Sidereus Nuncius - Spektrum der Wissenschaft

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Sidereus Nuncius - Spektrum der Wissenschaft
Welt der Wissenschaft: Astronomie der Neuzeit
Die Geschichte von
GalileOs
Ein Forschungsbericht zum Sidereus Nuncius
Vor einigen Jahren ist ein Exemplar des Sidereus Nuncius aufgetaucht, in dem die
berühmten ersten Bilder des teleskopisch beobachteten Monds als eigenhändige
Tuschzeichnungen Galileis erscheinen. Eine gründliche Untersuchung hat die Seiten
dieses Buchs als die ersten Druckfahnen des epochalen Werks erwiesen und zur besse­
ren Charakterisierung von Galileis Leistung und Selbstverständnis geführt.
Von Horst Bredekamp
In Kürze
ó Das neue, von Galilei eigenhändig
illustrierte Exemplar des Sidereus
Nuncius enthält mehr Druck-
D
urch den Sidereus Nuncius
(Bild rechts oben). In den brillanten, in
(»Botschaft von den Sternen«)
der lateinischen Sprache der Gelehrten
ist Galileo Galilei berühmt
verfassten Beschreibungen dieser Bil­
geworden. Gemeinsam mit
der, die seinen Ruf als Stilist von hohen
Nikolaus Kopernikus’ De Revolutionibus,
Graden begründeten, verstand Galilei sei­
Johannes Keplers Astronomia Nova und
ne teleskopischen Beob­achtungen auch
fehler als die etwa 80 weiteren
Isaac Newtons Principia Mathematica
sprachlich angemessen darzustellen. Mit
erhaltenen Exemplare und wurde
zählt dieses Büchlein bis heute zu den
dem unebenen Mond hatte die Erde ihre
bedeutendsten Werken in der Geschichte
Sonderstellung im All verloren, und mit
der Astronomie. Der am 12. März 1610
den neu entdeckten Trabanten des Jupi­
Exemplare erlaubt eine detaillierte
in Venedig erschienene schma­le Band,
ters war die Einmaligkeit des bekannten
Rekonstruktion der wenigen auf-
in dem neben den ersten teleskopischen
Planetensystems dahin – auch unabhän­
regenden Wochen, in denen Galilei
Beobachtungen des Erdmonds auch die
gig davon, ob die Erde oder die Sonne in
die Beobachtungen durchführte,
der Milchstraße und der vier hellsten Ju­
dessen Zentrum stand. Mit dem Sidereus
den Text schrieb, die Bilder schuf
pitermonde festgehalten wurden, setzte
Nuncius wurde Galilei schlagartig in ganz
und den Erstdruck überwachte.
ó Die Untersuchung wirft auch inte-
einen neuen Rahmen für alle Fragen der
Europa und bald auch in Asien bekannt.
ressante Schlaglichter auf Galileis
Erdmonds und der Konstellationen des
Das Problem des Titels
Gemütslage in dieser Situation
Jupitersystems setzte diese Schrift auch
In seiner Überlänge wirkt der Titel des
und auf sein eigenes Verständnis
darin einen Standard, dass sie die Sequenz
Buchs eher wie eine Einleitung denn eine
der Bedeutung dieses epochalen
zur Regel naturwissenschaftlicher Beob­
Überschrift: »Botschaft von den Sternen,
Werks.
achtungen machte.
welche große und höchst wunderbare
deshalb als erstes gedruckt.
ó Der Vergleich aller erhaltenen
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Kosmologie. Durch ihre Darstellungen des
Die fünf berühmten Darstellungen des
Erscheinungen offenbart und für jeder­
Erdmonds im Sidereus Nuncius zeigen
mann, insbesondere aber für die Philo­
eine Mond­oberfläche, deren zerklüftete
sophen und Astronomen zum Beschauen
Pocken­narbigkeit im Widerspruch zur
darbietet, wie sie von Galileo Galileo,
damals geltenden Lehre stand, dass die
einem Florentiner Patrizier und Professor
Himmelskörper aus glatten, makellosen
für Mathematik an der Universität Padua,
äthe­rischen Sphären zu bestehen hätten
mit Hilfe des kürzlich von ihm erfun­
Sterne und Weltraum
Fünf Radierungen im Sidereus Nuncius zeigen Bilder des ganzen
Mondes. Auf dem hier links gezeigten Bild ist die unregelmäßige,
durch die zerklüftete Mondlandschaft bedingte Trennlinie
zwischen der hell erleuchteten Mondsichel und der dunklen
Nachtseite zu sehen. Aus dem Schatten ragen die höchsten Gipfel,
präzise als weiße Flecken dargestellt, ins Licht der aufgehenden
Galileo Galilei, Sidereus Nuncius, Venedig 1610, S. 8r, Exemplar Münster
Sonne empor.
Das unten links gezeigte Titelblatt des »Oklahoma-Exemplars« des
Sidereus Nuncius trägt Galileis handschriftliche Widmung an den
italienischen Dichter Gabriel Chiabrera. Abweichend von allen
seinen anderen Veröffentlichungen, zum Beispiel der hier gezeigten, 1607 erschienenen »Difesa« (unten rechts), wird der Autor
im Sidereus Nuncius mit dem doppelten Vornamen Galileo Galileo
Galileo Galilei, Difesa, Venedig 1607, Exemplar Florenz
Galileo Galilei, Sidereus Nuncius, Venedig 1610, Titelblatt, Exemplar Oklahoma
bezeichnet.
www.sterne-und-weltraum.de
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Galileo Galilei, Sidereus Nuncius, Venedig 1610, S. 8r, Exemplar New York
Galileo Galilei, Sidereus Nuncius, Venedig 1610, Titelblatt, Exemplar New York
Das im Jahr 2005 aufgetauchte Exemplar
die Verwendung unterschiedlicher Buch­
Untersuchung jenes Buchexemplars, das
des Sidereus Nuncius trägt auf der Titelseite
stabengrößen, die den Inhalt auf einen
die Druckfahnen des Sidereus Nuncius
einen Stempel der Accademia dei Lincei und
Blick gliedert. In den ersten beiden Zeilen
enthält, legt jedoch einen anderen Schluss
Galileis handschriftliche Signa­tur, und die
sticht die »Botschaft von den Sternen«
nahe. Es scheint, als habe Gailei hier spie­
fünf Mondbilder im Inneren sind nicht als
(SIDEREVS NVNCIVS) hervor, und am un­
lerisch eine eigene, verborgene Botschaft
Radierungen, sondern als farbige Tusch-
teren Ende sind mit den »mediceischen
vermittelt, die für seine Kosmologie wie
zeichnungen ausgeführt – rechts die
Sternen« (MEDICEA SIDERA) die Monde
für seine Selbstsicht von Bedeutung ist.
