristeten Stellen – mitunte Stryk sind solche Winter mit dubiosen Methokelzüge „ein klassischer
den. Das von der BundesFall von Mobbing“ – bei
ärztekammer und der Kasdem die Opfer nicht einmal
senärztlichen Bundesvermit der Solidarität der Koleinigung herausgegebene
legen rechnen können. In
„Deutsche Ärzteblatt“ prämehreren Abteilungen der
sentierte eine Fallsammhannoverschen Univerlung besonders trickreicher
sitätsklinik herrsche, so
Mobbing-Mediziner. So
Stryk, vor allem unter den Ärztefunktionär Jonitz
Assistenzärzten ein „Klima
der Angst“.
Aus Sorge um die Karriere werde selbst bei gröbster Schikane geschwiegen.
So sei es selbstverständlich,
daß Mediziner mit Halbtagsstellen ein volles Tagespensum ableisten und
darüber hinaus auch noch
„Überstunden ohne Bezahlung und ohne Freizeitausgleich akzeptieren“.
Die Existenzangst der
Ärzte ist durchaus begründet. In den Krankenhäusern wurden in den vergangenen Jahren bundesweit Tausende Arztstellen
gestrichen, 12 000 bis 15 000
Doktores sind nach Angaben des Marburger Bundes,
der Interessenvertretung
der Klinikärzte, bereits ar- Ärzte im Operationssaal: „Assistenten zittern, wenn der Chef in den Saal kommt“
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So verliert die Karriere im weißen Kit- senärztliche Vereinigungen und Krantel, lange Ziel ganzer Generationen von kenkassen lassen kaum noch neue PraEinser-Abiturienten, viel von ihrem Reiz. xen zu.
Die aussichtslose Lage ihrer NachgeJeder sechste Arzt würde seinen Beruf, so
eine Umfrage des „Forschungsverbunds ordneten macht es den Chefärzten leicht,
Public Health“ der Technischen Univer- eine Rolle zu spielen, die längst abgeschafft
sität (TU) Berlin, „bestimmt nicht mehr schien – die des Herrgotts in Weiß.
So erlaubt die Klinikordnung dem Chefwählen“, gut jeder zweite hätte „einige
Bedenken“. Schon sprechen Experten wie arzt, einen Assistenten ohne Begründung
TU-Forscher Klaus Stern vom „Ende ei- von der Liste der Operateure zu streichen.
Das wird beispielsweise in der Orthopänes Traumberufs“.
Der Mediziner-Nachwuchs wird, warnt die als probates Zuchtmittel angesehen:
die Bundesärztekammer, „leergepreßt wie Wer zur Facharztprüfung zugelassen wereine Zitrone“. Die Jungärzte, mit einem den will, muß unter anderem 180 EingrifBruttogehalt von knapp 5000 Mark trotz fe an Becken, Bein und Fuß nachweisen.
Es gebe „Assistenten, die nur noch zitsiebenjähriger Ausbildung schlechter bezahlt als ein Facharbeiter, dürfen die tern, wenn der Chef in den Saal kommt“,
Lehrjahre auch schon lange nicht mehr sagt ein Kölner Orthopädie-Oberarzt. Er
als Investition in eine goldene Zu- habe Nachwuchsmediziner erlebt, die „so
kunft betrachten – die Einkommen auch stark mit dem Skalpell zitterten, daß sie
gestandener Krankenhaus-Medizinmän- nicht einmal einen Hautschnitt machen
ner sind längst auf Normalmaß abge- konnten“.
In der Gynäkologie eines kirchlichen
schmolzen.
Dennoch halten vor allem jüngere Kol- Krankenhauses in Niedersachsen verlegen, weiß Hans Engelhard, Vorsitzender sammeln sich abends um halb acht die
des Mobbing-Ausschusses der rheinland- Assistenzärzte, um ihren Chef im Gänsepfälzischen Ärztekammer, „aus Angst um marsch zur Visite zu begleiten. Die meisten
ihren Arbeitsplatz lieber den Mund und haben dann zwölf Stunden Dienst hinter
sich, hätten ihren Arbeitsballen die Faust in der Taplatz schon vor zwei Stunsche“. Noch nie in der
den verlassen können. Sie
Nachkriegszeit, behauptet
könnten „ja einfach nach
Funktionär Henke, „wurde
Hause gehen“, hat ihnen
einer Ärztegeneration der
ihr Vorgesetzter mit einem
Widerspruch so schwergesubtilen Lächeln erklärt. Es
macht“.
stehe ihnen aber selbstDenn Alternativen gibt
verständlich frei, ihn
es kaum. Flüchteten Ärzte
„während der Freizeit zur
früher nach Querelen mit
beruflichen Fortbildung zu
ihrem Chef aus den Kranbegleiten“.
kenhäusern in die Praxen,
Dennoch ist es eher die
müssen sie heute durchAusnahme, wenn wie in
halten. Der Sparzwang
Berlin die Ärztekammer eiim Gesundheitswesen hat
nem Chefarzt die Weiterdie Niederlassungsfreiheit
bildungsbefugnis entzieht,
praktisch aufgehoben, Kas- Ärztefunktionär Henke
weil es ihm „an persönlicher Eignung“ fehle. Der
Mann hatte Mitarbeiter
schikaniert und sich auch
einem Gespräch mit Vertretern der Kammer verweigert.
Nicht selten werden Ärzte durch die Tortur am
Krankenbett selbst krank.
Sie flüchten dann, wie der
Psychiater Wolf-Rainer
Krause beobachtet hat, vorzugsweise in Alkoholmißbrauch oder Tablettensucht. Krause, Chefarzt
im sachsen-anhaltinischen
Blankenburg, hat aber auch
schon mehrfach Kollegen
behandelt, die sich aus Verzweiflung über ihre Arbeitsbedingungen „vor den
nächsten Zug werfen wollten“.
Ärzte bei der Visite: „Der Nachwuchs wird leergepreßt wie eine Zitrone“
Carsten Holm
R. BERMES / LAIF
M. WOLTMANN
Rottschäfer vom Marburger Bund in Köln:
„Er wußte, daß Chefärzte miteinander telefonieren. Wer dabei als renitent eingestuft wird, hat kaum noch eine Chance.“
Selbst wenn der Sprung vom Assistenten
zum Klinikarzt geschafft ist, bleibt der
Druck bestehen. Denn immer noch hat der
Chef die Möglichkeit, bei Unbotmäßigkeit
des Untergebenen die Karrierebremse zu
ziehen. Wie subtil das geschieht, zeigen
Fallstudien des Marburger Bundes aus Bayern – sie lesen sich wie eine Anklageschrift
gegen die Mediziner-Elite:
π Der Oberarzt einer Uniklinik, ein international erfahrener Herzspezialist, durfte nach Streitereien mit seinem Chefarzt monatelang keine klappenchirurgischen Eingriffe mehr vornehmen. Erst
nach einer Intervention des Marburger
Bundes gab der Chef klein bei.
π Der Psychiatrie-Stationsarzt eines Klinikums bekam in vier Jahren der Weiterbildung nur viermal die Möglichkeit,
wissenschaftlich begründete Gutachten
zu erstellen. Für die Anmeldung zur
Facharztprüfung ist der Nachweis von
zehn Expertisen erforderlich – ein Abschluß rückte so in weite Ferne.
π Der Leitende Gynäkologie-Oberarzt eines oberbayerischen Krankenhauses, der
aus gesundheitlichen Gründen nicht
mehr den sogenannten Hintergrunddienst absolvieren konnte und dieses
durch ein Attest nachwies, wurde
prompt degradiert.
Der rauhe Alltag drückt mächtig auf die
Stimmung. Jeder vierte Klinikarzt klagt
nach einer Umfrage des Marburger Bundes
über ungerechte Kritik seines Chefs und
unerträgliche Konkurrenz unter den Kollegen. Fast sechs von zehn Ärzten beurteilen das Klima in ihrem Krankenhaus als
„mäßig“, jeder siebte bewertet es als
„schlecht“. 75 Prozent haben Angst um
ihren Arbeitsplatz.
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W. M. WEBER
Schulschwänzer, Polizisten in Nürnberg: Blaumachen als „Einstiegsdroge für kriminelles Verhalten“?
SCHULEN
Am Schlafittchen in die Schule
In Nürnberg werden Schulschwänzer von der Polizei
eingefangen. Das Projekt wird in Bayern als vorbildlich angesehen –
doch der pädagogische Wert ist umstritten.
G
o! Hätte er den Computerbefehl
wörtlich genommen und nicht einfach das nächste Autorennen gestartet, dann wäre ihm das alles erspart geblieben.
Die blonde Frau hält dem Jungen einen
grünen Ausweis unter die Nase. Polizeiobermeisterin Britta Frank, 22, hat
ihn an der Spielkonsole im Elektronikkaufhaus Saturn in der Nürnberger Innenstadt schon von weitem erspäht und geht
schnurstracks auf ihn zu. „Hast du keine
Schule?“ fragt sie ihn, während sich ihr
Kollege Stefan Walter, 27, neben ihm aufbaut.
Der 13jährige Johannis K. klammert sich
ängstlich am Joystick der Nintendo-Konsole fest. Er gibt auf der Stelle zu, daß er
eigentlich in der Schule sein müßte.
Wer in Nürnberg die Schule schwänzt,
bekommt es mit der Polizei zu tun. Seit
September vergangenen Jahres haben
sämtliche Streifenpolizisten den Auftrag,
nach verdächtigen Kandidaten Ausschau
zu halten. Beamte in Zivil durchkämmen
die Kaufhäuser nach Schulpflichtigen. In44
zwischen wurden etwa hundert Schulflüchter aufgegriffen.
Die Aktion gehört zum „Sicherheitspakt
der Stadt Nürnberg“, einem Modellprojekt zur kommunalen Kriminalprävention.
Der Pakt, im Mai 1998 zwischen Polizeidirektion, Stadt und Justiz geschlossen, soll
die Kinder- und Jugendkriminalität eindämmen. Die Zahl der Tatverdächtigen
hatte sich von 1993 bis 1998 um 39,2 Prozent erhöht.
Bayerns Innenminister Günther Beckstein ist von der Idee der Schulsheriffs ganz
begeistert. „Daß der Schulschwänzer von
einem uniformierten Polizisten am Schlafittchen in die Klasse hineingeführt wird“,
ist dem bayerischen Hardliner ein persönliches Anliegen. Für die Polizeiinspektionen landesweit soll das Nürnberger
Modell deshalb Vorbild sein.
Der ertappte Johannis wirkt verstört.
Auf die Frage, warum er nicht in die Schule gehe, antwortet er, die Mitschüler würden ihn immerzu auslachen. Polizist Walter übermittelt Namen und Schule per
Funk an einen Kollegen auf der Wache.
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Dort werden routinemäßig alle Angaben
überprüft.
Johannis’ Geständnis macht es den
beiden Fahndern einfach. Sie können sich
sofort mit dem kleinen Sünder auf
den Weg zur Polizeiinspektion NürnbergMitte machen, die direkt gegenüber vom
Kaufhaus liegt.
Von der Wache aus ruft die Polizistin
Frank den Vater von Johannis an. Der befürchtet als erstes, daß sein Sohn beim
Stehlen erwischt worden ist. Das ist er
nicht, aber im Dienstzimmer, unter Streifenpolizisten und mit einem eigenen Aktenzeichen versehen, muß er sich wie ein
erwischter Dieb fühlen. Die meiste Zeit
wird er ignoriert.
Dem ehrgeizigen Vater leuchtet Johannis’ Erklärung nicht ein. Daß die anderen
Kinder ihn hänseln, könne schon sein, sei
aber kein Grund, von der Schule fernzubleiben.
Da Johannis’ Unterricht inzwischen beendet ist, wird er nicht, wie Leidensgenossen vor ihm, direkt zur Schule gebracht.
Der schmächtige Junge, der immer kleiner
Deutschland
STEGMANN / HÖHN
zu werden scheint, muß warten, bis ein dung zwischen Schwänzen und krimineller Eltern ihre Kinder geradezu vom SchulbeVerwandter ihn abholt. Die obligatorische Karriere zu ziehen. Die vorliegenden Da- such abhalten.“ Vor allem Mädchen, die
„Ereignismeldung“ an den Allgemeinen ten seien zu unsicher. In der Hansestadt doch ohnehin später mal heiraten, haben
Sozialdienst (ASD) und das zuständige kümmern sich Sozialpädagogen um die nach Meinung mancher Väter und Mütter
keinen dauernden Schulbesuch nötig. Die
Schulamt wird noch am selben Tag abge- Schulschwänzer.
schickt.
Die Nürnberger Sozialpädagogen vom müßten beispielsweise immer wieder mal
Die Gesetzesgrundlage für die Jagd auf ASD sehen dagegen durchaus Vorteile in in der Küche des elterlichen Restaurants
Schwänzer ist etwas vage: Das Polizei- der Zusammenarbeit mit der Polizei. Die mit anpacken.
Die polizeiliche Autorität wirkt nicht imaufgabengesetz gibt den Beamten nicht nur Ereignismeldung gibt den Bezirkssozialden Auftrag, Verbrechen zu bekämpfen, pädagogen der Stadt einen handfesten An- mer. Bei Iwan S., einen 15jährigen Rußsondern auch den, die öffentliche Ordnung laß, Kontakt mit den Eltern aufzunehmen landdeutschen, ist der Jugendbeauftragte
zu schützen. In Nürnberg stört Schul- und ihnen Hilfe anzubieten. Meistens wird der Polizeiinspektion Nürnberg-Ost, Werschwänzen offensichtlich die öffentliche sie auch angenommen, denn viele Erzie- ner Würfel, 45, am Ende seiner Macht.
Auch die Androhung eines Bußgeldes
Ordnung.
hungsberechtigte fühlen sich im Umgang
kann den zornigen, verstockten Jungen
Schulpflicht ist nun mal Gesetz, deshalb mit ihrem Nachwuchs überfordert.
droht Dauerschwänzern die „DurchDaß Mundpropaganda auf den Schul- nicht bewegen, Würfel in die Schule zu beführung des Schulzwangs“ nach Artikel höfen dazu führen könnte, potentielle gleiten: „Da gehe ich nicht mehr hin.“
Als Grund für sein häufiges Fehlen gibt
118 des Bayerischen Erziehungs- und Un- Schwänzer abzuschrecken, halten sowohl
terrichtsgesetzes. Durch den Nürnberger die Ordnungshüter als auch die ASD- Iwan, der seit vier Jahren in Deutschland
Sicherheitspakt soll jetzt die Polizei das Jugendexperten für unwahrscheinlich. lebt, „Langeweile“ an. Seine Lehrerin
Gesetz anwenden.
Aber derjenige, der den Machtapparat der glaubt ihm das aufs Wort. Denn nach eiWenn alle disziplinarischen Maßnahmen Polizei einmal zu spüren bekam und noch nem heftigen Krach mit einem Lehrer an
der Schule versagen, können die Lehrer nicht zu den gewohnheitsmäßigen Blau- der Hauptschule muß der Teenager seit eieinen Schüler nach zehn Tagen unent- machern gehört, könnte durch den Schock nem knappen Jahr wieder eine sogenannte Übergangsklasse speziell für Immigranschuldigten Fehlens durch einen Antrag fürs erste geheilt werden.
ans Schulamt polizeilich vorführen lassen.
Absentismus, das wiederholte Fernblei- tenkinder besuchen – aus LeistungsgrünSpätestens hier stellt sich die Frage nach ben vom Unterricht, ist kein Massenpro- den, wie es hieß. Da Iwan aber wesentlich
der Verhältnismäßigkeit der Mittel.
blem – ganze 0,4 Prozent der Volks- und besser deutsch spricht als seine Klassenkameraden, ist der gesamNicht
jeder,
der
te Unterricht für ihn
schwänzt, wird automazwangsläufig lästig.
tisch zum Verbrecher, so
Anstatt zur Schule zu
Walter Kimmelzwinger,
gehen, traf er sich immer
44, Leiter der Polizeiöfter mit anderen Aussieddirektion Nürnberg und
lerjugendlichen und beMiterfinder der Schulgann zu trinken. Er stahl,
sheriffs. Aber die Laufprügelte sich und hing auf
bahn vieler Straftäter habe
der Straße herum. Innermit dem Blaumachen behalb eines Jahres wurde er
gonnen.
mehrmals straffällig, so
Bei Pädagogen sind
daß er mittlerweile als judie
flächendeckenden
gendlicher Intensivtäter
Fahndungen allerdings
polizeilich bekannt ist.
umstritten. Uwe MorgenWürfel muß unverrichstern, 55, Vorsitzender des
teter Dinge abziehen. Er
Deutschen Berufsverbanhätte Kollegen in Uniform
des für Sozialarbeit, Sozianfordern können, die
alpädagogik, HeilpädagoIwan notfalls in die Schule
gik im Bezirk Franken, ist
tragen müßten. Diese
über die Nürnberger
handgreifliche Variante
Einsätze „entsetzt“. Eine
wird aber in Nürnberg
derartige Kontrolle unter Nürnberger Polizeidirektor Kimmelzwinger: 100 Schulflüchter gefaßt
nicht praktiziert.
dem Vorwand der PrävenEs muß ja auch nicht immer die Polizei
tion kommt für ihn einem Orwellschen Sonderschüler Nürnbergs sind als DauerAlptraum nahe. Geriete sein Kind „in schwänzer erfaßt. Doch hinter diesen sein, die chronische Absentisten einfängt.
diese Maschinerie“, würde er wahrschein- vergleichsweise wenigen Fällen steckt fast An der Nürnberger Ludwig-Uhland-Schulich „bis vors Bundesverfassungsgericht immer ein gravierendes soziales Problem: le übernimmt das eine festangestellte Soziehen“, meint er aufgebracht.
Mobbing der Klassenkameraden, Streß mit zialpädagogin. Monika Paul, 52, führt alOb das Projekt mit dem Datenschutz- dem Lehrer, Versagensängste, Alkoholis- lerdings vor allem Beratungsgespräche mit
gesetz im Einklang steht, scheint Morgen- mus eines Elternteils, Angstpsychosen von Eltern und Kindern der Hauptschule, die
stern zumindest fragwürdig. Der Schwän- Müttern, die nicht allein zu Hause bleiben mit schulischen und häuslichen Problemen
zer wird für ein Schuljahr gespeichert; wird können, allgemeine Verwahrlosung – die zu ihr kommen können.
Sie kümmert sich aber auch per Hauser in dieser Zeit noch einmal gefaßt, ver- Liste ist schier endlos.
längert sich die Speicherung um ein weiManfred Schreiner, 53, Leiter des Amts besuch um Schwänzer. Bisher ist sie immer
teres Jahr.
für Volks- und Sonderschulen in Nürnberg, mit dem Schlingel im Schlepptau in der
In anderen Bundesländern schrecken die gab seine anfänglichen Vorbehalte gegen Schule erschienen. „Hätten alle Schulen
Schulbehörden vor der Drohung mit der die Polizei auf. Er sieht Schwänzen als eine eine eigene Sozialpädagogin“, davon ist
Polizei zurück. Der Hamburger Schulpsy- „Einstiegsdroge für kriminelles Verhalten“, ihr Schulleiter Ditmar Heinl, 52, überzeugt,
chologe Christian Böhm, 37, hält es für un- die bekämpft werden müsse. „Allerdings“, „wäre der Einsatz der Polizei bald überverantwortlich, eine unmittelbare Verbin- so Schreiner, „gibt es auch Fälle, in denen flüssig.“
Katharina Stegelmann
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Werbeseite
Institutschef Reemtsma in der Hamburger Wehrmachtsausstellung: „Immer wieder Diskussionen um Details“
M. SCHWARTZ
S P I E G E L - G E S P R ÄC H
„Die Wucht der Bilder“
Der Sozialwissenschaftler Jan Philipp Reemtsma über die Gründe für das Publikumsinteresse
an der Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“,
über produktive Mißverständnisse und die Beweiskraft von Fotos für die Geschichtsschreibung
ren startete Ihr kleines, bis dahin nicht sonderlich bekanntes Institut für Sozialforschung …
Reemtsma: … der nicht fachkundigen Öffentlichkeit nicht sonderlich bekanntes
Institut …
SPIEGEL: … eine ambitionierte Ausstellung.
Sie ist mittlerweile von 860 000 Besuchern
in 32 Städten gesehen worden, sie wird
verklärt und verteufelt. Sind Sie vom Erfolg überwältigt worden – findet da eine
Enteignung durch Rezeption statt?
Reemtsma: Tatsächlich hat eine öffentliche
Aneignung stattgefunden, die nicht einmal
mit unseren ursprünglichen Intentionen
übereinstimmt.
SPIEGEL: Was wollten Sie ursprünglich?
Reemtsma: Die Ausstellung war Teil eines
wesentlich weiter gefaßten Projekts, zu dem
die Veröffentlichung einer Reihe von Forschungsarbeiten, Vortragsreihen und eine
weitere Ausstellung gehörten – ein Projekt,
das einen Blick auf die Geschichte der Destruktivität im 20. Jahrhundert warf. Die
* Mit Redakteuren Gerhard Spörl, Fritjof Meyer, Klaus
Wiegrefe in Reemtsmas Büro im Hamburger Institut für
Sozialforschung.
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ist. Sie ist aber nur eine Ausstellung über
drei Kriegsschauplätze – und über Kriegsverbrechen. Der falsche Name führt immer wieder zu dem Vorwurf, daß in der
Ausstellung nur ein bestimmter Aspekt der
Wehrmacht gezeigt wird – was stimmt,
aber als Vorwurf unsinnig ist.
SPIEGEL: Die Wehrmacht als aktiver Mittäter am Holocaust – das ist doch auch die
grundlegende These. Die Besucher reagieren also auf den Sinn der Ausstellung.
Reemtsma: Wenn sie sich mit dieser These
auseinandersetzen, ja. Die Wehrmacht ist
ein aktiver Teil der Massenmordpolitik
des Deutschen Reiches gewesen.
SPIEGEL: Das ist eigentlich
keine ganz neue Erkenntnis.
Wie erklären Sie sich die
große Resonanz?
Reemtsma: Damit, daß diese
These über einen Kreis von
Fachhistorikern hinaus eben
doch nicht so weit verbreitet
gewesen ist.
SPIEGEL: Neu ist, daß die
Ausstellung den Schuldvorwurf nicht auf die BefehlsReemtsma (l.) beim SPIEGEL-Gespräch*: „Falscher Name“
geber der Wehrmacht be-
Ausstellung „Vernichtungskrieg“ demonstrierte in diesem Rahmen eine Dimension
des Krieges, die ohne Präzedenz in der Moderne gewesen ist: die Vernichtung von
großen Teilen der Zivilbevölkerung eines
Landes als integraler Teil der Kriegsplanung. Darum der Titel „Vernichtungskrieg“.
Sehr schnell ist daraus „Wehrmachtsausstellung“ geworden, ein Sprachgebrauch,
der nicht mehr aus der Welt zu schaffen ist.
SPIEGEL: Sollte er denn?
Reemtsma: Er suggeriert, daß es eine Ausstellung über die Wehrmacht als solche –
mit allen ihren verschiedenen Facetten –
M. ZUCHT / DER SPIEGEL
SPIEGEL: Herr Reemtsma, vor über vier Jah-
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Deutschland
tate aus der Erinnerung wie: „Meine Mutter sagte damals: Sie tragen das Kleid der
Schande.“ Es geht den Besuchern darum
zu verstehen und zu beurteilen.
SPIEGEL: Für die Ausstellungsmacher waren die Texte ursprünglich viel wichtiger,
für die Besucher der Ausstellung aber von
Anfang an die Fotos, in die sie sich einfühlen können. Darin liegt eben das
Mißverständnis, das den Erfolg der Ausstellung begünstigt.
Reemtsma: „Einfühlen“ ist wohl kaum das
richtige Wort. Aber es stimmt: Museumspädagogisch Vorbelastete hatten uns gewarnt – zu textlastig, die Bilder zu klein, zu
wenig schockierende Effekte usw. Niemand
werde eine solche Ausstellung besuchen.
SPIEGEL: Wollten Sie denn schockieren?
Reemtsma: Informieren. Sonst wären wir
den Ratschlägen ja gefolgt, nach einem Jahr
hieß es: Die Ausstellung wirkt durch die
Wucht der Bilder – sie wurde zur „Fotoausstellung“.
SPIEGEL: Eine Umdeutung durch die Besucher.
Gegenteil, für die These vom Morden der
Wehrmacht.
Reemtsma: Es geht der Ausstellung an keiner Stelle darum zu belegen, die Verbrechen seien erfolgt, weil die Mannschaften
mordlüstern gewesen seien. Der Befehl belegt gerade, daß die Morde keine Folge irgendwelcher Eskalationen oder Exzesse
waren, sondern planmäßig erfolgt sind.
SPIEGEL: Warum werden die Gründe, die
zum Reichenau-Befehl führten, vernachlässigt? Warum die Verengung auf die Befehlsstruktur?
Reemtsma: Es gibt keinerlei Belege für Befehlsverweigerung oder -umgehung. Die
Befehle sind der Beleg dafür, daß die Wehrmacht als Organisation planmäßig und
nicht zufällig hier oder dort Verbrechen
durchgeführt hat.
SPIEGEL: Aus dem Reichenau-Befehl ergibt
sich nicht, daß er befolgt wurde.
Reemtsma: Das ergibt sich aus den Vollzugsberichten der unterstellten Divisionen
und den Berichten der mit der 6. Armee
vorrückenden Einsatzgruppe von der guten
Zusammenarbeit beim Judenmord.
SPIEGEL: In welchem Ausmaß barbarische Befehle
wie der von Reichenau ausgeführt wurden, ist aber entscheidend. Deshalb gibt es
ja auch soviel Wirbel um die
Ausstellung.
Reemtsma: Niemand kann
Ihnen den Grad der Beteiligung in Prozentzahlen angeben. Man weiß aufgrund
der bisherigen Forschung,
daß er höher war, als die offizielle Rhetorik bisher einDemonstration in München*: „Emotionen besonderer Art“ gestehen wollte – da war immer von Einzelfällen und
Reemtsma: Ja, aber gleichzeitig werden die Exzessen die Rede. Wie sehr diese RhetoTexte gelesen. Manche Besucher bleiben rik die öffentliche Wahrnehmung domistundenlang. Otto Graf Lambsdorff hat in niert hat, sehen wir an den Reaktionen auf
der Debatte im Bundestag, bei der er sich die Ausstellung.
deutlich von unserer Grundthese distan- SPIEGEL: Seit vier Jahren ist die Ausstelzierte, von seinem Besuch in München ge- lung unterwegs. Zumindest in ihren Ansprochen: von der Ernsthaftigkeit des Pu- fängen schien es so, daß die Organisatoren
blikums, von den vielen, die lange bleiben ihr Material selbst nicht hinreichend geund lesen. Die Ausstellung agitiert nicht.
prüft hatten.
SPIEGEL: Vielleicht werden die Besucher Reemtsma: Es ist immer wieder versucht
nicht agitiert, aber mit problematischen In- worden, einzelne Fotos zu bezweifeln und
formationen traktiert. Da ist zum Beispiel damit die ganze Ausstellung zu kritisieren.
der berühmte Befehl von Generalfeldmar- Ein Foto – das in vielen Publikationen zu
schall Reichenau vom 10. Oktober 1941, finden ist – haben wir aus der Ausstellung
der dazu auffordert, Juden und Russen als genommen, nachdem wir feststellen mußUntermenschen auszurotten. Offenkundig ten, daß, obwohl es in verschiedenen inhatten sich große Teile der Wehrmacht dem ternationalen Archiven mit fünf verschieVerbrechen entzogen und mit der Bevöl- denen Bildlegenden versehen ist, nur eine
kerung, selbst mit Partisanen fraternisiert. Quelle sicher nachweisbar ist: eine NSReichenau, der Oberbefehlshaber der 6. Propaganda-Broschüre. Ein anderes Foto
Armee, ruft die Mannschaften zur Ord- haben wir herausgenommen, das finnische
nung, weil sie nicht mordlüstern waren. Er Soldaten zeigte – Verbündete der Wehrwird in der Ausstellung zitiert – für das macht und unter ihrem Kommando, aber
eben keine Wehrmachtssoldaten. Bei anderen Fotos haben wir im Laufe der Zeit
* Gegendemonstration linker Gruppen gegen Neonazis
am 1. März 1997.
Orts- und Zeitangaben präzisieren können.
AP
schränkt, sondern auf die große Mehrheit
der Soldaten ausweitet.
Reemtsma: Verbrechen werden nicht nur
angeordnet, sondern auch begangen. Begangen haben die Verbrechen nicht alle
Soldaten. Von denen, die sie begangen haben, haben nicht alle das gern oder aus
Überzeugung getan. Viele schon.
SPIEGEL: Umstritten sind sowohl die Ausstellung als auch der Begleitband wegen
des Kollektivvorwurfs, der in Sätzen wie
diesem erhoben wird: Die „Mannschaftsgrade der Wehrmacht unterschieden sich
nicht mehr von der Mentalität der Himmler-Truppe“. Das wird mit Bezug auf das
Jahr 1941 behauptet.
Reemtsma: Nein, auf die zweite Hälfte des
Jahres 1942, nach dem Scheitern der Hoffnungen auf einen schnellen Sieg, nach einjähriger Gewöhnung an die Verbrechen.
SPIEGEL: Da werden doch Wehrmacht und
SS gleichgesetzt.
Reemtsma: Hier wird über einen bestimmten Zeitpunkt geredet und über die Beteiligten an den Verbrechen. Es wird keine
pauschale Aussage über die Wehrmacht getroffen – weder in dem zitierten Text noch
in der Ausstellung.
SPIEGEL: Sind Sie der Auffassung, daß unter
durchschnittlichen Landsern Mordlust und
Gefühlskälte wie bei den Einsatzgruppen
und Polizei-Bataillonen geherrscht haben?
Reemtsma: Es hat auch in den Einsatzgruppen und den Polizei-Bataillonen Menschen gegeben, die sich geweigert haben, an
den Mordaktionen teilzunehmen; geschehen ist ihnen übrigens nichts. Dort wie in
der Wehrmacht läßt sich aber feststellen,
daß es zur Durchführung von Mordaktionen nie an Freiwilligen gefehlt hat. Es hat
schließlich keine mentale Vorauswahl gegeben. Der Schriftsteller Dieter Wellershoff
beschreibt, wie er kurz davor war, in die SS
einzutreten. Sein Vater hat ihm dann abgeraten, und er ist zur Wehrmacht gegangen.
SPIEGEL: Das war normal, sich der SS zu
entziehen.
Reemtsma: Mir geht es darum, eine solche
Biographie ernst zu nehmen, auch das Moment des Zufälligen darin.
SPIEGEL: Das Problem der Ausstellung ist
die Verallgemeinerung. Wer den „täglichen
Rassismus der Mannschaften“ behauptet,
bewegt sich in der Nähe von Goldhagens
Generalthese – alles willige Vollstrecker.
Reemtsma: Nicht alle, aber eben sehr viele. Viel zu viele. Wer die Ausstellung besucht, urteilt übrigens in der Regel nicht so
undifferenziert, wie Sie unterstellen.
SPIEGEL: Läßt sich das belegen?
Reemtsma: Umfragen des Frankfurter Instituts für Sozialforschung zeigen das, Interviews, Eintragungen in die Gästebücher
zeigen das. Zwar wimmelt es da auch von
Stereotypen pro und contra, aber dann beginnen oft die Erzählungen: „Ich verstehe
jetzt meinen Vater besser, der Alpträume
hatte.“ Da finden Sie keine Mentalität der
Pauschalisierung – zuweilen allerdings Zi-
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Deutschland
Reemtsma: Nicht die Mitarbeiterinnen und
etwa Fotos aus dem galizischen Zloczów, Mitarbeiter sind akademische Außenseibei denen man nicht genau weiß, ob dar- ter, sondern das Institut ist akademischer
auf die vom sowjetischen NKWD Ermor- Außenseiter, weil es nicht staatlich finandeten gezeigt werden oder die von der ziert ist, sondern privat – was hierzulande
Wehrmacht ermordeten Juden.
bei manchen als Einwand gilt. In den USA
Reemtsma: Der Vorgang als solcher ist un- würde man sich totlachen über so was.
strittig. Es hat Morde des NKWD gegeben SPIEGEL: In Amerika werden auch Fotos
– die wurden zum Vorwand genommen, selbstverständlich zu historischen Zwecken
3000 Juden zu ermorden. Eines unserer Fo- herangezogen wie in der Wehrmachtsaustos zeigt Opfer des NKWD. Zwei weitere stellung. Die Frage ist nur: Wo ist die Grenzeigen von Deutschen Ermordete. Wir ha- ze zwischen Illustration, Beleg und Beweis?
ben noch drei weitere Fotos hinzugefügt.
Reemtsma: Das hängt vom VerwendungsSPIEGEL: Ärgern Sie sich, wenn Sie Kor- zweck ab. Die Ausstellung geht deduktiv
vor: die Bilder zeigen, wovon in den Texrekturen machen müssen?
Reemtsma: Wer mit Materialien solcher ten die Rede ist. Zu Beweiszwecken werArt arbeitet, weiß, daß es immer wieder zu den sie nicht herangezogen und müssen
Diskussionen um Details
kommen wird. Wir haben
von Anfang an um Hinweise, Ergänzungen, Korrekturen gebeten. Keine Ausstellung in diesem Land
dürfte jemals so genau beobachtet und kontrolliert
worden sein; aber nur in
unserem Falle haben Fehler, wie sie überall vorkommen können, oder eben oft
auch bloß aufgrund fragwürdiger Quellen vermutete Fehler ganze Zeitungsartikel zur Folge gehabt.
SPIEGEL: Der Dauerkonflikt
um die Fotos trägt zum Dauererfolg der Ausstellung bei.
Reemtsma: Nur mal gerechtigkeitshalber: Die 1991 gezeigte Ausstellung „Krieg
gegen die Sowjetunion“ hatte auf einem Foto Polizeiangehörige als Wehrmachtssoldaten ausgewiesen, die
ständige, 1996 umgearbeitete Ausstellung des Deutschen Bundestags „Fragen
an die deutsche Geschich- Mord an Zivilisten 1941*: „Masken der Pflicht“
te“ zeigt das Foto der Erschießungen im jugoslawischen Pan‡evo, das auch nicht, weil der Beweis aus den
das dem SPIEGEL einmal als Titelbild ge- schriftlichen Quellen geführt wird. Wo das
dient hat, unter der Rubrik „Krieg gegen möglich ist, sind die Fotos mit exakten Zeitdie SU“. Dasselbe Foto findet man in der und Ortsangaben versehen. Wo nicht, wird
„Topographie des Terrors“ mit richtiger eine für den Betrachter nachvollziehbare
Orts-, aber falscher Zeitangabe. Solche ein- ungefähre Zuordnung vollzogen. Fotos
zelnen Fehler werden nie als Einwand ge- ohne Orts- und Zeitangaben finden sich
gen die Seriosität des ganzen Unterneh- dort, wo sich auch keine Texte finden, nämmens ins Feld geführt. Aber bei unserer lich in der Installation des Eisernen KreuAusstellung sind die Emotionen eben von zes. Sie sind ein Beitrag zur Mentalitätsgebesonderer Art.
schichte. Es sind Fotos, die Landser geSPIEGEL: Dazu gehört vielleicht auch die be- macht haben: ihr Blick auf das Geschehen.
leidigte akademische Welt, deren Professo- SPIEGEL: Was kann man wirklich auf diesen
ren dicke, kluge Bücher verfassen und jetzt Bildern von Morden und Hinrichtungen an
mit Argwohn verfolgen, wie ein kleines In- Juden und Partisanen sehen, die zumeist
stitut mit akademischen Außenseitern …
deutsche Soldaten geknipst hatten und die
Reemtsma: … ebenso dicke und ebenso Ihr Institut in Archiven auftrieb?
kluge Bücher nicht zuletzt zur Rolle der Reemtsma: Sie können – mit Vorsicht – geWehrmacht schreibt …
wisse Rückschlüsse auf die Art der BeteiSPIEGEL: … aus bekannten Thesen einen
* Im serbischen Pan‡evo.
riesigen Ausstellungserfolg macht.
DHM
SPIEGEL: Es gibt mehr solcher Problemfälle,
52
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ligung oder der Nichtbeteiligung ziehen. Es
gibt die Fröhlichen, die Gleichgültig-Amüsierten, die Masken der Pflicht.
SPIEGEL: Damit befinden wir uns auf dem
Gebiet der Psychologie.
Reemtsma: Ist das ein Einwand? An einigen
Fotos fällt auf, daß eine Gruppe mißhandelter Juden wie auf einem Klassenfoto arrangiert ist. Auf einem anderen stellt sich
jemand neben einen Toten, einen Erhängten, einen Leichenberg – wie ein Urlauber
neben eine Sehenswürdigkeit.
SPIEGEL: Das läßt sich auch so interpretieren: Menschen versuchen Situationen, mit
denen sie innerlich nur partiell fertig werden, durch Positur zu bewältigen.
Reemtsma: Eine mögliche Interpretation.
Eine andere, die dem nicht widerspricht,
führt weiter: Normalerweise legen Gesellschaften sehr großen Wert darauf, die Zonen, in denen Gewalt untersagt ist, und die
Zonen, in denen Gewalt geboten oder erlaubt ist, scharf zu trennen. Deshalb liegt
Bedeutung darin, daß das Alltagsverhalten des Fotografierens einen solchen Platz
im Kriegs- und Mordgeschehen einnimmt.
Die Soldaten fotografieren sich gegenseitig
an Orten, an denen barbarische Taten stattfinden. Die Barbarei wird zum Objekt eines Alltagsmediums – ein Zeichen dafür,
daß die Grenzen zwischen verboten, geboten und erlaubt undeutlich werden und
partiell aufgehoben sind.
SPIEGEL: Was schließen Sie daraus?
Reemtsma: Einer der wichtigsten rhetorischen Topoi des NS-Regimes war, daß der
Krieg der eigentliche Zustand der Gesellschaft sei. Das Ziel des Krieges ist nicht
mehr der Frieden, sondern die Gesellschaft
braucht den fortwährenden Krieg, um nicht
zu denaturieren. Solche Fotos geben Hinweise darauf, woran zu sehen sein könnte,
wo und inwieweit Rhetorik und Verhaltensweisen des einzelnen korrespondierten.
SPIEGEL: Das sind ziemlich komplizierte
Rechtfertigungen für die umstrittene Methode der Ausstellung – eigentlich Anschlußüberlegungen, die sich auch wegen
der permanenten Auseinandersetzung um
die Ausstellung aufdrängen.
Reemtsma: Das sind keine Rechtfertigungen, es sind Hinweise, in welcher Weise
das in der Ausstellung präsentierte Material
intellektuell genutzt werden kann – wenn
man das denn möchte.
SPIEGEL: Das Institut hält sich zugute, daß
mit der Wehrmachtsausstellung das letzte
Tabu des Zweiten Weltkriegs gebrochen
worden ist. Ist es nicht eine Illusion zu glauben, daß es letzte Tabus gibt, die ein für
allemal zerstört werden können?
Reemtsma: Es war das vorläufig letzte und
wird demnächst das vorletzte gewesen sein.
Wichtig ist, daß über die Rolle der deutschen Wehrmacht nicht mehr so gesprochen
und geschrieben werden wird, wie das früher noch an vielen Orten getan worden ist.
SPIEGEL: Herr Reemtsma, wir danken Ihnen
für dieses Gespräch.
Werbeseite
Werbeseite
INVESTOREN
Absurdes Brandenburg: Die
Beschäftigten von BMW-RollsRoyce sollen nicht mit
privaten, sondern mit öffentlichen
Bussen zur Arbeit fahren.
D
ie Fahrgäste, allesamt beim Flugzeugturbinenhersteller BMW-RollsRoyce in Dahlewitz beschäftigt,
hatten wie jeden Morgen den Shuttle-Bus
bestiegen, der sie vom S-Bahnhof Mahlow
an ihren Arbeitsplatz südlich von Berlin
bringen sollte. Es war – so genau steht es
in den Akten – 7.03 Uhr, als mit der
„Durchsetzung des unmittelbaren Zwanges“ begonnen wurde.
Ein Fremder, der sich als Mitarbeiter des
brandenburgischen Landesamtes für Verkehr und Straßenbau auswies, enterte den
Bus und forderte die Insassen auf auszusteigen. Dann hallte vom Bahnsteig eine
Ansage „für alle Beschäftigten der Firma
BMW-Rolls-Royce“ herüber: „Bitte benutzen Sie den Linienbus der Linie 792.“
A. FRIESE
Sozialismus im
Speckgürtel
Busunternehmer Zoschke: „Wir sind mit der Fabrik mitgewachsen“
Die Fahrgäste, darunter einige Engländer, blieben sitzen; der Fahrer gab Gas. Da
sprang Polizeioberkommissar Müller, mit
fünf weiteren Beamten der „Sonderüberwachungsgruppe“ im Einsatz, vor den Bus,
den dann auch noch zwei Polizeiwagen
einkeilten, „um ein Wegfahren mit den
Fahrgästen im weiteren zu verhindern“.
Das erzwungene Ende der Dienstfahrt
ist Teil eines grotesken Bus-Krieges im
Speckgürtel von Berlin, wo der Staatssozialismus der DDR offenbar fließend in einen neuen übergegangen ist.
Dabei spielt in Dahlewitz eigentlich eine
Erfolgsgeschichte. Rund zwei Milliarden
Mark investierte BMW-Rolls-Royce in das
Werk, in dem Triebwerke für Flugzeuge
vom Typ Boeing 717 gebaut werden. Der
Standort, schwärmt das Potsdamer Wirtschaftsministerium, trage „maßgeblich“
zur Exportbilanz Brandenburgs bei. 1000
Beschäftigte, darunter Ingenieure aus 35
Ländern, haben inzwischen in der HighTech-Fabrik Arbeit. Aber auch die Unternehmer Peter und Monika Zoschke erlebten ihren persönlichen Aufschwung Ost.
Nachdem sie 1993 die Ausschreibung für
einen Shuttle-Service gewonnen hatten, erklärte ihnen ein Konzernmanager, wenn
alles klappe, „können Sie für uns bis zur
Rente fahren“. Längst sind es nicht mehr
wie am Anfang nur ein paar Manager, die
per Handy eine Limousine ordern, um
möglichst schnell zum nächsten Jet zu
kommen. So war denn auch bald die Kapazität von Taxen und Kleinbussen ausge-
Deutschland
reizt. Die Zoschkes investierten eine Million Mark, kauften luxuriöse Busse, ohne
Subventionen zu verlangen, und stellten
Fahrer an, um morgens und abends rund
800 Beschäftigte hin- und herzufahren.
„Wir sind mit der Fabrik mitgewachsen“,
sagt Monika Zoschke, 37, heute, und ihr
Ehemann Peter, 40, fügt hinzu: „Die konnten sich auf uns verlassen und wir uns auf
sie.“ Doch die Entwicklung war wohl zu
dynamisch für die zuständige Behörde und
das Personenbeförderungsgesetz von 1961.
Weil die Zoschkes nur „Genehmigungen
zur Durchführung von Gelegenheitsverkehren mit Mietwagen sowie mit Taxi“ und
eben nicht für einen relativ regelmäßigen
„Verkehr mit Kraftomnibussen (KOM)“ hatten, erklärte das brandenburgische Landesamt für Verkehr und Straßenbau den Shuttle für „illegalen, parallelen Linienverkehr“.
Die Behörde hatte einem anderen BusUnternehmer den Zuschlag für den Betrieb der „Ämterlinien“ erteilt. Daß dessen
vom Land subventionierte Busse länger
brauchen, nicht kurzfristig auf Abruf kommen und damit den Anforderungen nicht
gerecht werden, interessierte im Amt weniger. Die Zoschkes fuhren weiter, um den
Vertrag mit BMW-Rolls-Royce zu erfüllen.
Die Behörde antwortete mit diversen
Kontrollen, mit amtlichen Verfolgungsfahrten und jenem Polizeieinsatz, der Monika Zoschke an billigste Krimi-Klischees
erinnert: „Die kamen an, als hätten wir
Rauschgift in den Bussen.“
Dabei hatte das um juristischen Rat gebetene Innenministerium noch gewarnt. Es
sei fraglich, ob „den Fahrgästen der Einstieg verwehrt werden darf“. Doch die Beamten im Haus des Verkehrsministers
Hartmut Meyer (SPD) scherten sich ebensowenig um die Bedenken wie um ein
wachstumsförderndes Klima im Lande.
Als gäbe es für das Land mit fast 19 Prozent Arbeitslosen Investoren in Hülle und
Fülle, forderte Abteilungsleiter Ulrich
Mehlmann in einen Brief an die Geschäftsführung, die BMW-Rolls-Royce-Manager sollten ihre Mitarbeiter gefälligst
dazu bringen, ab sofort mit dem Linienbus
792 zu fahren. In dem dreiseitigen Schreiben findet sich auch die unverhohlene Drohung mit einer „möglichen Ruf- und
Imageschädigung“. Bei weiteren Verstößen
wäre „die Nennung des Unternehmens
BMW-Rolls-Royce als eigentlicher Urheber
der Auseinandersetzung unvermeidbar“.
Brandenburgs Wirtschaftsminister Burkhard Dreher schwant indes, daß der BusKrieg wohl eher dem eigenen Land als dem
Konzern Imageverlust einbringen könnte.
Mündlich wie schriftlich forderte er vom
Kabinettskollegen eine friedliche und vor
allem baldige Lösung des Konflikts.
Die deutsch-britischen Manager lassen
die Untiefen des brandenburgischen Nah-
Flugzeugturbinen-Werk in Dahlewitz
„Mögliche Ruf- und Imageschädigung“
verkehrs indes unbeeindruckt. Sie stehen
zu ihrem Vertrag mit den Zoschkes, deren
Flexibilität mache sie „rundum zufrieden“.
Die Zoschkes fahren also immer noch
und müssen erleben, daß neun Jahre nach
dem Untergang der DDR im Reich des
„IM Sekretär“ die Methoden von StasiChef Erich Mielke noch immer Anwendung finden. Mal folgt ihnen ein Wagen
des Landesamtes (Tonbandprotokoll:
„16.20 Uhr: Wir folgen dem KOM“), mal
wird ihr Bus einfach eingekeilt. Mitunter
baut sich sogar ein Späher des Verkehrsministers Meyer mit einer Kamera in
schönster Stasi-Manier demonstrativ vor
einem Shuttle-Bus auf und fotografiert den
„illegalen Verkehr“.
Stefan Berg
Deutschland
Für immer stumm
Aussagen der Opfer sind oft einziger Beweis für Greueltaten
der Serben in Bosnien. Noch ehe die Täter angeklagt
werden, droht den traumatisierten Flüchtlingen die Abschiebung.
N
Fast 200 000 Menschen aller Volksgrupachts verläßt Behija, 38, regelmäßig
das Schlafzimmer ihrer Wohnung pen waren während des Krieges in Bosniim Hamburger Stadtteil Bramfeld. en-Herzegowina in Lagern interniert. Die
Sie kann es nicht ertragen, wenn sich ihr meisten auf serbischer Seite. 40 Prozent
Ehemann Sinad Osmanoviƒ*, 42, in Alp- der Verschleppten waren Frauen. Mindeträumen windet und schreit: „Nicht, bitte stens 20 000, so schätzt der Verband der
nicht schon wieder.“ Im Schlaf sieht Os- ehemaligen Lagerhäftlinge in Bosnien-Hermanoviƒ, wie er sich am Boden krümmt, zegowina, sollen vergewaltigt worden sein.
um ihn herum ein Dutzend
Männer mit schweren Stiefeln,
die über Stunden auf sein
blutendes Gesicht und seinen
Körper eintreten. Die Bilder
quälen ihn so lange, bis er sich
nichts mehr wünscht als den
Tod: „Wo ist der größte, der
brutalste Stiefel, der mir den
letzten, tödlichen Schlag versetzen kann?“
Osmanoviƒ gehört zu den
Überlebenden von Manja‡a,
dem neben Omarska berüchtigtsten Folterlager während
des Krieges in Bosnien. Von
den rund 8000 Muslimen und
Kroaten, die etwa 30 Kilometer
von Banja Luka entfernt eingesperrt wurden, starben nach
Schätzungen der Gesellschaft
für bedrohte Völker rund 4000
Menschen an Mißhandlungen,
sind verhungert – oder wurden
kaltblütig ermordet.
Die muslimische Köchin Enisa, 40, und ihre Töchter Jasminka, 13, und Merima, 18, aus
einem bosnischen Dorf bei Ko- Massengrab in Bosnien: „Um jeden Beweis froh, der erhalten bleibt“
zarac waren im Lager Trnopolje interniert. In einer ehemaligen Schule Insgesamt starben oder verschwanden fast fürchten Kritiker, könne die Opfer für imhausten dort 30 Frauen auf 15 Quadratme- 40 000 Menschen.
mer stumm und damit als Zeugen wertlos
tern. Sie schliefen auf blankem Beton. Zu
Jetzt wiederholte sich die Geschichte machen.
essen gab es einmal täglich eine dünne der Barbarei – im Kosovo. Die Kfor-TrupVon den rund 75 000 bosnischen FlüchtSuppe mit einem Stückchen Brot. Jede pen fanden nach Kriegsende weit über lingen in Deutschland, die noch nicht wieNacht kamen die Folterer in die Zimmer hundert Massengräber. Und wieder gab es der in ihre Heimat zurückgekehrt sind, waund holten sich ihre Opfer. Sie vergewal- Berichte von Lagern und Folterungen. Die ren etwa 830 in serbischen Lagern intertigten die Frauen, die Männer wurden bis Zeugenaussagen der Flüchtlinge und niert. Viele von ihnen wären heute bereit,
zur Ohnmacht geprügelt. „Wir hörten das Überlebenden decken sich vielfach mit als Zeugen beim Bundeskriminalamt oder
Geheule, das Gejammere, das Geröchel den Erfahrungen, die ihre bosnischen vor dem Haager Internationalen Kriegsund Flehen der Verletzten und fürchteten Landsleute vor sieben Jahren machen verbrechertribunal gegen ihre Peiniger
jede Minute um unser Leben“, sagt Enisa, mußten.
auszusagen – für die Zusage eines Bleibedie heute mit ihrem Ehemann und den KinAuch jetzt hoffen die Opfer auf Sühne rechts in der Bundesrepublik.
dern ebenfalls in einem Vorort von Ham- und Gerechtigkeit durch das KriegsverDoch darauf wollen sich die Innenminiburg wohnt. 3000 von 10 000 Menschen brechertribunal in Den Haag. Experten si- ster auf keinen Fall einlassen. Sie fürchten
überlebten das Lager Trnopolje nicht.
chern die Spuren, zu Tausenden werden eine Schwemme unerbetener ZeugenausOpfer befragt. Deren Aussagen sind oft sagen ausreiseunwilliger Bosnier und beeinziger Beweis für die an ihnen verüb- harren auf der bisherigen Regelung: Die
* Alle Namen zum Schutz der Betroffenen von der
ten Kriegsverbrechen. Und sie allein sind begehrte Aufenthaltsbefugnis sollen auch
Redaktion geändert.
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GAMMA / STUDIO X
KRIEGSVERBRECHEN
es, die auch die Täter, die längst wieder in
Serbien leben, identifizieren können.
Doch die Erfahrungen bei der Aufarbeitung der Greueltaten in Bosnien lassen
zweifeln, ob der Aufwand auch zum Ziel
führt. Nur 25 der rund 70 vom Internationalen Gerichtshof in Den Haag gesuchten
mutmaßlichen Täter sind in Gewahrsam,
lediglich 8 wurden bislang verurteilt. In
Deutschland, wo bei der Generalbundesanwaltschaft in Karlsruhe derzeit rund 50
Verfahren wegen Völkermordes im ehemaligen Jugoslawien anhängig sind, mußten sich bislang nur 4 Männer vor Gericht
verantworten.
Dennoch sollen nun, und das ist eine der
Merkwürdigkeiten des geltenden Ausländerrechts, mögliche Zeugen dorthin
zurückgeschickt werden, wo sie gefoltert
wurden. Die Nähe zu ihren Peinigern, so
mindestens hundert Menschen erschossen
wurden. Er kann Angaben machen über
die als besonders grausame Schläger verrufenen Wachmänner „Fustar“, „Kole“,
„Banoviƒ“ und „Gnatoviƒ“.
Die Ermittler aus Den Haag waren bereits bei ihm und nahmen seine Aussagen
zu Protokoll, ebenso das BKA. Doch die
Verlängerung der Duldung des zweifachen
Familienvaters ist jedesmal wieder fraglich, da die Ermittlungen nur langsam vorankommen.
Daß nicht der Inhalt der Aussage, sondern der Stand des Verfahrens über den
Schutz des Zeugen entscheidet, hält der
Rechtsreferent des Ausländerbeauftragten
in Hamburg, Rainer Albrecht, für „absolut
unakzeptabel“. Ein „potentieller Zeuge“
könne nicht schlechter sein als ein vor Gericht geladener.
FOTOS: R. JANKE / ARGUS
in Zukunft nur diejenigen Personen erhalten, die vom Internationalen Gerichtshof
im Rahmen eines Kriegsverbrecherprozesses oder bei der Generalbundesanwaltschaft in einem Ermittlungsverfahren als
Zeugen geladen sind.
„Wir greifen nicht auf Vorrat ins Ausländerrecht ein“, sagt Bundesanwalt Rainer Griesbaum, der die Kriegsverbrecher
Du∆an Tadiƒ, 43, und Nikola Jorgiƒ, 52, angeklagt hat. Der Besitz von Informationen
dürfe ausländerrechtlich nicht zum Vorteil
werden, sonst könne sich das Gericht „vor
Zeugenaussagen kaum retten“.
Allerdings sind viele Verfahren erst durch
Aussagen von Flüchtlingen im deutschen
Exil in Gang gekommen. Im Fall Tadiƒ hatte ein Hamburger Jurist in der Hansestadt
auf eigene Faust bei Bosniern Berichte über
Mißhandlungen in den Lagern gesammelt.
Opfer Osmanoviƒ, Enisa, Kariƒ: „Wir fürchteten jede Minute um unser Leben“
Er erstattete Anzeige, als der ehemalige
Gastwirt und Karatelehrer Tadiƒ, der am
serbischen Überfall auf das muslimische
Dorf Jaskici beteiligt war und im Lager
Omarska wehrlose Gefangene mißhandelte und ermordete, von Augenzeugen in
München auf der Straße erkannt wurde.
Setzen sich die Innenminister, die verstärkt auf die Rückkehr auch aussagebereiter Flüchtlinge setzen, mit ihrer harten
Linie durch, sind solche Zeugen für die Gerichte bald verloren. Viele der befristeten
Aufenthaltsbefugnisse und Duldungen laufen in diesen Wochen aus.
Der ehemalige Buchhalter der Bahn in
Prijedor, Emir Kariƒ, 43, ein schmächtiger
Mann mit Sommersprossen, war im Lager
Keraterm interniert, als eines Nachts im
Juli 1992 unmittelbar neben seiner Zelle
Albrecht fordert für die Aussagewilligen
und ihre Familienangehörigen, bundesweit
etwa 4000 Menschen, ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht, wie es in anderen Ländern
der Europäischen Union selbstverständlich
sei. Traumatisierte Flüchtlinge zur Rückkehr in ihre auch heute noch von Serben
dominierte Heimat zu zwingen, hält der
Jurist für einen „Bruch der Europäischen
Menschenrechtskonvention“, wonach „niemand unmenschlicher Behandlung unterworfen werden“ darf.
Als „rechtlich fragwürdig“ im Sinne der
Genfer Flüchtlingskonvention werten auch
der Asylrechtsexperte Hubert Heinhold
und Mitarbeiter des Münchner Beratungszentrums für Folteropfer die zwangsweise
Rückführung der ehemals Internierten.
Kirchliche Gruppen wie Pax Christi, die
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Evangelische Ausländerarbeit und der
Ökumenische Arbeitskreis Schwabing forderten in einem offenen Brief an den
bayerischen Innenminister Günther Beckstein (CSU) bereits ein Bleiberecht für die
280 in Bayern lebenden Ex-Häftlinge aus
dem früheren Jugoslawien ein.
Der Hamburger Neurologe und Psychiater Hans Ramm betreut mehr als die
Hälfte der 35 in Hamburg lebenden ehemaligen Lagerinsassen. Zu seinen Patienten
zählen seit Jahren Opfer deutscher Konzentrationslager und der DDR-Justiz. Sie
alle leiden – auch wenn die schrecklichen
Erlebnisse schon viele Jahre zurückliegen
– unter ähnlichen Symptomen: Schlafstörungen, Panikattacken und unkontrollierte Aggressionsausbrüche.
Ramm attestiert den Betroffenen ein
„Angstsyndrom“ und „erhebliche Depressionen“. Keinesfalls könnten
die Bosnier derzeit in ihre Heimat zurückkehren, die heute
von Serben kontrolliert wird.
Die Hamburger Psychiaterin
Edelgard Müller bescheinigt
dem Elektrotechniker Osman
Turkoviƒ, 42, aus Modri‡a, der
dort zwei Monate im Lager gepeinigt wurde, eine Abschiebung würde gegenwärtig seine
„bestehende Suizidialität verstärken und möglicherweise
eine entsprechende Kurzschlußreaktion bewirken“.
Die Leidensgeschichten vieler ehemaliger Lagerhäftlinge
sind in Sarajevo in einem Archiv dokumentiert. Doch bislang wurden nach Auskunft des
Präsidenten der Interessengemeinschaft, Irfan Ajanoviƒ,
nicht einmal 600 der einstigen
Internierten als Zeugen für
Den Haag bestellt.
Der Gerichtshof ist mit der
Vielzahl der Verbrechen völlig
überfordert. Er verfügt gerade
mal über drei Ermittlungskammern und 15 Richter. Die juristische Aufarbeitung der jugoslawischen
Kriegsverbrechen kann noch Jahrzehnte
dauern – und einziger Beweis werden stets
Zeugenaussagen sein.
Im öffentlichen Gerichtssaal von Den
Haag Auge in Auge seinem Peiniger gegenüberzutreten, erfordert mitunter erheblichen Mut. „Da bin ich um jeden Beweis
froh, der mir erhalten bleibt“, kritisiert ein
Staatsanwalt die rigide Rückführungspraxis in Deutschland.
Auch der Bosnien-Beauftragte der Bundesregierung, Hans Koschnick, der selbst
in Mostar zwischen die Fronten geraten und mit dem Tod bedroht worden
war, empfiehlt dringend einen verbesserten Zeugenschutz für die Opfer: „Wer in
Den Haag aussagt, ist zu Hause nicht
mehr sicher.“
Susanne Koelbl
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Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Gesellschaft
Szene
TRENDS
Gepflegter
Kurzhaarschnitt
G. LEFKOWITZ
W
Ashby, Fashion-Magazin „Dazed & Confused“
TRENDS
Geoutete Dachse
Der britische Designer David Elliott, 20,
über seine Erfindung – einen elektronischen Lockruf für Homosexuelle
SPIEGEL: Herr Elliott, dank Ihnen gibt es
neuerdings den „Gaydar“, einen batteriebetriebenen Apparat, der im Umkreis
von acht Metern diskret vibriert, wenn
er einen anderen Träger registriert. Wie kamen Sie auf
die Idee, Homosexuellen ein
solches Gerät zur Partnersuche anzudienen?
Elliott: Ich war gerade dabei,
eine vibrierende Türklingel
für Gehörlose zu entwickeln.
Aber dann klagten mir zwei
schwule Freunde ihr Leid,
bei der Partnersuche immer
auf dieselben Szenelokale
angewiesen zu sein. Und ich Elliott
dachte, denen kann ganz
leicht geholfen werden mit einem solchen elektronischen Erkennungsapparat.
SPIEGEL: Da haben Sie Ihre Erfindung
einfach umgewidmet?
er glaubt, die Sache mit den Achselhaaren sei
jeder Frau Privatangelegenheit, kennt die
Amerikaner nicht. Deren Lieblingsschauspielerin
Julia Roberts löste eine stürmische Diskussion aus,
als sie bei ihrer letzten Filmpremiere nicht vollendet ausrasiert im ärmellosen Kleid erschien. Chrissy Iley, Kolumnistin der „Sunday Times“, verfolgte
den Meinungsstreit und entdeckte statt Nachlässigkeit einen
Trend. Als Urheberin ermittelte
sie die in Los Angeles lebende
Schauspielerin Louise Ashby, 27,
die das Rasieren ein paar Tage
vergaß und feststellte: „Kurzes
Achselhaar ist sexy.“ Die Redakteure des Fashion-Magazins
„Dazed & Confused“ reagierten
sofort. In der neuesten Ausgabe hebt eine Schöne die Arme
und offenbart einen gepflegten Kurzhaarschnitt. Kolumnistin
Iley weiß, was los ist: „Amerikas
Frauen rebellieren gegen die
Unterdrückung der Natur.“
Elliott: Ja. Ich war inspiriert von der
Idee, daß Treffen von Schwulen in
irgendwelchen Szene-Darkrooms
dank dieses Geräts bald Vergangenheit
sind.
SPIEGEL: Und wird es angenommen?
Elliott: Beim britischen Erfinderclub
sind immerhin schon 5000 Bestellungen
eingegangen. Obwohl der „Gaydar“ erst
im August auf den Markt kommt.
SPIEGEL: In der Londoner Szene kursiert
das Gerücht, bei ersten Versuchen habe
Ihr Transmitter vor allem
Dachse angelockt.
Elliott: Das stimmt sogar,
und es war sehr komisch.
Wir machten mit dem
Gerät, das in der ersten
Phase auf Schallsignale
reagierte, Freiversuche
im Wald und konnten beobachten, daß Eichhörnchen und Dachse darauf
reagierten.
SPIEGEL: Nicht ganz im Sinne des Erfinders. Was haben Sie verändert?
Elliott: Auf elektronische Signale umgerüstet. Die können Dachse nicht
wahrnehmen.
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Pumps von Couv-Bonnaire
SCHUHE
Galopp auf Stöckeln
A
uch wenn Schuhfetischisten es
nicht wahrhaben wollen: Stöckel
tun beim Laufen weh, weil das Körpergewicht der Trägerin auf den vorderen
Ballen verlagert wird. Einen eleganten
Lösungsversuch dieser Absatzprobleme
bei Pumps probierte die französische
Designerin Stéphane Couv-Bonnaire.
Inspiriert vom balancierten Galopp der
scheinbar vorn überladenen Giraffe,
teilte sie den Absatz in zwei Hälften
und verdoppelte damit dessen Aufsatzfläche. In diesen High Heels können
Frauen endlich die Flucht ergreifen,
ohne sich den Fuß zu verstauchen.
61
Gesellschaft
Warnschild in Bönningstedt, Dorfpolizist Wiebling, Autofan R.: Die Angst hat aus lauter netten Leuten lauter mißtrauische Aufpasser
K R I M I N A L I TÄT
„Wir gucken genau hin“
Amerikanische Verhältnisse in der deutschen Provinz:
In einem schleswig-holsteinischen Dorf wachen die Nachbarn. Verdächtige
werden sofort der Polizei gemeldet. Von Bruno Schrep
W
er ist eigentlich eine verdächtige
Person? – Das sei doch ganz
einfach, erklärt der freundliche
Herr aus dem Haus Nummer 4. „Verdächtig ist jeder, der hier nicht hingehört. Der
trotzdem hier rumschleicht, die Straße
hoch, die Straße wieder runter. Der nicht
erklären kann, was er hier will.“
Herr R. wohnt in einer netten, kleinen
Straße am Rande des netten, kleinen Dörfchens Bönningstedt in Schleswig-Holstein.
Eine idyllische Wohngegend: Es riecht nach
frisch gemähtem Gras von den Wiesen
ringsum, in den alten Bäumen nisten Vögel,
die im angrenzenden Hamburg längst nicht
mehr vorkommen. Manchmal, in der Dämmerung, wagen sich sogar Rehe bis in die
Gärten der letzten Häuser und knabbern
die Stiefmütterchen an.
Damit andere Eindringlinge fernbleiben,
hat Herr R. ein massives Aluminiumschild
montiert, mit Reflexfolie, damit es auch
nachts zu sehen ist: ein symbolisches
weißes Auge auf blauem Grund, mit großer
schwarzer Pupille. Dazu die Inschrift:
„Hier wacht das Auge des Nachbarn. Ver62
dächtige Personen werden sofort der Polizei gemeldet.“
Die Warntafel hängte Herr R. an ein öffentliches Halteverbotsschild, ein bißchen
illegal. „Hätte ich gefragt, hätte ich bestimmt keine Erlaubnis bekommen“, vermutet er. „Also habe ich nicht gefragt.“
Nicht den Bönningstedter Dorfsheriff,
den Oberkommissar Holger Wiebling, der
sich im Garten hinter der Polizeistation
eine große Spielzeugeisenbahn mit vielen
Häuschen und Figürchen aufgebaut hat.
Auch nicht den ehrenamtlichen Bürgermeister, einen Genossen, der im Hauptberuf dem Altersheim vorsteht. Noch nicht
einmal die Nachbarn – das war wohl auch
nicht nötig.
Herr R. ist heimlicher Chef der netten,
kleinen Straße, in der noch viele andere
freundliche Leute wohnen: gute Nachbarn, die sich alle grüßen, sich beim
Vornamen rufen, sich gegenseitig helfen;
ordentliche Deutsche, die ihre Häuser
und Gärten auf Zack halten und
beim Schreddern und Rasenmähen die
vorgeschriebene Mittagsruhe nicht stören.
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Die meisten finden das Schild von Herrn
R. ganz prima. Seit es hängt, sind sie viel
wachsamer als früher.
„Wir spitzen alle die Ohren“, versichert
der Apotheker H. aus Nummer 2, der neulich einen „dünnen, blassen Jüngling, wahrscheinlich süchtig“, aus seinem üppig
blühenden Blumengarten verscheuchte.
„Wir gucken ganz genau hin“, schwört
auch der pensionierte Ingenieur Z. von
schräg gegenüber, der nach 32 Jahren bei
Blohm + Voss und Herzproblemen noch
rüstig genug ist, sich auffällige Fremdlinge
auf der Straße vorzuknöpfen: „Suchen Sie
was Bestimmtes?“
„Ich sehe mehr als andere“, behauptet
Rentner S. aus der Nummer 6, der bei der
Hamburger Wirtschaftsbehörde die Pachthöfe der Hansestadt verwaltete. Seit seiner
Pensionierung unternimmt der ehemalige
Landwirt, der aus Ostpreußen stammt, täglich mehrere Rundgänge. Fällt ihm Ungewöhnliches auf, fackelt er nicht lange.
„Verdächtige Personen werden sofort der
Polizei gemeldet.“
gemacht, die Fremden schnell unterstellen, sie wollten ihnen etwas wegnehmen
Frau S. sitzt auf einem Vorposten: Sie
wohnt im ersten Haus rechts. Kommt ihr
etwas komisch vor, versteckt sie sich hinter der Hecke ihres Gartens, um ungestört
beobachten zu können.
Sie fürchtet, daß Bösewichte in ihr kleines Reich eindringen, die jahrelang gesammelten und gehegten Gartenzwerge
demolieren, die Scheiben ihres kleinen
Hauses einschlagen und ihre Wertsachen
stehlen. Um Gauner abzuschrecken, hat
Frau S. die Fensterbänke ihrer Wohnung
von innen mit Vasen und Töpfen zugestellt,
die beim Runterfallen richtig poltern. Bisher hat es allerdings noch nie gescheppert
– eine Ausnahme.
Fast in jedes zweite Haus wurde zumindest versucht einzubrechen, bei mehreren
Anwesen hatten die Diebe Erfolg. Die Bewohner fühlen sich bedroht. Viele stammen aus Hamburg, haben es weit gebracht,
sind Ärzte, Apotheker, selbständige Kaufleute oder leitende Angestellte.
Als sie in den siebziger Jahren in Bönningstedt ihre Einfamilienhäuser bauten,
mitten auf freiem Feld, glaubten sie,
den Plagen der Großstadt für immer
entkommen zu sein – dem Lärm, dem
Verkehr, vor allem der Kriminalität. Und
jetzt?
Entdeckt Frau S. in der Sackgasse ein
fremdes Auto, notiert sie sich das Kennzeichen und meldet den Nachbarn telefonisch die Nummer weiter. Die wählen
dann 110.
„Verdächtige Personen werden sofort der
Polizei gemeldet.“
„Dreimal wurden wir heimgesucht“,
klagt die blonde Frau K. aus dem moder-
nen Haus im Friesenstil, „dreimal“. Die
Freude über das tolle Grundstück mit
dem riesigen Garten sei in Verbitterung
umgeschlagen. Nach dem letzten Einbruch
habe die Versicherung den Einbau einer
Alarmanlage verlangt, Kostenpunkt: 12 000
Mark.
Am Küchentisch zählt Frau K. auf, was
in den letzten Jahren weggekommen ist:
die teure Fotoausrüstung, die neue Stereoanlage, der wertvolle Schmuck, den der
Ehemann aus Ägypten mitgebracht hat.
Richtig schlimm sei jedoch der Verlust unersetzbarer persönlicher Dinge. So hätten
die Diebe sogar eine Videokassette mit
drolligen Aufnahmen über den ersten Skikurs der beiden Kinder gestohlen.
„Bei uns waren sie auch“, berichtet die
Professorengattin N. aus der Nummer 10,
deutet von der halbgeöffneten Eingangstür
ins gediegen ausgestattete Hausinnere:
„Mehrfach ausgeräumt, während wir verreist waren.“
Und die Täter? „Gefaßt wurde nie jemand“, sagt Frau N., winkt ab. Und die Polizei? „Die sagte nur, da wären wohl wieder Albaner oder Rumänen unterwegs.“
Nach ein paar Monaten sei jeweils ein
Formschreiben von der Staatsanwaltschaft
gekommen: Verfahren eingestellt.
Seit jedoch die Anwohner besser aufpaßten, seit Telefonketten von Haus zu
Haus funktionierten und beim Sirenenklang einer Alarmanlage alle losstürmten,
passiere kaum noch was. Erst vor ein
paar Tagen hätten Nachbarn obskure Figuren vertrieben, die ums Haus herumschnüffelten. Und kürzlich habe nachts
die Frau von gegenüber aufgeregt angerufen, weil ein Auto mit auswärtigem
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FOTOS: R. JANKE / ARGUS
Nummernschild in der Einfahrt parkte. In
dem Wagen habe aber nur ein Liebespaar
geschmust.
Auch Zeitschriftenwerber,Vertreter oder
harmlose Passanten, die auf der öffentlichen Straße irgendwie Aufsehen erregen,
müssen mit plötzlichen Kontrollen rechnen. Zunächst kommen zwei oder drei Anwohner („Können wir Ihnen helfen?“),
dann der große Hund aus dem Haus Nummer 8, dann die Polizei. „Die Bürger dort
rufen einfach öfter an als andere“, bestätigt
ein Beamter.
„Verdächtige Personen werden sofort der
Polizei gemeldet.“
Die Angst hat aus lauter netten Leuten
lauter mißtrauische Aufpasser gemacht, die
Fremden schnell unterstellen, sie wollten
ihnen etwas wegnehmen. Die meisten haben viel zu verlieren.
Der freundliche Herr R., der das Warnschild installierte, pflegt ein exklusives
Steckenpferd: Er kauft im Ausland alte
englische Sportwagen, baut sie wieder detailgetreu zusammen und fährt damit Oldtimer-Rennen. In seinen Schränken stapeln
sich Siegespokale und Trophäen, unter anderem von der „Rallye Maritim“ in Timmendorfer Strand und der „Eifel-Klassik“
auf dem Nürburgring.
Den dunkelgrünen Austin-Healey 100,
Baujahr 1954, hat er als Wrack auf einem
Hühnerhof bei Rugby in Großbritannien
aufgestöbert und in Einzelteilen nach Bönningstedt transportiert. Nach über 1400 Arbeitsstunden, in denen Herr R. neue Bleche
zusammenschweißte, die Ventile des Vierzylindermotors feilte und Teil um Teil des
Autos zusammenschraubte und polierte,
63
Gesellschaft
Nachbarschaftswächterin S., Nachbarn: Erst kommen die Anwohner, dann der große Hund, dann die Polizei
blinkt und glänzt der 45 Jahre alte Zweisitzer, als käme er gerade aus der
Fabrik.
Fünf solcher Karossen besitzt Herr R.,
eine nobler als die andere und zusammen
so wertvoll, daß keine Versicherung das Risiko übernehmen will. Bei einem Diebstahl
müßte er den Verlust selbst tragen.
Die Idee mit dem Schild brachte Herr
R., der mit Leichtmetall handelt, aus Bradenton (US-Staat Florida) mit. Am Rande
einer kleinen Siedlung entdeckte er die metallene Originalversion mit der Aufschrift
„Neighborhood Watch“, zu deutsch:
„Nachbarschaftswacht“ – das Symbol einer
typisch amerikanischen Bürgerbewegung.
Was hier noch als Rarität gilt, nur vereinzelt praktiziert wird, gehört in den USA
längst zum Alltag. Millionen Amerikaner
spielen in ihrer Freizeit Detektiv, jagen hinter echten oder vermuteten Gaunern her,
sind in großen und kleinen NeighborhoodWatch-Clubs organisiert. Sicherheit ist zur
Obsession geworden.
Vor allem in den Domizilen der Mittelständler, den Vororten und Kleinstädten,
den blitzsauberen „Smallvilles“, lauern
freiwillige Nachbarschaftswächter nahezu
überall: In vielen Straßen patrouillieren
teils bewaffnete Bürger, die quasi Polizeigewalt ausüben, die Fremde kontrollieren,
bei Verdacht festnehmen und notfalls auch
schießen. Die Botschaft ist eindeutig: Gut
ist nur, wer hierhergehört.
„Verdächtige Personen werden sofort der
Polizei gemeldet.“
Die andere Seite so inniger Nachbarschaft ist auch in Bönningstedt zu spüren:
Weil jeder den anderen genau kennt,
schon am Motorengeräusch des Autos unterscheiden kann, bleibt kaum etwas geheim. Die Nachbarn kriegen mit, wer krank
ist, in welcher Ehe es kriselt, ob jemand
um seine Existenz bangen muß. Wer nicht
der Norm entspricht, gerät schnell ins
Abseits.
64
„Seit dem Tod meines Mannes bin ich
hier außen vor“, behauptet die Arztwitwe
R. aus Haus 14.
Einerseits vermißt Frau R. die engen
nachbarlichen Kontakte von früher. Andererseits ist ihr die funktionierende soziale
Kontrolle inzwischen lästig: Natürlich wissen die meisten in der Straße, daß die beiden Söhne noch nicht so reüssierten, wie
die Mutter sich das wünscht.
Natürlich kennen die Bewohner auch die
Geschichte von Herrn B. aus Nummer 11.
Onkel Willy, wie ihn jeder nennt, ist der
einzige echte Bönningstedter in der kleinen
Straße. Einst gehörte dem Bauernsohn
sämtliches Land auf der rechten Straßenseite.Weil er kein Landwirt sein wollte, lieber ein Lebensmittelgeschäft in Hamburg
führte, verkaufte er nach und nach die einzelnen Grundstücke – zu Preisen, für die
ihm die Nachbarn bis heute dankbar sind.
Jetzt ist er 88, fährt noch immer Auto,
hat genug Geld – und findet, daß letztlich
alles vergeblich gewesen ist: die elende
Kriegszeit, der mühsame Wiederaufbau,
die erfolgreichen Jahre danach.
Wenn er über die Ursachen spricht, verliert er schnell die Fassung: 1944, als er in
Rußland kämpfen mußte, starb sein erster
Sohn durch Fliegerbomben. Rund 50 Jahre später ist der langersehnte Enkel, der
einzige Erbe, tödlich verunglückt: Der Junge wurde mit seinem Mofa, das er zum
15. Geburtstag bekommen hatte, auf einem
ungesicherten Bahnübergang von einem
Zug überfahren.
Die Nachbarn, die ihn damals zu trösten versuchten, empfindet Herr B. wie
eine große Familie. „Nur gute Freunde“,
versichert er, die unbedingt weiter zusammenhalten müßten. Die sich wehren
müßten gegen jeden Versuch, den Frieden
in der kleinen Straße zu stören. Deshalb
sei er auch zu „200 Prozent“ für das
Warnschild. Von außen, so die Bilanz
des 88jährigen, kann nur Verderben
kommen.
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„Verdächtige Personen werden sofort der
Polizei gemeldet.“
Einen sicheren Zufluchtsort suchte auch
Lehrerin B. aus Nummer 7. „Damit meine
Tochter nicht in Hamburg aufwachsen
muß“, begründet die alleinerziehende
Mutter den Umzug aus der Metropole.
Bönningstedt kam ihrer Utopie von einem
Leben ohne Gefahren und Anfechtungen
am nächsten.
Früher, vor 20 Jahren, suchte die Frau
nach riskanten Abenteuern. Da war es ihr
viel zu eng in Deutschland, in Europa, da
wollte sie weit, weit weg. Dreimal überquerte sie auf einer zwölf Meter langen
Segeljacht mit ein paar anderen Aussteigern den Ozean, hielt Sturmböen und Entbehrungen aus, gönnte sich eine Ahnung
von Freiheit. „Das war mein erstes Leben“,
sagt sie heute.
Im zweiten Leben hat sich Frau B. fest
unter Kontrolle. An die Segeltörns erinnern nur noch alte Fotos. Im Flur hängt
ein hölzernes Schild: „Frieden im Herzen
ist Sonnenschein im Haus.“ Unordnung
duldet die Lehrerin nur noch in ihrem
Arbeitszimmer. Wenn sie bei offenem
Fenster Arbeiten korrigiert, registriert sie
automatisch, ohne besonders darauf zu
achten, jede Veränderung. Unbekannte
Autos erkennt sie am „Rollgeräusch der
Räder“.
„Verdächtige Personen werden sofort der
Polizei gemeldet.“
Die 13jährige Tochter ist jedoch immer
weniger zu bändigen, ignoriert häufig die
mütterlichen Anordnungen, läßt sich
nicht einbinden in die abgeschlossene
Welt der netten, kleinen Straße. Das
Mädchen amüsiert sich über die Bürgerängste in der „Boomtown-Metropole
Bönningstedt“, spottet respektlos über
das „Bökaff“. Fremde, die bei den anderen Verdacht erregen, grüßt sie demonstrativ. Das Schild nennt sie „einfach bescheuert“.
™
LEGENDEN
Der mit dem
Mann tanzt
Robin Hood, der britische
Volksheld und Räuber
aus dem Sherwood Forest,
war schwul – das
behauptet ein Literaturprofessor.
RÖHNERT
J
Filmstar Flynn als Robin Hood (1938): Tunten unter Tannen?
Professor jedenfalls ist sicher: Aus den
frühesten Texten über Hood und seine Diebesbande – die Balladen entstanden zwischen 1450 und 1500 – lassen sich „durchaus die Werte einer schwulen Lebensgemeinschaft“ herauslesen.
Und werde da nicht, so fragt der Schriftdeuter nur noch rein rhetorisch, an einer
Stelle von einem handfesten Krach zwischen Robin und Little John, seinem
Lieblingskumpel, berichtet, in dem es genauso zugehe „wie bei einem richtigen
Ehepaar?“
Jungfer Marian, bislang als Robins Herzensdame identifiziert und in jedem Film
der gegengeschlechtliche Lichtblick, komme in den frühen Überlieferungen ohnehin
nicht vor. Erst im 16. Jahrhundert habe man
die Maid dazuerfunden, um
den Männer-Mythos nicht
zu schwul wirken zu lassen.
Aber nicht nur das sorgfältige Studium der Verse
brachte den Forscher aus
Wales mit seiner HomoThese weiter. Auch aus rein
praktisch-logistischen Gründen muß es, so glaubt er, zu
erfolgreichen Gay-Versuchen im Räuberlager gekommen sein:
Wer so lange in exklusiver Männerbündelei ohne Frauen zusammenlebt,
greife allein aus schierer
Sex-Not auf seinesgleichen
zurück. Zudem hat Knight
sich fachlichen Beistand ge- Autor Knight
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holt: Ein auf diesem speziellen Testosteron-Terrain bewanderter Kollege, Historiker seines Zeichens, hat ihm ausführlich von Piraten-Banden berichtet, bei
denen gleichgeschlechtliche Triebabfuhr
zum üblichen Deck-Ritual auf hoher See
gehörte.
Die Reaktionen auf die Enthüllungen
vom Homo-Hood waren im Mutterland
der Gentlemen, so der über das weltweite Echo erfreute Urheber, „gespalten“.
Neben herber Kritik habe er auch viel
Verständnis erfahren. Besonders mitfühlend sei man beim britischen Militärsender BFN gewesen. Der Interviewer
habe sich, ein Soldat unter Soldaten, ganz
gut in Robins Kungeleien mit den Kameraden hineinversetzen können.
Während die englischen
Schwulen-Aktivisten über
den erfreulichen Neuzugang für ihre Outing-Listen
jubeln, raufen sich Traditionalisten die Haare.
Mary Chamberlain, Geschäftsführerin der nationalen Robin-Hood-Gesellschaft, bezichtigt Stephen
Knight, „sich auf Kosten eines der beliebtesten britischen Volkshelden einen
Namen zu machen“.
Doch der Professor zeigt
sich wenig einsichtig. Er wird
sein Beweismaterial demnächst als Buch vermarkten.
Titelvorschlag: „Rosa Robin“.
Joachim Kronsbein
H. EWANS
ahrhundertelang stromerte der stramme Beau als Macho-Held durchs kollektive Bewußtsein seiner Landsleute
– ein leuchtendes Beispiel für mannhaften
Widerstand gegen staatliche Willkür und
Ungerechtigkeit.
Mittelalterliche Balladen besangen zuerst den Mut des unerschrockenen Robin
Hood, der mit einer wehrhaften Männerriege im finsteren Sherwood Forest reisenden Besserverdienern blitzschnell den
Geldbeutel raubte und die Beute mit den
hungernden Armen teilte.
Nur bei Frauen, so überlieferten es die
Quellen, war der rastlose Räuber mit dem
goldenen Herzen auffallend rücksichtsvoll
und ungewöhnlich schüchtern. Das hätte
den Briten zu denken geben sollen.
Ein Literaturprofessor aus Cardiff, der
die Engländer schon vor ein paar Jahren
mit der These schockierte, Hood sei Schotte, bringt die Insulaner und ihr Idol nun erneut in Schwulitäten.
Ohne Rücksicht auf sensible Nationalgefühle und pünktlich zur einsetzenden
Sommerflaute versetzte Stephen Knight
vorige Woche seinen Landsleuten einen
herben Schlag: Robin, der mittelalterliche Mustermann mit seiner Bruderschaft
von mildtätigen Wegelagerern, so behauptet der Gelehrte aus Wales keck, war
schwul.
Die verschworene Männergemeinschaft,
die mit Pfeil und Bogen zu ihren Beutezügen ausrückte, eine rosa Zelle von weibischen Weicheiern? Tunten unter Tannen?
