Geschichte und Gesellschaft, 2015, 41. Jahrgang, Heft 1

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Geschichte und Gesellschaft, 2015, 41. Jahrgang, Heft 1
Redaktionsanschrift
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Druck- und Bindearbeit: q Hubert & Co, GmbH & Co. KG, Robert-Bosch-Breite 6,
D-37079 Göttingen.
ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000
1 Beilage:Vandenhoeck & Ruprecht
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Geschichte und Gesellschaft
Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft
Herausgegeben von
Jens Beckert / Christoph Conrad / Sebastian Conrad / Ulrike Freitag
Ute Frevert / Svenja Goltermann / Dagmar Herzog / Wolfgang Kaschuba
Simone Lässig / Paul Nolte / Jürgen Osterhammel / Margrit Pernau
Sven Reichardt / Stefan Rinke / Rudolf Schlögl / Martin Schulze Wessel
Adam Tooze / Hans-Peter Ullmann
Geschäftsführend
Christoph Conrad / Ute Frevert / Paul Nolte
Vandenhoeck & Ruprecht
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Geschichte und Gesellschaft
41. Jahrgang 2015 / Heft 1
Gegenwelten
Herausgegeben von
Astrid Mignon Kirchhof und Nina Leonhard
Vandenhoeck & Ruprecht
Inhalt
Nina Leonhard und Astrid Mignon Kirchhof
Einführung: Gegenwelten
Introduction: Counterworlds . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5
Kathrin Krogner-Kornalik
Grabesunruhen. Beisetzungen als gegenweltliche Arenen im Krakau des
späten 19. Jahrhunderts
Fighting Over Graves. Burials as Arenas of Counterworlds in Late
Nineteenth-Century Krakow . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17
Klaus Nathaus
“All Dressed Up and Nowhere to Go”? Spaces and Conventions of Youth
in 1950s Britain . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
40
Astrid Mignon Kirchhof
„Der freie Mensch fordert keine Freiheiten, er lebt einfach.“ Die Nestoren
des DDR-Naturschutzes und die Herausbildung einer reformbewegten
Gegenwelt
“Free People Don’t Demand Liberty, They Just Live.” The Pioneers
of Nature Conservation in the GDR and the Development of a
Counterworld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
71
Michael Schüring
Zwischen Ökobiblizismus und Neo-Animismus. Aspekte alternativer
Gegenwelten in den Evangelischen Kirchen der Bundesrepublik um 1980
Between Eco-Biblicism and Neo-Animism. Aspects of Gegenwelten in the
Protestant Churches of West Germany Around 1980 . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
Diskussionsforum
Stefanie Middendorf
Staatsfinanzen und Regierungstaktiken. Das Reichsministerium der
Finanzen (1919 – 1945) in der Geschichte von Staatlichkeit im
20. Jahrhundert
State Finances and Governmental Tactics. The Reichsfinanzministerium
(1919 – 1945) Within the History of Twentieth-Century Statehood . . . . . . 140
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Einführung: Gegenwelten
von Nina Leonhard und Astrid Mignon Kirchhof
Abstract: The articles in this special issue share a common investigative approach to
various historical phenomena in Germany, Poland and Britain in the nineteenth and
twentieth centuries: they explore the emergence, institutionalization and disappearance of counterworlds. Counterworlds are defined as spaces of action constituting a distinctive world-view which deviates from or contests hegemonic social or
political structures. Drawing on related sociological concepts such as social worlds
(Strauss), subcultures (Williams) and counter-cultural spaces (Löw), this special
issue, with its four case studies, introduces and explains the concept of the counterworld as an analytical tool.
Wie entstehen neue Vorstellungen von der Welt, die von bislang vorherrschenden Sichtweisen über die Verfasstheit von Staat und Gesellschaft
abweichen? Durch welche konkreten Handlungen und durch welche Akteure
werden sie geschaffen? Unter welchen Bedingungen werden sie bewahrt und
tradiert, wann lösen sie sich auf ? Mit anderen Worten: Auf welche Weise
entstehen und vergehen „Gegenwelten“? Diese Fragen umreißen das Erkenntnisinteresse, das diesem Themenschwerpunkt zugrunde liegt. Im Zentrum
steht der Begriff der Gegenwelt, der die gemeinsame Untersuchungsperspektive der hier versammelten Beiträge beschreibt. Im Weiteren wird erläutert,
worin diese Perspektive besteht und welche Einsichten sich ergeben, wenn
man die in den Einzelbeiträgen thematisierten Phänomene, die sich auf ganz
unterschiedliche historische Kontexte und Epochen beziehen, vor dem
Hintergrund eines „gegenweltlichen“ Problembezugs zusammenführt und
zueinander in Beziehung setzt.
I. Gegenwelt als Metapher – der Forschungsstand
Von Gegenwelten zu sprechen bedeutet, sich keiner einschlägigen, aber einer
durchaus geläufigen Begrifflichkeit zu bedienen. Dies zeigt die Reihe von
Veröffentlichungen aus dem Bereich der Geistes- und Kulturwissenschaften
der letzten beiden Jahrzehnte, die diesen Ausdruck im Titel führen. Ein
genauerer Blick auf die entsprechenden Studien lässt erkennen, dass unter
Gegenwelt sehr Verschiedenes gefasst wird: Der Begriff wird im Zusammenhang mit Fantasyliteratur1 und Science Fiction2 ebenso verwendet wie in Bezug
1 Dörte Schilken, Die teleologische Reise. Von der christlichen Pilgerallegorie zu den
Gegenwelten der Fantasyliteratur, Würzburg 2002.
Geschichte und Gesellschaft 41. 2015, S. 5 – 16
q Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2015
ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000
6
Nina Leonhard und Astrid Mignon Kirchhof
auf Kunst,3 Architektur4 und Landschafts(garten)gestaltung.5 Gegenwelten
werden mit der „inneren Emigration“ während der Zeit des Nationalsozialismus,6 der (subversiven) Bedeutung von Lachen und Gelächter in Mittelalter
und Früher Neuzeit7 sowie mit (Drogen-) Rausch in verschiedenen Kulturen8
in Verbindung gebracht, aber auch mit der Konstruktion von Geschlecht und
geschlechtsspezifischen Sinnbildungsprozessen.9 Trotz dieser äußerst heterogenen inhaltlichen Verwendungsmöglichkeiten kristallisiert sich gleichwohl
ein gemeinsamer Nenner heraus: In den genannten Beispielen wird Gegenwelt
als Metapher für Phänomene verwendet, die jenseits der normativen
und / oder materiellen Bedingungen und Regeln liegen, welche die alltagsweltliche Realität kennzeichnen. Gegenwelten besitzen demnach den Charakter des Kuriosums, das durch Abweichungen von üblichen Verhaltensmustern
oder Denkweisen entsteht, aber weisen auch die Attribute eines Rückzugsortes
oder Fluchtpunktes auf, um Ansprüchen, Zwängen oder vorgegebenen
Grenzen im Hier und Jetzt entweder temporär zu entkommen oder diese gar
dauerhaft zu überwinden.
Diese Idee findet sich auch bei denjenigen Arbeiten und neueren Forschungsprojekten, die den Begriff der Gegenwelt speziell mit Blick auf grundlegende
geschichtliche Brüche oder Zäsuren verwenden, wie sie mit dem Beginn der
Moderne oder Post- beziehungsweise Zweiten Moderne assoziiert werden.10
2 Charles Martig u. Daria Pezzoli-Olgati (Hg.), Outer Space. Reisen in Gegenwelten,
Marburg 2009.
3 Christoph Hölzl, Gegenwelten. Gustav Klimt – Künsterleben im Fin de Si|cle, München
1996.
4 Arata Isozaki, Welten und Gegenwelten, Bielefeld 2011.
5 Andrea Siegmund, Der Landschaftsgarten als Gegenwelt. Ein Beitrag zur Theorie der
Landschaft im Spannungsfeld von Aufklärung, Empfindsamkeit, Romantik und
Gegenaufklärung, Würzburg 2011.
6 Heidrun Ehrke-Rotermund u. Erwin Rotermund, Zwischenreiche und Gegenwelten.
Texte und Vorstudien zur ,verdeckten Schreibweise‘ im „Dritten Reich“, München 1999.
7 Werner Röcke u. Helga Neumann (Hg.), Komische Gegenwelten. Lachen und Literatur
in Mittelalter und Früher Neuzeit, Paderborn 1999.
8 Peter Leippe, Gegenwelt Rauschgift. Kulturen und ihre Drogen, Köln 1997.
9 Z. B. Cornelia Klinger, Frau – Landschaft – Kunstwerk. Gegenwelten oder Reservoir des
Patriarchats?, in: Herta Nagl-Docekal (Hg.), Feministische Philosophie, Wien 1990,
S. 63 – 94; Christine Kanz, Gegenwelten. Zur Geschlechterdifferenz in den Kulturwissenschaften, Bamberg 1997; Martin Engelbrecht u. Martin Rosowski, Was Männern Sinn
gibt. Leben zwischen Welt und Gegenwelt, Stuttgart 2007.
10 Z. B. Cornelia Klinger, Flucht, Trost, Revolte. Die Moderne und ihre ästhetischen
Gegenwelten, München 1995; Forschergruppe Gegenwelten. Religiöse Ordnungsmodelle der säkularen Moderne, Internationales Forschungskolleg im Rahmen der
Exzellenzinitiative der Ludwig-Maximilians-Universität München, http://www.gegen
welten.germanistik.uni-muenchen.de/index.html und Forschungskolleg Hildesheim
und Innsbruck http://gegenwelten.eu/gegenwelten/.
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Einführung
7
Ausgangspunkt ist die Annahme, dass moderne Phänomene wie Aufklärung,
Säkularisierung, Industrialisierung und Urbanisierung, aber auch postmoderne Globalisierungs-, Flexibilisierungs- und Beschleunigungstrends weit
widersprüchlicher ausfallen und stärker von gegenläufigen Entwicklungen,
wie neuen Formen von Solidarität, Religiosität oder Spiritualität, begleitet
werden, als dies gemeinhin postuliert wird. Der Begriff der Gegenwelt wird
jedoch auch hier nicht näher definiert, sondern fungiert erneut als Chiffre für
das Andersartige oder gar Gegensätzliche, das zunächst unbestimmt ist und
erst durch eine bestimmte normative Perspektivierung eine positive oder
negative Konnotation erfährt.