Mond­sichel als Beispiel.
des Jupiters hervorgehoben. Das dritte,
der doppelte Vorname des Autors mit der
Der SNML – ein neues Exemplar
des Sidereus Nuncius
denen Fernrohrs beobachtet worden sind
Bezeichnung seiner Herkunft (GALILEO
Der Weg zu dieser Erkenntnis war lang. Er
am Antlitz des Mondes, an unzähligen
GALILEO PATRITIO FLORENTINO), und als
begann im Juli 2005, als mich Richard Lan,
Fixsternen der Milchstraße, den Nebelster­
vierte Akzentuierung taucht der Begriff
Mitinhaber des New Yorker Antiquariats
nen, insbesondere aber an vier den Jupiter
des »Fernrohrs« (PERSPICILLI) auf. Indem
Martayan & Lan, erstmals mit seinem
in ungleichen Abständen und Perioden
die optische Gliederung mit dem Haupt­
Exemplar des Sidereus Nuncius konfron­
mit staunenswerter Geschwindigkeit um­
inhalt, dem überraschendsten Objekt und
tierte (im Folgenden kurz als SNML oder
kreisenden, von niemand bis auf diesen
dem Autor die wichtigsten Elemente her­
New Yorker Exemplar bezeichnet).
Tag gekannten Planeten, welche der Autor
vorhebt, kompensiert sie die Unübersicht­
vor Kurzem als Erster entdeckt und ›me­
lichkeit des Textes.
sofort ins Auge springende Element ist
diceische Sterne‹ zu nennen beschlossen
hat«. (Übersetzt nach Emil Wohlwill)
Der Anblick dieses Buchs ließ mich
kaum weniger perplex zurück als Galilei es
Bei dem doppelten Vornamen sprigt ins
bei seinem ersten teleskopischen Blick auf
Auge, dass er nicht im Nominativ GALILE­
den Mond gewesen sein dürfte. Auf seiner
Der monströs verschachtelte Titel ist
US GALILEUS erscheint, sondern in den
Titelseite erschien neben dem Stempel
schon unter den Zeitgenossen auf Kritik
Ablativ gesetzt ist, so dass am Ende zwei
der römischen Accademia dei Lincei, der
gestoßen; so hat Galileis Freund Lodo­
O erscheinen: GALILEO GALILEO. Auch
Galilei seit 1612 als prominentes Mitglied
vico Cigoli am 1. Oktober 1610 aus Rom
die beiden Wörter der folgenden Zeile, PA­
angehörte, unterhalb der letzten Zeile
berichtet: »Ich muss Euch auch sagen,
TRITIO FLORENTINO, schließen mit O, so
die Sig­natur: »Io Galileo Galilei f« – zu
dass einige den Titel des Buchs getadelt
dass hier eine Art Parade von O-Endungen
Deutsch: »Dies habe ich, Galileo Galilei,
haben.« Diese Kritik unterschätzte jedoch
erscheint. Dies könnte ein Zufall sein. Die
gemacht (feci)« (Bild oben links). Hier un­
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Sterne und Weltraum
Im links gezeigten Züricher Exemplar
wie auch in einigen anderen Exemplaren des Sidereus Nuncius enthalten
Galileo Galilei, Mondphasen, Wasserfarben, 1610, BNCF, Ms. Gal. 48, fol. 28r
die im Satzspiegel für die Radierungen
Galileo Galilei, Sidereus Nuncius, Venedig 1610, S. 8r, Exemplar Zürich
freigelassenen Flächen keinerlei
Illustra­tion; gezeigt ist hier dieselbe
Buchseite wie auf S. 43 oben und auf
S. 44 rechts.
Die nebenstehenden Mondzeichnungen
Galileis sind wiederholt als seine ersten
Darstellungen der gesamten Mondscheibe
und als Vorlagen für die Radierungen des
Sidereus Nuncius betrachtet worden. Sie
stimmen aber mit diesen nicht überein und
sind vermutlich erst nach dem Sidereus
Nuncius im Herbst 1610 entstanden.
Galileo Galilei, Sidereus Nuncius, Venedig 1610, S. 9v,
Exemplar New York
terzeichnet Galilei mit Vor- und Nachna­
men, was die Verdopplung des Vornamens
im Titel als umso provokanter erscheinen
lässt. Zudem sind jene Flächen, die für
den Druck der Mondbilder im Satzspiegel
frei geblieben waren, durch matt farbige
Auf den mit Tusche gezeichneten Mondbil-
Tuschzeichnungen ausgefüllt (Bild auf
dern des neu entdeckten Exemplars des
S. 44 oben rechts). Da seit gut hundert Jah­
Sidereus Nuncius wurde entlang markanter
ren keinerlei vergleichbare authentische
Linien schwarzes Material aufgetragen, Zeugnisse Galileis aufgetaucht sind, war
das zur Übertragung dieser Konturen auf
ich zugleich elektrisiert und skeptisch. Auf
die Kupferplatten für die Herstellung der
den ersten Blick konnte ich nicht entschei­
Radierungen diente.
den, ob es sich um ein echtes Dokument,
eine zeitgenössische oder späteren Kopie
Mondzeichnungen aus dem Galilei-Archiv
Tuschzeichnungen auf die Kupferplatten
,oder eine Fälschung handelte.
der Florentiner Nationalbiblio­thek (oberes
zur Herstellung der Radierungen für den
Bild rechts) erwies, dass letztere als Vor­
Druck. Dies bekräftigten die von Stefan
lagen für die Radierungen nicht in Frage
Simon und Sonja Krug durchgeführten
kamen, wohl aber die neu aufgetauchten
Untersuchungen.