Ein Weltbild kam ins Wanken. Tief und
fest bargen die Briten bislang ihren Macho-Robin im Herzen. Die kräftigsten Kerle aus Hollywoods Star-Club – von Errol
Flynn bis Kevin Costner – hatten den gerechtigkeitsliebenden Grünrock immer
wieder gern im Kino dargestellt: aufrecht,
königstreu und stockhetero. Und nun das.
Hatte etwa der schamlose US-Komiker
Mel Brooks recht, der seine gnadenlos alberne Hood-Parodie schon 1993 „Helden
in Strumpfhosen“ nannte und den großherzigen König der Diebe als effeminierten
Faun darstellte?
Ginge es nach Professor Knight, müßte
nun so manches Skript ganz neu geschrieben werden. Costner käme dann womöglich als „Der mit dem Mann tanzt“. Der
65
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Titel
„Pyramiden der Tiefsee“
Fortschritte in der Ortungstechnik haben einen Goldrausch im
Ozean ausgelöst. Moderne Schatzsucher durchkämmen
mit ihren Expeditionsschiffen die Meere – auf der Suche nach
legendenumwobenen Wracks, Ruhm und Reichtum.
A
ls die „Polar“ sachte auf die vorberechnete Position nahe der Kapverdeninsel Maio zuläuft, ist es wie
in jener Katastrophennacht vor 250 Jahren: Der Sturm pfeift, die Brecher lassen
das Expeditionsschiff übel rollen, eine starke Strömung macht es zum Spielball der
Natur. Das Riff, ein paar hundert Meter
entfernt, liegt knapp unter der Wasseroberfläche und ist kaum zu sehen. Die Besatzung läßt den Anker ausrauschen.
Von nun an wiederholt sich dreimal am
Tag dasselbe Ritual. Acht Männer lassen
sich in den Atlantik fallen, schwimmen zum
Riff und meißeln sich in den Stein – bis die
siebte Welle kommt. Jede siebte, eine Taucherweisheit, ist eine große Welle. Sie trägt
die Männer bis zu 30 Meter weit weg, dann
werden sie wie von Geisterhand wieder
zurückgesogen.
Später sitzen sie in einer der Kajüten
der „Polar“ zusammen und werten die
68
Dive Logs, die Protokolle der Tauchgänge,
aus. Was immer sie mit an Bord gebracht
haben, wird auf Detailkarten eingetragen
und im Computer registriert – das Puzzle
könnte ja auf die Spur führen.
Wo jetzt die „Polar“ ankert, sollte am 18.
April 1743 die „Princess Louisa“ Maio passieren. Der Segler der englischen Ostindienkompanie war 498 Registertonnen
schwer, hatte 99 Mann Besatzung und 30
Kanonen an Bord. Doch der hölzerne
Rumpf war offenbar den Grundseen hier
nicht gewachsen. Die „Louisa“ schlug leck,
um 20 Uhr ließ Kapitän John Pinson erstmals eine Kanone abfeuern, um Hilfe zu
rufen. Vorsichtig tastete sich das Schwesterschiff „Winchester“ heran.
Was dann mit der „Louisa“ passierte,
steht im Logbuch der „Winchester“: „Um
zwei Uhr feuerte sie zwei Kanonen ab. Um
halb drei schoß sie eine Kanone ab, und wir
sahen sie nahe den Felsen. Um vier Uhr
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morgens konnten wir die ,Louisa‘ nicht
mehr sehen.“ Im Beiboot versuchten die
„Winchester“-Matrosen, Überlebende vom
Riff zu retten, „aber wir erkannten, daß die
See so hoch und wellig war, daß wir nicht
weiterkommen konnten. Sie schwenkten
ihre Hüte, aber wir konnten nicht verstehen, was sie riefen“. Wenig später „waren
nur noch einige Balken zu sehen und kein
einziger Mann. Wir setzten die Segel, weil
wir nichts mehr retten konnten. Ich fürchte, es gibt keinen Überlebenden“.
Die „Princess Louisa“ war auf dem Weg
nach Bombay. Sie hatte unter anderem
Schießpulver geladen, Pistolen, Elefantenstoßzähne – und Silber. Viel Silber: 20 Kisten voll, 72846 Münzen genau, damals insgesamt 19 765 Pfund wert.
Heute liege der Wert bei mindestens 50
Dollar pro Münze, schätzt David Hebb, der
für das deutsch-portugiesische Schatztaucherkonsortium Arqueonautas das Schick-
Die Wissenschaftler sehen mit Grausen,
wie manche Schatztaucher unwiederbringliche Denkmäler der Tiefe auf der
Suche nach Gold, Silber und Edelsteinen
hemmungslos unterpflügen: „Es ist wie im
Wilden Westen: eine wilde Schießerei um
zwölf Uhr mittags, und nachher fragen alle,
wo war eigentlich der Sheriff“, sagt Entdecker Ballard.
Immer drängender versuchen deshalb
Denkmalschützer der Unesco, Wrackplünderern mit einem internationalen Abkommen das Handwerk zu legen, doch bislang
konnten sich die Nationen noch nicht einigen. Einen regelrechten „Goldrausch im
Ozean“ prognostiziert der kalifornische
FOTOS: MB ILLUMINATIONS (li.); P. CLYNE (M.); X. DESMIER / RAPHO / AG. FOCUS (r.)
OSSADA / NATIONAL GEOGRAPHIC / HILTI FOUNDATION
Mit Satellitenhilfe durchkämmen die Expeditionsschiffe der Schatzsucher den Meeresgrund, im Schlepp meist torpedoförmige
Maschinen des Computerzeitalters. Sie
können Wracks aufspüren, die noch bis vor
kurzem auf immer in lichtloser Tiefe verschollen schienen.
Sogenannte nukleare Resonanz-Magnetometer messen das natürliche Magnetfeld
der Erde und entdecken schon kleinste Anomalien. So registrieren sie das Eisen einer
Kanone, wo jedes menschliche Auge versagt. Sub-Bottom-Profiler schauen durch
Sandschichten hindurch, Side-Scan-Sonare
senden Fächer von Schallwellen auf den
Meeresgrund. Schnelle Computer errech-
Geborgene Schiffsladungen: Überall quoll Gold aus dem geborstenen Rumpf
sal der „Princess Louisa“ recherchiert
hat – bei insgesamt rund sieben Millionen
Mark.
Diverse Überbleibsel des Schiffes haben
die Arqueonautas-Leute schon geborgen.
„Ich wette eine Flasche Champagner“, sagt
der Brite Martin Woodward, Bergungsprofi und Berater von Arqueonautas, „daß wir
das Silber bald finden.“
Arqueonautas ist nur eine von vielleicht
20 großen und mehreren hundert kleinen
Firmen, die derzeit fieberhaft versuchen,
mit modernstem Suchgerät den Deckel zur
Schatztruhe Ozean zu öffnen.
„Wir sehen jetzt den Beginn des großen
Zeitalters der Untersee-Entdeckungen“,
sagt Peter Hess. Der US-Anwalt aus Delaware ist auf die oft hochvertrackten
Rechtshändel um versunkene Schiffe
spezialisiert. Endlich gebe es „die Technik, um Objekte überall auf der Welt zu
finden“.
* Gemälde von Rafael Monleón y
Torres (1873).
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Forscher Graham Hawkes: „Alles, was auf
den Meeren verlorenging, wird in den nächsten 25 bis 50 Jahren gefunden werden.“
Zehntausende Schiffe sanken in den letzten 2000 Jahren, sie liefen auf Riffe, wurden
zerschossen, Stürme zerfetzten ihr Rigg
oder sie flogen in die Luft, als ihre Pulverkammern explodierten: spanische Galeonen
und Galeassen, chinesische Dschunken, portugiesische Karacken, die Brigantinen der
Piraten, Goldtransporter der beiden Weltkriege, Ostindienfahrer aus ganz Europa.
Etwa 2000 vielleicht richtig lohnende
Ziele hat Carsten Standfuß, bedachtsamer
BRIDGEMAN ART LIBRARY
Bergungstaucher am
Wrack der Galeone
„San Diego“ (vor den Philippinen)
nen aus dem Echo einen Schattenriß, der
so ähnlich aussieht wie die Ultraschallbilder beim Internisten. „Die Technologie
bringt uns jetzt zu den Pyramiden der Tiefsee“, sagt Robert Ballard, der die „Titanic“ gefunden hat. Solch spektakuläre Entdeckungen beflügeln die Phantasie der
Geldgeber, ihrer Techniker und Taucher.
Ballard selbst hat schon mit einem atomgetriebenen Spionage-U-Boot der US-Marine die Handelswege der Phönizier und
Römer abgetaucht und kehrte begeistert
zurück: „Das Ding hat ein Sonar, für das es
sich zu sterben lohnt.“
Doch die Technik muß
bezahlt werden; vorn mitmischen können neben prominenten Forschern wie
Ballard nur noch professionelle Schatzsucher. Mit dem
Millionenkapital risikofreudiger Anleger im Rücken
machen sich weltweit operierende Aktiengesellschaften auf die Jagd nach allem,
was Profit verspricht –
mißtrauisch beäugt von Unterwasserarchäologen.
Historische Seeschlacht (1762)*: Lizenz zum Gelddrucken
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69
Titel
Wrackforscher aus der Gegend von Bremen, in seinem Computer. Andere geben
sich optimistischer: Allein von den 10 635
Schiffen der spanischen Silberflotte aus der
Zeit zwischen 1503 und 1660 „blieben rund
3000 vermißt“, schreibt die Hamburger
Finanzierungsgesellschaft Seabed Invest
und lockt so zögerliche Kapitalgeber in
ihre Boote.
Glaubt man alten Erzählungen, Legenden, aber auch vergilbten Dokumenten,
dann liegen da draußen tatsächlich Milliardenschätze. Allein fast die Hälfte der
spanischen Armada verschwand spurlos.
Ihr heutiger Wert ist nicht abzuschätzen.
Die holländische Ostindienkompanie verlor im Lauf ihrer Geschichte 250 Schiffe,
davon 150 mit wertvoller Fracht.
Rund um die Keys vor Florida werden
immer noch bei jedem Hurrikan Dublonen (Goldmünzen aus der Kolonialzeit) an
den Strand gespült. Eine Flotte spanischer
Galeonen verschwand hier in einem Sturm
des Jahres 1554. An Bord hatten die Schiffe wahrscheinlich Schätze, die heute Milliarden wert sein könnten.
Ein ganz neues Eldorado erschließt derzeit das Unternehmen Visa Gold Resources. Den kanadischen Schatzsuchern ist es
vor einem Jahr als erster Westfirma gelungen, von Kubas Máximo Líder Fidel Castro
eine Bergungslizenz zu bekommen.
Die Nordwestküste der Karibikinsel gilt
als einer der größten Schiffsfriedhöfe der
Welt. Kenner schätzen, daß hier etwa 400
Frachtsegler aus jener Zeit, in der die Mayas
versunkene schiffe
und ihre schätze
auf dem meeresgrund
„Wenn du einmal Gold
gefunden hast, träumst du
jede Nacht von Gold“
niedergemacht und ihre Schätze nach Europa geschafft wurden, auf Grund sanken.
Der tiefe Hafen von Havanna war damals die Drehscheibe der Neuen Welt.
Durch die Straße von Florida liefen die
meisten Gold- und Silbertransporte – ein
tückisches Revier, voller Untiefen, jedes
Jahr ab Spätsommer wieder von vernichtenden Wirbelstürmen aufgepeitscht.
Das Bernsteinzimmer der Tauchergemeinde aber, das ganz große Ding, liegt
vor der Ostküste von Sumatra: die „Flor de
la Mar“, ein portugiesisches Schiff, kommandiert von Alfonso de Albuquerque.
7 CENTRAL AMERICA
1857 sank der Raddampfer mit Münzen
und wohl 21 Tonnen Gold in einem Sturm
1,9 Milliarden Mark
17
Eine Auswahl teilweise geborgener Wracks
8 LA CAPITANA JESÚS MARÍA
1654 mit Gold und Silber auf dem Weg
von Callao, Peru, nach Panama gesunken
75 Millionen Mark
geschätzter heutiger Wert der Ladung
N
13
16
15
14
18
19
Raddampfer
Central America
Galeone
Atocha
12
7
1
5
2 3 4 6
Kapverdische
Inseln
11
Ilh
10
as
9
do
Barla
50 km
Ilh
1 16 SPANISCHE GALEONEN
1554 mit Juwelen, Gold- und Silberbarren untergegangen (2 bereits
geborgen)
3 Milliarden Mark
2 WRACKS VON KAP CATOCHE
1614 sanken 7 spanische
Schiffe
etwa 2 Milliarden Mark
3 SANTISIMA TRINIDAD
1711 im Sturm mit 4 Schwesterschiffen untergegangen
700 Millionen Mark
as
do
S
vento
otavento
vor Kap Verde
gesunken:
Santé André
Lejmuiden
HMS Hartwell
Princess Louisa
Maio
Atlantik
8
12 LAS CINQUE CHAGAS
5 MADALENA
9 SAN JOSÉ
Nur 16 von 300 Passagieren
überlebten 1563 das Schiffsunglück; Ladung: Juwelen,
Silber- und Goldbarren
100 Millionen Mark
sank 1708 mit Goldbarren
und Smaragden
zwischen 800 Millionen und
19 Milliarden Mark
10 I-52
Japanisches U-Boot ging 1944
mit großen Mengen Gold verloren
Wert: unbekannt
Piratenstützpunkt
Robinson-Insel
1594 ging bei einer Schlacht
die Ladung aus Gold, Silber,
Edelsteinen, Elfenbein und
Porzellan unter
74 Millionen Mark
13 MEHRERE
GELDTRANSPORTER
aus den beiden Weltkriegen;
meist torpediert
3 Milliarden Mark
4 ATOCHA
1622 kenterte die spanische
Galeone in einem Hurrikan mit
Gold und Silberpesos
700 Millionen Mark
70
6 13 SPANISCHE
11 HMS HARTWELL
GALEONEN
1715 gestrandet
65 Millionen Mark
d e r
s p i e g e l
fuhr 1787 nach einer Meuterei
mit Gold und Silber auf ein Riff
7,5 Millionen Mark
2 9 / 1 9 9 9
14 SPANISCHE ARMADA
1588 mit Schmuck, Golddukaten und Kunstwerken versenkt
Wert: unschätzbar
J. SALTER / SABA
MB ILLUMINATIONS
Thompson
Fisher
K. BRINKBÄUMER / DER SPIEGEL
1511 stach der Gouverneur des indischen
Goa in See, um den fabelhaft reichen Seehafen Malakka zu überfallen. Danach belud er die „Meeresblume“ mit der Beute:
Mit Blattgold überzogene Sänften sollen
an Bord gewesen sein, Löwen aus Gold sowie der Thron der Königin von Malakka,
angeblich mit Edelsteinen übersät.
Doch dann geriet Albuquerques Flotte in
einen Sturm, und die „Flor de la Mar“
sank. Schatzfreaks streiten seit Jahren, was
ihre Ladung heute wert wäre. Phantastische Summen zwischen 2 und 15 Milliarden
Mark werden gehandelt.
Daß Schätze dieser Größenordnung
nicht immer nur Träumereien von großen
Jungs mit teuren Spielzeugen sind, belegen
spektakuläre Funde – vor allem die Ent-
15 SANTA CRUZ
sank 1679; Ladung: Truhen voll
Gold und Silber
100 Millionen Mark
16 LUTINE
Sandizell
1799; britische Fregatte, mit Goldund Silberbarren untergegangen;
nur ein Überlebender
100 Millionen Mark
Wracktaucher
17 HMS EDINBURGH
1942 wurde das britische Kriegsschiff versenkt; 1981 geborgen
135 Millionen Mark
18 POLLUCE
1806 gesunken mit Schätzen aus
dem Königspalast Neapel, darunter
wohl eine goldene Kutsche
Wert: unschätzbar
19 ROMMELS SCHATZ
1943 mit Raubbeute aus der italienischen Staatsbank versenkt
30 Millionen Pfund Sterling
20 FLOR DE LA MAR
1511; Ladung: exotische Goldschätze
und Sklaven; Bergung bisher erfolglos
zwischen 2 und 15 Milliarden Mark
N . P I C K F O R D / D E L I U S K L AS I N G V LG / D O R L I N G K I N D E R S L E Y LTA . / C U LV E R P I C T U R E S
portugiesische
Karacke
Flor de la Mar
Quelle: u. a. Nigel Pickford
20
deckung der „Central America“. Drei Tonnen Gold in Münzen und Barren hat Tommy Thompson, König der Schatztaucher
und Expeditionsleiter der Columbus-America Discovery Group aus Ohio, bislang aus
2500 Meter Tiefe geborgen. Jetzt arbeitet er
daran, weitere 18 Tonnen hochzuholen. Geschätzter Sammlerwert der gesamten Ladung: nicht ganz eine Milliarde Dollar, grob
gerechnet 1900 Millionen Mark.
Das Schicksal des Schaufelraddampfers
und die abenteuerliche Suche nach dem
Wrack, meisterhaft erzählt in Gary Kinders neuem Buch „Das Goldschiff“, begann 1857, während des Goldfiebers in Kalifornien*. Es gab damals noch keinen sicheren Landweg von San Francisco an die
Ostküste, und auch der Panamakanal war
noch nicht gebaut. Zwei Flotten von Schaufelraddampfern, eine im Pazifik, eine im
Atlantik, schafften also die Digger und ihr
Gold von der West- an die Ostküste. Nur
über die Landenge von Panama fuhren die
Goldgräber mit der Bahn.
Am 8. September des Jahres stach die
„Central America“, die zur Atlantikflotte
gehörte, nach einem Zwischenstopp von
Havanna aus in See, Kurs Heimathafen
New York. An Bord waren rund 580 Menschen, das private Gold der Glücksritter
und dazu vermutlich eine geheime Ladung,
mit der die Nordstaaten ihre Wirtschaft in
Schwung bringen wollten.
Doch vor der Küste von North Carolina
geriet das Holzschiff in einen schweren
* Gary Kinder: „Das Goldschiff“. Malik-Verlag, München; 586 Seiten; 39,80 Mark.
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AP
„Der wahre Schatz wartet noch“
Ballard
Sturm und schlug leck. Der erfahrene Kapitän William Lewis Herndon ließ die
Goldgräber mit Eimer-Ketten um ihr Leben
schöpfen, doch immer schneller gurgelte
das Wasser in den Rumpf. Schließlich löschte es die Feuer unter den Heizkesseln. Das
war das Todesurteil.
Ohne Fahrt im Schiff konnte der Rudergänger den Bug nicht mehr gegen die Brecher halten, die „Central America“ schlug
quer zu den Wellen, die nun ungehemmt
die Aufbauten zertrümmern konnten.
Knapp 150 Passagiere konnten von zwei
Seglern gerettet werden, Kapitän Herndon
versuchte nicht einmal, von Bord zu kommen. Er versank mit seinem Goldschiff.
Gut 120 Jahre später kam Thompson, Ingenieur am angesehenen Battelle-Forschungsinstitut, auf die Idee, nach dem
Wrack zu suchen. Sonderlich originell war
das nicht, schließlich gilt der Untergang
der „Central America“ als größtes Schiffsunglück Amerikas im 19. Jahrhundert. Nur:
Bis dahin war der Dampfer unauffindbar,
ist der Atlantik an der Unfallstelle doch
über 2000 Meter tief.
Technische Probleme, so dachte sich der
leidenschaftliche Tüftler Thompson, seien
dazu da, gelöst zu werden. Mitte der achtziger Jahre klapperte er also Geschäftsleute aus der Gegend von Columbus ab, um Investoren zu finden. Die hielten den Mann
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Titel
„Gold allein ist uninteressant“
Der Meeresforscher Franck Goddio über den Streit um die Schatzsucher
ACTION PRESS
Goddio, 52, ist Gründer des
„Europäischen Instituts für
Unterwasserarchäologie“ in
Paris und einer der prominentesten Entdecker versunkener
Altertümer. Der Franzose fand
in Asien die im Jahr 1600 untergegangene Galeone „San
Diego“ und Schiffe der englischen Ostindienkompanie, er
erforscht versunkene Paläste
vor Alexandria und Napoleons
vernichtete Flotte bei Abukir.
SPIEGEL: Herr Goddio, Sie ha- Taucher Goddio: „Wracks sind wie Zeitmaschinen“
ben bislang fast alle Wracks gefunden, die Sie gesucht haben – warum phantastische Archivquellen vorzeigen.
haben Sie noch nicht längst einen Millio- Wie verläßlich sind solche historischen
nenschatz gehoben?
Dokumente?
Goddio: Weil mich das nicht interessiert. Goddio: Sie sind sehr oft falsch, zuminAlles, was wir finden, wird archäologisch dest unpräzise. In den ersten Dokumenausgewertet und schließlich an Museen ten über die „San Diego“ etwa stimmte
abgegeben. Und die wollen historisch in- gar nichts: Der Bericht an den Gouverteressante Artefakte, aus denen man et- neur war falsch, der an den König ebenwas über eine bestimmte Epoche lernen so. Erst viel später fanden wir in einem
kann. Gold allein ist uninteressant. Zehn Archiv vertrauliche Berichte mit brauchMünzen, ja – aber was wollen Sie aus baren Informationen.
10 000 Münzen der gleichen Art lernen? SPIEGEL: Kann neue Technologie Fehler in
Damit kann man nur reich werden. Ich der Recherche ausgleichen?
habe mit der Hilti-Stiftung einen Spon- Goddio: Die modernen Magnetometer
sor, der nicht an Profit interessiert ist. und Sonare helfen schon sehr. Nur: Wenn
Wollen die Finanziers einer Expedition Sie die an der falschen Stelle durchs Wasjedoch Gewinne sehen, beginnen die ser ziehen, nützt die Technik gar nichts.
Und viele Wracks sind von der Strömung
Probleme.
derart eingeebnet oder liegen unter Sand
SPIEGEL: Inwiefern?
Goddio: Für einen Archäologen ist es nicht und Bewuchs so verborgen, daß sie kaum
nur wichtig, ein Artefakt zu haben. Er zu finden sind – selbst wenn man weiß,
muß auch wissen, wo es gefunden wurde, wo sie ungefähr sein müssen.
und er interessiert sich oft viel mehr für SPIEGEL: Lohnt sich der Aufwand für die
eine Keramikscherbe als für Gold. Schatz- Historiker?
taucher hingegen suchen nach etwas, das Goddio: Auf jeden Fall. Ein gesunkenes
sich gut verkaufen läßt. Gehen sie brutal Schiff ist wie eine gut verkorkte Flavor, zerstören sie wichtige Spuren.
schenpost aus einer lange vergangenen
SPIEGEL: Aber viele haben inzwischen Ar- Epoche. Bei Ausgrabungen an Land finchäologen an Bord.
den sie in der Regel Ablagerungen andeGoddio: Schon, doch wenn sie es perfekt rer Zeiten schichtweise über ihrem eimachen würden, könnten sie nur selten gentlichen Ziel. Das ist oft ein elendes
profitabel arbeiten. Will man allein den Durcheinander. Unter Wasser aber finSchatz eines Schiffes bergen, kann man den wir gebündelte Informationen über
das manchmal in ein paar Wochen erle- eine ganz bestimmte Zeit, es ist, als wären
digen. Aber über dem Ostindienfahrer sie beim Untergang eingefroren worden.
„Griffin“ etwa lagen wir 14 Monate, um Wracks sind wie Zeitmaschinen.
alles zu vermessen und festzuhalten. Die- SPIEGEL: Was bringt das?
ser Aufwand würde sich für Schatzsucher Goddio: Bevor wir losziehen, wissen wir
kaum rentieren.
aus historischer Recherche immer schon
SPIEGEL: Viele Schatzfirmen umwerben eine Menge über unser Objekt. Aber
Anleger mit Broschüren, in denen sie wenn man dann tatsächlich taucht, fin-
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det man immer wieder Fakten, die den
Büchern widersprechen. Unter den Resten der „San Diego“ etwa entdeckten
wir ein Navigationsinstrument, das bis
dato unbekannt war. Es half dabei, den
Längengrad zu bestimmen. Das klingt
nach einer Fußnote in der Geschichte der
Navigation. Aber die Fähigkeit, ein Schiff
dorthin steuern zu können, wo man es
haben will, hatte enormen Einfluß auf
den Erfolg einer Nation – im Handel oder
bei Eroberungen.
SPIEGEL: Manchen staatlichen Archäologen ist es nicht geheuer, daß ein Privatmann derartige Expeditionen unternimmt, gesponsert von der Industrie.
Goddio: Die meisten Archäologen können doch gar nicht so arbeiten wie wir.
Wir haben die Erfahrung und das Geld.
Staatliche Wissenschaftler haben die Erfahrung, aber selten das nötige HighTech-Equipment. Außerdem müssen sie
das finanzielle Risiko fürchten, das bei
der Wracksuche immer besteht. Manchmal gibt man Millionen aus und findet
gar nichts. Wir sind keine kommerziellen Schatzsucher, aber auch keine Beamten. Wir gehen den dritten Weg, und
davon profitiert doch jeder. Die Wissenschaftler bekommen alle Informationen und Artefakte, die sie brauchen.
Unsere Sponsoren können sich völlig zu
Tauchexpedition vor dem
ägyptischen Alexandria (1995)
Interview: Clemens Höges
K. BRINKBÄUMER / DER SPIEGEL
SYGMA
Recht der Erfolge rühmen. Und die Öffentlichkeit bekommt Ausstellungen und
Bücher.
SPIEGEL: Jüngst haben Denkmalschützer
auf einer Konferenz der Unesco in Paris
erneut gefordert, private Schatztaucherei in nationalen Gewässern weltweit zu
unterbinden. So soll Wrackplünderern
das Handwerk gelegt werden – aber damit wären auch Sie draußen.
Goddio: Eine solche Regelung macht keinen Sinn und hat kaum Chancen. Dazu
ist die Unterwasserarchäologie zwischen
den Staaten viel zu umstritten. So denkt
beispielsweise die französische Regierung, daß ein französisches Wrack ihr
gehört – egal wo es gefunden wird. Die
Ägypter hingegen sagen: Alles, was in unseren Hoheitsgewässern liegt, gehört uns.
Als wir jetzt Teile von Napoleons Flaggschiff „Orient“ vor Ägypten bargen, mußten wir vorher einen Kompromiß erarbeiten. Ich schlage eine große Wanderausstellung mit den Artefakten vor. Dann
sollte wieder alles nach Ägypten gehen.
Aber um den Denkmalschützern gerecht
zu werden, wäre es sinnvoll, international
Mindeststandards für Wracktaucher
durchzusetzen.
SPIEGEL: Wie könnten die aussehen?
Goddio: Wer immer ein Wrack bergen will,
müßte sich verpflichten, archäologisch
sauber zu arbeiten. Jede Bergungsgesellschaft sollte zudem unter der Kontrolle
des Landes arbeiten, vor dessen Küste sie
taucht. Die historisch interessanten Artefakte müßten dann den Museen vorbehalten bleiben, aber Massenware könnte
die Firma verkaufen.
in den Turnschuhen zwar für
berty Star“, ein Bergungsein wenig spinnert, gaben
schiff, mit dem die Nasa
ihm aber für den Start über
manchmal Trägerraketen suvier Millionen Dollar an die
chen ließ. Die „Liberty Star“
Hand. Es konnte losgehen.
war „vom Kiel bis zum Mast
An die Zimmerwand im
pures High-Tech“ („Geo“),
Haus eines Freundes und
auf der Brücke kommanPartners hängte Thompson
dierte Burt Webber, ein
eine fast 16 Quadratmeter
hemdsärmeliger Schatzjäger.
große Skizze, auf der die beiThompson konnte sich denden alles notierten, was sie
ken, was Webber wollte.
aus alten Archiven über die Taucher Woodward
Thompsons Truppe verKatastrophe erfahren konnharrte über dem Wrack wie
ten. Dann nutzten sie Rechenmodelle der eine Henne über ihrem Gold-Ei. Ein ausU. S. Air Force, einst entwickelt, um deut- getüfteltes System aus mehreren Propelsche U-Boote zu jagen. Ein Computer kal- lern, von Satelliten gesteuert, hielt ihre
kulierte anhand von Strömungen und „Nicor Navigator“ metergenau auf PosiWindstärken, wo das Wrack liegen könnte. tion. Als die „Liberty Star“ trotzdem achtIm Juni 1986 war Thompsons Crew so- kant auf sie zuhielt, funkte Thompson den
weit, sie stach erstmals mit dem gammeli- Gegner an: „Wenn Sie in unser Operagen Motorschiff „Nicor Navigator“ in See tionsgebiet eindringen, können wir eine
– an Bord freilich das damals ausgefeilte- In-extremis-Situation nicht ausschließen.“
ste Sonar und ein selbstentwickelter Ro- Das war die seerechtlich einwandfrei forboter, der sogar in 3000 Meter Tiefe noch mulierte Androhung einer Kollision.
arbeiten konnte.
Lauernd lagen sich die beiden Schiffe geTagelang, wochenlang fuhren sie stur genüber, tagelang. Doch wie immer fiel
parallele Kurse in ihren Suchquadranten Thompson schließlich etwas ein: eine Opeab, so wie ein Bauer seinen Acker pflügt. ration in James-Bond-Manier. Er mußte
Schließlich hatten sie einen Sonarschatten Webber juristisch vertreiben – nur wie? Sie
auf dem Schirm, der aussah wie ein Schiff lagen 300 Meilen vom nächsten Gericht
mit wuchtigen Rädern an den Seiten. Sie entfernt, und eigentlich ist ein US-Richter
ließen den Roboter hinab.
für Streitigkeiten in internationalen GeWas die Maschine fand, war tatsächlich wässern keineswegs zuständig. Also mußte
ein Wrack. Artig schleppte der Roboter Ar- Thompson das Wrack auf amerikanisches
tefakte hoch – einen Becher etwa mit der Hoheitsgebiet schaffen – gewissermaßen.
Aufschrift „Gott gibt den Fleißigen“ und
Per Funk heuerte er einen Piloten mit
ein Stück Kohle. Davon lagen dort unten Sportflugzeug an. Ein Wasserflieger hätte
Berge herum, was auf ein Dampfschiff bei dem Seegang nicht landen können. Der
schließen ließ.
Pilot, so Thompson, solle schleunigst herSie schienen auf der richtigen Spur – da fliegen und auf dem Weg einen Enterhaken
tauchte noch ein anderes Schiff auf, das an einem langen Stahlseil herablassen.
offenbar dasselbe Gebiet abfuhr: die „LiDerweil packte der Expeditionschef das
gefundene Stückchen Kohle in einen leeren
Mayonnaise-Eimer und verknüpfte diesen
mit einer langen Tau-Schleife. Als die Propellermaschine am Horizont auftauchte,
hielten Thompsons Leute die Schlinge mit
Hilfe langer Stangen in die Luft. Im Tiefflug
donnerte der Pilot heran und schaffte es
tatsächlich, mit dem geschleppten Enterhaken die Schlinge am Mayonnaise-Eimer
zu packen und das Stück Kohle nach Norfolk im US-Staat Virginia zu fliegen.
Auf Antrag von Thompsons Anwalt beschlagnahmte es der örtliche Marshall. Ein
Richter entschied im Eilverfahren, Thompson sei offenbar Finder des Wracks und damit eine Art Besitzer. Konkurrent Webber
mußte abdrehen.
Nur: Das Stück Kohle stammte zwar von
einem gesunkenen Dampfer – aber nicht
von der „Central America“. Jedenfalls fand
der Roboter kein Gold. Thompson zog sich
zurück, grübelte, bastelte. Er ließ einen
besseren Roboter bauen, dazu analysierte
ein Spezialist alle Sonaraufnahmen. Neue
Software half schließlich weiter: Ein Objekt
unweit des vermeintlichen Schatzschiffes,
das auf dem Sonarbildschirm mit bloßem
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Titel
Taucher Matroci schwamm
gegen eine Wand –
sie war aus purem Silber
ber gestapelt.Vom Laderaum der „Atocha“
hatte nur der Inhalt überdauert. 35 Tonnen
Silber hoben Fishers Leute, dazu Juwelen
sowie Goldketten mit einer Gesamtlänge
von rund 600 Metern – alles in allem ein
Schatz von rund 700 Millionen Mark.
Der Erfolg seines inzwischen verstorbenen Chefs läßt Matroci nicht mehr ruhen. Im
Moment fahndet er nach einer Galeone bei
Guam, als nächstes sind Wracks vor Venezuela dran: „Wenn du einmal Gold gefunden hast, träumst du jede Nacht von Gold.“
Matrocis britischer Kollege Keith Jessop
hat sein Vermögen mit einem weit neueren
Wrack gemacht. Am 29. April 1942 stach
das englische Schlachtschiff HMS „Edinburgh“ vom russischen Murmansk aus in
See. An Bord 4,5 Tonnen Gold, mit denen
Stalin seinen Waffennachschub bezahlen
wollte.
Tags darauf lief die „Edinburgh“ in der
eisigen Barentssee dem deutschen U-Boot
„U 456“ vor die Torpedorohre. Sie sank
später auf 245 Meter Tiefe – „weiter weg
als der Mond“, sagt Jessop. „Kaum jemand
glaubte, daß ich es schaffen könnte. Alle
waren fasziniert von diesen Geschichten
über Tonnen von Gold – aber dann gingen
sie weg und murmelten, was für ein
mondsüchtiger Irrer ich doch sei.“
Als Jessop mit einer Tauchglocke und
einem Sonar an Bord auslief, steckte er bis
über beide Ohren in Schulden. Als er
zurückkam, wartete auf der Pier ein
neuer, silberner Porsche auf ihn. Der
mondsüchtige Irre hatte gerade Stalins
Gold gehoben, rund 130 Millionen Mark
wert.
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„Der historische Wert eines Wracks interessiert mich nicht“, so Rauhbein Jessop, „mich interessiert nur das Geld.“
Schatzsucher genau diesen Schlages fürchten Unterwasser-Archäologen besonders:
„Sie sprengen einfach Krater in den Meeresboden“, entrüstet sich Ole Varmer, Jurist der US-Meeresbehörde National Oceanic and Atmospheric Administration. Um
die Bermudas und vor Australien wurden
auf diese Weise leicht erreichbare Wracks
regelrecht zerpflückt. Ein Jammer sei das,
klagt der Meeresforscher Franck Goddio,
denn „ein gesunkenes Schiff ist wie eine
gut verkorkte Flaschenpost aus einer lange vergangenen Epoche“ (siehe Interview
Seite 72).
Seit Jahrzehnten bekriegen sich Archäologen und Schatztaucher, doch inzwischen erkennen manche Wissenschaftler,
daß sie ohne privates Geld jene Technik gar
nicht bezahlen können, die ihnen allein
unerforschte Tiefen erschließen kann. Und
viele Bergungsunternehmen kooperieren
inzwischen gern mit den Forschern. Denn
eine Münze, deren Herkunft einwandfrei
Bergungsunternehmer Lühring, Erkundungsroboter
dokumentiert wird,
bringt unter Sammlern
weit mehr ein als irgendein Stück Gold.
Schon als der Amerikaner Greg Stemm
vor neun Jahren Teile
des sogenannten Tortuga“-Wracks barg,
eines vor Florida gesunkenen spanischen
Schiffes, holte er deshalb den Archäologen
im Team alles hoch,
was die haben wollten.
Heute leitet Stemm
die US-Aktiengesellschaft Odyssey Marine Side-Scan-Sonar bei der Suche nach der „Central America“
Exploration, die nach
eigenem Bekunden auf dem Weg ist, „welt- simpel: Liegt ein Schatzschiff innerhalb der
weit Marktführer auf dem Gebiet der kom- 24-Meilen-Zone eines Staates, kann der
merziellen Ausbeutung von Schiffswracks“ entscheiden, was mit den Artefakten paszu werden. Derzeit sucht er nach einem siert. Die meisten Regierungen nehmen
britischen Goldtransporter im Mittelmeer, sich die Hälfte oder ein Viertel des Fundes.
Codename „Cambridge“.
In internationalen Gewässern regelt die
Wirtschaftlich sei nach wie vor „jede Brüsseler Konvention von 1910 das Problem:
Operation ein Experiment, das einiges an Wer ein herrenloses Schiff findet, dem
Risiko birgt“, meint Stemm. Und dabei ver- gehört es. Nur wann ist ein Schiff herrenlos?
fügt seine Firma mit der „Seahawk Re- Die „Central America“ war herrenlos – bis
triever“ über ein 65 Meter langes Expedi- Tommy Thompson das Gold hob. Da meltionsschiff mit allen Schikanen, im Schlepp deten sich auf einmal Juristen von 39 Versieines der besten Sonarsysteme. Auf Deck cherungsgesellschaften, die einst einen
wartet der dreieinhalb Millionen Mark teu- Bruchteil des Schadens beglichen hatten.
re Tauchroboter Merlin, der schon am Sie wollten das Gold, und zwar sofort.
„Tortugas“-Wrack zum Einsatz kam. Das
Die Prozesse dauerten Jahre. Als
typische Budget für eine Suchexpedition Thompson gewonnen hatte und immerhin
allein belaufe sich schnell auf eine Million 90 Prozent des Schatzes behalten durfte,
Dollar – ohne Bergung, versteht sich, aber meldeten sich die Nachfahren jener PassaRisiko inklusive.
giere, die mit dem Dampfer untergegangen
Denn selbst wenn eine Firma einen waren. Die Verhandlungen laufen noch.
Schatz geborgen hat, ist das Geschäft noch
Um eine Goldmine ausbeuten zu könnicht perfekt – dann legen meist die An- nen, räsoniert das US-Fachblatt „Treasure
wälte los. Theoretisch ist die Rechtslage Quest Magazine“, brauche man manchmal
MB ILLUMINATIONS
Auge aussah wie ein Steinhaufen (Fundstellenname: „Galaxy II“), könnte die
„Central America“ sein.
Was der neue Roboter dann unten beim
Sonarziel „Galaxy II“ fotografierte, verschlug der Crew oben den Atem. Der Boden um das Wrack war mit Gold gepflastert. Überall quoll es aus dem geborstenen
Rumpf: Barren, Münzen, Nuggets.
Die Sturheit hatte Thompson sich abgeguckt von einem Mann, für den er mal als
Handlanger gearbeitet hatte: Mel Fisher,
verkrachter Hühnerzüchter aus Indiana.
16 Jahre lang hatte Fisher nach der „Nuestra Señora de Atocha“ gesucht, einer legendenumwobenen spanischen Galeone.
Fishers Sohn starb bei der Suche, die
Schwiegertochter ebenfalls, mindestens
acht Millionen Dollar verpulverte der Besessene.
Kaum jemand außer Fisher selbst glaubte schließlich noch an die „Atocha“ – bis
sein Taucher Andy Matroci plötzlich gegen
eine Wand schwamm. Es war eine Wand
aus purem Silber: 984 Barren, groß wie
Brotlaibe, nach Jahrhunderten noch sau-
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MARINE SONIC TECHNOLOGY
TECHNOL
UTE GMBH
C. HÖGES
erst eine Silbermine. Oder
reiche Aktionäre. In den
USA werden längst Anteile
von diversen SchatzsucherGesellschaften öffentlich gehandelt. „Immer mehr Unternehmen, die nach wertvollem Gut auf dem Boden
der Ozeane suchen“, schreibt
das „Handelsblatt“, „entdecken die Kapitalmärkte als
Finanzierungsquelle.“
Den Markt beherrschen
US-Amerikaner, Kanadier
und Engländer, aber auch
Deutsche mischen mit. „Die
Zeit ist reif für das kalkulierte Abenteuer“, so umwirbt
etwa die Hamburger Seabed
Invest auf ihrer InternetSeite (www.boat.de/seabed/)
potentielle Anleger.
Anteile an Schatzexpeditionen, so das Unternehmen
des gestandenen Bergungsprofis Klaus Keppler, seien
„nicht nur eine faszinierende
High-Tech bei der Wracksuche
Investition, sondern zudem
„Die Zeit ist reif für das kalkulierte
eine extrem profitable“. Zur
Abenteuer“
Erkundungs-U-Boot
Vorsicht warnt Keppler allerdings, auch heute könne
„niemand eine hundertprozentig erfolgGPS-Satelliten
reiche Suche garantieren“.
Findige Helfer
Ebenso wie Keppler wird auch sein KonOrtung und Bergung von Wracks
kurrent Olaf Lühring in den nächsten Tagen wieder Richtung England auslaufen.
Drei Projekte verfolgt der ExpeditionsleiDas GPS (Global Positioning System)
ermittelt mit Hilfe von US-Militärsatelliten
ter der deutsch-schwedisch-englischen BerDGPSdie ungefähren Koordinaten des momengungstruppe Marine Salvage Group derEmpfänger
tanen Standorts. Ein Korrektursender an
zeit, die er Anlegern ebenfalls, inzwischen
DGPSLand (Differential GPS) schickt ein
branchenüblich, via Internet schmackhaft
Korrektursender
weiteres Signal, mit dem die Position bis
macht (www.wrecksalvage.com).
auf wenige Meter genau ermittelt wird.
Ein dritter Deutscher ist Nikolaus Graf
Expeditionsschiff
Sandizell. Als er vor fünf Jahren zum
Schatzsucher wurde, erfüllte er sich damit einen KindSide-Scanheitstraum. Sandizell grünAufnahme
Das Schleppmagnetometer
dete die Firma Arqueoregistriert Anomalien im nornautas, ließ sie auf Madeira
malen Magnetfeld der Erde.
registrieren und umgab sich
Störungen durch Eisenteile
mit Spezialisten wie Margaeines gesunkenen Schiffes
Das Side Scan Sonar
ret Rule und Mensun Bound
werden angezeigt.
sendet Schallwellen,
vom Institut Mare der Oxdie den Grund abtaford University.
sten. Die reflektierten
Dann sammelte er InveSignale werden vom
storen, die mit jeweils minComputer zu Schalldestens 25 000 Dollar AnSchatten-Bildern zusammengesetzt.
teil einstiegen. 168 Anleger
beteiligten sich: Ärzte,
Ferngelenkte Roboter
Schmuckhersteller, Rechtsanwälte –
erkunden die Wracks
Zocker mit einem Faible für maritime
und bergen Artefakte.
Abenteuer. Mittlerweile bereitet das Emissionshaus New York Broker den Gang der
Arqueonautas an die amerikanische Technikbörse Nasdaq vor.
Der Zeitpunkt ist günstig, denn kürzlich haben Sandizells Leute vom Wrack
der „Princess Louisa“ das Elfenbein und
40 000 Silbermünzen im Wert von nicht
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Titel
CHRISTIES AMSTERDAM
ganz drei Millionen Mark ans Licht ge- briefe, um zu prüfen, was schon früher ge600 Fässer Geschmeide soll
borgen worden sein könnte. Glücksritter,
holt.
Pirat Anson am
Taucher Woodward ist allerdings leicht Suchtrupps der Reederei und Piraten, so
Skorpionfelsen vergraben haben
verwirrt, denn die Geldstücke sind nicht fand er heraus, hatten sich nach dem UnNach Selkirks Zeit hatte George Anson,
von jener Art, die 72 846 Münzen in den tergang einen Wettlauf geliefert. Etwa die
Frachtpapieren des Ostindienfahrers be- Hälfte der Ladung holten sie aus dem Freibeuter im Auftrag Ihrer Britischen Mascheinigt wird. „Es muß auch privates Geld Wrack. Der Rest könnte also noch dasein. jestät, 1741 das Eiland angelaufen, soviel
Derartige Archivrecherche ist neben steht fest. Als er zwei Jahre später nach
an Bord gewesen sein“, hofft Woodward,
„der wahre Schatz wartet noch auf uns.“ technischem Gerät das Haupthilfsmittel London zurückkehrte, mußten mehr als 40
Rund acht Millionen Mark hat Sandi- aller Schatzsucher. Aktenlager wie das Ochsenkarren seine Beute in die Stadt
zells Firma bislang für das Kapverden- Archivo de Indias im spanischen Sevilla schaffen, auch das ist relativ sicher.
Aber das soll nur ein Teil seines Schatzes
Abenteuer ausgegeben. Seine Truppe setzt horten noch tonnenweise vergilbte Dokusich zusammen aus verwegenen Abenteu- mente: Aussagen von Überlebenden, Log- gewesen sein, und da beginnen die Legenrern und Wissenschaftlern aus aller Welt. bücher, Ladelisten, Untersuchungsproto- den: Den Rest, 600 Fässer mit Geschmeide,
Der Südafrikaner Julien von Rensburg ist kolle, Positionsskizzen – oft Jahrhunderte vermuten manche Historiker, habe der Pirat vorher auf der Robinsoninsel vergraeiner der besten Taucher im Team, der alt (siehe Seite 77).
Etwa zwei von drei Expeditionen wür- ben, beim sogenannten Skorpionfelsen.
Franzose Christophe Noyen kam direkt
Nach heftigen Regenfällen finden Invon der Armee und Alejandro Mirabel von den trotz gründlicher Archivrecherche weCarisub, den kubanischen Meeresfor- nig erfolgreich enden, schätzt Wrack- sulaner tatsächlich ab und an einzelne
schern. Einheimische, die bislang Langusten fingen, tauchen
jetzt für die Männer auf der
„Polar“ und verdienen 600
Dollar im Monat.
Viel Geld auf den Kapverden,
aber auch gefährlich verdient:
Im Februar 1996 wurde der britische Arqueonautas-Taucher
David Baxter gegen einen Felsen geschmettert. Er brach sich
das Genick.
Am vorvergangenen Wochenende hat Woodward neben
den üblichen Schalen, Krügen
und Pfeifen eine unversehrte
Porzellantasse gefunden. Das
könnte bedeuten, daß die Unterwasser-Ausgräber sich der
ehemaligen
Kapitänskajüte
nähern. Dort war meist alles
Wertvolle verstaut. Wo eine feine Tasse liegt, könnte also auch
das Silber nicht weit sein.
Oft ankert das Expeditionsschiff auch vor der Nachbarinsel
Boa Vista. Das ist ein guter Ort
für Arqueonautas, denn es war
ein fürchterlicher Ort für Segel- Schatz-Auktion (1995 bei Christie’s): „Mich interessiert nur das Geld“
schiffe. Auf den Karten jener
Zeit waren die Kapverden um einige Mei- forscher Standfuß. So wollten Schatztau- Goldmünzen, die offenbar vom Berg herlen falsch plaziert, die Strömungen sind cher 1993 das deutsche Weltkriegs-U-Boot untergespült werden. Doch die Amerikaheftig. Dutzende Male haben die Taucher „U 534“ aus dem Kattegat ziehen. Doch ner, angerückt mit einem Schwarm von Reein „W“ für Wrack in ihre Riffpläne ein- statt der vermuteten Schätze fanden sie portern, Archäologen und chilenischen Pogezeichnet, und gleich drei halten sie für nur Kartoffelreste und Kondome. 33 Mil- lizisten, gruben dort vergebens. „Ich sulionen Mark hat die Operation leichtgläu- che weiter“, tönte der US-ExpeditionsleiGoldschiffe.
ter Bernard Keiser.
Die „Hartwell“ soll eins davon sein. Sie bige Anleger gekostet.
Ähnlich erging es einem US-amerikaniEine „richtige Investoren-Falle“ nennt
hat es 1787 gleich auf ihrer Jungfernfahrt
erwischt, mit 129 Mann Besatzung und 72 schen Team im Pazifik. Nach jahrelanger Unternehmer Lühring die britische FreKisten voller Münzen an Bord. Irgendwann Recherche wollten die Schatzsucher auf gatte „Lutine“ – „da sieht alles so schön
auf der Überfahrt meuterten die Matro- der chilenischen Robinsoninsel einen Pi- einfach aus“. 1799 schickte die Admiralität
sen, drei Tage lang konnten die Offiziere ratenschatz im Wert von rund 17 Milliarden das Schiff nach Hamburg, an Bord 1000
Goldbarren, 500 Silberbarren und 140 000
vor Angst nicht schlafen, neun Seeleute la- Mark ausgraben.
Anfang des 18. Jahrhunderts war der Pfund in Münzen. Die deutschen Banken
gen in Ketten. Kapitän Edward Fiott steuerte Boa Vista an, um die Meuterer dem schottische Obermaat Alexander Selkirk standen durch die Französische Revolution
Gouverneur zu übergeben. Dabei setzte auf dem winzigen Fleckchen Land im Süd- und den Krieg zwischen Paris und London
die übermüdete Crew das Schiff aufs Riff. pazifik ausgesetzt worden. Dessen Schick- vor dem Zusammenbruch, die Engländer
David Hebb, der Historiker in Arqueo- sal diente dem Schriftsteller Daniel Defoe wollten ihre Verbündeten stützen.
Am 9. Oktober fuhr das Kriegsschiff in
nautas-Diensten, stieg in Bibliotheken und als Vorbild für seine Romanfigur Robinson
Yarmouth los, wenig später lief es auf eine
Archive, las Logbücher, Akten und Fracht- Crusoe, daher der Name der Insel.
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Clemens Höges, Erich Wiedemann
JADE PEILSCHIFF
„Terschelling“-Suchroboter in der Biskaya: Wer zuviel wagt, geht unter
Eine Art Meisterstück
Der Schatzsucher Nigel Pickford spürte in detektivischer
Tüftelarbeit ein versunkenes Silberschiff auf – und
enthüllte nebenbei einen über hundert Jahre alten Justizskandal.
N
ebel über der Biskaya. Kapitän
Die „Prins Frederik“ ist tödlich getrofKlaas Visman gibt Order, Dampf fen. Sie sinkt in weniger als acht Minuten.
aus den Kesseln zu nehmen. Bei Trotzdem kommen 176 von 183 Menschen
Einbruch der Dämmerung ist die Suppe so rechtzeitig in die Rettungsboote. Die „Mardick, daß man von der Brücke aus nicht pessa“ wird bei dem Zusammenstoß am
einmal mehr die Spitzen der Ladebäume Bug schwer beschädigt.
erkennen kann. Deshalb geht Visman mit
Das war am Mittwoch, dem 25. Juni
der Geschwindigkeit noch weiter herun- 1890. Die Londoner Schiffahrtszeitung
ter. Er sagt später vor Gericht aus, die „Lloyd’s List“ meldete die Katastrophe
„Prins Frederik“ habe zum Schluß nur am folgenden Samstag mit drei lakoninoch knapp drei Knoten Fahrt gemacht.
schen Sätzen: „Kabel erhalten. Eine MilSüdwestlich der Insel
lion Gulden an Bord. Alles
Ouessant vor der Westspitze
verloren.“
der Bretagne reißt die NeDie 400 000 silbernen
belwand kurz auf. Vom
„Rijksdaalder“ im GegenDeck aus kann man vereinwert von einer Million Gulzelt sogar den Mond sehen.
den waren für die Garnison
Aber jedesmal nach ein
in Batavia in Niederlänpaar Minuten schlägt das
disch-Ostindien bestimmt.
nasse graue Elend wieder
Sie sind heute, je nach Präüber dem Schiff zusammen.
gung und ErhaltungszuUm 22.10 Uhr hört die
stand, zwischen 15 Millionen
Besatzung die Sirenen eines
und 30 Millionen Mark wert.
Der bröselige, vergilbanderen Schiffes. Es ist wie
te Zeitungsausschnitt aus
ein quäkender, drohender
„Lloyd’s List“ war das
Schrei, und er ist so laut, daß
Deckblatt in der Akte
man nicht weiß, aus welcher
„Prins Frederik“, die der
Richtung er kommt. Der Ka- Taucher Keppler
Schatzschiffsucher Nigel
pitän sieht von der Brücke
das milchige Toplicht eines Dampfers an Pickford aus Cambridge von seinem Vater
Steuerbord und wirft den Maschinentele- geerbt hatte. Der alte Pickford war ein kleigraphen sofort auf volle Kraft voraus. Aber ner Wrack-Scout bei der britischen Marine
es ist zu spät. Der Bug des britischen gewesen. Nebenbei hortete er auch DokuFrachters „Marpessa“ bohrt sich in voller mente über gesunkene Schatzschiffe.
Nigel Pickford hat die DokumentenFahrt mittschiffs in den holländischen Postdampfer „Prins Frederik“ und reißt ihm sammlung in jahrelanger Kleinarbeit komplettiert und dem Bergungsunternehmer
die Bordwand bis zur Wasserlinie auf.
H. SAMEL / JADE
Sandbank vor der niederländischen Insel
Terschelling – warum, konnte nie geklärt
werden, denn nur eines von fast 300 Besatzungsmitgliedern überlebte. Die „Lutine“ kenterte und verschwand.
Schon kurz nach dem Untergang hatten
die rabiaten Strömungen der Nordsee die
Fregatte unter mehreren Metern Sand begraben. Doch eines Tages spülte die Tide
den Rumpf plötzlich wieder frei. Taucher
bargen einen kleinen Teil der Ladung, dann
schob die Flut auch schon wieder meterweise Sand über das Wrack. Man kann ihn
gar nicht so schnell wegbaggern, wie ihn
die nächste Flut zurückbringt.
Immer neue Bergungsunternehmer versuchten es in den folgenden Jahren.
Dampfgetriebene Schaufelbagger wühlten
im Watt, riesige Taucherglocken sollten
über den Ort der Katastrophe gestülpt werden, ein Amerikaner wollte gar eine Stahlröhre durch den Sand vorantreiben.
1980 versuchte die neuseeländische
Bergungsgesellschaft Caribbean Marine
Recovery (CMR), die „Lutine“ freizuschaufeln, vergebens. Rund anderthalb
Millionen Mark waren dahin. „Ein Mann
hat uns 65 000 Pfund gegeben“, berichtet
CMR-Chef Henry Newrick, „und gesagt,
es würde ihm nichts ausmachen, das
Geld zu verlieren. Er beteilige sich pro
Jahr an zehn solcher Unternehmungen.
Wenn nur ein Projekt funktioniere, reiche ihm das.“
Die Gier nach dem Gold lockt auch viele schräge Typen an – kaum ein Gewerbe
eignet sich so sehr zum Abzocken wie die
Schatztaucherei. Die Investoren können
nur selten kontrollieren, ob ihr Kapital genutzt wird, um in entlegenen Meeren nach
Schätzen zu suchen – oder ob es in entlegenen Steuerparadiesen auf Nummernkonten landet. „Es gibt Firmen, die wollen
gar nichts finden“, sagt der britische Archivrechercheur Nigel Pickford.
Manchen reicht schon eine malerisch
zerfledderte Akte mit alten Dokumenten
und Pickfords renommiertem Namen auf
der Expertise. Die kommt dann oftmals einer Lizenz zum Gelddrucken gleich. Denn
nichts ist leichter, als Goldfieber zu schüren
– zumindest kurzfristig.
Anfang 1997 verkündete die norwegische Bergungsfirma La Capitana Invest,
daß sie das Wrack der spanischen GoldGaleone „La Capitana Jesús María“ gefunden habe, die in einem Pazifiksturm
sank. Seit fast 350 Jahren mühen sich
Abenteurer aller Herren Länder, das Schiff
zu finden, das wohl Inka-Gold an Bord gehabt hat. Die Botschaft an die Zocker: Es
ist höchste Zeit zu investieren.
Dann mußte Cheftaucher Anton Smith
aber einräumen, bei dem georteten Objekt
könne es sich auch um ein Fischerboot handeln. Schließlich wurde es still um das Projekt. Scharen von Capitana-Aktionären
guckten in die Röhre. Klaus Brinkbäumer,
d e r
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77
Titel
suchen sollten. Er ist selbst noch nie mit
rausgefahren. Die Seefahrt interessiert ihn
nicht. Er sagt, er habe zu Hause über 10 000
Akten über versunkene Schiffe, die er noch
aufarbeiten wolle. Da hat er keine Zeit
zum Schiffchenfahren.
Pickford hat schon viele Schatzschiffe
aufgespürt. Die detektivische Besessenheit,
mit der er die Tragödie der „Prins Frederik“ rekonstruierte und wie er das Wrack
lokalisierte, so sagen Kollegen, hätte sicher
auch ausgereicht, um Jack the Ripper zu
finden. Sie war nicht sein wertvollstes
Schiff, aber sie war eine Art Meisterstück.
E N G L A N D SouthDie „Prins Frederik“ war ein
ampton
Falmouth
propellergetriebener Eisendampfer
ederik
der Luxusklasse: 11,5 Knoten
Ouessant Prins Fr
Spitzengeschwindigkeit, 2978 Bruttoregistertonnen, 107 Meter lang,
Cherbourg 50°
zwei hochleistungsfähige ZweiZylinder-Compound-Maschinen.
FRANKSie hatte nur Erste-Klasse-Kabinen.
REICH
Eigentümer war die Reederei
48°
Stoomvaart Maatschappij in Amsterdam, deren Schiffe die Route
Festland-
Klaus Keppler aus Sasbach am Oberrhein
dann für 20 000 Mark und einen Gewinnanteil, dessen Höhe er nicht verrät, ein befristetes Nutzungsrecht an der Akte eingeräumt. Keppler, Hauptanteilseigner der
Jade Peilschiff GmbH, will den Millionenschatz, der mit der „Prins Frederik“ unterging, jetzt heben.
Nigel Pickford leistet die intellektuelle
Vorarbeit für die tollkühnen Kerle, die märchenhafte Schätze aus finsteren Meerestiefen holen. Ohne ihn und seine Zunft
wüßten die Schatzsucher gar nicht, wo sie
Zusammenstoß
der Marpessa mit
der Prins Frederik
am 25. Juni 1890
sa
es
rp
Ma
G o l f von
Bi s kay a
Holland–Java bediente. Die „Prins Frederik“ war am 21. Juni von Amsterdam nach
Southampton ausgelaufen. Von dort nahm
sie am 24. Juni Kurs auf Batavia. An Bord
waren 83 Mann Besatzung, 75 Offiziere
und Soldaten der niederländischen Kolonialarmee und 25 Passagiere.
Die Fracht war so wertvoll, daß sich fünf
Schiffsversicherer das Verlustrisiko geteilt
hatten. Neben den Truhen voll Silbermünzen waren in einer mit dicken Eisenplatten
ausgekleideten Kammer im Heck Postsendungen sowie große Mengen Bargeld und
Goldbarren gelagert, die die mitreisenden
Kaufleute als Betriebskapital für ihre Geschäfte in Fernost benötigten. Der gesamte Versicherungswert von Schiff und Fracht
wird mit über 200 000 Pfund Sterling veranschlagt. Das sind nach heutiger Kaufkraft ungefähr 40 Millionen Mark.
Vor Nigel Pickford und Klaus Keppler
haben Schatzsucher aus Schweden, Frankreich und Großbritannien versucht, die
„Prins Frederik“ zu orten. Sie suchten aber
weitab von der späteren Fundstelle, einfach weil sie sich auf das Urteil des
sockel
46°
S PA N I E N
8°
6°
4°
2°
0°
Luxus-Liner „Prins Frederik“, Wrack-Scanner-Foto: „Eine Million Gulden an Bord – alles verloren“
FOTOS: JADE PEILSCHIFF
Wrack-Scout Pickford
10 000 Schatzakten in Arbeit
Londoner High Court of Admiralty vom
11. August 1891 verließen, in dem die Schadensersatzklage von Stoomvaart Maatschappij gegen Fenwick & Co., die Reederei der „Marpessa“, abgewiesen und in
dem Klaas Visman das Kapitänspatent aberkannt worden war. In der Urteilsbegründung hatte der Vorsitzende, Richter
Butt, die holländischen Kläger beschuldigt,
sie hätten unredlicherweise versucht, aus
der Katastrophe Kapital zu schlagen.
Die Holländer waren empört: Dies sei
ein Justizskandal. Sie hatten recht. Nigel
Pickford durchkämmte gut hundert Jahre
später Archive in Holland, Großbritannien
und Frankreich, sichtete alte Zeitungsartikel, Prozeßakten, Briefe, Versicherungspolicen und Seekarten und fand bei Durchsicht der Gerichtsprotokolle den Verdacht
der Holländer bestätigt, daß Richter Butt
sich bei der Rechtsfindung mehr vom patriotischen Zeitgeist als von der Faktenlage hatte leiten lassen.
Daß in der Verhandlung Recht und
Wahrheit offenbar verbogen worden waren, ergab sich aus dem Protokoll der Aussage von Captain Geary, das Pickford wieder ausgrub. Geary hatte auf Befragen der
gegnerischen Anwälte zugegeben, daß die
Logbuch-Eintragung über die Geschwindigkeit, mit der sein Schiff nach dem Unfall die Reise fortgesetzt hatte, nachträglich
von sechs auf acht Knoten geändert worden war. Allerdings nur, so sagte er, um einen Flüchtigkeitsfehler zu korrigieren.
Der Richter sagte, die Begründung sei
glaubhaft. Pickford glaubte das nicht. Er
rechnete nach und kam zu dem Ergebnis:
Die „Marpessa“ hätte die im Logbuch festgehaltene Distanz in der Unglücksnacht
und am Tag danach nicht bewältigen können, wenn sie vor der Kollision, wie Geary
sagte, nur drei und danach nur sechs Knoten gefahren wäre. Damit die Rechnung
aufging, sattelte Geary die Knoten, die er
von der vor dem Unglück gefahrenen Geschwindigkeit abgezogen hatte, auf das
Tempo nach dem Zusammenstoß drauf.
Nach der Aussage von „Marpessa“-Kapitän William Geary ereignete sich das Unglück auf 6.30 Grad West, 47 Grad Nord,
nach Angaben von Kapitän Visman dage- abzuscannen. Die Biskaya gehört seit Jahrgen 70 Seemeilen westsüdwestlich von hunderten zu den meistbefahrenen und
Ouessant, was ungefähr der Höhe 6.40 stürmischsten Seegebieten der Erde. DesGrad West, 47.55 Grad Nord entsprach.
halb liegt dort auch besonders viel SchiffsMit Bleistift, Zirkel und Millimeterpa- müll auf dem Meeresboden. Die „Terpier entwarf Pickford zwei alternative schelling“ überprüfte in dem von Pickford
Szenarien – eines nach der Aussage von vorgegebenen Planquadrat 37 gesunkene
Captain Geary und eines nach der von Schiffe, die ungefähr so groß waren wie
Captain Visman. Resultat: Vismans Anga- die „Prins Frederik“.
ben waren schlüssiger.
Am 20. Juli vergangenen Jahres meldeDie „Marpessa“ konnte ihre Position gar te die „Terschelling“ nach Sasbach: „Wir
nicht bestimmt haben. Wegen der schlech- haben sie.“ Die „Prins Frederik“ lag 150
ten Sicht konnte man die Sterne nicht an- Meter tief, fast auf die Meile genau an der
peilen. Außerdem war die „Marpessa“, die Stelle, die Kapitän Visman vor Gericht anmit einer Ladung Korn aus Taganrog am gegeben hatte: 70 Seemeilen westsüdwestAsowschen Meer kam, seit mindestens lich von Ouessant.
zwei Tagen außer Sichtweite des Festlands
Um die Identifizierung zu erleichtern,
gefahren, so daß die Besatzung auch keine hatte Nigel Pickford eine Kopie des fünf
geodätischen Hilfspunkte hatte, um ihre Meter langen Bauplans der „Prins FredeKoordinaten zu bestimmen.
rik“ aus dem Archiv der Schiffswerft John
Pickford fand Vismans Positionsangabe Elder & Co. in Glasgow beschafft. Darauf
ehrlicher und realistischer, weil sie nicht war jede Decksplanke zu erkennen, auf
so genau war wie die von Captain Geary. dem Vorschiff auch eine Dampfwinde, wie
Sie war auch deswegen glaubwürdiger, weil sie nur die „Prins Frederik“ und ihr bausie weiter draußen auf See lag und weil gleiches Schwesterschiff, die „Prins AlexVisman, der als einer der erfahrensten ander“, hatten.
Schiffsführer der niederländischen HanEin zweites Beweisstück verwahrt Klaus
delsmarine galt, wissen mußte, daß man Keppler in seiner Schreibtisch-Schublade:
bei Nebel Distanz zur Küste hält.
eine handgestrichene holländische WandWeil Nigel Pickford ein vorsichtiger kachel. Der Bergungsbagger hat sie aus
Mann ist, der Selbstzweifel für eine Tu- dem Badezimmer über dem Tresorraum
gend hält, schlug er den Bogen um die Stel- des Schiffes herausgebrochen. Solche Kale, an der er das Wrack der „Prins Frede- cheln gab es nur in den Kabinen der „Prins
rik“ vermutete, viel weiter, als das nach Frederik“ und der „Prins Alexander“.
Nigel Pickfords RecherLage der Dinge erforderchen haben nachträglich
lich gewesen wäre. Der
auch den Beweis erbracht,
Suchteppich mit einer
daß Klaas Visman ein guFläche von 200 Quadratter und gewissenhafter
Seemeilen lag dicht an
Kapitän war. Die Reederei
der Kante des FestlandStoomvaart Maatschappij,
sockels, der vor der Bredie 1891 den Prozeß getagne-Küste nirgendwo
gen Fenwick & Co. verlor,
tiefer als 150 Meter ist.
hätte jetzt sogar gute
Wenn die von Captain
Kachel von der „Prins Frederik“
Aussichten auf eine ReviGeary angegebene Stelle
sion des Urteils. Von eirichtig gewesen wäre, hätBei der Schatzsuche
nem Wiederaufnahmeante das Wrack etwa 1500
Meter tief gelegen. Dann müssen Risiko und Ertrag trag wird aber abgesehen,
zueinander passen
weil beide Gesellschaften
hätte sich die Bergung
inzwischen von der Reenicht gelohnt.
Klaus Keppler ist ein kühl rechnender derei Nedlloyd in Rotterdam übernommen
mittelständischer Unternehmer, der seine wurden und weil deshalb der Kläger und
Chancen abwägt, bevor er seinen Einsatz der Beklagte identisch wären.
Seit Sonntag ist die „Terschelling“ in
placiert. Er sagt: „Das Schatzsuch-Business
ist ein Geschäft wie jedes andere. Risiko der Biskaya im Berge-Einsatz. Wenn alles
und Ertrag müssen zueinander passen.“ nach Plan läuft, sagt Marketing-Leiterin
Wer zuviel wagt, muß damit rechnen, daß Monika Wetzke, sei im Herbst alles im Kasten. Sie hat für den 15. Dezember in Paer untergeht und nicht wieder auftaucht.
Natürlich macht es mehr Spaß, in der ris, London und Amsterdam Auktionssäle
Karibik nach spanischen Gold-Galeonen gebucht, in denen die 400 000 Rijksdaalder
zu tauchen. Aber sie sind schwer zu finden simultan versteigert werden sollen. Obund viel schwieriger zu bergen. Die „Prins wohl es bei der Schatzsuche noch nie vorFrederik“, sagt Keppler, sei ein sicheres gekommen ist, daß alles nach Plan läuft.
Die Konzernleitung von Nedlloyd hat
Objekt. Ordentliche Fracht, günstige Lage,
auf einen Anteil am Ertrag des Bergungskeine rechtlichen Komplikationen.
Die Crew des Suchschiffes „Terschel- unternehmens verzichtet. Mit einer Einling“, das Keppler für die Operation schränkung: Sie will die Schiffsglocke der
gechartert hatte, brauchte 1997 und 1998 „Prins Frederik“. Die hat Klaus Keppler ihr
zweimal drei Monate, um die ganze Fläche versprochen.
Erich Wiedemann
d e r
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79
Werbeseite
Werbeseite
Wirtschaft
Trends
T E L E KO M M U N I K AT I O N
Deutsch-spanischer Flirt
D
Eichel
STEUERN
Neuer Gesetzesärger
N
ach dem Chaos um die Gesetze
zu 630-Mark-Jobs und Scheinselbständigkeit droht der Regierung
ein neues Debakel. Eine neue Steuer
für ausländische Dienstleistungen erregt die Import-Wirtschaft. Seit dem
1. April müssen die deutschen Auftraggeber 25 Prozent des Preises für ausländische Dienstleistungen als Einkommensteuer zuzüglich Solidaritäts-
zuschlag einbehalten und an den Fiskus abführen. Die neue Regelung
zielte ursprünglich auf Bauarbeiterkolonnen, beispielsweise aus England
oder Tschechien, die weder Steuern
noch Sozialabgaben zahlen und deutsche Baufirmen unterbieten. Tatsächlich aber sind alle Arten von ausländischen Dienstleistungen betroffen:
Auch wer Software in London entwickeln läßt oder eine Spedition in
Amsterdam beauftragt, muß den
25-Prozent-Abschlag zahlen. Um die
wenigen schwarzen Schafe der Bauindustrie zu finden, müssen nun alle Unternehmen, die Aufträge ins Ausland
vergeben, einen aufwendigen Papierkrieg führen und anhand von Freistellungserklärungen untersuchen, ob sie
die Steuer abziehen oder nicht. „Ein
völlig irres Gesetz“, sagt Hermann
Grewer, Präsident des Bundesverbands
Güterkraftverkehr und Logistik. Das
ohnehin angeschlagene deutsche
Transportgewerbe hat jetzt Verkehrsminister Franz Müntefering alarmiert,
und der forderte Finanzminister Hans
Eichel auf, „negative Auswirkungen
einer derartigen Gesetzesauslegung
zu vermeiden bzw. zu entschärfen“.
Böse Briefe kommen auch aus dem
Ausland: Fast alle Mitgliedstaaten der
Europäischen Union von Luxemburg
bis Großbritannien schrieben empört
nach Bonn.
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JUSTIZ
Freiheit für Schneider
D
er ehemalige Baulöwe Jürgen
Schneider, 65, soll im Dezember
auf freien Fuß kommen. Das ist das
Ergebnis von Gesprächen zwischen
Schneiders Strafverteidiger Eckart Hild
und dem zuständigen
Richter Michael Kehr.
Schneider ist schon
seit 13 Monaten Freigänger und kehrt nur
nachts in den Knast
zurück. 1994 hatte er
durch betrügerische
Immobilienspekulationen eine Milliardenpleite hingelegt und
damit Banken geschädigt und zahlreiche
Handwerker in große
Schwierigkeiten gebracht; 1997 wurde
er daraufhin zu einer
Freiheitsstrafe von
sechs Jahren und
neun Monaten verurteilt. Nach der geplanten Freilassung hätte
Schneider zwei Drittel seiner Haft verbüßt.
Schneider
ACTION PRESS
DPA
B. BOSTELMANN / ARGUM
WHITE STAR
ie Deutsche Telekom möchte
mit der spanischen Telefongesellschaft Telefónica fusionieren. „Erste Gespräche“, so ein ranghoher Telekom-Manager, habe es „bereits gegeben“. Die Kontakte laufen seit rund
sechs Wochen. Ranghohe TelekomManager halten sich nach Informationen aus dem Unternehmen derzeit
Villalonga
in Spanien auf; auch EU-Kommissar
Martin Bangemannn, der demnächst
in den Verwaltungsrat von TelefónicaChef Juan Villalonga einzieht, ist über
1998
Deutsche Telekom Telefónica de España
die Gespräche informiert. Das würde
auch erklären, warum die Telekom
UMSATZ
35,6
17,5
in Milliarden Euro
den geplanten Berufswechsel des Industriekommissars nicht kritisierte.
GEWINN
2,15
1,3
nach Steuern
Noch in diesem Jahr, so das erklärte Sommer
in Milliarden Euro
Ziel von Telekom-Chef Ron Sommer,
62 000
BESCHÄFTIGTE 179 500
will sich die Telekom im Ausland durch Zukäufe verstärken. Telefónica gilt
MOBILFUNK
als Perle unter den Telefonfirmen. Auch eine Allianz mit Cable & Wireless
Anteil am
41%
70%
ist noch immer möglich.
heimischen Markt
81
Trends
H Y P OV E R E I N S BA N K
Neue Beweise
V. KOHLBECHER / LAIF
m Skandal um dubiose Immobiliengeschäfte der ehemaligen
Hypobank, die mittlerweile mit der Vereinsbank fusionierte,
gibt es neue Beweise. Der Hypobank wird zur Last gelegt, seit
1989 Zehntausende von Kleinverdienern geschädigt zu haben.
Die Kunden waren zum Kauf von „bankgeprüften Immobilien“ mit garantierten Mieten überredet worden. Doch aus der
Mietgarantie wurde nichts, viele Käufer verbuchen hohe Verluste. Die Hypobank hat dabei eng mit Strukturvertrieben, sogenannten Drückerkolonnen, zusammengearbeitet. Wer die meisten Kreditverträge vermittelte, durfte nach Mauritius oder New
York fliegen. „Mäßigen Sie
sich nicht!“ schrieb die Hypo
an Vermittler wörtlich, „es
lohnt sich.“ Die Bank sagt, es
habe keine vertragliche Bindung zwischen den Strukturvertrieben und ihr gegeben.
„Die Drücker waren reine Erfüllungsgehilfen der Bank“,
sagt dagegen Rechtsanwalt
Reiner Fuellmich, der 3500
Opfer vertritt. Die Hypobank
Fuellmich
habe den Drückerkolonnen, so Zeugen, auch 0,5 Prozent Provision auf die Darlehenssumme bezahlt, was die Bank bestreitet. Außerdem habe sie von den 18,4 Prozent versteckten „internen Provisionen“ gewußt, die alle Erwerber an Treuhänder
zahlen mußten. „Die Hypo hätte ihre Kunden darüber informieren müssen“, sagt Fuellmich – ein Haftungsanspruch. Inzwischen fordern 7000 Geschädigte von der ehemaligen Hypobank und anderen Instituten die Rückabwicklung der Verträge.
Sollten sie recht bekommen, muß die HypoVereinsbank, in der
die Hypo 1998 aufgegangen ist, pro Engagement rund 200 000
Mark abschreiben – alles in allem mehrere Milliarden.
ARBEITSMARKT
UNTERNEHMEN
Rechnungshof gegen Bonn
Mondschatten als
Firmenevent
eldverschwendung ohne Sinn und
Verstand – so lautet das vernichtende Urteil des Bundesrechnungshofs
über ein Prestigeprojekt der Kohl-Regierung zur Vermittlung von Langzeitarbeitslosen. Drei von elf Modellprojekten
– sogenannten Serviceagenturen – hat
der Rechnungshof untersucht. Ergebnis:
Die Förderung der Projekte (insgesamt:
37 Millionen Mark) sollte „vorzeitig beendet werden“. Die krassesten Ungereimtheiten gab es bei der Emsländischen Service- und Beratungsagentur
(ESBA) in Meppen. Die ESBA verfolgt
die gleichen Ziele wie eine vor Ort bereits bestehende Serviceagentur, stellen
die Prüfer fest. Dennoch bewilligte das
Bonner Arbeitsministerium 3,4 Millionen Mark, eine halbe Million mehr als
angefordert. Als erstes schafften die
Emsländer davon vier neue Dienstwa-
J. CARSTENSEN / ACTION PRESS
Ehemalige Hypobank-Zentrale in München
gen an. Computer blieben ungenutzt,
weil Kabel fehlten. Die ESBA vermittelte mit acht Mitarbeitern in acht Monaten so viele Arbeitslose wie das örtliche
Arbeitsamt mit zwei bis drei Vermittlern
in einem Monat. Ähnlich erfolglos wirtschaftete die Serviceagentur MassArbeit, eine Fördergesellschaft des Landkreises Osnabrück. Sie reklamierte
40 Vermittlungserfolge für sich. Die
Rechnungshofexperten stellten aber
fest, daß ein Großteil der Vermittlungen
auf das Konto des Arbeitsamts Osnabrück gingen. Nur zwölf Personen bekamen am Ende tatsächlich Jobs; für die
geringe Erfolgsquote legten sich in der
Agentur 20 Mitarbeiter ins Zeug. Das
dritte Projekt, WISA in Leer, fiel durch
besondere Kreativität auf. Der ostfriesische Landkreis nutzte die Bundesmittel
vor allem, um sich von Sozialhilfezahlungen zu entlasten. Das
Projekt diene „vorrangig
den Interessen des Landkreises Leer“, bemängelten die Prüfer. Arbeitsminister Walter Riester
will die Förderung vorerst
fortführen.
Riester
d e r
L. BURR / GAMMA / STUDIO X
G
W. M. WEBER
I
E
in Naturereignis im Dienste
der Wirtschaft:
Verschiedenste
Unternehmen
nutzen die Sonnenfinsternis am
11. August für besondere VeranSonnenfinsternis
staltungen. So
lädt etwa die Dresdner Bank auf die
Dachterrasse ihrer Stuttgarter Niederlassung ausgewählte Gäste ein. Das Bekleidungshaus Bräuninger stellt Liegestühle
auf das Dach seines Stuttgarter Hauses
und verteilt „Sonnenfinsternis-Brillen“
an knapp 500 Kunden. Nach Angaben
der Stadtverwaltung nutzen Dutzende
von Firmen das seltene Naturereignis für
alle möglichen Veranstaltungen. In Stuttgart ist die Sonnenfinsternis am besten
zu beobachten. Die Stadt selbst veranstaltet ein mehrtägiges Sonnenfestival –
und rechnet mit über einer halben Million Besuchern. Aber auch über München zieht der Mondschatten hinweg.
So wird die HypoVereinsbank auf die
Terrasse der ehemaligen HypobankZentrale am Arabellapark einladen.
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Geld
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Bankaktien in Euro
44
DEUTSCHE BANK
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DRESDNER BANK
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Quelle: Datastream
Juni
34
Juli
Juni
Juli
S P E K U L AT I O N
Boom der Bankaktien
D
eutsche Bankaktien holen auf: Die Kurse der vier größten
börsennotierten Institute sind dem Dax monatelang hinterhergelaufen – doch in den vergangenen sechs Wochen haben sie
im Schnitt gut 30 Prozent zugelegt. Viele Anleger glauben, daß
68
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26
HYPOVEREINSBANK
Juni
Juli
COMMERZBANK
Juni
Juli
die Großbanken möglicherweise schon bald öffentlich-rechtliche Banken übernehmen könnten. Hintergrund der Spekulation ist der Beschluß des EU-Kommissars Karel Van Miert, die
WestLB zu zwingen, knapp 1,6 Milliarden Mark Subventionen
an den Fiskus zurückzuzahlen. Einige Analysten halten die
Euphorie für verfrüht. Britta Graf von der Banque National de
Paris: „Bis der EU-Gerichtshof rechtskräftig über die WestLBSubventionen entschieden hat, können Jahre vergehen.“
IMMOBILIEN
UNTERNEHMER
Staat streicht
Steuervorteil
EM-TV im Dax?
M
edienunternehmer Thomas Haffa steigt
mit seiner Rechte- und Produktionsfirma
EM-TV an der Börse womöglich zu den deutschen Großkonzernen auf. Derzeit diskutiert
die Deutschen Börse AG mit Haffa, ob EM-TV
den Neuen Markt, die Börse für Zukunftswerte, verlassen und in den Deutschen Aktienindex
wechseln sollte. Mit rund zwölf Milliarden
Mark Aktienwert läge EM-TV im Dax der 30
größten Firmen derzeit auf Platz 26, vor Linde,
Adidas, Henkel, MAN und Karstadt. In dieser
Riege könnte Haffa, der TV-Serien wie „Tabaluga“ vermarktet, nach den Ideen der Börsianer für Glamour sorgen. Für 1999 erwartet EMTV rund 260 Millionen Mark Umsatz; auf eine
weitere Expansion bereitet sich die Firma mit
einer Erweiterung des dreiköpfigen Vorstands
vor: Vom Luftfahrtkonzern DaimlerChrysler
Aerospace kommt Chefsyndikus Ulrich Goebel
als Vorstand Business Affairs, vom Energiedrink-Produzenten Red Bull der Niederländer
Hans P. Vriens als Vertriebschef.
M. TRIPPEL / IMAGES.DE
igentümern leerstehender Immobilien droht Ärger mit dem Fiskus. Vor
allem in Ostdeutschland wurden viele
Wohnungen am Bedarf vorbei gebaut,
manche verfallen bereits. Zwar sei
grundsätzlich davon auszugehen, entschied der Bundesfinanzhof, daß der
Steuerpflichtige nach anfänglichen Verlusten letztlich doch einen Gewinn erzielen will. Ist jedoch von vornherein
absehbar, daß auf die Dauer der Abschreibung gar keine Überschüsse aus
Mieteinnahmen erzielt werden können,
unterstellen Finanzämter gern eine fehlende „Gewinnerzielungsabsicht“. Der
Immobilienbesitz wird von den Behör-
Leerstände in Berlin
den dann als „Liebhaberei“ abgetan.
Gewährte Steuervorteile können sogar
nachträglich gestrichen werden. Da
wird es noch „Heulen und Zähneknirschen“ geben, befürchtet der Frankfurter Immobilienexperte Wilfried Tator
vom „Gerlach-Report“.
D E R I VAT E
Neue Wetten
B
anken locken ihre Kunden mit immer neuen Spekulationsmöglichkeiten. Die Bankgesellschaft Berlin hat
nun sogenannte Speed Notes auf die
T-Aktie entwickelt. Die Zertifikate wurden am 28. Juni zum Eröffnungskurs
von 40 Euro emittiert. Notiert das Telekom-Papier am 15. September 2000 unter 40 Euro, trägt der Anleger den Verd e r
s p i e g e l
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EM-TV-Aktie in Euro
16. Juli
1999
1600
1600
1375
1400
1400
EM-TV-Figur
„Biene Maja“
1200
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800
600
400
200
200
H I P P F OTO
E
Börsengang
30. Okt. 1997
9,08*
Quelle:
Datastream
*bereinigt um Aktiensplit
0
1997
1998
1999
lust. Legt die Aktie bis zu 20 Prozent
zu, erhält er den doppelten Kursgewinn,
also maximal 40 Prozent. Das aber ist
zugleich das Gewinnlimit. Wenn die
T-Aktie um mehr als 40 Prozent zulegt,
schneidet der Besitzer des Zertifikats
schlechter ab als bei einem direkten
Kauf der T-Aktie. Auch andere Banken
bieten etliche neuartige Anlage-Produkte an, die praktisch Wetten gleichen.
„Der Markt ist reif für kompliziertere
Papiere“, sagt Torsten Schrader, Derivate-Experte der Deutschen Bank.
83
Post modern
Ex-McKinsey-Manager Klaus Zumwinkel greift an: Aus der „Schneckenpost“ soll nach einer
milliardenteuren Einkaufstour ein globaler Logistik- und Finanzkonzern werden.
So will der Noch-Monopolist gegen die US-Wettbewerber bestehen – auch an der Börse.
M
anchmal ist Klaus Zumwinkel, 55,
richtig neidisch. Da hätte der Manager mit Dienstsitz Bonn lieber
ein Büro in Atlanta – als Chef von CocaCola. „Die haben ein Image, das ist einfach
sagenhaft“, schwärmt Zumwinkel. Der Getränkeriese müsse schon zehn Jahre lang
seine Limonade vergiften, um diesen Ruf
zu ramponieren.
Bei der Deutschen Post ist es umgekehrt.
Seit der McKinsey-Manager Zumwinkel
vor fast zehn Jahren angetreten ist, den
Staatskonzern für den Wettbewerb zu
trimmen, hat er vieles bewegt – doch das
Image von der betulichen Schneckenpost
hält sich beharrlich in den Köpfen.