Gegenwelten verweisen, so lässt sich mit Blick auf das bisher Gesagte
resümieren, auf Ideen und Anschauungen, die in irgendeiner Weise in
Widerspruch zu etablierten Denk- und Verhaltensweisen stehen und / oder
sich wenigstens davon merklich unterscheiden. Sie stehen für alternative
Vorstellungen über bestehende politische, soziale oder kulturelle Gegebenheiten, die sowohl Verheißung als auch Bedrohung bedeuten können. Damit
wird – ungeachtet der jeweiligen Bewertung – zumindest implizit von einer
Pluralität von Wirklichkeit und folglich auch von einer möglichen Rivalität von
Deutungen des Daseins im Hier und Jetzt sowie mit für die Vergangenheit oder
Zukunft ausgegangen. Anders formuliert: Wo es Gegenwelten gibt, gibt es auch
mindestens eine Welt, von der sich diese unterscheiden.
Greift man diese Überlegungen auf, stellt sich gleichwohl die Frage, wie es zu
einer Aufspaltung zwischen Welt und Gegenwelt kommt. Konkret: Wie bilden
sich Sichtweisen heraus, die sich von bestehenden hegemonialen Denk- und
Handlungsmustern unterscheiden beziehungsweise sich davon distanzieren?
Die Erklärungskraft einer vornehmlich metaphorischen Verwendung des
Begriffs der Gegenwelt, wie sie für die zuvor genannten Arbeiten kennzeichnend ist, gerät hier an ihre Grenzen. Will man die Genese und Entwicklung von
Gegenwelten genauer bestimmen, greift eine ausschließliche Fokussierung auf
die damit verbundenen Inhalte zu kurz. Vielmehr gilt es – so die These, die
diesem Themenheft zugrunde liegt –, den Blick auf die Arten und Weisen zu
richten, wie alternative Weltsichten konkret hergestellt werden: beispielsweise
durch das Schreiben und Veröffentlichen von Texten, durch die Schaffung von
Feiertagen oder Denkmälern, durch die Etablierung neuer (Freizeit-) Aktivitäten, durch die Entwicklung neuer Organisationsformen und alltagsweltlicher
Routinen. Dies macht es erforderlich, den Begriff der Gegenwelt praxisbezogen zu fassen. Eine entsprechende Konzeption gegenweltlichen Handelns,
welche die methodische Rahmung der hier versammelten Beiträge darstellt,
wird nun in Auseinandersetzung mit ausgewählten soziologischen Ansätzen
herausgearbeitet.
8
Nina Leonhard und Astrid Mignon Kirchhof
II. Gegenwelt als praxisbezogene Forschungsperspektive:
Hinführung zu einem neuen Konzept
Der erste zentrale Ausgangspunkt für die hier vorgeschlagene Perspektive auf
gegenweltliche Phänomene ist die Theorie sozialer Welten von Anselm
Strauss.11 Ihre Anfänge gehen auf Strauss’ Arbeiten zur beruflichen Sozialisation von Medizinern und zum Krankenhausalltag aus den 1960er Jahren
zurück.12 Der dort bereits zum Tragen kommende interaktionistische, das
heißt auf (Aus-) Handlungsprozesse bezogene Fokus wurde von Strauss später
in Anlehnung und Weiterentwicklung der Überlegungen von Mead13 und
Shibutani14 zu einer eigenständigen, über den ursprünglich professionsbezogenen Kontext hinausweisenden Konzeption sozialer Welten ausgearbeitet.15
Soziale Welten entstehen nach Strauss rund um eine zentrale Aktivität, die
unterschiedliche Akteure miteinander verbindet.16 Aktivität ist dabei in
allgemeiner Weise als auf ein bestimmtes Ziel gerichtetes Handeln beziehungsweise gemeinsames Engagement zu verstehen. Im Mittelpunkt einer
11 Der US-amerikanische Soziologe Anselm L. Strauss (1916 – 1996) gehört zur sogenannten zweiten Generation der Chicago School of Sociology und ist ein namhafter Vertreter
der interaktionistischen Sozialtheorie; siehe hierzu z. B. Hans Joas, Symbolischer
Interaktionismus. Von der Philosophie des Pragmatismus zu einer soziologischen
Forschungstradition, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie
40. 1988, S. 417 – 446. Neben seinen medizin- und professionssoziologischen Studien
ist Strauss hierzulande vor allem aufgrund seines methodologischen Ansatzes der
„Grounded Theory“ bekannt, den er zusammen mit Barney Glaser entwickelte; siehe
Barney G. Glaser u. Anselm L. Strauss, The Discovery of the Grounded Theory.
Strategies for Qualitative Research, New Brunswick 1967. Zu Strauss im Allgemeinen
und seinem Ansatz der sozialen Welten im Besonderen siehe Jörg Strübing, Anselm
Strauss, Konstanz 2007, vor allem S. 73 – 97, sowie Fritz Schütze, Das Konzept der
sozialen Welt im symbolischen Interaktionismus und die Wissensorganisation in
modernen Komplexgesellschaften, in: Inken Keim u. Wilfried Schütte (Hg.), Soziale
Welten und kommunikative Stile, Tübingen 2002, S. 57 – 83.
12 Siehe z. B. Howard S. Becker u. a., Boys in White. Student Culture in Medical School,
Chicago 1961; Anselm L. Strauss u. a., Psychiatric Ideologies and Institutions, London
1964.
13 George H. Mead, Geist, Identität und Gesellschaft [1934], Frankfurt 1973.
14 Tamotsu Shibutani, Reference Groups as Perspectives, in: American Journal of
Sociology 60. 1955, S. 562 – 569.
15 Anselm L. Strauss, A Social World Perspective, in: ders., Creating Sociological
Awareness. Collective Images and Symbolic Representations, New Brunswick 1991,
S. 233 – 244; ders., Social Worlds and Legitimation Processes, in: Norman K. Denzin
(Hg.), Studies in Symbolic Interaction, Bd. 4, Greenwich 1982, S. 171 – 190; Anselm L.
Strauss, Social Worlds and Their Segmentation Processes, in: Norman K. Denzin (Hg.),
Studies in Symbolic Interaction, Bd. 5, Greenwich 1984, S. 123 – 139.
16 Strauss, A Social World Perspective, S. 236.
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Einführung
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Betrachtung sozialer Welten stehen demnach die konkreten Praktiken, durch
die Akteure miteinander in Kontakt treten, Kommunikationsbeziehungen
etablieren und die dazu führen, dass diese gemeinsame Wahrnehmungs- und
Deutungsmuster entwickeln, die zu kollektiv geteilten Weltbildern mit je
eigenen Legitimationen gerinnen und bestimmte Verhaltensweisen implizieren.17 Da sie auf kontinuierlichen Aushandlungsprozessen beruhen, stellen
soziale Welten jedoch keine in sich völlig homogenen Gebilde dar. Vielmehr
bestehen sie häufig aus kleineren Subwelten,18 die sich unter bestimmten
Bedingungen ihrerseits zu eigenständigen sozialen Welten entwickeln können.
Strauss hat hier insbesondere die Ausdifferenzierungsprozesse im Bereich der
Medizin, genauer im Krankenhaus am Beispiel von Ärzten, Therapeuten,
Pflegepersonal und der Verwaltung im Blick. Diese Erkenntnis lässt sich
gleichwohl auch auf andere Gebiete, wie die Kirche, städtische Gemeinden
oder politische Bewegungen, übertragen.
Folgt man diesen Überlegungen und verbindet sie mit der eingangs skizzierten
Vorstellung von Gegenwelt als etwas, das das Andersartige und / oder Gegensätzliche bezeichnet, so lässt sich unsere Frage nach den Konstitutionsbedingungen alternativer Sinnwelten weiter präzisieren: Es geht um die Analyse
solcher Differenzierungsprozesse, die mit spezifischen Abgrenzungsbestrebungen gegenüber den vorherrschenden politischen, organisationalen und
kulturellen Gegebenheiten einhergehen. Um Art und Umfang derartiger
Abgrenzungsbestrebungen, die eine Unterscheidung von Welt und Gegenwelt
im eingangs skizzierten Verständnis erlauben, noch genauer zu bestimmen,
erscheint es hilfreich, die skizzierten interaktionistischen Annahmen über
soziale Welten mit Ansätzen der Forschung zu Sub- und Gegenkulturen in
Beziehung zu setzen, da dort der uns interessierende Aspekt der Abweichung
im Zentrum steht. Diese kulturbezogenen Ansätze stellen daher den zweiten
zentralen Anknüpfungspunkt für die hier vorgeschlagene gegenweltliche
Forschungsperspektive dar.
Die sozialwissenschaftliche Forschung zu jugendlichen oder populärkulturellen Sub- und Gegenkulturen ist durch eine starke semiotische Ausrichtung
geprägt. Das heißt, äußerlich sichtbare Erscheinungsformen wie Moden,
Konsum- und Freizeitverhalten (Hobbys) werden als Indikatoren für Werte
und Normen verstanden, die sich in mehr oder weniger starkem Maße vom
vorherrschenden Mainstream unterscheiden. Während der Begriff der Subkultur dabei eher als Bezeichnung für gesellschaftliche Normabweichungen
verwendet wird, die nicht den gesamten gesellschaftlichen Normenhaushalt
17 Vgl. Strauss, Social Worlds and Legitimation Processes; zur Legitimation von Sinnwelten in ihren unterschiedlichen Formen siehe ebenfalls die klassischen Überlegungen
von Peter L. Berger u. Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion von
Wirklichkeit [1966], Frankfurt 2003, S. 98 – 100.
18 Strauss bezeichnet dies als „Segmentierung“. Siehe Strauss, Social Worlds and Their
Segmentation Processes.
10
Nina Leonhard und Astrid Mignon Kirchhof
umfassen, sondern nur für bestimmte Teilbereiche gelten, zeichnen sich
Gegenkulturen durch eine bewusste Distanzierung von „der“ Gesellschaft und
ihrer Werteordnung insgesamt aus.19 Diese Definition entspricht der wissenschaftlichen beziehungsweise populärwissenschaftlichen Verwendung des
Begriffs der Gegenkultur, wie sie beispielsweise in Arbeiten zur gesellschaftlichen Stellung des Militärs in der Bundesrepublik der 1980er Jahren,20 zur
Gegenkultur des Punk21 oder den „linken Konsumrebellen“ der 1960er Jahre
zutage tritt.22
Anstatt diese Unterscheidung zwischen Sub- und Gegenkultur aufzugreifen,
die auf Grad und Reichweite von Normabweichungen abhebt, plädiert der
Soziologe Patrick Williams dafür, den Fokus auf Sprecherpositionen und
Deutungshoheiten gesellschaftlicher Diskurse zu legen und danach die soziale
Position und (Selbst-) Positionierung jugendlicher Kulturen zu bestimmen – je
nachdem, ob diese sich selbst zu Subkulturen gemacht haben (Nonkonformität) oder von außen dazu gemacht wurden (Marginalität). Williams streicht auf
diese Weise den Konstruktionscharakter heraus, der mit der Wahrnehmung,
Inanspruchnahme und Bewertung von Werten und Normen einhergeht – mit
dem berechtigten Hinweis, dass das, was als Normalkultur bezeichnet wird,
alles andere als einheitlich sei und in dieser „Normalität“ daher nicht existiere.