Erste Untersuchungen
von 2005 bis 2007
Die Eigentümer des SNML erklärten sich
Tuschzeichnungen im SNML. Diese zeigen
bereit, das Buch für eine Woche dem Leiter
die gleichen Mondphasen wie die Drucke,
des Berliner Kupferstichkabinetts, Hein­
enthalten jedoch mehr Information – also
Zweite Berliner Forschungen von 2008 bis 2010
rich Schulze Altcappenberg, für Untersu­
müssen sie zuerst entstanden sein. Diese
Alle geschilderten Ergebnisse sind in das
chungen zu überlassen. Dort wartete eine
Vermutung wurde durch das erst mit der
2007 publizierte Buch »Galilei der Künst­
Gruppe von Forschern auf diese großar­
Lupe sichtbare schwarze Material bestärkt,
ler« eingeflossen, ohne dass damals die
tige Chance (siehe Kasten auf S. 46).
das auf signifikanten Bereichen der Zeich­
Forschungen selbst hätten publiziert wer­
nungen über dem Tuscheauftrag liegt (un­
den können. Aus diesem Grund entstand
teres Bild rechts).
alsbald der Plan, Letztere in einer eigenen
Die in ihrem unbürokratischen, prä­
zisen Zusammenspiel beispielhafte Koo­
peration brachte neben der Feststellung,
Damit sind die Tuschzeichnungen im
Veröffentlichung vorzustellen, um nicht
dass das Buch durchweg aus Material des
SNML Galileis früheste bekannte Darstel­
nur den Gegenstand, sondern auch die Zu­
17. Jahrhunderts besteht (und des­halb
lungen des gesamten Mondes. Davor wa­
sammenarbeit als ein interdisziplinäres
keine spätere Kopie oder Fälschung sein
ren nur Skizzen kleinerer Ausschnitte ent­
Modell zu dokumentieren.
kann), eine Fülle weiterer Details her­vor.
standen, die innerhalb des Gesichtsfelds
Bei der Vorbereitung dieser zweiten Pu­
Vergleiche mit weltweit aufzutreibenden
seines Fernrohrs lagen. Das Gesichtsfeld
blikation entstand der Wunsch, eine Reihe
Exemplaren des Sidereus Nuncius ergaben,
entsprach etwa einem Siebtel der gesam­
von Untersuchungen zu wiederholen,
dass bei einer Reihe von ihnen die Radie­
ten Mondscheibe.
weil die Auswertung der ersten Untersu­
rungen fehlten (Bild oben), so dass der
Die Verteilung des in den Tuschzeich­
chungen neue Fragen aufgeworfen und
SNML in dieser Hinsicht nicht länger als al­
nungen entdeckten schwarzen Materials
neue Möglichkeiten eröffnet hatte. Daher
leiniger Sonderfall erscheint. Ein Vergleich
folgt den Hauptlinien der Mondbilder.
wurde der SNML im April 2008 nochmals
seiner Zeichnungen mit den bekannten
Offenbar diente es zur Übertragung der
an das Berliner Kupferstichkabinett über­
www.sterne-und-weltraum.de
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Eine Kooperation zur Untersuchung des SNML
A
ls sich im Juli 2005 abzeichnete, dass das von Galileo Galilei
eigenhändig signierte und illustrierte Exemplar des
Sidereus Nuncius eine Woche lang im Berliner Kupferstichkabinett für eingehende Untersuchungen zur Verfügung stehen
würde, bildete sich schnell eine Arbeitsgruppe, in der alle
relevanten Spezialisten vertreten waren, und innerhalb weniger
Tage entwickelten alle in Frage kommenden Institutio­nen der
Stiftung Preußischer Kulturbesitz eine gemeinsame Strategie,
um diese Chance optimal zu nutzen.
Barbara Herrenkind
Irene Brückle, Spezialistin für historisches Papier am Kupferstichkabinett (heute an der Staatlichen Akademie der Bildenden
links, und Birgit Kanngießer, Dritte von rechts) mate­rial­kundliche
Künste in Stuttgart, ganz rechts im Bild) führte gemeinsam mit
Untersuchungen mit Hilfe von Röntgenfluoreszensanalyse und
Teresa Smith (Harvard University Library, Dritte von links) die Un-
Infrarotreflektografie durch. Stefan Simon, Leiter des Rathgen-
tersuchung des Papiers, die Bestimmung der Tuschtechnik sowie
Forschungslabors (Vierter von links) und Sonja Krug (Fünfte von
die gesamte Organisation durch. Oliver Hahn von der Bundes-
links) widmeten sich unter Verwendung der neu entwickelten
anstalt für Materialforschung und -prüfung (Zweiter von rechts)
digitalen Bildanalyse (DIA) einer rätselhaften schwarzen, über
führte gemeinsam mit einer Arbeitsgruppe der Technischen
den Tuschen liegenden Materie. Vierter von rechts im Hinter-
Universität Berlin (Baoz Paz, ganz links, Timo Wolff, Zweiter von
grund: Horst Bredekamp.
Das Florentiner
Washington erwarb das Pariser Exemplar
Exemplar des
im November 2008, so dass es heute als
Sidereus Nuncius,
Washingtoner Exemplar firmiert. Alle drei
versehen mit
Bücher wurden hinsichtlich des Papiers,
ausführlichen
der Wasserzeichen und der Druckmaterie
Marginalien wurde
ihrer Buchstaben und Abbildungen unter­
auf demselben
sucht.