Alle Kampagnen haben wenig genützt,
und auch nicht die schönsten Statistiken:
daß 95 Prozent aller Briefe am nächsten
Tag ankommen; daß 96 Prozent aller Kunden weniger als fünf Minuten warten müs-
84
sen – wer nimmt das schon wahr? Zumwinkel kennt das Gerede genau: „Das
braucht Jahre, bis man das wegbekommt.“
Oder es ist ein Ereignis vonnöten wie im
nächsten Jahr, ein Paukenschlag, der alle
Skeptiker endlich eines Besseren belehren
soll. Im Herbst 2000 will Zumwinkel den
einstigen Sanierungsfall Post an die Börse
bringen. Einen zweistelligen Milliardenbetrag erhofft er sich davon – und „einen gewaltigen Schub für unser Image“.
Wie das gehen kann, hat sein Kollege
Ron Sommer mit der Telekom vorgemacht, mit glitzernden Anzeigen und kessen Sprüchen von Schauspieler Manfred
Krug. Seither sind Aktien in Deutschland
sexy. Die Börse ist zur großen Geldmaschine der Unternehmen geworden: Deshalb plant Zumwinkel den zweitgrößten
Börsengang in der Geschichte der Bundesrepublik.
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Vielleicht, so sinnierte der Postchef
jüngst vor Vertrauten, sei die Börsenstory
der Post sogar noch besser als die der Telekom. „Wir werden uns“, so Zumwinkel,
„als Nummer eins auf dem weltweiten
Transport- und Logistikmarkt verkaufen.“
Schon jetzt hat die Post nur noch wenig
gemein mit jener unrentablen Behörde, in
der vieles nicht klappte und in der das Geld
versickerte. Noch 1990 verbuchte die Post
zwei Milliarden Mark Verlust, im vergangenen Jahr wies der Staatskonzern dagegen 1,2 Milliarden Mark Gewinn aus. Binnen acht Jahren sank die Zahl der Mitarbeiter bei höherem Output um rund
130 000. Wären die noch da, würde die Firma zehn Milliarden Mark Minus machen.
Längst verteilt die Post nicht mehr
nur Briefe und Pakete. Der gelbe Riese ist
in einigen Bereichen zu einem echten
High-Tech-Unternehmen geworden. Wo
M. DANNENMANN
UNTERNEHMEN
früher muffige Postler in angegrauten
Hauptpostämtern Briefe sortierten, stehen
heute automatische Sortier- und Frachtanlagen.
Per Internet kann der Weg wichtiger
Sendungen quer durch Deutschland verfolgt werden. Riesige EDV-Zentren und
Computeranlagen berechnen für Großkunden wie Tchibo, Siemens, die Telekom
oder Quelle die optimale Lagerhaltung und
den schnellsten Weg zum Kunden.
Durch den radikalen Umbau haben sich
auch die Berufsbilder dramatisch gewandelt. Nicht einmal die Hälfte der rund
260 000 Mitarbeiter sind noch klassische
Schalterbeamte und Briefträger. In den
Postdirektionen tummeln sich zunehmend Software-Ingenieure, Web-SeitenDesigner, Finanzmanager oder Marketingspezialisten.
Selbst die einst so mächtige Deutsche
Postgewerkschaft mit ihrem knorrigen Vorsitzenden Kurt van Haaren hat ihren Alleinvertretungsanspruch aufgeben müssen.
In rund 550 Filialen des Bürospezialisten
McPaper beispielsweise, von der Post Anfang vorigen Jahres gekauft, werden demnächst normale Verkäufer an extra eingerichteten Theken Postdienste anbieten –
und das zu deutlich niedrigeren Gehältern.
Nach und nach verabschiedet sich die
Post damit von einer jahrhundertealten
Tradition: Denn seit die Brandenburgische
Post 1649 erstmals auch die Briefe und Pakete einfacher Bürger annahm, war die Zustellung solcher Sendungen Sache des Staates. Auch Telegramm und Telefon standen
später unter der Obhut der Regierungen.
Begonnen hatte die Geschichte der Post
allerding 1490, als Kaiser Maximilian den
Adligen Franz von Taxis mit dem Aufbau
eines Kurierdienstes beauftragte. Taxis sollte die Nachrichtenübermittlung zwischen
den kaiserlichen Residenzen sicherstellen.
Später wuchsen die Aufgaben der Post
rasant, die Postillione wurden zu Förde-
B. BOSTELMANN / ARGUM
Wirtschaft
Beladung einer DHL-Maschine: „Die Globalisierung ist unser Treiber“
rern des Fortschritts: So gründeten die Regierungen 1874 den Weltpostverein, Preußen stellte erste Briefkästen auf, und in
den Tiefen der Meere wurden Kabel zur
Nachrichtenübermittlung verlegt.
Bis in die siebziger Jahre dieses Jahrhunderts hatten diese nationalen Monopole fast überall Bestand – dabei waren
sie längst zu schwerfälligen Apparaten verkommen. Und so begannen immer mehr
Länder, die Staatsbetriebe aufzubrechen.
1989 entschied sich auch Deutschland für
eine Reform: Als Aktiengesellschaft sollte
die Post im Wettbewerb bestehen können.
Doch die Revolution allein im eigenen
Land genügte dem ehrgeizigen Manager
Zumwinkel nicht. Denn wenn am 31. Dezember 2002 das Briefmonopol endgültig
fällt, predigt Zumwinkel seinen Mitarbeitern, könne es trotz aller Erfolge für das
Staatsunternehmen eng werden. Dann
werden nicht nur Fahrradkuriere gegen
den Ex-Monopolisten antreten, sondern
potente Konkurrenten wie der amerikanische United Parcel Service (UPS). Und so
holte er sich Ende 1997 beim Aufsichtsrat
Ausbau im Ausland
Schweden
Wichtige internationale Zukäufe
der Deutschen Post AG seit 1996
50% Securior Group
Großbritannien
BETEILIGUNGEN
100 %
ASG
Nedlloyd
< 100 %
noch offen
Niederlande
Polen
98% Belgian Parcel Distribution
60% Servisco
Belgien
68,3% Ducros Services
quickstep Parcel Service
Qualipac
98,1%* DANZAS
Tschechien
Frankreich
Schweiz
Österreich
quickstep Parcel Service
IPP Paketbeförderung
Italien
90 % MIT
USA 100% Global Mail
100% Yellow Stone
*Stimmrechte
d e r
s p i e g e l
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grünes Licht für den gewagten Plan, die
Post zu einem globalen Transportkonzern
auszubauen. Seitdem rafft Deutschlands
oberster Postbote in einer einzigartigen
Einkaufstour fast alle Logistik- und Zustellunternehmen zusammen, deren er
habhaft werden kann: „Die Globalisierung“, sagt er, „ist unser Treiber.“
Fast im Monatsrhythmus schlug Zumwinkel zu. Der Schweizer Großspediteur
Danzas oder der italienische Paketzusteller MIT gingen genauso in sein Netz wie
das polnische Frachtunternehmen Servisco,
die niederländische Nedlloyd oder Anteile an der weltweit operierenden Luftfrachtgesellschaft DHL.
Mehr als zehn Milliarden Mark, über ein
Drittel seines gesamten Jahresumsatzes,
hat Zumwinkel inzwischen in neue Tochterfirmen investiert. Selbst zwei Finanzinstitute fielen seiner Kauflust zum Opfer.
Ende vergangenen Jahres erwarb der oberste Postillion vom Bund die Mehrheit an
der Postbank, vor wenigen Wochen kaufte
er die ebenfalls staatseigene DSL Bank.
Die Banken sollen das Transportgeschäft
befördern; schließlich suchen Händler oder
Hersteller oftmals nach Möglichkeiten,
große Lieferungen per Kredit zu finanzieren. Zudem soll die Postbank zu einer der
schlagkräftigsten Internetbanken Europas
aufsteigen. Schon jetzt wickeln Hunderttausende Postbankkunden Geldgeschäfte
am PC ab. In wenigen Monaten soll die in
Deutschland größte Plattform für den elektronischen Aktienhandel hinzukommen.
Ein Ende der Expansionsgelüste ist nicht
in Sicht. Im kleinen Kreis hat der Postchef
bereits angekündigt, daß er den 25prozentigen Anteil an der Luftfrachtgesellschaft
DHL aufstocken will. Außerdem ist ein
größerer Einstieg in den US-Markt geplant,
falls die Testphase mit den beiden bisherigen Erwerbungen Global Mail und Yellow
Stone erfolgreich verlaufen sollte.
Zumwinkels Kaufrausch hat bei der Post
und deren Konkurrenten zu heftigen Diskussionen geführt. Steckt bloß Größenwahn dahinter oder eine geniale Strate85
Wirtschaft
PICTURE FACTORY
macht haben. Und das in einer Größengie? Kann der staatliche Koordnung von zehn Milliarden Mark, die sie
loß die Zukäufe überhaupt
dann von der Post zurückfordern müßte.
verkraften?
Konzernchef Zumwinkel hält die VorDer eingeschlagene Kurs
würfe der Wettbewerber für „absurd“. Die
birgt für das PostunternehDeutsche Post AG, schimpft der Manager,
men hohe Risiken. Seit Jahsei „in puncto Wettbewerb der Musterren klagt die Transport- und
schüler Europas“. Zudem habe man deLogistikbranche in ganz Eutailliert nachgewiesen, daß die Gelder aus
ropa über fallende Margen.
anderen Quellen stammen, beispielsweise
Viele Unternehmen, die der
dem Verkauf von posteigenen Immobilien.
Postchef dem gelben Riesen
Zumwinkel will die Sache zügig vom
einverleibt hat, schreiben
Tisch haben. Nichts wäre schlimmer als ein
wie Danzas mit 5,9 MilliarAktienprospekt, der verschämt auf ein solden Mark zwar gewaltige
ches Milliardenrisiko hinweist.
Umsätze. Die Gewinne daOhnehin muß Zumwinkel seine Anleger
gegen fallen bescheiden aus,
schon sanft darauf vorbereiten, daß die üpoder es gibt sogar Verluste.
pigen Gewinne aus dem Briefgeschäft nicht
Außerdem muß die bunvon Dauer sind. Wenn Ende des Jahres
te Truppe unterschiedlicher Modell des geplanten Post-Towers: „Schub für das Image“
2002 das Briefmonopol fällt, erwartet der
Firmen und Nationalitäten
geordnet und unter ein einheitliches Dach
Der umtriebige Wettbewerbskommissar Postchef einen überaus heißen Wettbegebracht werden. Eine kaum zu bewälti- Karel Van Miert zumindest hat inzwischen werb: „Das kann alles noch viel härter
gende Aufgabe, meinen die Kritiker.
seine Zweifel. Und so will er in dieser Wo- werden als bei der Telekom.“
So prophezeit eine Studie der Koblenzer
Zumwinkel selbst läßt solche Argumen- che ein Beihilfeverfahren einleiten. Der
te nicht gelten. Durch den Verbund böten Verdacht: Das Geld für die Zukäufe und Wirtschaftsberatungsgesellschaft CTcon
sich Marktchancen, die andere Unterneh- den defizitären Paketdienst der Post stam- schon jetzt dramatische Einbrüche für die
men erst gar nicht hätten. So sei es der me aus den üppigen Gewinnen, die die Zeiten der Liberalisierung: Knapp zwei
Milliarden Mark Umsatz gehen dann verPost inzwischen möglich, Großkunden in Post durch ihr Briefmonopol kassiert.
ganz Europa zu bedienen, ohne die LeiDamit könnte sich die Bundesregierung, loren, heißt es in dem Papier, das im Aufstungen fremder Transportunternehmen in die die hohen Portopreise genehmigt hat, trag der Deutschen Post AG erstellt wurde.
Anspruch nehmen zu müssen.
einer unzulässigen Beihilfe schuldig ge- Auch das Ergebnis dürfte bis 1,24 Milliarden Mark niedriger ausfallen.
Auch vor der Integration der zahlreiWegen all dieser Unwägbarkeiten will
chen Töchter ist dem Postchef, der in Bonn
die Post so lange wie möglich von ihrem
mit dem Post-Tower eine neue Zentrale
Monopol profitieren. So
errichten läßt, nicht bange. Zusammen mit
Unternehmensberatern hat er ein detailAggressive Expansion
Europas Top 5 der Logistik läßt das Unternehmen bei
der Regulierungsbehörde
liertes Konzept namens „Premium“ erarVom Briefunternehmen
Netto-Umsatz 1998
vorfühlen, ob der Portobeiten lassen. Danach sollen alle Firmen
in
Milliarden
Mark
zum Logistikpreis von 1,10 Mark bis
bereits Ende des Jahres vernetzt sein und
*
konzern
Deutsche
Post
10,7
LOGISTIK
2002 verlängert werden
Pakete und Päckchen von Polen bis Spadavon
kann. Die bisherige Genehnien unter dem gemeinsamen Logo „EuDanzas
5,9
FINANZmigung läuft im August
roexpress“ ausgeliefert werden. Schon
ASG
2,6
SERVICE
nächsten Jahres aus – just
bald werden auch alle Paketautos der neuNedlloyd
2,2
vor dem Börsengang.
en Partner im einheitlichen Gelb durch
PAKETE
Schenker/BTL 10,4
Der Postchef lockt die
Europa rollen.
PAKETE
Kühne&Nagel 5,2
Behörde mit dem VerspreDank eines ausgetüftelten ComputersyBRIEFE
Panalpina
5,0
chen, „daß wir das Porto
stems kann sich Zumwinkel jederzeit einen
BRIEFE
NFC
4,8
dann bis Ende 2002 kongenauen Überblick über den Planungs*Ankäufe von ASG und Nedlloyd
stant halten“. Doch manstand verschaffen. Wurde ein vorher
noch nicht abgeschlossen
chem Regulierer reicht dies
definiertes Ziel wie beispielsweise die
1990
2000
nicht: Angesichts der RaNeulackierung der Lastkraftwagen eines
tionalisierungserfolge der Post halten sie
spanischen Betriebs nicht pünktlich
29
28,7
UMSATZ
Portosenkungen für geboten.
umgesetzt, leuchtet auf Zumwinkels Com27
in Milliarden Mark
Im Jahr 2003, auf dem dann vollständig
putermonitor eine kleine rote Ampel auf.
25
liberalisierten Markt, wird es ohnehin dazu
Bisher, so der Manager, stehe bei der Post
23
kommen. Dann prophezeien die meisten
jedoch „fast alles im grünen Bereich“.
21 21,2
Experten einen gnadenlosen Preiskampf.
Das könnte sich schnell ändern. Denn
1400
Auch E-Mail und Fax werden dem geldie hemmungslose Einkaufstour hat eu1276
1000 GEWINN
ben
Riesen weiter zu schaffen machen.Wie
ropäische und internationale Wettbewerber
in
Millionen
Mark
600
diese
postmoderne Zukunft aussehen
wie UPS in helle Aufregung versetzt. Seit
200
könnte, erlebt Zumwinkel schon jetzt daMonaten schon haken sie bei der EU-Kom–200 –180
–600
heim. Sein Sohn Alexander kommuniziert
mission nach und intervenierten sogar über
via Computer statt per Brief. Und auch
die amerikanische Regierung. Geht es bei
BESCHÄFTIGTE in Tausend
400
Tochter Nina schickt aus Großbritannien
der Expansion der Post wirklich mit rech395
300
lieber elektronische Mails an die Mutter.
ten Dingen zu? Oder handelt es sich um
261
200
Familienvater Zumwinkel nimmt es geeine „unzulässige Quersubventionierung“,
100
lassen: „Zu Hause habe ich halt nicht ganz
wie der Hamburger Anwalt Ralf Wojtek
soviel zu sagen.“
vermutet, der Postkonkurrenten bei ihren
Frank Dohmen,
Ulrich Schäfer
1991
1998
Klagen in Brüssel vertritt?
86
d e r
s p i e g e l
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Werbeseite
Werbeseite
Wirtschaft
ZUKUNFT
Die sibirischen Surfer
Das neue High-Tech-Paradies heißt Israel. Der Nahoststaat verdankt seinen rasanten Aufstieg vor
allem den Einwanderern aus Rußland. Die Immigranten werden gefördert und sind hoch
motiviert. Womöglich haben sie noch einen Vorteil – ihre komplexe Muttersprache. Von Erich Follath
88
A. BRUTMANN
S
ie kamen in das Gelobte Land, aus- Neueinwanderer, weit mehr als 1998, und geizigste High-Tech-Führungsreserve der
gestattet nur mit ihrer Muskelkraft, so gut wie alle kommen aus dem Gebiet Welt. Sie haben nach Ansicht von Hasso
ihrem eisernen Willen – und sie hat- der ehemaligen Sowjetunion. Täglich lan- Plattner, Mitbegründer der deutschen
ten einen Traum: Sie wollten den Sozialis- den Maschinen aus Moskau und St. Pe- Software-Schmiede SAP, einen zusätzlimus aufbauen.
tersburg. Ende der Achtziger, in der zwei- chen Vorteil gegenüber ihren westlichen
Die ersten russischen Immigranten in ten großen Immigrationswelle, sind vor al- Kollegen: „Die komplexe russische SpraPalästina gründeten schon in den zwanzi- lem Familien ins Heilige Land geströmt, che hilft ihnen bei den Computer-Denkger Jahren Kollektivfarmen, wo sie ihre die schöngeistigen Berufe waren in der strukturen und macht viele von ihnen zu
kärglichen Erträge, dem steinigen Acker Überzahl: Wer keinen Geigenkasten un- hervorragenden Programmierern.“
Durch den Menschenimport aus dem
abgerungen, brüderlich teilten. Viele dieser term Arm hielt, hieß es, war wahrscheinlich
ehemaligen „Reich des Bösen“ – und
Kibbuzim existieren nicht mehr, doch Gi- ein Pianist.
vat Brenner, rund 20 Kilometer südöstlich
Jetzt fällt auf, daß immer mehr junge durch die extremen Anforderungen an seivon Tel Aviv, hat überlebt. Avner Zaks, der Männer allein ankommen, mit Adressen ne hochmoderne Armee – hat Israel heute
weißhaarige Kibbuzsekretär, erinnert sich, aus Computerzeitschriften in ihren Notiz- mehr Wissenschaftler pro Kopf der Bevölwie bitterlich die meisten russischen Pio- büchern. Gleichgeblieben ist nur das merk- kerung als jedes andere Land (135 auf
niere weinten, als sie im März 1953 vom würdig deplazierte Outfit vieler Immi- 10 000, verglichen mit 85 in den USA).
Tode des Genossen Stalin hörten – der granten: Sie sind im Hochsommer mit Mehr als 100 israelische Firmen werden an
Kommunismus war noch ein Ideal, seine Pelzmänteln behangen. Die Einheimischen der Technologiebörse Nasdaq in New York
furchtbaren Menschenopfer hatten sich am Ben-Gurion-Flughafen laufen in Bade- gehandelt; da kann von den Ausländern
nicht bis Israel herumgesprochen.
shorts herum, mustern die schwitzenden nur noch Kanada mithalten. Jerusalems
Heute ist mehr als jeder dritte der 850 Neuankömmlinge mitleidig und rufen sie Exportoffensive zielt nicht mehr auf die
Bewohner von Givat älter als 65, in der Kol- mit Spitznamen: Schaut her, die sibiri- Zitrusfruchtmärkte, sondern auf die Informationsmärkte der Welt: High-Tech-Walektivkantine sitzt kein einziger Jugendli- schen Surfer.
cher, viele arbeiten außerhalb der ObstplanDie älteren Immigranten klagen über ren machen heute schon fast 40 Prozent
tagen. Ein Großteil des Einkommens, das den wachsenden Antisemitismus in Boris der Gesamtausfuhren aus.
„Wer es in Israel wirklich schaffen will,
den Agrarbetrieb über Wasser hält, stammt Jelzins Reich. Die meisten der jüngeren
aus einem Rummelplatz, den die Kibbuz- Zuwanderer ’99 aber sagen ehrlich, daß sie der packt es auch“, sagt Dmitrij Goroniks nahe ihrem angestammten Land be- weder an Zionismus noch an Religion in- schewski, 29, in seinem chaotischen Jerutreiben. „House of Dreams“ heißt der von teressiert sind: Ihre Bibel ist das Internet. salemer Büro, wo zwischen Kisten, ComDisneyland abgeguckte Amüsierpark.
Diese neuen Russen sind ökonomische putern und Coca-Cola-Dosen nur der
Die Russen der neunziger Jahre haben Flüchtlinge und Computerfreaks – wahr- schlichte Wandschmuck an seine Herkunft
andere Träume als ihre gemeinschaftsori- scheinlich die bestausgebildete und ehr- erinnert: Landkarten der Ex-Sowjetunion
entierten Vorväter – sie wollen
Individualisten sein und das „Internet Telecom“-Firmengründer Sofia und Dmitrij Goroschewski: „Die Russen sind noch nicht satt“
große Geld machen. Ihr Zauberwort heißt „Silicon Wadi“,
das Tal der Hochtechnologie
zwischen Tel Aviv und Haifa,
Symbol für Israels Spitzenplatz in den Zukunftsindustrien. Statt in Bananen und
Pampelmusen denken sie in
Bits und Bytes.
Und sehen sich als zukünftige Porsche-Fahrer: Schon
von den Mittzwanzigern Sefi
Vigiser und Jair Goldfinger
gehört, die ihre israelische
Software-Firma Mirabilis an
America Online verkauften
und jetzt um coole 60 Millionen Dollar reicher sind? Wer
reüssiert im Cyber-Fieber und
wird der nächste Goldfinger?
In diesem Jahr erwartet der
jüdische Staat über 60 000
in kyrillischer Schrift. Die Theorie
Digitaler Exportschlager
von der komplexen Grammatik
und ihre Vorteile beim ProgramSoftware-Ausfuhren Israels
mieren findet er „faszinierend“,
in Millionen Dollar
700*
glaubt aber eher, daß die hervorragende mathematische Ausbildung und die Motivation seine
Landsleute nach vorne bringen.
Der Jungunternehmer lobt auch
540
das „Inkubatoren-Programm“ des
israelischen Staates: Einwanderer
mit Ideen für neue Hochtechnolo400
gie-Produkte dürfen zwei Jahre
Quelle: Israeli Association
lang auf Staatskosten forschen.
of Software Houses
*geschätzt
Erst dann müssen sie private Geld300
geber suchen oder sich selbständig
machen. In den „High-Tech-Brut220
kästen“ sind schon manche kom175
merzielle Erfolge herangereift.
Nicht, daß Goroschewski sol135
110
che Unterstützung gebraucht hät89
te: Der drahtige Leningrader gilt
als das neue Wunderkind der
Telekommunikation; er hat seine
Programme in eigener Regie aus1990 91
92 93
94 95
96
97
98
gebrütet, schon damals, in der
Stadt Peters des Großen. Der
Sohn einer Rechtsanwältin und eines Ma- granten tüftelt Goroschewski daran, die
rinekapitäns kam in Perestroika-Zeiten an Kommunikationskanäle zu revolutionieren
die Uni und organisierte für eine Gruppe – und zu verbilligen. Sein neuestes Probesonders Begabter Privatstunden bei den dukt, ein Modem für 3000 US-Dollar, kann
besten Professoren. Alles ging in diesen via Internet vier Telefonverbindungen
Zeiten – und nichts: Statt Aufbruch in der gleichzeitig schalten: ein riesiger Vorteil
Sowjetunion war nur Zusammenbruch. für Firmenvertreter, die weltweit zum OrtsGoroschewski wurde gerade 20, als er mit tarif miteinander reden und Gruppenseinen Eltern nach Israel auswanderte.
konferenzen abhalten können.
Er landete in irgendwelchen Schlafsälen,
Goroschewski hat eine Tochterfirma in
an die er sich nicht mehr erinnert, weil er St. Petersburg gegründet, wo ihm 30
nur in Büchern lebte. Er konnte kein Wort hochmotivierte junge Russen zuarbeiten.
Hebräisch, nach vier Monaten sprach er es Auch bei seiner Internet Telecom in Israfließend. Er lieh sich Geld, gründete die el sind außer dem Marketing Director nur
erste Firma: Serviceleistungen fürs On- Russen angestellt. „Sie sind noch nicht
line-Geschäft. „Internet Telecom“ ist sein satt, und sie sind von nichts so besessen
drittes Unternehmen. Gemeinsam mit sei- wie von ihrer Aufgabe. Das mag einner Frau Sofia und 20 russischen Immi- dimensional sein, aber dafür leben sie“,
A. BRUTMANN
Ex-General Dinewitsch mit Radarkarte: Schwerter zu Silikon-Plättchen
sagt der Boß. Was er nicht erwähnt: Die
meisten der Mitarbeiter sprechen kaum
Englisch und gar kein Hebräisch. Sie wollen nur untereinander kommunizieren.
Oder gar nicht.
Daniel Rasanski, 24, lebt mit seiner russischen Frau, isoliert von der Außenwelt,
am Rande des Dorfs Zlafon und züchtet in
seiner spärlichen Freizeit Hühner. Anton
Jondkewitsch, 25, aus dem sibirischen Kemerowo und erst im vergangenen Jahr eingewandert, verkriecht sich in einer kleinen
Kammer in Jerusalem. Er hält die Augen
immer gesenkt und kontaktiert nur das Internet. Auch Gregorij Paskar, 24, lebt wie
ein Einsiedler. Sie alle hält ein 16-StundenTag in der Firma zusammen und die Aussicht, es gemeinsam „zu schaffen“.
Was werden sie mit ihrem Reichtum machen, wenn der Chef das Unternehmen –
geschätzter Marktwert 50 Millionen Dollar
– verkaufen sollte? Wenn sie über AktienOptionen dann auch an viel Geld herankommen? Vielleicht ein PS-starker Schlitten, sagt ein Programmierer nach einer
langen Gesprächspause; auf jeden Fall
aber ein modernerer Heimcomputer, da
sind sie sich einig.
Die Cyber-Junkies interessieren sich
kaum für aktuelle Politik oder ihre jüdischen Wurzeln. Bei Goroschewski allerdings hat ein Umdenkungsprozeß eingesetzt, seit er voriges Jahr einen Sohn
bekam. Er ging zur Wahl und entschied
sich für die linksliberale Merez, eine Partei, die für die Aussöhnung mit den Palästinensern eintritt.
Die neuen Russen sind überall dabei, wo
im Heiligen Land faszinierende High-TechProjekte ausgeheckt werden. Sie forschen
in der Negev-Wüste an revolutionären Verfahren zur Energiegewinnung. Sie testen
ein bahnbrechendes Krebs-Früherkennungsverfahren, bei dem sich die angegriffenen Zellen im Zehnminutentest verfärben. Sie entwickeln das ultimative Killerprogramm gegen
elektronische Viren mit – und
eine Software für orthodoxkeusche Juden, die jede unbekleidete Frau im Internet früherkennt und ausblendet. Die religiösen Juden aus aller Welt
können per Mausklick sogar
E-Mail-Botschaften zur Klagemauer schicken, die am „Briefkasten Gottes“ gegen Gebühr
in die Ritzen gesteckt werden.
Doch Israel ist längst nicht
für jeden Sowjetmenschen das
Land geworden, in dem Milch
und Honig fließen. Ältere Wissenschaftler tun sich in der neuen Heimat oft genauso schwer
wie Orchestermusiker oder
Literaturprofessorinnen.
„In manchen Restaurants
arbeiten Putzfrauen mit einem Doktortitel“, sagt Edward
89
Wirtschaft
bündnis. Diese Trendwende
war mit wahlentscheidend.
Ein Mann wie Leonid Dinewitsch, 58, hat gute Gründe,
sich von Staatsgeschäften fernzuhalten; er ist ein gebranntes
Kind. Er hat der UdSSR an exponierter Stelle gedient, als
General und Chefmeteorologe
der Moldawischen Sowjetrepublik.Wenn er jetzt bereit ist,
sich wieder politisch zu engagieren, dann nur, um sein
Recht auf Privates zu sichern.
Dinewitsch befehligte Ende
der achtziger Jahre in
Webside Klagemauer: Der „Briefkasten Gottes“
Chi≠inau tausend Mitarbeiter
bräisch. Es gibt wenig Anreize zur Anpas- und hatte 45 Radarstationen unter seinem
sung: Fast jeder fünfte der knapp sechs Kommando. Er war einer der sowjetischen
Millionen Israelis spricht Russisch.
Wettergötter und entschied, ob und wann
In Städten wie Aschdod, 30 Kilometer sich eine Wolkenfront ausregnen sollte –
südlich von Tel Aviv, sind die Neueinwan- Dinewitsch schickte dann speziell ausgederer längst die bestimmende Mehrheit. stattete Raketen in den Himmel. Er beriet
Sie treffen sich abends auf dem „Roten auch die Militärführung, bevor er im Kreml
Platz“ im Zentrum bei einem Gläschen wegen seiner jüdischen Herkunft suspekt
Wodka, bei aufgetauten original sibirischen wurde. 1991 ließen sie ihn nach Israel ausPelmeni oder Borschtsch aus der Tüte – al- wandern.
les im Supermarkt um die Ecke erhältlich.
Im gleichen Jahr wurde Moldawien ein
Sie sehen im Kino russische Filme. Sie le- unabhängiger Staat, und das ermöglichte
sen eine der vier landesweiten russisch- dem General einen Coup: Er fuhr zurück
sprachigen Tageszeitungen. Und sie infor- nach Chi≠inau und kaufte – für 20 000
mieren sich per Kabelfernsehen in einem Dollar und unterderhand – sein Lieblingsder russischen TV-Programme über Boris radar. Er überwachte persönlich die VerJelzins letzten Aussetzer oder die Schnee- schiffung bei Nacht und Nebel. Jetzt dient
stürme von Sachalin.
das Gerät den Israelis.
Bei den Wahlen vor zwei Monaten waZärtlich streichelt Dinewitsch über
ren die Russen die umworbenste Wähler- die Kuppel seines grünen „Mobile Radar
gruppe, sowohl „Bibi“ Netanjahu als auch MRL-5“, zeigt stolz den begehbaren InEhud Barak lernten für ihre Wahl- nenraum mit dem Computer. Auf dem Bildkampfauftritte einige Redewendungen in schirm beginnt es zu flimmern. „Ein neuer
der fremden Sprache. Während 1996 die Vogelschwarm“, vermeldet der Experte
Mehrheit der Russen dem konservativen stolz, „zu hoch, um den startenden MaLikud zuneigten, schenkten die Einwan- schinen am nahen Ben-Gurion-Flughafen
derer diesmal ihre Gunst überwiegend gefährlich zu werden.“ Bald werden die
Ehud Barak und seinem „Ein Israel“-Wahl- Flugkapitäne sein Software-Programm in
ihren Cockpit-Computern testen können,
Software-Experte Rasanski bei der Heimarbeit: 24 Stunden erreichbar und doch isoliert
das sie vor gefährlichen Vogelzügen warnt.
Der andere Zweck der High-Tech-Anlage auf dem strategisch gelegenen LatrunHügel: Ornithologen sollen den Zug der
Vögel gen Süden studieren, sogar den
mit einem Radiotransmitter ausgestatteten Vogel ihrer Wahl Meter für Meter
über ihren Internet-Anschluß verfolgen
können. Die Regierung in Jordanien und
die palästinensische Autonomiebehörde
haben ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit erklärt.
Ein General als Menschen- und Tierfreund, das gefällt Dinewitsch, darin sieht
er seine wahre Aufgabe: Schwerter zu
Silikon-Plättchen. Während um ihn herum, auf dem Gelände des israelischen
„Armored Corps Museum“, 120 Kampfpanzer stehen, darunter auch ein eroberter sowjetischer T-72, strahlt Leonid Dinewitsch. Und sagt immer wieder: „Ein
Friedensradar. Ich bin der Herr eines
Friedensradars.“
™
A. BRUTMANN
Usoskin, Chef der Hermon Laboratories
in Binjamina bei Haifa. „Wer nicht in den
Zukunftsindustrien reüssieren kann, wird
vom israelischen Staat links liegengelassen. Was haben unsere russischen Parteien
hierzulande für diese Gruppen getan, allen
voran unser früherer Industrieminister und
jetziger Innenminister Natan Scharanski?“
Neben dem berühmten Sowjetdissidenten Scharanski dürfte Usoskin, 63, der
Mann mit den längsten Gulag-Erfahrungen in Israel sein: Fast zehn Jahre war der
Physikprofessor „Gast“ in russischen Gefängnissen und Arbeitslagern, angeklagt
unter anderem der Spionage. 1978 endlich
ließ die Sowjetmacht Usoskin ziehen.
Heute testet der unbeugsame Refusnik
mit einem Team von knapp 40 Mitarbeitern
Faxgeräte und Fernseher, Computer und
Kühlschränke unter Extrembedingungen;
zu seinen Kunden gehören weltbekannte
Firmen, auch die Deutsche Telekom. Aber
weil der Individualist sich nicht an die von
der Regierung gesetzten Rahmenbedingungen halten will – er haßt Autoritäten jeder Couleur –, gerät er immer wieder in
Schwierigkeiten. Er bekommt trotz seines
internationalen Rufs kaum israelische Aufträge und vermutet dahinter Sabotage.
„Der Staat bestimmt die Spielregeln, innerhalb deren man kreativ sein darf. Alle
anderen werden zu Außenseitern.“
Usoskin führt die Firma, an der seine
beiden Söhne beteiligt sind, wie eine russische Großfamilie. Er hat vielen Älteren
eine Chance gegeben, die nirgendwo anders mehr untergekommen sind. Aber wer
nicht spurt, der fliegt. Der Chef lobt, er
mahnt, er tadelt – eine absolute Autorität.
„Larissa hier, drei Jahre in Israel, kann
kaum Englisch. Und Gregorij und Wladimir, auch schon mehr als zwei Jahre da,
nichts außer Russisch.“
Im israelischen Alltag braucht kaum einer der Immigranten Englisch oder He-
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
S T E U E R FA H N D U N G
Kungelei in
Kaiserslautern
In der westpfälzischen Provinzstadt paktieren Ermittler und
Steuersünder. Der ungewöhnliche
Deal: Die einen ersparen
sich Arbeit, die anderen viel Ärger.
S
teuerfahnder sind unnachgiebig, getrieben vom Jagdfieber spüren sie den
Tricksern im Lande hinterher. Ihre
schärfste Waffe ist der Durchsuchungsbeschluß, ihr Nutzen für das Gemeinwesen
kann sich sehen lassen – allein 1997 flossen
zwei Milliarden Mark nachträglich gezahlter Steuern in die Staatskasse.
Stephan Becker und Klaus Kehrein haben eine besondere Berufsauffassung. Die
zwei Sachgebietsleiter des Finanzamts in
Kaiserslautern legen Wert auf einen ganz
persönlichen Stil. „Das Übliche ist nicht
das, was erstrebenswert ist“, sagt Becker.
Die Liebe zum Unüblichen führte in der
Westpfalz zu einer ungewöhnlichen Zusammenarbeit zwischen Ermittlungsbehörden und Bankern – zum Wohle zahlrei-
DG-Bank-Zentrale in Frankfurt: Brisante Unterlagen
cher Steuersünder, die Vermögenswerte nach Luxemburg oder in die Schweiz
transferiert hatten.Während
bundesweit immer wieder
Kreditinstitute von Steuerfahndern durchsucht werden, handelten die Ermittler
in Kaiserslautern ihre Arbeitsergebnisse mit den Bankern aus.
Die Zusammenarbeit begann, nachdem im März
1997 die DG-Bank-Zentrale
in Frankfurt, Dachorganisation aller deutschen Genossenschaftsbanken, durchsucht worden war. Steuerfahnder werteten rund zwei
Millionen Daten aus, die
aufgearbeiteten Unterlagen
verschickten sie an die Fahndungsämter. So gelangten
die brisanten Unterlagen
auch nach Kaiserslautern.
Normalerweise beginnt
dann für die Fahnder vor
Ort die eigentliche Arbeit –
der Gegencheck bei den
Banken und ihren Kunden.
Durchsuchungen und Ermittlungsverfahren helfen,
die Steuersünder zu über-
Wirtschaft
führen. „Wenn man einen Verantwortlichen
in der Bank sucht, macht es schon Sinn, in
die Schreibtische zu schauen“, begründet
der Koblenzer Leitende Oberstaatsanwalt
Erich Jung solche Aktionen.
Doch im Bereich der Steuerfahndung
Kaiserslautern gingen die Beamten sanfter zu Werke. In einer schriftlichen Vereinbarung stimmten sie mit den Vorständen
des jeweiligen Kreditinstituts ihre Vorgehensweise ab. „Die Kunden sind ja nicht
die hartgesottenen Steuerhinterzieher“,
begründet dies Fahndungschef Becker.
So verabredeten Steuerfahnder und die
Staatsanwälte in Kaiserslautern mit mehreren Genossenschaftsbanken, daß nur
„soweit möglich“ Namen und Anschriften
der Kunden mitgeteilt werden, die „im
Zeitraum vom 01. 01. 92 bis 31. 12. 93“ Vermögenswerte in die Schweiz oder nach Luxemburg transferiert haben.
Der Form halber erwirkten die Fahnder
Durchsuchungsbeschlüsse gegen Geldinstitute. So konnten die Banken ihren Kunden glaubhaft machen, daß sie zur Mitarbeit gezwungen seien. Der Hausbesuch der
Fahnder fiel freilich aus. „Wir haben die
wesentliche Enttarnungsarbeit durch die
Bank machen lassen. Da müssen wir uns
nicht extra in die fremden Vorgänge einarbeiten“, erklärt Fahnder Kehrein.
Dann folgte der nächste und für die
Steuersünder äußerst nützliche Schritt der
Gesucht – Gefunden
Was Steuerfahnder dem Staat
einbrachten
1996
1997
eingesetzte
Steuerfahnder
1382
1533
Einnahmen von
1,55
1,97
Mehrsteuern Milliarden Mark Milliarden Mark
Einnahmen je
1,12
Steuerfahnder Millionen Mark
durchschnittliches
Jahresbruttogehalt
eines Fahnders
80 000
Mark
1,29
Millionen Mark
80 000
Mark
Quelle: Deutsche Steuergewerkschaft
Kooperation. Die Ermittler teilten den
Banken mit, daß ihre Kunden mehrere
Wochen Zeit hätten, eine Selbstanzeige zu
formulieren oder ihre Steuererklärungen
zu korrigieren.
Entsprechende Anschreiben an die Anleger wurden gemeinsam aufgesetzt.
„Durch die Steuerfahndung beim Finanzamt Kaiserslautern haben wir Kenntnis“,
heißt es beispielsweise in einem Brief der
Volksbank Pirmasens, daß „nun eine individuelle und detaillierte Überprüfung
auch der von Ihnen getätigten Auslandstransaktionen unmittelbar bevorsteht“.
Die Behörde habe ihnen bestätigt, daß
„derzeit noch“ die Möglichkeit bestehe,
durch eine Selbstanzeige Straffreiheit zu
erlangen.
Die Friedfertigkeit hat sich für alle Beteiligten gelohnt: Die Fahnder hatten weniger Arbeit, die Kunden weniger Ärger,
und gegen keinen Mitarbeiter der Banken
wurde ein Verfahren wegen des Verdachts
der Beihilfe zur Steuerhinterziehung eingeleitet. In Kaiserslautern gilt praktisch
eine Amnestie durch die Hintertür. Der
Rechtsanwalt der Banken, der Steuerstrafrechtler Alexander Keller, verteidigt
die Agreements: „Die Banken haben die
Pflicht, ihre Kunden zu schützen.“
Das Ergebnis ist in der Statistik der aufgedeckten Fälle und der erzielten Steuermehreinnahmen dokumentiert: Unter
den Steuerfahndungsstellen in RheinlandPfalz rangiert Kaiserslautern auf dem
letzten Platz.
Die übrigen Steuerfahnder in Rheinland-Pfalz können das laxe Vorgehen ihrer Kollegen kaum fassen. Auf einer Tagung in Neustadt an der Weinstraße empörten sich viele: Kompromisse müsse jeder machen, erzählt ein Ermittler, aber
„wer nicht durchsucht, kann auch nichts
finden“. Ein anderer hielt das Vorgehen
der Kollegen gar für kriminell: „Das sind
doch Verdunklungshandlungen, keine Ermittlungen.“
Felix Kurz
Wirtschaft
FA M I L I E N F I R M E N
„Moralische Verkommenheit“
In der Kuemmerling-Familie tobt ein bizarrer Streit
ums Geld. Der Junior strich seinem Vater das
Schnaps-Deputat, der Senior fordert seine Firma zurück.
B
96
Quadratmeter-Penthouse in Schlangenbad
bei Wiesbaden. Gediegener residiert sein
Sohn in einem schloßähnlichen Anwesen,
das nach Kenntnis des Alten 25 Millionen
Mark gekostet hat.
Kein Zweifel, daß die Bodenheimer Fabrik (rund 280 Millionen Mark Umsatz, 260
Beschäftigte) viel Geld abwirft. Johannes
FOTOS: R. ROSICKA / RIRO-PRESS
ei seinem letzten Großeinkauf im
Verbrauchermarkt deckte sich Johannes Persch, 80, wieder einmal mit
Kräuterlikör ein, Marke Kuemmerling,
sechs Kartons für 395,28 Mark. Daß er sich
den Magenbitter kaufen muß, stößt dem
ehemaligen Chef der Kuemmerling GmbH
doch arg sauer auf.
Denn sein Sohn Jürgen, Herr über die
Destille in Bodenheim bei Mainz, gibt ihm
kein Fläschchen Schnaps mehr. Als Johannes Persch im Herbst 1983 aus der Firma
ausschied, vereinbarte er mit seinem Sohn
ein Kuemmerling-Deputat im Wert von
3000 Mark jährlich. Das wurde ihm längst
gestrichen.
„Die moralische Verkommenheit meines Sohnes ist grenzenlos“, notierte der
Senior in einem seiner vielen Aktenvermerke. Es hat ihn auch sehr verbittert, daß
Jürgen Persch, 53, ihm den Mercedes 500
SEC aus der Garage holen ließ. Eigentlich
sollte er den 500er oder eine vergleichbare Limousine als Firmenwagen bis an sein
Lebensende fahren dürfen.
Auch diese Vereinbarung ließ sein Sohn
vor Gericht annullieren. Seit mehr als 15
Jahren tobt in der Familie eine Schlammschlacht – nicht nur ums Geld.
Bei vielen Mittelständlern gibt es Krach
zwischen Jung und Alt, wird um Lebenshaltungskosten und Firmenpolitik gestritten. Aber ein so verbissener Zwist wie in
der Familie Persch ist selten.
Seit seinem unfreiwilligen Abgang aus
der Firma hat der Senior drei Anwälte beschäftigt, vergangene Woche ging er zum
vierten. Von seinem Sohn fordert er jetzt
seine Firmenanteile und Schenkungen
zurück, „wegen groben Undanks und niedriger Gesinnung“.
„Schwachsinn“, kommentiert Jürgen
Persch. Seinen „lieben Vater“, der mit einem Buch über Firma und Familie droht, ermahnte er schriftlich, bei der Wahrheit zu
bleiben, „denn ansonsten werde ich Dich
unverzüglich auf Schadenersatz verklagen“.
Er habe seinen Vater „sehr großzügig
abgefunden“, sagt der Junior, „aber der
will immer wieder nachbessern“. Das gehe
seit Jahren so, „jetzt will er zehn Millionen
Mark von mir, und zwar jährlich“.
Johannes Persch, ein gelernter Destillateur, ist kein armer Schlucker. Er besitzt ein
Haus in Kanada und ein Appartement in
Florida; zusammen mit seiner zweiten Frau
Ellen und einem Pudel bewohnt er ein 290-
gerechnet auf die übliche 0,7-Liter Flasche,
einen Flaschenpreis von über 46 Mark – gut
dreimal teurer als der Magenbitter Jägermeister.
Kuemmerling-Fans in Kneipen legen so
viele ausgetrunkene Fläschchen nebeneinander, bis sie wegen ihrer konischen Form
einen Kreis bilden. 57 Flaschen müssen
dazu geleert werden; eine trinkfeste Gruppe schafft auch die fünf olympischen Ringe. Auf jeder Flasche ist eine zweistellige
Nummer eingeprägt – wer die höchste Zahl
hat, muß eine Runde spendieren. Steht die
Nummer 00 auf einer Flasche, so die von
der Kuemmerling GmbH festgelegten Regeln, zahlt der Wirt die Runde. Hocherfreut war die Firma, als einmal ein Freund
ihres Kräuterlikörs einen Kronleuchter aus
leeren Kuemmerling-Fläschchen bastelte.
Sechs Zentner wog das Gerät.
Entlassener Kuemmerling-Chef Johannes Persch*, Nachfolger Jürgen Persch: „Der hat nur einen
Persch schätzt den Jahresgewinn auf 50
Millionen bis 60 Millionen Mark.
83 Prozent der Deutschen kennen die
Marke Kuemmerling, die Nummer fünf unter den meistgetrunkenen Spirituosen (siehe Grafik). Jürgen Persch, ein ebenso unauffällig wirkender Mittelständler wie sein
Vater, verhandelt derzeit über den Kauf
der Weinbrandmarke Asbach und will damit in die Spitzenliga der deutschen Brenner vorstoßen.
Anders als fast alle Konkurrenten leidet
das Unternehmen nicht unter den Preiskämpfen der Branche. Der Kuemmerling
wird nur in 20-Milliliter-Fläschchen verkauft, der Dreier-Pack kostet im Supermarkt rund vier Mark. Das macht, hochd e r
s p i e g e l
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Bei der soliden Ertragslage fühlt sich Johannes Persch mit seiner damaligen Abfindung von 16,5 Millionen Mark zu billig
abgespeist und fordert einen Nachschlag.
Doch bei den Perschs geht es nicht nur ums
Geld, sondern auch darum, sich gegenseitig ordentlich zu kujonieren.
So hat Jürgen Persch im Foyer der Firmenzentrale ein Bild von Friedrich Hugo Kuemmerling aufgehängt, dem „Seniorchef“, wie ein Messingschild verkündet. Johannes Persch schwört, er habe die
Marke Kuemmerling erfunden und die Firma gegründet. Falsch, beteuert der Junior:
Der Vater seiner Mutter, die sich 1981
* Mit Ehefrau Ellen.
K. BERNSTEIN / DER SPIEGEL
lassen und seinen Kapitalanteil von 30 Prozent verkaufen. An den Dialog in gewohnt
derbem Ton könne er sich noch genau erinnern, berichtet Jürgen Persch: „Vater, ich
will gehen, gib mir zwei Millionen.“ „Einen
Scheißdreck kriegst du.“
Am 27. Oktober 1983 kam es zum Krach:
Johannes Persch wurde von den beiden
anderen Geschäftsführern, seinem Sohn
und seinem Schwiegersohn Burkhard Riesen, „aus wichtigem Grund“ entlassen: Er
habe sich „Sondervorteile“ zu Lasten der
anderen Gesellschafter verschafft, wie der
Griff in die Kasse juristisch umschrieben
wird. Das sei nicht wahr, verteidigt sich
der Senior; als die „Mainzer Allgemeine
Zeitung“ über seinen Rauswurf berichtete,
hat er sich „geschämt wie ein Bettpisser“.
Johannes Persch mußte gehen, seinen
40-Prozent-Anteil übernahmen jeweils zur
Hochprozentige Absatzrenner
Deutschlands Top ten Spirituosen-Marken
Umsatz Februar bis Mai 1999
in Millionen Mark
1. Chantré Weinbrand
2. Wilthener Goldkrone
3. Jägermeister
4. Mariacron
5. Kuemmerling Halbbitter
6. Nordhaeuser Klare
7. Gorbatschow inkl. Lemon
8. Bacardi inkl. Limón
9. Berentzen Fruchtige
10. Asbach
76,9
65,0
47,0
40,6
38,6
37,0
34,0
29,6
25,9
24,4
Quelle: A.C. Nielsen, nur Lebensmittel-Einzelhandel
Arsch, aber 42 Luxuskarossen“
scheiden ließ, sei der Firmengründer gewesen.
Der Generationenkonflikt begann schon
Ende der siebziger Jahre. Ziemlich autoritär regierte Johannes Persch den Betrieb,
den er nach Kriegsende in Thüringen geleitet und dann in den Westen verlagert
hatte. „Wenn einer meinem Vater widersprochen hätte, wäre er durchs Fenster
marschiert“, beschreibt Jürgen Persch den
Führungsstil.
Einmal wagte Finanzchef Edgar Zahler
einen Einwand. Vor Mitarbeitern kanzelte
Persch seinen kleinwüchsigen Manager ab:
„Der Gnom hat hier nix zu melden.“
Entnervt von der rigiden Führung des
Alten, wollte der Juniorchef die Firma ver-
Hälfte sein Sohn und die beiden Töchter
Carin und Evelyn.
Eine hohe Abfindung habe die Firma damals nicht verkraften können, versichert
der Junior. Die Kuemmerling-Gruppe – inklusive einer eigenen Flaschenherstellung
und der weniger lukrativen Produktion von
Weinbrand, Fruchtsäften und Pfefferminz
– machte einen Umsatz von rund 80 Millionen, aber die Expansion war teuer. Jürgen Persch: „Wir standen kurz vor dem
Exitus.“
Fünf Millionen Mark habe der Versuch
gekostet, eine Kaugummi-Produktion aufzubauen, 20 Millionen versandeten in
Kanada, wo der Seniorchef eine Filiale
für den nordamerikanischen Markt erd e r
s p i e g e l
2 9 / 1 9 9 9
richten wollte. „Die Firma wäre beinahe
den Bach runtergegangen“, erinnert sich
Finanzchef Zahler.
Glänzend seien die Bilanzen des Unternehmens gewesen, behauptet Johannes
Persch, sein Sohn habe Geld verschwendet:
„Der hat nur einen Arsch, aber 42 Luxuskarossen.“ Er registrierte unter anderem
15 Ferrari, fünf Porsche, drei Rolls-Royce
und einen De Tomaso.
Nach langem Feilschen der Anwälte und
Streitereien vor Gericht erhielt der ExChef für seine Anteile über 16,5 Millionen
Mark und einen lebenslänglichen Beratervertrag, der mit jährlich 200 000 Mark dotiert war. Er sollte bis an sein Lebensende
einen schweren Firmenwagen fahren dürfen, ein Magenbitter-Deputat erhalten und
2700 Mark Monatslohn für eine Putzfrau
erstattet bekommen.
Mit dem Beratervertrag war der Senior
weiterhin für die Firma tätig, und das sorgte ständig für Zoff.
Denn für das Honorar von rund 17 000
Mark monatlich verlangten die Kuemmerling-Geschäftsführer eine stramme Leistung und gaben ihrem Berater schwierige
Aufträge, die er kaum erfüllen konnte. Beispielsweise sollte er für das KuemmerlingNebenprodukt Fruchtsäfte Fragen untersuchen wie etwa: „Entspricht die Farbe der
Flasche bezogen auf das Produkt den Erkenntnissen der Farbpsychologie?“
Oder für die inzwischen aufgegebene
Pfefferminzproduktion: „Wo liegen die
grundlegenden Problemfelder bei der Entwicklung einer Export-Marketing-Konzeption (einheitliche bzw. länderspezifische Vorgehensweise)?“
Derartige Fragen konnte Destillateur
Persch nicht beantworten. Nach fünf Jahren – die Kuemmerling-Chefs hatten einige Leistungen als „mangelhaft“ bewertet
und nicht honoriert – kündigte er den Beratervertrag. Daraufhin wurde ihm wegen
Vertragsbruchs der Firmenwagen entzogen, die Bezahlung der Haushaltshilfe eingestellt und das Deputat gestrichen.
Wieder einmal mußten sich die Gerichte mit den Perschs beschäftigen. Der Beratungsvertrag sei in Wahrheit „ein verdecktes Leibrentenversprechen“, argumentierte der Kuemmerling-Senior. Der
Streit um 200 000 Mark Jahreshonorar, um
Mercedes und Putzhilfe ging bis zum Bundesgerichtshof, Johannes Persch hat weitgehend verloren.
1996 stellte Jürgen Persch seinem Vater einen Scheck über gut 1,5 Millionen
Mark aus: den finanzmathematisch kapitalisierten Wert der Beratungshonorare.
Der Krach geht mit unverminderter Schärfe weiter.
Der Senior habe ihn beim Finanzamt
angeschwärzt, stöhnt der Kuemmerling-Junior, und im Streit ums Geld die Industrieund Handelskammer eingeschaltet: „Der
stört ständig das Unternehmen, das ist kein
Vergnügen.“
Hermann Bott
97
Werbeseite
Werbeseite
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Werbeseite
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Medien
Trends
PRESSE
„Kleines Wunder“
Giovanni di Lorenzo, 40, Chefredakteur
des „Tagesspiegel“, über Redaktionswirren und Denunzianten
SPIEGEL: Sie werden in anonymen Brie-
B. BOSTELMANN / ARGUM
fen angegriffen, im Blatt sind böswillig
fabrizierte Druckfehler. Haben Sie die
Kontrolle über die Redaktion verloren?
Lorenzo: Wir haben ein erfreuliches halbes Jahr hinter uns, die ersten Veränderungen werden allseits gelobt, die ganze
Mannschaft gibt ihr Bestes. Und dann
gibt es jemanden, der einen Text manipuliert und anonym einen ekelerregenden Denunziationsbrief verschickt. Wir
sind alle keine Betschwestern, aber so
etwas gehört in den Papierkorb.
SPIEGEL: Ihr Beschluß,
als Dienstwagen einen
Jaguar zu fahren, paßt
kaum zu den roten Zahlen beim „Tagesspiegel“.
Lorenzo: Nichts ist in
Deutschland geregelter
als die DienstwagenverDi Lorenzo
ordnung, ich habe genau
die Summe beansprucht,
die nach dieser Verordnung vorgesehen
ist. Ich habe auch weder Cabrio noch
Chauffeur, wie der Denunziant streut.
SPIEGEL: Es heißt, Michael Grabner,
der für Sie zuständige Geschäftsführer
beim Holtzbrinck-Verlag, werde extra
anreisen, um Ihnen zur Seite zu springen. Warum der Einsatz?
Lorenzo: Das ist dann wohl doch ein
wenig zuviel der Ehre für diesen Täter.
Herr Grabner denkt gar nicht daran
anzureisen.
SPIEGEL: Die Auflage des „Tagesspiegel“
ist um 417 Exemplare im letzten Quartal gestiegen. Reicht Ihnen das aus?
Lorenzo: Bei der Konkurrenz gibt es
einen dramatischen Auflagenschwund
in Berlin. Unser Zuwachs ist da ein
kleines Wunder.
Schmidt
M U LT I M E D I A
AOL plant Verlustjahr
S
DPA
chwere Zeiten für AOL Deutschland: geschäfte im Internet; sein UnternehDie Online-Tochter von Bertelsmann men habe als „Technologieführer“ eiund der amerikanischen AOL rutscht nen neuen Sicherheitsstandard mitentplanmäßig in die Verlustzone – 1999/ wickelt, sagt ein AOL-Sprecher. Bisher
2000 soll ein Minus von 200 Millionen freilich hat T-Online im Homebanking
Mark anfallen. Das sehen die Budgets die Nase vorn, und Direktbanken bieten
vor, die Bertelsmann und die Zentrale ihre Dienste in der Regel ohne den Umvon AOL genehmigten. Im Ende Juni weg eines Online-Dienstes an. Den derabgelaufenen Geschäftsjahr hatte die zeit gut 900 000 AOL-Mitgliedern stehen
Multimedia-Firma noch 30 Millionen 3,3 Millionen Kunden von T-Online geMark Gewinn erwirtschaftet. Hinter- genüber. 1999 gewann die Telekomgrund der Planzahlen: Um endlich den Tochter dank eines Billigtarifs schon
Abstand zum Marktführer T-Online über 600 000 Neukunden, AOL akqui(Deutsche Telekom) zu verringern, will rierte nur 100 000 neue Kunden.
der neue AOL-Europe-Chef
Juni 1999
Andreas Schmidt in den 3,5
T-Online- und AOL-Mitglieder
3,3
in Deutschland
nächsten zwölf Monaten et- 3,0
2,7
in Millionen
wa 200 Millionen Mark ins
Marketing investieren. Rund 2,5
1,9
50 Millionen sollen allein in 2,0
T-Online
die TV- und Radiowerbung
1,35
April 1999
fließen; zudem ist eine gün- 1,5
0,97
0,9
stige Online-Pauschalgebühr 1,0
0,6
AOL
von 19,90 Mark monatlich
0,4
0,15
vorgesehen. Großen Zulauf 0,5
erhofft sich AOL durch Bank1995
FILM
Kinostar Basler
en Fußballer Mario Basler (Bayern
München) drängt es ins Filmgeschäft. Seit einigen Wochen liebäugelt
der Ballprofi damit, eine Gastrolle in
dem Kinowerk „Der tote Taucher im
Wald“ zu übernehmen, das die Firmen
Helkon und MME derzeit produzieren.
Der im Fußball als eher lauffaul geltende Basler soll dabei – passenderweise –
H. RAUCHENSTEINER
D
96
97
98
99
einen Jogger mimen, der einen Toten
findet. Für den Trimm-dich-Einsatz sind
im August drei Drehtage eingeplant; da
Baslers persönliche Filmpremiere aber
offenbar nur schwer mit den Trainingsplänen des deutschen Fußballmeisters
Bayern München in Einklang zu bringen
ist, fehlt bis jetzt die letzte Bestätigung.
Vorsichtshalber fahnden die Filmleute
schon mal nach Ersatz – unter deutschen Showgrößen des Rockgeschäfts.
Basler
101
Medien
TA L K S H OW S
U
ndank ist der Welten und der
Männer Lohn. Da haben sich
jahrzehntelang unverbesserlich und
aus dem Drombusch Mütter der Nation wie Inge Meysel oder Witta Pohl
im Fernsehen abgemüht – und nun
das. Da betten Nachtschwestern Ingeborg und für alle Fälle barmherzige Stefanies die Kranken – es nützte
nichts. Und selbst daß Kommissarinnen, mal burschikos wie Ulrike
Folkerts, mal schön und traurig wie
Iris Berben, den TV-Polizeidienst
versehen, ging spurlos an ihnen
vorbei.
Deutsche Männer mögen nicht
Muttis, sie mögen Journalistinnen, lautet das Ergebnis
einer Umfrage der Frauenzeitschrift „Freundin“. Die Herrin der
Feder liegt in der
Herren Gunst mit
37 Prozent vor der
Ärztin (34), der Ingenieurin (31) und
– wenn Männer
zuviel überlegen –
dem Model (26).
Der Chronist erhebt sich konsterniert
vom elektronischen Schreibgerät,
blickt die Redaktionsgänge hinunter.
Zweifel durchbebt die Brust: Hat er
denn nie die Kolleginnen richtig
schätzen gelernt? Es ist ja wohl kaum
ein Zufall, daß der Bundeskanzler
oder Herr Fischer sich mit einer Journalistin zusammentaten.
Und plötzlich erinnert er sich an Thekla Carola Wied und ihre TV-Serie
„Auf eigene Gefahr“, in der die
Schauspielerin mit spätjüngferlichem
Charme für ein Bonner Blatt recherchiert. Ja und das amerikanische
Kino: Es feiert weibliche Spürhunde,
die das Unrecht aufdecken.
Männliche Journalisten kommen da
nicht so gut weg. Maupassants „Bel
ami“ ist ein schreibender Parvenü,
der Reporter-Held der HemingwayÄra versoffen, und bei Böll („Die
verlorene Ehre der Katharina Blum“)
mutiert der Mann der Vierten Gewalt zum Boulevard-Knecht.
Journalistische Sorgfaltspflicht gebietet allerdings ein wenig Skepsis
angesichts des männlichen Journalistinnen-Faibles: Wenn Frauenzeitschriften fragen, sieht Mann sich mit
Antworten vor und sagt vielleicht
nicht die ganze Wahrheit. Reporterin,
klär’s auf.
102
Abschied vom Krawall?
K
aum hat RTL die Trash-Ikone Ilona
Christen nach 1164 durchlittenen
Moderationen in den verdienten Ruhestand geschickt, da kündigt der Kölner
Privatsender jetzt etwas ganz Neues für
das Talkshow-Gewerbe an: „Lebenslust
und Heiterkeit“. Dafür sorgen soll Oliver Geißen, 29, ein ehemaliger ZDFModerator („X-Treme“) mit Schauspielerfahrung („Alphateam“, „Gegen den
Wind“). Geißen wird vom 23. August an
auf Christens altem Sendeplatz (wochentags, 13 bis 14 Uhr) über Beziehungen, Kinder, Freunde und Familie reden
– also über „das, was bewegt“ (RTL).
Doch anders als bei den derzeit elf
Konkurrenz-Quatschern von „Vera
am Mittag“ (Sat 1) bis „Andreas Türck“
(Pro Sieben) sollen in der von Hans
ACTION PRESS
Wen Männer mögen
Talk-Hoffnung Geißen
Meisers Firma CreaTV produzierten
„Oliver Geißen Show“ nicht „Konfrontation oder Krawall die Hauptrolle“
spielen; der Moderator, verspricht RTL,
werde „keine Betroffenheit heucheln
oder gar den Therapeuten spielen“.
PROJEKTE
Herz am Sonntagabend
G
efühlsgeladene Fernseh-Movies zu produzieren, um die für die Werbewirtschaft
besonders interessanten jungen Frauen an den Bildschirm zu fesseln, ist schwer.
Diese Erfahrung hat Borris Brandt, Programmdirektor von Pro Sieben, gemacht. Es
fehle, sagt er, vor allem an guten Büchern. Trotzdem wird der Sender auf dem
neu eingerichteten Sonntagabendtermin in diesem Herbst und Winter Herz- und
Schmerzgeschichten zeigen, darunter eine Schalke-04-Fan-Story mit Uwe Ochsenknecht, den Katja-Riemann-Film „Bandits“ und Peter Maffay als Biker auf einem
gefahrvollen Trip durch den Jemen. Der Freitagabend auf Pro Sieben ist jetzt ausschließlich dem Nervenkitzel mit Psycho- und Actionthrillern vorbehalten.
QUOTEN
Geteilter Kuchen
D
ie Flut der Reklamespots im Fernsehen täuscht: Print- und elektronische Medien teilen sich seit Jahren den
Werbekuchen. Nach Berechnungen der
Nielsen Werbeforschung S+P konnten
Zeitungen, Zeitschriften und Plakate
gegenüber Fernsehen und Radio im vergangenen Jahr ihren Anteil an den Bruttowerbeinvestitionen zum erstenmal
seit 1994 wieder leicht steigern: von 51,1
im Jahr 1997 auf 51,7 im vergangenen
Jahr. In den Jahren davor war der Printanteil kontinuierlich gesunken. Insgesamt wurden im Vorjahr knapp 30 Milliarden Mark für Werbung aufgewendet,
eine Steigerung zum Vorjahr um 9 Prozent. Die deutlichsten Reklamezuwächse im Printbereich gab es bei der Wirtschaftspresse, die im vergangenen Jahr
23,7 Prozent mehr Anzeigen gegenüber
1997 hatte.
d e r
s p i e g e l
2 9 / 1 9 9 9
Bruttowerbe-Investitionen nach Medien
Gesamtvolumen 1998:
6,7%
29,9 Milliarden Mark
R A D I O
6,0 % 5,6 %
43,0 % 42,8 %
38,4%
F E R N S E H E N
52,0%
48,5 % 48,9 %
P R I N T M E D I E N
2,9%
1994
P L A K AT E
1995
1996
2,5 %
2,7 %
1997
1998
Fernsehen
Vo r s c h a u
Einschalten
Solange es Liebe gibt
Montag, 20.15 Uhr, ZDF
So schön kann ein deutsch-italienischer
Vierteiler sein: Samtblick, Sentiment,
Sizilien. Unter der Regie von Giacomo
Battiato werden bekannte Elemente –
von Lampedusas „Leopard“ bis zu den
berühmten Mafia-Filmen – zu einer
süffigen Mischung verquirlt. Zumindest
im ersten Teil überschreitet der Film
kaum einmal die Grenze zum Kitsch.
Ein sizilianischer Baron (Fabrizio Conti), der Ende der fünfziger Jahre mit
seiner deutschen Frau (Anja Kling) in
seine Heimat zurückkehrt, bekommt
wegen eines großen landwirtschaftlichen Projekts, das die Lage der Kleinbauern verbessern soll, Ärger mit der
Mafia. Sein Sohn wird entführt, und
erst einem schneidigen Kommissar der
Carabinieri (Raoul Bova) gelingt es,
das Kind zu befreien. Sizilianische
Landschaft, die Omertà der Mafiosi
und eine schrecklich besorgte und
wunderschöne Mama laden mitten im
Sommer zu einer Bildschirmreise in
den Süden – ohne Streiks, ohne Hitze
und ohne Autobahngebühren. Am
Mittwoch läuft der zweite Teil.
Dr. Vogt: Leben auf dem Spiel
Mittwoch, 20.15 Uhr, ARD
Auch dieser Film der ARD-Ärztereihe
mit Sven-Eric Bechtolf überzeugt. In
der heutigen Episode spendet der
Oberarzt seinem Vater eine Niere, är-
Kling, Bova in „Solange es Liebe gibt“
gert sich mit der Krankenhausleitung
herum und muß die Oberschwester auf
Entziehungskur schicken.
Der Verräter
Donnerstag, 23.00 Uhr, ARD
Als er sich 1985 bei dem DDR-Grenzoffizier in Marienborn zwecks Übersiedlung in den ersten deutschen Arbeiter-und-Bauern-Staat meldete, bekam er bald statt eines Stuhls einen
Sessel angeboten. Denn die DDR-Geheimdienstler hatten schnell begriffen,
daß ihnen mit dem Überläufer Hansjoachim Tiedge vom Kölner Bundesamt
für Verfassungsschutz ein dicker Fisch
ins Netz gegangen war. Reporter Jörg
Hafkemeyer ist es gelungen, mit Tiedge, der heute in Moskau als Hans Otto-
witsch lebt, ein erstes ausführliches
Fernsehinterview zu führen. Darin erzählt der Verräter sichtlich entspannt
seine Lebensgeschichte. „Ich habe gesoffen, ohne daß das Amt gelitten hat“,
behauptet Tiedge über seinen gesundheitlichen und finanziellen Abstieg, der
ihn zum Sicherheitsrisiko beim Kölner
Amt machte und zur Flucht in die
DDR bewog. Daß durch seine Aussagen
bei der Stasi West-Agenten enttarnt
wurden – einer von ihnen, Horst Garau, starb während der Haft in Bautzen
–, ist Tiedge kein großes Bedauern
wert. Unbehelligt vor Strafe demonstriert dieser schräge Schlapphut eine
penetrante Selbstgerechtigkeit, die
Hafkemeyers interessanter Film schonungslos enthüllt.
Ausschalten
Fliege
Montag, 16.00 Uhr, ARD
„Der Feind in meinem Körper – Würmer, Maden“. Der „Gangster da oben“
und seine Statthalter auf Erden, die
ARD, ließen den Talkpfarrer letzte Woche nicht fallen. Getreu der alten Weisheit: Mafia, Würmer, Maden gehen selten richtig baden.
ton-Verhältnis Monica Lewinsky, ihre
edle, vieles erduldende Gegenspielerin
Dr. Eva Warden (Beth Broderick) wie
Hillary, die Präsidentengattin. Mit sol-
chen Äußerlichkeiten muß sich der
Zuschauer beschäftigen, denn die klischeehafte Handlung – eine neurotische Frau rächt sich an ihrer Ärztin,
weil sie sich fälschlich durch
eine Operation unfruchtbar
gemacht glaubt – und die stereotype Schauspielerei lassen
viel Raum für Ablenkung.
Ein Mutterherz läuft Amok
Total verrückt!/
Verrückte Welt
Dienstag, 20.15 Uhr, Sat 1
Auch der Zufall schreibt seine Storys:
Die weiblichen Helden dieses 1996 entstandenen US-Psychothrillers sehen
Figuren der Zeitgeschichte verdammt
ähnlich. So wirkt die böse, verstockte
Tracy Patterson (Delta Burke) wie das
aus den Fugen geratene Präsident-Clin-
Freitag, 20.15 Uhr, RTL/Sat 1
Burke, Broderick in „Ein Mutterherz läuft Amok“
d e r
s p i e g e l
2 9 / 1 9 9 9
Matthias Bullach (RTL) und
Charles Huber (Sat 1), ExAssi des „Alten“, zeigen
um die Wette Pannen und
Crashs. Total verrückt? Total
einfallslos!
103
Medien
B O U L E VA R D
Darf man das?
In seltener Einmütigkeit rüsten die bunten Blätter zu einer moralischen Treibjagd auf die Liaison
von Brigitte Seebacher-Brandt und Banker Hilmar Kopper – mit Dämonisierungen,
Feindklischees und einem Salto rückwärts in die fünfziger Jahre. Von Matthias Matussek
D
iese Schlagzeile traf unvorbereitet.
Frost mitten im Sommerloch! Wo
wir doch Sinnesfreuden erwarten
durften von den Bilderblättern, also Glitzerhochzeiten und Schnellscheidungen in
der „Bunten“, Tangas und Girlie-Power im
„Stern“, besonders hier, wo ein nacktenfeindlicher Chefredakteur von einer überaus mutigen Redaktion gerade seiner
Nacktenfeindlichkeit überführt und aus
Büro und Amt gemobbt worden war.
Und nun das! An jedem Kiosk dieses
vielstimmige, beinernste Plädoyer für die
Ehe. Moralische Aufrüstung, daß es nur so
kracht. Dort, wo sonst jeder lukrative Partnerwechsel gefeiert wird, wird nun der vor
Gott geschlossene Bund so streng eingeklagt, als würden „Bunte“ oder „Stern“
vom Erzbistum Fulda herausgegeben.
Was passiert ist? Ein älterer,
verheirateter Herr hat sich einer
anderen, pardon, älteren Dame
zugewandt. Und sie sich ihm. In
Frankreich würde man womöglich
sagen: „Il n’y a pas de sentiments
mauvais“ – es gibt keine bösen
Gefühle. Liebesdinge sind so. Verstehendes Lächeln, Achselzucken.
Fertig.
Nicht so bei uns. Offenbar ist
Hilmar Kopper nicht nur Aufsichtsratsvorsitzender von Deutscher Bank
und DaimlerChrysler, sondern der von
Deutschland. Einer für alle. Zwar gibt es
von ihm kein einziges brauchbares Zitat
über Katja Riemann, und auch sonst ist
nicht viel Remmidemmi mit ihm zu machen, doch „Bild“, allen voran, trieb die
Sache ins Grundsätzliche. Dorthin, wo sie
zu Hause ist: „Darf ein Mann einfach
gehen?“
Man kann sich die betroffenen Gesichter an den Sylter Nacktstränden, in den Berliner Swinger-Bars, den Discos in Mallorca
gar nicht betroffen genug vorstellen: Nein!
Natürlich nicht! Wenigstens nicht schon
nach 38 Jahren.
Doch in der kollektiven Trivialmythologie ist die Sache noch komplizierter, noch
raffinierter. Daß er seine neue Liebe im
Büro gefunden hat, ist eher versöhnlich –
jede vierte Beziehung wird dort angebahnt. Nein, die Neue ist eine Ex-KanzlerWitwe. Das Ding ist also Zeitgeschichte,
104
und womöglich muß die wieder einmal
ganz neu geschrieben werden.
Schon knapp eine Woche nach der
„Bild“-Schlagzeile also gelingt es kundigen
„Stern“-Redakteuren, im biblischen Schurkenstück die politische Schweinerei zu erkennen. Hier ist die Frau die Schlange, und
sie ist es schon lange. Schon als junge Frau,
so die Zeitschrift, „hatte sie ein Geschick
dafür, sich hochzuschrauben“.
Eigentlich kein Vergehen, das der „Stern“
normalerweise ahndet. Hier allerdings ist
der Sündenfall ein politischer, denn vor
Koppers Herz hatte die elegante Brigitte
Seebacher das von Willy Brandt erobert.
Und schon damals war sie – konservativ!
kulation. Vielleicht hat ja Bodo Hombach
doch davon geträumt, die Geliebte Hilmar
Koppers zu werden, und Spagate geübt
und ist jetzt traurig, weil alles umsonst war.
Logisch, daß die Jagd auf die Affäre der
Saison Bissigkeiten in der Verfolgerrotte
ausgelöst hat. Kopper und SeebacherBrandt waren im Berliner Lokal „Borchardt“ gesichtet worden, erfuhr der um
Auflage kämpfende „Stern“ im nachhinein. Den Ärger über die verpaßte Abschußmöglichkeit kompensierte das Blatt mit
Spott über die Konkurrenz, die ebenfalls
geschlafen hatte.
Glück hätte das Paar gehabt, höhnte das
Blatt, „daß ihr Berlin-Händel nicht gleich
am nächsten Tag in Springers BoulevardBlatt ,BZ‘ stand“, denn das „Borchardt“
sei „immerhin Stammlokal des gefürchteten Chefredakteurs Franz Josef Wagner“.
Wagner selber räumt freimütig ein, daß
er sich ärgerte. Geschichten wie diese Affäre sind sein Geschäft. „Aber“, stöhnt er,
„ich kann da doch nicht jeden Abend herumsitzen.“ Dann, mürbe lächelnd: „Doch
Schlagzeilen in „Bunte“, „Bild“: Hysterie im Namen der Moral
Für die Linkshedonisten des Blattes hat
sie damit die Sozialdemokratie vergiftet
und verraten. Sie hat, schrieben die RedakteurInnen pikiert, die neue Mitte verkörpert, „schon lange bevor der Begriff
überhaupt erfunden“ wurde.
Aus der Herzensangelegenheit von Kopper/Seebacher wird nun ein reaktionärer
Coup: „Von der Frau des SPD-Vorsitzenden zur Gefährtin des Chefs der Deutschen
Bank – von solch einem Spagat hat Bodo
Hombach nicht mal zu träumen gewagt.“
Das allerdings, „Stern“, ist natürlich Sped e r
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selbst wenn ich sie gesehen hätte, hätte ich
mir wahrscheinlich nur gedacht: zwei ältere Herrschaften, eine besoffene Nacht.“
Wie „Stern“ bedient sich auch die „Bunte“ der Mythologie der eiskalten Femme
fatale, der Frau als Räuberin. Sie titelt über
die Brandt-Witwe: „Schon wieder bricht
sie in eine Ehe ein.“ Immerhin justiert sie
die Waage neu. Beide sind schuld. Beide
sind gemein. „Das herzlose Liebespaar.“
Willkommen in den fünfziger Jahren!
So weit, so verlogen. Nun ist die Verwertungsmaschine erst richtig in Schwung
ACTION PRESS
Paar Seebacher-Brandt, Kopper: „Jeder soll sich trennen, wie er es für richtig hält“
geraten. Das meiste ist ohnehin abrufbarer
Stehsatz unter den Rubriken Macht und
Sex, Gehörnte und Betrüger, Power-Ehen
seit Kleopatra. Natürlich die jüngste Ahnengalerie: Kanzler Schröder und Mercedes-Schrempp, mal mit der aktuellen, mal
mit der früheren Gefährtin, dazu Clinton,
mit und ohne Hillary, mit und ohne Lewinsky, und natürlich hat sie auch der
SPIEGEL griffbereit.
Doch immer wieder sind die hysterischen Pusteln, die die Blätter in solchen Affären werfen, rätselhaft. Zur Erinnerung:
Wir leben nicht in Iran, sondern in
Deutschland, in einem Alltag der Trennungen also, der so als normal empfunden
wird. Rund jede zweite Großstadtehe wird
geschieden, die meisten bereits nach wenigen Jahren. Zweit-, Dritt- und Viertehen
gehören mittlerweile zum Standard, samt
des bedauernswerten Geschachers um die
Kinder, die bei diesem Paarungszirkus regelmäßig vom Karussell fallen.
Rein rechnerisch haben die meisten, die
sich da über Kopper/Seebacher auslassen,
eine oder mehrere Scheidungen hinter sich.
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Als Bund fürs Leben verstehen die Ehe,
Umfragen zufolge, nur noch die allerwenigsten. Und: Zum überwiegenden Teil
sind es die Frauen, die gehen. Häufigste
Begründung: „Ich habe mich eingeengt
gefühlt.“
Besonders in Frauenzeitschriften werden Thesen wie die des Beziehungsgurus
Anthony Giddens heftig ventiliert. Sie begreifen Partnerwechsel als „Individualisierungsschub“, als wünschenswerten Zuwachs an „Authentizität“ und ernten damit
beifälligen Applaus. Gerade also im feministischen Diskurs ist der Ausbruch aus der
Ehe ein Schritt in die Unabhängigkeit.
Nora verläßt das Puppenheim. Nur: Muß
das nicht auch für den Mann gelten?
Dennoch darf zunächst festgestellt werden: In der Lesart unserer fröhlichen Scheidungsgesellschaft hat sich Hilmar Kopper
spät, aber nicht zu spät, zu regelkonformem Verhalten entschlossen. Zwar hatte
er sich störrisch-unaufgeklärt 38 Jahre in
dieser Ehe verbarrikadiert, aber schließlich doch den Mut aufgebracht, sich zu
emanzipieren. „Die Entfesselung eines
Kontoristen“, wie der „Stern“ in Anspielung auf einen Buchtitel spöttelt.
Woher dann die Hysterie? Ganz einfach:
Wir fühlen offenbar nicht auf der Höhe
unserer eigenen Frischwärts-Parolen. Es
gibt sie ja, diese selten ausgesprochene
Sehnsucht nach Dauer, nach Loyalität
und Vertrauen. Darüber hinaus leben
unter all den windschnittigen Aufgeklärtheiten die uralten Märchen und Mythologien weiter, und die müssen erzählt werden. Von der Macht und dem Mann also
oder von der Räuberin, der Femme fatale
und ihren Opfern. Ein elendes DiskursGehedder.
Eine feste Größe
ist dort die des
schillernden Machtmenschen, der über
Frauenleichen geht.
Selbst die Olympier
sind nicht sicher vor
dieser Rasterfahndung, die am allerwenigsten: Die jüngsten Veröffentlichungen über Goethe
entlarven ihn als
Frauenfeind
und Lewinsky, Clinton
empfehlen, seine unsterbliche Liebeslyrik rückwirkend als
Ausdruck schlechten Gewissens neu zu
lesen. Ohne die ausgebeutete Christiane
Vulpius, so das Fazit, kein „Faust“ – schließlich hat sie den Abwasch besorgt und ihm
damit den Rücken freigehalten.
Allerdings eignen sich weder Hilmar
Kopper noch Frau Irene für derartige Klischees. Sie: eine intelligente Bibliothekarin, die in der Frankfurter Gesellschaft beliebt ist und eigene Engagements verfolgt.
Er, der sich aus schlichten Verhältnissen
nach oben gearbeitet hat: ein Wirtschafts105
Viertehe als Normalfall
Rut Brandt (1970)
ACTION PRESS
J. H. DARCHINGER
kapitän mit 14-Stunden-Tagen und, anders
als sein von der RAF ermordeter Vorgänger Alfred Herrhausen, kein Partylöwe,
sondern Arbeitsbulle. In die Schlagzeilen
gerät er nur, als er nach der geplatzten
Schneider-Gaunerei die 50 Millionen Mark
offener Handwerkerrechnungen „Peanuts“
nennt, womit er, rein bilanztechnisch,
natürlich recht hatte.
Ein Leben wie ein Schienenstrang. Die
Kinder konnten in unerschütterbarem Familienverbund aufwachsen – und das, immerhin, kann heutzutage als singuläre
Langstrecken-Leistung bezeichnet werden.
Längst sind sie aus dem Haus. Nun, kurz
vor der offiziellen Pensionsgrenze, entscheidet sich Kopper für ein zweites Glück
mit einer Dame der Gesellschaft. Nicht
für viele Frauen, sinnierte schon vor einem Jahr im „Stern“: „Wenn du über 30
bist, möchtest du auch nicht mehr jeden
Fredel haben. Da hat man schon gewisse
Ansprüche.“ Und da ist es erst mal nicht
wichtig, ob Nicht-Fredel verheiratet ist, was
er natürlich meistens ist – Hauptsache,
Nicht-Fredel genügt den Ansprüchen.
Ludowigs ZDF-Kollegin Nina Ruge hatte es vorgemacht, als sie den verheirateten
BMW-Boß Reitzle zum Freund erwählte.
Allerdings – nicht Ruge, sondern der neue
Gefährte riskierte die öffentlichen Watschen. Bald wechselte er die Firma, und
beide wechselten das Land. Heute leben sie
in London, im Schatten des laxen englischen Königshauses.
Dennoch scheinen sich in der Kommentierung des Falles Kopper/Seebacher in erster Linie weibliche Befreiungsstrategien
zu verheddern: Da ist stets eine moralische Falle, aus der es kein Entrinnen gibt.
Auch das Opfer der Erfolgsfrau nämlich ist
meistens – eine Frau. Opfer des neuen Rollenmodells ist also buchstäblich das alte.
Und das ist mit einem gewissen Frösteln
verbunden.
Selbstverständlich also leuchtete Ludowig den Fall Kopper/Seebacher in „Exclusiv-Weekend“ am vergangenen Sonntag
aus. Nicht ohne schon vor der Sendung
ihren persönlichen Standpunkt ganz klarzulegen: „Natürlich darf ein Mann seine
Frau nicht verlassen. Meine Eltern sind seit
über 30 Jahren verheiratet, das ist doch
toll.“ Melancholische Kußhand hinüber, in
die seligen alten Zeiten.
Zwei Lebensmodelle also: Das alte, samt
Treuegelübde und Bund fürs Leben, bedeutet leider auch die eiserne Entschlossenheit, Frustrationen zu ertragen. Und
dann dieses neue: Nehmen, was man kriegen kann. Beide gleichzeitig gehen nicht.
Auflösen läßt sich der Widerspruch aber
auch nicht – also läuft er heiß.
H. MOELLER / BILD ZEITUNG
AP
Kanzlergattin Köpf, Gatte Schröder
gerade der Stoff, aus dem sich Funken
schlagen lassen.
Was hier also wie von selber aufrauscht,
hat überhaupt nichts mit den realen Koppers zu tun, sondern mit Archetypen und
Feindklischees, Neid und ganz besonders
mit weiblichen Rollenstrategien, die sich
selbst in die Quere kommen. Zum Beispiel
denen der „Nur-Ehefrau“ und der „Erfolgsfrau“.
Mit der Nur-Ehefrau und Mutter hatte
man von „Stern“ über „Brigitte“ bis „Emma“ in der Vergangenheit wenig Federlesens
gemacht – in bizarrer Erbarmungslosigkeit
wurde sie als außer Mode geratenes, bewußtseinsmäßig unterentwickeltes Auslaufmodell belächelt. Erfüllung, so das weibliche
Mittelstandscredo, sei nur in der Karriere.
Anders gesagt: Frauen wie Irene Kopper
schenkte diese Journalistengeneration stets
wenig Achtung. Wenn über sie berichtet
wurde, dann in der Herablassung des Mitleids. Daß sie nun in die Schlagzeilen gezerrt wird, hat allerdings mit Achtung
ebensowenig zu tun. Sie ist brauchbar als
öffentliches Opfer in der Tirade gegen den
Mann. Kein Wunder, daß sie sich darin
nicht wohlfühlt, doch dazu später.