Anstatt kulturelle Abweichungen von einer (postulierten) „Normalkultur“ aus
zu bestimmen, muss das Ziel demnach sein zu rekonstruieren, was von den
Repräsentanten einer Sub- oder Gegenkultur selbst als normal betrachtet wird.
Williams’ Überlegungen sind für unsere Frage nach den Konstitutionsbedingungen alternativer Sinnwelten insoweit interessant, als dass sie das Augenmerk auf das Wechselverhältnis von Fremd- und Selbstwahrnehmungen in
seiner Bedeutung für die Konstruktion des Anderen lenken. Ob und wie eine
bestimmte Sinnwelt zu einer Gegenwelt wird, hängt demnach maßgeblich von
der Binnen- sowie Außenperspektive der beteiligten Akteure ab und somit
davon, inwiefern die entsprechende Weltsicht als Infragestellung der vorherrschenden Denk- und Deutungsstrukturen und damit verbundener Machtverhältnisse betrachtet wird.
In eine ähnliche Richtung weisen auch die Überlegungen von Martina Löw zur
Konstitution gegenkultureller, von bisherigen Gepflogenheiten abweichender
19 Siehe z. B. Siegfried Lamnek, Theorien abweichenden Verhaltens, Bd. 1: „Klassische“
Ansätze, München 2007, hier das Überblickskapitel „Theorien der Subkultur und des
Kulturkonflikts“, S. 147 – 189.
20 Wolfgang R. Vogt, Gegenkulturelle Tendenzen im Militär? Zur Re-Kultivierung der ,Suigeneris‘-Ideologie in den Streitkräften, in: ders. (Hg.), Militär als Gegenkultur?
Streitkräfte im Wandel der Gesellschaft, Bd. 1, Opladen 1986, S. 11 – 34.
21 Martin Ableitinger, Hardcore Punk und die Chancen der Gegenkultur. Analyse eines
gescheiterten Versuchs, Hamburg 2004.
22 Joseph Heath u. Andrew Potter, Konsumrebellen. Der Mythos der Gegenkultur, Berlin
2005.
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Einführung
11
gesellschaftlicher Räume.23 Löw relativiert allerdings das von Williams ebenso
wie vor allem von Vertretern des Konzepts der Gegenkultur betonte reflexive
Moment. Stattdessen verweist sie auf die Bedeutung, die „kleinen, […] im
Alltag vorkommenden Abweichungen“ bei der Entstehung neuer Handlungsräume oftmals zukommt.24 Löw führt hier als Beispiele das Durchklettern von
(Bahn-) Schranken seitens Jugendlicher oder die Okkupation von Armlehnen
durch Frauen vor dem Hintergrund der Frauenbewegung der 1970er Jahre an.
Letztere verschafften sich etwa in öffentlichen Verkehrsmitteln Raum, indem
sie ihre Arme auf die Lehne ihres Sitzplatzes legten, dadurch den Bewegungsradius ihrer Sitznachbarn begrenzten und so ihren eigenen Aktionsrahmen –
im wörtlichen wie übertragenen Sinne – erweiterten.25 Für eine Untersuchung
von Gegenwelten lässt sich daraus ableiten, dass sich Praktiken der Wirklichkeitskonstruktion vor allem zu Beginn im Grad der Reflexivität und der
Intentionalität unterscheiden können. Eine Analyse gegenweltlicher Phänomene sollte sich folglich nicht ausschließlich auf explizite Selbstdeutungen
beschränken, sondern andere Formen abweichenden Handelns – wie bestimmte körperliche Praktiken – ebenfalls berücksichtigen.
III. Gegenwelt als Handlungsraum: Der gemeinsame Ansatz
der Beiträge dieses Themenheftes
In Anlehnung und Weiterentwicklung der vorangegangenen Ausführungen
zum metaphorischen Gehalt des Begriffs der Gegenwelt, zu sozialen Welten
(Strauss), subkulturellen Selbst- und Fremdzuschreibungen (Williams) und
gegenkulturellen Räumen (Löw) schlagen wir vor, Gegenwelten als einen
durch bestimmte Akteure und deren Praktiken konstituierten Handlungsraum zu fassen, der auf einer kollektiv geteilten Weltsicht mit entsprechenden
Relevanzsystemen beruht, die von anderen Deutungshoheit beanspruchenden
Sichtweisen abweicht. Die Erforschung solcher Gegenwelten hebt auf eine
Rekonstruktion der Praktiken der Wirklichkeitskonstruktion ab, durch die
hegemoniale Strukturen in Staat und Gesellschaft infrage gestellt werden. Im
Zentrum steht die Analyse ihrer zeitgenössischen Materialisierung, also die
Entwicklung neu- oder andersartiger Riten und Codes für die Konstruktion
neuer Identitäten, die Bildung von Netzwerken für den Austausch von Ideen
oder auch die Aneignung von Räumen als Austauschplattform sowie Quelle
anderer Sichtweisen auf die Welt. Gegenweltliche Phänomene lassen sich nach
diesem Verständnis folglich nicht nur im Kontext großer historischer Zäsuren,
23 Martina Löw, Raumsoziologie, Frankfurt 2001, S. 183 – 191. Löw bezieht sich hier vor
allem auf Ilse Modelmogs Verständnis von Gegenkultur : Ilse Modelmog, Versuchungen.
Geschlechterzirkus und Gegenkultur, Opladen 1994.
24 Vgl. Löw, Raumsoziologie, S. 186.
25 Ebd.
12
Nina Leonhard und Astrid Mignon Kirchhof
sondern im Prinzip zu allen Zeiten und auf allen Ebenen finden: als
Herausforderung staatlicher und politischer Machtansprüche, innerhalb von
Institutionen wie der Kirche oder in Form jugendlicher Freizeitaktivitäten, die
in der Erwachsenenwelt auf Unverständnis oder Ablehnung stoßen.
Die in diesem Heft versammelten Beiträge setzen mit ihrer jeweiligen Analyse
an unterschiedlichen Stellen an, um für das jeweils betrachtete Fallbeispiel die
entsprechenden Praktiken abweichender Wirklichkeitskonstruktion mit ihrer
je eigenen Logik herauszuarbeiten. Mindestens einer der folgenden drei
Fragekomplexe wird gleichwohl in jedem Beitrag behandelt: Unter welchen
Umständen entstehen neue Vorstellungen von der Welt, und von wem werden
sie wie institutionalisiert (Entstehung von Gegenwelten)? Auf welche Weise
und von wem wird die Bewahrung und Weitergabe einer bestimmten
Wirklichkeitssicht und der sie stützenden Deutungs- und Handlungsmuster
organisiert und sichergestellt, und welche Veränderungen treten im Verlauf
der Zeit dabei auf (Entwicklung von Gegenwelten)? Unter welchen Bedingungen löst sich das mit einer Gegenwelt verbundene Weltdeutungssystem wieder
auf ? Unter welchen Umständen verliert es umgekehrt seinen gegenweltlichen
Status und wir Teil des gesellschaftlichen Mainstreams (Auflösung von
Gegenwelten)?
Grundsätzlich – so wird sich im Folgenden zeigen – sind für die Entstehung
und Entwicklung von Gegenwelten zum einen die Selbst- und Fremdzuschreibungen der handelnden Akteure bedeutend. Diese können mit Blick auf das
mit Gegenwelten verbundene Irritations- und Innovationspotenzial übereinstimmen, aber mitunter auch deutlich divergieren: Der neuartige Charakter
bestimmter Sicht- und Verhaltensweisen wird bisweilen erst in und durch die
Reaktion anderer und somit durch den Blick von außen sichtbar. Zum anderen
lassen die vorgestellten Studien erkennen, dass die Entwicklung und Perpetuierung andersartiger Denk- und Handlungsmuster nicht zuletzt von den
Möglichkeiten und Grenzen der Erschließung neuer oder der Umbesetzung
bereits bestehender sozialer Räume abhängt.26 Derartige Räume, die mit Löw als
Beziehungsgeflecht von Akteuren und sozialen (materiellen wie symbolischen) Gütern verstanden werden können, sind zumeist an reale Orte
26 Hier zeigen sich gewisse Parallelen zu den Erkenntnissen der Sozialen Bewegungsforschung, die auf die Relevanz der Offen- bzw. Geschlossenheit gesellschaftlicher
Strukturen für den Entstehung und den Erfolg Sozialer Bewegungen hinweisen. Siehe
z. B. Hanspeter Kriesi, The Political Opportunity Structure of New Social Movements. Its
Impact on Their Mobilization, WZB-Discussion Paper FS III91 – 103, Berlin 1991; Dieter
Rucht, Komplexe Phänomene – komplexe Erklärungen. Die politischen Gelegenheitsstrukturen der neuen sozialen Bewegungen in der Bundesrepublik, in: Kai-Uwe
Hellmann u. Ruud Koopmanns (Hg.), Paradigmen der Bewegungsforschung. Entstehung und Entwicklung von neuen sozialen Bewegungen und Rechtsextremismus,
Opladen 1998, S. 109 – 127.
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Einführung
13
gebunden, mit diesen aber keineswegs immer deckungsgleich.27 Für eine
weitere theoretische Fundierung gegenweltlicher Phänomene erscheint es
daher lohnend, die an den Prämissen des Interaktionismus angelehnten
Überlegungen zur Konstitution von Gegenwelten zukünftig noch stärker mit
raumbezogenen Konzepten zu verknüpfen.
IV. Die Analyse historischer Gegenwelten in diesem Heft
Die hier zusammengetragenen Fallstudien beleuchten gegenweltliche Phänomene zu verschiedenen Zeitspannen des 19. und 20. Jahrhunderts in
Deutschland, Polen und Großbritannien.
Der Beitrag von Astrid Mignon Kirchhof beschäftigt sich mit dem Umweltund Naturschutz in der DDR. Am Beispiel des von Kurt und Erna Kretschmann
in den 1960er Jahren geschaffenen Natur- und Kulturzentrums wird die
Entstehungs- und Wirkungsgeschichte einer naturbetonten, ganzheitlichen
Gegenwelt nachgezeichnet, die auf von der Reformbewegung der 1920er Jahre
inspirierten Vorstellungen eines „besseren Lebens“ fußte und hierbei mitunter
deutlich von der offiziellen Politik des SED-Staates abwich. Das von Kurt und
Erna Kretschmann gegründete und bewirtschaftete „Haus der Naturpflege“,
das heute als Museum fungiert, steht für den Versuch, diese reformbewegten
Ideen in der Realität umzusetzen – nicht in offenem Widerspruch gegenüber
den staatlichen Stellen, aber unter den Augen der Staatssicherheit, deren
anfängliche Skepsis mit den Jahren einer wohlwollenden Indifferenz wich und
dieses Projekt dadurch letztlich mit ermöglichte.