Galileo Galilei, Sidereus Nuncius, Venedig 1610, S. 8r, Exemplar Florenz
besonders wert-
Im Mai 2008 studierte auch William S.
vollen Papier
Shea, Inhaber des Galilei-Lehrstuhls an
gedruckt, wie das
der Universität Padua, diese Exemplare,
Exemplar der
um gemeinsam mit Studenten eine eigene
Landesbibliothek
Analyse vorzunehmen, die unsere Ergeb­
Münster, dem das
nisse bestärkte und erweiterte. Zudem hat
Bild auf S. 43 oben
Enrica Schettini Piazza, Kuratorin an der
entnommen ist.
Accademia Nazionale dei Lincei in Rom,
den Stempel auf der Titelseite des SNML als
Zeichen der Privatbibliothek von Federico
Cesi, dem Gründer und ersten Präsiden­
ten dieser seit 1603 bestehenden, weltweit
ältes​ten wissenschaftlichen Akademie,
identifiziert (Bild auf S. 44 oben links). Der
Stempel ist also ein Hinweis darauf, dass
Galilei dieses Exemplar bei seinem Be­
such in Rom anlässlich seiner Aufnahme
in die Akademie im Jahr 1612 übergeben
hat. Schließlich hat Ruth Tesmar von der
Humboldt-Universität zu Berlin als Spe­
zialistin für künstlerische Techniken den
geben, um im Lauf mehrerer Wochen
Paris gelang es, auch zwei weitere der
Übertragungsvorgang vom SNML auf die
weitere Verfahren anzuwenden, wie etwa
aussagekräftigsten Exemplare des Sidere­
Druckplatten in einem Modellverfahren
die tiefenmikroskopischen Digitalaufnah­
us Nuncius nach Berlin zu holen. Damit
nachvollzogen und festgehalten.
men des Fraunhofer-Instituts für Umwelt-
kamen insgesamt drei Exemplare der
Besonders ertragreich war die jah­
und Energietechnik in Oberhausen. Durch
Originalausgabe des Sidereus Nuncius
relange Untersuchung von mehr als 80
das großzügige Ent­gegenkommen der
an einem Ort zusammen, so viele, wie
weltweit noch überlieferten Exemplaren
Bibliothek der Karl-Franzens-Universität
wohl seit der Drucklegung im März 1610
des Sidereus Nuncius durch Paul Need­
in Graz und eines privaten Sammlers aus
nicht mehr. Die Library of Congress in
ham, den Spezialisten für die frühmo­
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Sterne und Weltraum
Galileo Galilei, Sidereus Nuncius, Venedig 1610, unpaginierte Seiten mit den Plejaden,
Exemplar Graz
Galileo Galilei, Sidereus Nuncius, Venedig 1610, unpaginierte Seiten mit den Plejaden,
Exemplar Washington
Galileo Galilei, Sidereus Nuncius, Venedig 1610, Titelblatt, Exemplar Graz
Galileo Galilei, Sidereus Nuncius, Venedig 1610, Titelblatt, Exemplar Washington
derne Buchkunst von der Scheide Library
und Washington darin, dass die Grazer
Die Titelseite und die dem Orion und den
in Princeton. So ergab ein Vergleich des
Titelseite wie üblich von den Kürzeln der
Plejaden gewidmeten Seiten des Sidereus
wegen seiner Marginalien und seines
wechselnden Besitzer bedeckt ist (oberes
Nuncius im Grazer Exemplar (oben) und im
kostbaren Papiers berühmten, als Uni­
Bild links), während das Washingtoner
Washingtoner Exemplar (unten). Es ist
kat geltenden Exemplars der Biblio­teca
Titelblatt von Einträgen frei geblieben ist
deutlich zu erkennen, wie rigide das Grazer
Nazionale Centrale in Florenz (Bild auf
(unteres Bild links). Der Grund liegt vor
Exemplar beschnitten wurde.
S. 46) mit dem Exemplar der Universität
Augen: Das Washingtoner Exemplar ist
Münster, dass beide Bücher dieselbe Pa­
niemals gebunden worden, und daher hat
pierqualität aufweisen. Dies führte Paul
es die Form, in der es aus der Druckerei
einem großzügigen Ambiente (unteres
Needham zu einer umfassenden Analyse
ausgeliefert wurde. Mit dem Eindruck
Bild rechts). Hier bekommen die darge­
der zum Druck der einzelnen Exemplare
dieses auskragenden Papiers wandelt
stellten Konstellationen einen anderen
genutzten Papiersorten. Sie unterstützte
sich der Charakter des Buchs. Das Grazer
Charakter; sie scheinen über die Flächen
die Beobachtung, dass nicht ein Buch dem
Exemplar ist ein wie damals üblich hart
auszu­schwingen wie in einem stellaren
anderen gleicht.
beschnittener, gebundener Band, der an
Tanz. Durch das Beschneiden wird dieser
ein modernes Taschenbuch erinnert. Da­
Eindruck zerstört, und auch die Materie
gegen erweckt das Washingtoner Exem­
selbst wird beschädigt: Im Grazer, im
Bücher der frühen Neuzeit sind Indivi­
plar einen geradezu majestätischen Ein­
New Yorker, wie auch in allen anderen
duen, selbst wenn sie auf den ersten Blick
druck: Mit weitem Kragen sitzt der Text,
Exemplaren, ist der äußerste Stern links
als Massenprodukt erscheinen. So un­
wie etwa bei der dem Sternbild Orion und
oben abgeschnitten (oberes Bild rechts),
terscheiden sich die Exemplare aus Graz
den Plejaden gewidmeten Doppelseite, in
im Washingtoner aber nicht. Die Rigidität
Summe der Ergebnisse
www.sterne-und-weltraum.de
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der Buchbinder, die ihren eigenen Vorstel­
der Zeichnungen ist derselbe, den Galilei
nicht aufschieben wollte, um nicht Gefahr
lungen in Bezug auf die Regeln der Buch­
für seine weiteren Mondzeichnungen wie
zu laufen, dass jemand anderes auf das­
gestaltung folgten, ist auf Kosten eines
auch für seine Zeichnungen der Sonnen­
selbe gestoßen und mir zuvorgekommen
nicht unwichtigen Sterns gegangen.