Womit wir bei der schillerndsten Figur
dieser Ménage à trois wären: Brigitte Seebacher-Brandt. Sie sollte den Glamourpart
der neuen Frauengeneration eigentlich übererfüllen. Sie ist klug. Sie ist charmant. Als
Kultur-Direktorin bei der Deutschen Bank
glänzt sie auf gesellschaftlichem Parkett
(siehe Gespräch Seite 108). Sie beweist, daß
eine Frau auch jenseits der 50 verführerisch
sein kann. Die Mächtigen hören auf ihr
Wort. Doch auch sie gerät ins Sperrfeuer.
Eigentlich machte sie alles richtig. Selbst
als sie in einem Interview mit der „Welt am
Sonntag“ die Flucht nach vorn antritt und
über ihre Liebe zu dem mächtigen Banker
spricht, klingt es richtig. RTL-Moderatorin
Frauke Ludowig, selbst Karriere-Modell
Hiltrud Schröder (1996)
Irene Kopper
Verlassene Ehefrauen: Partnerwechsel nach den Regeln der entwickelten Scheidungsgesellschaft
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Medien
ROGER-VIOLLET
Auffällig ist, daß die Beziehungsexper- se, so Erlwein, fielen dann die Sätze, die gibt, hauptsächlich aber, weil sie einfach
tinnen, die in den Boulevardmagazinen seither die Öffentlichkeit in Wallung brin- scheiße singt.“
Doch, leider, hat es der Boulevard nicht
über Kopper und Seebacher befragt wer- gen. Sätze, die harmloser nicht sein könnden, stets einander ausschließende Vor- ten. „Es stimmt, wir trennen uns.“ Und: mit souveränem Witz, sondern mit geheu„Wenn ich keine Lust habe, zu Abend zu cheltem Gefühl. Beliebt ist die ungefragte
würfe gleichzeitig vorbringen.
Nähe durch Mitleid, ist die fürsorgliche BeIn der „Bunten“ ist Kopper feige, weil er essen, dann will ich auch nichts essen.“
Kopper bestreitet sie nicht. Wohl aber, lagerung des Opfers. Das ist nun mal der
„nicht dazu steht, was er wirklich will“.
Gleichzeitig aber eine klassische männliche daß er sie einer „Bild“-Reporterin anver- Job, und da gibt es durchaus Könner. Nicht
Hauptfigur, nämlich „skrupellos in seinen traut habe. „Die Dame hat sich mir nicht nur „Bild“, auch die „Bunte“ schickt ihre
Entscheidungen, verletzend – und das auch als Journalistin vorgestellt“, sagte er ge- Leute. Offenbar verbittet sich Irene Kopper
noch öffentlich“. Gleichzeitig feige und öf- genüber dem SPIEGEL. „Ich hätte nie die Belagerung. „Ich möchte noch nicht
fentlich – egal, was der Kerl macht, er macht damit gerechnet, daß so etwas am näch- sprechen, verstehen Sie das?“
sten Tag in der Zeitung steht. Ich hatte
So wird sie zitiert. Doch sogar ihre Abes falsch.
Durch die „Stern“-Story wiederum eine eigene Erklärung vorbereitet, die ich fuhr wird als Moll-Kadenz in der Reportermarschiert Seebacher-Brandt sowohl als in den nächsten Tagen bekanntgegeben Serenade verbraten: „Selbst im Augenblick
der tiefsten Demütigung ist diese Frau noch
unabhängige Frau, „immer auf dem Weg hätte.“
Wie auch immer: Die Unbeholfenheit, stark genug, das zu sagen, aufrecht statt
nach oben“, wie auch als Schwerstabhängige, nämlich von der „Erotik der die da dem Banker abgerungen wird, ist höflich zu sein, sich nicht zu verkriechen.“
klassisch. Sie übersetzt die Auskühlung Natürlich lachen da die Hühner, und die
Macht“.
Branche grinst beifällig über
Jeder und jede hat eine
den sicher gestandenen SalMeinung, ein schnelles Urto in den Kitsch.
teil. Rühmliche Ausnahme
Freunden gegenüber emunter nahezu allen Befragpört sich Irene Kopper über
ten – es sind in erster Linie
ihre Behandlung auf dem
Frauen, die befragt wurden –
Boulevard, über die Darist die Schauspielerin Anja
stellung als Opfer mit rotKruse. Die sagte, schlicht und
geweinten Augen. „Davon
würdevoll: „Jeder soll sich so
kann gar nicht die Rede
trennen, wie er es für richtig
sein.“
hält. Ich bin bei dieser TrenAber, wie erwähnt, geht
nung nicht dabei gewesen,
es gar nicht um die Kopund deshalb steht mir keine
pers und ihre schwierigen,
weitere Meinung zu.“
schmerzhaften PrivatangeleDa Koppers Ehebruch auf
genheiten. Es geht um Ardem Boulevard – wenn er die
chetypen, um Hohlräume, in
eigenen, hedonistischen Spieldie jeder – Schreiber wie Leregeln ernst nimmt – eigentser – seinen eigenen Schutt
lich nicht geächtet werden
aus Ängsten und Sehnsüchdarf, muß dieser das Unbeten kübeln kann.
hagen darüber in AusweichUnd davor machen sogar
manövern loswerden. Also:
seriöse Blätter nicht Halt.
die Stilfrage. Man ringt dem
Die „Süddeutsche“ gönnt
treulosen Ehemann Äußerunsich einen Amoklauf Willi
gen ab, nennt sie taktlos – und
Winklers, der in dem Thema
empört sich weitere Tage
nicht den Geschlechter-, sonüber diese Taktlosigkeit.
dern den Klassenkampf entUnd das geht so: Als die Mark Anton, Kleopatra*: Power-Affären von der Antike bis heute
deckt. „Bild“, jubelt der Au„Bild“-Reporterin Petra Erlwein sich am vorvergangenen Mittwoch einer Beziehung in Banalitäten und wirkt tor schadenfroh, habe Kopper und dem
unter die hochkarätigen Gäste eines Tref- geradezu unschuldig angesichts der Gesamtkapital einen vernichtenden Schlag
fens der Städel-Freunde mischte, hatte sie Schmutzlawinen, die sonst durch die Ge- zugefügt, jenen also, die „mit Geld um sich
klare Zielvorgaben: nicht Kunst, sondern richtssäle bei Scheidungsprozessen rollen. schmeißen, Konzerne verschmelzen, stänKopper. „Wir wollten endlich rauskriegen, Wovon sie reden, wenn sie von der Liebe dig neue Leute entlassen“. Bisher waren
sie „unangreifbar“ – doch nun darf nachob die Trennungsgerüchte stimmen.“ Denn reden? Vom Essen, zum Beispiel.
Natürlich ist das, selbst wenn es denn öf- getreten werden.
daß Kopper nur noch eine Fassaden-Ehe
Für so was allerdings ist sich selbst der
führte, war Frankfurtern offenbar seit Jah- fentlich wird, eher ein Fall fürs Kabarett
als einer fürs Scherbengericht. Und tatsäch- „gefürchtete“ Franz Josef Wagner zu fein.
ren bekannt.
Erlwein sprach den Wirtschaftsboß an, lich ist es wie immer Harald Schmidt, der Der „BZ“-Chef öffnete die Seiten seines
trat mit ihm auf die Museumsterrasse hin- als einziger den Überblick behält: „Eines bunten Hauptstadtboulevards einer Umaus. Dann gabeln sich die Erinnerungen. sollte man ganz klar trennen: Hilmar Kop- frage, ohne selber Seite zu beziehen.
Petra Erlwein sagt, sie habe sich als „Bild“- per verläßt seine Frau, weil es immer Essen Überschrift: „Wer verhält sich richtig, wer
Reporterin vorgestellt. Kopper habe sich gab. Dieter Bohlen hat seine Frau verlas- falsch?“ Die Öffentlichkeit tagt.
Das ist tatsächlich die Frage der Fragen,
gnädig gezeigt: „Sie tun ja nur Ihren Job.“ sen, weil es nie etwas zu essen gab. GerErlwein ihrerseits ermunterte den Banker. hard Schröder hat Hillu verlassen, weil in den Bars und an den Stränden dieses
„Ich habe ihm gesagt, daß Trennungen es immer nur vegetarisch zu essen gab. Sommers. Wer darf was? Ein Gesellheutzutage ja normal sind, und eigentlich Und die nächste, die verlassen wird, ist schaftsspiel, eine Gesamt-Talkshow, zu der
Kati Witt: Weil es immer nur Dany-Sahne jeder eingeladen ist. Und morgen heißt
überhaupt nichts dabei ist.“
Kopper schon wieder anders.
In diesem gegenseitigen Verstehen, dieDas Wetter.
sem erwachsenen Parlando auf der Terras- * Gemälde aus dem 19. Jahrhundert.
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Medien
S P I E G E L - G E S P R ÄC H
„Ein tolles Schauspiel“
B. BODTLÄNDER
Brigitte Seebacher-Brandt über ihre Kulturarbeit bei der Deutschen Bank
und die Endlichkeit menschlicher Beziehungen
Kulturmanagerin Seebacher-Brandt: „Streitlust entspricht nicht meinem Naturell“
SPIEGEL: Frau Seebacher-Brandt, seit Herbst
1995 leiten Sie die Abteilung „Kultur und
Gesellschaft“ der Deutschen Bank und vergeben bis zu sieben Millionen Mark jährlich für Projekte wie die Donaueschinger
Musiktage. Enttäuscht es Sie, daß sich die
Medien für diese Kulturarbeit weniger
interessieren als für Ihre privaten Beziehungen?
Seebacher-Brandt: Nein. Zu unserer Auffassung von Kulturförderung gehört es, daß
wir kein Sponsoring betreiben, also eher
im Stillen wirken und keinerlei Gegenleistung verlangen. Selbst wenn das Logo der
Kultur-Stiftung der Deutschen Bank auf
Veranstaltungsplakaten erscheint, ist das
freiwillig. Es geht uns gerade nicht um Quote und Masse und Tamtam. Wir betreiben
Mäzenatentum in moderner Form. Über
108
Anerkennung freuen wir uns. Im übrigen
ist die Mediengesellschaft, wie sie ist.
SPIEGEL: Weswegen auch wir Sie nicht nur
nach Ihrer Arbeit, sondern auch nach dem
augenblicklichen Rummel um Ihre Person
fragen werden.
Seebacher-Brandt: Was ich nicht beantworten will, beantworte ich nicht.
SPIEGEL: Sie sind bekannt geworden als Historikerin und streitlustige politische Publizistin.Wie sind Sie bei der Kultur gelandet?
Seebacher-Brandt: Streitlust entspricht nicht
meinem Naturell, wohl aber entschiedene
Meinungsäußerung. Als es um den Nachlaß
Willy Brandts ging, habe ich das vertreten,
was er testamentarisch vorgegeben hatte.
Die längst gefundene Regelung stellt alle
Beteiligten zufrieden. Das Schreiben hat
mir Spaß gemacht, aber schreiben können
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muß man, was man meint. Das wurde nach
dem Tod meines Mannes immer schwieriger …
SPIEGEL: … als auch die „FAZ“ Ihre Artikel nicht mehr drucken wollte.
Seebacher-Brandt: Das wäre mir neu. Es
waren nur zu wenige, um zu existieren.
Auch vom SPIEGEL hatte ich ja kein Angebot zu schreiben. Sonst wäre vielleicht
alles anders geworden. Jedenfalls habe ich
in dieser Situation ein Angebot der Deutschen Bank bekommen und das Schreiben
– vorläufig! – an den Nagel gehängt, auch
weil ich der Streitigkeiten um meine Artikel müde war. Zur Deutschen Bank gab es
die ersten Kontakte schon 1992, als ich ins
Kuratorium der Alfred Herrhausen Gesellschaft berufen wurde. Mein Mann hat
sich darüber sehr gefreut.
SPIEGEL: 1994 fingen Sie an, Reden für
Herrn Kopper zu schreiben, wie Sie das
schon für Willy Brandt getan hatten.
Seebacher-Brandt: Aber diesmal richtig
schön bezahlt.
SPIEGEL: Aus welchen Motiven richtete die
Deutsche Bank eine Kultur-Stiftung ein –
um ihren Ruf zu verbessern nach der Affäre um den Bauspekulanten Schneider und
um die „Peanuts“-Äußerung des damaligen Vorstandssprechers Hilmar Kopper?
Seebacher-Brandt: Dafür wäre Kultur kaum
das geeignete Genre. Anlaß war das 125jährige Jubiläum der Deutschen Bank. Das
Kultur-Engagement eines Geldhauses hat
ja eine uralte Tradition. Maecenas war ein
reicher Kaufmann zur Zeit des Kaisers Augustus.Wo viel Geld war, wurde immer viel
für die Kunst getan. Warum das so ist, darüber läßt sich wunderbar philosophieren.
SPIEGEL: Sind ein Stiftungsvermögen von
100 Millionen Mark und eine Jahresausschüttung von 7 Millionen nicht ein wenig
mickrig angesichts der Milliarden, die die
Deutsche Bank bewegt?
Seebacher-Brandt: Alles ist relativ. 7 Millionen sind für einen privaten Förderer ganz
gut. Die Kunstsammlung und die Wissenschaftsförderung der Deutschen Bank gehen ohnehin extra. Und zu den Vorzügen
der Stiftung gehört, daß unser kulturelles
Engagement auf Dauer gesichert ist. Wir
sind unabhängig von den Launen der
Chefs: Wenn zukünftige Chefs das Engagement einstellen wollten, dann fielen die
100 Millionen Mark automatisch an die
Stiftung Preußischer Kulturbesitz.
SPIEGEL: Und Sie entscheiden nun völlig autonom über die Vergabe der Fördermittel?
B. BODTLÄNDER
J. H. DARCHINGER
Seebacher-Brandt: Gemeinsam mit meinem Dieter Hildebrandt engagiert, aber in der immerhin drei Millionen Mark lockermacht?
Kollegen Münch. Und unser Chef, Herr heutigen Zeit ist Schlingensief passender.
Breuer, weiß um jede Zusage. Wir bekom- SPIEGEL: Woran scheiterte die Schlingen- Seebacher-Brandt: Ich sehe den Unterschied
men 40 bis 50 Anfragen pro Woche. Im Jahr sief-Aktion?
zwischen der Welt von Stein und der von
fördern wir knapp 90 Projekte – mit Be- Seebacher-Brandt: Ich habe schon vorher Schlingensief. Ich mag beide Welten. Die
trägen zwischen 10 000 und drei Millionen scherzhaft gesagt, daß ich nicht am Tag nach eine ohne die andere wäre trostlos. Stein
Mark. Die prominente Ausnahme, bei der der Aktion gekündigt werden möchte. Wir sagt ja selbst etwas kokett: „Ich bin 19.
wir von uns aus aktiv wurden, sind die Do- hatten uns auf einige Regeln verständigt Jahrhundert.“ Sein „Faust“ wird noch einnaueschinger Musiktage. Vor drei Jahren und uns immer wieder neu zu wechselsei- mal ein Fest der Hochkultur werden – im
ging ein Sturm der Entrüstung nicht nur tigem Vertrauen verpflichtet. Zwei Tage vor Bewußtsein, daß da etwas zu Ende geht.
durch die deutschen Feuilletons, als der der Veranstaltung entnahm ich der Presse, SPIEGEL: Zugleich ist Steins Expo-„Faust“,
Südwestfunk seinen Obolus reduzierte.Wir daß Schlingensief und seine Mitstreiter un- der nächstes Jahr in Hannover und danach
sind an den Oberbürgermeiin Berlin und Wien gezeigt
ster herangetreten, ob überwerden soll, das, was man
haupt Interesse besteht, und
heute „Event-Kultur“ nennt –
sind dann eingesprungen. So
ein Spektakel jenseits des gewurden wir zum Retter,
wöhnlichen Kulturbetriebs.
der dafür sorgte, daß die MuSeebacher-Brandt: Unfug.Ansiktage weiter jährlich stattders als bei einem Konzert
finden.
der drei Tenöre, die für mich
der Inbegriff der Event-KulSPIEGEL: Wie kam es dazu,
tur sind, müssen Sie sich beim
daß Sie neben so noblen und
„Faust“ anstrengen und 18
unstrittigen UnternehmunStunden lang dieser Sprache
gen wie dem Kleist-Preis und
zuhören. Das fordert auch von
der Restaurierung des Pe- Ehepaar Brandt (1991): „Er hat sich sehr gefreut“
Ihnen eine große Leistung.
ter-Huchel-Hauses kürzlich
auch die zumindest politisch
SPIEGEL: Peter Stein hat eine
umstrittene Berliner Volksstarke Wandlung durchgebühne und den Künstler
macht, vom linken GesellChristoph Schlingensief mit
schaftsveränderer zum eliFördergeld bedachten?
tären Konservativen. Sehen
Sie da Ähnlichkeiten zu Ihrer
Seebacher-Brandt: Als Kuleigenen Entwicklung?
turmensch weiß man schon,
daß die Kultur nicht nur aus
Seebacher-Brandt: Der Verder Sicherheit und dem Etagleich zu einem so großen
blierten besteht. Man muß
Künstler ist völlig unangeauch den Widerspruch förmessen. Ich habe eine gewisdern. Und so haben wir erst
se Neigung zum Widerspruch
für eine Diskussionsver– das stand schon in meinem
anstaltung der Volksbühne
ersten Schulzeugnis. Aber
Geld gegeben und wollten
wenn Sie Stein einen Kondann für die eineinhalbtägiservativen nennen, unterge Tagung der Alfred Herrschätzen sie ihn gewaltig. Er
hausen Gesellschaft im Ber- „Welt am Sonntag“-Bericht vom 11. Juli: „Flucht nach vorne“
macht große Kunst und spielt
liner Reichstag zum Thema
– auch mit dem Kapital.
„Der Kapitalismus im 21. Jahrhundert“ ter den anwesenden Gästen Geld eintreiben SPIEGEL: Inwiefern?
Schlingensief engagieren.
und auch unser Stiftungsgeld von der Seebacher-Brandt: Ich werde nie den NachSPIEGEL: Und der sollte die Spitzen von Po- Reichstagskuppel werfen wollten. Das fan- mittag vergessen, als wir gemeinsam mit
den wir dann nicht mehr so lustig.
Peter Stein in Stuttgart waren, um Jürgen
litik und Wirtschaft unterhalten?
Seebacher-Brandt: Zu den Tagungsrednern SPIEGEL: Halten Sie die Idee, mit Schlin- Schrempp zu überreden, daß Daimler wie
gehörten Bundeskanzler Schröder, Jürgen gensief zusammenzuarbeiten, mittlerweile die Kultur-Stiftung der Deutschen Bank drei
Millionen für den „Faust“ gibt. Das war
Schrempp und der Greenpeace-Chef Thilo für einen Fehler?
Bode, für das Abendessen am Eröffnungstag Seebacher-Brandt: Nein. Schon der Kontakt während der Fusionsverhandlungen mit
sollte Schlingensief etwas zum Nachdenken mit dieser unorthodoxen Szene war richtig Chrysler. Die amerikanischen Herren warteten draußen, während Stein, wie immer
bieten. Den Titel „Rettet den Kapitalismus“ und witzig und eine schöne Erfahrung.
hatte ich vorgegeben. Vor 20 Jahren hät- SPIEGEL: Sehen Sie gar keinen Wider- schwarz gewandet, vor dem halben Daimte man wahrscheinlich den Kabarettisten spruch darin, mit einem Subkultur-Ra- ler-Vorstand vorsprach. Stein kann begnadet
bauken wie Schlingensief erzählen, und das tat er, eine Dreiviertelebenso über gemeinsame stunde lang, am Stück. Sein Thema lautete
Projekte zu reden wie mit „Goethe, Faust und ich“, und dann sprach
Peter Stein, dem grimmi- er darüber, daß er der Sohn eines Untergen Apologeten einer eli- nehmers sei, eines Zulieferers in der Autotären Hochkultur, für des- mobilindustrie – der Mann ist über 90 und
sen „Faust“ die Kultur-Stif- dressiert übrigens derzeit den Pudel für den
tung der Deutschen Bank „Faust“. Nach 45 Minuten sah Schrempp
auf die Uhr und sagte: „Wieviel wollen Sie
haben?“ Das war ein tolles Schauspiel.
* In ihrem Frankfurter Büro, mit den
SPIEGEL: Man hört Ihrer Schilderung das
Redakteuren Wolfgang Höbel und
Vergnügen am Umgang mit den MächtiSeebacher-Brandt beim SPIEGEL-Gespräch*: „Kein Tamtam“ Martin Doerry.
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Medien
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ZEITSCHRIFTEN
Oldie but Goldie
Verlagschef Schulte-Hillen auf Zickzackkurs: Erst kürzlich
verabschiedete er „Stern“-Macher Funk. Nun
kehrt Funk zurück – als Chef der Chefredakteure.
ablöste: Er sei „prinzipientreu, aber nicht dumm;
standhaft, aber geschmeidig;
widerborstig, aber nicht bis
zum Scheiterhaufen“.
Nach nur einem halben
Jahr hat die Realität die
Rollen neu verteilt – Maier mußte fristlos gehen,
Funk feiert ein triumphales
Comeback. Als Herausgeber
kehrt er zurück an die Spitze des „Stern“.
In einer beispiellosen
Recycling-Aktion holte Vorstandschef Gerd SchulteHillen, 58, vergangene Woche ausgerechnet jenen
Journalisten zurück, den er
vorher eigenhändig abgemeiert hatte. Damit war
klar: Der Spitzenmanager
hatte nicht nur den Falschen
geholt, er hatte auch den
Richtigen gefeuert – jedenfalls nach seinen neuen Erkenntnissen.
Künftig
repräsentiert
Funk, 62, erneut das bunte
Blatt – bis Ende 2000. Unter
und neben sich die neue
Chefredaktion: Dort kümmert sich Thomas Osterkorn, 45, um harte politische
Themen. Vor drei Wochen
noch wollte ihn Maier los„Stern“-Herausgeber Funk: Kein Leichtgewicht
werden. Ihm zur Seite steht
ede gute Geschichte braucht einen ab September Andreas Petzold, 44. Der
Helden und einen Bösewicht, befand Chef des TV-Blatts „Hörzu“ gilt als FachMedienjournalist Peter Turi. Und die mann fürs Bunte.
Mit derselben Verve, mit der SchulteRolle des Bösewichts in seiner Geschichte
für die Zeitschrift „Max“ war fest reser- Hillen einst Funks Abschied verteidigt
viert – für den gerade abgetretenen hatte, erläutert er nun dessen Rückkehr.
„Mit Dr. Funk war die Nachfolge leider
„Stern“-Chef Werner Funk.
Der habe „einen Schädel wie ein nicht zu regeln, wir mußten handeln“, hieß
Deoroller, einen Schnauzer wie eine es im vorigen Jahr. Vergangene Woche teilSchuhbürste und den soliden Ruf, ein Kotz- te Schulte-Hillen der verdutzten Redakbrocken zu sein“, schrieb er im Dezember tion mit: „Funk ist kein Leichtgewicht“,
vergangenen Jahres. Erst im letzten Mo- er werde künftig „einen wichtigen Beitrag
ment verhinderte der Zeitschriftenvorstand leisten“.
Die Redakteure jedenfalls müssen sich
des Hamburger Großverlags Gruner + Jahr
(„Stern“, „Geo“, „Brigitte“), daß der Ex- auf einen aktiven Herausgeber einstellen.
„Stern“-Chef in dem Traktat mit einer Ver- Zwar verfügt die neue alte Galionsfigur
des „Stern“ über kein direktes Weisungsbalinjurie („A…“) tituliert wurde.
Turis Held war im Gegenzug ein „höfli- recht gegenüber der Redaktion, aber Funk
cher Mensch mit guten Manieren“ – Mi- hat genügend Aufgaben, die ihm ein weites
chael Maier, der Funk als Chefredakteur Spielfeld eröffnen. Der Verlag, in dem
S. JAKOBS
gen des Kapitals an. Hat das, ähnlich wie
bei Herrn Stein, auch bei Ihnen etwas Spielerisches?
Seebacher-Brandt: Berührungsängste hatte
ich jedenfalls keine. Das Schöne an unserer Arbeit ist doch, daß man mit dem Geld
des Kapitals Kunst, auch subversive, ermöglichen kann. Und daß dies hier bei der
Deutschen Bank mit großer Selbstverständlichkeit getragen wird.
SPIEGEL: Sind Sie unglücklich mit Ihrer aktuellen Darstellung durch die Medien?
Seebacher-Brandt: Ob Sie es glauben oder
nicht: Das nehme ich kaum wahr. Jeder
hat seine Schutzmechanismen. Ich lese
„FAZ“ und „taz“, das reicht. Die „Welt
am Sonntag“ hätte die private Meldung
eh’ gebracht, nur deshalb habe ich die
Flucht nach vorn gewagt. Für die Öffentlichkeit wird sich das Thema in Bälde
erledigt haben.
SPIEGEL: Was macht Sie so zuversichtlich?
Seebacher-Brandt: Social life ist mir total
fremd. In Donaueschingen wird die Meute kaum erscheinen – und auch nicht im
„Faust“.
SPIEGEL: Immerhin begleitet Sie Herr Kopper zu den Spielen Ihres gemeinsamen
Lieblingsvereins Werder Bremen?
Seebacher-Brandt: Da würde er sehr protestieren. Werder gehört nur zu mir.
SPIEGEL: Fürchten Sie nicht das Image, die
Zerstörerin der Ehen mächtiger Männer
zu sein?
Seebacher-Brandt: Wollten wir über Kultur
oder über Klischees reden?
SPIEGEL: Hat sich die Haltung der Öffentlichkeit gegenüber dem Privatleben Prominenter grundsätzlich gewandelt – ablesbar beispielsweise an den Reaktionen auf
die amouröse Neuorientierung des Bundeskanzlers Schröder?
Seebacher-Brandt: Ja, enorm. Der Voyeurismus ist übel, die Kehrseite ist es nicht: Leben und leben lassen. Schröders Trennung
von seiner Ehefrau und seine Wiederheirat haben doch niemanden im Wahlverhalten beeinflußt. Es ist offensichtlich, daß
es in unserer Zeit lebenslange Beziehungen ebenso selten gibt wie lebenslange
Beschäftigungsverhältnisse. Das hängt
mit Selbständigkeit und Selbstbewußtsein
der Frauen zusammen, und natürlich auch
damit, daß die Menschen immer älter
werden.
SPIEGEL: Wird sich durch das Bekanntwerden Ihrer Beziehung zu Herrn Kopper irgend etwas an Ihrer Arbeit ändern?
Seebacher-Brandt: Etwas wird sich immer
ändern.
SPIEGEL: In einem Porträt des Fachblatts
„Theater heute“ werden Sie mit dem erstaunlichen Satz zitiert: „Bankmenschen
sind nicht zum Lieben.“
Seebacher-Brandt: Erstens dachte ich bei
diesem Satz an die Spezies, und zweitens
bestätigt die Ausnahme die Regel.
SPIEGEL: Frau Seebacher-Brandt, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
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M. WOLF / VISUM
C. AUGUSTIN
Funk hatte sich selbst für die SpitzenFührungskräfte üblicherten läßt, provozierte geraweise mit 60 abdanken,
dezu Gehässigkeiten. Die position ins Spiel gebracht. „Wenn ihr in
traut seinem Senior noch
„Süddeutsche“ überschrieb Not seid“, ließ er Schulte-Hillen wissen,
immer eine Menge zu: Er
ein Funk-Porträt mit „Dr. „dann stehe ich bereit.“ Und Schulte-Hillen war in Not.
soll den „Stern“ bei WerWerner und Mr. Funk“.
Zunächst favorisierten er und Zeitbekunden vertreten, ihn
Seine Untergebenen,
auf öffentlichen Veranstalnicht selten in Angst um schriftenvorstand Rolf Wickmann eine
tungen repräsentieren –
den Job, nannten ihn „Kim Doppellösung: Funk sollte Herausgeber,
und er muß von den ChefIl Funk“. Immer wieder Michael Jürgs, 54, Chefredakteur werden.
Erfolgsautor Jürgs, von 1986 bis 1990 an
redakteuren bei wichtigen
mal forderte der „Stern“Themen konsultiert werRedaktionsbeirat die sofor- der Spitze des „Stern“ und inzwischen
freier Schriftsteller, urlaubte in der Woche
den. In den Verträgen von
tige Entlassung.
Osterkorn und Petzold Verlagschef Schulte-Hillen
Die langsame, aber be- nach dem überstürzten Maier-Abgang mit
steht:
ständige Talfahrt der 1948 seiner Frau auf der Belle-Île vor der bre„Der Chefredakteur berät sich in allen gegründeten Illustrierten konnte der Routi- tonischen Küste. Wickmann flog nach Pagrundsätzlichen Fragen, die über das Ta- nier nicht stoppen. Zum Schluß seiner ris, die beiden trafen sich zum ersten Gegesgeschäft und die aktuelle Heftproduk- Amtszeit verkaufte das Blatt mit 1,1 Millio- spräch in einem Bistro am Flughafen.
Zwei Tage später war auch Funk mit von
tion hinausgehen, mit dem Herausgeber nen Exemplaren elf Prozent weniger als bei
des ,Stern‘.“
seinem Start. Allein 1998 mußte der Verlag der Partie. Das gemeinsame Abendessen
Zu wichtigen Personalfragen, also der fünfmal die Auflage mit „Sonderverkäufen“ im Hotel „Castel Clara“ auf der AtlantikEinstellung und Entlassung von Top-Leu- stützen, bei denen jeweils über 100000 Ex- insel endete ohne Einigung. Der Grund:
ten, heißt es: „Die Chefredakteure wer- emplare zu Vorzugskonditionen losgeschla- Wickmann legte Jürgs einen üblichen Standardvertrag des Verlags vor, doch der wollden sich mit dem Herausgeber beraten.“ gen wurden – an wen auch immer.
Das sei eine „Beratungspflicht“, erklärt
Schulte-Hillen wurde allmählich unge- te die entscheidende Klausel auf keinen
Schulte-Hillen, um keine Zweifel an der duldig, denn ein Nachfolger für Funk war Fall akzeptieren:
„Der Verlag, vertreten durch den VorHerausgeberrolle aufkommen zu lassen.
nicht in Sicht. Das vertraglich geregelte
Auch sein journalistisches Ego braucht Versprechen, Funk werde eigenhändig ein standsvorsitzenden, bestimmt in Abstimmung mit dem Herausgeber die grundFunk nicht allzusehr zu zügeln. Die Ver- Jungtalent aufbauen, blieb ohne Folgen.
träge der beiden Chefredakteure räumen
Im Herbst 1998 ging auf einmal alles ganz sätzliche redaktionelle Linie der Zeitdem „Stern“-Obersten das Recht ein, je- schnell: Der Verlag wartete die Feiern zum schrift gegenüber dem Chefredakteur. Der
derzeit Kommentare zu verfassen: „Der 50. Geburtstag des „Stern“ aus Pietäts- Chefredakteur vertritt diese gegenüber
Herausgeber hat das Recht, insbesondere gründen noch ab, dann erfuhr Funk, daß die der Redaktion und überwacht deren Einzu politischen und wirtschaftlichen Fragen Trennung nahte. Geschickt versuchte der haltung.“
Nach dem Essen genossen die drei HerEditorials zu publizieren.“
Taktiker noch im letzten Augenblick, OsterSchulte-Hillen ist auch diesmal über- korn als Stellvertreter durchzusetzen – er ren den Blick aufs Meer, aber allen war
zeugt, richtig gehandelt zu haben. „Wir mußte ja, so stand es in seinem Vertrag, klar, daß Jürgs als Chefredakteurs-Kandidat nicht mehr in Frage kam. Funk hatte
haben eine Lösung gefunden, die sitzt“, einen Nachfolger benennen.
sagt und glaubt der Verlagschef.
Schriftlich forderte der Noch-Chefre- sich geweigert, seine Herausgeberrolle zuDie beiden Chefredakteure würden sich dakteur den Noch-Nicht-Vize Osterkorn gunsten des Chefredakteurs einschränken
„hervorragend ergänzen“, erklärt Schul- auf, sich schon einmal Gedanken über ei- zu lassen. Am nächsten Tag sagte Jürgs ofte-Hillen. Funk sei ein „gestandener Ma- nen Dienstwagen zu machen. Der hocher- fiziell ab.
Schulte-Hillen, seit 1981 Verlagschef,
gazinmann“, ein „animal politicum“, des- freute Leiter des Deutschland-Ressorts
sen Erfahrung man nutzen solle. Er sei konnte freilich nicht ahnen, daß ihn Funk glaubt nun voller Zuversicht an die Drei„eine Führungsperson mit Ecken und Kan- im Abfindungspoker benutzte. Wenige er-Kombination. Falls das Trio Funk/Osterten, die sich eine Menge Respekt verschafft Tage später war klar, daß Funks Ära ende- korn/Petzold dennoch floppen sollte, ist er
selbstverständlich bereit, auch dafür die
hat“ – Oldie but Goldie.
te, vorläufig jedenfalls.
Viele in der Redaktion und der Medien„Wir haben die Sache in einem Ge- volle Verantwortung zu übernehmen. Als
branche können den Loopings des Kon- spräch hinter verschlossenen Türen aus- es mit „Stern“-Chef Maier schiefging, habe
zernchefs nur mühsam folgen. Denn in vier geräumt“, sagt Osterkorn heute. Und: „Ich er schließlich „auch mit seinem breiten
Jahren beim „Stern“ provozierte Funk, der bin nicht nachtragend.“ Das würde ihm Rücken dies besser auffangen können als
Kaufmannssohn aus dem Hannoverschen, auch schlecht bekommen – er ist gezwun- jemand, der neu im Amt ist“.
vor allem eine Menge Widerwillen.
gen, mit seinem alten Chef wieder eng zuKonstantin von Hammerstein
Hans-Jürgen Jakobs
Nach seinem Amtsantritt 1994 galt der sammenzuarbeiten.
frühere Universitätsassistent bei Wirtschaftsikone Karl Schiller und spätere Gruner+Jahr-Zentrale in Hamburg: „Der Verlag bestimmt die redaktionelle Linie“
Chefredakteur von „Manager Magazin“
und SPIEGEL in der „Stern“-Redaktion
schnell als Machtmensch, der mit seinem
Personal zuweilen rabiat umging.
In der Riege seiner Stellvertreter verscheuchte Funk zuerst den altgedienten
Michael Seufert und dann Andreas Lebert,
den er erst Monate zuvor vom Magazin
der „Süddeutschen Zeitung“ nach Hamburg gelotst hatte. Damit war der überzeugte Einzelkämpfer, der bei Bedarf auch
charmant sein kann, allein an der Spitze.
Sein sprunghafter Charakter, der ihn mal
höflich galant, dann wieder ruppig auftre-
Medien
verurteilt werden? Josef Augstein, der bis
dahin den Arzt vertreten hatte, war geRECHTSPRECHUNG
storben. Auf Empfehlung bekam Prinz das
Mandat. Und er hatte Erfolg. Das OLG
München stellte den Fall ein.
Freilich – der Arzt war Julius Hackethal.
Und da der in den Medien als Promi gehandelt wurde, mutierte Prinz zum PromiDie Promi-Anwälte Matthias Prinz und Butz Peters
Anwalt. Hinzu kam, daß der Fall nicht
haben aus der Schule geplaudert – in einem
nur strafrechtliche, sondern wegen überwiegend negativer Berichterstattung auch
Handbuch zum Medienrecht. Von Gisela Friedrichsen
eine Fülle medienrechtlicher Fragen aufwarf.
Als der umstrittene Arzt im Strafprozeß
gegen den 80jährigen Erich Honecker und
andere in Berlin als Berater der Nebenklage 1992 vortragen ließ, der Hauptangeklagte sei nicht krebskrank, sondern leide
wohl nur an einem Fuchsbandwurm, war
Prinz schon nicht mehr sein Anwalt. Längst
hatte er erkannt, daß Hackethal den Streit
mit der Schulmedizin auch um des Streites
willen suchte – ein Fall für einen Anwalt,
der Prinz nicht sein wollte.
Da er nun als Prominentenanwalt galt,
drängte zu ihm die Kundschaft, die nur die
Nebenschauplätze seines Einsatzes für
Hackethal zur Kenntnis genommen hatte:
die Auseinandersetzung mit den Medien.
Kritiker versäumen nicht hinzuzufügen,
auch er habe sich zur Kundschaft gedrängt.
Als Caroline von Monaco seine Mandantin wurde, gelangen ihm weithin beachtete Erfolge. 1992 erschienen in der
„Bunten“ drei erfundene Titelgeschichten
über die Prinzessin. Das Landgericht und
das OLG Hamburg verurteilten den betroffenen Verlag zum Abdruck von Richtigstellungs- beziehungsweise Widerrufserklärungen auf den Titelseiten und zur Zahlung
von 10 000 Mark Schmerzensgeld je Geschichte.
1994 hob der Bundesgerichtshof (BGH) das Urteil
auf und verwies die Sache
zurück. Das Schmerzensgeld war nach Auffassung
der Richter zu niedrig.
Die Entscheidung sollte
der Prävention dienen. Es
Autoren Prinz, Peters: 790 Seiten Materialschlacht
sollte sich für die Klatschpresse nicht mehr lohnen,
ie wird man Spezialist für bekundeten schriftlich,
sorglos PersönlichkeitsMedienrecht? Der Hamburger die Nebenstraße sei an jerechte zu verletzen. Nur
Rechtsanwalt Matthias Prinz, 42, nem Tag nicht ausreidann, so der Gedanke
hatte sich während seines Studiums auf in- chend gestreut gewesen.
Das Landgericht sprach Gegendarstellung auf „Bunte“-Titel des Gerichts, entstehe
ternationales Recht konzentriert, Medienein „echter Hemmungsrecht war nie sein Ziel. Seine Laufbahn be- dem Offizier 70 Prozent
gann 1986 mit einem ganz normalen an- Schadensersatz zu, das Oberlandesgericht effekt“. Caroline von Monaco erhielt
(OLG) bestätigte das Urteil. „Bild“ be- 180 000 Mark.
waltlichen Gesellenstück.
Prinz focht fortan für Claudia Schiffer
Am 9. Januar jenes Jahres geriet ein richtete: „Hamburg muß zahlen“ und
Offizier der Bundeswehr und „Tornado“- druckte Prinz’ „Tip für Glatteisopfer“ ab. und Michael Stich, Reinhold Messner, GloAuch mit dem nächsten größeren Fall ria von Thurn und Taxis und Henry MasPilot mit seinem Opel Manta beim Einbiegen von einer eisfreien Straße in eine spie- erregte der junge Anwalt, schon wegen des ke, um nur ein paar Namen zu nennen,
gelglatte Nebenstraße in Hamburg-Wil- emotional aufgeheizten und kontrovers aber auch für Fußballtrainer, für Politiker
helmsburg ins Rutschen und landete an ei- diskutierten Themas, Aufsehen. Ein Arzt wie Walter Scheel und andere. Viele dieser
nem Laternenpfahl. Der Offizier, vertre- hatte einer unheilbar krebskranken Frau absoluten oder relativen Personen der Zeitten von Prinz, verklagte die Stadt wegen Zyankali verschafft, mit dem sie sich töte- geschichte wollen im Licht stehen und
Verletzung der Streupflicht. 60 Anwohner te. Würde er wegen Tötung auf Verlangen trotzdem selbst bestimmen, wann das
J. RÖTTGER / VISUM
Es begann mit Glatteis
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PANDIS / TELEPRESS
Licht, in dem sie sich sonnen, zu erlöschen hegte – zu einem Band über das Medien- was Gesetze und Rechtsprechung und
hat. Mancher treibt ein böses Spiel: Dem recht und die zivilrechtlichen Ansprüche, Prinz und Peters von ihm verlangen. Es
einen Medium verkauft er seine Privat- die sich aus Verstößen ergeben. Seit Ende reicht manchmal bis an die Grenze zum
sphäre gegen Geld – und vom anderen for- 1997 moderiert Peters überdies „Akten- Grotesken.
„Es ist ja nicht der Journalist, der freidert er Geld wegen Verletzung derselben. zeichen XY ungelöst“, was nicht nur bei
Es ist alte Übung, einen Anwalt mit seinen denen, die die Erfolge der Kanzlei zu willig Witwen schüttelt“, sagt Prinz, „sonMandanten zu identifizieren und der spüren bekommen, Naserümpfen auslöst. dern es ist der Druck von oben, der ihn
Ein Handbuch sollte es werden, mit dem dazu bringt. Doch wenn eine Sache erst
heimlichen Komplizenschaft zu bezichtigen.
Prinz wird vorgeworfen, er sorge für „Hof- die Autoren dem Leser vor Augen führen einmal als rechtswidrig anerkannt ist, wird
berichterstattung“ (etwa bei der Hochzeit wollen, daß der rechtliche Einsatz für die man es sich überlegen, ob man sie vom
von Caroline von Monaco mit Ernst Schönen und Reichen nur eine Seite, die Mitarbeiter verlangen kann.“
Wie bestellt zur AusliefeAugust von Hannover). Doch
rung des Bandes, entschied
die Rechtsordnung gesteht jeder VI. Zivilsenat des BGH
dem, vom Mörder bis zum
dieser Tage über eine Klage
Steuerbetrüger, Verletzten
des Prinzen Ernst August
und Beleidigten, zu, sich zur
von Hannover (nicht gerade
Wehr zu setzen und auf das
ein Sympathieträger, Prinz’
zu berufen, was ihm die Gevielleicht heikelster Mansetze und die Rechtsprechung
dant) auf Unterlassung der
garantieren und einräumen.
Veröffentlichung bestimmter
Die Versorgung ausgeTeile eines Zeitschriftenberechnet Prominenter mit horichts über seine Ehescheihen Schmerzensgeldern hat
dung. Die Klage wurde abeinen weiteren, einen bittegewiesen.
ren Beigeschmack: Noch imDie Hamburger Gerichte
mer besteht ein kaum erhatten zuvor für Ernst Auträgliches
Mißverhältnis
gust entschieden. Der BGH
etwa zu den Beträgen, die
hingegen befand, daß die
Gewalt- oder Unfallopfern
Pressefreiheit „nicht nur für
von den Gerichten zuge,wertvolle‘ Informationen,
standen werden. Ein Mann,
sondern grundsätzlich auch
Anfang 20, der bei einem Prinz-Mandanten Caroline, Ernst August: „Echter Hemmungseffekt“
zugunsten der UnterhalUnfall die rechte Hand und
den rechten Unterschenkel verlor, der fünf Show-Seite von Bemühungen ist, die auch tungs- und Sensationspresse und damit
Monate im Krankenhaus lag, seitdem zu dem Schutz des Normalbürgers dienen. So auch für Mitteilungen besteht, die ledig100 Prozent erwerbsunfähig ist und sein findet sich in dem Band unter anderem lich das Bedürfnis einer mehr oder minder
Leben lang unter Phantomschmerzen lei- eine Entscheidung des Landgerichts Ans- breiten Leserschicht nach oberflächlicher
den wird, bekommt weit weniger als Prin- bach, das einen Verlag zur Zahlung von Unterhaltung befriedigen“.
Rechtsanwalt Prinz wird möglicherzessin Caroline, nämlich allenfalls 115 000 immerhin 75 000 Mark Schmerzensgeld
Mark Schmerzensgeld. Prinz hat schon verurteilte: Ein Mann war, ohne daß der weise das Verfassungsgericht anrufen,
1991 in einem Aufsatz auf diese peinliche Sachverhalt nachgeprüft wurde, als per- wenn die Begründung des Senats vollverser Kinderschänder geschildert worden. ständig bekannt ist. Vorerst wird geraunt,
Diskrepanz hingewiesen.
Über dem Glanz der – natürlich auch lu- Dabei war er rechtskräftig freigesprochen. wie es die Juristen pflegen, und nicht
Hinter Prinz und Peters liegt eine Mate- nur bei den Klatschjournalisten herrscht
krativen – Promi-Mandate wird oft vergessen, daß in der Kanzlei Prinz Neidhardt rialschlacht. 790 Seiten für 148 Mark sind Erleichterung: Endlich werde die MeEngelschall (Engelschall, 77, war einmal es geworden, eine voluminöse Bestands- dienrechtsprechung wieder zurückVorsitzender Richter der Pressekammer aufnahme von Entscheidungen aus dem gedreht, endlich ein Mißerfolg für den
in Hamburg, bevor er in den Ruhestand Äußerungsrecht von Presse, Hörfunk und Hallodri mit seiner illustren Kundschaft,
und bei Prinz eintrat) auch wenig oder gar Fernsehen – verfaßt aus der Sicht derer, die der längst Teil des Geschäfts sei.
Die etablierten Handbücher des Pressenicht bekannte Personen beraten wurden Gegendarstellungen und Schmerzensund werden, die sich einen Anwalt wie gelder nicht abzuwehren, sondern durch- rechts von Soehring, Löffler oder Wenzel,
so argumentieren Prinz’ Kritiker, seien
Prinz eigentlich nicht leisten können. Ge- zusetzen versuchen.
Zutreffend sagt der Verlag C. H. Beck, keineswegs überholt. Das neue Handbuch
rade über die Rechte des sogenannten kleinen Mannes wird bisweilen mit einer Sorg- das Buch werde alle Praktiker auf dem Ge- wird sich also durchzusetzen und zu belosigkeit ohnegleichen hinweggegangen: biet des Medienrechts beschäftigen – haupten haben. Prinz hat den renommierDa finden sich Eltern, die um ihr soeben Rechtsanwälte, Richter, Redakteure, Jour- ten Autoren eines voraus: Den Journaliertrunkenes Kind weinen, auf der Titel- nalisten, Verlage und andere Medien- stenalltag, den Druck des Redaktionsseite eines Boulevardblattes wieder; an- unternehmen –, liegt sein Nutzwert doch schlusses, das Gezänk in und zwischen den
dere werden in den Medien mit Bildern vor allem darin, potentiell Geschädigte auf Ressorts, die Abläufe in den Verlagen kennt
der nackten Leiche ihrer vergewaltigten die Möglichkeiten einer Gegenwehr auf- er als Sohn von Günter Prinz, Ex-Chefremerksam zu machen.
dakteur von „Bild“ und VorstandsvorsitTochter konfrontiert.
Doch was wird der Nachwuchs etwa hin- zender des Axel Springer Verlages, von
1996 trat in die Kanzlei Butz Peters ein,
wie Prinz promovierter Jurist und Journa- sichtlich der „Pflicht zur Recherche“ sagen, Kindesbeinen an.
Der Verlag wirbt für die Neuerscheilist dazu, lange Jahre Leiter des Ressorts wie sie die Autoren fordern? Der Kampf
Rechts- und Medienpolitik beim NDR- um Auflage ist nicht weniger hart als der nung, indem er von einem „neuen HandHörfunk. Im selben Jahr entstand der Plan um Einschaltquoten, er spielt sich nur eher buch im Mediendschungel“ spricht. Es
zu einem gemeinsamen Buch, den der „Ro- hinter den Kulissen ab. Mancher Journalist könnte ein Leitfaden für die sein, die diebin Hood der Reichen“ (so die Hamburger wird sich fragen, wie er seinen Auftrag er- ser Dschungel zu verschlingen droht. Dafür
„Morgenpost“ über Prinz) schon lange füllen soll, wenn er sich strikt an das hält, gibt es nicht von allen Seiten Beifall. ™
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Ferrari-Pilot Schumacher nach dem Frontalunfall in Silverstone: „Zum Gasgeben reicht es schon“
FORMEL 1
Der eilige Patient
Michael Schumachers Unfall hat die Diskussion um die Sicherheit neu entfacht. Grand-PrixPiloten bewerten einen Beinbruch als unvermeidbares Restrisiko. Der Ferrari-Star ist
derweil wieder im Training. Schafft er die Rückkehr zum Großen Preis von Belgien Ende August?
114
nahe zur Schumi-Crash-Sondersendung.
Zwischen zwei Beiträge „live vom Northampton General Hospital“ quetschte der
Formel-1-Sender immerhin noch ein paar
Schnipsel über die Weltläufte. Ex-Weltmeister Jackie Stewart juxte aus England
mit gespielter Verwunderung: „Ich verstehe die Aufregung gar nicht, es ist doch nur
ein Beinbruch.“
Und am Mittwoch, als der Strom des
Entsetzens in der Motorsport-Gemeinde
abzuklingen drohte, legte die „Bild“-Zeitung noch mal kräftig nach: „Alles viel
schlimmer“, titelte Schumis Hausdepesche
und berichtete bang: „Gewebe ist zerstört.“ Das klingt verheerend, ist aber in
Wirklichkeit ein Vorgang, den so oder ähnlich pro Jahr über 9000 deutsche Skifahrer erleben. Drei
Monate, Minimum, veranschlagte das ferndiagnostisch
versierte Blatt bis zur Rückkehr des Helden.
Die Prognose deckt sich
nicht mit den Vorstellungen
des Patienten. Insgeheim hat
der zweifache Weltmeister, bei
optimalem Verlauf, das letzte
August-Wochenende für sein
Comeback anvisiert. In Spa,
beim Großen Preis von BelREUTERS
A
ls der Ferrari mit Startnummer 3
die Direttissima Richtung Leitplanken nahm, hatten die üblichen Verdächtigen erst mal Ruhe. Jürgen Trittin zum
Beispiel, zuletzt ein Liebling des Boulevards, genoß die publizistische Feuerpause. Auch Jürgen Bangemann und Hilmar
Kopper vermochten im Sog des roten
Rennautos abzutauchen.
Schuld hatte der junge Mann aus
Kerpen. Michael Schumacher, 30, war in
Runde eins beim British Grand Prix infolge einer lockeren Schraube an der Hinterradbremse vom Weg abgekommen. Der
Einschlag geriet gewaltig, Schien- und Wadenbein im rechten Unterschenkel waren
glatt gebrochen.
Die Fernsehbilder von dem
Ritt übers Kiesbett, der Bergung zwischen weiß getünchten Altreifen und der Überführung per Hubschrauber
quollen wie heiße Lava in die
Nachrichtensendungen – kein
Autounfall bekam so viele
Sonderseiten, seit der Hotelangestellte Henri Paul vor
zwei Jahren die Princess of
Wales zu Tode fuhr.
Am Tag nach der Karambolage geriet „RTL aktuell“ bei- Schumacher
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gien, könnte Michael Schumacher wieder
im Cockpit sitzen.
Die düsteren Orakel, von seinem Manager Willi Weber durchaus gestützt, kommen Schumacher indes gelegen. So kann er
ohne Druck an seiner Heilung arbeiten –
und seine Fan-Schar nach wundersam frühzeitiger Genesung beglücken.
Schon am Montag nahm er das Projekt
Wiederkehr persönlich in die Hand und
erkundigte sich via Telefon europaweit
nach den besten Einrichtungen für seine
Reha-Behandlung. Dann begann er mit
krankengymnastischen Übungen.
Mitte der Woche, inzwischen in die
Schweiz verfrachtet, ortete er als einzige
Beeinträchtigung ein „Nadelkissengefühl
im rechten Fuß“ – den der Ferrari-Mann im
übrigen schon wieder zu bewegen vermochte. „Zum Gasgeben“, erklärte er zufrieden, würde die Beweglichkeit des operierten Beins schon reichen.
Das ist nicht mal übertrieben. Die Rennwagen haben schon lange keinen herkömmlichen Gaszug mehr. Wie beim Flugzeugbau ist die Mechanik durch Elektronik
(„Fly by wire“) ersetzt. Das Gaspedal, dessen Signal über Kabel an die Drosselklappe fließt, erfordert kaum mehr Kraftaufwand als ein Mausklick. Ungleich schwerer
ist das Bremsen. Mit 60 Kilogramm müssen
DPA
A. THILL / ATP
Sport
Grand-Prix-Pilot Zonta bei seitlichem Aufprall in São Paulo, Fahrer Wurz bei Überschlag in Montreal: Wie zerbröckelte Schokolade
sich die Piloten zuweilen gegen das Pedal
stemmen, um ihr Gefährt – beispielsweise
– in 2,5 Sekunden von Tempo 160 auf Null
zu bringen. Doch das bewerkstelligt Schumacher sowieso mit links; seit einigen Jahren werden die Gänge nicht mehr per
Kupplungspedal und Schaltknauf eingelegt, sondern elektronisch über eine Handwippe am Lenkrad.
Daß der zweifache Vater keine schlimmeren Verletzungen als die Fraktur von
Tibia und Fibula davontrug, hatte mit
Glück wenig zu tun. Bei dem überschaubaren Unfallhergang standen ihm
vielmehr seine körperliche Konstitution
und, wie es die „Frankfurter Allgemeine“
formulierte, die „Gnade der späten Geburt“ zur Seite.
Etwa 100 Stundenkilometer verlor der
Ferrari auf den Kieselsteinen, mit einer
Restgeschwindigkeit von 107 km/h tauch-
te er laut Fahrtenschreiber in die dreifachen Reifenstapel ein. Mit mindestens
20 g*, also dem Zwanzigfachen des eigenen
Körpergewichts, wurde Schumacher in seinen Hosenträgergurt gepreßt.
Gewöhnliche Autofahrer hätten die in
Fahrtrichtung drängenden zwei Tonnen
womöglich nicht so schadlos überstanden.
Doch Formel-1-Fahrer, weiß der Salzburger
Physiotherapeut Erwin Göllner, der den
früheren Weltmeister Jacques Villeneuve
betreut, „sind im Nacken-, Schulter- und
Brustbereich muskulär so gut trainiert, daß
sie so was verkraften“.
Zugleich profitierte Schumacher von
den stetigen Verbesserungen an der Fahrerzelle, Monocoque genannt. Seit Anfang
der achtziger Jahre bedient sich die Formel 1 eines Materials, das für die Raumfahrt entwickelt wurde: Kohlefaser. Der
Kunststoff hat den Vorteil, leichter als Aluminium und fester als
Stahl zu sein. UnbehanChrashtests in der Formel 1
delt mutet er an wie eine
Beim Frontaufpralltest rast die Fahrerzelle samt Frontnase eine 15 m
grobe, lichtdurchlässige
lange Rampe hinunter und wird mit knapp 75 km/h gegen einen StahlTapete. Verklebt und unbetonblock katapultiert. Die Frontnase soll von der Aufprallenergie verter sieben bar Druck in
formt werden, die Fahrerzelle muß unversehrt bleiben. Beim Seitenaufeinem überdimensionalen
pralltest trifft eine Stahlplatte mit etwa 25 km/h und der Wucht von
Backofen gehärtet, kann
780 kg seitlich auf
die Fahrerzelle.
Fahrerzelle mit
Frontnase (blau)
Fomel-1-Fahrerzelle
und Dummy
Crashmauer
mit Dummy
15 m lange Rampe
Pedalöffnung
S U T TO N M OTO R S P O RT I M AG E S
Kopfstütze
Cockpit-Polster
er kinetische Energie aufnehmen wie kein
vergleichbarer Werkstoff.
Mehrfach wurden in den letzten Jahren
die Crash-Test-Vorschriften verschärft. So
muß das Monocoque den seitlichen Anprall eines 780 Kilogramm schweren Stahlträgers überstehen, der mit einer Geschwindigkeit von sieben Metern pro Sekunde einschlägt. Der Überrollbügel hat
7,6 Tonnen zu ertragen.
Am anspruchsvollsten ist die gezielte
Verformung der Frontpartie. Sie muß für
drei Millisekunden eine maximale Belastung von 60 g aushalten – danach sieht die
Nase aus wie zerbröckelte Schokolade vom
vorletzten Nikolaustag. „Wir könnten die
Autos noch stabiler konstruieren“, sagt Bill
Millar, Entwicklungsingenieur im Benetton-Team, „aber das wäre unsinnig: Der
Rennwagen würde den Crash überleben,
der Fahrer nicht.“
Das Problem ist, daß innere Organe sich
nicht anschnallen lassen. Selbst wenn ein
Fahrer seinen Helm an der Kopfstütze des
Sitzes befestigen würde: Bei einem Aufprall mit 80 g würde das Gehirn ungebremst gegen die vordere Schädeldecke
sausen, die Blutgefäße würden hinten abreißen. Kaum anders erginge es den Arterien von Herz, Leber oder Nieren. Äußerlich wären dem Piloten keine Verletzungen anzusehen, im Körper könnten die
Blutungen jedoch von niemandem mehr
gestoppt werden.
Kaum anders erging es dem Österreicher Roland Ratzenberger 1994 in Imola.
Bei seinem Unfall mit Tempo 300 war
die Bremswirkung durch eine Mauer
schlicht zu hoch – sein Genick brach.
Zweimal war es knapp: Karl Wendlinger raste im selben Jahr in Monte Carlo
in die Streckenbegrenzung und verbrachte 19 Tage im Koma. Mika Häkkinen prallte Ende 1995 in Adelaide gegen
eine Mauer. Monatelang laborierte er an
den Folgen seines Schädelbasisbruchs.
Als Konsequenz wurden die Monocoques vergrößert, deren Cockpitwände
erhöht und gepolstert.
Mit Erfolg: Bei den jüngsten Havarien
gab es keine Kopfverletzungen mehr. Die
* 1 g = 9,81 m/s2 (Erdbeschleunigung).
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Formel 1 hat damit, was die passive Sicherheit der Fahrerzellen angeht, offensichtlich ein Maximum erreicht.
Sämtliche Kollisionen hatten ähnliche
Schadensmuster wie im Fall Schumacher:
π Im Juni 1997 fuhr der Franzose Olivier
Panis mit Tempo 232 frontal in einen
Reifenstapel, er brach sich beide Beine.
π Im April dieses Jahres prallte der Brasilianer Ricardo Zonta mit 170 km/h seitlich in eine Leitplanke, er riß sich vier
Sehnen am linken Fuß.
π Im Juni schlug der Mönchengladbacher
Heinz-Harald Frentzen mit 180 km/h
rückwärts in eine mit Reifen gesicherte
Leitschiene, er erlitt drei Haarrisse am
oberen Ansatz von Schien- und Wadenbein.
Also alles „Business as usual“, wie die
neue Nummer eins bei Ferrari, Eddie Irvine, den Unfall seines Teamkollegen spontan bewertet hatte? Unter Fahrern wird
ein Beinbruch unter Restrisiko verbucht –
mithin unvermeidbar. In die Diskussion,
wie derlei Blessuren zu verhindern seien,
geriet der Grand-Prix-Zirkus diesmal nur,
weil der Cheflenker betroffen war.
Zur schnelleren Heilung Schumachers
schlugen die Ärzte einen 30 Zentimeter
langen Marknagel ins Zentrum des hohlen
Schienbeinknochens. Als Mittel, Patienten
fix zum Laufen zu bringen, hat sich die
Methode bewährt.
Schumachers Kernproblem liegt jedoch
in der Horizontalen – wenn er, mit dem
Gesäß praktisch auf dem Fahrzeugboden
sitzend, demnächst wieder Gas geben soll.
Ein Formel-1-Auto rollt je nach Tempo mit
zwei bis drei Zentimeter Bodenfreiheit
über den Asphalt. Bei höheren Geschwindigkeiten ist der Federweg gleich null. Bodenunebenheiten nimmt der Wagen nahezu ungefiltert auf. Diese Vibrationen sind
Gift für einen heilenden Knochen.
Der Nagel hilft nur die Achse zu halten.
Wird am Bruchspalt immer wieder gerüttelt, kann es sein, daß die Enden zwar
abheilen, aber nicht zusammenwachsen.
Ob die vereinigenden Knochenzellen
wirklich eine Verzahnung herstellen, ist
auf dem Röntgenbild zu sehen – frühestens ab der vierten Woche. „Ich höre auf
den Rat der Mediziner“, verspricht der
Kerpener.
Um gleich wieder konkurrenzfähig zu
sein, muß er auch dem Muskelverlust des
operierten Beins vorbeugen. Denn Kraft
ist vonnöten: Bei schnellen Linkskurven
etwa wird das rechte Bein mit Schlägen
gegen die Cockpitwand traktiert; geht es
rechts herum, muß es sich gegen die mit bis
zu 4 g zerrenden Fliehkräfte stemmen.
Vor allem aber sollte Schumacher einen
neuerlichen Crash vermeiden. Bei einem
vergleichbaren Unfallverlauf würde der
Marknagel im schlimmsten Fall das Schienbein zum Splittern bringen. Die Nägel der
Chirurgen sind ähnlich stabil wie die Monocoques der Formel 1. Alfred Weinzierl
d e r
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Sport
Wie Schinken
verkauft
In Italien brechen Ablösesummen
und Spielergagen alle Rekorde.
Und im Fernsehen gibt es künftig
Fußball total: bis zu 16,5
Stunden live in der Woche.
D
er junge Mann ist wortkarg und
nicht besonders helle. Zu Immobilien in Nizza und Monte Carlo, in
Mailand und Paris hat er es trotzdem gebracht. Und gern rühmt er sich seiner
Fähigkeiten, an einem Abend gleich drei
junge Damen abzuschleppen.
Christian „Bobo“ Vieri, 26, ist der teuerste Fußballer der Welt. Rund 91 Millionen
Mark hat Inter Mailand gerade für ihn bezahlt, fast doppelt soviel wie 1997 für den
brasilianischen Wunderstürmer Ronaldo.
In kollegialer Konkurrenz zu dem soll
Vieri nun für Inter Tore schießen. Doch
während Ronaldo noch für 7,5 Millionen
Mark per annum kickt, kassiert Vieri rund
10 Millionen. Netto, Steuern und Abgaben
trägt der Verein.
Spielergehälter und Ablösesummen
„sind außer Kontrolle geraten“, klagen die
Clubchefs, und ein „Gefühl der Ungläubigkeit“ beschleicht nicht nur Giovanni
Trapattoni, den von München nach Florenz heimwärts gewanderten Fußball-Lehrer. „Zynisch“ sei der Fußball geworden.
Auch Bischöfe mahnen. Die Zeitung des
Papstes, „L’Osservatore Romano“, lamentiert, die Millionenbeträge seien „eine Beleidigung für die Armen“. Und noch im
Abschiedsbrief eines jungen Selbstmörders
aus Rom findet sich die Anklage an eine
fußballverrückte Welt: So viel Geld für Vieri sei doch „absurd“.
Doch nicht nur „Bobos“ Preis schießt in
den Himmel: Die italienische Liga stürmt
auf breiter Front in eine neue Dimension.
Von den 16 europäischen Top-Transfers des
Sommers enden 12 bei italienischen Clubs,
für zusammen 524 Millionen Mark (siehe
Grafik). Im Vergleich dazu zahlt die Bundesliga wie im Schlußverkauf: Der teuerste hiesige Transfer, die Verpflichtung des
Nigerianers Victor Ikpeba durch Borussia
Dortmund, taucht mit 15 Millionen nicht
mal im zweiten Dutzend auf.
Mit den Ablösesummen explodieren
südlich der Alpen auch die Gehälter der
Spieler. Für knapp 500 Millionen Mark
rackerten sich die Teams der italienischen
Serie A noch in der Saison 1995/96 ab. Ein
Jahr später kassierten sie schon gut 600
Millionen; jetzt haben die Personalkosten
800 Millionen Mark überschritten. Ein rundes Dutzend Profis streicht Nettogagen
zwischen vier Millionen und sieben Millionen Mark ein; Alessandro del Piero (Juventus Turin) setzt unter neun Millionen
kein Bein mehr vor das andere.
Beträge, die sich die Vereine gar nicht
leisten können. Vor allem die Bilanzen der
Mailänder Teams, aber auch von Parma,
Bologna und Florenz enden hoffnungslos
im Minus. Auf knapp 100 Millionen summieren sich die Verluste der Liga.
Die „Erpressung durch die Spieler“, jammern die Vereinsbosse, treibe die Gagen in
stratosphärische Höhen. „Eklig“ nennt
einer die verkommene Moral unter den
Stars: mehr Geld oder weniger Torlust.
„Gehaltsstopp“, „Obergrenzen für Spielergagen“ werden diskutiert, um die armen Vereine vor der Gier der Kicker zu
schützen. Dabei mischen die Eigentümer
und Manager der Clubs selber kräftig
mit. „Die Wahrheit ist doch“, so Nationalmannschaftskapitän Paolo Maldini,
„daß die Vereinspräsidenten
uns diese
fachen seines Anfangspreises gehandelt.
Gold, Kunst, High-Tech-Aktien – nichts
kann mit der Geldmaschine Vieri mithalten.
Angeheizt wird das Millionenspektakel
vor allem von den Fernsehstationen, insbesondere den privaten Pay-TV- und AboSendern. Die bieten jährlich mehr für die
Übertragungsrechte. Knapp 500 Millionen
Mark waren es in der vorigen Saison, 700
Millionen bis 800 Millionen sollen es im
nächsten Fußball-Jahr werden.
Die Clubs profitieren davon, daß sie ihre
Spiele zum Teil einzeln vermarkten dürfen.
Ein Vorgang, den auch Bayern-Manager Uli
Hoeneß beim DFB vorige Woche erneut
für seinen Verein reklamierte.
Der Preis der geschäftlichen Freiheit ist
absehbar: In Italien werden die Spiele
künftig vom traditionellen Fußball-Sonntag
auf mehrere Tage verteilt – so können
mehr Partien direkt gesendet werden.
Wöchentlich sind bis zu 16,5 Stunden LiveGekicke mit der Fernbedienung verfügbar.
Die Stadien sollen von schlichten Sportstätten zu Vergnügungszentren umgebaut,
Goldfüßchen
Christian
Vieri
Die teuersten Transfers in Europa 1999
Einkäufe italienischer Clubs
Transfer von – zu
Christian Vieri
Amoroso
AC T I O N - S P O RT
FUSSBALL
Quelle:
„Kicker“
Veron
Amoroso
Juan Sebastian Veron
Vincenzo Montella
Andrej Schewtschenko
Darko Kovacevic
Walter Samuel
Sonny Anderson
Dani
Enrico Chiesa
Simone Inzaghi
Gianluca Zambrotta
Angelo Peruzzi
Michel Salgado
Dietmar Hamann
Edwin van der Saar
schwindelerregenden Summen anbieten.“
Sein Chef Cragnotti habe ihn schließlich
„verkauft, um daran zu verdienen“, erregt
sich auch Vieri über Vorwürfe ob seiner
Maßlosigkeit. Der habe dabei „35 Millionen Mark mehr eingenommen, als er für
mich bezahlt hat“.
In der Tat ist die Wertschöpfung mit dem
Torjäger beachtlich. 1990 brachte das damals 16jährige Fußballtalent seinem toskanischen Drittligaverein Prato 20000 Mark in
die Kasse. 1992 bekam sein neuer Besitzer
schon zwei Millionen für ihn, dann wurde
er für vier Millionen, für acht Millionen
verhökert. Heute, nach neun Jahren und
neun Trikotwechseln, wird er zum 4500d e r
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Lazio Rom – Inter Mailand
Udinese Calcio – AC Parma
AC Parma – Lazio Rom
Sampdoria Genua – AS Rom
Dynamo Kiew – AC Mailand
San Sebastian – Juventus Turin
Boca Juniors – AS Rom
FC Barcelona – Olympique Lyon
RCD Mallorca – FC Barcelona
AC Parma – AC Florenz
FC Piacenza – AC Mailand
AS Bari – Juventus Turin
Juventus Turin – Inter Mailand
Celta Vigo – Real Madrid
Newcastle Utd. – FC Liverpool
Ajax Amsterdam – Juventus Turin
Ablöse in Mark
91 Mio.
64 Mio.
53 Mio.
50 Mio.
41 Mio.
41 Mio.
40 Mio.
34 Mio.
30 Mio.
30 Mio.
30 Mio.
30 Mio.
28 Mio.
24 Mio.
24 Mio.
23 Mio.
noch mehr Werbung soll um die FußballEvents plaziert werden. „Ein geschätztes
Marktvolumen von 24 Millionen Menschen“
haben die Freizeitstrategen fest im Blick.
Wenn die Konsumenten nur nicht fußballmüde werden von der Dauerberieselung: „In wenigen Jahren“, prophezeit der
bekannteste italienische Sport-Moderator
Fabio Fazio düster, werde der Fußball verschwinden, sollte er „weiter wie Schinken
verkauft“ werden.
Christian Vieri ist weniger besorgt.
„Zehn, fünfzig, hundert Millionen, das interessiert mich nicht.“ Denn, so die Philosophie des Multimillionärs, „Geld macht
keine Tore“.
Hans-Jürgen Schlamp
117
Werbeseite
Werbeseite
Ausland
Panorama
Kaschriel: Niemand kann das versprechen.
Wir haben eine sehr kleine, extreme Minderheit, die sogar von außerhalb unterstützt
wird. Diese Extremisten schaden unserer
Sache. Wir versuchen, sie so gut es geht zu
kontrollieren.Aber wenn die Regierung uns
provoziert, wird das schwieriger.
SPIEGEL: Meinen Sie die Ankündigung, alle
Investitionen in den besetzten Gebieten
Kaschriel
zu stoppen?
Kaschriel: Ich bin einverstanden, wenn die Regierung alles
überprüft und sagt, den Siedlungen geht es gut, jetzt sind
mal andere Städte dran. Aber nicht, wenn man uns austrocknen will.
SPIEGEL: Akzeptieren Sie die Palästinenser als Nachbarn?
Kaschriel: Sie sind hier, das ist ein Faktum, und wir sind hier.
Wir müssen zusammenleben, und es ist besser, jetzt damit anzufangen und nicht auf Terror und Blutvergießen zu warten.
Von einer Zusammenarbeit würden alle profitieren.
SPIEGEL: Warum sind Sie gegen einen palästinensischen Staat?
Kaschriel: Die Palästinenser können ihre Flagge haben, ihr Parlament, Autonomie in allen Fragen, auf keinen Fall eine Armee.
Einen Staat sehe ich allenfalls in ferner Zukunft, zur Zeit können wir das nicht zulassen.
ISRAEL
A. BRUTMANN
„Nur wenn sie uns
wegtragen“
Siedler-Chef Benni Kaschriel, 48, ist der erste nichtreligiöse
Vorsitzende des Siedler-Rates Jescha und Bürgermeister von
Maale Adumim, das noch unter der Regierung Netanjahu an
Groß-Jerusalem angegliedert wurde.
BALKAN-HILFE
Graswurzel-Start
D
ie Hilfe der industrialisierten Staaten für das Kosovo und die Anrainerstaaten soll beim Wiederaufbau
zerstörter Häuser und bei der Landwirtschaft ansetzen. Das verlangte Finanzminister Hans Eichel auf dem ersten Treffen der Geberländer vergange-
AP
To t e s M
eer
J O R DA N I E N
SPIEGEL: Premier Ehud Barak steuert mit hohem Tempo auf einen Frieden zu. Sind die Siedler bereit zu Kompromissen?
Kaschriel: Wir waren bei Barak. Er hat uns nichts versprochen.
Aber wir haben vereinbart, uns wechselseitig nicht zu überraschen. Wir wollen miteinander reden, um vertretbare Lösungen
zu finden. Rabin kehrte uns den Rücken, das hat Widerstand provoziert. Wer Frieden will, sollte niemand an die Wand drängen.
SPIEGEL: Sie wollen kooperieren?
Kaschriel: Barak ist auch mein Premier, selbst wenn ich ihn nicht
gewählt habe. Unser Job ist es, die Lebensqualität der Siedlungen zu verbessern, und nicht auf jeden Hügel zu rennen und
dort Container aufzustellen.
SPIEGEL: Das sind unbekannte
Siedlungen
Töne. Bisher errichteten Siedler
im Westjordanland
ständig neue Wehrdörfer.
jüdische Siedlungen
Kaschriel: Es gibt eine Wende. Als
palästinensische
neuer Vorsitzender des Siedler-RaSelbstverwaltung
tes stehe ich für eine pragmatische
palästinensische Zivilverwaltung, israelische
Politik. In der Demokratie muß ich
Sicherheitshoheit
auch Dinge respektieren, mit denen ich nicht einverstanden bin.
Dschenin
SPIEGEL: Auch, daß Siedlungen
WESTJORDANLAND
geräumt werden?
Tulkarm
Nablus
Kaschriel: Alle Regierungen wollKalkilja
ten die Siedlungen, von Golda
Meïr bis heute. Ich werde nicht um
jeden Wohnwagen kämpfen. Aber
Ramallah
wir lassen uns nicht evakuieren.
Jericho
Da ist unsere Schmerzgrenze.
SPIEGEL: Was können Sie tun?
Jerusalem
Kaschriel: Wir werden Widerstand
Betlehem
Maale
leisten bis zum Ende. Und: Wie bei
Adumim
der Räumung des Sinai 1982 – man
müßte uns schon aus unseren HäuHebron
sern wegtragen.
SPIEGEL: Wer garantiert, daß es auf
seiten der Siedler nicht zu Gewalt
ISRAEL
kommt?
30 km
Jüdische Siedler im Westjordanland
ne Woche. Große Infrastrukturvorhaben
– der Wiederaufbau von Brücken und
Autobahnen – sollen erst beginnen,
wenn die regionale Wirtschaftstätigkeit
wieder angekurbelt ist. Dieses „Graswurzel-Konzept“ fordert auch die Weltbank. Wenn ihre 181 Teilhaber-Länder
mitmachen, sollen im Kosovo mit 60
Millionen Dollar Kleinkredite an lokale
Handwerksbetriebe, Lohnzahlungen für
Beamte oder die Mitarbeiter der Wasd e r
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ser- und Kraftwerke finanziert werden.
Langfristig sind größere Summen nötig:
Der Internationale Währungsfonds bezifferte allein für 1999 den Bedarf der
sechs Balkan-Anrainerstaaten Jugoslawiens an Zahlungsbilanzhilfen auf eine
Milliarde Dollar. Konkrete Zahlen gibt
es noch nicht. Weltbank und EU-Kommission wollen bis zum 28. Juli, der ersten offiziellen Geberkonferenz, eine
rohe Schadensermittlung vorlegen.
119
Panorama
SCHWEDEN
Mozart für Hennen
D
Äthiopische Soldaten an der Eritrea-Front
AFRIKA
Die Spender sind müde
U
ngewöhnliche Hitze, mangelnde Niederschläge und hoher Schädlingsbefall bedrohen
das Leben von mehreren Millionen Menschen in Äthiopien, Eritrea, Somalia und
Nord-Kenia. Doch Hilfsorganisationen können derzeit nur bedingt eingreifen, weil die internationale Gemeinschaft ihre dringenden Finanzierungsappelle bisher kaum beachtet:
So benötigt das Uno-Welternährungsprogramm monatlich 65 000 Tonnen Nahrungsmittel, um 1,2 Millionen Menschen in sechs äthiopischen Provinzen zu versorgen; wegen des
BELORUSSLAND
FRANKREICH
Minderheit unter Druck
Kaputte Kohabitation
S.-O. AHLGREN / FLT-PICA
I
Glückliches Schweden-Huhn
zu finden. Auf jeden Fall aber werden
Schwedens sechs Millionen Hennen gegenüber ihren kontinentaleuropäischen
Schwestern den Schnabel vorn behalten. Denn die nationale Gesetzgebung
verpflichtet in einer „Funktionsordnung“ die Hühnerhalter, schon bis 2002
die Käfige zu vergrößern und mit Ruhestange und Staubbad „gemütlicher“ zu
gestalten. Empfohlen wird nach kostspieligen Untersuchungen von Verhaltensforschern, die gestreßten Legehennen mit Musikberieselung zu beruhigen, zum Beispiel mit Mozart.
120
n Belorußland werden die rund
400 000 Polen seit dem Nato-Beitritt
Polens im März Schikanen ausgesetzt.
In vielen Schulen des Umlands von
Grodno wurden polnischsprachige
Klassen geschlossen, die Kinder auf russische Klassen verteilt. In Nowogrodek,
der Geburtsstadt des polnischen Nationaldichters Adam Mickiewicz, verboten
die Behörden den Bau einer polnischen
Schule, obwohl die landsmannschaftliche Vereinigung bereits das Geld dafür
aufgebracht hatte. Selbst Schulbücher in
polnischer Sprache sind neuerdings untersagt. Jetzt will das Lukaschenko-Regime der Vereinigung der Polen sogar
den legalen Status entziehen, sollte diese größte polnische Minderheiten-Vertretung des Landes ihre Grundhaltung
nicht ändern. Minsk gefällt nicht, daß
die Vereinigung offiziell für die Gründung von Schulen und Pflege des kulturellen Erbes auftreten darf. Proteste gegen diese Schikanen sind gefährlich: Tadeusz Gawin, Vorsitzender der PolenVereinigung, wurde bereits wegen „Beleidigung von Staatsbediensteten“ zu
einer hohen Geldstrafe verurteilt.
d e r
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S
eit Präsident Jacques
Chirac verkündete,
er wolle bis zum Ablauf
seiner siebenjährigen
Amtszeit regieren, ist
die politische Wohngemeinschaft („Kohabitation“) des rechten
Staatschefs und des
linken Sozialisten-Pre- Chirac
miers Lionel Jospin in
Gefahr – der Kampf um das höchste
Amt der Republik, bei dem Chirac im
Jahr 2002 gegen Jospin antreten dürfte,
lähmt schon jetzt die Staatsgeschäfte.
Beispiel Europapolitik: Chirac, der
Gaullist im Elysée, schickt den Parteigänger Michel Barnier in die EU-Kommission, Regierungschef Jospin entsendet seinen Vertrauten Pascal Lamy. Und
weil sich die Konkurrenten auch bei der
Außenpolitik belauern, ist Paris bei
Gipfeltreffen stets doppelt vertreten.
Nach Chiracs Beteuerung, die Vernunftehe sei ein „Beweis der Demokratie“, höhnte Sozialistensprecher Alain
Claeys: In Wahrheit sei der Präsident
„geschwächt und ohne Perspektiven“.
AFP / DPA
ie Regierung in Stockholm will als
Vorkämpfer der tierischen Würde
eine drastische Verbesserung der von
der EU im Juni beschlossenen „Richtlinie zum Schutz der Legehennen“
durchsetzen. Bei der Brüsseler Sitzung
des Agrarministerrats an diesem Montag will sie die Vorschrift erweitern, die
alle EU-Mitgliedstaaten verpflichtet, ab
2003 den Hühnern in Batteriehaltung
550 Quadratzentimeter Platz pro Henne
zuzugestehen – einen Bierdeckel mehr
Fläche als bisher. Die Schweden plädieren für eine Ausweitung auf 900 Quadratzentimeter, von denen 600 für ein
Nest mit Halm- oder Jutebelag reserviert werden müssen. Außerdem soll
der Käfig ein Sandbad sowie eine Sitzstange enthalten und das schräge Gestell der Eierabrollanlage die Henne
nicht stören. Deutsche Agrarministeriale geben dem skandinavischen Vorstoß
für das geschundene Federvieh wenig
Chancen. Vor allem der Südschiene der
EU, aber auch den Niederlanden, Frankreich und Großbritannien gehen die
Schutzvorschriften schon jetzt zu weit.
Schweden dürfte es schwerfallen, bei einer Abstimmung genügend Partner für
die Mobilisierung einer Sperrminorität
Ausland
BELGIEN
Mysteriöser Tod eines Staatsdieners
er neue belgische Justizminister Marc Verwilghen hat einen schriftlichen Bericht bei der Lütticher Generalstaatsanwaltschaft angefordert zu den mysteriösen Todesumständen im Fall Hubert Massa. Der leitende Staatsanwalt, befaßt mit
dem brisanten Fall des Kinderfängers Dutroux sowie dem Mord an dem Sozialistenführer André Cools in Lüttich, war am
vergangenen Dienstag abend erschossen im
Arbeitszimmer seiner Wohnung aufgefunden worden. Ein Arzt diagnostizierte umgehend Selbstmord, zwei Tage später wurde
Massa ohne Obduktion beerdigt. Bei den
von ihm bearbeiteten Dossiers war es am
politisch verfilzten Lütticher Gericht immer
wieder zu Justizskandalen gekommen. Die
Hintermänner des Attentats auf Cools sollen
Mitarbeiter eines belgischen Ministers gewesen sein. In der
Kinderschänder-Affäre gab es viele haarsträubende Fahndungspannen. Mehrere Zeugen kamen auf
rätselhafte Weise um.
Nach dem Tod des
Staatsanwalts wird
jetzt mit weiteren
Prozeßverzögerungen gerechnet.
Staatsanwalt Massa, Gedenken für Dutroux-Opfer
Geldwäsche für den Jelzin-Clan?
A
uf Ersuchen der russischen Justiz hat die Schweizer Bundesanwältin Carla Del Ponte in Lausanne die Büros von
zwei Finanzgesellschaften durchsuchen lassen und eine LkwLadung Akten beschlagnahmt. Nach der Aktion Anfang Juli
forderte sie Banken in Lausanne und Genf auf, die Konten
Verdächtiger zu melden. Betroffen sind die Firmen Andava
und Forus Services, die laut
„Iswestija“ von dem Moskauer Finanzmogul Boris
Beresowski und dem
Schweizer Handelshaus
André gegründet wurden –
im Jahre 1994, exakt einen
Tag nach der Teilprivatisierung der russischen Fluggesellschaft Aeroflot. Aktionäre der beiden neuen
Firmen wurden neben Beresowski zwei ehemalige
Aeroflot-Manager. Dies
weckte bei den Ermittlungsbehörden in Moskau
den Verdacht, es handele
sich um Geldwaschanstalten: 400 Millionen Schweizer Franken von der Aeroflot sollen auf die Konten
Finanzier Beresowski
von Andava und Forus
d e r
Services geflossen sein. Die Moskauer Justiz hatte Akten der
Aeroflot, die von Jelzins Schwiegersohn geleitet wird, beschlagnahmt und im April gegen den im Ausland weilenden
Beresowski einen Haftbefehl erlassen. Dieser wurde jedoch
aufgehoben, als der umtriebige Geschäftsmann, der den letzten Wahlkampf des Präsidenten Boris Jelzin mitfinanziert hatte, nach Rußland zurückkehrte und sich den Behörden stellte.