Kathrin Krogner-Kornaliks Beitrag untersucht den politischen Totenkult im
Krakau des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Der Fokus liegt hier auf den
Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen Akteursgruppen, vor
allem zwischen Klerus und Liberalen, um die Ausgestaltung des Gedenkens
an Persönlichkeiten, die sich für Polen in besonderer Weise verdient gemacht
hatten. Am Beispiel eines konkreten Begräbnisfalls arbeitet Krogner-Kornalik
heraus, wie im Zuge eines konfliktreichen Aushandlungsprozesses in der
politischen Öffentlichkeit eine die damaligen realpolitischen Gegebenheiten
konterkarierende Vision einer geeinten polnischen Nation symbolisch hergestellt und im städtischen Raum materiell verankert wurde.
Michael Schüring richtet in seinem Beitrag den Blick auf gegenweltliche
Strömungen, die in der Bundesrepublik im Verlauf der 1970er und frühen
1980er Jahre unter dem institutionellen Dach der evangelischen Kirche
entstanden. Sein spezielles Erkenntnisinteresse gilt den Umständen der
Erfindung des „Indianers“ als Sinnbild einer authentischen Lebensweise im
Einklang mit der Natur und den Modalitäten der religionspädagogischen
Institutionalisierung dieses Ideals, mit dem nicht nur am Zustand westlicher
27 Löw, Raumsoziologie, S. 224 – 230.
14
Nina Leonhard und Astrid Mignon Kirchhof
Gesellschaften allgemein Kritik geübt wurde, sondern das auch dazu diente,
sich von der (Geschichte der) eigenen Institution Kirche zu distanzieren.
Der vierte Beitrag von Klaus Nathaus nimmt Großbritannien und Entwicklungen der dortigen Jugendkultur in den 1950er Jahren in den Blick.
Ausgehend von den sozialräumlichen Veränderungen in britischen Städten
seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und dem damit einhergehenden
Wandel kultureller Freizeit- und Unterhaltungsangebote rekonstruiert er die
Bedingungen, unter denen sich eine spezifische jugendliche Gegenwelt mit
eigenen Umgangsformen und Verhaltenscodes herausbildete, die von den
Erwachsenen als Provokation oder zumindest als klare Abweichung sonst
üblicher Standards angesehen und entsprechend kritisiert wurden.
Die Analyse von Nathaus unterscheidet sich insofern von den drei anderen, als
die dort betrachtete soziale Welt der Jugendlichen in den 1950er Jahren durch
ein relativ geringes Maß an Reflexivität gekennzeichnet war und ihr gegenweltliches Moment in erster Linie durch negative Zuschreibungen der
Erwachsenen erhielt: Den von Nathaus untersuchten Protagonisten ging es
nicht primär darum, durch cooles Verhalten auf der Tanzfläche oder in den
Snackbars traditionelle Umgangsformen explizit zu unterlaufen. Vielmehr
eigneten sich die Jugendlichen die aus unterschiedlichen Gründen frei
gewordenen urbanen Räume an, indem sie dafür neue situationsadäquate
Verhaltensweisen – wie Coolness – entwickelten, die allerdings in der
Erwachsenenwelt auf Widerspruch trafen und symbolisch und praktisch –
beispielsweise durch Platzverweise – diskreditiert wurden. Wir haben es hier
also mit einer von außen angestoßenen und vor allem durch Fremdzuschreibungen hervorgerufenen, kaum institutionalisierten Gegenwelt zu tun, die
nach verhältnismäßig kurzer Zeit wieder verschwand, genauer gesagt: abgelöst wurde durch eine Form von Populärkultur, deren Repräsentanten sich nun
demonstrativ als gesellschaftliches Gegenbild inszenierten. Demgegenüber
traten die von Kirchhof, Schüring sowie Krogner-Kornalik betrachteten
gegenweltlich handelnden Akteure explizit für die eigenen Überzeugungen ein
und verteidigten diese mit Nachdruck gegenüber anderslautenden Positionen.
Gegenweltliche Selbstzuschreibungen spielen hier also eine wesentlich wichtigere Rolle als bei dem von Nathaus betrachteten Fall, bei dem die
Fremdzuschreibungen im Vordergrund stehen.
Zugleich bestätigen die von Nathaus im Einzelnen nachgezeichneten Wechselwirkungen zwischen der Aneignung sozialer Räume, wie Tanzlokale und
Snackbars, und der Erfindung und Etablierung entsprechender Handlungsmuster nicht nur die von Löw beschriebenen alltagspraktischen Mechanismen
abweichender Raumkonstitution im Allgemeinen.28 Vielmehr zeigt sich hier
im Besonderen ein für gegenweltliche Phänomene zentrales Moment, das auch
im Rahmen der anderen Fallstudien zutage tritt: Gegenwelten manifestieren
28 Siehe oben bzw. Löw, Raumsoziologie, v. a. S. 183 – 191.
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Einführung
15
sich in der Neubesetzung (Nathaus), Erschaffung (Kirchhof) oder Umwidmung bereits existierender Räume (Krogner-Kornalik sowie Schüring).
Während die von Kirchhof untersuchte naturbewusste Gegenwelt der Kretschmanns ähnlich wie die von Krogner-Kornalik beschriebene Konstruktion von
Polen als geeinter Nation an einen konkreten Ort, das „Haus der Naturpflege“
auf dem Boasberg in Bad Freienwalde und an die Krypta der Verdienten in der
Kirche St. Stanislaus und St. Michael in Krakau, gebunden war, materialisierte
sich die von Schüring beschriebene „heile Welt der Indianer“ vornehmlich in
immer wieder gebrauchten Texten sowie in kunsthandwerklichen Artefakten,
die an fremde Orte einer fernen Vergangenheit erinnerten. Bei Schüring wie
bei Krogner-Kornalik ist es jedoch der durch die Kirche in Gottesdienst,
Konfirmandenunterricht, Bestattungsritualen und Begräbnisstätten bereit
gestellte Rahmen, der für die Entfaltung der eigenen Weltsicht in Anspruch
genommen und damit auch verändert wird. Daran wird ersichtlich, dass es
nicht zuletzt von der Möglichkeit der Aneignung sozialer Räume abhängt, ob
und in welcher Weise gegenweltliche Denk- und Handlungsmuster entwickelt
und bewahrt werden können.
Krogner-Kornalik und Schüring behandeln also zum einen die Kirche als
klassische Inhaberin des Deutungsmonopols über die Grundfragen des
menschlichen Daseins und ihre Reaktionen auf dessen gegenweltliche Infragestellung. Zum anderen zeigen ihre Beiträge, dass sich dieselbe Kirche mit
den liberalen politischen Kräften (Krogner-Kornalik) beziehungsweise den
kirchlichen Umweltaktivisten (Schüring) und den von diesen jeweils propagierten Weltsichten arrangierte beziehungsweise diese teilweise inkorporierte,
um ihre Deutungshoheit und somit ihren gesellschaftlichen Status zu
bewahren. Unter Inkaufnahme einiger Zugeständnisse – wie die Aufnahme
eines antiklerikalen Schriftstellers ins katholisch geprägte Pantheon polnischer Helden oder die Kanonisierung des Häuptlings Seattle als Gewährsmann
einer vermeintlich gerade auch für Christen ethisch korrekten Lebensführung
– gelang es der Kirche, Anschlussfähigkeit zwischen Altem und Neuem
herzustellen. Durch die Einhegung und Kanalisierung dieser gegenweltlichen
Strömungen verhinderte sie somit weitere Abspaltungen. Im Gegensatz dazu
ging der Aushandlungsprozess bei dem von Kirchhof untersuchten Fall
zwischen Gegenwelt und Welt am Beispiel des Ehepaars Kretschmann und den
staatlichen Stellen in der DDR letztlich zugunsten Ersterer aus. Im Zuge der
zunehmenden gesellschaftlichen Aufmerksamkeit für umwelt- und naturschutzbezogene Themen in der DDR der 1980er Jahre sowie insbesondere im
Verlauf des Vereinigungsprozesses gelang es dank des Einsatzes einzelner
Protagonisten aus dem gegenweltlichen Umfeld der Kretschmanns, eines ihrer
zentralen Anliegen – die Schaffung von Naturschutzgebieten – institutionell
festschreiben zu lassen. Damit verlor die von den Kretschmanns geschaffene
Sinnwelt ihren gegenweltlichen Charakter und ging in der staatlich anerkannten Natur- und Umweltschutzpolitik des vereinten Deutschlands auf. Zugleich
wurden so die Voraussetzungen geschaffen, dass die von den Kretschmanns
16
Nina Leonhard und Astrid Mignon Kirchhof
und ihren Mitstreiterinnen und Mitstreitern bereits zu DDR-Zeiten entwickelten und praktisch gelebten Ideale deren Untergang überlebten.
Die hier betrachteten Fälle repräsentieren nur einen kleinen Ausschnitt
möglicher gegenweltlicher Konstellationen. Dennoch verdeutlichen sie die
Fruchtbarkeit einer auf Interaktionsprozesse fokussierten, praxisbezogenen
Analyseperspektive. Diese steht weniger in Widerspruch zu anderen Ansätzen,
sondern stellt eher eine Ergänzung dar, wie die von den Autoren jeweils
vorgenommene forschungsspezifische Verortung – in Bezug auf die Forschung
zu Sozialen Bewegungen (Kirchhof sowie Schüring), zu Jugend- und Populärkultur (Nathaus) oder zu Nationsbildung und Erinnerungskulturen
(Krogner-Kornalik) – belegt. Das vorliegende Themenheft dient somit dazu,
eine theoretisch fundierte „gegenweltliche“ Analyseperspektive zu entwerfen
und deren Anwendbarkeit anhand ausgewählter Beispiele zu illustrieren. Die
Adaption dieser Perspektive ist insbesondere mit dem Ziel verknüpft,
praxeologische Überlegungen, wie sie mit dem Konzept der Gegenwelt
verbunden sind, auch für die historische Forschung nutzbar zu machen und
diese dadurch in theoretisch-methodischer Hinsicht weiterzuentwickeln.29
Dr. Nina Leonhard, Führungsakademie der Bundeswehr, Fachbereich Humanund Sozialwissenschaften, Blomkamp 61, 22549 Hamburg
E-Mail: nina.leonhard@berlin.de
Dr. Astrid Mignon Kirchhof, Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für
Geschichtswissenschaften, Friedrichstraße 191 – 193, 10117 Berlin
E-Mail: astrid.m.kirchhof@hu-berlin.de
29 Für die Frage der Fruchtbarkeit der Verbindung von soziologischen Theorien und
Geschichtswissenschaft in Bezug auf Konzeptionen von Raum siehe z. B. Astrid Mignon
Kirchhof, Geschlechterräume. Wie soziologische Raumtheorien für die Geschichtswissenschaft nutzbar gemacht werden können, in: Ariadne. Forum für Frauen- und
Geschlechtergeschichte 61. 2012, S. 6 – 13.