flecken nutzte.
wäre. Daher habe ich es in der Form eines
Paul Needham erweiterte seine Stu­dien
Mit diesen Ergebnissen dürfte es neben
Berichts herausgebracht, der zum größten
zudem auf den gesamten Zeitraum von
der Gutenberg-Bibel kaum ein Buch ge­
Teil geschrieben wurde, während man die
Galileis Forschungen ab dem Dezember
ben, das in seiner physischen Beschaffen­
vorangehenden Teile des Textes bereits
1609 bis zum 12. März 1610, dem Erschei­
heit und seiner Gestaltung gründlicher
druckte, in der Absicht, diesen Bericht so
nungstag des Sidereus Nuncius, um die
analysiert worden wäre als der Sidereus
bald als möglich mit vielen Zusätzen an­
gesamte Geschichte seiner Produktion,
Nuncius und besonders der SNML.
derer Beobachtungen neu zu drucken«. Zu
einschließlich Satz, Gestaltung und Druck,
einer solchen erweiterten Auflage sollte es
Tag für Tag mit bislang unvorstellbarer
Die Psychologie der Konkurrenz
Genauigkeit zu rekonstruieren.
Neben den teils unerwarteten materiellen
Deutlicher konnte die Hast, die Galilei
Diese Ergebnisse sprechen für sich. Der
Befunden sind auch Spuren psycholo­
erfasst hatte, nicht beschrieben werden.
SNML wurde niemals aus seiner Bindung
gischer Phänomene sichtbar geworden.
Der Grund für seine Ungeduld lag darin,
des 17. Jahrhunderts entfernt; er besteht
Sie zeugen in wohl einzigartiger Weise von
dass er das Erstlingsrecht beanspruchte,
aus Druckfahnenpapier, sein Text ist die
der Anspannung Galilei bei der Abfassung
den Himmel gesehen zu haben wie vor
mit zahlreichen Fehlern durchsetzte Fas­
dieses Werks, wie auch von dem Anspruch,
ihm nur Adam: »Keine einzige der oben
sung der ersten Korrekturfahne, seine Ti­
den er sich selbst gesetzt hatte.
genannten Beobachtungen sieht man be­
dann nicht mehr kommen.
telseite weist sowohl die Signatur von Fe­
Am 19. März, eine knappe Woche nach
ziehungsweise kann man sehen ohne ein
derico Cesis Privatbibliothek als auch die
Auslieferung des Buchs, schrieb Galilei
vortreffliches Instrument; daher dürfen
von Galilei auf. Alle seine Bestandteile –
einen denkwürdigen Brief an den Hof der
wir annehmen, dass wir die Ersten auf der
Papier, Wasserzeichen, Druckerschwärze,
Medici in Florenz, in dem er von den auf­
Welt gewesen sind, welche die Himmels­
Tusche, schwarzer Deckstoff – sind Mate­
zehrenden Konkurrenz­ängsten sprach, die
körper aus solcher Nähe und dermaßen
rialien, die zu Beginn des 17. Jahrhunderts
in ihm wühlten. Er entschul­digte sich, dass
deutlich gesehen haben.«
gebräuchlich waren. Die schwarze Materie
dem Buch die angemessene Form man­
Die in diesen Worten mitschwingende
wurde zur Übertragung der Zeichnungen
gele, »weil die Zeitnot dies nicht erlaubt
Furcht ist überdeutlich. Teleskope zir­
auf die Kupferplatten genutzt, und der Stil
hat und weil ich die Publikation wahrlich
kulierten in ganz Europa und bald auch
Der erste Ausbruch der galileischen Krankheit
A
uf dem Titelblatt des Sidereus Nuncius bringt Galilei das
bald mit seinem ersten Instrument nicht mehr zufrieden war,
Bewusstsein seiner gänzlich außergewöhnlichen Leistung
denn er baute sich schnellstens eigenhändig und insgeheim ein
gleich zweimal zum Ausdruck. Zum einen, wie oben geschildert,
neues, besseres Fernrohr, wovon seine berühmte Einkaufsliste
indem er sich selbst mit dem doppelten Vornamen benennt.
vom 23. November 1609 beredtes Zeugnis ablegt (siehe SuW
Mit dieser verschlüsselten Botschaft reiht er sich in die Tra-
2/2009, S. 46).
dition der großen schöpferischen Gestalten der italienischen
Sofort machte er sich ans Werk, und schon Ende des Jahres
Renaissance ein (Dante, Giotto, Michelangelo, Leonardo...),
hielt er das neue, bessere Teleskop in seinen Händen. Mit
deren Vorname allein sie eindeutig kennzeichnete. Aber zum
diesem entdeckte er bereits am 7. Januar 1610 die ersten drei
anderen benennt er auch explizit den völlig neuen, radikal re-
Jupitermonde: Abermals nahm er am Himmel Dinge wahr, »die
volutionären Aspekt seiner Tat: Mit dem neuen Teleskop hat er
nie zuvor ein Mensch gekannt hatte«!
am Himmel Dinge gesehen, »die nie zuvor ein Mensch gekannt
hatte« (... nemini in hanc usque diem cognitos).
Eine solche Erweiterung der mit den naturgegebenen
Das Wunder des ersten Anblicks von nie zuvor Gekanntem
und den gleich danach ausbrechenden Wunsch nach einem größeren, besseren Teleskop, um diese Erfahrung möglichst bald
menschlichen Sinnen wahrgenommenen außerirdischen Welt
zu wiederholen und die Grenzen des Wissens über den Kosmos
konnte es offenbar (ohne Teleskop) niemals zuvor gegeben
noch weiter hinauszuschieben, können wir als die »galileische
haben – und niemand hatte sie auch nur für möglich gehalten.