Das Verfahren werde im Sande verlaufen, da die Vorwürfe gegen ihn erfunden seien, erklärte Beresowski wohlgemut. Im
Frühjahr soll sich Beresowski, vormals auch Sekretär des Sicherheitsrats Rußlands,
laut dem Moskauer Blatt
„Kommersant-daily“ mit
Vertrauten in seiner Villa
an der Côte d’Azur beraten haben, wie die Abwehr
der Justizrecherchen zu
organisieren sei. Beresowski, einer der Reichsten
Rußlands, fand eine Lösung: Bei den DezemberWahlen zur Duma, dem
russischen Parlament, will
er sich um ein Mandat bewerben. Als Abgeordneter
genießt er Immunität. Als
hervorragende Eigenschaft
lobte der Kandidat seine
Unbestechlichkeit: „Sollte
ich Abgeordneter werden,
wäre es unmöglich, mich
zu kaufen.“
s p i e g e l
MOSCOOP
SCHWEIZ
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121
SIPA PRESS
D
REUTERS
AFP / DPA
aktuten Geldmangels können aber nur 20 000 Tonnen
verteilt werden. Daß die
Spender müde sind, ist kein
Wunder; Äthiopien verpulvert täglich eine Million
Dollar im mörderischen
Grenzkrieg gegen das
Nachbarland Eritrea – die
Kämpfe dauern an, obwohl
das Gipfeltreffen der afrikanischen Staatschefs vorige Woche in Algier einen
Friedensplan erarbeitet hatte. Die verfeindeten Staaten – in Äthiopien leiden 48
Prozent der Kinder an Unterernährung, in Eritrea 41
Prozent – gehören zu den
ärmsten der Erde; dennoch erwarben sie
1998 für mehrere hundert Millionen Dollar
schwere Waffen. Ein Aufruf von Uno-Generalsekretär Kofi Annan an Afrikas Regierungen, Waffen- und Munitionskäufe auf 1,5
Prozent ihres Bruttosozialprodukts zu begrenzen, blieb ungehört. Hilfsmaßnahmen
für Somalia scheitern zudem an der Sicherheitslage: In dem zerfallenen Staat bekämpfen sich rivalisierende Clans. Ausländer riskieren, als Geiseln genommen zu werden.
Ausland
CHINA
Nach deutschem Vorbild
Eskalation der Spannungen in Ostasien: Die Volksrepublik
droht Taiwan mit der Invasion und verstört die Nachbarn in der Region
mit der Nachricht vom Besitz der Neutronenbombe.
D
ie Ordnung muß so groß wie ein
Berg sein, die Disziplin so hart wie
Eisen“. Die großen Schriftzeichen
an der Anlegestelle von Quemoy sind an
die Soldaten gerichtet, die in den vielen
Bunkern und Geschützstellungen der kleinen Insel Wache schieben.
Das winzige Quemoy („Goldenes Tor“)
mit seinen 40 000 Einwohnern und ebenso
vielen Militärs ist Taiwans gefährlichster
Wohn- und Dienstort: Nur zwei Kilometer
entfernt liegt das kommunistische Festland.
Bei klarem Wetter ist die Stadt Xiamen zu
erkennen. Bewohner wie Beschützer
wären bei einem Angriff der Volksrepublik
auf Taiwan wohl die ersten Opfer.
Seit einigen Tagen stehen die am kleinen
Hafen beschworenen militärischen Tugenden von Ordnung und Disziplin wieder
ganz oben auf dem Dienstplan. Der schläf-
rige Vorposten ist erwacht, die Gefechtsbereitschaft in den Kasematten erhöht.
Denn in der vergangenen Woche rutschte
das Verhältnis zwischen China und Taiwan
auf einen neuen Tiefpunkt.
Kaum hatten die süd- und nordkoreanischen Kriegsschiffe im Streit um den
Grenzverlauf im Gelben Meer ihren Kollisionskurs verlassen, zog in Ostasien die
nächste Krise herauf. Die Aktienkurse auf
Taiwan und China sackten weg wie eine
leckgeschlagene Dschunke im Südchinesischen Meer: Der kleine chinesische Drache
war seinem großen Bruder gehörig auf den
Schwanz getreten – und der fauchte vor
Wut und Schmerz.
Pekings Militärs drohten unverblümt mit
der Invasion Taiwans und vermeldeten
gleichzeitig, sie hätten schon vor Jahren
die Neutronenbombe entwickelt – jene
furchtbare Waffe, die der deutsche SPD-Politiker Egon Bahr einst als „ein Symbol der
Perversion des Denkens“ bezeichnete, weil
sie Personen tötet, aber vergleichsweise
wenig materiellen Schaden anrichtet.
Auslöser des chinesischen Zorns war Taiwans scheidender Präsident Lee Teng-hui,
76. Bei künftigen Kontakten zwischen Peking und Taipeh, so verkündete der Politiker mit zum Lächeln gefletschten Zähnen
vorletzte Woche, handele es sich fortan um
„Beziehungen zwischen Staaten“ oder
mindestens um „Beziehungen besonderer
Art zwischen Staaten“. Die seit 1991 geltende Formel von „einem chinesischen
Staat, zwei eigenständigen politischen Gebilden“ gehöre der Vergangenheit an.
Was wie eine stilistische Feinheit klingt,
ist in Wirklichkeit ein dramatischer Kurswechsel: Taiwan verabschiedete sich damit
Landeübungen chinesischer Marineeinheiten: „China wird nicht einen Zentimeter seines Territoriums verlieren“
GAMMA / STUDIO X
REUTERS
AP
Premier Zhu, Staatschef Lee: „Beziehungen besonderer Art zwischen Staaten“
von der „Ein-China-Politik“, nach der Insel und Festland zwei Teile ein und desselben Landes sind.
Zwar vermied es Lee sorgfältig, von einem „unabhängigen“ Taiwan zu sprechen.
Auch unternahm er noch keinen Vorstoß,
die Verfassung an die neu proklamierte Politik anzupassen. Doch Pekings Politiker
reagierten wie von der Tarantel gestochen.
Seit der Flucht der nationalchinesischen
Truppen 1949 auf die Insel betrachten sie
Taiwan als abtrünnige Provinz, die es nach
dem „Ein Land – Zwei Systeme“-Motto
des verstorbenen KP-Patriarchen Deng
Xiaoping möglichst schnell heim ins Reich
zu holen gilt.
Jedenfalls hat Peking stets versichert, es
werde die Insel besetzen, sollte sie sich
für unabhängig erklären.
Auch Abraham Lincoln,
rechtfertigte
Premier
Zhu Rongji jüngst die
kriegerische Doktrin,
habe zu den Waffen gegriffen, um sein Land
beim Abfall der Südstaaten zu einen.
Für Chinas KP ist die
Zugehörigkeit Taiwans
zur Volksrepublik eine
Existenzfrage wie der
Glaube an Marx und
Mao. Die Genossen wissen genau, daß sie nicht
nachgeben dürfen, weil
sie sonst einen wichtigen
Teil ihrer Legitimität als
Garanten der chinesischen Einheit verspielen
würden.
Die Volksrepublik werde weder „separatistische
Verschwörungen dulden
noch untätig auch nur
einen Zentimeter des
Territoriums verlieren“,
drohte die „Tageszeitung
der Befreiungsarmee“.
Verteidigungsminister
Chi Haotian meldete
volle Kampfbereitschaft:
Seine Soldaten seien je-
derzeit bereit, die „territoriale Integrität“
zu wahren und jeden Versuch „zu zerschmettern, das Land zu teilen“.
Taiwans Unbotmäßigkeit, so das Parteiorgan „Volkszeitung“, könne mit einer
„kolossalen Katastrophe“ enden. Das Streben nach Unabhängigkeit bedeute, die eigene Kraft zu überschätzen – „so wie eine
Ameise, die einen Baum umstürzen will“.
Schon erwägen Militärs neue Kriegsspiele vor den Küsten Taiwans, um die ungehorsamen Brüder und Schwestern jenseits des Meeres zur Räson zu bringen.
Schon 1996 hatten sie Testraketen in Richtung der Insel abgefeuert, um – vergebens
– die demokratische Wahl des ungeliebten
Lee zu verhindern. Die Amerikaner ließen
damals zwei Flugzeugträger in Richtung
Taiwanstraße dampfen. Die sollten Peking
vor einer Eskalation warnen.
Lee ist für die Pekinger Funktionäre seit
jeher ein „Krimineller“, der in den „Mülleimer der Geschichte“ gehöre. Beseelt von
der Mission, seiner Heimat eine stärkere
Rolle auf der Weltbühne zu verschaffen,
treibt der gelernte Agrarökonom und gebürtige Taiwaner die Genossen immer wieder zur Weißglut. „Zu erwarten, daß Lee
Teng-hui, der nicht einmal weiß, was Chiin Milliarden
Wirtschaft
Dollar
Bruttoinlandsprodukt
960,9
Devisenreserven
149,2
Handelsbilanzüberschuß 48,7
Militär
Soldaten
Kampfpanzer
U-Boote
Großkampfschiffe
Kampfflugzeuge
Atomraketen
na darstellt, die Beziehungen zwischen den
beiden Seiten der Taiwanstraße verbessern
könnte, wäre so, als wollte man auf einen
Baum klettern und Fische fangen“,
schimpfte Pekings Parteiorgan „Volkszeitung“ bereits vor Jahren.
Dabei war Lee es, der das absurde politische Ziel seiner „Kuomintang“-Partei
aufgab, die „kommunistische Rebellion“
niederzuschlagen und eines Tages wieder
ganz China zu regieren. 1995 verschaffte er
sich eine Einladung an seine alte Alma mater, die Cornell-Universität im Bundesstaat
New York, und befreite sich damit wenigstens für einen Moment aus der internationalen Isolation – „eine Leistung, so
schwer wie die Reise zum Mond“, triumphierte Lee.
Sein jüngster Handstreich war, wie ein
Kuomintang-Insider berichtet, durch eine
Sonderkommission des Präsidialamts von
langer Hand vorbereitet worden. Nach
zähen Diskussionen über die Zukunft Taiwans entschieden sich die Experten für das
deutsche Modell: So wie die Bundesrepublik und die DDR als zwei deutsche Staaten existierten, soll es fortan auch zwei Staaten chinesischer Nation geben – mit der
Option auf die Wiedervereinigung, wenn
das Festland demokratisch geworden ist.
Die deutsche Komponente ist offenkundig
auch der Grund, warum Lee den Kurswechsel symbolträchtig in einem Interview
mit der Deutschen Welle bekanntgab.
Der Präsident kann auf die Stimmung
unter den 22 Millionen Bürgern bauen.
Kaum ein Insulaner hält die Wiedervereinigung mit China für möglich, geschweige
denn für erstrebenswert. In Umfragen befürwortete die Mehrheit letzte Woche Lees
Wende zur Zweistaatlichkeit.
Mit seiner Initiative kann Lee mehrere
Fliegen mit einer Klappe schlagen: Da er
bei den Präsidentschaftswahlen im nächsten März nicht mehr antritt, treibt ihn die
Idee, auch nach seiner Amtszeit die Fest-
Ungleiche Brüder
Wie stark sind China und Taiwan?
2 820 000
8800
63
53
3566
125
in Milliarden
Wirtschaft
Dollar
Bruttoinlandsprodukt
261,4
Devisenreserven
90,3
Handelsbilanzüberschuß 10,4
Militär
Soldaten
Kampfpanzer
U-Boote
Großkampfschiffe
Kampfflugzeuge
Peking
CHINA
Quelle:
EIU, IISS
d e r
Taipeh
s p i e g e l
2 9 / 1 9 9 9
376 000
719
4
36
529
TA I WA N
123
124
Laternenfest in Taipeh
Zukunft nach deutschem Modell
Besitz dieses Typs von Technologie, räsonierte die Tageszeitung „Sewodnja“, mache „die Möglichkeit eines Regionalkonflikts mit Einsatz von Massenvernichtungswaffen nicht so unrealistisch“.
Rosig war das Verhältnis zwischen Festland- und Inselchinesen noch nie. Besonders blutig ging es auf Quemoy zu. Bis 1979
beschossen chinesische Truppen immer
wieder die Insel. Im August 1958, immerhin
fast neun Jahre nach der Flucht des Generalissimus Tschiang Kai-schek und seiner
rund zwei Millionen Gefolgsleute, schlugen allein an einem Tag innerhalb von zwei
Stunden 40 000 Granaten ein. Der Angriff
dauerte insgesamt 44 Tage.
Während der Kulturrevolution (1966 bis
1976) beschimpften sich die Kontrahenten
über die Meeresenge hinweg zudem über
riesige Lautsprecheranlagen. So wie sich
kleine Kinder im Sandkasten Murmeln abluchsen, beschäftigen sich immer wieder
Chinesische Rakete „Langer Marsch“
„Durch eigene Anstrengungen“
GAMMA / STUDIO X
land-Politik Taiwans zu prägen. Sein von
ihm als Nachfolger favorisierter Vize Lien
Chan soll auf den neuen Kurs festgezurrt
werden. „Er will ihn zu einem Punkt
drängen, wo er nicht mehr zurück kann,
und ihm gleichzeitig die Gelegenheit
geben, Kritik auf ihn zu abzuwälzen“,
sagt Antonio Chiang, Herausgeber der
„Taipei Times“.
Gleichzeitig hofft Lee, der Demokratischen Fortschrittspartei (DPP) das Wasser
abzugraben. Die DPP, mittlerweile ärgster
Rivale seiner nationalistischen Kuomintang, plädiert seit jeher für die Unabhängigkeit Taiwans. Außerdem will Lee den
Parteidissidenten James Soong in die Enge
treiben. Der populäre Ex-Gouverneur
könnte bei den Präsidentschaftswahlen als
unabhängiger Kandidat antreten. Im Gegensatz zu Lee ist Soong ein „Softie“, der
die Festländer mit „Sonnenschein“-Politik
milde stimmen will.
Den Zeitpunkt für seine Ankündigung
hat Lee bewußt gewählt: Das Verhältnis
zwischen China und den USA war selten
so schlecht wie in jüngster Zeit. Die Amerikaner sind wütend, weil die Chinesen angeblich wichtige Atomgeheimnisse ausspioniert haben; die Chinesen nehmen den
Amerikanern die Nato-Bombardierung ihrer Botschaft in Belgrad übel. In der Stimmung des von Washington betriebenen
„China-Bashing“ sieht Lee die Chance,
Sympathien für Taiwan zu gewinnen.
Ausgerechnet in dieser aufgeheizten Atmosphäre verkündete Staatsratssprecher
Zhao Qizheng vergangenen Donnerstag,
China sei in der Lage, die Neutronenbombe zu bauen. Während des Kalten Krieges
sei es „logisch und natürlich“ gewesen,
auch diese Waffe zu entwickeln – „durch
eigene Anstrengung“, wohlgemerkt.
Zhao versuchte damit den amerikanischen Cox-Report ins Lächerliche zu ziehen, der den Chinesen vorwirft, in dem
Atomforschungszentrum von Los Alamos
Daten über Nuklearwaffen ausbaldowert
zu haben. Ob sie mit der Nachricht nicht
nur Washington ärgern, sondern auch die
eigenen Landsleute auf der Insel mit der
Neutronenbombe bedrohen wollten, ließen
die Chinesen letzte Woche bewußt offen.
Sicher jedenfalls ist, daß die Genossen
ihre Informationspolitik nur selten dem
Zufall überlassen. Außerdem war es eigentlich unnötig, das Thema erneut aufzutischen: Peking hatte den Cox-Report bereits dementiert.
Die Newsbombe von der Neutronenwaffe, die angeblich im September 1988
erstmals erfolgreich getestet worden war,
verstörte Chinas Nachbarn gehörig. Peking
solle von dieser Technologie ablassen, forderte ein japanischer Regierungssprecher.
Russische Kommentatoren orteten eine
Veränderung der militärstrategischen Lage
in der gesamten asiatischen Region, auch
im Blick auf das komplizierte Verhältnis
zwischen Indien, Pakistan und China. Der
AP
Ausland
Scharen von Diplomaten (und Geldgebern)
allein damit, dem Rivalen diplomatische
Partner abzuwerben. 1998 zog Peking etwa
Südafrika, die Zentralafrikanische Republik, Guinea-Bissau und Tonga auf seine
Seite. Taipeh gewann dafür die Marshallinseln, Mazedonien und Papua-Neuguinea.
Beide Seiten rüsten derzeit kräftig militärisch auf. Taipeh kaufte amerikanische
F-16-Kampfflugzeuge sowie französische
Fregatten und Mirage-Jets, Peking erwarb
jüngst russische Suchoi-Maschinen. Die
Volksbefreiungsarmee stockte in den südlichen Küstenprovinzen ihr Arsenal an
Kurz- und Mittelstreckenraketen von etwa
50 auf rund 200 Stück auf.
Die Festländer sehen sich als Ziel einer
internationalen Verschwörung durch eine
Allianz aus Washington, Tokio und Seoul –
mit Taiwan als einem Brückenkopf. Denn
die Amerikaner erwägen, neben Japan und
Südkorea auch die Insel in das „Theater
Missile Defence“-System (TMD) einzubeziehen.
Obwohl der Schutzschirm dieses Raketenabwehrsystems bislang nur auf dem
Reißbrett existiert, fürchten die Genossen,
ins militärische Hintertreffen zu geraten
und den Gedanken abschreiben zu müssen,
jemals Taiwan erobern zu können. Dürfe
die Insel unter den Raketenschirm schlüpfen, sei dies ein „feindlicher Akt“ der Amerikaner – so „als ob wir in einem US-Bundesstaat Raketen aufstellen würden“, wütet ein Funktionär.
Sollten sich nach der Lee-Initiative die
Beziehungen zwischen China und Taiwan
weiter verschlechtern, steht nicht nur die
Sicherheit Asiens auf dem Spiel, sondern
auch viel Geld. So paradox es bei all dem
Säbelgerassel klingt: Beide Seiten verdanken einander ein gut Teil des wirtschaftlichen Aufschwungs. Obwohl taiwanische
Geschäftsleute nach wie vor nicht direkt
nach China reisen, ihre Post nur über
Hongkong befördern dürfen und die Regierung immer wieder den Handel mit
strengen Auflagen behindert, gehören sie
mit 30 Milliarden Dollar zu den wichtigsten
Investoren auf dem Festland.
Seitdem die KP Ende der siebziger Jahre das Land öffnete, zieht es vor allem
High-Tech-Fabrikanten wegen der billigen
Löhne nach China. Auch im Handel ist das
Festland inzwischen zweitgrößter Partner.
Präsident Lee scheint sich durch die
Drohgebärden aus Peking nicht beeindrucken zu lassen. Seine Minister und Diplomaten wies er trotzig an, den neuen taiwanischen Standpunkt offensiv in der Welt
zu verbreiten. „Äußere Spannungen sind
immer gut, sie führen zu innerer Einheit“,
meint Journalist Antonio Chiang.
Der Konflikt hat bei aller Dramatik
journalistisch auch eine komische Seite:
Die Deutsche Welle strahlte das LeeInterview erst mit tagelanger Verspätung
aus – sie hatte seine Brisanz nicht erkannt.
Andreas Lorenz
IRAN
„Nieder mit den Diktatoren“
E
AFP / DPA
s ist ein geradezu idyllisches Bild: In sen etliche Studenten getötet wurden,
den Schlafsälen stehen noch die Bal- konnten die Proteste nicht unterdrücken.
Im Gegenteil: Mit jedem Übergriff von
kontüren offen. Auf der Wäscheleine
im Park flattern Socken und Unterhosen. Milizen, Polizei und Geheimdienst wuchs
Es herrscht Nordwind, eine kühle Brise in der Bevölkerung die Solidarität mit den
weht aus dem Albors-Gebirge hinunter in Studenten. Zeitweilig gingen über 25 000 Staatspräsident Chatami
Menschen gegen die Herrschaft der Mul- „Gesicht der Güte“
die stickige iranische Hauptstadt.
Der Campus der Universität Teheran, lahs auf die Straße.
Wie ein Lauffeuer erfaßte der Aufruhr Ausschreitungen nur der – vorläufige –
bis vor kurzem eher bekannt als Hort angepaßter Gelehrsamkeit, liegt ruhig und auch andere Städte wie Täbris und Orumi- Höhepunkt im Machtkampf zwischen dem
verlassen in der Mittagssonne. Wenn sich je im Westen, Maschhad im Osten, Rascht vergleichsweise liberalen Staatspräsidennicht zerfetzte Gardinen aus eingeschla- im Norden und Isfahan im Zentrum ten Mohammed Chatami und dem erzfungenen Fensterscheiben bauschen würden, des Landes – für den weitgehend abge- damentalistischen religiösen Führer Ajagäbe es kaum einen Hinweis darauf, daß in schotteten Gottesstaat mit seinen allge- tollah Ali Chamenei?
Soviel ist sicher: Im Jahre 21 nach der
den Schlafbungalows zwischen dem Insti- genwärtigen Geheimdiensten ein schier unMachtergreifung erinnert die Bevölkerung
tut für Geophysik und dem Gebäude der glaublicher Volksaufstand.
Nicht nur bei den eher linken Volks- die politischen Erben Ajatollah Chomeinis
Ingenieurwissenschaften ein Kampf getobt
hat, wie ihn Professoren seit den histori- mudschahidin, die einst gemeinsam mit in ungeahnter Schärfe daran, wofür sie
schen Revolutionstagen nicht erlebt haben: den Mullahs gegen den Schah protestiert einst den Blutzoll der Revolution bezahlt
400 Polizisten und Aktivisten religiöser hatten, weckten die Parolen und die ent- hatte: für Freiheit und Gerechtigkeit, nicht
Schlägertruppen hatten sich stundenlang fesselte Volkswut Erinnerungen an den für neue Tyrannei im Namen Allahs.
Die meisten Iraner haben längst den
bittere Schlachten mit aufgebrachten Stu- Aufstand gegen den Pfauenthron. Mudenten geliefert. Danach zogen die De- dschahidin-Führer Massud Radschawi, der Glauben an den Gottesstaat verloren, könmonstranten vom noblen Norden der Stadt den Gottesstaat mit aller Gewalt bekämpft, nen die ewigen Heilsversprechen ihrer reüber das riesige Gelände der Hochschule hörte aus dem Exil bereits die „Toten- ligiösen Führer nicht mehr hören. Vor allem die Jugendlichen, die über die Hälfte
und belagerten den zentralen Enghelab- glocken für das Mullah-Regime läuten“.
Sollten die schwersten Unruhen seit dem des 65-Millionen-Volkes stellen und unter
Platz.
Doch die Ruhe ist trügerisch, die am ver- Sturz Mohammed Resa Pahlewis 1979 dem Mullah-Regime aufgewachsen sind,
gangenen Freitag in der iranischen Haupt- tatsächlich das baldige Ende der Islami- wollen sich nicht länger auf ein seliges Jenstadt herrschte. Auf dem Campus der Uni- schen Republik einläuten? Oder waren die seits vertrösten lassen, sondern fordern im
versität wachen sämtliche Gattungen der Sicherheitskräfte: Studentenprotest gegen die Mullah-Führung in Teheran: „Gerechtigkeit oder eine neue Revolution“
die Pasdaran, die sogenannten
Revolutionswächter, ganz normale Stadt- und Verkehrspolizei, dazu Armee-Einheiten
und jede Menge Geheimagenten in Zivil. Die zahlreich patrouillierenden Sicherheitskräfte lassen die Furcht der
Mullahs erahnen, daß sich jener Volkszorn jederzeit wieder Bahn brechen könnte, der
Teheran so erschütterte wie
zuletzt die Rebellion gegen
den verhaßten Schah vor rund
20 Jahren.
„Freiheit oder Tod“ hatten
seit einer Woche Zehntausende von Studenten skandiert,
immer wieder „Nieder mit
den Diktatoren“ und „Gerechtigkeit oder eine neue Revolution“ gefordert. Selbst die
brutalen Einsätze der Sicherheitskräfte, bei denen nach
Angaben aus Oppositionskrei-
REUTERS
Countdown in Teheran: Trotz Drohungen des Mullah-Regimes
wollen die Studenten ihren Kampf für größere
Freiheiten fortsetzen. Religiösen Eiferern kommen Unruhen gelegen.
Demonstration von Fundamentalisten: „Unser Leben gehört dem religiösen Führer“
Hier und Jetzt Aufgaben und Perspektiven.
Vergebens. Die Arbeitslosenquote liegt bei
schätzungsweise 30 Prozent; wer einen Job
hat, ist oft unterbezahlt.
Auch moralisch haben sich die Religiösen in den Augen vieler Bürger disqualifiziert. Der schiitische Klerus, der Sauberkeit
und Ordnung predigt, steht mittlerweile
ebenso im Ruch der Vetternwirtschaft wie
einst das Schah-Regime. „Das Volk muß
betteln, die Mullahs leben wie die
Götter“, hallte es vergangene Woche immer wieder über den Campus der Teheraner Universität.
Vor allem aber will sich die Bevölkerung
nicht länger von „den Bärtigen“ bevormunden lassen. „Wir haben die Nase voll
von der Zensur unserer Bücher, Filme
und Bilder“, erklärt Manutschehr Mohammadi, 27, die Protestwelle. Der Generalsekretär der Nationalen Studentenunion
gehört zu den Organisatoren des Aufstands
und macht auch kein Hehl daraus, gegen
wen sich der Zorn seiner Kommilitonen
vor allem richtet: den religiösen Führer
Chamenei.
Wie einst der Greis Chomeini giftet auch
sein Nachfolger Chamenei gegen jegliche
Liberalisierung und Westöffnung. Daß etwa
die TV-Satellitenschüsseln verboten wurden, mit denen Hunderttausende den Propagandaprogrammen des Staatsfernsehens
entkommen konnten, haben viele Iraner
noch immer nicht verwunden. In die Parole „Chamenei, schäme dich und steig vom
Pfauenthron“ will aber selbst der aufmüpfige Mohammadi nicht eingestimmt haben
– Kritik am religiösen Staatsoberhaupt
kommt der Blasphemie gleich, und darauf
steht die Todesstrafe.
Die Hoffnungen auf größere Freiheiten
und wahre Demokratie konnte bislang aber
auch Staatspräsident Chatami nicht erfüllen. Der als „Gesicht der Güte“ gefeierte
Religionsgelehrte versuchte zwar nach seinem Erdrutsch-Sieg über den Kandidaten
der reformunwilligen Islamisten im Mai
1997, den eisernen Griff des Klerus zu
lockern. Die Sittenwächter sollten nicht
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mehr gleich durchgreifen, wenn Frauen auf
der Straße ihr Kopftuch etwas offener tragen. Sogar die Zulassung von Parteien wurde diskutiert.
Doch liberale Gesetzesinitiativen scheitern im Parlament. Dort haben die Unerbittlichen die Mehrheit, zumindest noch
bis zu den Wahlen im nächsten Frühjahr.
Um ihre Macht zu retten, schlagen die Extremisten um Chamenei seit Monaten jeden Ruf nach Neuerung brutal nieder,
durchaus im Wortsinn.
Die fundamentalistischen Schlägertruppen der „Ansar-e Hisbollah“, der Helfer
der Partei Gottes, oder auch der Bürgerwehr „Bassidsch“ drangsalieren kritische
Intellektuelle ebenso wie Aktivisten von
laizistisch geprägten Gruppen. Strafen
müssen sie nicht fürchten. Ihr Spiritus
rector Chamenei kontrolliert nicht nur Justiz und Streitkräfte, sondern auch den
Staatsfunk und die Sicherheitskräfte.
Selbst vor Mord schrecken die Handlanger der Ultras nicht zurück. Ende vergangenen Jahres wurden fünf Regimekritiker umgebracht, darunter der bekannte
Demokratie-Vorstreiter Dariusch Foruhar
und dessen Frau Parvaneh. Präsident Chatami verurteilte zwar die Morde, die landesweit Entsetzen ausgelöst hatten; weil
die Täter und ihre Hintermänner im dunkeln blieben, ereiferten sich aber schon damals Studentenführer: „Chatami, sag nur
ein Wort, und wir marschieren.“
Aber Chatami, obzwar durch den Volkswillen legitimiert, muß aufpassen; er darf
sich nicht offen gegen Chamenei stellen,
sonst würde er einen Putsch der Konservativen herausfordern. Ein Konflikt zwischen dem gewählten Präsidenten und dem
sakrosankten obersten Glaubenshüter
würde die Grundlagen der Islamischen Republik erschüttern.
Das macht den Ausgang der Protestbewegung so unberechenbar. Für die Ausschreitungen bedurfte es nur eines vergleichsweise nichtigen Vorfalls. Wie so oft
hatten die Ultras am vorvergangenen Mittwoch die Schließung eines unliebsamen
d e r
s p i e g e l
2 9 / 1 9 9 9
Blattes erzwungen. Opfer der Zensur war
diesmal die Tageszeitung „Salam“. Sie hatte aufgedeckt, daß der Geheimdienst als
treibende Kraft hinter der kurz zuvor im
Parlament beschlossenen Verschärfung des
Pressegesetzes steckte. Schon diese neue
Machtdemonstration der erzkonservativen
Abgeordneten hatten die Studenten als
Skandal empfunden.
Bei ihren Protestaktionen konnten die
Studenten zumindest anfangs auf die stille Sympathie des Präsidenten zählen. Pressefreiheit garantiert auch die Verfassung
der Mullah-Republik, formal zumindest.
Unter dem Druck der Öffentlichkeit bekundete selbst Revolutionsführer Chamenei Verständnis für die Empörung der Studenten – ein unerwarteter Rückschlag für
die Radikalen im Mullah-Staat, die sich bislang der vorbehaltlosen Unterstützung ihres Mentors sicher sein konnten.
Doch auch Staatspräsident Chatami
haben die Studenten in Bedrängnis gebracht. Der Staatschef ist kein iranischer
Gorbatschow. Seine Vorstellungen von
einer „zivilen Gesellschaft“ zielen auf eine
vorsichtige Öffnung des Systems, die
grundsätzliche Herrschaft der Religionsgelehrten will er nicht antasten.
Viele Studenten aber stellen die Macht
des religiösen Führers selbst in Frage und
fordern eine „andere Republik“. Dadurch
zwangen sie den Präsidenten zum Schulterschluß mit seinem eigentlichen Widersacher Chamenei. Ganz im Sinne des
Chomeini-Nachfolgers drohte Chatami,
gegen die „Angriffe auf die Fundamente
des Staates“ mit „Macht und Entschiedenheit“ vorzugehen.
Mitte vergangener Woche überließen die
Studenten, wohl aus Angst vor einem iranischen Tiananmen-Massaker, die Straße
den Kräften der Gegenreformation. Mobilisiert vom Regime, bezeugten weit über
100 000 Menschen dem Gralshüter der Revolution in Sprechchören ihre Treue: „Unser Leben gehört dem religiösen Führer
Chamenei.“
Obgleich Sondertrupps Büros der Studentenverbände stürmten und über 500
Aktivisten festnahmen, geben sich die Studenten nicht geschlagen. „Der Kampf wird
weitergehen“, kündigte der Bund der Islamischen Studentenvereine neue Protestaktionen an. Und auch Studentenführer
Mohammadi behauptete: „Wir lassen uns
nicht einschüchtern“ – bevor er, verfolgt
von seinen Häschern, verschwand.
Wie viele Iraner hofft auch der Mediziner Hossein Resaji, ein Angehöriger des
alteingesessenen Teheraner Großbürgertums, daß die Heißsporne unter den Studenten ihre Drohungen nicht wahrmachen.
Seiner Familie habe die islamische Revolution nur Nachteile gebracht. Deshalb sei
er mit dem Herzen auf seiten der Widerständler. Aber Gewalt spiele nur den Islamisten in die Hände. Resaji: „Meine Hoffnung heißt Chatami.“
Dieter Bednarz
Ausland
Die Unterbrechung des
Friedensprozesses gefährdet Blairs
größten politischen Erfolg.
Der Premier will weitermachen –
notfalls ohne die Nordiren.
F
reund und Feind im Nordirlandkonflikt hatten sich behaglich eingerichtet im protzigen Parlamentsgebäude
des Stormont, hoch über der Hauptstadt
Belfast. Die Londoner Regierung hatte den
Volksvertretern der Krisenprovinz üppige
Gehälter und großzügige Spesenregelungen eingeräumt. Die prunkvolle Umgebung
bot den Abgeordneten reichlich Gelegenheit für gewichtige Selbstdarstellungen.
Damit könnte es schon in dieser Woche
vorbei sein. Wie streikenden Mitarbeitern
eines Betriebs drohen den nordirischen
Parlamentariern Gehaltskürzungen und sogar die Vertreibung aus ihrem kleinen Paradies, weil sie gegen die Grundregel des
Friedensabkommens vom Karfreitag 1998
verstoßen haben: Alle wichtigen Entscheidungen müssen von den Widersachern gemeinsam getragen werden.
Doch vorigen Donnerstag weigerten sich
die Unionisten, die beiden großen britentreuen protestantischen Parteien, Minister
für eine gemeinsame Regierung mit den
katholischen Republikanern zu ernennen.
Damit war die Londoner Nordirlandministerin Mo Mowlam gezwungen, das historische Friedensabkommen
nur 15 Monate nach der Sinn-Fein-Chef Adams*: Unmißverständliche Botschaft
Unterzeichnung zunächst
außer Kraft zu setzen. Eine
gemeinsame Bestandsaufnahme der Regierungen von
Großbritannien und Irland
soll bis zum Herbst zeigen,
ob es noch Chancen gibt,
das Werk zu retten.
Um überhaupt Katholiken und Protestanten nach
einem 30jährigen blutigen
Konflikt und 3200 Toten zur
Zusammenarbeit zu bewegen, hatte der britische Premier Tony Blair versucht,
das Hindernis zu umgehen,
an dem zuvor alle Friedensbemühungen gescheitert
waren – die Entwaffnung
der Terrorgruppen beider
Seiten bis zum Mai des Jahres 2000. Von Anfang an
hielten die Unionisten diese
Regelung für ein Zugeständnis an die Terroristen
der katholischen IRA. Die
* Am 14. Juli im Stormont.
FOTOS: AFP / DPA
Zeit für Plan B
hatten jahrelang versucht,
abkommens zugleich deseine Vereinigung Ulsters
sen Ende sei, glauben in
mit der Republik Irland
Nordirland nur wenige, imherbeizubomben. Trotzmerhin sind in diesem Jahr
dem durften sie ihr tödlisogar die Umzüge proteches Arsenal behalten.
stantischer und katholiDer designierte protescher Fanatiker friedlich gestantische Premier David
blieben. Panik vor einem
Trimble und seine AnhänRücksturz in die Gewalt
ger bemühten sich deshalb
herrscht vorerst nicht, weil
nachträglich, die Entwaff- Unionisten-Führer Trimble
sogar Sinn Fein versichert,
nung zur Vorbedingung für
trotz der Schwierigkeiten
eine gemeinsame Regierung zu machen. sei der Friedensprozeß „unwiderruflich
Vergebens: Unmißverständlich ließ die IRA und unzerstörbar“. Auch Tony Blair geüber Sinn-Fein-Führer Gerry Adams klar- lobte, er werde „niemals aufgeben“.
stellen, daß sie allenfalls freiwillig, unter
Braucht er auch nicht. Denn obwohl seikeinen Umständen aber auf Druck ihrer ne Regierung immer wieder versichert hat,
Gegner, die Waffen herausrücken würde.
es gebe keinen „Plan B“, falls der FrieAls „traurigen Tag“ bezeichnete Mini- densprozeß scheitere, verfügt Blair über
sterin Mowlam das Scheitern der Regie- ausreichende Druckmittel, um wieder Berungsbildung. Die Euphorie, mit der die wegung in die scheinbar ausweglose SiNordiren den Friedensprozeß begleitet hat- tuation zu bringen.
ten, ist dem alten Fatalismus gewichen. Beide Seiten haben erneut den Punkt erreicht,
an dem bereits frühere Friedensbemühungen zu Fall gekommen waren: Ohne Aufgabe der Waffen kein Fortschritt, sagen die
Unionisten; ohne Fortschritte keine Entwaffnung, entgegnen die Republikaner –
nur eben nicht so höflich. Bei der entscheidenden Parlamentssitzung pöbelten
die Abgeordneten einander als „Mörder“
oder „Friedensverhinderer“ an. Reverend
Ian Paisley, der wortgewaltige Gegner des
gesamten Friedensprozesses, bejubelte sich
selber als „Mann mit der Axt“, dem es vergönnt sei, „das Untier zu erledigen“.
Doch da jubelte der Gottesmann wohl
zu früh. Daß die Aussetzung des Friedens- Umzug nordirischer Protestanten
DPA
NORDIRLAND
In diesem Jahr friedlich geblieben
Die Daumenschrauben des Premiers
sind keineswegs auf eine Gehaltskürzung
für die nordirischen Abgeordneten und die
mögliche Auflösung des Stormont-Parlaments beschränkt. Die Regierungen in
Dublin und London könnten den Friedensprozeß auch ohne Rücksicht auf die störrischen Nordirlandpolitiker vorantreiben.
Die im Friedensabkommen geplante Reform der bislang zu protestantenfreundlichen Polizei erfordert beispielsweise nicht
mehr als einen Parlamentsbeschluß in
Westminster. Die große Labour-Mehrheit
könnte auch das Paket von Bürgerrechtsund Gleichheitsgarantien billigen, das jede
Diskriminierung von Katholiken in Nordirland endgültig beseitigen soll.
Den bislang empfindlichsten Rückschlag
seiner ersten beiden Amtsjahre nahm der
Londoner Regierungschef nicht mit Gleichmut auf. Freunde berichten, Blair habe
getobt, daß ausgerechnet Friedensnobelpreisträger Trimble ihn im Stich ließ.
Zorn war auch in seinem öffentlichen
Kommentar zu spüren: „Wenn diese Leute nicht lernen, einander zu vertrauen,
wird es in Nordirland niemals normale
Politik geben.“
Hans Hoyng
127
antwortliche und Kronzeugen serbischer Greueltaten
allmählich heiß. Immer
mehr „Mitwisser“ werden
irgendwo tot aufgefunden.
Andere wollen sich teuer
verkaufen. So erkundete
Multimillionär Arkan, glaubt
man dem belgischen Anwalt
Panik in der Gefolgschaft
Pierre Chome, noch am 25.
von Milo∆eviƒ: Freischärler-Chef
Juni die Möglichkeit eines
Arkan sucht den Absprung.
straffreien Aufenthalts für
die Familie Raznatoviƒ in
eine Berufungen sind so vielfältig wie Belgien. Brüssel lehnte ab.
seine gefälschten Pässe. Letztere wer- Gleichzeitig soll Arkan via
den auf etwa 40 geschätzt. Er selbst Mittelsmänner versucht ha- Familienvater Arkan: Fußballclub für Gattin Ceca
sieht sich als Zuckerbäcker, Fußballpräsi- ben, die Ankläger von Den
dent und Diener seines Vaterlands. Foto- Haag zu einem Deal zu überreden: Straf- riere mit dem Wüten der von ihm dirigiergrafieren läßt sich der Vater von neun Kin- freiheit vor dem Kriegsverbrechertribunal ten paramilitärischen Einheiten und Abenteurer im Konflikt mit Kroatien um Ostdern bevorzugt in monarchistischer serbi- gegen Beweismaterial über Milo∆eviƒ.
Die Philosophie des Zuckerbäckers, sei- slawonien. Dort sollen Arkans Leute auch
scher Uniform, mit Säbel unterm Arm.
Für Interpol zählt der 47jährige zu den nen Kopf durch Feilschangebote aus der für das Massaker an 250 Kroaten verantmeistgesuchten Kriminellen der Welt. Das Schlinge zu ziehen, basiert auf lebens- wortlich sein, die nach der Eroberung der
Haager Kriegsverbrechertribunal stellte langer Erfahrung. Seit Anfang der siebziger Stadt Vukovar durch die Serben vom Kran1997 einen geheimen Haftbefehl auf ihn Jahre soll Arkan, nach einer Jugendkarrie- kenhaus per Bus auf ein Feld gefahren und
aus. Denn ◊eljko Raznatoviƒ – genannt Ar- re als Taschendieb, für den jugoslawischen abgeschlachtet wurden.
Im nachfolgenden Bosnien-Krieg schritt
kan, „der Tiger“ – wird beschuldigt, als Geheimdienst UDBA Attentate auf Exider Para-Kommandant bereits vor TVKommandeur paramilitärischer Einheiten lanten organisiert haben.
Eine kriminelle Karriere ohne Beispiel Kameras salutierend die Reihen seiner
einer der brutalsten Verbrecher im Krieg
gegen Kroatien und Bosnien gewesen (Arkan: „Jugendsünden, für die ich mich Freischärler ab. Die gnadenlose Vertreiheute schäme“) begann: Serienüberfälle bung der Muslime, vor allem aber seine
zu sein.
Auch im Kosovo-Krieg, berichten serbi- auf Banken und Juweliere, unter anderem Plünderungsfeldzüge in verlassenen Dörsche Armeedeserteure, mischte Arkans Sol- in Jugoslawien, Schweden, Holland, fern machten ihn reich.
Das serbische Vaterland dankte und
dateska übel mit. Gedeckt wurde der Mann Deutschland und Belgien. Immer wieder
mit dem bleichen Babygesicht und den ste- wurde Arkan verhaftet – und verschwand schickte den gesuchten Bankräuber im Dechenden Augen stets von Präsident Slobo- genauso geheimnisvoll aus jeder Zelle, of- zember 1992 ins Parlament. Im folgenden
dan Milo∆eviƒ persönlich. Schon 1997 klag- fenbar mit Hilfe des jugoslawischen Ge- Jahr gründete er seine eigene Partei der
te US-Vermittler Richard Holbrooke öf- heimdienstes. 1978 floh er aus einem Ge- Serbischen Einheit.
Ermutigt von Milo∆eviƒs Solidarität gefentlich: „Milo∆eviƒ lehnt jede Diskussion fängnis in Belgien, 1981 aus Amsterdam
über den Kriegsverbrecher Arkan hart- und Frankfurt, 1983 aus der Schweizer noß Vaterlandsheld Arkan den Ruhm der
Begüterten, bewacht von kurzgeschorenen
Haftanstalt Thorberg.
näckig ab.“
1990 wurde der „Tiger“ in Kroatien ver- Bodyguards. 1995 heiratete er als dritte
Doch seit der Schutzpatron selbst in Den
Haag angeklagt wurde und sein politisches haftet. Doch die Präsidenten Tudjman und Ehefrau die Folksängerin Svetlana VeEnde näherrückt, herrscht unter der willi- Milo∆eviƒ einigten sich bereits im März li‡koviƒ – Künstlername Ceca. Bei der
gen Gefolgschaft Panikstimmung. Selbst 1991 auf eine „Befreiung ohne Aufruhr“. Trauungszeremonie wurden Goldmünzen
im eigenen Land wird der Boden für Ver- Kurz danach begann Arkans Patriotenkar- aus Säcken in die Schar der Gäste gekippt.
Der Belgrader Fußballclub Obiliƒ, einst
Milizenführer Arkan (1995): „Befreiung ohne Aufruhr“
drittklassiger Hoppelverein, wurde durch
Arkans Kauf von Weltklassespielern zum
Senkrechtstarter – selbst auf internationalem Rasen. Doch dann erinnerte man sich
plötzlich der kriminellen Vergangenheit
des Clubpräsidenten. Arkan mußte Ceca
zur Nachfolgerin ernennen.
Nur leider: Der Europäische Fußballverband Uefa verbannte Obiliƒ für die
kommende Saison aus dem internationalen
Kicker-Geschehen. Deshalb räumte Ceca
mit tränenvollem Blick vergangene Woche
den Vorsitz. Nun will sie nur noch singen.
Im Ausland wird Ceca allerdings vorerst
allein auftreten müssen. Und selbst Arkans
finanzielle Pfründen, gehortet auf Geheimkonten, sind nicht mehr sicher, seit
Washington intensiv danach forschen läßt.
„Das alles hat mir die CIA eingebrockt“,
sinniert, durch Belgrad schnürend, der
„Tiger“, „die Amerikaner wollen mir das
Leben versauern.“
Renate Flottau
SERBIEN
DPA
S
ZENIT / LAIF
Stunde des
Tigers
Werbeseite
Werbeseite
Ausland
sei so groß, tönt Barkaschow, „daß wir
es nicht nötig haben, zum Terror Zuflucht
zu nehmen“.
Gleichwohl schürt der völkische Führer
und Träger des schwarzen Karategürtels
mit gezielten Schlägen antijüdische Ressentiments. Mehr als 50 Prozent des russischen Kapitals, agitiert er, seien „bei einer
Gruppe von Personen jüdischer NationaDas Attentat auf einen
lität konzentriert: Beresowski, Gussinski,
jüdischen Funktionär in Moskau
Chodorkowski, Smolenski und andere“.
ist Gipfel einer Kette von
Solche Parolen verfangen leicht im erst
partiell demokratisierten Rußland. Gegen
judenfeindlichen Anschlägen.
die „Jidden“, die „ins Grab“ gehörten,
hetzte im vorigen Oktober auf einer Kundgebung der General a. D. Albert Makaschow, immer noch Mitglied des Zentralkomitees der russischen KP.
Nach einem weiteren provokativen Auftritt Makaschows im Februar im südrussischen Nowotscherkassk („Wenn 80 Prozent der Medien in den Händen von Semiten sind, werden wir Antisemiten und
werden siegen“) prüfte die Staatsanwaltschaft in Rostow am Don, ob der General
zum Völkerhaß aufstachele – im März stellte sie das Verfahren ein.
Nach öffentlichem Druck distanzierte
sich KP-Chef Gennadij Sjuganow von dem
Scharfmacher, nahm ihn persönlich ins Gebet und versicherte danach im Parlament,
es werde von Makaschow „weitere solche
Aussagen nicht geben“.
Daran hat sich der poltrige Parteisoldat
gehalten. Doch Wladimir Gussinski, Präsident des Kongresses der jüdischen Gemeinden Rußlands und Medienzar, macht
Rechtsradikale in Moskau: „Wir werden euch alle abstechen“
die Kommunisten für die Moskauer Bluttat mit verantworter schlanke junge Mann mit Brille, Gotteshaus im fernöstlichen
lich. Die KP-Führung, wettert
der am vorigen Dienstag, mittags Birobidschan die Scheiben ein.
Gussinski, habe eine „antisegegen ein Uhr, das Gebäude der Im August 1996 plazierten Atmitische Hysterie“ provoziert,
Synagoge in der Spassoglinischtschowski- tentäter eine 300-Gramm-TNTderen Folge das Attentat auf
Gasse in Moskau betrat, weckte keinen Sprengladung bei der neuen
Kaimowski sei.
Verdacht. Doch Nikita Kriwtschun, 20, Synagoge im Moskauer MariSolche Vorwürfe weist GenJurastudent der Akademie für Arbeit und enwäldchen, im Mai 1998 folgnadij Sjuganow, im Westen
soziale Beziehungen, wollte weder die te ein Bombenanschlag. Drei
bemüht um das Image eines
Bibliothek nutzen noch über religiöse Fra- Menschen wurden verletzt.
Sozialdemokraten, weit von
Die Täter konnten nicht gegen diskutieren.
sich. Seine Partei, beteuert
Er marschierte stracks in die dritte Eta- faßt werden. Am Mittwoch, so
der KP-Führer, sei „für Völkerge, wo sich die Räume des Jüdischen Kul- der Moskauer Oberrabbiner Leopold Kaimowski
freundschaft und kategorisch
turzentrums befinden. Dort zückte er ein Adolf Schajewitsch, habe er
Jagdmesser, stürzte sich auf Leopold Kai- den anonymen Anruf eines jungen Mannes gegen jede Erscheinung des Nationalismus
mowski, 52, den Wirtschaftsdirektor des erhalten, der weitere Anschläge angekün- – sowohl Russophobie als auch AntisemiZentrums, stach mehrmals zu und rief: digt und sich als Anhänger der „Bar- tismus“.
Doch ein „russisches Gesicht“, sagte er
kaschowzen“ ausgegeben habe.
„Wir werden euch alle abstechen.“
Gemeint sind die uniformierten Kämp- unlängst, sei im russischen Fernsehen eine
Mit lebensgefährlichen inneren Verletzungen wurde Kaimowski ins Krankenhaus fer der Russischen Nationalen Einheit Seltenheit. Er rühmte Stalin, der „die alte
abtransportiert. Noch nach zwei Tagen be- (RNE) des Moskauer Karatelehrers Alex- Garde von professionellen Russophoben
fanden Ärzte seinen Zustand als ernst. ander Barkaschow, 45. Dessen Organisa- und Christusbekämpfern auseinandergeKriwtschun, von einem Wachmann über- tion, landesweit schätzungsweise 10 000 jagt“ habe.
Die chauvinistische Wochenzeitung
wältigt, wird in der Haft auf seinen Gei- Mann stark, ist in der Hauptstadt nach eisteszustand untersucht, die Staatsanwalt- nem von Oberbürgermeister Jurij Lusch- „Sawtra“ verlieh Makaschow im Dezemkow erwirkten Gerichtsurteil vom April ber denn auch einen „Stalin-Preis“. Das
schaft ermittelt wegen Mordversuchs.
Kampfblatt warnt unermüdlich vor dem
Die Bluttat ist der bislang brutalste Ge- verboten.
Barkaschow tritt zu den Parlaments- „furchtbaren Feind Rußlands, dem Zioniswaltakt, den von Judenhaß getriebene Täter in den letzten Jahren in Rußland be- wahlen im Dezember ganz legal mit ei- mus“. Zu den Autoren gehört auch RNEgangen haben – seit dem Zerfall der So- nem „Nationalen Block“ an, der für die Chef Barkaschow. Auf die Frage, ob er
wjetunion, in der die Geheimpolizei KGB „nationale Wiedergeburt“ Rußlands trom- Antisemit sei, sagte er: „Ich weiß gar nicht,
antisemitische Umtriebe verfolgte und, melt. Der Zulauf zu den Nationalisten was das ist.“
Uwe Klußmann
RUSSLAND
P. KASSIN
Furchtbarer
Feind
doppelbödig, zugleich „antizionistische“
Ressentiments nährte.
Trotz eines latenten Antisemitismus sind
die gerüchteweise wiederholt mit Datum
angekündigten Pogrome ausgeblieben,
doch ein harter Kern von Judophoben hat
sich radikalisiert. Seit 1993 attackierten Antisemiten in mehr als hundert Fällen Synagogen oder jüdische Kulturzentren, schändeten Friedhöfe.
So verwüsteten unbekannte Täter im
März eine Synagoge in Nowosibirsk, im
Mai warfen Rabauken einem jüdischen
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Werbeseite
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Ausland
Ein Königreich in der Wüste an der Schwelle zur neuen Zeit
왗 Der Staatsgründer
Ölreichtum 왘
Abd el-Asis eroberte den
Kern der Arabischen Halbinsel unter dem Banner des
Wahhabismus (Rückbesinnung auf den Ur-Islam)
und gründete 1932 das Königreich Saudi-Arabien.
SIPA PRESS
GAMMA / STUDIO X
Der Machthaber 왘
König Fahd (r.), ein Sohn
des Staatsgründers, regiert
seit 1982. Nach ihm soll
Kronprinz Abdullah (l.) die
Herrschaft übernehmen.
bescherte den 20 Millionen Saudiarabern
anhaltenden Wohlstand. Der Staat garantierte kostenlose
Ausbildung bis zur
Universität und freie
medizinische Versorgung. Gastarbeiter
halten die Wirtschaft
in Gang. Angesichts
fallender Ölpreise
bröckelt die Überflußgesellschaft.
S AU D I - A R A B I E N
„Frischer Wind muß wehen“
Prasserei der Herrscherfamilie, hohe Arbeitslosigkeit und eine fundamentalistische
Opposition, die den Thron hinwegfegen will – nur schnelle Reformen,
glaubt Prinz Talal Ibn Abd el-Asis, können den Fortbestand des Ölreichs sichern.
134
SPIEGEL: Warum schottet sich Saudi-Arabi-
en derart von der Außenwelt ab?
Prinz Talal: Wir haben eine sehr junge Ge-
B. BARBEY / MAGNUM / AGENTUR FOCUS
SPIEGEL: Prinz Talal, in Jordanien bestieg
der junge König Abdullah den Thron, in Syrien bereitet Staatschef Hafis el-Assad seinen Sohn Baschar auf die Machtübernahme vor. In Saudi-Arabien hingegen ist der potentielle Thronfolger, König
Fahds Halbbruder Abdullah, schon 76 Jahre alt. Wäre nicht auch in Riad ein Generationswechsel an der Spitze fällig?
Prinz Talal: Was sich derzeit in manchen
arabischen Staaten vollzieht, finde ich
durchaus fortschrittlich. Die Herrscher, die
einen Generationswechsel fürchten, glauben nicht an einen modernen Lebens- und
Führungsstil. Statt an die Zukunft ihres
Volkes zu denken, klammern sie sich an
ihre eigene Macht.
SPIEGEL: In der Herrscherfamilie sind Sie
bislang der einzige, der sich für eine Verjüngung an der Staatsspitze ausspricht.
Prinz Talal: Als Mitglied der Königsfamilie
ist es meine Pflicht, die Kontinuität unserer Herrschaft zu sichern. Dafür aber müssen wir der jungen Generation den Weg
an die Macht ebnen, ihr Gelegenheit geben, Verantwortung für die Zukunft zu
übernehmen. Wir müssen die Fenster aufstoßen, damit ein frischer Wind durch unser Herrscherhaus weht. Und dies muß sofort geschehen, denn wir dürfen uns nicht
von der Welt isolieren.
SPIEGEL: Welche Reformen sind unausweichlich?
Prinz Talal: Wir leben in einer Phase des
blitzschnellen, weltweiten Informationsaustauschs. Die Ausübung von Zensur paßt
nicht mehr in diese Zeit.
Talal Ibn Abd el-Asis
zählt zu den aufgeschlossensten der
über 40 Söhne des Staatsgründers Abd
el-Asis. 1960 wurde Prinz Talal zum
stellvertretenden Ministerpräsidenten
ernannt, erregte mit seinen Reformvorschlägen jedoch den Unwillen des
Königs; er mußte die Regierung verlassen und für Jahre ins Exil gehen.
Heute engagiert sich Talal, 68, der sich
mit der Herrscherfamilie wieder ausgesöhnt hat, vorwiegend für soziale
Projekte, unter anderem beim Kinderhilfswerk Unicef. Auch als Ratgeber
in Riad ist der Prinz gefragt.
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schichte. Vergessen Sie nicht, daß vor der
Entstehung des Königreichs auf der arabischen Halbinsel Stammesfürsten herrschten, die absolut tun und lassen konnten,
was sie wollten. Es war mein Vater, Abd elAsis, der aus diesen Stämmen eine Gemeinschaft formte. Das war ein gewaltiger
Entwicklungsschritt. Später hat König Fahd
dann verfügt, daß für die Thronfolge nicht
nur das Alter entscheidend ist, sondern
auch die Befähigung.
SPIEGEL: Das Herrscherhaus steht bei der
Diskussion um die Nachfolge Fahds unter
Zeitdruck. Der König ist schon 76 und gilt
als schwer krank.
Prinz Talal: König Fahd ist weder durch
Krankheit noch sonstwie verhindert, seine
Amtsgeschäfte zu führen. Von dem schweren Leiden, das ihn 1995 befallen hatte …
SPIEGEL: … Sie meinen König Fahds Schlaganfall und Zuckerkrankheit?
Prinz Talal: Das will ich nicht kommentieren. Wichtig ist nur, daß der König fast geheilt ist. Erst vor wenigen Tagen noch bin
ich mit ihm in Riad zusammengetroffen,
und er hat mit mir rege diskutiert. Aber es
stimmt, daß er seinem Halbbruder und
Thronfolger Abdullah viele Aufgaben übertragen hat.
SPIEGEL: Droht nach dem Tode von König
Fahd ein blutiger Machtkampf um den
Thron?
Prinz Talal: Kronprinz Abdullah ist als politischer Erbe unumstritten. Langsam aber
L. v. d. STOCKT / GAMMA / STUDIO X
Mekka 왘
zieht als höchstes
Heiligtum des Islam
Jahr für Jahr Millionen Gläubige an.
Während der Hadsch
brachen 1979 und 1987
politisch motivierte
Unruhen aus: Pilger
attackierten die saudische Regierung
wegen Korruption
und ihrer engen Beziehungen zu den
Vereinigten Staaten.
PACIFIC PRESS SERVICE
müssen wir ernsthaft darüber nachdenken, wie ein friedlicher Machtwechsel auch in Zukunft garantiert
werden kann. Zwar haben wir ein
Gesetz, das in seinem ersten Paragraphen festschreibt, daß der
Thronfolger „ausgewählt und ernannt“ wird. Aber die Regelung
birgt Konfliktstoff, weil nicht klar
ist, wer den Thronfolger ernennen
und auswählen darf.
SPIEGEL: Ihr Sohn Walid, der als
erfolgreicher internationaler Geschäftsmann durch Beteiligungen
an Luxushotels und Euro Disney bekannt
geworden ist, kritisiert gleichfalls, daß die
Thronfolge nicht eindeutig geregelt ist.
Steckt hinter dieser deutlichen Kritik ein
versteckter Anspruch auf die Nachfolge
Fahds?
Prinz Talal: Nein, weder mein Sohn noch ich
sind Thronkandidaten. Ich sorge mich nur
um den Erhalt unserer Macht.
SPIEGEL: Während sich die Prinzen weiterhin ein Luxusleben leisten, steigt der
Unmut in der Bevölkerung, die den
wirtschaftlichen Niedergang durch den
Verfall des Ölpreises in den letzten Jahren
zu spüren bekommt. Allein unter den
25jährigen, die über die Hälfte der Bevölkerung stellen, herrscht eine Arbeitslosigkeit von 35 Prozent.
Prinz Talal: Das ist ein großes Problem, das
wir schleunigst bewältigen müssen. Doch
zum einen haben wir keine Beschäftigungsmöglichkeiten wie Industrie, Landwirtschaft oder Tourismus. Zum anderen
studieren unsere jungen Menschen eher
Fächer wie Literatur oder Theologie. Was
wir jedoch brauchen, sind Ärzte, Techniker,
Wissenschaftler.
SPIEGEL: Für Dienstleistungen sind sich Ihre
Landsleute offensichtlich zu schade. Sie
überweisen jährlich etliche Millionen USDollar an ausländische Arbeitnehmer, vorwiegend Asiaten, die sich bei Ihnen als Kindermädchen, Dienstboten oder Handwerker verdingen.
Prinz Talal: Sicher könnten wir viele Stellen
schaffen, schon allein, wenn wir nur alle
Chauffeure in ihre Heimat zurückschickten
– allerdings müßten wir dann zuvor den
saudiarabischen Frauen erlauben, ihre Autos selbst zu fahren.
SPIEGEL: Ist dieses Fahrverbot für Frauen
ein Tribut an die islamistische Opposition,
die das Königshaus am liebsten hinwegfegen möchte?
Prinz Talal: Ich will hier nicht sagen, warum
wir diese Regelung beibehalten. Es gibt Tabus, an die ich nicht rühren kann.
SPIEGEL: Fürchtet das Herrscherhaus den
Verlust seiner Macht, wenn es sich den Forderungen der Fundamentalisten widersetzt?
Prinz Talal: Wir werden die Macht behalten,
solange die Bürger überzeugt sind, daß sie
bei uns in guten Händen sind. Voraussetzung ist allerdings, daß alle Bürger, egal
welchen Geschlechts und welcher Herkunft, vor dem Gesetz gleich sind. Auch
müssen wir ihnen erlauben, ihre Meinung
frei zu äußern, und wir müssen ihnen eine
Beteiligung an den Entscheidungen des
Staates garantieren.
SPIEGEL: Wären politische Parteien dafür
nicht hilfreich?
Prinz Talal: Wir sind noch immer eine Stammesgesellschaft, die für politische Parteien
nicht reif ist.
SPIEGEL: Ihre Nachbarn am Golf sind da
schon weiter. In Kuweit gibt es bereits ein
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Parlament; in vier Jahren dürfen dort auch
die Frauen wählen. Katar, Oman und Bahrein sind gleichfalls fortschrittlicher.
Prinz Talal: Ich begrüße sehr die demokratische Entwicklung in Kuweit. Das ist ein
großer Schritt voran. Doch auch unsere
Gesellschaft ist nicht immun gegen das Virus der Demokratie und des Fortschritts.
Die ersten Viren haben sich bei uns sogar
schon verbreitet, das kann ich regelrecht
spüren.
SPIEGEL: Fürchten Sie, daß Liberalisierungsmaßnahmen das Königshaus weiter in
die Schußlinie der religiösen Betonköpfe
bringen?
Prinz Talal: Ich will mit meinen Vorschlägen
nicht dem Koran, den Worten Gottes und
seines Propheten, widersprechen. Alle Reformen, die wir anstreben, müssen im Einklang stehen mit der Scharia, dem islamischen Recht. Doch es gibt hervorragende
muslimische Aufklärer, die den Koran modern interpretieren. Die Islamisten aber
wollen uns mit Gewalt ins Mittelalter
zurückwerfen.
SPIEGEL: Glauben Sie, daß die Herrscherfamilie den Richtungskampf zwischen
westlich geprägten Reformern und religiösen Fanatikern politisch überstehen wird?
Prinz Talal: Wir leben in einer orientalischen Gesellschaft, an deren Spitze immer
ein „Sajjid“, ein Herrscher, stand. Und die
Herrscher werden ihre Macht nicht aus der
Hand geben.
Interview: Adel S. Elias
135
Ausland
ARGENTINIEN
Ende der Party
Unmittelbar vor Präsident
Menems Abgang versinkt das
Land in sozialen Unruhen
und in einer tiefen Rezession.
W
Nachfolgekandidaten de La Rúa, Duhalde
Platzhalter für den Vorgänger?
Depressionen“ verfallen, berichten seine
Freunde. Der nahende Verlust der Macht
nagt an „El Jefe“, wie ihn seine Anhänger
immer noch ehrfürchtig nennen.
Dabei ist ihm ein Platz in den Geschichtsbüchern sicher: Kein Präsident
Argentiniens hat so lange ununterbrochen
136
AP
AP
AFP / DPA
ird der Papst ein Wort an höchster Stelle für Argentinien einlegen? Eduardo Duhalde, Präsidentschaftskandidat der Peronisten bei
den Wahlen im Oktober, reist diese Woche nach Rom. Der Vatikan soll den Südamerikanern bei Gesprächen mit ihren
Gläubigern über die Auslandsschulden beistehen.
Zweifel an der Zahlungsfähigkeit hatten
vergangene Woche die Börsen ganz Lateinamerikas erschüttert. Dabei galt Argentinien bislang als Darling unter den
Schwellenländern.
Jetzt spekulieren einige sogar auf eine
Abwertung des Pesos, der im Verhältnis 1:1
an den Dollar gekoppelt ist. Der feste
Wechselkurs, als Bollwerk gegen die Inflation gefeiert, verteuert die Produkte Argentiniens auf dem Weltmarkt.
Ein halbes Jahr vor dem Regierungswechsel versinkt Argentinien in einer tiefen
Rezession. Die Arbeitslosigkeit liegt bei
14,5 Prozent, Streiks und soziale Unruhen
erschüttern das Land. Erstmals herrscht
Hunger in den Armenvierteln. Heerscharen
von Bettlern bevölkern die Straßen der
Hauptstadt. Auch die Kriminalität hat dramatisch zugenommen: Buenos Aires, einst
die sicherste Stadt Lateinamerikas, ist heute so gefährlich wie jede beliebige Metropole der Region. Taxifahrer berauben Fahrgäste mit vorgehaltener Waffe. Gangster
mit Maschinenpistolen überfallen die Restaurants des vornehmen Viertels Recoleta.
Dem Präsidenten entgleitet zunehmend
die Kontrolle. Carlos Menem sei in „tiefe
„Sein Verhalten ist schamlos angesichts des Elends im Lande“,
sagt Sylvina Walger, Autorin
eines Bestsellers über die Menem-Ära.
In seiner ersten Amtszeit
hatte sich kaum jemand über
Menems Eskapaden erregt. Der
einstige Provinz-Caudillo, der
quasi aus dem Nichts an die
Macht marschierte, verkörperte
den Aufstieg der Neureichen.
Argentinien unter Menem –
das war eine scheinbar endlose
Party mit dem Präsidenten als
Gastgeber.
Er posierte mit Claudia
Schiffer, den Rolling Stones und
Alain Delon. Er erwarb einen
Ferrari, ließ in seiner Residenz
Los Olivos Golf- und Tennisplätze anlegen und kaufte ein
mit allen Schikanen ausgestattetes Präsidentenflugzeug.
Besondere Attraktion des
Fliegers „Tango Uno“: ein weinrotes Plüschbett im KingsizeFormat. Ein hofeigener Friseur,
Stylisten und Schönheitschirurgen trimmten ihn auch äußerlich zum Staatsmann: Sie
stutzten die buschigen Koteletten, strafften seine Gesichtszüge und halfen mit Transplantationen, die Haarpracht zu
bewahren. Der Schönheitschirurg wurde zur Symbolfigur
der Menem-Ära. Walger: „Wer
etwas auf sich hielt, mußte unPräsident Menem: Eskapaden des Tango-Tänzers
ters Messer.“
Die europäisch geprägte alte Elite des
regiert – zehn Jahre. Alles hatte er drangesetzt, um noch einmal anzutreten. Er Landes rümpfte zunächst die Nase über
versuchte, die Verfassung zu ändern, die den Parvenu. Doch Menem überzeugte sie
mehr als zwei aufeinanderfolgende Man- mit einer neoliberalen Roßkur, die kein
date verbietet, nahm die Spaltung seiner Präsident vor ihm gewagt hatte. Er beenPartei in Kauf und verschleppte wichtige dete die Hyperinflation, stabilisierte die
Währung und öffnete die Wirtschaft.
Reformen.
Außenpolitisch suchte er die AussöhDoch die Peronisten kürten den mächtigen Gouverneur der Provinz Buenos Aires, nung mit London und den Schulterschluß
den „zweitwichtigsten Mann im Land“ mit Washington. Er spielte Tennis mit
(„La Nación“), zum Kandidaten. Duhalde George Bush und tanzte Tango mit Hillary
wurde zu Menems Intimfeind. „Der Präsi- Clinton. Argentinien, so gaukelte er seinen Landsleuten vor, sei endlich in der Erdent unterstützt mich nicht“, klagt er.
Menem, 64, setzt kaum verhohlen auf ei- sten Welt angekommen.
Aus seiner Verachtung für die demokranen Sieg der bürgerlichen Opposition. Mit
deren Kandidat Fernando de la Rúa hätte tischen Institutionen machte er indes nie
er im Jahr 2003, wenn er wieder antreten ein Hehl. Er regierte oft per Dekret und
darf, ein leichteres Spiel als mit dem Wi- manipulierte die Justiz. Gleichzeitig blühte die Korruption. Nahezu die gesamte
dersacher aus den eigenen Reihen.
Im Kopf-an-Kopf-Rennen mit Duhalde Entourage des Präsidenten ist in Skanhat de la Rúa derzeit die Nase vorn. Der dale verwickelt. „Menem hat ein schamlospröde Bürgermeister von Buenos Aires ses Verhältnis zur Macht“, sagt Autorin
gilt zwar als Langweiler. Doch nach dem Walger.
Für „El Jefe“ steht fest, daß er im Jahr
frivolen Regierungsstil Menems kommt das
2003 in die Casa Rosada zurückkehrt.
einer Auszeichnung gleich.
Mehr denn je ist der Präsident der so- „Auch Perón hat nie daran gedacht, die
zialen Realität entrückt. Er pflegt einen Macht aufzugeben“, zitiert Carlos Menem
aufwendigen Lebensstil, reist gern ins Aus- sein Vorbild. „Ich bin sein treuester
land und empfängt Popstars und Models. Schüler.“
Jens Glüsing
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Unter permanenter Lebensgefahr
TÜRKEI
Müder Mehmet
A
bends um halb acht gehen über
Tunceli die Scheinwerfer an. Zuerst wird der Felsen im Norden der
Stadt ins Flutlicht getaucht, dann folgen
die beiden Berge im Osten. Kurz nach
neun Uhr strahlt die ganze Stadt wie ein
Christbaum.
Früher sind im Schutz der Dunkelheit
kurdische Rebellen nach Tunceli eingesickert, heute wären sie chancenlos: Die
Armeeposten registrieren jeden Hasen, der
sich in den Talkessel der Provinzhauptstadt
in Türkisch-Kurdistan verirrt.
Tunceli ist die am schärfsten bewachte
Stadt der Türkei. Nach offizieller Sprachregelung ist es „ein Konflikt von minderer Intensität“, der die massive Armeepräsenz
in dieser idyllischen Gebirgsprovinz nötig
macht. Tatsächlich geht von hier seit 15
Jahren der Pulsschlag einer Rebellion aus.
Unter Rekruten der türkischen Armee
gilt ein Marschbefehl nach Tunceli als Himmelfahrtskommando. Von allen Fronten
des Kurdenkriegs sind die Täler des
Munzur- und des Pülümür-Flusses die
gefährlichsten. Schwer traumatisierte Tunceli-Veteranen berichten von brutalen
PKK-Anschlägen und ebenso brutalen
Gegenattacken der türkischen Armee, von
Massenerschießungen, Verstümmelungen
toter Rebellen und der planmäßigen Zerstörung kurdischer Dörfer.
157 000 Einwohner zählte die Provinz
vor Beginn des Kurdenaufstands Anfang
der achtziger Jahre. Bei der Volkszählung
1997 waren es noch 86 000. Der Exodus der
Zivilbevölkerung hält bis heute an.
ri s
Tig
In 15 Jahren Krieg brachte Ankara
eine ganze Kurden-Generation
gegen sich auf. Jetzt hat das Parlament die Chance zum Einlenken.
AP
Militärpatrouille bei Tunceli
Nach 15 Jahren Bürgerkrieg
ist das Land dort angekommen, wo es Anfang der neunziger Jahre schon einmal
stand: Die offizielle Anerkennung der „kurdischen Realität“ könnte unmittelbar bevorstehen. Auf diese Formel
hatte sich die Regierung des
einstigen Präsidenten Turgut
Özal geeinigt. Özal, selbst kurdischer Abstammung, starb im
April 1993. Vier Wochen später
machte ein Anschlag auf 33
unbewaffnete Rekruten die
Hoffnung auf eine politische
Schwarzes Meer
Siedlungsgebiete
Lösung zunichte.
der Kurden
Was Özal von seinen Vorgängern und Nachfolgern unARMENIEN
Tunceli
terschied, war seine für einen türkischen
TÜRKEI
Zivilpolitiker ungewöhnliche Selbständigkeit gegenüber der allmächtigen Armee.
Bingöl
Ob die seit Ende Mai amtierende RegieIRAN
rung des Ministerpräsidenten Bülent Ecevit die gleiche Standfestigkeit aufbringen
Diyarbakir
kann, ist allerdings fraglich. Zwar regiert
der sozialdemokratische Patriot mit einer
parlamentarischen Rekordmehrheit von
S
Y
R
I
E
N
Euph
rat
351 Stimmen. Doch kaum jemand traut der
IRAK
Koalition den Willen zu, das blutigste Ka100 km
pitel der türkischen Geschichte politisch
zu beenden.
Dabei bietet ausgerechnet das TodesurIn Tunceli seien „Dinge passiert, die
nicht gewollt waren“, sagte Staatspräsident teil gegen Öcalan dafür eine Chance. Die
Süleyman Demirel vergangene Woche ei- Verfassung gewährt dem Parlament das
ner verblüfften Besuchergruppe aus der letzte Wort über das Schicksal des
umkämpften Region. Nun gehe es darum, PKK-Chefs; damit gibt sie den gewählten
die Vertriebenen zurückkehren zu lassen. Volksvertretern die seltene Gelegenheit,
In der Sache hat er damit bestätigt, was die Initiative vom militärisch dominierten
auch der Rebellenführer Abdullah Öcalan Nationalen Sicherheitsrat für die zivilen
während seines Prozesses bis zur Er- Instanzen zurückzugewinnen.
Die Armee würde eine politische Löschöpfung wiederholte: Der türkische
Staat habe in seinen Südostprovinzen jah- sung des Kurdenkonflikts vermutlich sorelang nur „Unerbittlichkeit und Härte“ gar begrüßen. Anders als die gut bezahlten
gezeigt und die Glut der Rebellion damit Polizeikräfte, die im türkischen Südosten
immer aufs neue angefacht. Die Vision ei- Dienst tun, sind viele Rekruten den gefährlichen Einsatz im Kurdennes Kurdenstaats, gab Öcalan
gebiet leid. Mehmetçik („der
zu, sei zwar unrealistisch gekleine Mehmet“), wie der einwesen, aber: „Gebt den Kurfache Soldat der türkischen Arden ihre Sprache und ihre
mee genannt wird, ist müde.
Würde zurück, und ihr seid
Noch düsterer sieht die Biden Aufstand los.“
lanz auf der Gegenseite aus.
Jeder Geschäftsmann, jeder
Der türkische Staat hat eine
Handwerker, jeder Tagelöhganze Generation junger Kurner in Tunceli würde diese
den in die Entfremdung geAussage des zum Tode verurtrieben. Die meisten von ihnen
teilten PKK-Chefs unterschreifristen ein bitteres Dasein in
ben. Jahrelang hatten Historiden Slums der türkischen Meker und Menschenrechtler das Kurdenführer Öcalan
tropolen. Wer das Stigma des
gleiche gesagt. Jahrelang waren sie von Ankara dafür gerichtlich ver- Geburtsortes Tunceli in seinem Ausweis
folgt worden. Nun sprach der leibhaftige stehen hat, sieht zu, daß er noch weiter
Staatsfeind die magischen Worte – und auf weg kommt.
„Ich habe fünf Kinder“, sagt der pensioeinmal scheinen sich auch kompromißlose
Nationalisten mit dem Offensichtlichen ab- nierte Lkw-Fahrer Hikmet Ulusoy, „meine
zufinden. „Die Türkei“, schrieb wenige Tochter lebt in Istanbul, zwei Söhne sind in
Tage vor Öcalans Verurteilung ein Kolum- die Schweiz gezogen, die anderen beiden
nist, „muß einsehen, daß die Kurden auf nach Deutschland. Sie sind nie wieder
zurückgekommen.“
ihrem eigenen Boden leben.“
Bernhard Zand
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Bauarbeiten an der Øresund-Brücke: „Das Herz von Europa rückt immer dichter nach Norden“
dikale Erneuerung“ des skandinavischen
Verkehrsnetzes, es könnte für den gesamten Ostseeraum „eine kleine Revolution“
bedeuten, so zumindest die Hoffnung der
beteiligten Regierungen.
Mit der Øresund-Region, wie die offizielle
Bezeichnung für die Küstenabschnitte
Ein gigantisches Bauwerk, die feste Verbindung zwischen
zu beiden Enden der Brücke lautet, wird
Dänemark und Schweden, soll den Ostseeraum zu
zum erstenmal ein grenzüberschreitender
Wirtschafts- und vor allem Wissenschaftsneuer Blüte führen – eine moderne Renaissance der Hanse.
und Forschungsstandort gemeinsam veriels Helveg Petersen, 60, ist in
Die fast 16 Kilometer lange Verbindung marktet und auf einen Schlag an europäiseinem Leben viel herumgekom- von Kastrup im Süden Kopenhagens nach sche Metropolen wie Paris, London und
men. Zum Studium zog es ihn bis Lernacken vor den Toren Malmös besteht Moskau herangeführt.
Politiker und Wirtschaftsbosse träumen
nach Kalifornien, beruflich unter anderem aus einem Tunnel (4,050 Kilometer), der
nach Brüssel. Und als Politiker bereiste künstlich aufgeschwemmten Insel Peber- bereits von einer „Renaissance des Oster in diplomatischer Mission schon die holm (4,055) sowie einer Hochbrücke seeraums und einer neuen Hanse“, so der
halbe Welt.
(7,845). Das Ganze gilt neben der 1998 ein- Kieler Europaminister Gerd Walter. Der
Nur über die schmale Meerenge vor der geweihten Brücke über den Großen Belt mittelalterliche Städte- und Kaufmannseigenen Haustür, den Øresund zwischen als derzeit beispiellose Ingenieurleistung. bund, im 12. Jahrhundert über den einträglichen Ostseehandel
Kopenhagen und Malmö, hat es der däniZum 1. Juli kommenden
mit Heringen und Stocksche Außenminister bislang nicht geschafft. Jahres – fast sechs Monate
fisch entstanden, umfaßte
„Ich bin noch nie ein Wochenende nach vor der Zeit – sollen die
zu seiner Blütezeit im
Südschweden gefahren“, sagt der Chef- vierspurige Auto- und die
14. Jahrhundert über 100
diplomat. Der Aufwand für die Fahrt quer doppelgleisige Bahntrasse,
größere und kleinere Städdurch die Stadt zum Hafen Dragør sowie die zum Teil zweistöckig
te und Seehäfen – von Lüdas Warten und Einschiffen auf die nur im verlaufen, für den Verkehr
beck bis Reval, von BerStundentakt verkehrende Autofähre freigegeben werden. Begen bis Nowgorod.
schreckten ihn ab, obwohl das Speedboot reits am 14. August wird
Tatsächlich leuchtet die
kaum mehr als 30 Minuten für die eigent- das letzte Brückenteilstück
Zukunft am „Meer der
liche Überfahrt braucht.
eingehängt. Dann ist die
Träume“ (der britische
Das Versäumte will er demnächst nach- Heimat der Elche vom
„Economist“) nach jahrholen. Den Weg für Kurztrips zu neuen zentraleuropäischen Festzehntelanger Stagnation
Ufern macht ein imposantes Bauwerk frei: land aus erstmals ohne
überaus rosig. Seit dem Fall
Die erste feste Ostseequerung vom däni- Fähre erreichbar.
des Eisernen Vorhangs
schen zum schwedischen Festland soll die
Das rund fünf Milliarrückt das baltische Meer
Fahrtzeit von Zentrum zu Zentrum auf den Mark teure Bauwerk
wieder in die Mitte Euro20 Minuten verkürzen.
bringt nicht nur eine „ra- Minister Helveg Petersen
OSTSEE
Meer der Träume
FOTOS: H. SCHWARZBACH / ARGUS
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Ausland
künftig mit Unternehmen der
Pharma-, Bio- und Medizintechnologie; das Label „Medicon Valley“ zeigt, wohin der
Ehrgeiz geht. Die wissenschaftliche Begleitung übernimmt die
Medicon Valley Academy, ein
virtuelles Bündnis akademischer Fachbereiche und Forschungsstellen zwischen Malmö, Roskilde und Helsingborg.
Zentraler Brückenkopf der
neuen Boomregion wird nach
dem Willen der Planer der umund ausgebaute Flughafen Kopenhagen-Kastrup. Nach AbTunnelarbeiten im Øresund: „Kleine Revolution“
schluß der Arbeiten sollen sich
Helsinki hofft, neben seiner strategi- binnen zehn Jahren die Passagierzahlen
schen Bedeutung zum großen Nachbarn auf jährlich 20 Millionen verdoppeln. Der
Rußland auch vom Wirtschaftsboom in den Airport wäre damit nicht nur das bedeubaltischen Ländern oder dem Austausch tendste Luftkreuz Skandinaviens, sondern
mit St. Petersburg zu profitieren. Ein spe- zugleich auch unmittelbare Konkurrenz
zieller Aktionsplan der EU zur Zusam- für Hamburg oder Berlin.
Dort sehen die eroberungserprobten
menarbeit in Umweltfragen oder bei der
Erdgasförderung soll die „nördliche Di- Skandinavier nach bester Wikinger-Tramension“ der Europapolitik unter finni- dition auch ihre wahren Perspektiven.
Nicht mehr die nordischen Bruderlänscher Ratspräsidentschaft ausbauen.
Am weitesten sind die Planungen der der, sondern Mittel- und Osteuropa gelDänen und Schweden gediehen. Die Øre- ten als das eigentliche Ziel ihrer Expansund-Region mit insgesamt 3,2 Millionen sion. „Berlin und Warschau sind die nächEinwohnern katapultiert den Wirtschafts- sten Hauptstädte zu Kopenhagen, nicht
standort, gemessen am Bruttoinlandspro- Oslo oder Stockholm“, stellt Außenminister Helveg Petersen fest. Seine Kabidukt, europaweit auf Platz acht.
14 Hochschulen beiderseits des Sundes nettskollegin bekräftigt: „Es gibt nur zwei
bilden künftig einen Wissenschafts- und For- Plätze in Europa mit einer faszinierenden
schungsverband, der zu den Topadressen Entwicklung“, so Pia Gjellerup, „Berlin
Europas gehört. Der Zusammenschluß zur und den Øresund. Und wenn der große
Øresund University mit gemeinsamem Dok- Bruder mit der kleinen Schwester spielen
torandenprogramm und wissenschaftlicher soll, muß die ihm auch was bieten.“
Das haben inzwischen auch die nordNachwuchsförderung umfaßt akademische
Institutionen wie die Traditionsuniversität deutschen Nachbarn erkannt. Der HamLund, die mit über 30000 Studenten größ- burger Hafen verlagert Umschlagkapate Lehranstalt Skandinavi- zitäten nach Lübeck, um sich als „Hafen an
ens, oder in Kopenhagen zwei Meeren“, mit Zugang zur Nord- und
Helsingborg
die Uni (30000 Studenten) zur Ostsee, zu etablieren. Die Hansestadt
Helsingør
und die School of Econo- möchte sich als Drehscheibe für den GüSCHWEDEN
D Ä N E M A R K
mics and Business Admini- tertransport und den Tourismus empfehlen,
Lund
aber auch als maritime „Endstation“ für
stration (17 000).
Roskilde
Forschungsinstitute wie Importe aus Fernost in den hohen Norden
zwei neue, mit dreistelli- behaupten. „Wir müssen stärker als vorher
Seeland
gen Millionenbeträgen ge- begreifen, daß Hamburgs Stellung in der
förderte Zentren für Bio- Welt unmittelbar mit seiner Stellung im
Fünen
technologie in Lund und Ostseeraum zusammenhängt“, hat EuropaKopenhagen kooperieren senator Willfried Maier erkannt.
Ein eigens gegründeter „Initiativkreis
Lolland
Ostsee“ soll zudem die Einbindung SchlesFlensburg
10 km
wig-Holsteins in die Verkehrsplanungen
Rødby
Kopenhagen
garantieren. Schon ist von einer weiteren
Fehmarn Puttgarden
Ostseequerung die Rede: über den 18 Kilometer breiten Fehmarn-Belt von PuttSaltholm
Kiel
garden nach Rødby. Dann rücken Malmö
und Südschweden bis auf zweieinhalb AuTunnel
D E U T S C H L A N D
tostunden an Hamburg heran.
Wismar
„Es ist schon erstaunlich“, freut sich
Malmö
Lübeck
der Leiter der Kieler Europaabteilung,
Brücke
Werner Kindsmüller, „wie so ein Brückenbau, kaum sind die ersten Pylonen zu
künstliche Insel
sehen, auf einmal die Phantasie freiHamburg
„Peberholm“
setzt.“
Manfred Ertel
Ø r
e s u
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pas, mit Wachstumsraten, die den Ostseeraum „zu einer der dynamischsten Regionen des Kontinents machen“, wie Helveg
Petersen sagt. Prognosen zufolge soll sich
der Handel in weniger als zwei Jahrzehnten
verzehnfachen. Bestes Beispiel ist die Verschiebung in der traditionell transatlantisch
orientierten deutschen Wirtschaft: Über
zehn Prozent ihres Exports gingen bereits
1997 in die Nachbarländer der Ostsee – fast
soviel wie nach Amerika und Japan.
Der Motor des Wirtschaftswunders entlang den Bernsteinküsten ist das abnehmende Wohlstandsgefälle zu den östlichen
Nachbarn. Mit steigender Kaufkraft von
rund 50 Millionen Menschen in Polen, den
baltischen Reformdemokratien Estland,
Lettland und Litauen – allesamt EU-Anwärter – sowie St. Petersburg und Umland
ist stetige Nachfrage garantiert.