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Grabesunruhen
Beisetzungen als gegenweltliche Arenen im Krakau des
späten 19. Jahrhunderts
von Kathrin Krogner-Kornalik
Abstract: This article interprets the various strands of Polish national movements in
the late nineteenth century as constituting a counterworld. Representing a nation
without a state, these movements strove to establish a new political order and thereby
to transform the status quo. Such public rituals as the burials of “great men” were
used, among other means, to formulate, spread and popularize this world-view. The
article analyses the burial of J€zef Ignacy Kraszewski (1812 – 1887) in detail as a case
study, and argues that the event as a whole, including the preparations for the funeral
and the discussions afterwards, can be understood as an arena (Anselm Strauss) in
which different historical stakeholders acted out their vision of the present and the
future of a Polish “nation”.
Als im April 2010 nach dem Flugzeugabsturz bei Smolensk 96 Menschen
starben, darunter viele Vertreter der wirtschaftlichen, politischen und kulturellen polnischen Elite, war das Land im ersten Moment in Trauer geeint. Diese
Einigkeit verflog schnell, als die Idee aufkam, das verstorbene Präsidentenpaar
Maria und Lech Kaszyński auf dem Wawel zu bestatten, dem Königsschloss in
Krakau, wo sich die wichtigste polnische Begräbnisstätte befindet. Politiker
gehörten nach Warschau und nicht in die Grabstätte der Könige, proklamierten die einen; die anderen – unter ihnen der Krakauer Erzbischof Kardinal
Stanisław Dziwicz – behaupteten, der verstorbene Präsident sei als ein
polnischer Märtyrer gestorben, und entschieden mit diesem Argument, den
Präsidenten nebst Gattin auf dem Wawel in der Nähe des Marshall J€zef
Piłsudski beizusetzen.1
Neben dem Wawel beherbergt Krakau eine weitere wichtige Nekropole, die
Krypta der Verdienten in der Kirche St. Stanislaus und St. Michael. Auch wer
hier ruhen durfte, war in der Vergangenheit oft umstritten. Zuletzt wurde im
1 Konrad Schuller, Kaczynski-Beisetzung. Ein Platz unter Königen, in: Frankfurter
Allgemeine Zeitung, 15. 4. 2010, http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/kaczynskibeisetzung-ein-platz-unter-koenigen-1966337.html. Lech Kaczyński spocznie na Wawelu. Kardynał Dziwisz potwierdza, in: Newsweek, 13. 4. 2010, http://polska.newsweek.pl/lech-kaczynski-spocznie-na-wawelu-kardynal-dziwisz-potwierdza,56658,1,1.html.
Geschichte und Gesellschaft 41. 2015, S. 17 – 39
q Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2015
ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000
18
Kathrin Krogner-Kornalik
Jahr 2006 der Schriftsteller Czesław Miłosz beigesetzt.2 Die Beisetzung rief
Kontroversen hervor, weil einige Stimmen aus dem Umfeld des nationalistischen Radiosenders Radio Maryja dem in Litauen geborenen Miłosz mangelnde Identifikation mit dem Polentum vorwarfen.3 Inzwischen sind alle
Begräbnisplätze in der Krypta belegt, doch das Potenzial für weitere Konflikte
bleibt erhalten: 2013 ist in der Kirche St. Peter und Paulus eine neue Krypta
eröffnet worden. Hier sollen diejenigen beigesetzt werden, die sich um die
polnische Nation besonders verdient gemacht haben.4
Dieser Blick in die jüngste Vergangenheit macht deutlich, dass öffentliche, in
diesem Fall patriotisch konnotierte, Beisetzungen einen ambivalenten Charakter haben: Einerseits vereinen und bekräftigen sie ein Kollektiv in
gemeinsamer Trauer, andererseits sorgen sie für Kontroversen. Wer wo auf
welche Weise beigesetzt werden soll, ist eine Frage, die die Angehörigen eines
Kollektivs unterschiedlich beantworten. Anders ausgedrückt: Umstritten sind
Personen, Räume und Riten. Eine imposante Beisetzung erhält derjenige, der
in irgendeiner Weise als Identifikationsfigur dient, der als vorbildlich und
anerkennungswürdig gilt. Wo diese Person beigesetzt wird, kann nicht
willkürlich sein: Gräber sind wichtige Gedenk- und Erinnerungsorte mit
sakralem Charakter.5 Gefestigt wird dieser sakrale Charakter durch entsprechende Riten. Im Idealfall bedingen und bestärken Ritus, Ort und geehrte
Person sich bei einer Beisetzung gegenseitig. Wenn aber einige im Kollektiv
eine Dissonanz zwischen Ort, Person und Ritus sehen, kommt es zu
Auseinandersetzungen, bei dem es im Kern auch um die Frage geht, wie sich
das Kollektiv selbst sieht beziehungsweise sehen sollte.
Ein solches Beispiel soll im Folgenden vorgestellt werden. Es handelt sich dabei
um die Beisetzung des polnischen Schriftstellers und Publizisten J€zef Ignacy
Kraszewski (1812 – 1887) im April 1887 in Krakau. Damals war Polen von den
politischen Landkarten Europas verschwunden; seine früheren Gebiete
gehörten nun Österreich-Ungarn, Russland und Preußen beziehungsweise
später dem Deutschen Reich an. Krakau avancierte zu dieser Zeit zu einem
Kristallisationspunkt der polnischen Nationsbildung. Es war erstens als
frühere Hauptstadt historisch bedeutsam und zweitens politisch seit der
2 Stephan Wackwitz, Der Dichter rief den Papst. Abschied von Czesław Miłosz in Krakau,
in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23. 8. 2004, S. 43.
3 Antypolskie oblicze Miłosza. Fragmenty wywiadu Marka Żelaznego z Janem Majda˛
w czwartkowym „Naszym Dzienniku“, in: Gazeta Wyborcza, 20. 8. 2004, S. 2.
4 Bartosz Piłat, Pogrzeb Sławomira Mrożka. Droga˛ Kr€lewska˛ do Panteonu, in: Gazeta
Wyborcza, 3. 9. 2013, http://krakow.gazeta.pl/krakow/1,44425,14537438,Pogrzeb_Slawo
mira_Mrozka__Droga_Krolewska_do_Panteonu.html.
5 Olaf B. Rader, Grab und Herrschaft. Politischer Totenkult von Alexander dem Großen
bis Lenin, München 2003, S. 32 – 35.
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Grabesunruhen
19
sogenannten galizischen Autonomie seit Ende der 1860er Jahre relativ frei.6
Krakau wurde daher unter anderem zu einem Zentrum für polnisch-nationale
Festivitäten, unter denen Beisetzungen einen besonderen Stellenwert einnahmen. Wichtigste Orte hierfür waren der Wawel mit seinen Königsgräbern und
die im Jahr 1880 eingerichtete Krypta der Verdienten.7 In dieser sollte im Jahr
1887 auch der beliebte Schriftsteller Kraszewski beigesetzt werden, der am
19. März in Genf verstorben war. Als Schriftsteller hatte sich dieser der
Vergangenheit zugewandt und in seinen Romanen Bilder und Erzählungen der
als polnisch apostrophierten Vergangenheit entworfen und einem breiten
Lesepublikum nahegebracht. Zugleich hatte er als Publizist aktuelle politische,
gesellschaftliche und kirchliche Entwicklungen kommentiert. Zu seinen
Lebzeiten galt er als „Hauptautorität des polnischen liberalen Lagers“.8
Damit war Kraszewski bei der Krakauer ultramontan gesinnten hohen
Geistlichkeit auf wenig Sympathien gestoßen. Allerdings war sie diejenige,
die den Rahmen für die Trauerfeier stellte: die Riten und die Räume.
Im Folgenden sollen nun diese konfliktreichen Auseinandersetzungen, die die
Beisetzung begleiteten, analysiert werden. Zugleich soll gezeigt werden, wie
trotz dieser Auseinandersetzungen das Bild einer geeinten polnischen Nation
performativ hergestellt wurde. Dazu werden die an den Funeralriten beteiligten Akteure als Mitglieder einer sozialen Welt im Sinne von Anselm Strauss
und anderen verstanden, die das Engagement für ein gemeinsames Anliegen
einte – die Idee einer polnischen Nation.9 Deren genaue Ausgestaltung machte
Auseinandersetzungen erforderlich, die etwa im Rahmen öffentlicher Begräbnisfeiern – mit Strauss als „Arena“ verstanden – zutage traten.10 Denn die
Vorbereitungen und Diskussionen im Vorfeld sowie im Nachgang der
Beisetzung provozierten Fragen, über die Kleriker, Konservative, Aristokraten
und Liberale stritten. Gleichzeitig machten sie eine – zumindest situative –
Beantwortung dieser Fragen notwendig, weil die Beisetzung keinen langen
Aufschub duldete. Gerade diese Aushandlungsprozesse machen deutlich, dass
eine soziale Welt erstens niemals statisch ist und zweitens aus verschiedenen
Untergruppen besteht, die Strauss auch als „Segmentierungen“ bezeichnet.11
6 Über die Image-Produktion Krakaus ist jüngst erschienen: Simon Hadler, Das Image
Krakaus und der Umgang mit dem öffentlichen Raum um 1900, Diss. Universität Wien
2012.
7 Michał Rożek, Ska3ka jako Panteon Narodowy, in: Peregrinus Cracoviensis 14. 2003,
S. 119 – 141.
8 Przemysław Matusik, „Nadeszła Epoka Przejścia …“. Nowoczesność w piśmiennictwie
katolickim poznańskiego 1836 – 1871, Posen 2011, S. 368.