Krankheit« bezeichnen. In der Antike und bis Galilei konnte es
Denn man war nach Aristoteles davon überzeugt, dass die lu-
sie nicht geben. Ihr erster Ausbruch lässt sich genau datieren
nare und translunare Welt nicht nur für die menschlichen Sinne,
und ist im Sidereus Nuncius dokumentiert. Galilei ist nie von
sondern auch für den menschlichen Verstand grundsätzlich
dieser Krankheit genesen, und seither wird jeder Mensch von
unzugänglich sei.
ihr erfasst, der erstmals durch ein Teleskop blickt und dann
Schon im September 1609, bei seinem ersten teleskopischen
immer wieder durch ein besseres, größeres Instrument schauen
Blick auf den zerklüfteten Mond und in das unerhörte Sternge-
muss, um am Himmel stets neue Dinge zu sehen, »die nie zuvor
wimmel der Milchstraße, wurde sich Galilei der kosmologischen
ein Mensch gekannt hatte«. Dies ist der Antrieb, der seither die
Brisanz seiner Erfahrung bewusst. Schon hier brach die auf-
tele­skopgestützte, beob­achtende Astronomie zu immer neuen
fällige Hast aus, die ihn bis zur Veröffentlichung des Büchleins
wunderbaren Erfolgen reißt und sie zu einer großartigen, spezi-
im März 1610 antrieb. Dies erkennen wir daran, dass er schon
fischen Erscheinung der Moderne macht.
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Januar 2012
JAKOB STAUDE
Sterne und Weltraum
Galileo Galilei, Sidereus Nuncius, Venedig 1610, S. 20v, 21r, Exemplar Washington
in Asien, und in jeder Minute konnte es
Erkundungen des Himmels ein Buch he­
Auf dieser Doppelseite beschreibt Galilei
geschehen, dass ein anderer Forscher Ga­
rauszubringen. Darin wollte er sich an alle
seine Beobachtungen des Jupitersystems in
lilei zuvorkommen und das von ihm Ge­
Wissenschaftler und Gelehrten inner- und
den Nächten vom 21. bis zum 24. Januar
sehene erkennen und publizieren würde.
außerhalb Italiens wenden. Also sollte das
1610. Unten rechts, auf dem unbeschnitte-
Die Kraft des fernrohrbewaffneten Auges
Buch auf Lateinisch erscheinen, der da­
nen Rand, sind die Abdrücke der vier Finger
vergönnte Galilei den Triumph, den Him­
mals üblichen Sprache der Wissenschaft.
einer rechten Hand zu erkennen.
mel so zu sehen wie niemand zuvor; aber
Um die Fertigstellung des Buchs nach
die Geschwindigkeit des Blicks ließ ihn
Kräften zu beschleunigen, wechselte er
zugleich mit Argusaugen auf mögliche
an diesem Tag bereits in seinen Aufzeich­
Fehlersuche gingen. Aus der Abnahme der
Konkurrenten schauen. Mit dem Teleskop
nungen am Teleskop vom Italienischen
Anzahl der Druckfehler in den erhaltenen
versehen, war das Auge schneller gewor­
ins Lateinische. Schon am 30. Januar gab er
Exemplaren lässt sich die genaue Reihen­
den – auch das Auge der Konkurrenten.
den größten Teil des Manuskripts in Vene­
folge ihrer Drucklegung ablesen.
Der Blick ist schnell; während die Schrift
dig zum Druck und ließ die ersten Druck­
in der Zeit gelesen werden muss, vermag
platten prägen. Im Februar beantragte er
Spuren der Hast
das Auge »auf einen Blick«, in Bruchteilen
beim Zehnerrat der Republik Venedig die
Die Produzenten des rätselhaften kleinen
von Sekunden, Situationen, Gegenstände
Druckerlaubnis, sie wurde ihm am 1. März
Buchs haben Spuren dieser Hast hinterlas­
und Phänomene zu erfassen. Hieraus er­
erteilt. Die im Sidereus Nuncius beschrie­
sen. Auf Seite 21 des Washingtoner Exem­
gab sich die Präzision, aber auch die Hast
benen Beob­achtungen der Jupitermonde
plars finden sich die schwarzen Abdrücke
des instrumentell bewaffneten Auges.
zogen sich bis zum 2. März hin – am 12.
der vier Finger einer rechten Hand (Bild
März lag das Buch mitsamt den Illustrati­
oben). Von wem sie stammen, konnte bis­
onen in 550 gedruckten Exemplaren vor.
lang nicht bestimmt werden, aber die Ver­
Wie außergewöhnlich Galileis Motive
für das Verfassen des Sidereus Nuncius
waren, erkennt man auch daran, dass er
Wir müssen uns vorstellen, wie die Set­
mutung, dass es sich um einen der Setzer
bis dahin keinen besonderen Drang zum
zer, pausenlos beschäftigt, von der ersten
oder gar den Verleger oder Galilei selbst
Schreiben und Publizieren verspürt hat­
Blattlage der reinen Textseiten im Januar
handelt, kann zumindest als Möglichkeit
te. Vor dem Sidereus Nuncius hatte der
an die soeben gedruckten Bögen zum
diskutiert werden. In den Fingerabdrü­
46-jährige Professor nur etwa fünf weni­
Trocknen aufhängten, während dieses
cken sind Spuren von Blei und Eisen vor­
ger bedeutende Schriften verfasst.
Vorgangs nach Fehlern suchten, diese für
handen – den beiden Metallen, mit denen
Am 15. Januar 1610, einen Tag nach
den folgenden Druckvorgang korrigier­
in Druckereien gearbeitet wird.
seiner Entdeckung des vierten Jupiter­
ten, und bis zum abschließenden Druck
Derartige Spuren legen die Vermutung
mondes, beschloss Galilei, über seine
der letzten Exemplare immer wieder auf
nahe, dass Galilei die Radierungen in den
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Januar 2012
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Galileo Galilei, Sidereus Nuncius, Venedig
1610, S. 10v, Exemplar Graz
In die Druckplatte dieses Mondbilds im
Galileo Galilei, Sidereus Nuncius, Venedig 1610, S. 10v, Exemplar Graz
Sidereus Nuncius wurden versehentlich
Fingerabdrücke »gezeichnet«. Sie verraten,
dass die Mondbilder nicht in die Platten
gestochen, sondern gemäß der Radiertechnik geätzt wurden.
letzten Tagen vor Drucklegung selbst ge­
Wohl kein professioneller Grafiker jener
fertigt hat. Damit verbunden ist aber auch
Zeit hätte es sich erlaubt, so schlampig zu
ein Wandel in der Bestimmung der Tech­
arbeiten wie Galilei bei der Herstellung
nik. Offenkundig handelt es sich nicht um
dieses Mondbilds in seiner Hast: Der Kreis,
Kupferstiche wie bislang angenommen,
der das Mondbild umrandet, ist nicht
sondern um in die Druckplatten geätzte
einmal in sich geschlossen!