Die Handelsbeziehungen zu den einstigen Gegnern werden enger, die Wirtschaftskooperationen für alle Seiten attraktiver. Die Handy-Riesen Nokia aus
Finnland und Ericsson aus Schweden, weltführende Mobiltelefonhersteller, lassen bereits in großem Stil in Estland produzieren.
Mercedes-Benz plaziert seine Nordeuropa-Zentrale am Øresund – mit geteilten
Niederlassungen, auf jeder Seite eine.
Die Fahrzeiten zu Metropolen wie Oslo
und Stockholm werden künftig glatt halbiert. „Das Herz von Europa rückt immer
dichter nach Norden“, freut sich Dänemarks Industrieministerin Pia Gjellerup.
Vom Boom wollen alle etwas haben. Der
nordische Regionalverbund Pomerania, in
dem ostdeutsche Landkreise, polnische
Woiwodschaften und südschwedische Gemeinden zusammenarbeiten, verspricht
sich einen Aufschwung für die heimische
Hafenwirtschaft und die Handelsbilanzen.
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Werbeseite
Werbeseite
FOTOS: AKG (li. o.); GAMMA / STUDIO X (li. u.); SYGMA (re. o.); ROGER-VIOLLET (re. u.)
X. DAS JAHRHUNDERT DES KOMMUNISMUS: 1. Lenin und die Oktoberrevolution (29/1999);
2. Stalin und der Stalinismus (30/1999); 3. Das Sowjetimperium (31/1999);
4. Gorbatschow und das Ende des Kommunismus (32/1999)
Lenin (März 1919); Ärzte im Lenin-Mausoleum; gestürztes Lenin-Denkmal in Addis Abeba (1991); Revolution in Petrograd (1917)
Das Jahrhundert des Kommunismus
Lenin und die
Oktoberrevolution
Als das Zarenreich zusammenbrach, putschte sich der
Berufsrevolutionär Lenin an die Macht. Brutal setzte er, noch
vor Stalin, die russische Auffassung von Marxismus
durch – mit Konzentrationslagern und 140 000 Exekutionen.
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Das Jahrhundert des Kommunismus: Lenin und die Oktoberrevolution
„Auf der Stelle erschießen“
Staatsgründer Wladimir Iljitsch Lenin / Von Fritjof Meyer
daß er sich von den ihm anerzogenen Wertvorstellungen zu lösen begann.
Er war aufgewachsen in der liberalen
Bildungswelt seines Vaters, eines in den
erblichen Adelsstand erhobenen Pädagogen kalmückischer Herkunft, und seiner
Mutter, Tochter des deutschstämmigen
Juden Alexander Blank, und einer Anna
Großschopf, deren Vater aus Lübeck kam.
Zu den entfernten Verwandten der Mutter
gehörten der Archäologe und Prinzenerzieher Ernst Curtius wie der WehrmachtsGeneralfeldmarschall Walter Model.
Wladimir, nach der zaristischen Rangtabelle selbst Edelmann („Dworjanin“), verweigerte sich fortan den abendländischen
ethischen Normen, die ihm sein Elternhaus
vermittelt hatte: „Wir glauben nicht an eine
ewige Moral und entlarven alle Märchen
über die Moral als Betrug.“
Das Schicksal seines von ihm stets bewunderten Bruders ließ ihn Sentimentalitäten verdrängen. Er hörte gern dem Klavierspiel zu: „Ich kenne nichts, was größer
wäre als die Appassionata, ich würde sie
mir gern jeden Tag anhören …“ Doch sofort korrigierte er sich: „Sie geht einem
auf die Nerven und verleitet einen dazu,
dumme, freundliche Sachen zu sagen, und
Menschen, die etwas so Schönes zu schaffen vermochten, während sie in dieser widerwärtigen Hölle lebten, den Kopf zu
streicheln. Man darf nämlich niemandem
den Kopf streicheln, es könnte einem dabei
die Hand abgebissen werden. Man muß ihnen erbarmungslos auf den Kopf schlagen,
obwohl es unser Ideal ist, gegen niemanden
Gewalt anzuwenden.“
Wladimir Uljanow, der sich seit 1901 aus
Tarnungsgründen Lenin nannte, nahm sich
vor, das Vermächtnis seines gehenkten Bru-
ders zu erfüllen – eine eigene Geheimorganisation zu gründen und mit ihr das Zaren-System zu stürzen. „Dabei macht man
sich natürlich die Hände schmutzig“, räumte er ein. „Die Partei ist kein Pensionat für
höhere Töchter. Irgendein Verbrecher kann
uns gerade deshalb nützlich sein, weil er
ein Verbrecher ist.“
Wer aus der Romanow-Dynastie sollte mit dem Tode büßen? „Natürlich die
ganze Familie!“ zitierte Lenin einen
Terroristen und fügte hinzu: „Das ist
doch einfach genial!“ So geschah es am
17. Juli 1918.
Folgte Lenin anfangs noch einem grandiosen politischen Plan – die Monarchie
zu fällen, Rußland zu modernisieren, den
Sozialismus zu schaffen und über den
ganzen Erdball zu verbreiten –, so entfernte er sich später Schritt um Schritt von
diesen Zielen. Er verfiel völlig dem Götzen
der Macht und opferte ihm ungerührt Millionen Menschenleben.
So wurde er der erste Regierende dieses
Jahrhunderts, der die eigene Gewaltausübung zum Staatsziel erhob, ein Muster
für eine ganze Reihe jener Gestalten, welche die Welt in Barbarei stürzten.
Lenin trägt die Verantwortung dafür, daß
bis heute unter „Sozialismus“ gemeinhin
nicht Marx’ eher sozialdemokratisches
Programm verstanden wird, sondern eine
terroristische Diktatur.
Seinen Nachahmern, den Tyrannen des
20. Jahrhunderts, gelang es mit ihrer Herrschaft über Staatsgewalt und Massenmedien, ihre millionenfachen Mordtaten durch
ideologische Phrasen zu verschleiern. So
gilt denn auch Lenin weithin als der gute
Bolschewik, im Vergleich zu seinem Nachfolger Stalin, dem bösen.
Lenin, 1920
Der Weg zur Macht
1870 22. (10.*) April: Wladimir Iljitsch Uljanow
(Lenin) wird in Simbirsk (heute Uljanowsk) an der
Wolga geboren
1872 „Das Kapital“ von Karl Marx erscheint
in russischer Sprache
1903 Zweiter Kongreß der Russischen Sozialdemokratischen Partei: Spaltung in reformistische
„Menschewiki“ und radikale „Bolschewiki“
1904/05 Russisch-japanischer Krieg, in dessen
Verlauf 400 000 Russen fallen
*Zeitangaben in Rußland folgten bis zum 31. Januar 1918
dem Julianischen Kalender, dann dem Gregorianischen.
142
1905 22. (9.) Januar:
Blutsonntag in St. Petersburg. Regierungstruppen
schießen auf Demonstranten, etwa 200 Tote
und 800 Verletzte
1916 Lenin verfaßt im Schweizer Exil
seine Schrift „Der Imperialismus als
höchstes Stadium des Kapitalismus“: Nur
eine Revolution könne Rußland befreien
1917 Februarrevolution: Am Internationalen Frauentag protestieren Frauen
und Arbeiter gegen die schlechte Versorgungslage, drei Tage später schießen Armee und Polizei auf sie: Über tausend
1906 Zulassung von
Demonstranten sterben allein in Petropolitischen Parteien:
grad; März: Die Macht übernehmen ein
Soldaten tragen die rote Fahne, 1917
erstes Parlament in RußPetrograder Rat (Sowjet) von Arbeiterverland (Duma) nimmt seine
tretern und eine bürgerlich-liberale ProviArbeit auf
sorische Regierung, zunächst unter Fürst Lwow,
später unter dem Sozialdemokraten Alexander
1914 Rußland mobilisiert, Deutschland
Kerenski; Zar Nikolai II. dankt ab; 7. November
erklärt den Krieg; Umbenennung der Hauptstadt
(25. Oktober): Trotzki organisiert die fast unblutige
St. Petersburg in Petrograd
Oktoberrevolution, ein Rätekongreß wählt Lenin in
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ROGER-VIOLLET
Spiegel des 20. Jahrhunderts
D
er Biologie-Student Alexander Uljanow, 21, starb am Galgen am 20.
Mai 1887, und vier Genossen wurden mit ihm gehenkt. Sie hatten eine illegale Gruppe gebildet, die den Zaren Alexander III. umbringen wollte.
Als die jungen Leute dessen Fahrtroute
zur St. Petersburger Kathedrale erkundeten, wurden sie verhaftet. Während Mitverschwörer Józef Pilsudski – später Diktator und Marschall von Polen – mit fünf
Jahren Verbannung davonkam, verurteilte
ein Gericht die anderen zum Tode.
In jenem Jahrzehnt wurden nur noch
insgesamt zwölf weitere Russen von der
Justiz des Zaren aus politischen Gründen
hingerichtet. Die Exekution des Alexander
Uljanow aber hinterließ welthistorische
Spuren: Seinen vier Jahre jüngeren Bruder Wladimir, der gerade das Abitur ablegte, traumatisierte das Ereignis derart,
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Dabei nahm sich Stalin bei seinen Verbrechen bis ins Detail seinen Lehrer zum
Muster. Nach dem Urteil des Kampfgenossen Molotow war Lenin sogar „härter“
als Stalin (der Molotows Frau in den Gulag
steckte, mit seinem Tod kam sie frei).
Als mentales Gegengewicht zu den
Zwangsmitteln schuf Stalin den Kult um
Lenin, den hochgebildeten und persönlich
der darauffolgenden Nacht zum provisorischen Regierungschef; Dezember: Felix Dserschinski gründet
die Geheimpolizei Tscheka, Vorläufer des KGB
1918 Januar: Russische Sowjetrepublik konstituiert; Aufbau der Roten Armee; März: Moskau wird
neue Hauptstadt; durch den Friedensvertrag von
Brest-Litowsk mit den Mittelmächten scheidet Rußland aus dem Ersten Weltkrieg aus und verzichtet
auf das Baltikum, Polen, Finnland, die Ukraine und
Teile des Kaukasus; Frühjahr (bis November 1920):
Bürgerkrieg: Die Rote Armee kämpft gegen antikommunistische „Weißgardisten“ und Bauernverbände;
Juli: Bauern werden gezwungen, ohne Bezahlung Lebensmittel herauszugeben, die der Staat kostenlos
an Städter und Rotarmisten verteilt
1919 Gründung der Kommunistischen Internationalen (Komintern) in Moskau; ein „Politbüro“ wird
so bescheidenen Revolutionär, der sich für
die arbeitende Klasse aufrieb und eine bessere Gesellschaft anvisierte.
Millionen einfacher Menschen und viele Intellektuelle fielen dieser Täuschung
* Von Wladimir Serow, 1947; auf Verlangen von Nikita
Chruschtschow 1962 umgestaltet. Hinter Lenin standen
zuvor Stalin, Dserschinski und Swerdlow.
als Führungsgremium der Kommunistischen Partei
zuständig für „Fragen, die keinen Aufschub dulden“
1920 Strenge Zensur, 90 Prozent des in Rußland
hergestellten Papiers gehen an den Staat; Lenin
richtet Strom-Kommission ein: „Kommunismus –
das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes“
1921 Gründung der staatlichen Planwirtschaftsbehörde Gosplan; Matrosenaufstand in Kronstadt
wird niedergeschlagen; Hungerkatastrophe: USRegierung schickt Medizin und Nahrungsmittel, die
deutsche Malerin Käthe Kollwitz wirbt:
„Rettet die Kinder“
1922 Rapallo-Vertrag zwischen Sowjet-Rußland
und Deutschland soll beide Staaten aus der
außenpolitischen Isolierung lösen; Josef Stalin
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wird erster KP-Generalsekretär; der Staat reißt die
Leitung der russisch-orthodoxen Kirche an sich und
stellt den Patriarchen Tichon unter Hausarrest;
Gründung der UdSSR aus
den Republiken Rußland,
Ukraine, Belorußland und
Transkaukasien
1923 Verfassung der
Sowjetunion, der alle
Länder, wenn sie Sowjetrepubliken werden, beitreten können
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DAVID KING COLLECTION
Propagandabild „Lenin proklamiert die Sowjetmacht“*: Dem Götzen der Macht verfallen
anheim. Henri Barbusse und Lion Feuchtwanger, Georg Lukács und Ernst Bloch,
gar Ultrarechte wie Arthur Moeller van
den Bruck und Josef Goebbels bis hin zu
Rudi Dutschke und Michail Gorbatschow
zeigten sich von Lenin, dem angeblichen
Philosophen auf dem Thron, fasziniert.
Dieser unscheinbare Mann mit den listigen Augen und schwacher Stimme machte
nichts von sich her, im Westenanzug mit
Schirmmütze sah er einem Katasterbeamten ähnlicher als einem Weltenwandler.
Scharfsinnig und scharfzüngig war er und
unerhört belesen, und er übte eine außergewöhnliche Selbstzucht. Er trank nicht,
mit 18 hatte er sich auf Wunsch der Mutter
das Rauchen abgewöhnt, Schachspiel und
Skilaufen gab er für die Politik auf.
Dank Fürsprache seines Schuldirektors
Kerenski wurde er zum Studium zugelassen und machte sich an der Universität mit
den Theorien von Marx und Engels bekannt. Bald wegen Teilnahme an einer Protestkundgebung relegiert und für Monate
verhaftet, legte er dennoch im Fernstudium
sein juristisches Examen ab. Unter komfortablen Bedingungen überstand er drei
Jahre Verbannung in Sibirien, wohin er sich
von zu Hause Jagdgewehre und Glacéhandschuhe schicken ließ. Er heiratete dort
auch und schrieb an einer Studie über Rußlands Rückständigkeit.
Noch 1905 befand er auf gut marxistisch,
in Rußland leide die Arbeiterklasse weniger unter dem Kapitalismus als unter dessen „mangelhafter Entwicklung“, sie sei
deshalb an der „breitesten, freiesten und
schnellsten Entwicklung des Kapitalismus
interessiert“. Nach Marx erfüllte die Bourgeoisie nämlich eine progressive Rolle; eine
Gesellschaftsordnung konnte erst untergehen, wenn sie ihre Volkswirtschaft nur noch
behinderte, sich weiterzuentwickeln.
In der deutschen und schweizerischen
Emigration lernte Lenin von 1900 bis 1917
den Vormarsch der Sozialdemokratie kennen, der im unterentwickelten Rußland die
soziale Basis fehlte. Die SPD finanzierte ihm
seine nach Rußland zu schmuggelnden Dissidentenblätter, Lenin aber brach zum er-
1924 Am 21. Januar
stirbt Lenin; Stalin tritt
US-Lebensmittelhilfe, 1921
nach Machtkampf mit
Trotzki die Nachfolge an;
Petrograd erhält den Namen Leningrad
143
stenmal mit der reinen Lehre: Anstelle der
von Marx proklamierten Selbstbefreiung
der Arbeiter sollten Intellektuelle als berufsmäßige Agenten unmündige Proletarier
auf den rechten Weg bringen: „Das politische Klassenbewußtsein kann in den Arbeiter nur von außen hineingetragen werden.“
So schrieb er es in München, wo er anfangs unter dem Decknamen „Meyer“ lebte, in seine Programmschrift „Was tun?“
Damit stellte er Marx’ zentrale These, das
gesellschaftliche Sein bestimme das Bewußtsein, auf den Kopf. In der Führung
seiner kleinen, konspirativen Parteifraktion, der „Bolschewiki“ („Mehrheitler“,
obwohl sie innerhalb der russischen Sozialdemokratie in der Minderheit waren),
fand sich denn auch nur ein Arbeiter, und
der war auch noch ein Polizeispitzel.
Die Lehre des Sozialismus stamme nun
einmal von „gebildeten Vertretern der bürgerlichen Klassen“, argumentierte Lenin –
er selbst brauchte sich seinen Lebensunterhalt nie selbst zu verdienen; die Mutter
hatte ihr Landgut verkauft und unterhielt
ihn bis zu seinem 46. Lebensjahr.
Lenin entwickelte Talent für außergewöhnliche Methoden der Geldbeschaffung.
Der Moskauer Möbelfabrikant Nikolai
Schmitt vermachte einen Teil seines Vermögens der Arbeiterbewegung, an das die
Bolschewiki herankamen; für den Rest stellten sie ihr Parteimitglied Wiktor Taratuta ab,
eine Erbin zu heiraten. „Welch eine Niedertracht gegenüber dem Mädchen“, beschwerte sich ein Genosse. „Weder Sie noch
ich könnten eine reiche Kaufmannstochter
des Geldes wegen heiraten“, erwiderte Lenin, „Wiktor hat es getan, das bedeutet, er
ist ein nützliches Mitglied der Partei.“
Er selbst nahm Geld vom Feind seines
eigenen Landes, dem kaiserlichen Deutschland, auch als der Zar schon gestürzt war
und noch bis drei Monate vor der deutschen Novemberrevolution 1918, insgesamt
82 Millionen Goldmark. Damit baute er
aus der Ferne seine Parteiorganisation in
Rußland auf und nach seiner Heimkehr einen mächtigen Propaganda-Apparat – die
deutsche Reichsregierung finanzierte die
„Prawda“ ebenso wie die paramilitärischen
„Roten Garden“.
Die deutsche Heeresleitung, verstrickt
in einen nicht gewinnbaren Zweifrontenkrieg, setzte darauf, Lenin werde, wenn er
an der Macht sei, einen Separatfrieden
schließen. General Ludendorff ließ ihn deshalb samt 31 Genossen aus der Schweiz in
einem Zug durch Deutschland über Schweden nach Rußland transportieren. Von dort
funkte ein deutscher Agent: „Lenin: Eintritt nach Rußland geglückt. Er arbeitet
völlig nach Wunsch.“
SYGMA
Spiegel des 20. Jahrhunderts
Das Jahrhundert des Kommunismus: Lenin und die Oktoberrevolution
Zar Nikolaus II. und Familie (1901), Bolschewiki im Panzerwagen 1917 vor dem Petrograder
Lenin war nun einmal germanophil, am
meisten imponierte ihm die deutsche Bürokratie. „Jawohl, lerne beim Deutschen!“
gab er als Parole aus. „Es ist so gekommen,
daß jetzt gerade der Deutsche neben dem
bestialischen Imperialismus das Prinzip
der Organisation, des harmonischen Zusammenwirkens auf dem Boden der modernsten Maschinenindustrie, der strengsten Rechnungsführung, der Kontrolle verkörpert.“
Unter den mehr als 6700 Lenin-Dokumenten, die von seiner Partei über Jahrzehnte versteckt gehalten und erst nach
ihrem Ende 1991 bekannt wurden, findet
sich auch, in einem Brief an den Führungsgenossen Kamenew, eine Fortsetzung der
schönen Parole: „Lernt von den Deutschen, ihr verlausten russischen kommunistischen Faulenzer!“
Er hatte durchaus begriffen, daß sein
Entwicklungsland die notwendige Gesellschaftsepoche, den Kapitalismus, nicht
überspringen konnte, um in den Sozialismus zu gelangen. Also folgerte er, der
Kapitalismus müsse von seiner eigenen
Intellektuellenpartei organisiert werden.
Anstelle der Ideen Marx’ von einer Arbeiterselbstverwaltung proklamierte er, be-
eindruckt von der Zuverlässigkeit der
Deutschen Reichspost: „Unser nächstes
Ziel ist es, die ganze Volkswirtschaft nach
dem Vorbild der Post zu organisieren.“
Das Resultat sollte zu einem OrwellStaat gerinnen: „Die ganze Gesellschaft
wird ein Büro und eine Fabrik mit gleicher
Arbeit und gleichem Lohn sein … Alle
Bürger werden Angestellte und Arbeiter
eines das ganze Volk umfassenden Staats‚Syndikats‘.“
Als zentrales Planungsorgan nahm er
sich das Waffen- und Munitions-Beschaffungsamt („Wumba“) der deutschen
Kriegswirtschaft zum Muster: „Macht, was
die Wumba macht!“ Die Partei machte daraus die Lenkungsbehörde Gosplan, welche die russische Volkswirtschaft für ein
halbes Jahrhundert fesselte und schließlich
an den Abgrund führte.
Von Ludendorff, Deutschlands faktischem Diktator der letzten Kriegsjahre,
übernahm Lenin die allgemeine Arbeitspflicht. In Deutschland sei das ein „staatsmonopolistischer Kriegskapitalismus“,
wußte er, ein „Militärzuchthaus für Arbeiter“. Für Rußland bedeute es aber „unweigerlich einen Schritt, ja Schritte zum
Sozialismus!“ Seine Nachfolger behaupte-
„Im Leben Lenins verbindet sich Treue zu einem ungeheuren
Werke notwendigerweise mit Unerbittlichkeit gegen alle, die es stören wollten.“
Heinrich Mann, 1924
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SÜDD. VERLAG
Smolny-Institut: „Je mehr Reaktionäre wir hinrichten können, desto besser“
Um dennoch das Volk hinter sich zu
ten später, der Staatsmonopolismus sei sobringen, versprach er den Arbeitern die
gar schon der Sozialismus.
Im Februar 1917 war durch eine Arbei- Fabriken, den Bauern den Boden, allen naterrevolution, die Lenin im Exil völlig über- tionalen Minderheiten die Selbstbestimraschte, das vollbracht worden, was er sich mung und – statt eines Sieges über die
selbst vorgenommen hatte: der Zar ge- Deutschen – den sofortigen Frieden. Den
stürzt und eine provisorische sozial-libe- schloß er denn auch, alle übrigen Versprerale Regierung etabliert. Nun blieb ihm chen aber brach er.
Die Regierung des Sozialdemokraten
nur noch der zweite Akt: seine Partei und
Alexander Kerenski, Sohn von Lenins
damit sich selbst in den Kreml zu setzen.
Als Lenin per Bahn – bis Sassnitz unter Schuldirektor, setzte – an der Seite der
Aufsicht eines deutschen Rittmeisters – am Westalliierten – den Weltkrieg gegen
16. April 1917 nach Petrograd zurückge- Deutschland fort, zum Mißfallen ihrer Solkehrt war, trommelte er sofort für den datenräte. Die junge Demokratie mußte
Sturz der Revolutionsregierung und ver- die überfälligen Bodenreformen aufschiekündete den Übergang zum Sozialismus – ben, derweil sich die Bauern schon selbst
des Gutsherrenlandes bemächtigten, so wie
wie er ihn verstand.
Und er fragte rhetorisch: „In welchen die Arbeiter der wenigen, aber voluminöBüchern steht denn geschrieben, daß der- sen Rüstungsfabriken.
Nach einem mißratenen
artige Eingriffe in die geAufstandsversuch im Juli
wöhnliche historische Ab1917 von der Regierung Kefolge unzulässig oder unrenski als „deutscher Spion“
möglich sind?“
verdächtigt, flüchtete Lenin
Er wollte die Macht, und
nach Finnland und drängte
zwar eine Diktatur.Was hieß
per Post auf einen Putsch –
das? „Nichts anderes als die
ein von Marx und Engels
durch nichts eingedämmte,
verdammtes Mittel der
weder durch Gesetze noch
Machteroberung.
durch allgemeingültige ReLenins Mitarbeiter Leo
geln beschränkte, unmittelTrotzki organisierte am 25.
bar auf der Gewalt basierenOktober 1917 den Staatsde Macht“, so Lenin. Zulässtreich, er kostete nur sechs
sig sei im Sozialismus auch
Tote, weil die Petrograder
die „diktatorische Macht einGarnison bereitwillig mitzelner Personen“.
Alexander Uljanow
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machte. Lenin hatte sich, mit Perücke und
ohne Bart, erst am Tag zuvor in der Aufstandszentrale, der Höheren Mädchenschule Smolny, eingefunden, Stalin blieb
überhaupt verschwunden; den meisten
Einwohnern von Petrograd entging der
Machtwechsel, der für den Allrussischen
Rätekongreß am nächsten Tag vollendete
Verhältnisse schuf.
Dort zeigte sich am Abend Lenin auch
erstmals öffentlich. Als Sozialrevolutionäre und Sozialdemokraten unter Protest den
Saal verließen, war die Minderheit der Bolschewiki zur stärksten Fraktion geworden.
Einen Tag später schickte Berlin eine Prämie von 15 Millionen Mark.
Das war die „Große Sozialistische Oktoberrevolution“, durch sie wurde Lenin
über Nacht Regierungschef. „Ein steiler
Aufstieg aus dem Keller an die Macht“,
sagte er, „mir dreht sich der Kopf.“
Die folgenden allgemeinen Wahlen zu
einer verfassunggebenden Nationalversammlung aber brachten den Kommunisten weniger als ein Viertel der Stimmen.
Lenin ließ das erste wirklich frei gewählte
Parlament Rußlands schon auf seiner
Gründungssitzung am 18. Januar 1918 auseinanderjagen. Er führte Todesstrafe und
Pressezensur wieder ein, unterband jegliche regimekritische Demonstration.
Er nahm in den folgenden Monaten den
Arbeitern, die ihre Betriebe besetzt hatten,
und den Bauern ihren neuen Besitz wieder
ab, indem er die Fabriken und den gesamten Grund und Boden verstaatlichte. Das
Land durften Kleinbauern noch bewirtschaften, doch Lenin richtete sogleich 5000
Staatsgüter und 6000 Kolchosen ein.
Freimütig proklamierte er den „Staatskapitalismus“. Das müsse jeder begreifen,
erklärte er, der „nicht den Verstand verloren und sich nicht den Kopf vollgestopft hat
mit Bruchstücken von Bücherwahrheiten“,
womit er Marx’ Theorie meinte.
Zugleich erhob der Zyniker aber den
Marxismus zum Dogma, um sich – mit
durchschlagendem Erfolg – für seine linke
Anhängerschaft zu kostümieren: „Die Beschäftigung mit allen anderen Theorien
führt zur Verwirrung und Lüge.“ Den besonders populären und entschlossenen Anarchisten gegenüber trat er gar als einer
auf, der ausgerechnet Staat, Gefängnisse,
Geld und abhängige Arbeit – die er selbst
nie kennengelernt hatte – abschaffen wollte. Seine Zeitgenossen, verkündete Lenin,
würden dieses Paradies noch erleben.
Davon blieb der „Kriegskommunismus“: Rotarmisten beschlagnahmten die
gesamte Ernte der Bauern, auch das Saatgut, und verteilten das Getreide gratis, auf
Bezugschein, an die Städter. Die Versorgung brach zusammen.
Die allgemeine Gleichheit galt nicht für
alle. Von der Administration eines großen
Landes hatten Lenins Intellektuelle keine
Ahnung, so griffen sie auf die Kader der
Zaren-Bürokratie zurück. 89 Prozent der
145
Auf einem Kongreß der Parteijugend am
Er kümmerte sich um Details: Zur BeFührungsbeamten im Finanzministerium
behielten ihren Schreibtisch, die meisten 2. Oktober 1920 erläuterte Lenin: „Wenn schattung Verdächtiger empfahl er „beKollegen vom Kaiserlichen Ministerium für ein Bauer sich den Getreideüberschuß an- sondere Trennwände, Holzverschläge oder
Staatskontrolle saßen nun im Volkskom- eignet, den er auf seinem Land erwirt- Umkleidekabinen, Blitzdurchsuchungen;
missariat für Staatskontrolle. Selbst die Ge- schaftet hat, also Getreide, das weder er Systeme zur doppelten und dreifachen Sofängnisdirektoren blieben im Amt, derweil noch sein Vieh zum Überleben benötigen, fortüberprüfung“. Er riet,Verhaftungen am
die Gefangenen wechselten. 41 Prozent des … dann hat er sich bereits in einen Aus- besten nachts vorzunehmen; Parteimithöheren Offizierskorps der neuen „Roten beuter verwandelt“, in einen „Kulaken“. glieder hätten alles Auffällige der Staatssicherheit zu melden.
Arbeiter- und BauernarAls gleich nach dem Oktoberputsch die
mee“ hatten schon dem
Genossen die Todesstrafe für Deserteure
Zaren gedient.
abgeschafft hatten, erregte sich Lenin: „So
Lenin mußte die übergeein Unsinn. Wie kann man denn eine
laufenen Fachleute mit eiRevolution ohne Erschießungen durchner „sehr hohen Bezahführen?“ Allein 1921, vier Jahre nach dem
lung“ locken, obwohl er als
Sieg, wurden 4337 Rotarmisten exekutiert.
entscheidende revolutionäEinige wörtliche Befehle Lenins:
re Neuerung angekündigt
π „Einen von zehn, die sich des Müßighatte, „daß alle beamteten
gangs schuldig machen, auf der Stelle
Personen ein den durcherschießen.“
schnittlichen Arbeiterlohn
π „Können nicht weitere 20 000 Petrogranicht übersteigendes GeLenin, Trotzki bei einer Parade in Moskau (1919)
der Arbeiter mobilisiert werden, plus
halt beziehen“ würden.
„Ein für allemal reich und mächtig werden“
10 000 Bourgeois, mit hinter ihnen aufDa wollten die Parteigenosgestellten Maschinengewehren, die ein
sen nicht nachstehen, und Lenin entschied, Sogar „gegen die schwankenden und hempaar hundert erschießen?“
Kommunisten bräuchten Sonderverpfle- mungslosen Elemente der arbeitenden
gung, Sonderläden, Sonderzuteilungen, Menschen selbst“ sei Gewalt anzuwenden, π „Hunderte von Prostituierten, welche
die Soldaten betrunken machen, eheund hochgestellte Kommunisten die Villen befand Lenin.
Sein Programm: „Säuberung der russimalige Offiziere und dergl. sind zu erder verjagten oder erschossenen Kaufleute
schießen und abzutransportieren.“
und Adligen oder die Suiten der Mos- schen Erde von allem Ungeziefer, von den
kauer Luxushotels, dazu Leibärzte und Flöhen, den Gaunern, von den Wanzen – π „Bieten Sie sämtliche Kräfte auf, um die
korrupten Beamten und Spekulanten
angesichts des zerrütteten Verkehrssystems den Reichen und so weiter und so fort“,
von Astrachan zu erschießen. Man
auch noch Sonderzüge für Kuren im auch von „bürgerlichen Intellektuellen“
und „Arbeitern, die sich vor der Arbeit
muß diesem Pack eine derartige Lehre
Ausland.
erteilen.“
Er selbst ließ sich in einem Rolls-Royce drücken“. Gemeint waren die Schriftsetzer
und winters in einem Spezial-Citroën mit von Petrograd, die bis zum Januar 1918 und π „Solange wir nicht mit Terror gegen Spekulanten vorgehen, also keine standRaupenketten kutschieren, auch Büchsen- wieder im April 1919 gegen die Diktatur
rechtlichen Erschießungen durchführen,
fleisch, Schnürbänder und andere Mangel- der Bolschewiki streikten.
Lenin wandte sich gegen Sozialdemowird nichts dabei herauskommen.“
waren vom Geldboten aus Berlin mitbringen. Anfangs wohnte er im Moskauer Ho- kraten, die da sagten: „Die Revolution ist π „Mit Räubern muß man ebenso verfahren und sie auf der Stelle erschießen.“
tel „National“, dann in der Zarenburg, zu weit gegangen.“ Ihnen solle man antdem Kreml – erst unter Boris Jelzin wur- worten: „Gestattet uns, euch dafür an die π „Meiner Meinung nach muß man den
Einsatz von Erschießungen (als Ersatz
de die als Heiligtum bewahrte Zimmer- Wand zu stellen.“
Bei Bedarf war er auch Antisemit. „Befür die Verbannungen ins Ausland) verflucht Lenins aufgelöst –, und auf dem
stärken.“
Landschloß des früheren Stadtkomman- handelt die Juden in der Ukraine mit eiserner Faust“, trug er den ukrainischen Ge- π „Bürger, die sich weigern, ihren Namen
danten.
zu nennen, werden auf der Stelle und
„Lenin und seine Mitstreiter sind zu je- nossen auf und schrieb danach an den
ohne Gerichtsverhandlung erschossen …
dem Verbrechen fähig, sie sind bereits vom Rand: „Formuliert es freundlicher: die jüFamilien, die Banditen verstecken, werfaulen Gift der Macht infiziert“, wagte der dischen Kleinbürger.“
Schriftsteller Maxim Gorki aufzubegehren
– bis seine Zeitschrift „Nowaja schisn“ im
Juli 1918 verboten wurde und schließlich
auch Gorki sich unterwarf und mit Stalin
kollaborierte.
Andere Geistesgrößen beugten sich
schon früh dem revolutionären Willen Lenins und seinen Visionen von einer schönen
neuen Welt: Chagall und Kandinsky machten kunstvolle Propaganda, die Revolutionärin Alexandra Kollontai, die Lenin
beim Geldtransfer aus Deutschland geholfen hatte, warb für die freie Liebe. Trotzki
sagte voraus, im vollendeten Kommunismus würden die Menschen schöner, größer
und gesünder sein.
Gorkis Empörung richtete sich vor allem
anderen gegen den Terror, mit dem Lenin
und seine Kumpanen das Land in den Griff
zu bekommen sowie den Zusammenbruch
der Versorgung zu verhindern suchten.
Unterernährte Waisenkinder in Samara (1920): „Die Hungersnot dient dem Fortschritt“
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Spiegel des 20. Jahrhunderts
Das Jahrhundert des Kommunismus: Lenin und die Oktoberrevolution
Tausende verhungerten,
den verhaftet und vererteilte Lenin seinem Altbannt. Der älteste Argenossen Molotow zur Inbeiter der Familie ist
formation des Politbüros
ohne Verfahren sofort
eine Weisung, die bis zum
zu erschießen. Dieser
Ende des HerrschaftsBefehl ist erbarmungssystems geheimgehalten
los auszuführen.“
wurde. Patriarch Tichon
Die
Erschießungshatte Ikonenschmuck und
obsession hatte Lenin
andere kirchliche Wertsaschon, ehe er erwarten
chen, die nicht rituellen
konnte, sie in die Tat umZwecken dienten, für die
zusetzen. Auf die Frage,
Hungerhilfe freigegeben.
was nach einem Sieg mit
Das brachte Lenin auf
den Beamten des alten
seine Idee:
Regimes geschehen solle,
„Gerade jetzt und nur
hatte er in der Emigrajetzt, da in den Hungertion keinen Augenblick
gebieten Leute Mengezögert: „Wir werden
schenfleisch essen und
den Mann fragen: ‚Wie
Hunderte, wenn nicht
stellst du dich zur RevoTausende Leichen die
lution? Bist du dafür,
Straßen säumen, können
oder bist du dagegen?‘
und müssen wir die BeWenn er dagegen ist,
schlagnahme der kirchliwerden wir ihn an die
chen Wertgegenstände
Wand stellen. Ist er dafür,
mit der rohesten und erso werden wir ihn willbarmungslosesten Enerkommen heißen und ihn
gie durchsetzen, ohne
auffordern, mit uns zu
aufzuhören, jeden Wiarbeiten.“
derstand zu zermalmen.“
Ehefrau Nadeschda
Warum? „Komme, was
Krupskaja grummelte gewolle, wir können auf
genüber Lenin: „Ja, und
die entschlossenste und
ihr werdet selbstverständschnellste Weise für uns
lich die wertvolleren Meneinen Fonds von mehreschen erschießen, weil sie
ren hundert Millionen
den Mut haben, zu ihrer
Rotarmisten mit Plündergut in Moskau*: Kirchenschatz für die Revolution
Goldrubeln sichern (man
Überzeugung zu stehen.“
Mag sein, daß die Vorstellung von sei- schießungen und 87 000 Verhaftungen. Für bedenke nur die gewaltigen Reichtümer einem am Strick erstickenden Bruder Alex- die aktive Regierungszeit Lenins vom De- niger Klöster und Pfarreien). Ohne diesen
ander bei Lenin Sado-Phantasien weckte, zember 1917 bis zum Februar 1922 lassen Fonds können wir weder unseren Staat
die sich zum Blutrausch steigerten. Dieser sich mindestens 140 000 Exekutierte und noch unsere Wirtschaft aufbauen.“
Da Lenin bei Gläubigen auf Widerstand
Lenin erfand für Rußland auch jene Geißel, ebenso viele bei der Unterdrückung von
welche die Tyrannen des 20. Jahrhunderts Aufständen Getötete zählen. Welch ein stieß, wurden fast 70 000 der 80 000 Kirzur Korrektur ihrer Untertanen bevorzug- Multiplikator der Opferzahl des Zaren – chen zerstört sowie 14 000 Priester und
ten: „Man muß schonungslos Massenter- eine orgiastische Vergeltung für den Tod Mönche erschossen; die Strecke ließ sich
Lenin täglich rapportieren: „Je mehr Verror anwenden“, telegraphierte er 1918 zur des Bruders Alexander.
Über das Land breitete sich derweil eine treter der reaktionären Geistlichkeit und
Niederschlagung eines Bauernaufstands,
„verdächtige Personen in ein Konzentra- Hungerkatastrophe aus. Schon als 1892 an Bourgeoisie wir dabei hinrichten können“,
tionslager außerhalb der Stadt einsperren.“ der Wolga 14 Millionen Menschen darb- hatte er bekundet, „desto besser.“
Der Sowjetstaat requirierte genug für
So geschah es, erst in entweihten Klöstern ten, soll sich der junge Lenin – fünf Jahre
und Kirchen, dann auf der Sklaveninsel nach Alexanders Tod – ungerührt gezeigt seinen Zweck: 540 Kilo Gold, 377 000 Kilo
Solowezki, schließlich im riesigen Archi- und von Hilfsaktionen abgeraten haben: Silber und 35 670 Diamanten binnen weni„Die Hungersnot dient dem Fortschritt. ger Monate. Allein im Hungerjahr 1922 verpel Gulag.
Drei Wochen nach der KZ-Verfügung Das Gerede über die Sättigung der Hun- wendete er Preziosen im Wert von 19 Milschoß die Sozialrevolutionärin Fanni Ka- gernden ist nur ein Ausdruck der saccha- lionen Goldrubel zur Förderung dessen,
plan auf Lenin: „Ich halte ihn für einen rinsüßen Sentimentalität, die für unsere In- was Lenin unter Weltrevolution verstand.
Der Mann, der vor seinem Machtantritt
Verräter“, sagte sie unter der Folter, „je telligenzija so charakteristisch ist.“ Über
länger er lebt, desto mehr wird die Idee des die Lebensmittelrationierung 1920 – unter und zu ebendiesem Zweck das SelbstbeSozialismus entstellt. Und das auf Dut- seiner Regierung – schrieb er: „Mögen stimmungsrecht der Völker erfunden hatte,
zende von Jahren.“ Sie wurde ohne Ge- noch Tausende zugrunde gehen, das Land erklärte als Machtinhaber: „Kein einziger
Marxist kann bestreiten, daß die Interessen
richtsurteil im Kreml erschossen, die Re- aber wird gerettet.“
Als Anfang 1922 über 25 Millionen Men- des Sozialismus höher stehen als die Ingierung dekretierte den massenhaften „roschen nichts zu essen hatten und jeden Tag teressen des Selbstbestimmungsrechts.“
ten Terror“ .
Die Interessen des Sozialismus geboten
In den folgenden 18 Monaten meldete
die Eroberung von Kasan. Lenin telegradie Geheimpolizei Tscheka 8389 Er- * Vor dem Simonow-Kloster 1925.
Aus Lenin, der die Selbstherrschaft hatte stürzen wollen,
war ein neuer Zar geworden.
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phierte seinem Heerführer Trotzki: „Meiner Meinung nach darf man die Städte
nicht verschonen und weiter zögern, sondern muß sie erbarmungslos vernichten.“
Er befahl auch, alle Vorbereitungen zu treffen, „um Baku im Fall einer Invasion vollständig niederzubrennen“.
Im Bürgerkrieg mit den Armeen der Antikommunisten 1918 bis 1920 (bis zu zehn
Millionen Tote) holte er mit Hilfe der Roten Armee die von ihm selbst zur Unabhängigkeit ermunterten nichtrussischen
Völkerschaften im Kaukasus und in Mittelasien sowie die Ukraine zurück, er rekonstruierte das Zaren-Imperium. Es fehlten
nur noch Polen, die baltischen Staaten und
Bessarabien, die sich Stalin später von Hitler schenken ließ.
Lenin versuchte es auch im Baltikum
mit Gewalt, die Balten obsiegten mit Hilfe
der Briten und deutscher Freikorps. 1920
führte er sogar Krieg gegen Polen und
dachte an der Grenze zu Deutschland nicht
haltzumachen: „Durch den Angriff auf
Warschau tragen wir zur Sowjetisierung
Litauens und Polens sowie zur Revolutionierung Deutschlands bei.“ Aber die Polen
stoppten die Russen an der Weichsel.
Im gleichen Jahr erwog Lenin zudem
die „Sowjetisierung Ungarns“ – wo die
Kommunisten gerade mit einer Sowjetrepublik gescheitert waren –, „vielleicht sogar Tschechiens und Rumäniens“, auch von
Italien war die Rede, von England.
Die Dokumente mit diesen Lenin-Ambitionen aus dem Zentralen Parteiarchiv
in Moskau sollten, so empfahl dessen Direktor Georgij Smirnow noch 1990 dem
Politbüro, geheimgehalten werden, weil sie
„nicht anders denn als Ermutigung zur Gewalt gegen souveräne Staaten interpretiert
werden können“.
Lenin probierte es aber auch mit Propaganda, Bestechung, Unterwanderung. Seine Emissäre reisten mit Koffern voller
Gold, Brillanten, Perlen und Devisen ins
Ausland. Ein bislang nicht identifizierter
deutscher „Genosse Thomas“ empfing
Schmuck und Devisen im Wert von 62 Millionen Mark für den Aufstand der KPD
1921 (und unterschlug einen großen Teil) –
Lenin zahlte sozusagen des Kaisers Subventionen in gleicher Münze zurück.
In jenem Jahr hatte er den Aufstand im
eigenen Land. Allerorts rebellierten die betrogenen Bauern, streikten die verratenen
Arbeiter, erhoben sich wieder die Matrosen von Kronstadt. Doch die „Rote ArbeiLITERATUR
Angelica Balabanoff: „Lenin. Psychologische Beobachtungen und Betrachtungen“. Verlag für Literatur
und Zeitgeschehen, Hannover 1961; 184 Seiten – Die
russisch-italienische Komintern-Sekretärin distanzierte sich von Lenin, der sie respektierte.
Maxim Gorki: „Unzeitgemäße Gedanken über Kultur
und Revolution“. Insel Verlag, Frankfurt am Main
1972; 336 Seiten – Sammlung der 1917 /18 in Petrograd
geschriebenen Artikel für die Zeitung „Nowaja
schisn“ (Neues Leben).
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SIPA PRESS
Spiegel des 20. Jahrhunderts
Das Jahrhundert des Kommunismus: Lenin und die Oktoberrevolution
Lenin kurz vor seinem Tod*: Auf dem Land Champignons und Kaninchen züchten
* Mit Schwester Marija in Gorki 1923.
matische Anerkennung Sowjetrußlands,
Lenin hielt daran fest, es sei „unsere Aufgabe, den Staatskapitalismus der Deutschen zu erlernen, ihn aus aller Kraft
zu übernehmen, keine diktatorischen
Methoden zu scheuen, um diese Übertragung der westlichen Kultur auf das barbarische Rußland zu beschleunigen, ohne
dabei vor barbarischen Methoden des
Kampfes gegen die Barbarei zurückzuscheuen“.
Er nannte das wirkliche Ziel: „Gerade
das braucht die Russische Sozialistische
Sowjetrepublik, damit sie aufhöre, armselig und ohnmächtig zu sein, damit sie ein
für allemal reich und mächtig werde.“
Dietrich Geyer: „Die Russische Revolution. Historische
Probleme und Perspektiven“. Vandenhoeck und Ruprecht Verlag, Göttingen 1985; 170 Seiten – Knapp formuliertes, sehr informatives Standardwerk.
John Reed: „Zehn Tage, die die Welt erschütterten“.
Dietz Verlag, Ost-Berlin 1983; 520 Seiten – Augenzeugenbericht eines amerikanischen Journalisten und
Kommunisten über die Oktoberrevolution.
Richard Pipes (Hrsg.): „The Unknown Lenin. From the
Secret Archive“. Yale University Press, New Haven
und London 1996; 204 Seiten – Auswahl bisher ge-
heimer Dokumente, die Lenin als brutal und menschenverachtend erscheinen lassen.
Adam Ulam: „The Bolsheviks. The Intellectual and Political History of the Triumph of Communism in Russia“. Harvard University Press, Cambridge 1998; 598
Seiten – Eines der besten Werke über den Aufstieg Lenins und der bolschewistischen Partei in Rußland.
Dimitri Wolkogonow: „Lenin. Utopie und Terror“.
Econ Verlag, Düsseldorf 1996; 608 Seiten – Biographie
unter Berücksichtigung der erst vor kurzem geöffneten russischen Archive.
ter- und Bauernarmee“ erstickte die Revolte mit äußerster Brutalität.
Die Partei beendete notgedrungen den
„Kriegskommunismus“, die totale staatliche Verteilungswirtschaft, und trat den
Rückzug zu einer „Neuen Wirtschaftspolitik“ (NEP) an, zum Programm der längst
erschossenen, verhafteten oder vertriebenen Sozialdemokraten: freier Markt für
Gewerbe, Kleinhandel und Landwirtschaft
bei Staatseigentum an den Großbetrieben.
Lenin hing weiter seinem deutschen Vorbild an. Die Weimarer Republik vollzog als
erster großer Staat in Rapallo die diplo-
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Maxim Gorki in einem Petrograder
Zeitungsartikel vom
20. Dezember 1917 (Auszug)
Jetzt hat das Proletariat die Macht
in der Hand und damit auch die
Möglichkeit freier schöpferischer
Arbeit. Was bringt die Revolution
also Neues; wie verändert sie unsere tierische russische Lebensweise; wird sie in der Finsternis des
Volkslebens viel Licht verbreiten?
Seit dem Ausbruch der Revolution hat es schon zehntausend Fälle von „Lynchjustiz“ gegeben. Diebstahl und Plünderungen nehmen zu;
schamlose Beamte lassen sich ebenso skrupellos bestechen wie früher
die Beamten des zaristischen Regimes. Die Brutalität der Vertreter
der „Regierung der Volkskommissare“ wird allgemein beklagt, und
das mit Recht. Allerlei kleine Leute, die sich an der neuen Macht ergötzen, behandeln den Bürger wie
einen besiegten Feind, d. h. genauso, wie die Polizei des Zaren ihn behandelt hat. Sie brüllen jeden an.
Das alles geschieht im Namen des
„Proletariats“ und der „sozialen
Revolution“, ist ein Sieg unserer
Vertierung und vertieft weiter unsere Primitivität, an der wir bei
lebendigem Leibe verfaulen …
Reichtum und Macht für Rußland also
statt eines Endes der Lohnabhängigkeit,
statt Selbstbestimmung der Nationalitäten
und Absterben des Staates. Entfremdung?
Dieser Marx-Begriff findet sich nirgendwo
in den 55 veröffentlichten Bänden der Werke Lenins – schwer lesbaren theoretischen
Abhandlungen voll ätzender Polemik.
Die Nachricht vom Oktober 1922, die
Pazifik-Festung Wladiwostok („Beherrsche
den Osten“) sei den Japanern wieder entrissen worden, kommentierte Lenin auf gut
imperialistisch: „Niemals werden wir eine
einzige Eroberung, die wir gemacht haben,
wieder herausgeben!“ An ebendieser territorialen Raublust verdorrte sein Regime
am Ende des Jahrhunderts.
Im Dezember 1914 hatte er sich zum
„Nationalstolz des Großrussen“ bekannt,
er sah die schwache, von ihm oftmals verachtete Arbeiterschaft Rußlands zur
„Avantgarde“ des internationalen Proletariats aufsteigen und formulierte die
streng nationale Alternative, Grundgesetz
der UdSSR sei „Entweder untergehen oder
die fortgeschrittenen Länder auch ökonomisch einholen und überholen“.
AFP / DPA
Die Versprechungen
der Revolution
So kommt bei Lenin ein großrussischer diktieren. Er empfiehlt, endlich auch ArChauvinist zum Vorschein, ähnlich gewebt beiter in das ZK aufzunehmen, Genossenwie sein georgischer Nachfolger Stalin. Aus schaften zu fördern, nationalen MinderLenin, der die Selbstherrschaft hatte stür- heiten Autonomie zu gewähren.
zen wollen, war ein neuer Zar geworden.
Ungewiß bleibt, ob er überhaupt noch
Nach nur gut vier Herrschaftsjahren, An- seinen Willen bekunden konnte, wieweit
fang 1922, fühlt er sich ausgebrannt. Der Ehefrau Krupskaja das, was sie ihm von
Berliner Internist Georg Klemperer, Bruder den Lippen ablas, zumindest gedanklich
des Tagebuch-Autors Victor, diagnostiziert redigierte. Sie übermittelte den Lenin-Rateine steckengebliebene Kugel Fanni Ka- schlag, die Partei solle sich von Stalin („zu
plans, die auf die Halsschlagader drückt. grob“) als Generalsekretär trennen. Am
Lenin wird operiert. Er sorgt dafür, daß 9. März 1923 trifft ihn der dritte Schlag,
Stalin Generalsekretär wird.
Lenin verliert endgültig sein SprachverSieben Wochen später, an demselben mögen. Sein Wortschatz beschränkt sich
Tag, an dem vor 35 Jahren Bruder Alexan- auf „da“, „führe!“, „geh“, „oh, là, là!“
der am Galgen starb, zieht sich Lenin auf
Am 20. Januar 1924 läßt sich Lenin Ersein Landgut zurück, wo ihn sechs Tage zählungen von Jack London vorlesen und
darauf ein Schlaganfall lähmt.
winkt lachend ab, als die Krupskaja ihm
Den (von Trotzki später geäußerten) sagt, die nächste Story sei „von bürgerliVerdacht, das langsame Sterben befördert cher Moral durchtränkt“. Am Tag darauf
zu haben, versuchte Stalin mit der Erzäh- stirbt er, 53 Jahre alt.
lung zu entkräften, Lenin – sprachgelähmt
Stalin versagte ihm ein Grab, ließ ihn
– habe ihn um Zyankali gebeten, das er aber tausendfach in Bronze und in Gips
ihm jedoch verweigert habe.
im ganzen Sowjetreich erstehen. Als MuLenins Leidenszeit währte knapp zwei mie blieb Lenin bis heute aufgebahrt im
Jahre, in denen er sich politisch eines Bes- eiskalten Keller unter dem Moskauer Roseren besonnen haben soll. Er beschuldigt ten Platz, fast religiös angebetet von den
Stalin des „großrussischen Chauvinismus“ Kommunisten aller Länder.
bei der Annexion Georgiens, dagegen werDer heutige Patriarch der russisch-orde er sich wehren, wenn er – so ernst scheint thodoxen Kirche, Alexij II., empfahl vor
er die Annexion doch nicht genommen zu wenigen Wochen, ihn endlich der Erde
haben – seine Zahnschmerzen los sei.
zurückzugeben – trotz aller Drohungen
Immerhin befiehlt er Stalin noch die der letzten Leninisten mit einem dann fäl„erbarmungslose“ Deportation mehrerer ligen Bürgerkrieg.
hundert Wissenschaftler, Literaten und Künstler nach
Deutschland und erteilt
der Geheimpolizei richterliche Vollmachten. Dann
wieder redet er davon, nur
noch Champignons und
Kaninchen züchten zu
wollen.
„Es scheint, ich habe
mich vor den Arbeitern
Rußlands sehr schuldig gemacht“, ließ er hören, „wir
haben den alten Staatsapparat übernommen, und
das war unser Unglück“.
Aber der Staatskapitalismus, beharrte er, sei ein
„Fortschritt“. Doch auch:
„Wir können kaputtgehen
… Wir kommen zu spät.“
Auf Stalins Weisung ist
Kommunisten in Moskau (1994): Traum vom Paradies
der Kranke streng isoliert
worden, Lenin klagt: „Wenn ich in FreiEr gehört nach Ansicht vieler Russen in
heit wäre …“
die Stadt, die einmal als „Leningrad“ seiNach Aussage seiner Schwester Marija nen Namen trug, dort sind auch Mutter
ruft Lenin keinen Genossen so oft zu sich und Schwestern begraben. Der gehenkte
wie Stalin, der in den schwersten Phasen Bruder Alexander wurde in einem Masder Krankheit als einziges ZK-Mitglied vor- sengrab an unbekanntem Ort verscharrt –
gelassen wird. Die anderen Führungsfigu- so wie fast alle Opfer Lenins.
ren dürfen Lenin nur durch ein Guckloch
im Vorhang oder in der Wand beobachten. Fritjof Meyer, 67, Autor des Buches „WeltSieben Tage nach seinem zweiten macht im Abstieg – Der Niedergang der
Schlaganfall, am 23. Dezember 1922, ver- Sowjet-Union“ (1984), leitet seit 1966 die
sucht Lenin, sein politisches Testament zu Ost-Berichterstattung des SPIEGEL.
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Das Jahrhundert des Kommunismus: Lenin und die Oktoberrevolution
PORTRÄTS
Weggefährten der Revolution
Alexandra M. Kollontai
Die Feministin
Spiegel des 20. Jahrhunderts
tional trug Madame Kollontai, so die
Anrede auf diplomatischem Parkett,
1944 zum Waffenstillstandsabkommen
zwischen Moskau und Helsinki bei und
ermöglichte Finnland den Ausstieg aus
dem Zweiten Weltkrieg.
Als sie acht Jahre später starb, verwehrte Stalin ihr ein Grab an der
Kreml-Mauer. Statt dessen wurde sie
am Moskauer Jungfrauenkloster beigesetzt, wo später auch der ungeliebte
Nikita Chruschtschow seine letzte Ruhe
fand.
Nikolai I. Bucharin
Der Ökonom
Es war eine intelligente, eloquente und
dazu auch noch elegante Frau, die
1924 als Botschafterin des gerade gegründeten Arbeiter-und-Bauern-Staats
Sowjetunion nach Norwegen (später
auch nach Mexiko und Schweden) kam:
Alexandra Michailowna Kollontai.
Erst spät hatte sich die Tochter eines
aristokratischen Zaren-Generals dem
Revolutionär Lenin angeschlossen. Der
vertraute der Pädagogin nach der Revolution die Frauenabteilung des ZK an.
Für ein soziales Gesundheitswesen
setzte sie sich ein, für bessere Arbeitsbedingungen für Frauen, für legale Abtreibung und Scheidung – mehr noch:
für die „neue Frau“, die nach eigenem
Gutdünken nicht nur arbeiten, sondern
auch lieben sollte. Unter ihren männlichen Genossen war sie schnell als eigensinnige Feministin verschrien.
Obschon sie zu erkennen gab, daß ihr
die Partei nicht radikal genug war bei
der Realisierung der kommunistischen
Gesellschaftsordnung, schonte sie der
Generalsekretär Stalin und ernannte die
resolute 52jährige Genossin sogar zur
Diplomatin.
Von nun an verstummte sie bei innenpolitischen Diskussionen. Interna-
150
KEYSTONE / SYGMA
Kollontai (1921)
Einen „herausragenden Politiker“
nannte Lenin den Moskauer Nikolai
Iwanowitsch Bucharin, den „Liebling
der Partei“. Der hagere Intellektuelle,
Inhaber einer Wirtschaftsprofessur und
von 1922 bis 1929 Chefredakteur der
Parteizeitung „Prawda“, predigte nach
der Revolution einen radikalen Kriegskommunismus: Staatsproduktion und
-verteilung sowie Abschaffung des Geldes. Er wollte den „alten Traditionen
die Zähne ausbrechen“.
Das Experiment schlug fehl, Bucharin setzte nun auf das gegenteilige Konzept: Die Neue Ökonomische Politik
sah einen kontrollierten Markt innerhalb der Planwirtschaft vor. Die Bucharin-Kritiker Kamenew und Sinowjew ließ Stalin kaltstellen. Da wohnte
Bucharin auf Wunsch Stalins noch im
Kreml, duzte ihn und arbeitete noch am
neuen sowjetischen Grundgesetz, der
Stalin-Verfassung von 1936.
Zwei Jahre später war Bucharin tot.
Weil er sich gegen die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft ausgesprochen hatte, wurde er zum Volksfeind
und Konterrevolutionär erklärt.
Trotz der Vorwürfe glaubte Bucharin bis zum
Schluß an die Partei und ihren Generalsekretär. Drei
Monate vor seiner
Hinrichtung bat er
Stalin in einem
Brief aus der Haft
Bucharin (um 1928) „um Verzeihung“.
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Israel L. Helphand
„Parvus“
Der Finanzier
Ohne ihn wäre der im Exil lebende Jurist Lenin im Oktober 1917 in Petrograd
wohl kaum an die Macht gekommen.
Doch statt Parvus, so das Pseudonym
von Israel Lasarowitsch Helphand, zu
danken, verleugnete Lenin den Gönner.
Der russische Sozialrevolutionär Helphand, geistiger Miturheber der Theorie von der permanenten Revolution,
die Trotzki populär machte, war ein genialer Abenteurer. In Basel zum Nationalökonomen ausgebildet, hatte er als
einflußreicher Finanzberater der osmanischen Regierung in Konstantinopel
während des Ersten
Weltkriegs ein Vermögen gemacht.
Dieses Geld und
seinen Einfluß wollte er einsetzen, um
das verhaßte Zarenreich zu Fall zu
bringen.
Mit Chuzpe gelang es ihm, die an
einer Schwächung
des Kriegsgegners
Parvus (1906)
Rußland interessierte deutsche Regierung davon zu überzeugen, mit ihm gemeinsam Lenins Bolschewiki zu unterstützen. Helphand
organisierte den Sonderzug, mit dem
Lenin und weitere 31 russische Emigranten im April 1917 aus Zürich von deutschen Soldaten schwer bewacht durch
Deutschland fuhren und nach Petrograd
zurückkehrten.
Insgesamt zahlte Berlin bis 1918 etwa
82 Millionen Goldmark in die Kassen
der Bolschewiki. Lenin soll dabei direkt
mit Helphand korrespondiert und um
„mehr Material“ gebeten haben.
Doch als der inzwischen von Preußen
eingebürgerte Helphand nach dem
Zarensturz um Einreise nach Rußland
ersuchte, lehnte Lenin ab. Auch das
besiegte Deutschland verweigerte eine
weitere Zusammenarbeit. Enttäuscht
zog sich der sozialistische Millionär und
Bonvivant in seine Berliner Villa auf
Schwanenwerder zurück und starb
einsam 1924 – im selben Jahr wie
Lenin.
Reinhard Krumm
STANDPUNKT
Lenin in meinem Leben
Von Michail Sergejewitsch Gorbatschow
rierenden christlichen
größte Politiker des
Staaten, welche ihre
nun zu Ende gehenden
Völker in ein europaJahrhunderts. Als Poliweites Blutbad getiker erscheint mir Lestürzt hatten. Als der
nin nach wie vor geKriegskommunismus
nial – und als Mensch
in eine Sackgasse führhoch anständig: weil er
te, war Lenin Realist
selbst zur Einsicht gegenug, das Steuer
langte, daß mit Gewalt
scharf umzureißen.
allein kein Paradies auf
Heute sind AnordErden zu errichten ist.
nungen und Notizen
Wären ihm noch einige
Lenins veröffentlicht,
Lebensjahre vergönnt
in denen er den Aufgewesen, wäre unser altrag erteilt, mit Gegler Geschichte ganz annern der Sowjetmacht,
ders verlaufen.
mit der Kirche und
Leider gab das Leihren
Bediensteten
ben ihm und uns diese Gorbatschow (1950)
gnadenlos kurzen ProChance nicht. Die Erleuchtung kam zu spät. Der schwerfäl- zeß zu machen. Da wir von Kindheit an
lige Zug der Diktatur raste weiter, ge- zu der Vorstellung erzogen wurden, Letrieben von der Kraft einer großen Re- nin sei ein Edelmann ohne Fehl und Tavolution, die Lenin zum Sieg geführt del gewesen, lösen solche Zeitdokuhatte. Der Mann am Steuer, der an Le- mente Bitterkeit aus.Wir können sie danins Stelle trat, hat verhindert, daß die mit erklären, die Lage sei so gewesen,
Weichen anders gestellt wurden. Der daß die Feinde hinterlistig und brutal
Zug fuhr in die falsche Richtung. Er riß vorgingen und Lenin eine leidenschaftliche Natur war. Doch ich kann und will
Hunderttausende mit in den Tod.
Die Frage, ob Lenin für all das ver- solche Handlungen nicht rechtfertigen.
Als Folge des erbarmungslosen und
antwortlich zu machen ist, was die Sowjetmacht anrichtete, muß ich negativ haßerfüllten Bürgerkriegs herrschte in
beantworten. Zugleich bin ich weit da- Rußland eine Atmosphäre, in der sich
die bolschewistische Diktatur zum Tervon entfernt, ihn zu vergöttern.
Obwohl Lenin ein bekennender Mar- ror bekannte. Lenins Erfindung war der
xist war, dachte und handelte er entge- Terror nicht, er wurde offiziell nach
gen der verbreiteten Meinung – im Gei- einem Attentat auf Lenin ohne sein
ste der russischen Kulturtradition. Le- Wissen verkündet. Lenin hat sich nicht
nins Strategie zielte darauf ab, Ordnung widersetzt. Er verlangte nur, daß die
in die soziale Verwirrung Rußlands zu berüchtigte Tscheka gezügelt werde und
bringen, ein neues Staatswesen zu sich auch jedes andere Staatsorgan an
schaffen, dessen Einheit wiederherzu- das Gesetz halten sollte.
Erkennt man die Rolle der Persönstellen. Diese Ziele wurden erreicht.
Der Preis war hoch: gewaltige Men- lichkeit in der Geschichte an, hat Lenin
schenopfer in einem Bürgerkrieg, den die Weltgeschichte im 20. Jahrhundert
Lenin hatte vermeiden wollen, und eine am stärksten, wenn auch nicht unzweideutig beeinflußt: als eine große, ja eine
verarmte Gesellschaft.
Lenin teilte den Irrglauben vieler sei- großartige Gestalt unserer Epoche.
ner Zeitgenossen, der Kommunismus
sei eine Alternative zur moralischen Michail Gorbatschow, 68, war bis 1991
Verwilderung der sich als zivilisiert ge- der letzte Generalsekretär der KPdSU.
DPA
W
ie für sehr viele, die in der Sowjetzeit aufwuchsen, war Lenin für mich einmal das, was
Gläubige in Christus, Mohammed oder
Buddha sehen – etwas Unerreichbares,
Unantastbares, eine unwiderrufliche
Autorität. Zeit und Erfahrungen haben
mein Verhältnis zu ihm geändert.
Ich fand die kommunistischen Ideen
untadelig und war bereit, jeden Parteiauftrag zu erfüllen. Das sage ich ganz
aufrichtig, wie bei einer Beichte.
Ich war jung, als ich in die große Politik kam. Das sowjetische System lief
offenkundig nicht mehr rund. Deshalb
machte ich mir, wie viele damals, Gedanken über Veränderungen, die ihm
seine Funktionsfähigkeit zurückgeben
könnten. Das mußte zwangsläufig zu
grundsätzlichen Überlegungen führen
– über das Schicksal des Sozialismus.
Als ich Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU geworden war, sahen wir uns alle, meine Kampfgefährten
und ich, die ganze Partei, mit der Notwendigkeit konfrontiert, die Grundlagen zu überdenken, die über sieben
Jahrzehnte für uns verbindlich waren.
Bei der Umsetzung umfassender Reformen konnten wir uns sogar auf Lenin
berufen, hatte er doch einen seiner letzten Beiträge so resümiert: „Wir müssen
unsere Haltung gegenüber dem Sozialismus grundlegend ändern.“
Ich verteidigte jene Ideen Lenins entschlossen, die uns auf den Weg der Reformen gebracht hatten und helfen
konnten, sie weiter durchzusetzen. Jeder Schritt fiel uns sehr schwer, weil er
auf den Widerstand von Reformfeinden
stieß und sich damit die Frage nach der
Reformierung der Partei selbst stellte.
In dieser Phase entstand der Entwurf
eines neuen Parteiprogramms, das im
Juli 1991 auf dem ZK-Plenum angenommen wurde. Wir strebten eine Sozialdemokratisierung an und dadurch
eine Spaltung der KPdSU.
Welche Empfindungen hege ich heute für Lenin? Ohne Zweifel ist er der
DIE THEMENBLÖCKE IN DER ÜBERSICHT: I. DAS JAHRHUNDERT DER IMPERIEN; II. … DER ENTDECKUNGEN;
III. … DER KRIEGE; IV. … DER BEFREIUNG; V. … DER MEDIZIN; VI. … DER ELEKTRONIK
UND DER KOMMUNIKATION; VII. … DES GETEILTEN DEUTSCHLAND: 50 JAHRE BUNDESREPUBLIK;
VIII. … DES SOZIALEN WANDELS ; IX. … DES KAPITALISMUS; X. DAS JAHRHUNDERT DES KOMMUNISMUS;
XI. … DES FASCHISMUS; XII. … DES GETEILTEN DEUTSCHLAND: 40 JAHRE DDR; XIII. … DER MASSENKULTUR
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Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Kultur
Szene
ARCHITEKTUR
Beton und Barock
B
FOTOS: J. BINDRIM / LAIF
etonklotz oder Meisterstück – darüber streiten ein Architektur-Preisgericht und die Bewohner der oberbergischen
Provinzstadt Nümbrecht. Der Förderverein für das dortige Barockschloß Homburg hatte einen europaweiten Wettbewerb
zur Museumserweiterung ausgeschrieben. Einstimmig entschied
sich Anfang Juni eine qualifiziert besetzte Jury für den Entwurf
des jungen Hamburger Büros Konermann, Pawlik, Siegmund:
Der festungsartige, kubische
Betonanbau, der auf den
Grundmauern einer alten Burg
errichtet werden soll, sei funktional und pfiffig. Allerdings
würde der Neubau den Blick
aufs alte Schloß verstellen –
und vorbei wäre es mit den
traditionellen Hochzeitsfotos
vor historisch-romantischer
Kulisse. Nun tobt der wütende Streit um das Nümbrechter Wahrzeichen: Kreistagsabgeordnete ließen eigens „Rettet unser Schloß“-Plakate
drucken, ein Minnesänger trug Barockschloß Homburg, Modell des geplanten Anbaus
Protestlieder vor, Leserbriefschreiber bezeichneten das Modell als „bunkerähnlich“. Al- von Gerkan, Marg und Partner gilt als gesichtslos und langlerdings kommen der zweite und dritte Platz ebenfalls nicht in weilig. Vorläufige Entwarnung für Brautpaare: Ob und was nun
Betracht. Der Glasbau des Münchner Büros Botti und Huber gebaut wird, entscheidet sich wohl erst nach der Kommunalist zu klein, der T-förmige Entwurf des Hamburger Großbüros wahl im kommenden Herbst.
BUCHMARKT
„Auch die Giganten
machen Fehler“
Der Berliner Verleger Oliver Schwarzkopf, 32, über die Vorteile von Fusionen
großer Buchverlage für die Kleinen der
Branche
kannten Namen. Und die müssen dann
mit Großauflagen Geld bringen. Doch
dazwischen bleiben vor allem im Sachbuch höchst reizvolle, bisweilen sogar
komfortable Nischen. In unserem Fall:
Szene, Kultur, Jugend, Lifestyle von
HipHop und Graffiti bis Gothic und
Techno.
SPIEGEL: Kürzlich haben sich die Riesen Holtzbrinck, Axel Springer und
Weltbild mit dem Online-Dienst der
gangenen Woche hat Brüssel die Entscheidung über die Buchpreisbindung
nochmals vertagt. Sind Sie als Independent-Verleger erleichtert?
Schwarzkopf: Die Buchpreisbindung ist
eine große Kulturleistung. Falls sie jemals fällt, wird sich die Verlagskonzentration beschleunigen. Interessanterweise haben wir aber bisher von den
Fusionen der Großen durchaus profitiert. Die Giganten sind so nervös, daß
sie einen Fehler nach dem anderen
machen und sich gegenseitig kannibalisieren.
SPIEGEL: Welche Fehler?
Schwarzkopf: Viele Großverlage setzen
nur noch auf wenige Autoren mit be-
W. BELLWINKEL
SPIEGEL: Herr Schwarzkopf, in der ver-
Schwarzkopf
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Deutschen Telekom zum InternetBuchhandel „Booxtra“ zusammengeschlossen. Was bedeutet das für
Ihren Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf?
Schwarzkopf: Online-Anbieter verkaufen in der Regel jedes Buch, das lieferbar ist. Und im Internet sieht ein kleiner Verlag fast genauso aus wie ein
großer. Die Leute suchen nach einem
Thema. Wenn sie das Stichwort HipHop
eingeben, finden sie vielleicht 20
Bücher, und unter den ersten drei sind
dann auch wir. Es steht nicht daneben,
daß dieses Buch von einem unabhängigen Verlag geliefert wird, der wenig
Werbegelder hat. Das Internet demokratisiert den Buchvertrieb, es gibt kleinen Verlagen große Chancen. Die neuen
Technologien kommen den Independents sehr zugute.
SPIEGEL: Träumt nicht jeder Verleger davon, irgendwann wenigstens einen mittelgroßen Betrieb zu führen?
Schwarzkopf: Auf gar keinen Fall, ehrlich nicht. Die Branchenkonzentration,
das Wegbrechen so vieler mittelgroßer
Verlage zeigt es ja: Zu groß zu werden,
das wäre unser Ende.
155
Szene
KUNST
Frankensteins Kinder
D
NATIONAL GALLERY OF AUSTRALIA, CANBERRA
ie Muse war eine billige, noch dazu kopflose Puppe: Seit
1924 hing die Schaufensterfigur in der Pariser Zentrale der
Surrealisten. Und hinterließ Eindruck: Exzentriker Salvador Dalí
ließ sich gern von der irrealen Welt der Menschendoubles zu
Thrillerkreationen animieren. 1938 behelmte er eine Modepuppe
mit einem Haifischgebiß und setzte sie ans Lenkrad seines Autos
– als Chauffeuse einer Kunstblondine, über die 200 Schnecken
krochen. Sein deutscher Kollege Hans Bellmer zerstückelte die
starren Mannequins, schraubte aus den Einzelteilen Monster
zusammen. Doch nicht nur Surrealisten vergriffen sich an den
Scheinwesen. Ob Marionetten oder Perückenbüsten: Puppen,
lebensnah und leblos zugleich, faszinierten viele Künstler des
frühen 20. Jahrhunderts, Futuristen wie Dadaisten. Die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf widmet der Irritationsquelle der Avantgarde von Samstag an die gut bestückte
Schau „Puppen Körper Automaten. Phantasmen der Moderne“
(bis 17. Oktober). Ausgestellt werden über 400 Werke, Giorgio de
Chiricos eiköpfige Gliederfiguren und plumpe Leiber Fernand
Légers, der den Menschen als Maschine begriff. Ab 1908 spazierten auch echte Menschen als bunte Puppen durch die Straßen:
Arbeitslose verdienten, zwischen Reklametafeln geklemmt, als
sogenannte Sandwichmänner ihren Lebensunterhalt – Künstlerin
Alexandra Exter inspirierten sie wiederum zu einem Kunstwerk. Exter-Sandwichmänner (1926)
AU S S T E L L U N G S S T O P P
Kino in Kürze
„So haben wir gelacht“. Glaubt man
diesem trübgestimmten Nachkriegsdrama des italienischen Star-Regisseurs
Gianni Amelio („Gestohlene Kinder“,
„Lamerica“), so muß im Turin der
Jahre 1958 bis 1964 ununterbrochen
Fiese Intrige?
Z
um Eklat kam es fünf Tage nach der
Eröffnung: Die Essener Kunstschau
„art open“ (SPIEGEL 28/1999), bis zum
8. August geplant, mußte am Donnerstag schließen. Die Messe, in deren Hallen die Ausstellung stattfand, schickte
die Kündigung. Begründung: zuwenig
Wachpersonal. Ausstellungschef Dieter
Walter Liedtke vermutet eine Intrige.
Er solle weichen, damit ein Neubau auf
dem Areal vorangetrieben werden
kann. Auch habe die Stadt Essen Stimmung gegen ihn gemacht: „Die fürchten
mein ungewöhnliches Konzept“, wütet
Liedtke, der endlich seiner „Kunstformel“ zur Berühmtheit verhelfen wollte.
N. ENKER
der Junge und jedes Mädchen gut aussieht, sobald
er oder sie die Brille absetzt, ist eine menschenfreundliche Legende, die
gern verbreitet wird.
Auch die Außenseiterin
(Rachael Leigh Cook)
entpuppt sich als süße
Maus, sobald sie Individualität, Grips und Augengläser an der Garderobe abgibt. Zur Strafe
hat sie einen gutaussehenden High-SchoolSprecher, Einserschüler
und Top-Athleten an der
Hacke. Die als Aschenputtelromanze getarnte
Konformitätsepistel spiel- Cook
te in den USA spektakuläre 65 Millionen Dollar ein. Dafür hätten sich die Zuschauerinnen lieber
schicke Brillen kaufen sollen.
schlechtes Wetter geherrscht haben. In sechs
Kapiteln – pro Jahr einem – blättert Amelio die
Geschichte des tatkräftigen, idealistischen Analphabeten Giovanni auf,
der aus Sizilien in den
unwirtlichen, aber reicheren Norden zieht, um
seinem labilen Bruder
Pietro bei dessen Ausbildung zum Lehrer zu helfen. Im Laufe der Jahre
verkompliziert sich die
Beziehung der ungleichen Bauernsöhne; sie
verstricken sich in ein
Wirrwarr aus Bruderliebe und Bruderhaß, Geheimnissen und Opferwillen. „So haben wir gelacht“, der 1998 den Hauptpreis des
Filmfests von Venedig gewann, beruft
sich auf große Vorläufer des italienischen Neorealismus, gerade Viscontis
„Rocco und seine Brüder“, reicht aber
nicht an sie heran. Amelio lädt die politische und moralische Tragik einer
ganzen Ära auf den Schultern seiner
verstörten Helden ab. Das ist mehr, als
sie tragen können.
KINOWELT
„Eine wie keine“. Daß je-
Liedtke
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Kultur
L I T E R AT U R
Schimpf und Schande
V
or zwei Jahren machte der Vorfall
Schlagzeilen: Ein Berliner Bassist
unterzeichnete, ausgerechnet während
eines Israel-Gastspiels seines Orchesters,
in der Hotelbar eine Rechnung mit
„Adolf Hitler“. Vergebens beteuerte der
Musikus danach, sein fataler Mißton sei
einer Augenblicks-Idiotie entsprungen:
Er wurde mit Schimpf und Schande nach
Hause geschickt und fristlos entlassen –
den Schriftsteller Friedrich Christian Delius, 56, inspirierte der Fall nun zu einer
Erzählung. „Was mir am meisten fehlt,
ist der Beifall“, hebt der Ich-Erzähler an;
auf Rat des Anwalts, der ihn gegen die
Kündigung vertritt, führt er eine Art Tagebuch. Der trostlose Held ist nach dem
Willen des Autors Opern-Posaunist. „Die
Flatterzunge“ – so der Delius-Titel –
gehört zu den schwierigsten Techniken
des Metiers. Seit seinem Blackout flattern dem Musiker eher die Nerven: „Die
Frauen meiden mich. Aus allen Vereinen
geschmissen, Lehrauftrag gestrichen,
bald gelte ich als gemeingefährlich.“ 25
Jahre in der Anonymität des Orchestergrabens hat er hinter, nackte Existenzangst vor sich. Mehr als die falschen
Feinde, die ihn wegen
seines Ausrasters als
Verbrecher behandeln,
fürchtet er die falschen
Freunde – Antisemiten, die ihm nun gratulieren. Dem Selbstmord nahe, grübelt er,
welcher Teufel ihn geritten hatte. Brachte
ihn der selbstgefällige
israelische Barmann
auf? War er unzurechnungsfähig, weil
ihm die Freundin kurz vor der verhängnisvollen Unterschrift einen Korb gab?
Er sinniert auch über das Unisono fürchterlicher Verdammung: Warum muß er,
der blöde Berliner Blechbläser, der Nation als Sündenbock für das angestaute
Unbehagen über die Vergangenheit dienen? Am Ende wird er unter Hinweis
auf seine unvergessene Bar-„Performance“ („Es war ein Augenblick seltsamer Wahrheit“) von einer Avantgardetruppe aus Tel Aviv zu einem musikalischen Gastspiel eingeladen: „Die Flatterzunge“ gibt sich, ohne großes literarisches Raffinement, als kleines Denkstück.
Am Rande
Nackte Wahrheit
Friedrich Christian Delius: „Die Flatterzunge“. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg; 144 Seiten; 29,80
Mark.
HÖRBUCH
„Viel zu deutsch“
ie Berliner dürfen sich mindestens bis zum Jahr 2016 an der
Ausstellung „Picasso und seine Zeit“
erfreuen: Kunstsammler Heinz Berggruen, 85, hat die Frist seiner Dauerleihgabe, im Stülerbau gegenüber
von Schloß Charlottenburg zu bewundern, um zehn Jahre verlängert:
Werke von Picasso, Cézanne und van
Gogh sind zu sehen – ein Kunstschatz. „Ich verleugne in keiner
Berggruen (in San Francisco 1939)
Weise meine jüdische Herkunft,
aber ich bekenne mich zu Deutschland“, so der in Berlin geborene Mäzen im Juni bei der Übergabe des Nationalpreises;
1936 hatte Berggruen dem Land den Rücken gekehrt, seit einigen Jahren lebt er wieder
hier. Seine Stimme ist jetzt auf einer CD verewigt, wo er Glossen und eigene Erzählungen liest. Er schrieb sie 1946 als US-Soldat im zerstörten Deutschland für eine Illustrierte, 1947 machte Rowohlt ein Buch („Angekreidet“) daraus. Berggruen, der später in Paris einen Kunsthandel aufbaute, zog in den Miniaturen über die Rechtfertigungsversuche der Nachkriegsdeutschen her („Und wenn wir durchgehalten hätten, was würden
wir alle für ein Leben führen!“). Da wird ein Brief in die USA geschickt, an den vertriebenen Mr. Silbermann, der ein Leumundszeugnis ausstellen soll über den Ex-Nachbarn: Rollenprosa vom Feinsten – wie die Erklärung des Kunstprofessors, der seine
Spitzweg-Studien nicht fortsetzen will („viel zu deutsch im Moment“). Die Texte, von
großer Anschaulichkeit, wurden 1998 unter dem Titel „Abendstunden in Demokratie“
bei Rowohlt Berlin neu aufgelegt, und so heißt nun auch die CD (Deutsche Grammophon, produziert von Bernstein Voices) – entlehnt einer Kleinanzeige im „Darmstädter
Echo“: „Junge Dame, Büroangestellte, gibt Abendstunden in Demokratie nach sechs.“
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BPK
D
„Homo homini lupus“ sagte der
englische Staatstheoretiker Hobbes
– der Mensch ist der schlimmste
Feind des Menschen. An deutschen
Gestaden ist in diesem Sommer
eine historisch neue Steigerungsform dieser ewigen Wahrheit zu
besichtigen: Der nackte Mensch
wird verfolgt vom angezogenen,
homo homini nudo lupus. „NacktKrieg an der Ostsee“ – so rüttelte
„Bild“ uns dezente Freunde von
Armani auf, wie stets als erste zur
Stelle, wenn Errungenschaften der
Zivilisation bedroht sind. Selbst bei
ausdrücklichem Verbot tummelt
sich nach einer Bademeister-Blitzumfrage inzwischen jeder vierte Urlauber hüllenlos im heißen
Ostsee-Sand. „Schamlos!“ schallt
es immer häufiger aus textilbewußten Strandkörben, und nur
mit Mühe können Strandwächter
handfeste ethische Säuberungen
verhindern.
Doch was will er eigentlich, der
nackte Mensch, der nicht am FKKStrand, sondern mitten unter uns
seine primären Geschlechtsmerkmale präsentiert, als gehörten sie
zur Auslage einer Ladengalerie?
Will er uns – mit Rousseau, Loriot
und den Sprüchen vom Damenklo
– zurufen, daß Natur überall und
immer schön sei? Wir alle wissen:
Die Wahrheit sieht anders aus. Sie
trägt Hängebauch, hat fleckige
Haut und krumme Beine, während
ihr Protagonist mit dem winzigen
Vorderlader übers Gelände paradiert wie ein taumelnder Spatz, der
sich zum Pfau berufen fühlt.
Der Homo nudus ist nicht nur ein
Visionär des perfekten Pos, ein Prophet von Brust und Beinen, sondern
auch ein blinder Phantast und rettungsloser Utopist – eine Gefahr für
die Menschheit. Deshalb fordern
wir: Nfor-Truppen an die Ostseefront. Entwaffnung aller Nackten.
Zieht ihnen die Hosen an.
157
Kultur
AU T O R E N
„Lektion der Vergänglichkeit“
SPIEGEL-Gespräch mit dem Schriftsteller Arnold Stadler über den
Büchner-Preis, seine südbadische Geburtsstadt Meßkirch, Gott und den Tod als Romanthema
D
G. GERSTER
händler“ – so die vom Autor geie erste nachdrückliche und
wünschte Titelschreibweise*.
prominente Empfehlung kam
Dabei erzeugt die scheinbare Nähe
1994 von Martin Walser und
von Ich-Erzähler und Autor einen poestand im SPIEGEL (31/1994): „Das ist
tischen Schwebezustand zwischen Fikein Ton“, begann trompetengleich der
tion und Realität: „Nach der ReifeHinweis des Mannes vom Bodensee
prüfung die erste Reise meines Lebens.
auf den in Meßkirch geborenen jünBis dahin war ich eigentlich nur nach
geren Kollegen. Die schönste Wirkung
Schwackenreute, Meßkirch oder in
eines Buches sei doch, schrieb Walser
den Stall gekommen, wo ich eigentin Anspielung auf einen Satz von Marlich am liebsten war.“ Das ist der von
cel Proust, „daß wir beim Lesen empWalser beschworene Stadler-Ton: Lafinden, wir läsen gar nicht mehr in
konisch, auch komisch wird da ein Leeinem anderen Leben, sondern im eiben zwischen Kindheit in der Bauerngenen“.
stube und Theologiestudium in Rom
In diesem Jahr nun wird der so gebeschrieben. Stadler, der später noch
lobte Arnold Stadler, 45, den BüchnerGermanistik studierte, promovierte
Preis, den bedeutendsten deutschen Li1986 und publizierte den Gedichtband
teraturpreis, erhalten – nachdem er zu„Kein Herz und keine Seele“.
vor schon diverse Förderpreise und
Die neue Ehe- und Dreiecksge1998 den Kaschnitz-Preis entgegennehschichte bietet pure Rollenprosa: Sein
men konnte. Zugleich trat er das tradiErzähler, ein frühpensionierter Getionsreiche Amt des Stadtschreibers
schichtslehrer, ist ein mehr als fragvon Bergen-Enkheim an. Dort, im
würdiger Gewährsmann. Er berichtet,
Stadtschreiberhaus, fand jetzt auch das
wie ein Schrotthändler namens AdriSPIEGEL-Gespräch statt, in dem Stadan der Dritte im Bunde wird und daler einem oft geäußerten und vom Gebei – trotz Erpressung und Terror –
stus seiner Prosa nahegelegten Verdacht Autor Stadler: Eine Art Grabredner
nicht allein die Ehefrau, eine Ärztin,
entgegentritt: „Obwohl ich dauernd
,ich‘ sage und schreibe, spricht so stets nur ein Stellvertreter-Ich – erotisch fasziniert. Auch für dieses Buch gilt, was Martin Walser
in seiner Huldigung Stadlers (siehe Seite 161) treffend formuliert
meine Bücher sind nicht autobiographisch gemeint.“
Dennoch geht von allen diesen Büchern eine bezaubernde hat: Oft bilde sich eine ganze „Existenzdimension“ in einem
autobiographische Suggestion aus: beginnend mit der heimatli- einzigen Satz ab.
chen Romantrilogie „Ich war einmal“ (1989), „Feuerland“ (1992)
und „Mein Hund, meine Sau, mein Leben“ (1994) bis hin zu * Arnold Stadler: „Ein hinreissender Schrotthändler“. DuMont Buchverlag, Köln;
dem gerade erschienenen Roman „Ein hinreissender Schrott- 240 Seiten; 39,80 Mark.