9 Jörg Strübing, Anselm Strauss, Konstanz 2007, S. 82 – 88.
10 Arenen sind demnach als soziale Orte zu verstehen, an denen Akteure gemeinsam –
wenn auch zumeist kontrovers – „kommunikativ an Problemen arbeiten“, siehe ebd.,
S. 92 – 97, hier S. 94.
11 Ebd., S. 90.
20
Kathrin Krogner-Kornalik
Die polnische Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts kann dabei nicht nur
als soziale Welt, sondern auch als Gegenwelt verstanden werden: Denn sie
beruhte nicht auf einem eigenen (National-) Staat, sondern strebte diesen erst
an – und richtete sich so gegen die herrschenden Eliten der polyethnischen
Reiche, in denen die Polen lebten.12 Entsprechend besaßen auch polnische
Nationalfeiern einen gegenweltlichen Charakter, da sie eine Weltsicht verfestigten, nämlich das Postulat einer nationalen Selbstbestimmung und den
Anspruch, eine „Nation“ darzustellen und als solche Handlungsrelevanz zu
besitzen. Hier manifestierte sich eine polnische Gegenwelt, die im Gegensatz
zu den durch die Teilungen Polens geschaffene politische Realität stand. Eine
besondere Rolle spielten dabei Beisetzungen. Als Modell dienten die früheren
Königsbeisetzungen. Diese und andere Festivitäten markierten den städtischen Raum als polnisch und damit als nicht-österreichisch. Ähnliche
Bestrebungen, die Stadt als nationalen Referenzpunkt zu kodieren, fanden
sich beispielsweise in Prag: Die sich als eine kulturelle und sprachliche Einheit
verstehenden Akteure der tschechischen Nationalbewegung projizierten
gleichsam ihre Vorstellungen in den öffentlichen Raum und prägten ihn
entsprechend.13
Räume spielten gerade für Nationalbewegungen, die nach staatlicher Unabhängigkeit strebten (state-seeking), eine wichtige Rolle: Da ein eigenes
Staatsterritorium fehlte, war es für die Nationalbewegungen umso wichtiger,
zentrale Orte als national zu kodieren, so symbolisch zu besetzen und damit
die Illegitimität der herrschenden Eliten zu behaupten. Zudem fungierten
Städte wie Krakau als nationale Gedächtnisspeicher : als Orte, die als lieux de
m_moire dienten, als „langlebige […] Kristallisationspunkte kollektiver
Erinnerung und Identität“.14 Das heißt, dass sich hier historische Erzählungen
verdichteten und die genannten Orte zum „Gegenstand von Symbolbildungen
und Narrationen“ wurden.15 Krakau hat daher schon seit längerem Aufmerksamkeit von Historikerinnen und Historikern auf sich gezogen, die sich mit
12 Zur Typologie der Nationsbildung in Europa siehe Miroslav Hroch, Das Europa der
Nationen. Die moderne Nationsbildung im europäischen Vergleich, Göttingen 2005,
S. 41 – 45.
13 Marek Nekula, Die nationale Kodierung des öffentlichen Raums in Prag, in: Peter Becher
u. Anna Knechtel (Hg.), Praha – Prag 1900 – 1945. Literaturstadt zweier Sprachen,
Passau 2010, S. 63 – 88; Marek Nekula, Prague Funerals. How Czech National Symbols
Conquered and Defended Public Space, in: Julie Buckler u. Emily D. Johnson (Hg.),
Rites of Place. Public Commemoration in Russia and Eastern Europe, Evanston 2013,
S. 35 – 58.
14 Etienne FranÅois u. Hagen Schulze, Einleitung, in: dies. (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 1, München 2003, S. 9 – 24, hier S. 18.
15 Aleida Assmann, Geschichte findet Stadt, in: Moritz Cs{ky u. Christoph Leitgeb (Hg.),
Kommunikation – Gedächtnis – Raum. Kulturwissenschaften nach dem „spatial turn“,
Bielefeld 2009, S. 13 – 27, hier S. 17.
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Grabesunruhen
21
Prozessen der Nationsbildung, der Konstruktion nationaler Mythen und
Erinnerungsräumen beschäftigen.16 Wie heterogen die beteiligten Akteure und
ihre Interessen waren, soll im Folgenden mithilfe des Gegenwelten-Theorems
erhellt werden. Das empirische Beispiel der Beisetzung Kraszewskis, die
bislang in der Forschung keine Beachtung gefunden hat, eignet sich wegen
ihres kontroversen Charakters besonders, um verschiedene Segmente der
polnischen Gegenwelt sichtbar werden zu lassen.
I. Krakau als Gedächtnisspeicher und als Gräberstadt
Krakau war bis zu den Teilungen Polens Krönungs- und Begräbnisort der
polnischen Könige gewesen, auch wenn diese seit dem Jahr 1596 in Warschau
residierten. Mit der ersten Teilung Polens im Jahr 1772, bei der Österreich den
südöstlichen Teil des Landes annektierte, wurde Krakau zu einer Grenzstadt
im dezimierten Polen. Mit der dritten Teilung im Jahr 1795, mit der der
polnische Staat ganz von den politischen Landkarten Europas verschwand,
wurde Krakau Teil des Habsburger Reiches. Die Habsburger hatten bereits mit
der ersten Teilung Polens ein neues Kronland geschaffen, Galizien und
Lodomerien, zu dem Krakau nun gehörte, dort aber einen sekundären Status
erhielt. Administratives und politisches Zentrum wurde das ostgalizische
Lemberg, Krakau hingegen wurde zu einer österreichischen Festungsstadt. Im
Jahr 1809 verlor Österreich nach dem Österreichisch-Französischen Krieg
Teile Galiziens an das von Napoleon eingerichtete Herzogtum Warschau, so
auch Krakau. Als 1815 der Wiener Kongress die Grenzen des nachnapoleonischen Europas festlegte, wurde die zwischen Russland, Preußen und dem
Habsburger Reich gelegene Stadt samt ihrer Umgebung zum Freistaat Krakau
erklärt. Krakau war damit „Freie, Unabhängige und Neutrale Stadt“ mit einer
eigenen Verfassung unter dem Schutz der drei Teilungsmächte mit Polnisch als
Amtssprache.17 1846 wurde Krakau nach einem gescheiterten Aufstand wieder
Teil Österreich-Ungarns. Die 1860er Jahre schließlich brachten mit der
16 Patrice Dabrowski, Commemoration and the Shaping of Modern Poland, Bloomington
2004; Hanna Kozińska-Witt, Zeremonielle Landschaften. Das Beispiel Krakau im 19.
und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in: Andreas R. Hofmann u. Anna Veronika
Wendland (Hg.), Stadt und Öffentlichkeit in Ostmitteleuropa 1900 – 1939. Beiträge zur
Entstehung moderner Urbanität zwischen Berlin, Charkiv, Tallinn und Triest, Stuttgart
2002, S. 97 – 110; Christoph Mick, „Den Vorvätern zum Ruhm – den Brüdern zur
Ermutigung“. Variationen zum Thema Grunwald / Tannenberg, in: zeitenblicke 3. 2004,
http://zeitenblicke.historicum.net/2004/01/mick/index.html; Kai Struve, Peasants and
National Celebrations in Austrian Galicia, in: Christopher M. Hann u. Paul R. Magocsi
(Hg.), Galicia. A Multicultured Region, Toronto 2009, S. 103 – 138.
17 Jacek Purchla, Die Widersprüchlichkeiten der Hauptstadtproblematik, in: ders. (Hg.),
Krakau und Nürnberg in der europäischen Zivilisation, Krakau 2006, S. 195 – 230.
22
Kathrin Krogner-Kornalik
sogenannten galizischen Autonomie18 eine relativ liberale Gesetzgebung im
Kronland Galizien und Lodomerien, sodass die dort lebenden Polen – anders
als die ebenfalls im Kronland beheimateten Ruthenen – Freiheiten genossen,
die Polen in den anderen Teilungsgebieten verwehrt blieben.19
Tonangebend waren in der Stadt die konservativen Aristokraten. Sie waren
habsburgloyal, national gesinnt und propagierten das Konzept der „Organischen Arbeit“, welches Arbeit zur Verbesserung der eigenen Lage anstelle von
Aufständen forderte. Außerdem pflegten sie gute Verbindungen zur katholischen Kirchenhierarchie. Diese Allianz von Habsburgloyalismus, Katholizismus und Konservativismus verdeutlicht etwa die Karriere der Brüder
Dunajewski, von denen der eine, Julian, Finanzminister in der k. k. Regierung
Eduard Taafes war und der andere, Albin, Bischof von Krakau, später in den
Kardinalsstand erhoben wurde. Krakau galt als religiöses Zentrum, als
„polnisches Rom“; die vielen Kirchtürme prägten das Stadtbild ebenso wie
die Universität und das Königsschloss.
Herausgefordert wurde das konservativ-katholische Lager von der Gruppe der
Liberalen, die zwar deutlich kleiner war als die der Konservativen, jedoch
zuerst mit der Tageszeitung Kraj (Das Land) (1871 – 1874) und später der
Tageszeitung Nowa Reforma (Neue Reform) (1882 – 1913) sowie der Satireschrift Djabeł (Teufel) das Meinungsklima in der Stadt beeinflussten.20 Auch
die Liberalen waren polnisch-national gesinnt, suchten jedoch stärker die
Unabhängigkeit vom Hause Habsburg und lehnten teilweise die hegemoniale
Stellung der römisch-katholischen Kirche ab.21
Krakaus Bedeutung als nationaler Symbolort verfestigte sich durch national
konnotierte Feierlichkeiten, die besonders in der Zeit der galizischen Autonomie in der Stadt zelebriert wurden.22 Unter ihnen nahmen Beisetzungen
einen besonderen Stellenwert ein.23 An diesen hoch emotional geprägten
18 Zu der sogenannten galizischen Autonomie siehe: Harald Binder, „Galizische Autonomie“. Ein streitbarer Begriff und seine Karriere, in: Luk{š Fasora u. a. (Hg.), Der
Mährische Ausgleich von 1905. Möglichkeiten und Grenzen für einen nationalen
Ausgleich in Mitteleuropa, Brno 2006, S. 239 – 265.
19 Zu Krakaus Geschichte allgemein: Janina Bieniarz€wna u. Jan Małecki, Dzieje Krakowa.
Krak€w w latach 1796 – 1918, Krakau 1979; Jacek Purchla, Krakau unter österreichischer Herrschaft 1846 – 1918. Faktoren seiner Entwicklung, Wien 1993.
20 Zu Kraj: Czesław Lechicki, Krakowski „Kraj“, Wroc3aw 1975.
21 Maciej Janowski, Polish Liberal Thought Before 1918, Budapest 2004.
22 Kozińska-Witt, Zeremonielle Landschaften.
23 In den beiden Krakauer Pantheons, auf dem Wawel und in der Krypta der Verdienten,
wurden in der Zeit der sogenannten Galizischen Autonomie folgende Personen
beigesetzt: 1869 erneute Beisetzung von Kasimir III. (1310 – 1370), 1880 erneute
Beisetzung des Historikers Jan Długosz (1415 – 1480), 1881 Überführung von Wincenty
Pol (1807 – 1872) und Lucjan Siemieński (1807 – 1877), 1887 Beisetzung von J€zef Ignacy
Kraszewski (1812 – 1887), 1890 Überführung und Beisetzung von Adam Mickiewicz
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Grabesunruhen
23
Ereignissen nahmen stets sehr viele Menschen aus Krakau, aber auch aus
anderen Teilen Polens teil. Die Feiern stellten einen Katalysator von Gemeinschaftsbildung dar und besaßen dabei einen performativen Charakter : Indem
sich die Menschen in der Trauer zu einem gemeinsamen Ritual versammelten,
stellten sie situativ eine Emotionsgemeinschaft sowie ein lokales, nationales
oder auch religiös definiertes Kollektiv dar. Obwohl die Beisetzungen im
lokalen Rahmen organisiert und begangen wurden – verantwortlich war der
Krakauer Stadtrat –, wirkten sie weit über die Stadtgrenzen hinaus. Durch die
kollektiv inszenierte Trauer sollten die Bewohner der ehemaligen rzeczpospolita dazu bewegt werden, sich mit Polen als Nation und ihrem Leidensschicksal
zu identifizieren.24 Dank ausführlicher Medienberichte wurden die großen
Beisetzungen auch außerhalb Krakaus beachtet.