Radierungen. Den Nachweis dafür er­
brachte die rechte untere Ecke des oberen
sondern in zwei Parallelen verläuft (siehe
Technik darzustellen, wie er am 15. Januar
Mondquadrats in dem Bild oben links.
Bild oben rechts). Das benachbarte Schat­
im Tage​buch seiner Jupiterbeobachtungen
Hier fanden sich Spuren einer Linienfüh­
tenfeld bezeugt nicht minder deutlich die
vermerkt: »Die Sterne werden in Holz ge­
rung, wie sie sich aus keiner bewussten
Anwendung der Radiertechnik. Auch hier
schnitten, alle in einen Block, die Sterne
Gestaltung, sondern nur aus einem verse­
wird die Eile sichtbar, mit der das Buch
weiß und der Rest schwarz, und dann wird
hentlichen Fingerabdruck ergeben. Sowohl
in den letzten Tagen fertiggestellt wurde.
der Anblick in Streifen geteilt.« Wie Paul
neben dem Rund des Kreises als auch über
Alle diese Details erlauben einen Blick auf
Needham erschlossen hat, handelt es sich
der unteren Randbegrenzung sind Felder
die Motorik von Galileis Vorgehen, und
bei den Darstellungen des Jupiters jedoch
zweier Fingerabdrücke zu erkennen, die
damit wird indirekt eine Spur zur psycho­
nicht um einen Holzschnitt, sondern um
nicht eingekerbt sein können, sondern
logischen Disposition gelegt, in welcher
ein um 90 Grad gedrehtes O. Dazu wur­
durch den Vorgang des Ätzens auf die
dieses Buch entstand.
den dieselben Lettern verwendet, die als
Platte gekommen sein müssen. Offenbar
Großbuchstaben im Namen Galileo auf
hat eine Person, vermutlich Galilei selbst,
Die Verdopplung des »O«
hier versehentlich auf die mit einem säu­
Mit der Entdeckung der vier hellsten
auf S. 43 links unten). Dies gilt sowohl für
reabweisenden Überzug versehene Platte
Jupitermonde hat der Sidereus Nuncius
die erste wie auch für die zweite Nennung
gefasst, so dass beim Ätzvorgang die Säure
ein kleines, zusätzliches Planetensystem
des Namens Galileo. So wurde das O der
durchdringen und die Fingerabdrücke auf
vorgeführt, und damit die Vorstellung der
zweiten Nennung für die Darstellung des
die Platte zeichnen konnte.
Einmaligkeit
Planetensystems
Jupiters in der Nacht des 20. Januar 1610
unseres
dem Titelblatt auftauchen (siehe das Bild
widerlegt – ein Ergebnis, das weder ins
eingesetzt, wie dies eindeutig aus der hier
ptolemäische, noch ins kopernikanische
links unten gezeigten Detailaufnahme
führung erklärbar. Die Linien wirken nicht
Weltbild passte. In den Text hat Galilei
her­vorgeht. In diesem Umstand verbirgt
eingraviert und mit dem Kupferstichel
die beob­achteten Konstellationen des
sich die Antwort auf die eingangs gestellte
herausgehoben, sondern mit einem Stift
Jupitersys­tems in der Weise eingetragen,
Frage nach der Bedeutung der doppelten
gezeichnet, wie dies bei der Radierung
dass er den Jupiter als ein Oval in die Mit­
der Fall ist. Bei zahlreichen Details ist dies
te setzte, um das die durch Sterne bezeich­
überdeutlich – so bei der linken unteren
neten Monde kreisten (siehe das Bild auf
Der Kreis als kosmologisches Symbol der
Umrandung des Mondes in jenem Feld,
S. 49). Bislang galten diese Darstellungen
Vollendung – hier zwischen zwei Ovalen in
in dem der hastig gezeichnete Umran­
des Jupiter als Holzschnitte, zumal da Ga­
einer Zeichnung von Jan van den Velde aus
dungskreis nicht in sich geschlossen ist,
lilei selbst beabsichtigt hatte, sie in dieser
dem Jahr 1605.
Jan van den Velde, Kupferstich von Simon Frisius, 1605
Galileo Galilei, Sidereus Nuncius,
Venedig 1610, Exemplar Graz;
links: Titelblatt, rechts: S. 20v
Auch die Technik der Darstellung des
Mondes wird damit in ihrer fahrigen Aus­
Die für das O der zweiten Nennung des
Vornamens auf der Titelseite des Sidereus
Nuncius verwendete Letter (links) erscheint
um 90 Grad gedreht als Symbol für Jupiter
in der Nacht des 22. Januar 1610 (rechts).
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Januar 2012
Sterne und Weltraum
Die Tradition wird fortgesetzt: Rembrandt
van Rijn in einem Selbstbildnis aus dem
Jahr 1661 vor zwei Kreisen, und Albert
Ferdinand Schmutzer, Einstein–Porträt, 1921, Radierung
Rembrandt, Selbstporträt, 1661, Kenwood House London
Einstein in einem Porträt von Ferdinand
Schmutzer (1921) vor einem Kreis dargestellt.
nommen, um die künstlerisch-genialische
Disposition des großen Naturforschers
auszuweisen, und damit waren Giotto
und Galilei assimiliert. Ob dies auf Grund
von Gesprächen mit Galilei geschehen ist,
oder vielmehr ob Viviani die Verbindung
Galileis mit Giotto von sich aus vornahm,
ist nicht mehr zu erschließen. Jedenfalls
bezeugen beide Dokumente, die Biogra­
Nennung des Vornamens Galileo auf dem
(1870 – 1928) mit Blick auf diese Tradi­
fie Vivianis wie auch die Titelseite des
Titelblatt. Wie mag diese Antwort lauten?
tion ein Bildnis von Albert Einstein, das
Sidereus Nuncius, dass Galileis Ruhm ge­
Dies erschließt sich aus einer bis heute
auch ihn, den Geo­meter des Kosmos, mit
meinsam mit dem des großen Giotto zu
noch lebendigen Tradition.
einem vollendeten Kreis als einen neuen
strahlen suchte.