SPIEGEL: Herr Stadler, auf welchem Fuß hat
Sie die Nachricht erwischt, daß Sie den
diesjährigen Büchner-Preis bekommen?
Stadler: Als ich vom Büchner-Preis am Telefon erfuhr, es war an einem Freitag fünf
vor zwölf mittags, stand ich aufrecht, mit
beiden Beinen, in der kleinen Küche hier im
Stadtschreiber-Haus von Bergen-Enkheim.
Spontan habe ich über das Handy dem Anrufer Christian Meier, dem Präsidenten der
Akademie, die den Preis vergibt, gesagt:
„Sie zeigen mir meine Vergänglichkeit vor“
– das entsprach meinem Gefühl.
SPIEGEL: Meinten Sie das so, wie es in einem Ihrer Bücher heißt: „Je mehr wir wurDas Gespräch führte SPIEGEL-Redakteur Mathias
Schreiber.
158
den, desto weniger war ich“? Endlich berühmt, aber verloren die Kraft und der
Charme des Frühwerks?
Stadler: Sie drohen mir ja direkt damit!
Nein, als Schriftsteller wird man heute
doch nicht mehr berühmt. Das werden allenfalls Models, Popstars, Rennfahrer.
SPIEGEL: Ist Grass nicht berühmt?
Stadler: Nicht so wie Michael Schumacher.
SPIEGEL: Ein Kapitel Ihres neuen Romans
„Ein hinreissender Schrotthändler“ hat die
Überschrift „Unser Name steht auf dem
Triumphbogen“. Eine Ahnung bevorstehenden Dichter-Lorbeers?
Stadler: Auf dem Pariser Triumphbogen
steht der Ortsname „Meßkirch“, er steht
für die Besiegten einer historischen
Schlacht. Also ein trauriger Ruhm.
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SPIEGEL: In Ihrem Buch „Mein Hund, meine
Sau, mein Leben“ tritt der Philosoph Martin Heidegger auf, der wie Sie in Meßkirch
geboren wurde. Der Denker gehört zu den
„erbittertsten Feinden der schwarzen Kuh“,
die aus Ostfriesland in den südbadischen
„Fleckviehgau“ importiert wurde. Mitstreiter des Philosophen ist sein Vetter, der
„Viehhändler Heidegger“, der für den Denker uralte, vermeintlich heile Wörter sammeln mußte. Haben Sie das alles erfunden?
Stadler: Nein, in Meßkirch habe ich das
Gymnasium besucht, als es, nach einem
Heidegger-Text, den Namen „Gymnasium
am Feldweg“ erhielt – dazu schickte der
Philosoph ein Grußwort; seit seinem Tod
heißt es „Heidegger-Gymnasium“. Ich sehe
Heidegger noch vor mir, wie er nach einem
T. BARTH / ZEITENSPIEGEL
Stadler-Thema Meßkirch in Südbaden: „Jede ernstzunehmende Dichtung ist auch Heimatdichtung“
rollt hat. Heidegger glaubte, in jener entlegenen Gegend sei die Sprache noch heil; ich
dagegen erkenne dort eher die Heillosigkeit
der Sprache. Das Meßkircher Deutsch, meine Muttersprache, war meine erste Fremdsprache.
SPIEGEL: Sie beschreiben die dörfliche Idylle als ziemlich wüste Gegend: Drohbriefe,
Schläge mit dem Stecken, schamlose Lügen, eingeleitet durch die Formel: „Ich soll
tot umfallen, wenn das nicht stimmt!“,
Selbstmordgelüste, Streit um Alimente, genannt das „Hosenladengeld“, überhaupt
jede Menge Grobheit und „Geschrei im
Herrgottswinkel“. Sind kleine Dörfer wie
Schwackenreute oder Kreenheinstetten …
Stadler: … die heißen dort wirklich so ...
SPIEGEL: … für Sie große Höllen?
Stadler: Ich wollte mich nicht mit dieser
Welt soziologisch auseinandersetzen, ich
D. MELLER MARCOVICZ
Vortrag, mittags um halb zwei, mit seinem
Bruder nach Hause schlurfte, wohl zum
Mittagsschlaf. Er hat ja immer wieder in
Meßkirch gesprochen. Der Viehhändler ist
erfunden, aber es könnte so gewesen sein,
Heidegger hatte solche Verwandte und
schätzte urtümliche Wörter. Was ist gegen
einen Viehhändler zu sagen?
SPIEGEL: Nichts. Aber wieso kämpfen Denker und Händler gegen die schwarze Kuh?
Stadler: Die schwarze Kuh ist mehr mein
Problem. Sie repräsentiert einen Zustand,
von dem Heidegger auch sprach: die Konstitution des Menschen auf dem Land. Ich
meine eine bestimmte Krankheit dieses
Menschen: sein langsames Aussterben, die
Schmerzlaute seiner Sprache, daß seine
Schweine in die Städte verfrachtet und industriell ausgeschlachtet werden wie seine
alten Wörter, die das Fernsehen längst über-
wollte mein Buch schreiben, und da kann
man nur von seiner kleinen Welt ausgehen. Während ich über diese Welt schrieb,
wurde sie mir immer weniger geheuer, aber
auch immer einleuchtender. Ich bin mit der
Ungeheuerlichkeit und Hinfälligkeit dieser Dinge groß geworden – es war meine
erste Erfahrung des Befremdetseins. Und
wichtiger als alles, was ich schildere, ist die
Sprache, die ich dabei finde.
SPIEGEL: Wieso kommen Sie dann regelmäßig auf Schwackenreute zurück?
Stadler: Ich finde diesen Namen eindrücklich lächerlich – er steht gut für die eindrückliche Lächerlichkeit all dieser Untergangsgeschichten, die ich erzähle.
SPIEGEL: Wollen Sie auch Heidegger, wie
Thomas Bernhard oder Günther Grass es
taten, lächerlich machen?
Stadler: Ich habe zu Heidegger – anders
als Bernhard, der in „Alte Meister“ bloß einen Heidegger-Bildband paraphrasiert –
durchaus eine Beziehung. „Sein und Zeit“
ist für mich eines der allergrößten Bücher
dieses Jahrhunderts, ich lese immer wieder
darin, etwa über die Angst, die Sorge und
den Tod, in diesem Buch von 1927 hat Heidegger vielen Schriftstellern Stichworte
und Schlüsselsätze geliefert, an denen sie
weiterschreiben konnten. Ich lese „Sein
und Zeit“ als Literatur, etwa so wie „Don
Quijote“, nicht als Traktat.
SPIEGEL: Sind Sie wirklich, wie Sie einmal
schreiben, mit dem barocken Prediger
Abraham a Sancta Clara verwandt?
Ehepaar Heidegger im Schwarzwald (1968)
In urigen Landstrichen
Suche nach urtümlichen Wörtern
159
D. MELLER MARCOVICZ
strich, wo über Jahrhunderte allenfalls 2000 Menschen am sogenannten Geschlechtsverkehr teilnehmen und es kaum Migration
gibt, wäre das kein Wunder.
SPIEGEL: Im „Hinreissenden
Schrotthändler“ leidet ein
bodenständiger, frühpen- Gymnasium in Meßkirch, Schüler: Grußwort vom Denker
sionierter Geschichtslehrer
unter seiner Ehefrau, einer flatterigen, un- Stadler: Lustvoll schmerzvoll und treu, aber
treuen Ärztin und Zeitgeist-Muse aus dem unglücklich, mit dem Blick darauf, daß für
feinen Hamburg, die nicht einmal die Na- mich das Schreiben eine Art Beschäftimen ihrer Großeltern auswendig kennt. gungstherapie aus Schmerz über Kürze
Steckt darin nicht doch ein Liebesgruß an und Verlauf dieses Lebens hier bleibt, also
das ach so kranke, aber immerhin traditi- stets mehr meint als Schwackenreute.
onsverbundene Dorf im Süden? Sind Sie, Eigentlich ist es kein Eintauchen ins Verbei allem Sarkasmus, nicht doch ein heim- lorene, sondern eine Vergegenwärtigung –
licher Heimatdichter?
darin steckt auch eine, wahrscheinlich
Stadler: Heideggers „Feldweg“-Text von vergebliche und nur nachträgliche, Wi1949, das ist Heimatdichtung, furchtbar derstandsleistung gegen die Uniformiekitschig und fast Blut und Boden. So etwas rung und gegen den totalitären Zugriff
war schon damals unmöglich. Ich fühle der Glotze, die ja bewirkt hat, daß etwa
mich nicht derartig mit der Heimat ver- die alemannische Muttersprache – „’s isch
bunden. Man bringt fälschlicherweise, oft schad derfür!“ – praktisch ausgestoraus Unkenntnis, „Heimat“ mit „Land“ zu- ben ist.
sammen. Jede ernstzunehmende Dichtung SPIEGEL: Wieso ist es darum schade, wenn
ist auch Heimatdichtung, wo Ort und Spra- es doch die Sprache von lauter kranken
che einander begegnen, zum Beispiel: Tho- Dörflern war?
mas Mann und Lübeck, Alfred Döblin und Stadler: Das ist eine der Aporien, der unBerlin. Die merkwürdige Landschaft, aus lösbaren Widersprüche meiner Arbeit, da
der ich komme, ermöglichte mir einen gebe ich Ihnen recht. Aber ich werte ja den
Sprachraum, aber noch lange keine Hei- Zustand dieser kleinen Welt nicht eigentmat. Auch wenn ich eine von meiner Ge- lich, ich reagiere nur sprachlich und fragmeinde ausgestellte sogenannte Heimat- mentarisch auf meinen Raum, mit einem
berechtigung besitze, ein amtliches For- lachenden Auge, das weint.
mular, aus dem hervorgeht, daß ich „durch SPIEGEL: Die Sprache, sagen Sie einmal,
Abstammung und Geburt hier heimatbe- geht „über Leichen“.
rechtigt“ bin. Meine Erfahrung ist aber im Stadler: Auch der Leser dieser Sprache.
Grunde mehr eine der Heimatlosigkeit ... SPIEGEL: Danke. Im „Hinreissenden SchrottSPIEGEL: ... bei deren Übersetzung in Spra- händler“ intoniert Gabi die Wendung
che Sie lustvoll in eben diese Heimatwelt „mein Mann“, als ob „sie ,mein Grabstein‘
gesagt hätte“. Häufig spielt das sehr selbsteintauchen.
T. BARTH / ZEITENSPIEGEL
Stadler: In einem Land-
Heidegger in Todtnauberg (mit Rudolf Augstein, 1966): Schlüsselsätze über die Angst
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kritische Stadlersche Erzähler-Ich mit dem
Gedanken, „Schluß zu machen“. Neigen
Sie zur Selbstgeißelung?
Stadler: Ich bin nicht mein Psychiater. Gewiß enthält meine Sprach-Welt lauter Lektionen unserer Vergänglichkeit, darum
habe ich ja zunächst Theologie studiert.
Der Tod verschlägt mir die Sprache, aber er
ist auch etwas zum Lachen, er macht in
gewisser Weise das Leben sogar leichter.
Ich hasse den Tod nicht, wie es zum Beispiel Elias Canetti tat. Ich bin doch auch als
Schriftsteller eine Art Grabredner: Vergegenwärtiger von etwas, das vorbei ist.
SPIEGEL: Kardinal Buffi, eine Ihrer Romanfiguren, will Papst werden – „wie ich“.
Spricht da das reale Ich von Arnold Stadler, dem Ex-Theologen?
Stadler: Da spricht das katholische Kind
vom Land. Ich selbst habe davon nie geträumt. Obwohl ich dauernd „ich“ sage
und schreibe, spricht so stets nur ein Stellvertreter-Ich – meine Bücher sind nicht autobiographisch gemeint.
SPIEGEL: Aber sie sind autobiographisch
grundiert. Sie haben davon geträumt, Stellvertreter Gottes auf Erden zu sein?
Stadler: Das sind wir doch alle, sofern wir
an Gott glauben.Wir müssen für ihn durchsetzen, was „Liebe“ sein könnte.
SPIEGEL: Es sei, sagen Sie an einer Stelle des
„Schrotthändlers“, heute leichter, ohne
Schamröte das Wort „ficken“ auszusprechen, als über Gott zu reden.
Stadler: Eine meiner Figuren sehnt sich
nach einem Menschen, mit dem sie über
Gott reden kann, ohne dabei ausgelacht
zu werden. Gott ist ein neues Tabu, wohl
das letzte Tabu unserer Zeit. Das ist auch
verständlich, andererseits, da der Mensch
jahrhundertelang mit Gott-Gerede traktiert wurde.
SPIEGEL: Ist Gott nicht – endgültig – in
Auschwitz gestorben?
Stadler: Der allmächtige Gute ja, aber den
hat es eigentlich nie gegeben. Lesen Sie
mal die Psalmen, ich habe gerade 50 neu
übersetzt. Wir sehnen uns zuweilen nach
Dingen, die es möglicherweise gar nicht
gibt. So könnte das mit Gott auch sein.
SPIEGEL: Ist Gott mehr als eine Metapher
für das letztlich ungelöste Rätsel unseres
Daseins?
Stadler: Ich hatte bisher noch keine Erscheinung. Aber ich kann im SPIEGEL keine Beichte ablegen, ob ich an Gott glaube
oder nicht. Es wäre schön, wenn es diesen
Gott Abrahams gäbe – und wenn diese
Welt nicht so miserabel wäre.
SPIEGEL: Sie haben Johann Peter Hebels
Gedicht „Die Vergänglichkeit“ in einem
Essay als „Einsamkeitserklärung eines
Übriggebliebenen“ gedeutet. War das eine
Selbsterkenntnis?
Stadler: Die Einsamkeit ist eines der Standbeine des Menschen, auch eines von mir,
denn auch ich bin ein Mensch.
SPIEGEL: Herr Stadler, wir danken Ihnen
für dieses Gespräch.
A. STEFFEN
Kultur
Autoren Walser, Stadler (am Bodensee): „Wir sind ein Orden“
Über das Verbergen
der Verzweiflung
Von Martin Walser
W
ann immer ich Arnold Stadler
lese, merke ich, daß er weiß, es
schicke sich nicht zuzugeben, wie
verzweifelt man ist oder sein kann oder eigentlich sein müßte. Arnold Stadlers Prosa
lebt von abenteuerlichen Aufschwüngen,
von mutwilligen Fiktionen, die ihm so konkret gedeihen, daß ein argloser Leser glauben kann, ihretwegen, dieser konkreten Fiktionen wegen werde erzählt. Aber arglos
kann ein Arnold-Stadler-Leser nicht bleiben. Im übermütig schweifenden Prosafluß
tauchen ganz jäh, aber nur scheinbar unvermittelt, Sätze auf, die schmerzlich scharf
sind. „Was mich an Bord hielt, war mein
fehlender Charakter“, heißt es da auf einmal. Arnold Stadler ist ein Selbstbezichtigungsvirtuose. Das Unstatthafte dieser Virtuosität, das heißt, der Umstand, daß man
im Sichheruntermachen kein Meister sein
darf, weil ja ein Meister keinen Grund hat,
sich herunterzumachen, dieses rein Stadlersche Dilemma wird zur Quelle seines
Humors, den man einen schreienden Humor nennen darf, oder seiner Ironie, die eine krasse Ironie genannt werden muß, oder
eben, wenn ihm nach nichts mehr zumute
ist, zur Quelle einer Verzweiflung, die er auf
eine sie entblößende Art verbergen muß.
Einmal sprachen wir über jemanden, den
wir beide kennen; Arnold sagte: „Den mag
ich nicht.“ Und fügte gleich hinzu: „Aber
da kann der nichts dafür.“ Also, Arnold ist
selber schuld, daß er jemanden nicht mag.
Es könnte ja befreiend, sogar ein bißchen
erlösend wirken, wenn man einem Freund
sagt, den und den mag ich nicht.Wenn man
aber gleich dazufügen muß, daß der, den
man nicht mag, nicht verdient, nicht gemocht zu werden, dann kehrt sich die Aussage schnell gegen den Aussagenden. Er
wirft es sich nahezu vor, daß er den und den
nicht mag. Das ist Selbstbezichtigungsvirtuosität. Und wie tief drin die entspringt,
zeigt sich, wenn sie so gesprächsweise und
beiläufig herauskommt. Ich spüre darin die
Urverfassung des Sprachmenschen: die Abgeneigtheit und Unfähigkeit, auf sich zu bestehen. Die wohnt eng zusammen mit der
Hoffnung, die ganze Welt erlösen zu müssen, erlösen zu können, erlösen zu dürfen.
Natürlich nicht durch Religionsstiftung, sondern durch Witz und Aberwitz.Aber was ist
Religionsstiftung anderes. Diese nichtswürdige Gloriole ist uns bekannt von Pascal bis Robert Walser. Und erzbekannt
durch Seuse. Unseren lokalen Nichtswürdigkeitsausbund, der uns gelehrt hat, aus
Wunden Rosen zu machen und die Rosen
dann als Wunden vorzuführen. Das Prinzip:
sich selber geißeln, weil das die Welt vielleicht davon abhält, uns zu geißeln, und
weil es, wenn man’s selber besorgt, weniger
weh tut. Das ist jetzt natürlich arg verd e r
s p i e g e l
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nünftig gesagt. Von seinem Johann Peter
Hebel sagt Arnold Stadler einmal, er sei gewesen „… fromm und ungläubig, glaube
ich“. Die schöne Aufgehobenheit, die er
durch die beiden Adjektive stiftet, wird
durch den ebenso sanften wie virtuosen
Unmaßgeblichkeitsschlenker, durch ein gerade noch hingehauchtes „glaube ich“ ins
Wanken gebracht. Es darf nicht nur nichts
übrigbleiben; es darf nicht einmal übrigbleiben, daß sicher ist, daß nichts übrigbleibt. Diese Figur beherrscht Arnold Stadler besser als jeder andere, nein, nein, unmöglich zu sagen, er beherrsche diese Figur,
wo doch diese Figur, diese Zerreibungspotenz es ist, die ihn beherrscht. „Mich zerriß
es vor Schmerz, daß es mich nicht vor
Schmerz zerriß.“ Das ist die Auflösung von
gar aller Positivität in die reine Bewegung.
Negationsbewegung. Das ist Arnold Stadlers Infinitesimalbewegung. Es darf nichts
bestehen bleiben. „Der Heuberg, der meiner Traurigkeit entgegenkam.“ Damit
könnte man doch einen Eindruck machen.
Aber bei Arnold Stadler: „Wenn es Traurigkeit war, was es war.“ Oder: „Kurzes Leben, kurzer Schmerz.“ Würde auch dem
und jenem genügen. Aber bei Arnold Stadler steht an anderer Stelle: „Aber ich glaube nicht, daß die Zeit vergeht.“
Ich will Arnold Stadler jetzt nicht auf
diesen Zerreibungszwang spezialisieren
und festlegen. Aber daß er ein Meister dieser Figur ist, wird man wohl sagen dürfen.
Und jetzt will ich nicht noch einmal, wie
am Anfang, auf die sentimentale Amateurmoral hereinfallen, die meint, es sei
unsittlich, im Ausdruck des Nichtsseins ein
Meister zu sein. Es ist ja der Ausdruck, der
gelingt, nicht das so und so flackernde Dasein. Das meldet sich, nachdem es wieder
einmal ausgedrückt worden ist, in seiner
ganzen Unbestehbarkeit zurück. Wie heiter man scheinen muß, wenn man ausdrücken muß, wie unheiter man ist, das ist
„Wo Schmerz durchbrechen will,
wird er in Grund
und Boden geschrieben“
bei Arnold Stadler zu erfahren. Man muß
den Schein züchten, bis er sich selber fortsetzt. Aber er läßt eben bei Arnold Stadler
nie vergessen, daß er Schein ist. Bei Arnold
Stadler stört er sich immer wieder selber,
der Schein. Aber wo und wann auch immer
der reine Schmerz durchbrechen will,
hochbluten will, wird er gleich wieder niedergeschrieben, zugeschrieben, in Grund
und Boden geschrieben, zum Verstummen
gebracht durch nichts als Ausdruck, dem
man natürlich ansieht, daß er eine
Schmerzverstummungsgeste ist.
Öfter bildet sich seine Existenzdimension in einem einzigen Satz ab. Die Fischvergiftung, die seinem erzählten Ich, seiner
höchstpersönlichen Abenteurerversion im
„Ausflug nach Afrika“ verpaßt wird, quit161
Kultur
tiert der Erzähler so: „… doch das hat nur
zu einer Leberschwellung und diese zum
Schmerz und dieser zu mir geführt.“ Das
ist Sprachmenschenart à la Stadler.
Wir sind ein Orden. Die Regel ist nicht
formuliert, aber jedem bekannt. Bekannt,
solange er nicht versucht, sie zu formulieren. Eine Zeitlang habe ich gedacht, unse-
Bestseller
rem Orden, dem Sprachmenschenorden
gehöre der eine mehr an als ein anderer.
Jetzt glaube ich, der Orden zähle viel, viel
mehr Mitglieder, als man ahnen kann. Lesende und Schreibende gleichermaßen.
Und alle Unterschiede zu anderen Ordensmitgliedern sind, verglichen mit den
Unterschieden zu anders Handelnden, verIm Auftrag des SPIEGEL wöchentlich
ermittelt vom Fachmagazin „Buchreport“
Belletristik
Sachbücher
1 (1) John Irving Witwe für ein Jahr
1 (2) Sigrid Damm Christiane und
Goethe Insel; 49,80 Mark
Diogenes; 49,90 Mark
2 (2) Henning Mankell Die falsche
Fährte Zsolnay; 45 Mark
2 (1) Waris Dirie Wüstenblume
3 (–) Donna Leon
Nobiltà
3 (3) Corinne Hofmann Die weiße
Massai A1; 39,80 Mark
Diogenes; 39,90 Mark
Commissario
Brunetti ermittelt
diesmal in
Adelskreisen
4 (3) Henning Mankell Die fünfte Frau
Schneekluth; 39,80 Mark
4 (5) Tahar Ben Jelloun Papa, was ist
ein Fremder? Rowohlt Berlin; 29,80 Mark
5 (4) Klaus Bednarz Ballade vom
Baikalsee Europa; 39,80 Mark
6 (6) Ruth Picardie Es wird mir
fehlen, das Leben Wunderlich; 29,80 Mark
Zsolnay; 39,80 Mark
5 (4) John Grisham Der Verrat
7 (9) Daniel Goeudevert
Mit Träumen beginnt die Realität
Hoffmann und Campe; 44,90 Mark
Rowohlt Berlin; 39,80 Mark
6 (5) Walter Moers Die 131/2 Leben
des Käpt’n Blaubär Eichborn; 49,80 Mark
8 (7) Dale Carnegie Sorge dich
nicht, lebe! Scherz; 46 Mark
7 (6) Marianne Fredriksson Simon
9 (8) Guido Knopp Kanzler – Die
Mächtigen der Republik
W. Krüger; 39,80 Mark
8 (7) Maeve Binchy Ein Haus in Irland
Droemer; 39,90 Mark
C. Bertelsmann; 46,90 Mark
10 (10) Jon Krakauer In eisige Höhen
Malik; 39,80 Mark
9 (8) John le Carré Single & Single
Kiepenheuer & Witsch; 45 Mark
10 (9) Minette Walters Wellenbrecher
Goldmann; 44,90 Mark
11 (10) P. D. James Was gut und
böse ist Droemer; 39,90 Mark
11 (13) Jon Krakauer Auf den Gipfeln
der Welt Malik; 39,80 Mark
12 (11) Gary Kinder Das Goldschiff
Malik; 39,80 Mark
13 (12) Peter Kelder Die Fünf
„Tibeter“ Integral; 22 Mark
12 (12) Paulo Coelho Der Alchimist
14 (–) Bodo Schäfer
Der Weg zur
13 (11) Tom Clancy Operation Rainbow finanziellen Freiheit
Diogenes; 32 Mark
Heyne; 49,80 Mark
14 (15) Terry Brooks Star Wars –
Episode 1: Die dunkle Bedrohung
Campus; 39,80 Mark
Ein Millionär gibt
Ratschläge
fürs Reichwerden
Blanvalet; 29,90 Mark
15 (14) David Guterson Östlich der
Berge Berlin; 39,80 Mark
162
15 (14) Gerd Ruge Sibirisches Tagebuch
Berlin; 39,80 Mark
d e r
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nachlässigenswert. Jeder von uns macht
seine Mitgliedschaft auf seine Weise kenntlich. Fast ein Grundzug: und verbirgt sich
in der Kenntlichmachung auf seine Weise.
Das Verbergenmüssen zeichnet uns mehr
aus als das Aussprechen. Wer davon lebt,
davon existiert, daß er sich zur Sprache
bringt, demonstriert, daß man im Verbergenmüssen mehr von sich preisgibt als im
Gestehen. Wer nichts zu verbergen hat, hat
nichts zu sagen. Und Verzweiflung ist unter dem, was zu verbergen ist, nicht das
Unwichtigste. Stilistik ist weit mehr Verbergens- als Ausdruckskunst. Und durch
diesen gebändigten Schein brechen dann
zum Beispiel bei Arnold Stadler die Satzgeschosse durch. „Wer weint, hat recht“
heißt es plötzlich. Dann geht’s weiter im
Text. Das heißt: in der Disziplin.
Auf Arnold Stadlers Seiten kann man
hinschauen wie auf eine Landschaft, die
sich geniert, schön zu sein, und die deshalb
„In der Sprache finden sich
alle unsere Einsamkeiten
zusammen zu einer einzigen“
regelmäßig wüste Vulkanereien anstellt,
einfach um den Frieden zu stören, der eben
nicht Schein ist, sondern falscher Schein.
Das heißt, undurchschaute Stimmung.
In der Sprache, die Ausdruck genannt
werden darf, finden sich alle unsere Einsamkeiten zusammen zu einer einzigen.
Und obwohl das nichts bringt, zu nichts
führt, zu nichts Positivem, Lebbarem, Beruhigendem, Einfriedendem, ist es doch
eine schöne Vorstellung, daß die Sprache
ein Element sei, in dem sich lauter einsame
und natürlich stumme Fische tummeln, und
daß wir verbunden scheinen miteinander
durch dieses Element, in dem wir ausdrücken, daß wir ziemlich stumm sind.
Ich bin froh, Arnold Stadler in der Sprache begegnet zu sein, weil seine Art,
Sprachmensch zu sein, mich erleben läßt,
wie unterhaltend es sein kann, der Verzweiflung die Schau zu stehlen. Dafür danke ich ihm jetzt und noch länger. Schließen
möchte ich mit einer Stadler-Passage, die in
aller Kürze die ganze Strecke enthält: „Als
ich nach Hause kam, ging ich zuerst zum
Kühlschrank und habe meinen Durst gelöscht mit Bier. Dann habe ich geweint. Ich
habe so laut geschrien, daß die Bilder von
der Wand fielen. Aber es hingen keine Bilder an der Wand, und sie wären nicht von
der Wand gefallen. Und ich hörte auch bald
wieder auf zu weinen und machte etwas
anderes.“
Das ist sein Programm. Das hat er im Titel seines Gedichtbandes, vollkommen einfach und einfach vollkommen, so ausgedrückt:
Kein Herz
und
keine Seele
Man muß es singen können.
™
FILM
Schwarze
Messe
Das letzte Geheimnis des
amerikanischen Kinosommers ist
gelüftet: Stanley Kubricks
„Eyes Wide Shut“ erweist sich als
schwergängiges Ehekrisenstück.
I
FOTOS: WARNER BROS.
n der englischen Grafschaft Hertfordshire ist es nicht erlaubt, daß Leute sich
im eigenen Garten beerdigen lassen.
Die einzige Ausnahme, bis vor kurzem,
wurde für den Schriftsteller George Bernard Shaw gemacht, immerhin vor einem
halben Jahrhundert. Und nun die zweite,
für den Filmemacher Stanley Kubrick: Seit
vier Monaten liegt er im Park seines An- Star-Paar Cruise, Kidman: Ist Begehren männlich oder weiblich?
wesens bei St. Albans begraben. Er liegt
dort nicht allein, sondern im Kreis der
Kubrick hat die Filmrechte an der Er- führungslust, Sehnsucht und untergründiHunde und Katzen, die ihm im Lauf der zählung, die wohl im Wien der Jahrhun- ger Angst vor sich selbst ausspielt und wie
Jahre vorausgestorben sind. Kubrick soll dertwende spielt, vor bald 30 Jahren er- ihr Gegenüber Tom Cruise, von Eifersucht
ein seltsam menschenscheuer, berüh- worben – mit Hilfe eines Strohmanns, weil wie von einem Blitz getroffen, erbleicht, errungsscheuer Monolith gewesen sein, doch er seit je ein Geheimniskrämer war und starrt, verstummt und schließlich in die
er liebte die Körpernähe von Tieren.
um nicht durch seine Prominenz den Preis Nacht hinausflieht: Das hat eine atemrauEr ist, wie die Redensart sagt, nach ge- hochzutreiben –, und er hat angeblich da- bende Intimität, eine Spannung auf höchtaner Arbeit sanft entschlafen, knapp eine mals auch alle Exemplare der englisch- stem Ingmar-Bergman-Niveau, wie sie geWoche nachdem er seinen letzten Film sprachigen Buchausgabe aufgekauft, als rade im US-Kino kaum je zu finden ist.
Diese Szene findet ein Gegenstück von
„Eyes Wide Shut“ fertiggestellt hatte. Und würde dadurch erst sein Geheimnis ganz
vergleichbarer Intensität, als der Mann nach
er war noch seinen letzten Lebenstag lang ihm allein gehören.
damit beschäftigt, in stunWelches literarische Mo- einer abenteuerlich-alptraumhaften Nacht
denlangen Telefonaten die
tiv ihn so traf und faszi- ins Ehebett zurückfindet, wo nichts je
Werbekampagne für desnierte, macht „Eyes Wide wieder sein wird, wie es einmal war. Dasen Kinostart zu instruShut“ offenbar: Es ist die zwischen jedoch, Episode um Episode
mentieren: Der Film sollte
Geschichte eines Mannes, Schnitzlers Vorgaben treu, erlebt der Mann
in ein großes Geheimnis
der durch einen plötzlichen – während in seinem Hinterkopf als Endgehüllt werden.
Ausbruch von Paranoia aus losschleife der imaginierte Eifersuchtsfilm
Leider muß man ja erst
seinem Seelenfrieden und läuft, der ihm seine Frau in den Armen des
sterben, um eine Apotheoseiner sicheren Lebens- Fremden zeigt – eine Folge von Begegnunse zu kriegen. Zumindest
bahn geworfen wird. Ku- gen mit anderen Frauen: immer erregender,
den Werbestrategen also
brick hat den Stoff ins heu- bizarrer, frustrierender.
Höhe- und Schlußpunkt dieser Initiamuß Kubricks Tod geletige New York transponiert,
gen gekommen sein, um
wo es am vornehmsten ist: tionsreise ist ein großes Maskenfest, bei
das kaum noch erwartete
Da bewohnt der Arzt dem eine Orgie im Stil einer schwarzen
Comeback eines AltmeiDr. Harford mit Frau und Messe zelebriert wird. Dieses pathetische
sters (zwölf Jahre nach seiTöchterchen eine elegante Sex-Ritual hat schon in Schnitzlers Schilnem letzten Film) zum sin- Regisseur Kubrick (1998)
Wohnung, und da hat er derung wenig Realität, vielmehr die Fiebgulären Ereignis hochzustieine Millionärsklientel, die rigkeit einer Männerphantasie aus der
lisieren. Nun aber, da das außerordentliche seine Fürsorge und Verläßlichkeit zu schät- Klippschule des Marquis de Sade, und sein
Nachvollzug im New York von heute beGeheimnis am Wochenende in mehreren zen weiß.
tausend US-Kinos enthüllt worden ist, breiEines Abends, als er mit seiner Frau, fördert es auf die Kippe zur Lächerlichkeit.
Da auch andere Details anachronistisch
tet sich Verlegenheit aus: „Eyes Wide Shut“ schon auf der Bettkante, einen Joint raucht
ist kein Offenbarungseid, doch auch keine und in ein Gespräch über männliches und bleiben und auch die Musik im walzerseliOffenbarung; Kubricks letzter Film (sein weibliches Begehren gerät, überrascht sei- gen Salonsound früherer Zeiten schwelgt,
fünfter nur im Lauf von 30 Jahren) ist von ne Frau ihn mit dem Geständnis, sie sei drängt sich die Frage auf: Hätte nicht Kuseiner unvergleichlichen Handschrift und wenigstens einmal in ihrem Leben, im letz- brick mit seiner überwältigenden ImaginaKraft geprägt, doch auch unentschieden, ten Urlaub, durch den bloßen Blick eines tionskraft das Wien der Belle Époque herja brüchig, und schleppt, bei 159 Minuten Fremden so in Flammen gesetzt worden, aufbeschwören können wie niemand seit
Spieldauer, streckenweise schwer an der daß sie sich diesem Mann (der dann aber Stroheim und Ophüls? Mit New York, wo er
Obsession, die er verfolgt und von der er verschwand) auf der Stelle auf Gedeih und ja seit 1968 selbst nie mehr war, hat sein
Film wenig zu tun; er erinnert, zutiefst nosich nicht zu einer zwingenden eigenen Vi- Verderb ausgeliefert hätte.
sion zu befreien vermag: Arthur SchnitzWie Nicole Kidman in dieser großen stalgisch, an eine Zeit, als die Sexualität
lers „Traumnovelle“.
Szene die Nuancen von Koketterie, Ver- noch ein Geheimnis war.
Urs Jenny
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163
AKG
Kaiserkrönung Karls des Großen*: Raffinierter Deal mit dem Heiligen Vater
AU S S T E L L U N G E N
Glanz in der Wildnis
In Paderborn, wo vor 1200 Jahren der Papst Karl den Großen um
Hilfe bat, wird nun ein üppiges Epochen-Panorama
entfaltet: Erstaunliche Kunstwerke aus einer kriegerischen Zeit.
W
ie müssen die Verhandlungsführer taktiert und getüftelt haben.
Wie genau wird jeder Kniefall,
jede Umarmung, jeder Friedenskuß der
Empfangszeremonie im voraus festgelegt
gewesen sein. Bei diesem Gipfeltreffen
durften kein Schritt und keine Geste dem
Zufall überlassen werden.
Taktisch war es raffiniert: Frankenkönig
Karl der Große ließ im Sommer 799 den
zu Hause schwer unter Druck gesetzten,
hilfesuchenden Papst Leo III. 1600
Kilometer weit ausgerechnet in die
sächsische Wildnis anreisen, zur
Pfalz Paderborn in einem kurz zuvor noch blutig umkämpften Herrschaftsgebiet. Bestimmt ging es
zwischen den beiden nicht allein um
eine Rehabilitierung des Heiligen
Vaters. Die war bloß der halbe Deal.
Als Gegenleistung wurde gewiß schon
der große Staatsakt des folgenden Jahres
vorbesprochen: die Kaiserkrönung Karls
in der römischen Peterskirche. „Falsche
Christen, ja Heiden und Söhne des Teu* Gemälde von Friedrich Kaulbach (1861).
** Museum in der Kaiserpfalz und Diözesanmuseum, bis
1. November. Zweibändiger Katalog im Verlag Philipp
von Zabern; zusammen 988 Seiten; 98 (Buchhandelsausgabe 140) Mark; ergänzender Aufsatzband 758 Seiten;
80 (125) Mark; alle drei Bände 148 (238) Mark.
164
fels“, so die offiziöse vatikanische Lesart,
hatten Leo in Rom überfallen, ihn mißhandelt und mit Vorwürfen wie dem des Meineids und des Ehebruchs zur Abdankung
gedrängt; fränkische Gesandte führten ihn
nach Paderborn.
Der Schauplatz und ein feierlicher Militär-Aufmarsch demonstrierten ihm da die
Macht des Königs über widerspenstige Völker – dieser Monarch hatte Anspruch auf
den Kaisertitel. Andererseits half diese
neue Würde dann auch den besiegten,
zwangsbekehrten Sachsen im Lande, das
Gesicht zu wahren und sich mit ihrem
Schicksal zu versöhnen. Eroberungsstrategie, Missionsdrang, Repräsentationsbedürfnis und europäische Ordnungspolitik
Karls des Großen griffen ineinander.
Die Papstreise ins ferne, unwegsame
Deutschland und die Kaiserkrönung sind
Wendepunkte einer Epoche des Um- und
Aufbruchs, die viele Linien regionaler und
abendländischer Geschichte vorgezeichnet hat. 1200 Jahre nach der Begegnung
von Paderborn schildert hier eine große
Ausstellung vom Freitag dieser Woche an
„Kunst und Kultur der Karolingerzeit“:
das glänzende Panorama ihrer international vernetzten Elite-Ästhetik ebenso wie
ein Puzzle unscheinbarer, doch sprechender Bodenfunde aus der Region Westfalen.
Ein klotziger Katalog überschüttet den
Leser mit Neuigkeiten zum frühen Mittelalter**.
Als Person bleibt der Held des Zeitalters
unvermeidlich schemenhaft. Halb Geistererscheinung, halb Kinoheld – so scheint er
dem Ausstellungsbesucher gleich im Entree hoch zu Roß entgegenzustürmen.
Doch die Projektion ist eine Fotomontage
aus einem Pferd der Gegenwart und einer
karolingischen Reiterstatuette, die vielleicht gar nicht Karl den Großen zeigt, sondern dessen Enkel Karl den Kahlen – ein
Blendwerk ähnlich den Historienschinken,
die Maler des 19. Jahrhunderts zusammenfabulierten. Noch bei authentischen
Bildnismünzen des „Imperator Augustus“
bleibt die Frage nach
der Porträtähnlichkeit offen.
Schnitzwerk mit Kreuzigung
(frühes 8. Jahrhundert)
Putzfragment mit
Wandmalerei aus der
Pfalz Paderborn (um 800)
Kultur
FOTOS: MUSEUM DER KAISERPFALZ (S. 164 li.); A. HOFFMANN (re.); A. MÜNCHOW (S. 165 li.); R. SACZEWSKI (re.)
Auch mit kaiserlichen Requisiten müs- an klassischer Norm ausgerichteten Letsen sich die Ausstellungsmacher Matthias tern, in prächtigen Zier- und Bildseiten und
Wemhoff und Christoph Stiegemann be- fein geschnitzten Elfenbeindeckeln.
helfen. Keiner behauptet, Karl habe just
Den Glanzpunkt der Paderborner Ausjenen Klappstuhl benutzt, der in einer An- stellung bildet das „Lorscher Evangeliar“
deutung der Empfangsszene von 799 die aus der „Hofschule“ des Herrschers, eines
Position des Herrschers markiert. Ob ein seit der frühen Neuzeit zerteilten Bandes,
byzantinischer Seidenstoff mit dem Motiv dessen Teile hier erstmals seit 34 Jahren aus
des Wagenlenkers tatsächlich als sein Lei- drei Kollektionen komplett zusammenchentuch diente, wie die Tradition es will, kommen; einer Lorscher Vor-Schau fehlist zu bezweifeln. Wer im letzten Schau- te noch der vordere Buchdeckel. Weil
saal den spätantiken Marmorsarkophag be- ein Handschriftenteil für eine Luxusrestaunt, in dem Karl 814 zumindest höchst- produktion des Luzerner Faksimile-Verwahrscheinlich bestattet worden
lags (Subskriptionspreis: 35 400
ist, weiß nicht, ob dies auch auf
Mark) auseinandergenommen
Der reiche
seinen Wunsch geschah.
worden ist, können mehrere
Westen gab
Und wenn schon. AussageDoppelblätter zugleich gezeigt
kräftig bleibt das grandiose Stück Heiligenleiber werden.
mit der heftig bewegten Relief- als Transfergut
Nicht zwangsläufig ging solch
darstellung vom Raub der schöan die Ossis künstlerischer Aufschwung dinen Proserpina durch den Unrekt auf die Antike zurück. Gedes frühen
terweltgott Pluto allemal. Ob
rade die Buchmalerei sieht der
Mittelalters englische Kunsthistoriker John
Karl der Große es nun aus Italien an seinenAachener Hof holte
Mitchell auch von der Hochkuloder ob er es im Rheinland vorfand – daß tur des italienischen Langobardenreichs
er ein Auge dafür hatte oder in diesem angeregt. Die hatte ihre Renaissance schon
Punkt auf einsichtige Ratgeber hörte, vollzogen, als Karl der Große 774 auf einen
spricht für seine Aufgeschlossenheit. Er je- Hilferuf des damaligen Papstes den König
denfalls störte sich nicht an den erregten Desiderius besiegte und beerbte. Immer
heidnischen Figuren, die 1843 offenbar so neue Funde, von der Bauplastik bis zur
anstößig wirkten, daß der Sarkophag auf Bodenfliese und zum Wandmalerei-Frageine dem Volk unzugängliche Empore des ment, demonstrieren den erlesenen GeAachener Doms gehievt wurde, wobei er schmack langobardischer Höfe.
abstürzte und in 18 Stücke zerschellte. DaAuf Paderborn scheint ein Abglanz danach notdürftig zusammengesetzt, ist er erst von gefallen zu sein. Hier steht keine Kajetzt für die Paderborner Ausstellung gründ- rolinger-Architektur mehr aufrecht, doch
lich und mit glänzendem Ergebnis restau- Ausgräber sind auf eine Abfolge zunehriert worden.
mend anspruchsvoller Bauten aus dem
Der Proserpina-Sarkophag ist nur der 8. Jahrhundert gestoßen. Zwischen den
massivste Beleg jener Antikenbewunde- Fundamenten lagen Tausende bemalter
rung, die unter Karl dem Großen eine wah- Putzstückchen; in der Ausstellung sieht
re Renaissance hervorrief. Überreich spie- man einige zu fragmentarischen Schriftzeigelt sie sich in der Buchproduktion mit len, dekorativen Ranken oder zu Gewandihren penibel edierten Texten – in schönen, partien addiert – ein nördlich der Alpen
Evangelienbuch der
Aachener Schatzkammer (um 800)
damals beispielloses Schmuckprogramm.
Stammt es von Werkleuten aus Italien?
Spärlich hingegen sind die Bodenfunde
an Glas; denn Kostbarkeiten wie jene trichterförmigen Trinkgefäße, die ex zu leeren
und dann kopfüber auf den Tisch zu stellen
waren, blieben nicht am Ort.Was beim Gelage in Scherben ging, wurde wieder eingeschmolzen. Was heil blieb, trug der Troß
weiter zur nächsten Pfalz.
Voller Geschichtszeugnisse steckt das
Land ringsum. Erst kürzlich gab es eine primitiv aus Knochen geschnitzte Kreuzigungsgruppe frei (siehe Foto) – wohl von einem angelsächsischen Missionar verloren.
Gleichfalls verscharrt waren die grausigen
Relikte der Sachsenkriege, die rauhen
Schwerter, die gespaltenen oder eingeschlagenen Schädel.
Als nach all den Gemetzeln, Geiselnahmen und Deportationen endlich Frieden
herrschte, wuchsen die vereinigten Herrschaftsgebiete erstaunlich glatt zusammen.
Für die Ossis hatte sich das Leben gründlich geändert – sie übernahmen fränkische
Bau- und Begräbnisweisen, gingen wohl
oder übel zur Kirche und teilten ihre Tage
nach dem Schlag der strikt vorgeschriebenen Glocken ein. Wo die hingen, war nicht
egal: Kirchen- und Bistumsgründungen des
9. Jahrhunderts legen die Zentren der Region bis heute fest.
Die Transferleistung, die Chronisten
am liebsten und ausführlichsten beschrieben, war die Übertragung von Reliquien.
Gerade die Paderborner zehren noch davon. Ihnen überließ 836 die französische
Stadt Le Mans aus ihrer „großen Menge
von heiligen Leibern“ die Gebeine des
Bischofs Liborius, und der wird seither
jedes Jahr mit einem rauschenden Glaubens- und Volksfest gefeiert. Diesen Freitag, am ersten Ausstellungstag, geht es wieder los.
Jürgen Hohmeyer
Antike Bronzeskulptur
(„Wölfin“) aus der
Aachener Pfalz
Karls des Großen
Bildnis-Münze Karls des Großen als Kaiser
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Kultur
S P I E G E L - G E S P R ÄC H
„Ich weiche nicht von dieser Stelle“
Der Bayreuther Festspielleiter Wolfgang Wagner und seine Frau Gudrun über
Inszenierungen, finanzielle Probleme und die heikle Nachfolgefrage auf dem Grünen Hügel
kel ist derzeit zwar Alleinherrscher auf Lebenszeit, hat aber Anfang dieses Jahres erste Schritte zur Nachfolgefindung vorgezeichnet. Danach kann jeder der vier „Stämme“ des WagnerClans der „Richard-Wagner-Stiftung“ vorschlagen, wer künftig auf
dem Grünen Hügel das Zepter schwingen soll. „Grundsätzlich“,
laut Paragraph 8 der Stiftungsurkunde, soll das ein Wagner sein.
Pikanterie der aktuellen Konstellation: Mehrere Anwärter aus
Richard Wagners zerstrittener Nachkommenschaft lockt es ins
Festspielhaus, und neuerdings mischt auch Wolfgangs zweite Frau
Gudrun, 45, mit: „Ja, das könnte ich.“
SPIEGEL: Frau Wagner, Herr Wagner, am Sonntag beginnen mit einer neuen „Lohengrin“-Inszenierung die 88. Bayreuther Festspiele,
die letzten in diesem Jahrhundert.
Wird der Mythos des Grünen Hügels noch für ein weiteres Jahrhundert reichen?
Gudrun Wagner: Ich bin kein Prophet. Aber der Zauber ist, frei nach
„Tannhäuser“, ungebrochen.
Wolfgang Wagner: Bayreuth ist immer noch was Besonderes und
wird das wohl auch fürs erste bleiben. Aber der Begriff von Kultur
und von dem, was wir darunter
verstehen und dafür tun, ist überall
im Umbruch. Diese Entwicklung
wird auf Dauer wohl auch Bayreuth nicht verschonen.
SPIEGEL: Immerhin hat jetzt erstmals in der Festspielgeschichte ein
Regisseur den ehrenvollen Job auf
dem Grünen Hügel hingeschmissen. Willy Decker lehnte es ab, den
neuen „Lohengrin“ zu inszenieren. War das nicht doch ein Menetekel für die verblassende Faszination Bayreuths?
Gudrun Wagner: Wenn einer fast
zwei Jahre von seinem „Lohengrin“-Auftrag weiß und ein Jahr
lang einen unterschriebenen Vertrag hat, zeugt vor allem die späte
Absage von einem höchst befremdlichen Benehmen. Nicht
Bayreuth war blamiert, sondern
Decker hat sich bloßgestellt.
SPIEGEL: Haben Sie sich nach der Wagner-Familie Gudrun, Katharina, Wolfgang (1997)
Absage rasch zum ehelichen Brainstorming vereint, Motto: Jetzt muß Ersatz Wolfgang Wagner: Gott sei Dank ist der Diher?
rigent Antonio Pappano, der sich Decker ja
Gudrun Wagner: Nicht zum ehelichen, aber ausdrücklich gewünscht hatte, nicht abgezum gemeinsamen. Ein ganz normaler sprungen. Wir haben dann gemeinsam eine
Reihe anderer Regisseure geprüft, und meiVorgang.
168
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s p i e g e l
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ne Frau hat sich, weil ich hier unabkömmlich war, anschließend allein und auch mit Pappano noch
mehrere Kandidaten angesehen. In
Brüssel haben wir schließlich das
Team mit dem Regisseur Keith
Warner engagiert, das sich nun am
Sonntag präsentiert.
SPIEGEL: Herr Wagner, Sie haben
im vergangenen März die Diskussion um Ihre Nachfolge auf dem
Grünen Hügel dadurch in Gang gesetzt, daß Sie die dafür zuständige
Stiftung legitimierten, „das vorgesehene Verfahren einzuleiten, um
die notwendigen Schritte für einen künftigen Wechsel der Festspielleitung zu ermöglichen“. Einen Termin, sich zurückzuziehen,
nannten Sie nicht. Warum nicht?
Wolfgang Wagner: Nein, ich habe
die komplizierte Prozedur der
Nachfolgerfindung erst einmal angestoßen. Doch sich jetzt zurückzuziehen wäre der völlig falsche
Moment.
SPIEGEL: Sie werden nächsten Monat 80 und kleben an Ihrem Stuhl.
Wolfgang Wagner: Falsch. Ich muß
die Zukunft bedenken. Wenn so
was wie zum Beispiel jetzt – der
Bund kappt einfach seinen Zuschuß
– schon während meiner Amtszeit
passiert, dann kann ich mir ausmalen, und zwar in schwärzesten
Farben, was los ist, wenn ich mal
nichts mehr zu sagen habe oder
nicht mehr bin. Einer muß jetzt die
Rechte Bayreuths energisch und
kennerhaft gegen alle Attacken verteidigen, und das bin nun mal ich mit immerhin fast 50jähriger Erfahrung vor Ort.
SPIEGEL: Wer reitet denn so gefährliche
Attacken gegen die nationale Kulturinstitution Bayreuth?
SEEGER-PRESS
B
ayreuths ungewisse Zukunft ist zur Jahrtausendwende das
große Thema der internationalen Festspielszene. Geldsorgen erschüttern den Grünen Hügel. Bislang wurde der Jahresetat des Festivals (knapp über 20 Millionen Mark) zu 63 Prozent von den Festspielen durch den Verkauf von Eintrittskarten,
Übertragungsrechten, Buchpublikationen und durch private Mäzene aufgebracht. Den Rest steuerte die öffentliche Hand bei.
Doch der Bund will jetzt seine Zuschüsse kürzen. Für zusätzliche
Verwirrung im Festspielhaus sorgt die immer noch unentschiedene
Nachfolgefrage für Wolfgang Wagner, 79. Der Komponisten-En-
SPIEGEL: Nun ist schon oft speku- Wolfgang Wagner: Na und? Aber ich fürchliert worden, daß Sie spätestens im te, mir fehlt die Zeit, die Tetralogie noch
Jahr 2001, wenn Sie 82 und auf dem einmal ganz neu zu durchdenken.
Richard-Wagner-Stiftung Bayreuth
Grünen Hügel seit 50 Jahren tätig SPIEGEL: Wie lange wollen Sie Ihre existiezum Stiftungsvermögen gehört u.a. das Festspielhaus samt Nebengebäuden
sein werden, zurücktreten.
renden Inszenierungen noch in Bayreuth
Wolfgang Wagner: Diese Spekula- zeigen?
tionen sind falsch. Nach vielfach Wolfgang Wagner: Ich will dafür sorgen, daß
VORSTAND
verbreiteter Auffassung bin ich ja sie allmählich ausklingen. Wer immer mir
Der Stiftungsrat hat
3 Mitglieder
auch schon seit Jahren hundertpro- im Amt nachfolgt, soll nicht damit belastet
Wolfgang Wagner auf
Wolfgang Wagner
Lebenszeit zum alleinigen zentig verkalkt, steril und blöd. werden.
Vertreter des Bundes
Gesellschafter und GeAber ich weiß, was ich Bayreuth SPIEGEL: Wie das?
Vertreter Bayerns
schäftsführer der 1986
schulde. Ich weiche nicht von dieser Wolfgang Wagner: Nach Bayreuther Brauch
gegründeten Festspiel
Stelle, bis die Zukunft der Fest- hat jeder Regisseur so lange Zugang zu seiGmbH berufen. Diese
STIFTUNGSRAT
spiele gerade in finanzieller und ner Arbeit, wie diese auf dem Programm
GmbH hat das Festspiel24 Stimmen, verteilt auf
rechtlicher Weise absolut gesichert steht. Also müßte auch ich so lange immer
haus gemietet und verBundesrepublik 5, Bayern 5,
anstaltet die Festspiele.
ist. Im Jahr 2001 ist deshalb mit wieder auftauchen, reinreden, mitentFamilie Wagner 4, Stadt
meinem Rücktritt noch nicht zu scheiden. Das könnte leicht Ärger geben.
Bayreuth 3, Gesellschaft
rechnen.
SPIEGEL: Also erwartet uns nach Ihrem Abder Freunde von Bayreuth 2,
SPIEGEL: Frau Wagner, Ihr Mann ist gang vom Grünen Hügel eine WolfgangBayerische Landesstiftung 2,
hier nicht nur der legendäre Kom- freie Zone?
Bezirk Oberfranken 2,
Oberfrankenstiftung 1
ponisten-Enkel, der gußeiserne Pa- Wolfgang Wagner: Ja. Und wenn ich die altriarch und der oberste Kassenwart, ten Inszenierungen aus dem Programm
stellt den Haushaltsplan auf und
vermietet das Festspielhaus an
er inszeniert auch, 1996 bei den nehme, setze ich kaum neue in die Gegend.
den Veranstalter
Festspielen zuletzt die „Meister- SPIEGEL: Frau Wagner, Sie haben als Frau
singer“. Inszenieren Sie mit?
des amtierenden Festspielleiters in der ÖfWolfgang Wagner: Sehen Sie, ich bin derzeit Gudrun Wagner: Ich mache dasselbe wie fentlichkeit nicht das beste Image. Ihnen
einziger Gesellschafter und Geschäftsführer mein Mann, auf einer Entscheidungsebene werden krankhafter Ehrgeiz, Profilieder „Festspiel GmbH“ in einer Person. unter ihm. Aber ich inszeniere nicht mit. rungssucht und die Eigenheit nachgesagt,
Nach meinem Tode treten der Bund, das Ich bin seine persönliche Referentin mit im Hintergrund die Fäden zu ziehen.
Land Bayern, die Stadt Bayreuth und die festem Arbeitsvertrag und erledige drama- Gudrun Wagner: Ich finde das vor allem des„Gesellschaft der Freunde von Bayreuth“ in turgische Vorarbeiten, Werk- und Textana- halb komisch, weil es absolut nicht der
diese Rechte als Verantwortliche ein. Die- lysen, ich entscheide bei der Sänger- eben- Realität entspricht.
se Basisregelung ist durch die jüngsten Bon- so wie bei der Regisseur- und Dirigenten- SPIEGEL: Sie erwecken aber auch nicht gener Finanzkapriolen ins Wanken geraten.
auswahl mit und bin bei allen Proben rade den Eindruck einer stillen Gemahlin
SPIEGEL: Rechnen Sie uns das bitte mal vor! dabei. Apropos „gußeiserner Patriarch“ an der Seite des Bayreuther Gralshüters.
Wolfgang Wagner: Erst, Anfang dieses Jah- und was der einschlägigen Epitheta mehr Gudrun Wagner: Wenn ich meine Arbeit
res, drohte ein völliger Rückzug des Bun- sind – was soll denn das heißen? Mein richtig machen will – und wer will das
des aus dem Bayreuther Etat, die 3,2 Mil- Mann ist der Koordinator und Mediator nicht? –, dann habe ich natürlich die Fäden
lionen Mark sollten gestrichen werden. der Festspiele schlechthin, und zwar im in der Hand; sonst würde es hier nämlich
Dann hat der Kulturbeauftragte Naumann wörtlichen Sinne der Begriffe.
nicht laufen. Und es läuft hier ja nicht seit
das wieder rückgängig gemacht. Kaum ist SPIEGEL: Können Sie ihm was ausreden?
33 Jahren praktisch reibungslos, weil ich
das vom Tisch, tritt er wiederum auf und Gudrun Wagner: Ja, bestimmt.
faul und dumm bin. Ich arbeite hart und
verkündet einen Abstrich in Höhe von SPIEGEL: Tun Sie’s auch?
gern. Aber ich quatsche nicht immer überrund 480 000 Mark. Er hat das in lässigster Gudrun Wagner: Höchst selten.
all herum, wie toll ich bin. Das Eigenlob beWeise kommentiert: Wegen so einem biß- SPIEGEL: Können Sie ihm was einreden?
herrschen andere besser.
chen Geld weniger würden wir nicht ein- Wolfgang Wagner: Beim allgemeinen Män- SPIEGEL: Die Bayreuth-Kritikerin Nike
gehen, und außerdem hätten die Bayern ner-Wahn unter den Regie-Machos ent- Wagner hat behauptet, Sie hätten „nicht
noch einen „Feuerwehrtopf“. Herr Nau- deckt, bereichert und korrigiert eine Frau das intellektuelle Kaliber“ für den Job der
mann ist sich über die rechtlichen und wirt- vor allem die weiblichen Elemente einer Festspielleitung.
schaftlichen Konsequenzen leider über- Figur oder die weiblichen Aspekte einer Gudrun Wagner: Wer so etwas sagt, dem
haupt nicht im klaren.
Geschichte.
fehlt es zwar nicht an Arroganz, wohl
SPIEGEL: Wegen einer halben Million stürzt SPIEGEL: Aus Ihrer Antwort,
ja nun Bayreuths Walhall mit einem Ge- Herr Wagner, folgern wir,
samtetat von über 20 Millionen Mark auch daß Ihre Frau kräftig mittatsächlich nicht gleich ein.
mischt. Wird sie dazu hier
Wolfgang Wagner: Eine halbe Million ist viel im Festspielhaus noch einGeld. Wir rechnen hier mit jedem Pfennig, mal Gelegenheit haben,
und ich werde sonst immer als finanzieller wollen Sie noch mal als ReMusterknabe des Kulturbetriebs gelobt. gisseur antreten?
Aber es geht um mehr: Die Bundesfinan- Wolfgang Wagner: Nein. Alzierung ist dreifach zementiert worden – lerdings würde mich ein
1953 beim Eintritt in die Gemeinschafts- neuer „Ring“ schon sehr
aufgabe, 1973 bei der Begründung der reizen.
Stiftung als Mitstifter und 1986, als die SPIEGEL: Bei Wotan! Das
GmbH gegründet wurde. Aus dieser Bin- ginge frühestens 2006, weil
dung kann sich der Bund nicht rausmo- nächstes Jahr erst einmal
geln, das geht ans Eingemachte, und das Jürgen Flimms „Ring 2000“
werde ich nicht zulassen. Ich werde gera- herauskommt, und 2006
de jetzt gebraucht.
wären Sie 87.
Festspielhaus Bayreuth: „Zauber ungebrochen“
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B. BOSTELMANN / ARGUM
Machtverhältnisse auf dem Festspielhügel
Kultur
Die Dynastie
Vier Generationen Wagner
Franz Beidler
1872–1930
Franz Wilhelm
1901–1981
Cosima von Bülow
geb. Liszt
1837–1930
Richard Wagner
1813 –1883
Isolde
Eva
Houston Stewart Siegfried
1869–1930
1865–1919 1867–1942 Chamberlain
1855–1927
Wieland
Gertrud
Friedelind
Wolfgang
Reissinger 1917 –1966 1918–1991 1919
1916–1998
Iris 1942
Wolf Siegfried 1943
Nike 1945
Daphne 1946
170
Winifred Williams
Klindworth
1897–1980
Ellen Drexel Verena
1920
1919
Bodo Lafferentz
1897–1974
Gudrun Mack
1944
Eva 1945
Gottfried 1947
d e r
Katharina
1978
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Amélie 1944
Manfred 1945
Winifred 1947
Wieland 1949
Verena 1952
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Wolfgang Wagner: Hören Sie – letztes Wort:
Daniel Barenboim ist von uns aus nicht ins
Gespräch gebracht worden.
SPIEGEL: Dann also doch Ihre Frau und Ihre
Tochter Eva, die ja immerhin die von Ihnen
verlangte Theatererfahrung gemacht und
an der Pariser Opéra Bastille, am Londoner Covent Garden und der Houston Opera gearbeitet hat?
Wolfgang Wagner: Sie hat dort kaum in selbständig entscheidender, sondern meist in
empfehlend-beratender Weise gewirkt.
SPIEGEL: Oder doch Nike, die Tochter Ihres
Bruders Wieland, die sich immerhin literarisch erfolgreich mit Bayreuth und dessen
Dunstkreis beschäftigt hat?
Wolfgang Wagner: Es kann jemand mit der
Feder gewandt sein. Aber er sollte sich
nicht auf Kosten anderer und deren Ehre
zu qualifizieren versuchen.
SPIEGEL: Hat Nike das getan?
Wolfgang Wagner: Sie hat in ihrem letzten
Buch unter anderem behauptet, ich, der
M. WEISS / OSTKREUZ
testens 1976 durch den Rundumschlag in Ihrem berühmten
„Playboy“-Interview. Damals
haben Sie allen, die aus der
Sippe in Frage kamen, die Befähigung für Bayreuth rundweg abgesprochen.
Wolfgang Wagner: Das stimmt
nicht. Ich habe auf Befragen
nur gesagt, daß sie zum damaligen Zeitpunkt die Befähigung
vermissen ließen. Das war kein
Verdikt für die Ewigkeit.
SPIEGEL: Bedeutet diese Einschätzung, daß
Sie jetzt Gnade walten lassen und in den
Wagner-Stämmen vielleicht doch ein munteres Pflänzchen sprießen sehen?
Wolfgang Wagner: Ja, ich schon. Schließlich sind in den für die Nachfolge zuständigen Gremien bereits mehrere Vorbesprechungen gelaufen, über die ich nicht
reden darf. Nur soviel: In diesen Gesprächen habe ich gewisse Kombinationsmodelle angeregt, die mir unverständlicherweise nicht abgenommen worden sind. Im
übrigen habe ich meinen Vorschlag zur
neuen Festspielleitung schriftlich und
pünktlich, bis zum 11. Juli dieses Jahres,
gemacht. Der liegt jetzt beim Vorsitzenden
des Stiftungsrates im Münchner Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst
unter Verschluß und wird frühestens im
Oktober diskutiert. Bis dahin: kein weiterer Kommentar.
SPIEGEL: Aber eine Nachfrage: „Kombinationsmodelle“ bedeutet doch wohl eine
Verbindung von Gudrun Wagner mit einer
unbekannten Größe X? Ist dieser X, wie so
oft spekuliert wird, der Dirigent und häufige Bayreuth-Gast Daniel Barenboim?
Wolfgang Wagner: Quatsch. Ich habe gerade, als Barenboim hier zur Probe war, zu
ihm gesagt: „Daniel, du bist ein ganz toller Mann! Du wirst von der Presse mit
meiner Frau Gudrun, mit meiner Tochter
Eva und mit meiner Nichte Nike verkuppelt.“
SPIEGEL: Die Verbindung macht doch Sinn.
DPA
aber mangelt es ihm an Intelligenz.
SPIEGEL: Sie haben sich ja
schon vor zwei Jahren öffentlich die Führung der Festspiele „unter gewissen Bedingungen“ zugetraut. Unter welchen?
Gudrun Wagner: Unter der Voraussetzung, daß die finanziellen Grundlagen absolut gesichert, die Befugnisse der Ge- Nike Wagner
schäftsführung klar umrissen
und etwaige Mitspracherechte anderer eindeutig geklärt sind. Bislang ist das alles
noch nicht geregelt.
SPIEGEL: Und wenn Sie einfach die volle
Macht Ihres Mannes übernehmen wollten?
Ginge das?
Gudrun Wagner: Das geht, wenn es von den
beteiligten Rechtsträgern gewollt ist.
SPIEGEL: Und Sie bleiben dabei: Das könnte ich.
Gudrun Wagner: Ja. Ich habe Erfahrung und,
glaube ich, auch den richtigen Riecher für
das Metier. Schließlich treiben sich mein
Mann und ich das ganze Jahr über auf den
Bühnen der Welt herum, um Wagner zu
hören und zu sehen. Ein toller Lernprozeß,
eine wertvolle Erfahrung. Alles, was ich
davon in Bayreuth eingebracht habe, war
und wurde stets ein künstlerischer Erfolg.
SPIEGEL: Nun sind die anderen Interessenten und Bewerber aus den diversen Stämmen des Wagner-Clans ja auch nicht so
ohne.
Wolfgang Wagner: Halt! Wer auf diese Stelle will, muß erst einmal etwas zeigen. Nach
der Wiedervereinigung beispielsweise gab
es viele Möglichkeiten, in die Leitung eines
Opernhauses einzusteigen. Keiner der
Aspiranten mit den berühmten WagnerGenen hat es auf sich genommen oder sich
zugetraut, auf diese Weise wenigstens die
Grundbegriffe eigenverantwortlicher Theaterleitung kennenzulernen.
SPIEGEL: Herr Wagner, der Bruch mit Ihren
Kindern, Nichten und Neffen begann spä-
Ehepaar Wagner, SPIEGEL-Redakteur*
„Bayreuth gegen alle Attacken verteidigen“
Widerling und Tyrann, sei letztlich der
Grund, daß mein Bruder Wieland frühzeitig gestorben sei – eine gemeine Unterstellung und eine einmalige Niedertracht.
Gudrun Wagner: Mit solch infamer Behauptung hat sich Nike selbst für ein Bayreuther
Amt disqualifiziert.
SPIEGEL: Bleibt also Ihre gemeinsame Tochter Katharina, deren Ausbildung – Theaterund Wirtschaftswissenschaft sowie Hospitanzen und Assistenzen an diversen Bühnen – in Richtung Theatermetier verläuft.
Erwartet uns demnach eine Doppelspitze
aus Mutter und Tochter?
Gudrun Wagner: Musik der Zukunft.
Wolfgang Wagner: Es wäre völlig verfrüht,
über so etwas zu reden.
SPIEGEL: Nicht verfrüht aber ist nach allen Äußerungen von Ihnen beiden unser
Eindruck, daß Gudrun Wagner erste
Wahl ist.
Gudrun Wagner: Das will ich auch hoffen.
SPIEGEL: Frau Wagner, wissen Sie, was Ihr
Mann auf jenen Stimmzettel geschrieben
hat, der jetzt in München im Safe liegt?
Gudrun Wagner: Und ob ich das weiß!
SPIEGEL: Frau Wagner, Herr Wagner, wir
danken Ihnen für dieses Gespräch.
* Klaus Umbach (l.) in Bayreuth.
T H E AT E R
In Dr. Tinkers
Himmelreich
Der Österreicher Martin Ku∆ej
ist der Aufsteiger des Jahres unter
den Theaterregisseuren –
nun präsentiert er in Stuttgart Sarah
Kanes Monsterstück „Gesäubert“.
STAATSOPER STUTTGART
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H. J. MICHEL
W
ieviel Gräßlichkeiten dürfen
Menschen einander vor den Augen eines Theaterpublikums antun, und sei es im Namen der Liebe? In
„Gesäubert“, dem Stück der britischen
Dramatikerin Sarah Kane, ist mitanzusehen, wie einem der Mitspieler Zunge, Hände und Beine abgetrennt werden; auch das
Aufspießen eines Mannes mit Hilfe eines
Holzstocks, das Absäbeln von Frauenbrüsten und ein angenähter PeKu∆ej-Inszenierung „Gesäubert“ in Stuttgart*: Zufluchtsuche im Folterkeller
nis gehören zum Horror-ReMit seiner Hamburger Version von Horpertoire des Schockdramas.
wir einander an?“, sondern:
Als Peter Zadek das Werk
„Warum zerfleischen wir uns váths „Geschichten aus dem Wienerwald“
der damals 27jährigen Britin
selbst im Namen der Liebe?“ wurde er beim Berliner Theatertreffen als
im vergangenen Dezember
In der „Gesäubert“-Insze- Aufsteiger der Saison gefeiert, der neue
auf der Bühne der Hamburnierung des Regisseurs Mar- Burgtheater-Chef Klaus Bachler hat ihn für
ger Kammerspiele erstmals
tin Ku∆ej nämlich ist die „In- den Neuanfang an seinem Haus fest gein deutscher Sprache zeigte,
stitution“, in der Folter und bucht. Und all das, wofür die Kritiker Ku∆ej
gelang ihm ein wüstes, beVerstümmelung geschehen, früher gern schmähten, rechnen sie nun zu
drückendes, packendes Markeine Kafkasche Strafkolonie, seinen Vorzügen: seine Vorliebe für starke
tyrium (SPIEGEL 51/1998) –
sondern ein Zufluchtsort. (und nur manchmal übermächtige) Bildund doch höhnten nicht we- Regisseur Ku∆ej
Gleich im ersten Bild zeigt kompositionen; seinen sensiblen Sturkopf,
nige Kritiker über die angebKu∆ej diese Anstalt als riesi- mit dem er eine einmal gefundene Konlich berechnend herbeihalluzinierte Ver- gen, von innen erleuchteten Käfig (den ihm zeption exekutiert – und nicht zuletzt seizweiflungskunst der Autorin, über eine sein Leib-Bühnenbildner Martin Zehet- ne Neigung zu Höllenszenarien im BannWelt aus „Blut und Schmock, Kitsch und gruber gebaut hat), auf dessen Dach die kreis von Tod und Verderben.
Dabei erweist sich Ku∆ej auch in „GeKälte“ („FAZ“).
späteren Insassen versammelt sind – und
Zwei Monate später war Sarah Kane tot, bald die wildesten Verrenkungen anstel- säubert“ als Fachmann für eher intellektuell-atmosphärischen als kulinarisch-blutals eine, der auf Erden nicht zu helfen war, len, um endlich hineinzukommen.
durch Selbstmord abgetreten. Wie die meiUnd weil ihnen der Marterkeller, den spritzenden Grusel. Zwar bricht auch in
sten Fans wollten auch viele ihrer Gegner Zehetgruber mit japanoiden Gitterschie- Stuttgart das Grauen herein, wenn die Moin ihrem Suizid eine Art Beglaubigung für bewänden ausgestattet hat, wie ein Him- torsäge brüllt und sich in Menschenknodie Todespanik und Todesseligkeit ihrer melreich erscheint, ist auch der Herr der chen frißt – nur müht sich Ku∆ej (anders als
Stücke erkennen: das Fanal einer Hochbe- Qualen, der undurchsichtige „Doktor“ Tin- Zadek) gar nicht um Realismus und stellt
gabten, die gerade mal vier scheinbar ge- ker, hier kein sardonisch grinsender Ver- die Greuel als Theateraktionen aus: Statt
nialisch hingewütete Stücktexte hinterließ, führer, sondern, so wie der Schauspieler blutiger Beinstummel sieht man bloß Turnden spektakulären Abschied einer, wie sie Samuel Weiss ihn spielt, ein freundlicher schuhe auf den Boden fallen.
Das Stuttgarter Haus der Leiden erinsich selbst einmal nannte, „hoffnungslosen Dienstleister: Was jeder wünscht, daß man
nert an eine moderne Klinik für SeelenRomantikerin“.
ihm tu’, das fügt er ohne Mitleid zu.
Zu befürchten war nun, daß jede weiteDie Strenge und Genauigkeit, mit der kranke, und Ku∆ej legt nahe, daß sich in
re Sarah-Kane-Aufführung fast zwangs- Ku∆ej, 38, dieses Stationendrama einer mör- den Schlächterszenen und Todesbeschwöläufig zum pathosbesoffenen Verklärungs- derischen Erlösungssucht inszeniert, zeich- ungen von „Gesäubert“ vor allem jene Erakt geraten müßte, zur Heiligsprechung ei- net die meisten seiner Theaterarbeiten aus. fahrungen und Alpträume spiegeln, die Saner Märtyrerin. Doch die „Gesäubert“- Obwohl der Österreicher, aufgewachsen im rah Kane von ihren eigenen Aufenthalten
Version, die am vergangenen Freitag in ländlichen Kärnten, seit fast zehn Jahren an in psychiatrischen Anstalten kannte.
Dazu hat Ku∆ej Texte des Freitod-PhiloStuttgart Premiere hatte, bietet nichts von größeren Bühnen in München, Stuttgart und
all dem: Stocknüchtern und mit staunens- Hamburg inszeniert und vor allem für sei- sophen Jean Améry in Kanes Stück eingewerter Klarheit wird da das Rätsel eines ne Musiktheaterarbeiten viel Lob erhielt, woben – und läßt zuletzt nicht nur, wie
Folter- und Zerfleischungsakts erkundet – findet er als Schauspielregisseur erst jetzt im Stück vorgesehen, den jungen Robin
durch Selbstmord sterben. Auch die Heldin
und statt ums Zelebrieren eines feierlich- größere Beachtung.
Grace hängt in einer Schlinge: Das Passiblutigen Hochamts im Gedenken an die
Autorin geht es darum, Sarah Kanes zen- * Mit Christine Schönfeld, Hüseyin Cirpici (o.), Marcus onsspiel „Gesäubert“ mündet in kollektiver
Selbstauslöschung.
trale Frage neu zu stellen. Nicht „Was tun Calvin (u.) und Samuel Weiss.
Wolfgang Höbel
Werbeseite
Werbeseite
Wissenschaft
Prisma
ZOOLOGIE
Mit Luftschiff auf
Insektenjagd
D
F. BOXLER / TANDEM
icht über den Wipfeln des fränkischen Steigerwaldes streifte vorige
Woche ein wunderliches Luftschiff dahin. Von der Gondel aus fischte der Würzburger Zoologe Andreas Floren mit einem Kescher die Baumwipfel ab. Er machte reiche Beute. Die Baumkronen sind besonders dicht
besiedelte Lebensräume. Im Gewirr der äußersten Zweige und Blätter
hausen Käfer, Spinnen und Wanzen in Fülle. Für sie ist das wie eine üppige Wiese, die auf hohen Stelzen steht. Der Mensch aber kommt da nicht
ohne weiteres hinauf und weiß deshalb wenig über dieses luftige Biotop.
Die kleine Gemeinde der Wipfelforscher versucht sich auf verschiedene
Weise zu behelfen. Der Leipziger Botaniker Wilfried Morawetz zum Beispiel sammelt die Wipfel des Regenwaldes in Venezuela von einer Gondel
aus ab, die an einem Baukran hängt. Demnächst will Morawetz einen solchen Kran in einen gewöhnlichen Mischwald nahe Leipzig stellen. Andere Forscher vernebeln die Wipfel mit Insektengift und sammeln ein, was
herunterfällt. Auf der Insel Borneo erntete Andreas Floren auf diese Weise von 19 Bäumen allein 2000 Käferarten. Viele waren nur mit wenigen Exemplaren vertreten. Über ihr Leben ist fast nichts bekannt; man weiß
nicht einmal, wie sie ihre Artgenossen finden. Die rabiate Giftmethode hilft
da nicht weiter. Mit dem Luftschiff aber kommt Floren gut an die Wipfel
heran, ohne zu stören, und er kann, anders als mit dem Kran, größere Gebiete abgrasen. Floren nutzt den Flugapparat nun für Forschungen in den
deutschen Nutzwäldern, um deren überschaubare Wipfelfauna mit dem Artenreichtum der Regenwälder zu vergleichen. Allerdings ist er mit seiner
schwebenden Forschungsstation stark vom Wetter abhängig: Bei Wind
oder Regen muß das Luftschiff unten bleiben.
Wipfelforscher Floren in Luftschiff
L U F T FA H R T
R I N D E R WA H N S I N N
Schwimmende Piste
Lizenz zum Testen
V
or der südlich von Tokio gelegenen Hafenstadt Yokosuka wird derzeit der
Prototyp einer 1020 Meter langen und 60 Meter breiten schwimmenden Startund Landebahn montiert, wie sie bei einem weiteren Großflughafen für Japans
Hauptstadt Verwendung finden könnte.
Die schwimmenden
Pisten der Mega Float
Technology Research
Union, in der japanische Werften und
Stahlwerke zusammenarbeiten, könnten
den Bau großer künstlicher Inseln überflüssig machen. Noch
im Laufe dieses Monats wollen die Ingenieure den knapp
180 Millionen Mark
teuren Prototyp fertigstellen. Unmittelbar danach soll mit
den ersten Start- und
Landeversuchen begonnen werden.
Seegestützte Start- und Landebahn in Japan (Modell)
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K
urz vor dem Aufheben des Exportverbots für britisches Rindfleisch hat
die EU-Kommission drei BSE-Schnelltests wissenschaftlich anerkannt – doch
anwenden müssen die Briten, in deren
Land noch immer 3000 Rinder jährlich an
BSE sterben, die Verfahren nicht. Schutz
für die Verbraucher bahnt sich nun aber
von privatwirtschaftlicher Seite an: Drei
deutsche Firmen stehen derzeit mit einem der Schnelltest-Hersteller, der Prionics AG in Zürich, in Kontakt. Sie wollen
eine Lizenz für den Test erwerben, um
Schlachthöfen und Bauern einen Gesundheitscheck ihrer Rinder anbieten zu
können. Die Prionics AG verkauft den
Test nur zusammen mit dieser Lizenz,
um seine Qualität zu sichern. Bislang
darf in Deutschland nur das Düsseldorfer
Umweltministerium, in dessen Ämtern
bereits 5000 Rinder untersucht wurden,
mit dem Prionics-Test nach BSE fahnden.
Der Test kostet etwa 50 Mark pro Rind –
das Steak wird dadurch nur um knapp
20 Pfennig pro Kilo teurer.
173
Prisma
Computer
INTERNET
Schlüssel am
Handgelenk
Nach einem glücklosen Ausflug ins Autogeschäft
drängt Nicolas Hayek, 71, Chef der „Swatch Group
of Switzerland“, mit seinen Uhren ins Netz.
kann überall den Zugang zum Netz ermöglichen.
Empfänger ist ein spezielles elektronisches Mauspad, welches die Uhr über Funk ausliest.
SPIEGEL: Kann die Uhr über die Mausunterlage auch
etwas empfangen?
Hayek: Ja.Wenn Sie an einem Internetspiel teilnehmen
wollen, können Sie sich damit identifizieren, und auf Hayek
REUTERS
SPIEGEL: Wofür soll Ihre E-Mail-Swatch gut sein?
Hayek: Die Uhr speichert die Benutzerdaten und
Ihre Uhr werden Bonuspunkte übertragen. Jede Uhr
hat eine eindeutige Identifikationsnummer, so daß sie
auch für elektronischen Handel genutzt werden kann.
Wir stehen bereits mit Banken in Kontakt.
SPIEGEL: Wird man auch E-Mails am Handgelenk lesen können?
Hayek: Wir wollen keine vollständige Agenda dort hineinpacken.Aber die Sekretärin könnte die Termine für
die nächsten zwei Tage ins Internet einspeisen, und Sie
laden sich die Daten über das Mauspad aus dem Netz.
SPIEGEL: Man muß aber zum Empfang immer auch
das Mauspad mit sich herumtragen?
Hayek: Bis auf weiteres ja. Aber die Unterlage ist
doch billig. Die kostet nur zehn Mark.
SPIEGEL: Wieviel kann das Gerät speichern?
Hayek: Ein Kilobyte, aber mehr ist möglich.
SPIEGEL: Und wenn die Uhr mit allen Paßwörtern und
Kreditkartennummern geklaut wird?
Hayek: Sie können die Daten sofort sperren lassen.
Außerdem: Wer soll Ihnen eine Swatch-Uhr klauen –
außer wenn Sie in Italien sind.
MONITORE
Zeitung zum Aufladen
Design-Studie zur „elektronischen Zeitung“
chon seit einigen Jahren arbeitet Joseph Jacobson vom Massachusetts
Institute of Technology an der Zeitung
der Zukunft. Winzige, elektrisch drehbare Partikel – halb weiß, halb schwarz
– werden in einen papierartigen Träger
eingebettet und stellen in hoher Auflösung und Kontrast digitale Informationen dar. Eine Design-Studie einer solchen mit „elektronischer Tinte“ produzierten Zeitung stellte jetzt IBM vor: 16
beidseitig „bedruckte“ Seiten sollen Inhalte aus dem Internet mit dem „guten
alten Zeitungsgefühl“ versehen. Ein
marktfähiges Produkt jedoch läßt noch
auf sich warten.
AP
S
Teilnehmer der Hackermesse „Defcon 7“
H AC K E R
Angriff durch die
Hintertür
D
POLIZEI
Daddeln im Arrest
E
inen ganz besonderen Service bietet
das Amsterdamer Polizeipräsidium
neuerdings seiner Klientel: In die gekachelten Arrestzellen werden Multimedia-Terminals installiert. Ein seit
1997 laufendes Pilotprojekt hatte gezeigt, daß die sogenannte Techno-Säule
aggressionshemmend auf die Inhaftierten wirkt. Von den Geräten – „rostfrei
und zerstörungssicher“ – lassen sich
Informationen über Verhaltensmaßregeln in sieben Sprachen abrufen sowie
die Zellentemperatur und -helligkeit regulieren. Je nach Privilegien der Strafgefangenen liefert die Säule auch Fernsehen, Radio oder Videotext.
174
„Techno-Säule“ in einer Haftzelle
er wahre Schrecken der Firmen
sind nicht maligne Computerviren.
Ein abgestürzter Rechner mit gelöschter
Festplatte kann schließlich keine Geheimnisse mehr verraten. Subtiler
dringt das Hackerprogramm „Back Orifice“ (Hintereingang) in die PC-Eingeweide vor. Nachdem eine Schlüsselsoftware als Anhängsel einer E-Mail auf
dem Zielrechner gelandet ist, gewährt
dieser dem Angreifer via Internet unauffällig den totalen Fremdzugriff. Auf
dem weltgrößten Hacker-Kongreß „Defcon 7“ in Las Vegas stellte vorvergangenes Wochenende die Gruppe „Cult of
the Dead Cow“ die neueste Version ihres Spionagewerkzeugs vor. Mit „Back
Orifice 2000“ (BO2K) läßt sich nun
nicht nur das verbreitete KonsumentenBetriebssystem Windows 95/98 „fernwarten“, sondern auch Windows NT,
das besonders von professionellen Nutzern verwendet wird.
Werbeseite
Werbeseite
Wissenschaft
SPIEGEL-GESPRÄCH
„Stärkstes Gefühl
war die Leichtigkeit“
Eugene Cernan, der letzte Mann auf dem Mond, über seinen
Flug zum Erdtrabanten, Schnellfahrten durch die
lunare Geröllwüste und Lebenskrisen der Apollo-Astronauten.