Krakau verfügte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts über zwei
bedeutsame Begräbnisstätten: den Wawel und die Krypta der Verdienten.
Der Wawel-Hügel, auf dem das Königsschloss und die Krakauer Kathedrale
errichtet wurden, blickte im 19. Jahrhundert auf eine etwa tausendjährige
Bebauungs- und Siedlungsgeschichte zurück, die die national denkenden
polnischen Zeitgenossen in einem primordialen Nationsverständnis als
tausend Jahre polnische Nationalgeschichte deuteten.25 Zudem stand der
Wawel als ehemalige Herrscherresidenz für vergangene politische Macht und
Stärke; er erinnerte an die Herrscherdynastie der Piasten und damit an die
Generation von Königen, die erstmals ein polnisches Staatsgebilde errichtet
und ausgebaut hatten, sowie an die Geschichte der Jagiellonen, die zweite
Generation von Königen, unter deren Herrschaft Polen seine größte Ausdehnung – von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer – erlangt hatte und zu den
wichtigen und einflussreichen Mächten Europas aufgestiegen war. In der
Gegenwart des 19. Jahrhunderts symbolisierte der Wawel das, was Polen
einmal gewesen war, und was es in der Zukunft wieder darstellen sollte.
Versteht man unter Mythos eine Herkunftsgeschichte, die die Existenz und
Genese einer Gruppe erklärt und mit Sinn versieht, dann war der Wawel ein
mythischer Ort par excellence, der zugleich einen realen, fassbaren Ort
(1798 – 1855), 1897 Beisetzung von Adam Asnyk (1838 – 1902), 1903 Überführung und
Beisetzung von Henryk Siemiradzki (1843 – 1902), 1907 Beisetzung von Stanisław
Wyspiański (1869 – 1907).
24 Rzeczpospolita bedeutet wörtlich „Republik“ und ist eine häufige Bezeichnung für den
Unionsstaat Polen-Litauen, der von 1569 bis 1795 bestanden hatte; ebenfalls verbreitet
ist die Bezeichnung „Adelsrepublik“.
25 Ewa Miodońska-Brookes, Przestrzenie Wawelu. Z Problem€w Symboli Wawelskiej, in:
R€ża Godula (Hg.), Klejnoty i sekrety Krakowa, Krakau 1994, S. 93 – 113; Wojciech
Bałus, Wawel dziewie˛tnastowieczny. Poziomy interpretacji, in: Studia Waweliana
3. 1994, S. 11 – 18.
24
Kathrin Krogner-Kornalik
darstellte, der die Vergangenheit mit der Gegenwart verband.26 Entsprechend
ließ der in Krakau geborene Maler und Schriftsteller Stanisław Wyspiański in
seinem 1903 erstmals aufgeführten Bühnenstück „Wyzwolenie“ (Befreiung),
in welchem der Wawel zum Leben erwacht, einen der Protagonisten über den
Wawel sagen: „Hier ist alles Polen, jeder Stein und jeder Brocken, und der
Mensch, der hier eintritt, wird ein Teil Polens, ein Teil dieses Baus.“27
Hier jemanden neben den Königen beizusetzen, kam einer besonderen
Auszeichnung gleich, einer Überhöhung von Leben und Werk der geehrten
Person, denn mit einer Beisetzung auf dem Wawel wurde sie unwiderruflich
Teil des Ortes, seiner Geschichte und somit der Geschichte Polens. So sorgte
die Frage, wer auf dem Wawel beigesetzt werden sollte, nicht selten für
Kontroversen.
Im Jahr 1817 waren hier der 1813 in der Schlacht bei Leipzig gefallene Prinz
J€zef Poniatowski (1763 – 1813) und ein Jahr später der Aufstandsheld Tadeusz
Kościuszko (1746 – 1817) beigesetzt worden. Beide galten aus unterschiedlichen Gründen als Nationalhelden. Der eine war Neffe des letzten polnischen
Königs und hatte als Oberbefehlshaber in Napoleons Armee gedient, der
andere hatte in Krakau eine Volkserhebung gegen die Teilungsmächte
ausgerufen. Poniatowski und Kościuszko waren die ersten, die nach den
Teilungen Polens neben den Königen und Königinnen auf dem Wawel bestattet
wurden. Dies hatte zur Folge, dass sich der Charakter des Wawels als
Begräbnisstätte um ein aristokratisches und ein volkstümliches Element
erweiterte – der Wawel war damit als Grablege nicht mehr rein monarchisch
und kirchlich geprägt und konnte so als ein gesamtnationales Pantheon
begriffen werden.28 Zuvor war die Zulassung alleine von der monarchischen
Würde abhängig gewesen.
In den 1860er Jahren kam im Umkreis der liberalen Zeitung Kraj die Idee auf,
den 1855 in Istanbul gestorbenen und zunächst in Paris beigesetzten Dichter
Adam Mickiewicz (1798 – 1855) auf den Wawel zu überführen.29 Aus seiner
Feder stammte unter anderem das Nationalepos „Pan Tadeusz“, weswegen er
als ein „geistiger Anführer“ der Nation galt. Das machte ihn für die einen den
Monarchen in ihrer Würde ebenbürtig. Andere jedoch – darunter Krakaus
Konservative – wollten am Wawel weiterhin als einer exklusiven Grablege für
26 Yves Bizeul, Theorien der politischen Mythen und Rituale, in: ders. (Hg.), Politische
Mythen und Rituale in Deutschland, Frankreich und Polen, Berlin 2000, S. 15 – 39, hier
S. 18.
27 Stanisław Wyspiański, Wyzwolenie. Rzecz napisana w roku 1902 – dzieje sie˛ na scenie
teatru krakowskiego, http://www.biblioteka.vilo.bialystok.pl/lektury/Mloda_Polska/
Stanislaw_Wyspianski_Wyzwolenie.pdf, S. 44.
28 Paweł Kubicki, Miasto w sieci znaczeń. Krak€w i jego tożsamości, Krakau 2010, S. 89.
29 Ausführlich bei Dabrowski, Commemoration, S. 77 – 100.
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Grabesunruhen
25
die Monarchen festhalten.30 So war es unter anderem letzterem Gedanken
geschuldet, dass im Jahr 1881 mit der Krypta der Verdienten eine weitere
Nekropole geschaffen wurde.31 Hier sollten diejenigen ruhen, die sich in
besonderer Weise mit ihrem Leben und Werk verdient gemacht hatten, aber
keine Monarchen waren.
Mit der Krypta verband sich ein religiöses Narrativ, wodurch sich diese von
anderen ihrer Art in Europa unterschied. Das zeigte sich bereits in der Wahl
des Ortes: Das neue Pantheon wurde auf Initiative des Krakauer Archäologieprofessors J€zef Łepkowski als Krypta der Verdienten im Untergeschoss
einer Klosterkirche errichtet, St. Michael und St. Stanislaus, die als solche auch
weiterhin fungierte. In der besagten Krakauer Kirche, die wegen ihrer Lage auf
einem kleinen Felsen auch als Skałka (Felschen) bekannt ist, soll der polnische
Nationalheilige St. Stanislaus im 11. Jahrhundert den Märtyrertod erlitten
haben. Sein Mörder war niemand anderes als der polnische König Bolesław II.,
der sich mit dem Bischof überworfen hatte. Nach der Tötung des Bischofs
musste er in die Verbannung gehen, die polnischen Herrscher nach ihm
verloren die Königswürde. Der ermordete Bischof hingegen wurde im
13. Jahrhundert zur Ehre der Altäre erhoben, womit der Bann gebrochen
schien: Ende des Jahrhunderts wurde ein polnischer Herrscher erstmals
wieder zum König gekrönt, weshalb die Heiligsprechung von Stanislaus als
erfolgreiche Sühne für das vom König begangene Verbrechen galt. Mit
St. Michael und St. Stanislaus verband sich daher die Mahnung, der Kirche zu
gehorchen, an die sich die polnischen Könige erinnerten, wenn sie am Vortag
ihrer Krönung vom Wawel zu der Kirche pilgerten.32 Abschließend sei auf die
Inschrift „Credo quod redemptor meus vivit“ hingewiesen, eine leichte
Abwandelung des Ausspruch Hiobs: „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt“ (Hiob
19, 25). Mit diesem Text wurde ein Zitat aus der biblisch-christlichen Tradition
in lateinischer Sprache und keine nationale Losung in der Nationalsprache
gewählt. All dies verdeutlicht, dass es sich bei dem im 19. Jahrhundert
eingerichteten zweiten polnischen Pantheon um einen stark religiös geprägten
Ort handelte, anders als beispielsweise beim Pantheon in Paris, für das eine der
Stadtheiligen gewidmete Kirche endgültig profaniert wurde, oder beim
Pantheon in Prag, welches Teil eines Museums war.33
30 Franciszek Ziejka, Powstanie Krypty Zasłużonych na Skałce, in: ders. (Hg.), Nieœmiertelni. Krypta Zas3u¿onych Na Ska3ce, Krakau 2010, S. 91 – 115.
31 Zu der Krypta allgemein siehe: Michał Rożek, Wawel i Skałka. Panteony Polskie,
Wroc3aw 1995.
32 Bernadeta Wilk, Uroczystości patriotyczno-religijne w Krakowie w okresie autonomii
galicyjskiej 1860 – 1914, Krakau 2006, S. 128.
33 Ben-Amos Avener, Les Funƒrailles de Victor Hugo. Apothƒose de l’ƒvƒnement spectacle,
in: Pierre Nora (Hg.), Les lieux de mƒmoire, Bd. 1: La Rƒpublique, Paris 1984,
S. 473 – 522. Marek Nekula, Tschechische Pantheons im europäischen Kontext, in:
Jahrbuch für europäische Ethnologie 4. 2009, S. 29 – 52.
26
Kathrin Krogner-Kornalik
Beiden Krakauer Nekropolen war gemeinsam, dass katholische Würdenträger
die Schlüsselgewalt besaßen und damit ein wichtiges Mitspracherecht darüber,
wer dort beigesetzt wurde. Dass diese Tatsache Konfliktstoff bot, zeigte die
erste Beisetzung in der Krypta der Verdienten: die Beisetzung des Schriftstellers J€zef Ignacy Kraszewski im Jahr 1887.