Fünf Jahre vor der Publikation des
Giotto charakterisiert (Bild oben rechts).
Auf den ersten Blick ist die Parade der
Sidereus Nuncius veröffentlichte der nie­
Die bereits bei Giotto metaphorisch ange­
Buchstaben O auf dem Titelblatt des Si­
derländische Kalligraf Jan van den Velde
legte kosmologische Wendung kam glei­
dereus Nun­cius nichts als eine Marginalie.
(1568 – 1623) einen Kupferstich, der einen
chermaßen bei Galilei, Rembrandt und
Bei näherer Betrachtung aber zeigt sich
von zwei Ovalen flankierten Kreis zeigt
Einstein zur Geltung.
in diesem Detail ein eigener Kosmos des
(Bild auf S. 50 unten rechts). Mit dieser
Galilei hat die neu entdeckten Jupiter­
Kampfes um Anerkennung und Gran­
Darstellung bezog er sich auf eine Meta­
monde den Medici gewidmet und nach
dezza. Galilei hat immer wieder betont,
pher, die Giorgio Vasari (1511 – 1574), der
ihnen benannt, um endlich die ersehnte
dass seine eigentliche Bestimmung darin
berühmte Biograf zahlreicher Künstler der
Anstellung als Erster Philosoph und Ma­
gelegen habe, Künstler zu werden, und
italienischen Renaissance, in seiner Vita
thematiker am mediceischen Hof in Flo­
diese Selbstsicht hat er in den »Sternenbo­
des Giotto di Bondone (1266 – 1337) ver­
renz zu erhalten. Mit dem Sidereus Nun­
ten« hineingeschmuggelt.
wendet. Dort berichtet Vasari, wie Giot­to,
cius, in dem das Zeichen für Jupiter aus
als Papst Benedikt XI. ihn durch einen Bo­
dem O seines Namens gebildet ist, erhielt
Horst Bredekamp ten um eine Probe seiner Fähigkeiten als
er diesen Traumposten.
ist Professor für Kunstgeschichte an der Humboldt-
Zeichner ersucht hatte, mit freier Hand,
Schon zu Lebzeiten wurde Galilei als
ohne Stütze und ohne irgendwelche Hilfs­
wiedergeborener Michelangelo bezeich­
Universität zu Berlin. Das
mittel, einen vollendeten Kreis auf ein
net. Und er selbst hatte, durch die aus
Werk und die Epoche Galil-
großes Blatt Papier zirkelte. Der Papst und
seinem Namen gebildeten Jupiterzeichen
eis gehören zu den Schwer-
seine Kunstexperten ließen sich durch
des Sidereus Nuncius, seinen Namen als
punkten seiner Forschung.
die­se Leistung zutiefst beeindrucken. Der
neuer Giotto an den Himmel schreiben
vollendete Kreis wurde mit den beiden O
wollen. Hieraus erklärt sich, warum er sei­
im Namen Giotto verbunden, und noch
nen Vornamen im Titel wiederholte und
heute bezeichnet die italienische Rede­
in den Ablativ setzte. Durch das GALILEO
wendung »l’O di Giotto« (Giottos O) wun­
GALILEO enthielt das Ende seiner beiden
derbar Vollendetes.
Namensteile jeweils ein O, das zugleich als
So kam es im Sidereus Nuncius zu
Jupiter verwendet wurde. Auf diese Weise
einer metaphorischen Verknüpfung Ju­
war auch er mit den beiden legendären O
pi­ters mit dem Kreis des O in Galileis
des Namens GIOTTO ausgestattet.
Vornamen. Wohl mit Bezug auf die von
Der Physiker Vincenzio Viviani stand
Vasari überlieferte Geschichte hat sich
Galilei als dessen letzter Schüler und As­
auch Rembrandt van Rijn (1606 – 1669) in
sistent näher als jeder andere Zeitgenos­
seinem 1661 geschaffenen Selbstporträt
se. Und nach dessen Tod hat er in zähem
von Kenwood House mit zwei vollendeten
Kampf mit den Folgen der kirchlichen
Kreisen dargestellt, die auf die beiden O
Verurteilung Galileis wie kein Zweiter für
in Giottos Namen und auf dessen vollen­
dessen Nachruhm gesorgt. Hierzu diente
dete Zeichenkunst verweisen (Bild oben
auch seine Biografie des verehrten Lehrers
links). Und noch im Jahre 1921 schuf der
und Freundes. Darin hat Viviani Anleihen
Wiener Porträtist Ferdinand Schmutzer
bei Giorgio Vasaris Giottobiografie ge­
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Literaturhinweise
Zu diesem Artikel:
Bredekamp, H. (Hg.): Galileo’s O. Vol. I:
Galileo’s Sidereus Nuncius (Hg.: Irene
Brückle, Oliver Hahn); Vol. II: Paul
Needham, Galileo Makes a Book.
Akademie Verlag, Berlin 2011
Zum weiteren Umfeld:
Bredekamp, H.: Galilei der Künstler.
Akademie Verlag, Berlin 2007
Galilei und die Anderen: Hintergründe
einer Revolution der Astronomie. In:
Sterne und Weltraum Dossier 1/2009
Padova, T., de, Staude, J.: Galilei, der
Künstler. Ein Gespräch mit Horst
Bredekamp. In: Sterne und Weltraum
12/2007, S. 36 – 41
Januar 2012
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