SPIEGEL: Herr Cernan, vor genau 30 Jahren,
am 20. Juli 1969, landete Neil Armstrong
auf dem Mond und sprach seinen berühmten Satz vom „gigantischen Sprung für die
Menschheit“. Eigentlich waren ja Sie für
diese Pioniertat ausersehen.
Cernan: Das ist richtig, nach dem ursprünglichen Zeitplan sollte die Mondlandung bereits mit Apollo 10 erfolgen. Ich
war Pilot dieser Crew, die acht Wochen
vor Apollo 11 zum Mond flog, um erstmals
die Landefähre zu erproben. Wir hatten
uns der Mondoberfläche bis auf rund 15
Kilometer genähert. Doch dann kehrten
wir um.
SPIEGEL: Wäre eine Landung damals technisch möglich gewesen?
Cernan: Leider nein. Unsere Computer verfügten noch nicht über die notwendige
Software zum Abstieg. Zudem hatten wir
nicht genügend Treibstoff, um vom Mond
wieder aufzusteigen und die mondumkreisende Kommandokapsel mit John
Young an Bord zu erreichen.
SPIEGEL: Die Versuchung zu landen, so nahe
am Ziel und doch nicht ganz, die leugnen
Sie nicht?
Das Gespräch führten die Redakteure Johann Grolle
und Rainer Paul.
Fotos aus „Full Moon – Aufbruch zum Mond“ von
Michael Light. Frederking & Thaler Verlag, München; 244
Seiten; 98 Mark.
Touren zum Trabanten
Cernan: Gewiß nicht, aber wir waren ganz
einfach noch nicht soweit. Uns fehlte ausreichende Erfahrung mit der Mondlandefähre. Die erste sammelten wir beim Apollo-9-Flug im erdnahen Raum; bei Apollo 10
erfolgte dann der richtige Härtetest im
Weltraum.
SPIEGEL: Statt der letzte Mensch auf dem
Mond wären Sie sonst der erste gewesen.
Cernan: Es hätte mir schon gefallen, als erster den Mond zu betreten. Andererseits
war Apollo 10 ein großes Abenteuer und
technisch eine enorme Herausforderung,
zumal wir erstmals die Abstiegsstufe ausprobierten und ebenso das Triebwerk für
das Abheben vom Mond. Rückblickend
war ich damals nicht enttäuscht. Denn ich
würde ja bald wiederkommen.
SPIEGEL: Dreieinhalb Jahre später saßen Sie
dann in der Apollo-17-Kapsel an der Spitze der riesigen Saturn-5-Rakete, und der
Start verzögerte sich um einige Stunden.
Ihr Bordkollege Harrison Schmitt nutzte
die erzwungene Pause zu einem Nickerchen, und Sie mußten dringend auf die Toilette. Eine volle Blase während der entscheidenden Startphase erscheint uns keine angenehme Vorstellung.
Cernan: Wir lagen ja schon einige Stunden
in der Kapsel, da füllt und entleert sich
dann eben die Blase, es war eine ganz
normale Erleichterung. Unsere Raum-
Apollo-17-Astronaut Schmitt, Mondauto „Lunar
anzüge waren für solche Fälle ausgelegt,
schließlich waren wir auch als Astronauten keine Roboter, sondern immer noch
Menschen.
SPIEGEL: Befürchteten Sie während der
Startverzögerung, daß die Mission fehlschlagen könnte?
Cernan: Ganz weit im Hinterkopf rechneten wir immer damit, daß etwas Unplanmäßiges passieren könnte, was wir zuvor
nicht bedacht hatten und worauf wir nicht
vorbereitet waren, wie etwa beim Unglücksflug von Apollo 13. Doch zugleich
waren wir bis ins letzte Detail mit unserem
Raumschiff vertraut und davon überzeugt,
daß wir jeden möglichen Zwischenfall würden meistern können.
SPIEGEL: Das klingt ziemlich überheblich.
Chronik der amerikanischen Missionen zur bemannten Mondlandung 1968 bis 1972
Apollo 7
Apollo 9
Apollo 12
Apollo 15
11. bis 22. Okt. 1968
Erste bemannte Erdumkreisung mit ApolloRaumschiff
W. Schirra, D. Eisele,
W. Cunningham
3. bis 13. März 1969
Erster Test der Mondlandefähre im Erdorbit
J. McDivitt, D. Scott, R. Schweickart
14. bis 24. Nov. 1969
Mondlandung
C. Conrad, R. Gordon, A. Bean
26. Juli bis 7. Aug. 1971
Mondlandung
D. Scott, A. Worden, J. Irwin
Apollo 10
18. bis 26. Mai 1969
Erster Test der Landefähre
im Mondorbit
T. Stafford, J. Young, E. Cernan
11. bis 17. April 1970
Die Explosion eines Sauerstofftanks macht
die Mondlandung unmöglich. Rückkehr nach
Umfliegen des Mondes
J. Lovell, J. Swigert, F. Haise
Apollo 11
Apollo 14
Apollo 17
16. bis 24. Juli 1969
Erste Mondlandung
N. Armstrong, M. Collins, E. Aldrin
31. Jan. bis 9. Febr. 1971
Mondlandung
A. Shepard, S. Roosa, E. Mitchell
7. bis 19. Dez. 1972
Letzte Mondlandung
E. Cernan, R. Evans, H. Schmitt
Apollo 8
21. bis 27. Dez. 1968
Erste Mondumkreisung
F. Borman, J. Lovell,
W. Anders
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Apollo 13
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Apollo 16
16. bis 27. April 1972
Mondlandung
J. Young, T. Mattingly, C. Duke
FOTOS: IMAGE COURTESY NASA; PRINTED FROM DIGITAL IMAGE @ 1999 MICHAEL LIGHT STUDIO
Rover“: „Gleich kippt er um“
fach: Wenn die Saturn 5 abgehoben hat,
kann ich diese mehr als 3000 Tonnen
Schubkraft mit meinen eigenen Händen
beherrschen. Mit den Steuerungsmitteln
an Bord konnte ich die Saturn 5 in den
Erdorbit bringen und das Schiff zum Mond
fliegen. Meine einzigen Bedenken bei einer
Startverzögerung waren, daß wir nach
stundenlangem Warten wieder aussteigen
müßten, um es erst Tage später wieder zu
versuchen.
SPIEGEL: Vier Tage später stiegen Sie dann
die Leiter hinab und setzten mit Ihrem
dicken Stiefel auf der Mondoberfläche auf.
Cernan: Und ich habe die Oberfläche
tatsächlich durch die Sohlen gefühlt. Sie
ist steinig und fest und staubig. Der ganze
Mond ist mit Staub bedeckt, an einigen
Stellen liegt der Staub zentimeter-, an anderen meterhoch.
SPIEGEL: Was hat Sie nach der Ankunft am
meisten beeindruckt?
Cernan: Das stärkste Gefühl war das der
ungeahnten Leichtigkeit. Es gibt nur zwölf
Menschen auf der Welt, die erlebt haben,
was es heißt, sich in einer Umgebung aufzuhalten, wo die Schwerkraft auf ein Sechstel vermindert ist. Die lunare Leichtigkeit
nutzten wir zu Hopsern und Sprüngen.
SPIEGEL: Wie übermütige Kinder im
Planschbecken?
Cernan: Ja, so ungefähr. Ich gehöre zu den
Menschen, die, egal wo sie sind, Spaß haben wollen. Ich dachte in diesem Augen-
G. SMITH / SABA
Cernan: Zugegeben, aber ich wußte ein-
Eugene Cernan
war erst 29 Jahre alt, als die Nasa den
ausgebildeten Navy-Testpiloten 1963
ins Astronauten-Team berief. Drei Jahre später umkreiste er in der Gemini9-Kapsel als jüngster Astronaut die
Erde. Zwei weitere Raumflüge folgten,
darunter die vorerst letzte bemannte
Mondmission. Bis zu seiner Pensionierung 1976 beschäftigte ihn die Nasa
als Berater. Heute leitet Cernan, 65,
ein Ingenieurbüro, das Bauteile für die
Space Shuttle und die Internationale
Raumstation entwickelt.
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blick nicht im geringsten daran, ob wir diesen Ort wieder sicher verlassen könnten.
SPIEGEL: Wie sah Ihr Landeplatz denn aus?
Cernan: Wir waren in einem weiten Tal gelandet, inmitten von gewaltigen Bergmassiven, die höher waren, als der Grand
Canyon tief ist.
SPIEGEL: Auch so steil?
Cernan: Nein, die Gipfel der Berge ragten
in einiger Entfernung 2600 Meter hoch, die
Hänge fielen leicht ins Tal ab.
SPIEGEL: Genauso wie es Dutzende von Fotos zeigen, die Astronauten zuvor von den
mondumkreisenden Kommandokapseln
aus aufgenommen hatten?
Cernan: Stimmt. Aber wenn man dann
selbst den ersten Schritt auf dem Mond
tut, dann wird einem bewußt, zum erstenmal auf etwas zu stehen, was nicht die Erde
ist. Man kann auf die höchsten Berge klettern und in die tiefsten Ozeane abtauchen
– es bleibt immer die Erde. Doch auf dem
Mond merkt man plötzlich, sich auf etwas
Festem zu befinden, was man nicht selbst
mitgebracht hat, wie etwa die Leiter der
Mondfähre. Diese Täler, diese Berge und
Gesteinsbrocken waren extraterrestrisch.
SPIEGEL: Hatten Ihre Vorgänger Ihnen davon nichts erzählt?
Cernan: Das kann kein Augenzeugenbericht
vermitteln. Auch meine Worte reichen
nicht aus, Ihnen diese Erfahrung nahezubringen.
SPIEGEL: Fühlten Sie sich einsam auf dem
Mond?
177
Wissenschaft
IMAGE COURTESY NASA; PRINTED FROM DIGITAL IMAGE @ 1999 MICHAEL LIGHT STUDIO
nen, ähnlich denen, wie wir sie
von der Erde sehen.
SPIEGEL: Ihr Begleiter, der Geologe Harrison Schmitt, hat dann
doch noch eine Farbe gesehen.
Cernan: Ja, das war eine tolle
Überraschung, als er orangefarbenen Staub entdeckte, der im
intensiven Sonnenlicht aufblitzte.
SPIEGEL: Während Ihres Aufenthalts war es immer taghell.
Konnten Sie Sterne sehen?
Cernan: Wenn wir unser Gesichtsfeld einschränkten und abdunkelten, konnten wir Sterne
sehen. Wir waren sogar darauf
angewiesen, denn wir benötigten bestimmte Sterne als Navigationshilfe beim Rückstart
vom Mond.
SPIEGEL: Aber besonders eindrucksvoll war die Erde?
Cernan: Sie war der einzige
prächtig erleuchtete Farbklecks
im ganzen Universum. Wenn
man sich auf dem Mond befindet, steht die Erde für Zuhause,
Leben und Liebe. Wir verfolgten jede Drehung des Planeten.
Wir sahen auf die Ostküste Nordamerikas,
und zwölf Stunden später kam die Landmasse Asiens gleichsam um die Ecke.
SPIEGEL: Sie verbrachten rund 22 Stunden
außerhalb der Landefähre und hatten viel
zu tun. Hat das eigentlich Spaß gemacht?
Cernan: Und ob! Insgesamt waren wir 75
Stunden oben, wir lebten praktisch dort.
Die Filme von Apollo 17 beweisen, daß wir
nicht nur intensiv arbeiteten, sondern auch,
daß wir die kurze Zeit genossen, Witze
machten und rumtollten.
SPIEGEL: War Ihre erste Ausfahrt mit dem
Lunar Rover mit einer Autofahrt auf der
Erde zu vergleichen?
Apollo-9-Mission 1969: „Schwärzeste Schwärze umgibt die Erde“
der totalen Schwärze des Universums die
ganze Welt vor mir. Es war eine irre, paradoxe Situation. Ich stand da in grellem Sonnenlicht auf der Oberfläche des Mondes
und blickte auf diese vielfarbige Erde, die
viermal so groß am Himmel stand, wie der
Mond bei Vollmond von der Erde aus zu
sehen ist. Und diese Erde war umgeben
von der schwärzesten Schwärze, die man
sich vorstellen kann. Diese dreidimensionale Schwärze verkörperte für mich die
Endlosigkeit von Raum und Zeit.
SPIEGEL: Bemerkten Sie während Ihres
Aufenthalts Veränderungen?
Cernan: Ja; als wir landeten, stand die Sonne tief über dem Horizont im Nordosten,
und die Erde hing im Südwesten über den
Bergen. Weil die Sonne jeden Tag um etwa
Ein Crash-Test im All
wird mit der Nasa-Forschungssonde
„Lunar Prospector“ unternommen. Am
Samstag morgen nächster Woche soll der
Motor des mondumkreisenden Roboters
ein letztes Mal gezündet werden. Dann
nimmt die faßförmige Kapsel Kurs auf einen Krater am Südpol des Mondes. Verläuft alles nach Plan, wird die 161 Kilogramm schwere Sonde im Tiefflug den
aufgeworfenen Wall (Höhe: 960 Meter)
des Kraters überqueren und schließlich
im Kraterinnern zerschellen. Von der Kamikaze-Mission erhoffen sich die Forscher eine Bestätigung der überraschenden Meßdaten, die von dem Prospector
bisher übermittelt wurden. In den tief178
zwölf Grad höher stieg, veränderten sich in
unserem Landegebiet die Schatten. Am
dritten Tag merkte ich, wie meine Hände
im Sonnenlicht wärmer wurden.
SPIEGEL: Die Sonnenstrahlen durchdrangen Ihren Raumanzug?
Cernan: Wir waren natürlich total eingehüllt und durch mehrere Lagen vor Kälte
und Wärme geschützt; aber besonders die
Oberfläche meiner Handschuhe schien
mehr Sonnenstrahlen einzufangen.
SPIEGEL: Gleichen die Farben auf dem
Mond denen der Erde?
Cernan: Es gibt keine Farben auf dem
Mond, abgesehen von denen, die wir hinbringen, wie das Weiß unserer
Raumanzüge oder das Gold der
Schutzfolie um die Landefähre. Der
Mond erscheint in faden Grautö-
sten Kratern der lunaren Pole hatten die Sensoren der Anfang letzten Jahres gestarteten Raumsonde
Hinweise auf Eiskristalle entdeckt,
die vermutlich beim Einschlag von
Kometen in den Mondstaub gelangten. Erreicht die Sonde das anvisierte Ziel, ist der Aufschlag so
heftig, als würden zwei Autos mit
jeweils 1600 km/h zusammenstoßen.
Der Einschlag wird, so kalkulieren Raumsonde „Lunar Prospector“
die Forscher, so viel Energie freisetzen, daß eine Wolke aus Staub und droxyl-Radikale. Um diese zu entdecken,
Wasserdampf aus dem Kraterinnern auf- werden zwei irdische Fernrohre und das
steigt. Sobald diese Wolke ins Sonnen- Raumteleskop Hubble auf den lunaren
licht gerät, bilden sich sogenannte Hy- Südpol ausgerichtet.
NASA
Cernan: Überhaupt nicht, ich hatte doch in
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IMAGE COURTESY NASA; PRINTED FROM DIGITAL IMAGE @ 1999 MICHAEL LIGHT STUDIO
Cernan: Überhaupt nicht. Ich hörte nicht
den Motor, denn auf dem luftleeren Mond
gibt es keine Geräusche. Ich fühlte aber
das Vibrieren der vier Rover-Motoren. Der
Hauptunterschied zur Erde ist, daß man
nicht mit der Straße verankert ist. Wenn
wir mit dem Rover eine kleine Unebenheit überquerten, dann sprang das betreffende Rad hoch, und wir fuhren nur noch
dreirädrig.
SPIEGEL: Bei schneller Fahrt über ein
Geröllfeld wurde aus dem Rover eine fliegende Maschine?
Cernan: Beinahe, aber nicht ganz. Wir hatten ja keine Tragflächen und auch keine
Luft, die uns hätte Auftrieb geben können.
Die geringe, durch die schwache Anziehungskraft bedingte Bodenhaftung zeigte
sich bei Rover-Fahrten besonders an Abhängen, wo man stets das Gefühl hatte:
Gleich kippt er um. Als Commander achtete ich darauf, daß ich immer auf der Bergseite saß und mein Geologe auf der abschüssigen.
SPIEGEL: Hat Harrison Schmitt die List
durchschaut?
Cernan: Klar, und er hat auch gemeckert.
SPIEGEL: Haben Sie Staubwolken hinter
sich gelassen?
Cernan: Aber ja, und sie hielten sich ewig
lange im lunaren Raum. Gleich zu Beginn
schien der Mondstaub ein Problem zu werden, als ich einen Kotflügel beschädigte,
den wir notdürftig durch ein paar mitgeführte Landkarten ersetzen konnten. Ohne
Kotflügel hätte der aufgewirbelte Staub
uns und die Bordkamera eingenebelt; niemand hätte noch irgend etwas sehen
können – wir wären quasi blind auf dem
Mond herumgekurvt.
SPIEGEL: Sie sind ziemlich steile Hänge
hochgefahren, haben Sie mal befürchtet,
daß Ihr Mondauto schlappmachen würde?
Cernan: Niemals, ich wollte dieses Gefährt
auch völlig ausreizen.
SPIEGEL: Der Navy-Pilot und Astronaut
Cernan wurde auf dem Mond zum Testfahrer?
Cernan: Ein bißchen schon, aber es hatte
auch eine praktische Seite: Je weiter wir
mit dem Rover fahren konnten, desto weniger mußten wir laufen, um so mehr konnten wir erforschen. Zudem war die Arbeit
in den schweren Raumanzügen ziemlich
ermüdend, und wenn wir im Rover saßen,
kam uns das wie eine Ruhepause vor.
SPIEGEL: In die Geschichtsbücher gehen
Sie auch als schnellster Mann auf dem
Mond ein.
Cernan: Das stimmt, aber auch nur durch
einen Trick. Wir fuhren hügelabwärts, dann
gab ich Vollgas und beschleunigte den Rover so auf 14 Stundenkilometer.
SPIEGEL: Bei einer Ihrer Ausfahrten entfernten Sie sich sechs Kilometer von der
Mondlandefähre, die auf den mitgebrachten Fotos nur noch als ein konturenloser
Fleck in der Mondlandschaft steht. Angenommen, der Rover wäre zu diesem Zeit-
Apollo-14-Mondlandefähre im Gegenlicht der Sonne: Rückkehr zum letzten Fußstapfen?
punkt nicht mehr angesprungen: Hätten
Sie es zu Fuß zurück geschafft?
Cernan: Dieser kleine Fleck war ein interessanter Anblick, da wurde uns bewußt,
daß wir unser Tal richtig erkundeten. Wir
hätten unser Basislager auch jederzeit zu
Fuß erreicht, denn der Fahrplan war so
ausgelegt, daß wir zuerst immer das entfernteste Ziel ansteuerten und auf der
Rückfahrt die näher gelegenen Forschungspunkte.
SPIEGEL: Wie haben Sie sich denn mit Ihrem
wissenschaftlichen Kopiloten verstanden,
über dessen Benennung Sie anfangs nicht
sonderlich glücklich waren?
Cernan: Ich denke, wir haben uns gut ergänzt. Alle Astronauten hatten geologische
Grundkenntnisse, wir sollten in Augenschein nehmen, was uns interessant erschien. Mit Harrison Schmitt war es so, daß
ich mir gleichsam den ganzen Wald betrachtete und er sich auf einzelne Bäume
konzentrierte.
SPIEGEL: Sie haben ein markantes Zeichen
auf dem Mond zurückgelassen; wie ein
Teenager am Strand haben Sie die Initialen
Ihrer Tochter Teresa in den Mondstaub geschrieben. Was hat sie dazu gesagt?
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Cernan: Ich hielt diese Initialen für eine
pfiffige Idee. Teresa, die damals neun Jahre alt war, hat es gefallen, und ich glaube,
sie ist sehr stolz darauf. Jedenfalls erzählt
sie mittlerweile ihren eigenen Kindern davon. Im Mondstaub werden die Initialen
für sehr lange Zeit erhalten bleiben,
womöglich länger, als es die Menschheit
gibt. Der einzige Makel an der Geschichte
ist, daß ich die Initialen von Teresa Dawn
Cernan nicht fotografiert habe.
SPIEGEL: Das ist eigentlich schwer nachvollziehbar, zumal Sie doch darauf gedrillt
waren, alles doppelt und dreifach zu fotografieren.
Cernan: Stimmt, aber ich hatte die Kamera
bereits auf dem Rover festgeschraubt, als
mir die Idee mit den Initialen kam. Vielleicht fliegt ja noch jemand hin und kann
dieses Foto machen.
SPIEGEL: Würden Sie selbst gern noch einmal auf dem Mond landen?
Cernan: Ja sicher, doch das ist praktisch
natürlich nicht drin. Ich habe das Gefühl,
als hätte ich dort noch viele Dinge zu tun.
Ich würde furchtbar gern noch einmal meinen letzten Fußstapfen sehen, den ich leider auch nicht fotografiert habe, und eben179
so die Landefähre, die wir zurückgelassen
haben.
SPIEGEL: Für das Unternehmen Mondlandung zahlten die Apollo-Astronauten einen hohen persönlichen Preis. Einige flippten aus, viele ließen sich scheiden oder begannen zu trinken. Haben Sie dafür aus
heutiger Sicht eine Erklärung?
Cernan: Eigentlich nicht. Wir genossen in
vollen Zügen unsere Triumphe, hatten
Konfetti-Paraden und Gala-Empfänge und
tourten um die Welt, um vom Mond zu erzählen. Aber wir machten Fehler, für die
wir teuer zahlen mußten.
SPIEGEL: Was denn für Fehler?
Cernan: Der größte war, daß wir uns zuwenig Zeit für unsere Familien nahmen.
Wir waren fixiert auf diesen Mondflug, hatten eine Art von Tunnelblick. Wir führten,
unter Volldampf und ohne auf jedwedes
Sperrfeuer zu achten, unseren eigenen kleinen Kalten Krieg. Wir hatten nur ein einziges Ziel: eher als die Sowjets auf dem
Mond zu landen. Zu Hause aber saßen unsere Frauen. Sie mußten sich um die aufgeschlagenen Knie der Kinder kümmern,
den Haushalt führen und für die Öffentlichkeit immer die strahlende, tapfere Mrs.
Astronaut spielen. Unter den elf dreiköpfigen Apollo-Mannschaften hatten nur wenige Ehen Bestand. Von den meisten Teams
ist jeweils mindestens ein Astronaut geschieden.
SPIEGEL: Hat der Mond Familien zerstört?
Cernan: Nicht der Mond, wir waren es
selbst.
SPIEGEL: Der letzte Satz eines Menschen
auf dem Mond klingt ähnlich getragen wie
der des ersten. „Wir gehen nun, wie wir
einst gekommen sind, mit Gottes Hilfe, in
Frieden und Hoffnung für die gesamte
Menschheit“, verzeichnet das offizielle
Nasa-Protokoll Ihren Abschied vom Erdtrabanten.
Cernan: Für noch mehr Pathos sah ich keinen Anlaß. Denn ich war felsenfest davon
überzeugt, daß wir bereits zehn Jahre später zum Mond zurückkehren und dann
weiter zum Mars fliegen würden. Doch
bis heute habe ich noch immer die Ehre,
der letzte Mann auf dem Mond gewesen
zu sein.
SPIEGEL: In Wahrheit aber haben Sie sich
dann, außerhalb des Protokolls, mit einem
ziemlich derben Satz vom Erdtrabanten
verabschiedet.
Cernan: Doch zu diesem Zeitpunkt stand
ich nicht mehr direkt auf dem Mond, sondern befand mich schon in drei Meter
Höhe in der Aufstiegsstufe, bereit zum
Abflug.
SPIEGEL: Ihr Mondpilot Harrison Schmitt
begann mit dem Countdown – ten … nine
… eight …
Cernan: … und als er bei fünf ankam,
sprach ich die flapsigen Worte „Let’s get
this motherfucker out of here“.
SPIEGEL: Herr Cernan, wir danken Ihnen
für dieses Gespräch.
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Technik
COMPUTERSPIELE
Gefräßige
Scheibe
Fast zwei Jahrzehnte scheiterten
Videospieler an dem
Klassiker „Pac-Man“. Jetzt schlug
sich ein Amerikaner
bis zur letzten Runde durch.
I
Die Monster gerieten außer Kontrolle
und rückten ihm hart zu Leibe. Erst 200000
Punkte später fing er sich, und das Spiel
nahm wieder den vorgesehenen Lauf.
„Und dann wurde mir klar“, sagt er, „daß
ich noch hundert Runden zu überstehen
hatte.“
Das war der Hauch der Verdammnis.
Mitchell kennt ihn von Kindesbeinen an.
Er wuchs auf in Fort Lauderdale, Florida,
nahe einer der größten Spielhallen der
Welt. Sie war rund um die Uhr geöffnet,
und der kleine Bill verbrachte dort mit seinen Kumpanen „jede freie Sekunde“. An
manchen Tagen, sagt er, wankten sie um
sechs Uhr morgens nach Hause. Die Jungs
gehörten nicht zu den üblichen Gelegenheitsdaddlern – sie übten für das vollkommene Spiel.
Seit es Videospiele gibt, ist es möglich,
perfekt zu sein. Jeder weiß auf den Punkt
genau, wieviel ihn noch trennt vom besten
aller Spieler oder, noch betörender, vom
höchstmöglichen Punktestand. Nicht alle
werden damit fertig.
Die Computertechnik brachte Spieler
neuen Typs hervor. Sie arbeiteten sich
Spiel halten. Für Zuschauer war das reine
Magie.
Ein Dutzend Weltklassespieler gebe es
auf Erden, sagt Mitchell, eine einsame Liga.
Er überragt sie nun alle. „Niemand kann
mich je mehr schlagen“, sagt der Mann,
der im wirklichen Leben drei Kinder hat
und eine Firma, die höllisch scharfe Würzsoßen herstellt.
Im Internet gibt es ein Register mit den
besten Punktzahlen Tausender Spiele, geführt von dem Amerikaner Walter Day. Er
ist quasi der Hauptbuchhalter der Daddlerbewegung. „Das perfekte Pac-ManSpiel“, sagt Day, „war der Heilige Gral.“
Um zu ermitteln, wie oft Pac-Man jemals gespielt worden ist, hat er alte Automaten aufgeschraubt und in den Zählspeichern nachgesehen. Day rechnete hoch
und kam auf mehr als 10 Milliarden Spiele insgesamt. Damit hätte die Menschheit,
vorsichtig geschätzt, Hunderttausende von
Mannjahren aufgewendet, um Pac-Man zu
meistern.
Als Bill Mitchell nach seinem Weltrekord vom Hocker sank, sagte er: „Jetzt
muß ich dieses verdammte Spiel nie wieder anrühren.“ Ein paar Tage später bekam er das Angebot, Mitte
August bei einem großen Wettbewerb in Las Vegas das Wunder noch
einmal zu versuchen.
Mitchell nahm an. Es winkt ihm
der Ruhm eines Mannes, der das
perfekte Spiel gleich zweimal geschafft hat.
Manfred Dworschak
C. KARP / BLACK STAR
n der 256. Runde des Automatenspiels
Pac-Man dreht die Elektronik durch.
Das Zählwerk bleibt stehen, auf dem
Monitor blinken wirre Linien. Die Programmierer von Pac-Man haben nicht für
möglich gehalten, daß je ein Spieler so weit
kommt.
Der Amerikaner Bill Mitchell, 33, hat es
vor wenigen Tagen geschafft. Sechs Stunden lang bugsierte er die berühmte gelbe
Scheibe mit dem gefräßigen Maul durch
einen Irrgarten voller Gefahren. Er entging
den vier niedlichen Monstern, die
ihn unentwegt verfolgten, und er
mampfte alle Kirschen, Bananen
und Schlüssel, die ihm unterwegs
erschienen.
Als erster Mensch machte er dabei keinen einzigen Fehler, und am
Ende hatte er 3 333 360 Punkte beisammen. Mehr sind in diesem Spiel
nicht zu erreichen.
Das Mirakel ereignete sich bei einem öffentlichen Schaukampf in einer Spielhalle im US-Staat New
Hampshire. Anfang Mai erst war
der Kanadier Rick Fothergill zu einem Rekordversuch angetreten,
ließ vor dem Ziel jedoch eines seiner drei Leben und verfehlte den
Gipfel des Ruhms um 90 Punkte.
Seit 1980 streben Punktejäger in
aller Welt nach der Meisterschaft. Automatenspiel „Pac-Man“
Damals war Pac-Man in den Spiel- Irrgarten voller Gefahren
hallen erschienen. Die große Zeit
der Videospiele hatte gerade begonnen, voran mit der Sturheit
und Pac-Man galt bald als das größte. Tau- von Elektronengehirnen.
sende Frauen und Männer, heißt es, waren In schier endlosen Verentzückt von der fressenden Scheibe, die suchsketten beobachteaussah wie eine Spalttablette.
ten Bill Mitchell und seiEin Song namens „Pac-Man Fever“ kam ne Freunde die vier Monin den USA gar in die Top ten. Wettbe- ster, bis sie deren einprowerbe fanden statt, und die besten Spieler grammierte Verhaltensverloren sich für Stunden in den Reizge- muster durchschaut hatwittern der Verfolgungsjagd. Nach einiger ten. Schließlich lernten sie
Zeit, so berichteten sie, erlebe man ein selt- alles auswendig.
sam schwebendes Glück, ein Gefühl von
Mit diesem Wissen entAllmacht und Leichtigkeit.
wickelten sie ein paar
Beim Stand von 1,9 Millionen Punkten aberwitzig umständliche
war auch Bill Mitchell soweit. „Das ist die Zugfolgen, die ihnen für
größte Gefahr“, erzählt er. Seit einer Stun- etliche Sekunden Ruhe
de war es traumhaft gelaufen, wie von al- vor den Verfolgern verlein. Prompt machte er eine falsche Bewe- schafften. So konnten sie
gung. „Ich wäre fast gestorben.“
sich immer länger im Meisterspieler Mitchell: „Ich wäre fast gestorben“
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181
Kosmetische
Falten
Fiat bringt ein neues Modell des
erfolgreichen Punto heraus.
Der Kleinwagen soll den angeschlagenen Konzern retten.
D
as jüngste Auto des Fiat-Konzerns
ist kaum länger als ein Surfbrett.
Und doch kommt dem Wägelchen
laut Vorstandschef Paolo Cantarella die
Rolle eines Fährschiffs zu. Der neue Punto, erklärte Cantarella vergangene Woche,
„ist das Auto, mit dem Fiat ins neue Jahrtausend übersetzen wird“.
Schon das Vorgängermodell war zeitweise das meistverkaufte Auto seiner Klasse in Europa. In knapp sechs Jahren
Produktionszeit wurde der Punto 3,3millionenmal abgesetzt. Kein anderes FiatModell gewann mehr Kunden.
Erstaunlich rasch erfolgt nun die Ablösung. Der zweite Punto, der von September an zu Preisen ab etwa 19 000 Mark in
den Handel kommt, ist eine komplette
Neukonstruktion. Umgerechnet 1,5 Milli-
der Sportversion sieben)
Fahrstufen angeboten.
Wer selbst schalten möchte, kann den Wahlhebel
in eine links von der
Schaltkulisse gelegene
Gasse mit Tippfunktion
drücken – ein Extra,
das bisher vorwiegend
nur in Autos höherer
Preisklasse zu bekommen
war.
Als weitere technische
Neuheit erhält der Punto eine elektrisch betriebene Servolenkung naFiat-Ehrenpräsident Agnelli: Getrübte Feststimmung
mens „Dualdrive“. Sie
arden Mark hat Fiat in seine Entwicklung ist leichter und raubt dem Motor weniger Leistung als die bisher üblichen
investiert.
Auf den ersten Blick rätselt der Be- hydraulischen Systeme. Überdies erlaubt
trachter, wofür das viele Geld ausgegeben sie den Einsatz einer zweistufigen
worden sein mag. Denn der neue Punto Funktion: Im „City“-Modus ist die Lensieht seinem Vorgänger verblüffend ähn- kung extrem leichtgängig, um das Einlich. Abgesehen von einigen kosmetischen parken in enge Lücken zu erleichtern.
Falten und auffällig aus den Dachsäulen Im „Normal“-Modus sind größere
herausquellenden Heckleuchten hat sich Lenkkräfte erforderlich – bei Überlandam Design des Wagens kaum etwas ge- fahrten reagiert das Auto dann weniger
nervös.
ändert.
Doch Fiat verweist auf zahlreiche
Mit seinem Raumangebot legt der neue
Detailverbesserungen unter dem Blech. Punto gegenüber dem Vorgänger noch einSo wird nun zusätzlich zum serien- mal zu. In der fünftürigen Version faßt der
mäßigen Fünfganggetriebe gegen Aufpreis Kofferraum 297 Liter, laut Fiat „der größein Automatikgetriebe mit sechs (in te seiner Klasse“.
REUTERS
AU T O M O B I L E
Technik
Etwas ernüchternd wirkt das
karge Kunststoff-Armaturenbrett, traditionell ein Schwachpunkt italienischer Autos. Die
verwendeten Materialien erscheinen kaum hochwertiger als
bei handelsüblichen Mülltonnen.
„Funktion geht über Dekoration“, rechtfertigt sich FiatDesigner Peter Faßbender und
verweist stolz auf den ergonomischen Overkill von 26 Ablagefächern.
Einen ähnlichen Verkaufserfolg
wie beim alten Punto hat Fiat
dringend nötig. Der italienische Neuer Fiat Punto: Ergonomischer Overkill
Autoriese ist, unter anderem
wegen der starken Abhängigkeit von den kaufte Fiat bis 1983; vom Nachfolger Uno
schwächelnden Märkten Südamerikas, (1983 bis 1995) waren es weitere 6,3 Milwirtschaftlich schwer angeschlagen und aus lionen.
Sicht vieler Experten ein Fusions- oder gar
Die Fertigungsqualität jedoch hielt mit
Übernahmekandidat (SPIEGEL 23/1999). der Innovationskraft der Piemonteser InNun ruhen wieder alle Hoffnungen auf genieure nicht Schritt. Rostfraß, technische
dem Kleinwagenbau, aus Tradition die Defekte und Alltagsärger prägten den
stärkste Disziplin mediterraner Fahrzeug- Ruf der Marke Fiat. So weckten unprätechnik.
zise Schaltungen den Eindruck, das GeSchon 1971 – in Deutschland liefen noch stänge sei aus Gummi. Crashtest-Ergebdie veralteten VW-Käfer mit Heckmotor nisse gemahnten an die Labilität von Hutvom Band – präsentierten die Turiner den schachteln.
Fiat 127, dessen Konzept (vorn quer eingeBesserung brachte eine neue Fabrik, die
bauter Motor, Frontantrieb) auf dem eng- weit vom Firmensitz Turin entfernt lag. Im
lischen Mini beruhte und sich bald weltweit süditalienischen Melfi errichtete Fiat eine
durchsetzte. 5,3 Millionen Exemplare ver- moderne, von Robotern beherrschte Pro-
duktionsstätte. Dort läuft seit 1993 der Punto vom Band, der erste Fiat-Kleinwagen,
dessen Qualität und Crashsicherheit auf
Weltniveau liegen.
Daß Fiat zweifellos zu den besten Kleinwagenherstellern der Welt zählt, ist jedoch
noch keine Garantie für das eigenständige
Überleben des größten italienischen Industriekonzerns, der vorvergangene Woche
die Präsentation des neuen Punto mit seinem 100jährigen Jubiläum verband. Der
78jährige Konzernpatriarch Giovanni
Agnelli empfing über 3000 Gäste. Als Gastredner huldigte der italienische Ministerpräsident Massimo D’Alema der Lokomotive mediterraner Wirtschaftskraft.
Der drohende Zusammenschluß mit einem ausländischen Konzern – als wahrscheinlichste Kandidaten gelten derzeit
Ford und Mitsubishi – trübte ein wenig die
Feststimmung. Das industrielle Selbstbewußtsein der Apenninenhalbinsel würde
unter einer solchen mehr oder weniger
freiwilligen Firmenvermählung verlorengehen.
Roberto Testore, Vorstandschef der FiatAutosparte, die im vergangenen Geschäftsjahr umgerechnet 200 Millionen
Mark Verlust auswies, war immerhin
noch zu Scherzen aufgelegt: „Fiat ist ein
schönes Mädchen, gerade mal 100 Jahre
alt, und kann sich mit der Hochzeit Zeit
lassen.“
Christian Wüst
Debatte
A l p t r au m M e d i z i n
Vo n M i c h a e l d e R i d d e r u n d Wo l f ga n g D i s s m a n n
Ab 1960 war die Behandlung mit einer künstlichen Niere
zunächst nur an einem Krankenhaus in Seattle möglich. Hunderte
von Patienten im Endstadium einer Nierenerkrankung drängten
auf die lebensrettende Blutwäsche. Unter denen, die für die jährlichen Behandlungskosten von rund 30 000 Dollar nicht selbst
aufkommen konnten, sonderte ein Ärztekomitee zunächst diejenigen aus, die nach medizinischen Kriterien eine schlechte Prognose hatten. Ein zweites, aus Bürgern bestehendes Komitee,
dessen Mitglieder der Öffentlichkeit unbekannt waren und weluf dem diesjährigen Kongreß der amerikanischen kardio- ches geheim tagte, entschied über Leben oder Tod der Verblielogischen Gesellschaft in New Orleans stellte Dr. Alfred benen nach Kriterien wie diesen: Sollte ein nierenkranker Vater
Buxton das Ergebnis einer Studie vor, deren praktische von sechs oder einer von vier Kindern vorrangig in den Genuß
Umsetzung die Gesundheitssysteme aller westlichen Staaten vor der Behandlung kommen? War der Kandidat nach Ausbildung,
Charakter, Moralvorstellungen und Religionszugehörigkeit ein
kaum lösbare finanzielle Hürden stellen wird.
Es geht nicht etwa um die Einführung einer neuen kosten- wertvolles Mitglied der Gesellschaft?
Erst seit 1972 ist das Dialyseprogramm allen Patienten in den
trächtigen Lifestyle-Pille vom Schlage Viagra, sondern um vermeidbare Todesfälle von Patienten mit koronarer Herzerkran- USA kostenlos zugänglich. In Deutschland wenden die Krankung, der häufigsten Todesursache in Europa und den Vereinig- kenkassen jährlich fünfeinhalb Milliarden Mark für 50 000 Patienten auf, zumeist Diabetiker und Hochdruckkranke, die ohne
ten Staaten.
Ein beträchtlicher Anteil dieser Patienten leidet, von ihnen Nierendialyse oder Nierentransplantation nicht überleben würselbst nicht bemerkt, an Rhythmusstörungen der Herzkammer, die den. Wegen der steigenden Zahl dieser Kranken muß künftig mit
Vorboten des plötzlichen Herztodes sind. Die Studie kam zu dem jährlichen Mehrausgaben von sieben Prozent gerechnet werden.
Doch es kommt, was Kosten
Ergebnis, daß die Implantation eiund Finanzierung angeht, alles
nes speziellen Herzschrittmachers
noch viel schlimmer. Denn die
(„Defibrillator“) der konventiowestlichen Gesellschaften stehen
nellen, vergleichsweise preisweran der Schwelle einer Ära, die die
ten Therapie mit antiarrhythmisch
Medizin in ähnlicher Weise revowirkenden Arzneimitteln bei weilutionieren wird wie Mikroskop
tem überlegen ist. Gesamtkosten
und Röntgengerät, EKG, Antibiopro Patient: 65 000 Mark.
tika und Impfstoffe; einer Ära
Schon bei der Präsentation der
ungeahnter diagnostischer und
Studie warf man die Frage auf, ob
therapeutischer Eingriffsmöglichdie finanziellen Ressourcen der
keiten in heute noch kaum verwestlichen Nationen ausreichten,
standene Krankheitsprozesse. Die
diese zwar lebensrettende, jedoch
künftige Medizin umfaßt die
ungemein kostspielige Therapie
Voraussehbarkeit, Verhütung und
allen Koronarpatienten zukomBehandlung einer Vielzahl von
men zu lassen, die sie benötigErkrankungen durch genmediziten. Allein in Deutschland sind,
nische Interventionen ebenso wie
zurückhaltend geschätzt, jährlich
durch eine bislang nicht gekannetwa 70 000 Patienten betroffen:
Mediziner de Ridder, Dißmann
te medizintechnische Präzision
für die Krankenkassen ein finanzielles Volumen von rund 4,5 Milliarden Mark. Dieser Betrag und pharmakologische Zielgenauigkeit bei Eingriffen in Struktur
würde sich vervielfachen, wollte man allen während der letzten und Funktion einzelner Organe und Organsysteme.
Man wird identische Organreplikate bereitstellen, mentale ErJahre „aufgelaufenen“ Patienten diese Behandlung anbieten.
Angesichts dieser hochwirksamen und konkurrenzlosen Be- krankungen zunehmend beherrschen und den Alterungsprozeß
handlungsoption den Daumen zu senken, dürfte dem Bundes- verzögern können. All dies wird verbunden sein mit einer Abausschuß der Ärzte und Krankenkassen ungleich schwerer fallen nahme behandlungsbedingter Risiken und Belastungen, mit einem
als im Fall Viagra. Denn ein Verzicht auf sie wäre ein folgenrei- Gewinn an krankheitsfreier Lebenszeit und der Aussicht, sie in ein
ches Exempel offener Rationierung einer medizinisch unver- zweites Lebensjahrhundert auszudehnen. Doch trüben drückenzichtbaren Leistung und zweifellos unethisch – es sei denn, man de Fragen diese Aussichten: Wo enden die Leistungen genuiner
würde auch andere lebenserhaltende und kostspielige Therapien Medizin? Wann wird sie zu einem ethisch fragwürdigen Instruwie Herztransplantationen und Nierendialyse zugunsten höher- ment der „Runderneuerung“ des Menschen? Welchen Stellenwert
wertiger Güter aufgeben. Welche Abgründe sich auftun, wenn hat die Medizin für Gesundheit und Wohlergehen des einzelnen
die Fortschritte der Medizin zum Sprengsatz der Budgets zu und die Gesellschaft insgesamt? Wer wird über den Zugang zu den
werden drohen, zeigt exemplarisch die Geschichte der in den Errungenschaften dieses Fortschritts entscheiden? Und, noch einUSA entwickelten künstlichen Niere, die zur ersten offenen Ra- mal: Wer kann, wer wird ihn bezahlen?
Schon derzeit ist die Situation höchst angespannt. Ein unübertionierung moderner High-Tech-Medizin in der westlichen
sehbares, stetig wachsendes Angebot ungeprüfter, überflüssiger
Welt führte.
De Ridder, 52, ist Leitender Oberarzt Innere Medizin der Rettungsstelle und Aufnahmestation im Krankenhaus Am Urban in
Berlin-Kreuzberg. Professor Dißmann, 67, war von 1974 bis 1997
Abteilungsleiter Innere Medizin und Intensivmedizin im Krankenhaus Am Urban. Die beiden Ärzte halten die Rationierung
medizinischer Leistungen für unausweichlich, wenn weiterhin
Milliarden für sinnlose Diagnostik und Therapie verpulvert werden und die Kurzsichtigkeit der Gesundheitspolitik fortbesteht.
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nzureichendes Wissen, mangelhaftes Qualitätsbewußtsein,
unvertretbares Gewinnstreben – eingebettet in die schleichende Erosion ethischer Prinzipien – sind die Ursachen
dieser Misere. Ein Chefarzt einer kardiologischen Abteilung, der
jährlich 1800 Ballondilatationen an Herzkranzgefäßen vornimmt,
erhält leichter Forschungsgelder und wird eher zum „Meinungsbildner“ erkoren als ein Kollege, der nur 800 vorzuweisen hat.Wer
fragt schon nach der Güte der Indikationsstellung?
Ärzteschaft und Politik werden nicht müde zu beteuern, die
deutsche Medizin sei die leistungsfähigste der Welt, und auch
morgen sei, trotz aller Unkenrufe, allen Bürgern eine hochwertige und umfassende medizinische Versorgung garantiert. Man propagiert mehr Wettbewerb im Gesundheitswesen, Ausschöpfung
von Rationalisierungsreserven, Behandlungsrichtlinien, Qualitätsmanagement und größere Eigenverantwortung der Patienten;
Konzepte, die nach unserer Auffassung zwar Symptome lindern
mögen, ihr eigentliches Ziel aber, unter Berücksichtigung des notwendigen medizinischen Fortschritts eine effektive, bezahlbare
und gerechte medizinische Versorgung langfristig zu gewährleisten, verfehlen müssen.
Das kommende Jahrhundert wird den Industrienationen einen
weiteren Rückgang akuter Erkrankungen und – trotz Aids und Antibiotikaresistenzen – der Infektionskrankheiten bescheren. Beherrschen werden das Morbiditätsspektrum chronische und
degenerative Erkrankungen des Gefäßsystems, des Gehirns, des
Bewegungsapparates sowie Tumorerkrankungen. Dieser Wandel
trifft auf eine längerlebige und anspruchsvollere Bevölkerung, an
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der in Deutschland die über 60jährigen im Jahr 2020 einen Anteil
von 30 Prozent haben werden. Bei abnehmender Erwerbstätigkeit
(und damit geringeren Beitragseinnahmen der Krankenkassen)
wird folglich die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen steigen.
Dies bedeutet unweigerlich Kosten, die potentiell unsere sozialen
Sicherungssysteme sprengen.
W
elche gesundheitspolitischen Strategien sind notwendig
und geeignet, dieses unausweichliche Szenario und die
mit ihm drohenden schwerwiegenden gesellschaftlichen
Verwerfungen zu vermeiden? Wir sind überzeugt davon, daß sich
die Gesundheitspolitik künftig nur dann als tragfähig erweisen
wird, wenn sie zwei Erkenntnissen Rechnung trägt: Zum einen
müssen die Investitionen in die biomedizinischen Wissenschaften
massiv intensiviert werden, weil die von ihnen zu erwartenden Resultate die Medizin langfristig
effektiver und kostengünstiger
machen. Zum anderen sind alle
erdenklichen Anstrengungen
zu unternehmen, das seit langem bekannte Wissen darüber
zu nutzen, daß Krankheit mit
einer Fülle von sozioökonomischen Faktoren in allen Bereichen des gesellschaftlichen
Lebens zusammenhängt.
Die Prämisse „Mehr Medizin gleich mehr Gesundheit“
ist falsch. Vielmehr besagen die
günstigsten Schätzungen, daß
die Leistungen der Medizin mit
nicht mehr als zehn Prozent in
die Indizes eingehen, mit denen Gesundheit „gemessen“
wird: Kindersterblichkeit, Lebensqualität (gemessen in
Krankheitstagen) und Lebenserwartung (Mortalität). Die
übrigen 90 Prozent betreffen
Faktoren wie individuellen Lebensstil (zum Beispiel Lebenszufriedenheit, Ernährungsgewohnheiten, Rauchen, Bewegung), soziale Bedingungen (zum Beispiel Ausbildung, Einkommen, Arbeitsbelastung), Umweltbedingungen (zum Beispiel Luft- und
Wasserqualität) und die genetische Ausstattung des einzelnen.
Der weitaus größte Teil der Gesundheitsdeterminanten liegt
folglich jenseits des Zugriffs der klassischen Medizin, jedoch
im Bereich gesellschaftspolitischer Gestaltungsmöglichkeiten.
Sie weiterhin nicht auszuschöpfen hieße substantielle Elemente
der Gesundheit des einzelnen wie der Gesamtgesellschaft zu
mißachten.
Warum verschenkt unsere Gesellschaft die Chance, in den
Schulen ein obligates Fach „Gesundheitserziehung und Krankheitslehre“ einzuführen und damit Kindern und Jugendlichen
Verhaltensweisen zu vermitteln, ihr wichtigstes „Kapital“ zu bewahren? So – und nur so – könnte im übrigen der vielbeschworene „mündige Patient“ Wirklichkeit werden.
Um den drohenden Alptraum einer aus Kostengründen vorsätzlichen und systematischen Verweigerung medizinisch gebotener Leistungen gegenüber bestimmten Patienten und
Patientengruppen zu bannen, braucht unser Land eine gestaltungsstarke und sachverständige Gesundheitspolitik, die
Prioritäten erkennt und durchsetzt. Gefragt ist zudem eine Ärzteschaft, die den unerläßlichen Selbstreinigungsprozeß nicht
scheut.
Mehr noch: Alle gesellschaftlichen Gruppen müssen darüber
nachdenken, wie die Mittel, die die Erhaltung unseres „höchsten
Gutes“ sichern sollen, gerecht verteilt werden können. Andernfalls ist ein übles Ende absehbar: Menschen werden sterben –
weit vor der Zeit.
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M. SCHOLZ / MELDEPRESS
oder wirkungsloser Arzneimittel widersteht jeder angemessenen
Beschneidung. Eine kaum quantifizierbare Flut nicht indizierter,
besonders medizintechnisch-diagnostischer Leistungen kommt
allein ihren Anbietern zugute, nicht den Patienten. Mehrfachuntersuchungen unterliegen keiner Kontrolle. Aufwendige Interventionen ohne irgendeinen Gewinn am Lebensende eines Patienten – vielfach sogar zu seinem Nachteil – sind medizinischer
Alltag.
Der Sachverständigenrat für die konzertierte Aktion im Gesundheitswesen rügt nachdrücklich brachliegende Wirtschaftlichkeitsreserven: Wesentliche Teile der präoperativen Routinediagnostik seien überflüssig, ebenso zahllose Knochendichtemessungen und Arthroskopien. Die Diagnostik des extrem häufigen, unkomplizierten Rückenschmerzes werde mit unvertretbarem Aufwand betrieben. Die Hälfte der 100 Millionen Röntgenuntersuchungen seien nicht
gerechtfertigt.
Die Liste aberwitziger ärztlicher Leistungen ließe sich
fortsetzen. Ihre finanzielle
Größenordnung dürfte in der
Bundesrepublik, ähnlich wie in
Kanada und den Vereinigten
Staaten, bei etwa 30 Prozent
aller Aufwendungen für die
Gesundheit liegen.
Auf der anderen Seite werden Gesundheitsleistungen oft
ausgerechnet dort eingeschränkt, wo sie unverzichtbar
sind. Zum Beispiel: Nur fünf
Prozent aller Tumorpatienten
werden nach dem neuesten
Stand des medizinischen Wissens versorgt; von den 550 000
Patienten in Deutschland, die
stark wirksame Opiate benötigen, erhalten nur 3,6 Prozent
Patient auf Intensivstation
die erforderliche Therapie. 75
Prozent aller Herzinfarktpatienten werden Cholesterinsenker
vorenthalten.
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FOTOS: AP
Amundsen-Scott-Forschungsstation: 5000 Kilometer bis zum nächsten Hospital
te einen Knoten in ihrer
Brust. Seither befindet sie
sich auf dem Kontinent der
Extreme in einer Extremsituation.
Der Knoten hatte sich offenbar sehr schnell gebildet,
denn im Dezember, als die
Frau für die Expedition ins
Ausgerechnet am Südpol stellte
Eis eingehend medizinisch
eine Ärztin bei sich Brustuntersucht worden war, gab
krebs fest. Die Frau kann nicht
es die Verhärtungen noch
nicht. Eine erste Gewebeproausgeflogen werden –
nun muß sie sich selbst behandeln. be, die sich die Ärztin mittlerweile selbst abnahm, er- Medikamentenabwurf*: Flugzeugcrew mit Frostbeulen
ede Blinddarmentzündung kommt un- wies sich als beunruhigend.
Die einzigen Kontakte zur Außenwelt
Die womöglich an Brustkrebs leidende
gelegen. Leonid Rogosow jedoch erkrankte zum völlig falschen Zeitpunkt Medizinerin ist in der kältesten und ein- für die Polar-Eremiten erfolgen über Teleam falschen Ort. Als der eitrige Wurmfort- samsten Gegend der Welt gefangen – und fon, Videokonferenzen und Internet. Nur
satz zu platzen drohte, arbeitete der junge in der dunkelsten noch dazu. Im März ging wenige Stunden am Tag funktioniert die
russische Arzt in der Antarktis-Station die Sonne unter, bis September herrscht in Satellitenverbindung.
Bis zum nächsten Flieger kann die ÄrzNowolasarewskaja – mehr als 3000 Kilo- der Eisöde absolute Finsternis.
Allein ist die Frau nicht: 40 hartgesotte- tin, deren Name streng geheimgehalten
meter vom nächsten Chirurgen entfernt.
Weil ihm auf dem Pinguin-Kontinent weit ne, entbehrungsliebende Sternenforscher wird, jedoch nicht warten. Medikamente
und Stationsmitarbeiter zur Behandlung von Krebs waren nicht im
und breit kein Doktor helüberwintern mit ihr in ei- Marschgepäck.
fen konnte, mußte Rogo1000 km
Atlantik
Mit einem spektakulären Hilfsflug hat
ner riesigen, mit Stahlconsow selbst Hand an sich
tainern vollgestellten Kup- nun die „National Science Foundation“
legen.
pel. Sie alle aber sind so (NSF) als Betreiberin der ForschungsIm April 1961 schnitt
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isoliert, wie es Menschen station versucht, der kranken Frau im Eis
er sich unter lokaler
Amundsen-Scottauf diesem Planeten nur zumindest eine Überlebenschance zu verBetäubung die BauchStation
sein können. 90 Prozent schaffen.
decke auf, assistiert von
am geographischen
Die NSF schickte eine Transportmaschides gesamten Eises der
einem Automechaniker
Südpol
Welt haben sie um sich ne der US-Luftwaffe 20 000 Kilometer weit
und einem Meteorologen.
herum und unter sich – aus den USA bis an den Südpol. Nach eiSein Gedärm quoll ihm
Pazifik
sonst nichts. Die nächste ner Zwischenlandung in Neuseeland und
über den Schoß. Kaltblütig
Menschensiedlung, eben- weiterem achtstündigen Flug warf der
hantierte Rogosow darin
eine Stunde lang mit Skalpell und falls eine Forschungsstation, ist 1300 Kilo- „Starlifter“ aus 300 Meter Höhe am vorZange. Eine Woche später zog er sich meter weit weg; das nächste Krankenhaus letzten Sonntag sechs Paletten ab, unter
in Neuseeland liegt gar 5000 Kilometer ent- anderem beladen mit zwei Ultraschalldie Fäden.
geräten, einem digitalen Mikroskop, MediDie Dramatik dieser erfolgreichen Auto- fernt.
Das letzte Flugzeug verließ die Station kamenten zur Brustkrebsbehandlung, friAmputation im Südpol-Eis wird fast noch
übertroffen von den augenblicklichen Ge- am 15. Februar, die nächste Maschine schem Obst, Briefen und einem Blumenschehnissen in der amerikanischen Amund- kommt erst Ende Oktober. Vorher kann strauß.
Der Flug war äußerst heikel. Hätte die
sen-Scott-Forschungsstation. Hier, in men- kein Flugzeug am Südpol landen und schon
schenleerer, gottverlassener Gegend, di- gar nicht starten, denn bei Temperaturen Maschine einen Motorschaden erlitten,
rekt am geographischen Südpol, hat die von bis zu minus 80 Grad und eisigen Stür47jährige Ärztin der Station im Juni eine men würden Hydraulik und andere wich- * Über der Amundsen-Scott-Station am vorletzten
grausige Entdeckung gemacht: Sie ertaste- tige Systeme versagen.
Sonntag.
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Gefangen in der
Eiskuppel
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Wissenschaft
wäre die 21köpfige Crew verloren gewesen.
Hoch über dem Pol, in völliger Dunkelheit, mußte die Maschine von einem begleitenden Tankflugzeug Treibstoff übernehmen. Die Besatzung trug Atemmasken
und Frostschutzkleidung.
Am frostigen Boden hatten Mitarbeiter
der Südpolstation brennende Ölfässer als
Zielmarkierung in einem Halbkreis aufgestellt. Mit 317 Stundenkilometern donnerte die Maschine um zwei Uhr nachts darüber hinweg.
Die Besatzung warf die Paletten nicht
wie üblich von der Heckklappe in die Tiefe, denn deren Hydrauliksystem wäre im
Extremfrost festgefroren. Die Männer
nutzten statt dessen die Seitenluke – und
kaum öffneten sie die Tür, war es, als würde das Flugzeuginnere schockgefrieren:
Eine Cola-Dose im Cockpit explodierte
vor Kälte; ein mitfliegender Mediziner
behandelte anschließend die Frostbeulen
der Crew.
An Fallschirmen hängend und grell beleuchtet von bengalischen Feuern, sanken
die Paletten aufs Eis. Für die Stationsmitarbeiter am Boden begann nun ein dramatischer Wettlauf gegen die Extremkälte.
Innerhalb von sieben Minuten mußten alle
Pakete eingesammelt und in die Station
gebracht sein. Schon in der achten Minute
wären die ersten Medikamente kaputtgefroren.
Die Aktion hat offenbar geklappt. Wie
die Stationsbesatzung über E-Mail in die
USA meldete, sind lediglich eine Obstkiste
und wohl auch das Zusatz-Ultraschallgerät
beim Abwurf zerstört worden.
Die womöglich krebskranke Frau ist nun
damit beschäftigt, sich zu retten. Sie wird
versuchen, an sich selbst eine weitere Biopsie vorzunehmen. Mit einer Hohlnadel
wird sie sich, geführt vom UltraschallApparat, in den Knoten stechen und eine
Gewebeprobe entnehmen. Diese Probe
wird sie am Mikroskop untersuchen, dann
digitalisieren und zusammen mit Blutuntersuchungen per E-Mail vom Südpol in
die USA schicken.
Amerikanische Brustkrebsexperten werden die Ärztin beraten über die nächsten
Schritte, sollte die Probe tatsächlich den
Brustkrebsverdacht bestätigen. Der Starlifter hat ihr Medikamente für die Chemotherapie geliefert, außerdem das brustkrebshemmende Mittel Tamoxifen. Mit
welchem Präparat sie beginnt, hängt davon
ab, welche Art von Brustkrebs sie hat.
Meist wird bei der Diagnose Mammakarzinom zunächst die Brust amputiert
und dann mit der Chemotherapie begonnen. Der Frau im Eis haben Experten geraten, mit der Operation möglichst bis zur
Rückkehr in die USA zu warten.
Im schlimmsten Fall aber wird die Polfahrerin keine andere Möglichkeit haben,
als sich selbst die Brust abzunehmen – oder
aber Mitinsassen der Polarstation für diesen Eingriff anzulernen.
Marco Evers
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S I N G A P U R Jürgen Kremb, 15, Fifth Avenue, Singapur 268779, Tel.
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WA R S C H A U Andrzej Rybak, Krzywickiego 4/1, 02-078 Warschau,
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Heiko Buschke, Heinz Egleder, Dr. Herbert Enger, Johannes
Erasmus, Cordelia Freiwald, Silke Geister, Dr. Sabine Giehle, Thorsten Hapke, Hartmut Heidler, Gesa Höppner, Stephanie Hoffmann, Christa von Holtzapfel, Bertolt Hunger, Joachim Immisch,
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Margret Nitsche, Thorsten Oltmer, Anna Petersen, Peter Philipp,
Katja Ploch, Axel Pult, Ulrich Rambow, Thomas Riedel, Constanze Sanders, Petra Santos, Maximilian Schäfer, Rolf G. Schierhorn,
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Stodte, Stefan Storz, Rainer Szimm, Dr. Wilhelm Tappe, Dr. Eckart
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Wilkens, Holger Wilkop, Karl-Henning Windelbandt
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I N F O R M A T I O N Heinz P. Lohfeldt; Andreas M. Peets, Kirsten
Wiedner, Peter Zobel
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L E S E R - S E R V I C E Catherine Stockinger
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M Ä R K T E U N D E R L Ö S E Werner E. Klatten
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Chronik
10. bis 16. Juli
SAMSTAG, 10. 7.
MITTWOCH, 14. 7.
PROTEST Nach einem blutigen Polizeiein-
URTEIL Das Bundesverfassungsgericht
billigt die Praxis des Bundesnachrichtendienstes, den internationalen Fernmeldeverkehr ohne konkreten Verdacht abzuhören.
satz gegen Studenten protestieren Tausende Demonstranten weiter gegen das
Mullah-Regime.
LOVE PARADE Während des größten deut-
schen Techno-Festivals in Berlin wird ein
Mann erstochen.
SONNTAG, 11. 7.
UNFALL Beim Grand Prix von Großbritan-
SCHONFRIST Die EU-Kommission vertagt
überraschend ihre Entscheidung zur
deutsch-österreichischen Buchpreisbindung.
NACHBESSERUNG Eine Regierungskommission beschließt, das Gesetz zur Bekämpfung der Scheinselbständigkeit zu entschärfen.
BERUFUNG Der 33jährige SPD-Wirtschafts-
politiker Hans Martin Bury wird neuer
Staatsminister im Bundeskanzleramt.
DIENSTAG, 13. 7.
REPORTAGE
An der Nordseeküste …
Beobachtungen in einer deutschen
Ferienlandschaft
DONNERSTAG, 15. 7.
MONTAG, 12. 7.
Scharping schlägt vor, daß BundeswehrSoldatinnen künftig Wachdienst mit der
Waffe leisten sollen. Er stößt damit bei
den Parteien, außer der PDS, auf breite
Zustimmung.
SPIEGEL TV
BSE verhängte weltweite Exportverbot
für britisches Rindfleisch wird von der
Europäischen Union aufgehoben.
SPARKURS In seiner Regierungsbilanz erklärt Gerhard Schröder, keine Abstriche
beim 30-Milliarden-Sparpaket machen zu
wollen. Er kritisiert erstmals öffentlich
den Kurs von Ex-Finanzminister Oskar
Lafontaine.
WEHRDIENST Verteidigungsminister Rudolf
MONTAG
23.00 – 23.30 UHR SAT 1
FREIGABE Das wegen der Rinderseuche
NULLRUNDE Die Gewerkschaften protestieren gegen den Vorstoß des rheinlandpfälzischen Ministerpräsidenten Kurt
Beck, Löhne und Gehälter in den nächsten beiden Jahren nur in Höhe der Inflationsrate steigen zu lassen.
nien in der Formel 1 rast Michael Schumacher mit 107 Stundenkilometern in einen Reifenstapel – er kommt mit einem
Beinbruch davon.
SPIEGEL TV
RÜCKSCHLAG Die Regierungsbildung für
Nordirland scheitert am Boykott der protestantischen Ulster Unionist Party.
HEIMKEHR Der gemäßigte Albanerführer
Ibrahim Rugova kehrt unter dem Jubel
Hunderter Anhänger in das Kosovo
zurück.
ATOMWAFFEN China gibt erstmals zu, die
Neutronenbombe bauen zu können.
Zeltvermieter auf Borkum
SPIEGEL TV
Ob hanseatische Millionäre oder Kegelclubs aus dem Ruhrgebiet: Im Sommer zieht es Menschen unterschiedlichster Herkunft an den plattdeutschen
Strand zwischen Sylt und Borkum, auf
Campingplätze oder in Nobelhotels,
zu Krabbenpul-Partys, Champagnernächten oder einsamen Streifzügen
durchs Watt.
FREITAG, 16. 7.
FUSION Die Aktionäre der Hoechst AG
stimmen mit 99,7 Prozent für den Zusammenschluß mit dem französischen
Chemiekonzern Rhône-Poulenc.
WÄHRUNG Der Euro fällt auf ein Rekord-
HAFTSTRAFE Der einstige Profiboxer und
tief von 1,0109 Dollar. Die deutsche Wirtschaft reagiert gelassen auf die Talfahrt
der europäischen Währung.
mehrfache Europameister René Weller
wird wegen Drogenhandels zu sieben
Jahren Haft verurteilt.
T O T E N T A N Z Bei
den Proben zu Verdis „Ein Maskenball“
präsentieren die
Bregenzer Festspiele eine eigenwillige
Bühne im Bodensee:
Sie stellt das Lebensbuch dar, in
dem der Tod liest.
DONNERSTAG
22.05 – 23.00 UHR VOX
SPIEGEL TV
EXTRA
Nightlife nach dem Messestreß –
die jährliche Hochkonjunktur im „Château
am Schwanensee“.
Jedes Jahr kommen drei Millionen Messegäste nach Hannover. 90 Prozent von
ihnen sind Männer. Das bedeutet nicht
nur die Erwartung von wirtschaftlichem
Aufschwung in der Industriebranche.
Auch Etablissements wie das „Château
am Schwanensee“ oder VIP-Begleitservices machen während der kurzen Messezeit den höchsten Umsatz im gesamten
Jahr.
SONNTAG
22.10 – 22.55 UHR RTL
SPIEGEL TV
MAGAZIN
REUTERS
Goldrausch im Ozean – wie Profi-Schatzsucher reiche Beute machen; Endstation
Bahnhofsplatz – mysteriöse Todesserie
unter obdachlosen Jugendlichen in Augsburg; Superstars im Crashtest – warum
die Formel 1 immer sicherer wird.
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Register
lián, John Neumeier oder William Forsythe
gingen aus ihren Trainingskursen hervor.
Nach Crankos Tod wurde Woolliams Mitdirektorin der Truppe, arbeitete später
in Australien und in der Schweiz und leitete von 1993 bis 1996 gemeinsam mit
ihrem Mann Jan Stripling das Ballett der
Wiener Staatsoper. Anne Woolliams starb
am 8. Juli nach langer Krankheit in Canterbury.
Gestorben
Theodor Eschenburg, 94. Daß er in seinen letzten Lebensmonaten körperlich verfiel, war ihm einfach peinlich. Ein Lübecker
Sohn aus bestem bürgerlichen Haus wie
er achtete auf Haltung. Die behäbige,
selbstsüchtige, traditionsselige Lebenswelt
seiner Kindheit beschrieb er plastisch und
ironisch in seinen Erinnerungen; am zweiten
Band, der nun bald postum erscheinen soll,
arbeitete er, solange
die Kraft reichte. Als
Student der Geschichte
hatte Eschenburg Gustav Stresemann kennengelernt, Aufnahme
in den Kreis um den Außenminister gefunden. Dessen früher Tod 1929 gab schon
eine Ahnung vom Ende der Weimarer Republik. Stresemanns Untergangsphantasien
waren dem jungen Eschenburg übertrieben erschienen, Hitler fand er persönlich
„weder faszinierend noch beängstigend“ –
ein Irrtum, der ihn noch im hohen Alter
verblüffte. An der Universität in Tübingen,
seiner zweiten Heimat, bekam er 1952 einen Lehrstuhl für Politikwissenschaft, ein
Fach, das er im Nachkriegsdeutschland erst
begründen half. Er ging zu Adenauers und
Erhards Zeiten in Bonn ein und aus, kommentierte in der „Zeit“ politische Ereignisse von exemplarischer Bedeutung. Von
ihm stammen Begriffe, die in den allgemeinen Sprachgebrauch übergingen: Kanzlerdemokratie, Gefälligkeitsstaat, Verbändestaat. Er holte Ernst Bloch und Hans
Mayer nach Tübingen; beider Pathos war
ihm zwar fremd, aber die kleine feine Uni
konnte mehr Aufregung vertragen, fand er.
Ganze Heerscharen von späteren Journalisten – darunter Theo Sommer und Friedrich Karl Fromme – gingen durch seine
Seminare, die der leidenschaftliche Pfeifenraucher Eschenburg mit seiner Erzählkunst und seinem reichen Erfahrungsschatz
zum Ereignis machte. Theodor Eschenburg
starb am 10. Juli in Tübingen an Herzversagen.
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Berufliches
APA / DPA
Anne Woolliams, 72.
In der eitlen Welt des
Balletts war sie eine
der Stillen, Unauffälligen, die im Hintergrund stetig auf Qualität pochte. Die Britin
Anne Woolliams, Tänzerin, Pädagogin und
Ballettmeisterin, kam
1963 nach Stuttgart, wo
sie gemeinsam mit John Cranko eine später weltberühmte Compagnie aufbaute.
Bedeutende Choreographen wie Jirí Ky-
AP
T. KLINK / ZEITENSPIEGEL
James Farmer, 79. Er war der letzte Überlebende der großen vier der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, deren berühmtester Vertreter, Martin Luther King,
1968 ermordet wurde. Schon 1942 gründete Farmer den „Congress of Racial Equality“ (Core), der knapp zwei Jahrzehnte später unter seiner Führung zur Speerspitze
im Kampf gegen die Rassendiskriminierung in den USA wurde. Der überzeugte
Anhänger der Lehren Mahatma Gandhis
hatte maßgeblichen Anteil daran, daß sich
der zivile Widerstand
gegen den amerikanischen Rassismus vorwiegend mit friedlichen Mitteln artikulierte. Gleichwohl wurde er zum Ziel mörderischer Verschwörungen des Ku-Klux-Klan
und riskierte mehrfach
sein Leben. Als „Friedensstörer“ verbrachte er ausgerechnet den 28. August 1963 hinter Gittern, an dem King in Washington
die Nation mit der Rede über seinen Traum
aufrüttelte. Farmer starb am 9. Juli in Fredericksburg, Virginia, an den Folgen seiner
schweren Diabetes.
Fereshta Ludin, 26, muslimische Lehrerin
aus Baden-Württemberg, die aufgrund einer Anordnung von Kultusministerin Annette Schavan nicht in den öffentlichen
Schuldienst übernommen wurde, weil sie
im Unterricht ihr Kopftuch nicht ablegen
wollte, hat eine Anstellung gefunden. Vom
nächsten Schuljahr an wird Ludin an einer
islamischen Grundschule in Berlin-Kreuzberg unterrichten. Der Lehrplan der seit
1995 staatlich anerkannten Privatschule, an
der Kinder aus fünf Nationen lernen, entspricht dem der öffentlichen Schulen. Kopftuchzwang herrscht nicht. Für Fereshta
Ludin ist Berlin nur eine Zwischenstation.
Noch wartet sie auf das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart, wo ihr Anwalt
Klage gegen die Entscheidung der Kultusministerin eingereicht hat. Die Deutsche
afghanischer Herkunft, muslimischen
Glaubens, will vor allem nach Baden-Württemberg zurück, weil sie sich dort „verwurzelt“ fühlt.
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Werbeseite
Werbeseite
Personalien
stige Telefonrechnung sorgt“.
Für Müller wäre es auch kein
Tabu, wenn sein Ministerium,
das Kanzleramt oder andere
Abnehmer des Bundes schon
bald den wachsenden Wettbewerb ausnutzen und ihren
Stromlieferanten wechseln.
Selbst auf Staatsunternehmen
nimmt der sparsame Wirtschaftsminister keine Rücksicht: „Unsere Telefone und
Handys hier im Ministerium
laufen auch nicht über die Telekom“, so Müller. Die habe
„uns ein viel zu schlechtes
Angebot gemacht“.
Jürgen Trittin, 44, grüner
MATUSCHKA
Bundesumweltminister, bekam auf verschlungenen Pfaden die Meinung seines niedersächsischen SPD-Amtskollegen Wolfgang Jüttner
über seinen Politikstil zu lesen. Ein Redakteur der „Woche“ hatte mit Jüttner über
Trittins Charakter und Amtsführung gesprochen und einige Zitate zur Autorisierung an
Jüttner gefaxt – dabei aber
die Faxnummer des Bundesumweltministeriums eingegeben. So erfuhr Trittin vorab
und exklusiv, wie Jüttner den Bonner Kollegen wegen dessen „Politik im ASta-Stil“
kritisierte. Trittin, selbst nie Mitglied einer
Studentenvertretung, zeigte sich tolerant
und reichte das Schreiben an Jüttner nach
Hannover weiter, mit der Anmerkung,
„Jüttner, der ewige Juso, sollte sich mit
ASta-Vergleichen besser zurückhalten.“
VG BILD-KUNST, BONN 1999
Matuschka, 45, brustamputierte New Yorker Künstlerin und Aktivistin, hat erfolgreich ihren Operateur verklagt. Vor acht Jahren hatte
sie ihre Brustentfernung als
provokativen Akt gefeiert –
mit Gipsabgüssen und Porträts von ihrem beschädigten
Leib. Ihre Aktionen machten
Eindruck. Das „New York
Times Magazine“ brachte sie
auf dem Titelbild, verhüllt mit
einer Toga, die Operationsnarbe freigelegt. Sie wollte
damals der „Welt zeigen, wie
so eine Brustentfernung aussieht und daß auch Frauen
mit nur einer Brust akzeptiert
und geliebt werden könnten“
(SPIEGEL 44/1993). Inzwischen ist die Künstlerin ganz
und gar anderen Sinnes und
glaubt, daß die Radikaloperation absolut überflüssig gewesen und die Geschwulst
durch einen kleinen Eingriff
hätte ebenso entfernt werden
können. Sie verklagte ihren
Arzt wegen unzureichender
Beratung. Ein Gericht in Manhattan sprach ihr einen Schadensersatz in Höhe von 2,2 Matuschka im Gipskorsett
Millionen Dollar zu, doch der
behandelnde Arzt hat das Urteil ange- Werner Müller, 53, Bundeswirtschaftsmifochten. Nun zieht Matuschka wieder als nister, zeigt auch im Privatleben unerAktivistin durchs Land: „Brustentfernung schütterliches Kostenbewußtsein. Zwar
ist Körperverletzung und sollte gesetzlich habe er noch keine Zeit gefunden, beverboten werden.“ Auch macht sie sich kannte der parteilose Ressortchef, zu HauSorgen, ob ihre Aktionen vor acht Jahren se zu einem günstigeren Stromanbieter zu
Frauen voreilig zu unnötigen Totalopera- wechseln. Doch „das wird meine Frau ertionen ermutigt hätten.
ledigen, so wie sie für eine möglichst gün-
Schröder-Porträtvarianten von Uhlig
Gerhard Schröder, 55, Bundeskanzler, zeigte sich als anstelli- Abgang Schröders das Werk „ganz neu begonnen wegen der
ger Freund der Kunst. Zwei Stunden saß der Kanzler im Februar
dem Dresdener Maler Max Uhlig Porträt. „Er hat eisern gesessen“, erinnert sich der Maler, bekannt für nicht naturalistische
Porträts mit pastosen Pinselschlägen in Öl, „er wollte es unbedingt durchhalten.“ Es sei nichts getrunken und kaum gesprochen worden (Uhlig: „Ich kann bei der Arbeit keine Unterhaltung führen“). Beim Hinausgehen habe der Kanzler Zustimmung zur Arbeit Uhligs signalisiert. Der aber hatte nach dem
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Ausnahmesituation“. Für die am vergangenen Sonntag vorgenommene Übergabe des Kanzler-Porträts an das Land Niedersachsen hatte denn auch Uhlig vorsichtshalber gleich fünf Varianten für Schröder zum Auswählen vorbereitet. Was angesichts einer Äußerung, die Schröder noch als Ministerpräsident
von Niedersachsen gegenüber Uhlig machte, etwas übertrieben scheint: „Wenn ich hier einmal weggehe, dann ist ein Bildnis fällig.“
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Günter Grass, 71,
Schriftsteller
(„Die
Blechtrommel“, „Mein
Jahrhundert“), hat eine
eigene, subtile Form
des Anti-Amerikanismus entwickelt. Ob er
noch mal Urlaub in den
USA mache, hatte ihn
der „Stern“ gefragt. Der
Pfeifenraucher wehrte
ab: „Heute nicht mehr.“
Der Grund: „Weil man
in den USA nicht rauchen darf. Da wird man
Grass
wie ein Aussätziger in
die Ecke geschoben. Und das im Land der
Demokratie.“
hen, ebenso ein weiteres Werk Catellans,
ein ausgestopftes Eichhörnchen, das nach
Meinung des „Independent“ „offensichtlich Selbstmord begangen hat“.
Susanne Kastner, 52, Parlamentarische
EFFIGIE / BILDERBERG
Geschäftsführerin der SPD im Bundestag,
brachte den bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber, 57, bei der Verleihung des bayerischen Verdienstordens
im Kaisersaal der Münchner Residenz nur
kurz aus dem Tritt. Die Parlamentarierin
wollte von Stoiber wissen, für welche Ver-
F. SCHIRMER
Maurizio Cattelan, 39, italienischer
Künstler, erfreut Ausstellungsbesucher mit
toten Tieren. In der Londoner Tate Gallery läßt er ein an Seilen hängendes Pferd
von der Decke baumeln. Ähnlich wie die
vom englischen Künstler Damien Hirst in
Formaldehyd eingelegten Rinderhälften
und Schafe starb auch Cattelans Pferd angeblich eines natürlichen Todes. Und der
Kurator der Tate ist des Lobes voll, wenn
er Hirst mit Catellan vergleicht: „Es ist wie
bei Monet und Manet, die verschiedene
Dinge zur selben Zeit taten, die aber auch
als eng verwandt gesehen wurden.“ Der
ausgestopfte Gaul, ein ehemaliges Rennpferd, von Cattelan „Novecento“ („Zwanzigstes Jahrhundert“) betitelt, ist bis zum
26. September in der Tate Gallery zu se-
Stoiber, Kastner
dienste sie denn den begehrten Orden, den
nur 2000 Menschen tragen dürfen (für jeden neuen Ordensträger muß ein alter
wegsterben), nun eigentlich erhalte. Stoiber
murmelte was von „besonderen Verdiensten“, welche, mochte er nicht sagen. Auch
weiteres Nachfragen half der Religionspädagogin nicht. Stoiber drückte ihr hastig die Urkunde in die Hand, Kastner
nahm an, noch ein Erinnerungsfoto – und
der nächste war dran.
CASTELLO DI RIVOLI
Jean-Pierre Chevènement, 60, französi-
Cattelan-Werk „Novecento“
d e r
scher Innenminister und stets zum Streit
aufgelegter Nonkonformist, bemühte den
französischen Literaturtitanen Honoré de
Balzac (1799 bis 1850), um sich seinen
Landsleuten zu erklären. Der Politiker war
Anfang des Jahres bei einer Operation in
ein tiefes Koma gefallen. Die Nachrufe waren schon geschrieben, doch Chevènement
kehrte wie durch ein Wunder ins Leben
und ins Ministerium zurück. Seit seinem
Abstecher ins Jenseits, schmähen nun seine Gegner taktlos, halte er sich für einen
Erleuchteten. In einem Interview mit
dem „Figaro“ erläuterte der „Wunderfall
der medizinischen Wissenschaft“ („Le
Monde“), daß es sich bei den Attacken um
ein „Syndrom des Colonel Chabert“, der
berühmten balzacschen Romanfigur, handle: „Man beweint ihn, wenn man ihn tot
im Krieg wähnt, freut sich aber nicht, wenn
er zurückkehrt.“ Der Minister legte noch
eins drauf: „Die Toten sind fast immer populär, die Wiederauferstandenen werden
häufig angefeindet.“
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Hohlspiegel
Rückspiegel
Aus „Sonntag Aktuell“: „Erste Amtshandlungen. Bundespräsident Johannes Rau besuchte gestern Brandenburg. In Jüterbog traf
er dabei auch auf den Ziegenbock Hermann.“
Zitat
Aus dem „Handelsblatt“
Aus der „Tageszeitung“: „Neues Geld für
Rumänien: Bei der bulgarischen Nationalwährung Lew wurden gestern drei Nullen
gestrichen und neue Geldscheine und Münzen eingeführt.“
Aus dem „Hamburger Abendblatt“
Aus der Zeitschrift des Kindermissionswerks „Die Sternsinger“: „Wer den Kalender bestellt, tut obendrein ein gutes
Werk: 12 DM, die Hälfte des Kaufpreises,
gehen als Spende gezielt in gemeinsame
Projekte des Kindermissionswerkes und
des Deutschen Fußball-Bundes – dorthin,
wo die Not am größten ist.“
Die „Süddeutsche Zeitung“ über den
Balkanbeauftragten Bodo Hombach und
zum SPIEGEL-Titel „Aus Schröders
Schublade: Der Plan“ (Nr. 19/1999):
In gemütlichen Treffen bei Rotwein und Zigarren versuchte der Westfale, die Tarifpartner auf einen einheitlichen Kurs einzuschwören. Doch was ihm ab und zu gelang, fuhr er dank ungeschickter PR-Arbeit
an die Wand. Zum Beispiel das Projekt
Niedriglöhne. Im Vergleich zu den USA
fehlen hierzulande Hunderttausende Jobs
im schlechtbezahlten Servicesektor. Staatliche Zuschüsse könnten hier helfen, viele
neue Arbeitsplätze zu schaffen. Das hätte
wie ein Vitaminstoß für das schlappe Bündnis gewirkt. Doch als der SPIEGEL das Geheimpapier als „Plan aus Schröders Schublade“ präsentierte, konnte sich Strippenzieher Hombach nicht lange freuen. Sauer
auf die Indiskretion, schossen sich die Gewerkschaften auf das Konzept ein. Hombach bekam kalte Füße, der Plan verschwand wieder in Schröders Schublade.
So trauern selbst Arbeitgeber, die bei Hombach immer ein offenes Ohr fanden, seinem Abgang in den Kosovo nicht nach.
Der SPIEGEL berichtete ...
... in Nr. 14/1999 „Ausländer – Eine zwölfjährige Türkin soll für Formfehler büßen“
über das seit vier Jahren in Hamburg
bei den Großeltern lebende Mädchen
Ba≠ak, das abgeschoben werden sollte,
weil es als Touristin eingereist war und
nach dem Ausländerrecht keine
Aufenthaltserlaubnis bekommen konnte.
Jetzt erteilte das Ausländeramt eine Aufenthaltsbefugnis aus „humanitären Gründen“. Während das Mädchen in der Türkei,
wo die psychisch kranke Mutter lebt, weitgehend auf sich allein gestellt gewesen
wäre, wächst es in Hamburg bei seinen
Großeltern behütet auf.
Aus der „Rotenburg-Bebraer Allgemeinen“
Aus einer dpa-Meldung unter der Überschrift „Chruschtschow-Sohn ist stolzer
Amerikaner“: „Den Einbürgerungstest
hatte Sergej Chruschtschow bereits im Juni
mit Bravour bestanden. Von 19 Fragen beantwortete er 20 richtig. Seine Frau Valentina Golenka war sogar noch besser: Sie
wußte alles.“
Aus der „Rheinischen Post“: „Es ist bekannt, daß Lenin noch zu seinen Lebzeiten
neben seiner Mutter auf einem St. Petersburger Friedhof liegen wollte.“
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... in Nr. 21/1999 SPIEGEL-Titelgeschichte
„Was bleibt von Jesus Christus?
Rudolf Augstein über den Mythos,
der die Welt prägte“.
Die Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg machte eine wichtige Personalentscheidung vom rechten Umgang mit
dem Beitrag des SPIEGEL-Herausgebers
abhängig: Die Bewerber für den Posten
als Leiter des Pastoralkollegs, dem Institut
für Pfarrerfortbildung der Landeskirche,
mußten einen Essay zum SPIEGEL-Titel
schreiben und ein Fortbildungsprojekt zum
Thema entwickeln. Begründung: Der Provokation Augsteins müsse jeder Pfarrer
argumentativ begegnen können.
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