II. Die Konflikte um die Beisetzung von Józef Ignacy
Kraszewski in Krakau
1. Kraszewski – der umstrittene Nationalheld
Heute vor allem noch bekannt, weil er eine verpflichtende Schullektüre
darstellt, war J€zef Ignacy Kraszewski während der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts einer der beliebtesten polnischen Schriftsteller, der sich mit
seinen über zweihundert verfassten Romanen in die Herzen einer großen
Leserschaft schrieb.34 Unter seinen Werken sind besonders die Historienromane hervorzuheben, ein Genre, welches Kraszewski entscheidend mitprägte.
Hier erzählte er auf Polnisch eine Geschichte Polens von der Ur- und
Frühgeschichte bis hinein in die Gegenwart, wodurch die Romane im Sinne
ihres Autors zu einem Medium der Nationsbildung wurden. Das hohe
Ansehen, das Kraszewski bereits zu Lebzeiten genoss, manifestierte sich unter
anderem in einer großen Feier anlässlich seines fünfzigjährigen Jubiläums als
Schriftsteller 1879 in Krakau. Die Idee zu der Feier hatten zuerst Warschauer
Schriftsteller gehabt und verschiedene polnische Städte hatten sie aufgenommen. Schnell herrschte Konsens darüber, dass Krakau der geeignete Ort für die
Feier war – zum Leidwesen einiger Krakauer Konservativer und Kleriker.
Nichtsdestotrotz war die Bilanz der Jubiläumsfeier, zu der Gäste aus allen drei
Teilungsgebieten angereist waren und Kraszewski als nationalen Schriftsteller
gefeiert hatten, am Ende positiv.35 Sie bildeten – so das Urteil der USamerikanischen Historikerin Patrice Dabrowski – den Auftakt zu einer neuen
Form der Nationsbildung: Nicht mehr Aufstände, sondern politische Feste
und kulturelle Institutionen und Ereignisse galten als Mittel, die Nation zu
formen.36
34 Stanisław Burkot, J€zef Ignacy Kraszewski (1812 – 1887), in: Franciszek Ziejka (Hg.),
Nieśmiertelni. Krypta Zasłużonych na Skałce, Krakau 2010, S. 185 – 202. Zur Biografie
Kraszewskis siehe Stanisław Burkot, J€zef Ignacy Kraszewski (1812 – 1887), in:
Franciszek Ziejka (Hg.), Nieśmiertelni. Krypta Zasłużonych na Skałce, Krakau 2010,
S. 185 – 202; Wincenty Danek, J€zef Ignacy Kraszewski. Zarys biograficzny, Warschau
1976; ders., Pisarz wcia˛ż żywy. Studia o życiu i tw€rczości J. I. Kraszewskiego, Warschau
1969.
35 Dabrowski, Commemoration, S. 25 – 48.
36 Ebd., S. 25.
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Grabesunruhen
27
Teile des ultramontanen Klerus hatten die Jubiläumsfeier 1879 und damit die
Ehrung Kraszewskis abgelehnt, da er aus ihrer Sicht ein problematisches
Vorbild darstellte. Grund dafür waren Kraszewskis publizistische Tätigkeiten,37 wobei in diesem Kontext vor allem eine von ihm in den Jahren 1870 / 1871
editierte und mit Artikeln aus seiner Feder bestückte Wochenschrift Tydzień
polityczny, naukowy, literacki i artystyczny (Politische, wissenschaftliche,
literarische und künstlerische Wochenzeitung) zu nennen ist. Dass diese
zeitgleich mit dem Vatikanischen Konzil erschien, ist kein Zufall: Kraszewski
war entschiedener Gegner des Unfehlbarkeitsdogmas und wollte mit seiner
Zeitung den Anti-Infalibillisten eine Stimme geben. Er exponierte sich damit
als Sprachrohr des romkritischen Lagers in der polnischen Diskussion.38 An
einer stark zentralisierten Kirche stieß er sich auch aus nationalen Gründen.
Denn die kirchliche Hierarchie räumte kirchlichen Belangen den Vorrang vor
nationalen Befindlichkeiten und Bestrebungen ein – eine Prioritätensetzung,
die Kraszewski nicht teilte. Er trat für einen spezifisch polnischen Katholizismus ein, worunter er sich eine nicht monarchisch, sondern föderal
organisierte Kirche vorstellte, die die Eigenständigkeit und autonomen Rechte
der nationalen Kirchen wahre.39
Diese Haltung Kraszewskis zu kirchlichen Fragen sollte seine Beerdigung stark
prägen und zu Konflikten führen, die schon anlässlich der Jubiläumsfeier 1879
virulent waren.40 Damit wurde seine Beisetzung in Krakau zu derjenigen Feier,
bei der am deutlichsten die unterschiedlichen Logiken der daran beteiligten
Akteursgruppen aufeinander trafen. Die Vorbereitungen, die Beisetzung selbst
sowie ihr Nachspiel sollten sich so zu einer Arena entwickeln, in der
Grundsatzfragen der polnischen Nationalbewegung diskutiert wurden. Eine
davon war das Verhältnis von Nation und Religion. Wie auch in anderen
Gegenden Europas verbanden sich hier im polnischen Diskurs theologische
mit politischen Fragen: Die polnischen ultramontanen Katholiken waren der
Überzeugung, dass die Verbindung zu Kirche und Papst Polen zum Vorteil
gereiche und deshalb eine Stärkung der päpstlichen Autorität vorteilhaft war.
Zum einen diente in ihren Augen die Kirche als Surrogat angesichts des
„Fehlens anderer kontinuitätsstiftender Institutionen“.41 Zum anderen stellte
der Papst als supranationale Autorität eine unabhängige Instanz dar, die eine
Sicherheit vor Russifizierungs- und Germanisierungstendenzen und so
37 Wincenty Danek, Publicystyka J€zefa Ignacego Kraszewskiego w latach 1859 – 1872,
Wrocław 1957.
38 Matusik, „Nadeszła Epoka Przejścia …“, S. 369.
39 Danek, Publicystyka, S. 78 – 83.
40 Dabrowski, Commemoration, S. 35.
41 Peter Kriedte, Katholizismus, Nationsbildung und verzögerte Säkularisierung in Polen,
in: Hartmut Lehmann (Hg.), Säkularisierung, Dechristianisierung, Rechristianisierung
im neuzeitlichen Europa. Bilanz und Perspektiven der Forschung, Göttingen 1997,
S. 249 – 274, hier S. 255.
28
Kathrin Krogner-Kornalik
gleichzeitig Schutz vor proorthodoxen Tendenzen wie vor säkularem westlichem Gedankengut bot. Denn auch wenn die katholische Kirche in den
polnischen Gebieten mehrheitlich ultramontan ausgerichtet zu sein schien,42
so fanden sich im zeitgenössischen Diskurs sowohl nationalkirchliche als auch
liberale Positionen, die es aus Sicht der Krakauer Ultramontanen zurückzudrängen galt.43
In der liberalen Argumentation war das Bild genau umgekehrt: Demnach war
der römische Papst ein großes Hindernis für die polnische Nationalbewegung.
Denn der Papst und mit ihm die Ultramontanen würden kirchlichen Belangen
den Vorrang vor nationalen Aspirationen geben.44 Zudem verlange die obere
kirchliche Hierarchie Gehorsam gegenüber den weltlichen Herrschern und
damit auch gegenüber den Teilungsmächten. Da J€zef Ignacy Kraszewski einer
der wichtigsten Vertreter dieser zweiten Losung gewesen war, brach im Zuge
seiner Beisetzung dieser Konflikt neu auf.
2. Der Streit um die Beisetzung
Als die Nachricht von Kraszewskis Tod am 19. März 1887 die Stadt erreichte,
fand sich rasch eine Mehrheit im Stadtrat, die für seine Beisetzung in der
Krypta der Verdienten votierte. Auch Stadtpräsident Feliks Szlachtowski,
obgleich eher der konservativen Fraktion zugehörig, setzte sich für die
Überführung des Schriftstellers nach Krakau ein.45 Eine solche Beisetzung
erschien nur folgerichtig, nachdem Kraszewski bereits zu Lebzeiten 1879 in
Krakau für sein schriftstellerisches Werk geehrt worden war.46 Schon damals
hatte sich gezeigt, dass er als Symbol der Nation wahrgenommen wurde.47 Mit
Kraszewski erhielt die abstrakte Vorstellung der Nation eine konkrete Gestalt,
mit der sich die Menschen ebenso identifizieren wie ihn sich zum Vorbild
nehmen konnten – was unter anderem dazu beitrug, dass sich die teilnehmenden Personen als Teil einer Gemeinschaft fühlten.48 Die emotionale
Bindung zu Kraszewski wurde als so stark empfunden, dass man nach seinem
42 Viktoria Pollmann, Ultramontanismus in Polen. Voraussetzungen – Erscheinungsformen – Auswirkungen, in: Gisela Fleckenstein (Hg.), Ultramontanismus. Tendenzen der
Forschung, Paderborn 2005, S. 159 – 178.
43 Diese Diskurse hat am Beispiel des Großherzogtums Posen Przemysław Matusik
untersucht: Matusik, „Nadeszła Epoka Przejścia …“. Ähnliche Arbeiten zu anderen
polnischen Gebieten stellen noch ein Desiderat dar.
44 Ebd., S. 221 u. S. 365 – 368.
45 Kronika miejscowa i zagraniczna, in: Czas, 23. 3. 1887, S. 2.
46 Pogrzeb J. I. Kraszewskiego, in: J€zefa Czecha Kalendarz Krakowski na rok 57. 1888,
S. 146 – 158.
47 Dabrowski, Commemoration, S. 27.
48 Vgl. Etienne FranÅois u. a., Die Nation. Vorstellungen, Inszenierungen, Emotionen, in:
dies. (Hg.), Nation und Emotion. Deutschland und Frankreich im Vergleich, Göttingen
1995, S. 13 – 35, hier S. 26.
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Grabesunruhen
29
Tod nicht einmal mehr gewillt war, das Votum der Familie abzuwarten, die
darüber zu entscheiden hatte, was mit dem Leichnam geschehen sollte.
Schließlich, so argumentierte beispielsweise die liberale Zeitung Nowa
Reforma, seien Millionen Polen die Familie des Verstorbenen, weswegen
nicht die leibliche Familie, sondern vielmehr die polnische Öffentlichkeit über
die Beerdigung entscheiden sollte.49
Nur eine Minderheit war gegen diese Pläne und brachte im Wesentlichen zwei
Gründe vor, die gegen eine Überführung Kraszewskis nach Krakau und eine
prachtvolle Beisetzung in der Krypta der Verdienten sprachen: Seine Positionen zu religiösen Fragen war ein Grund, der andere war diplomatischer Natur,
da Kraszewski als Häftling Preußens gestorben war. Kraszewski, der seit
mehreren Jahrzehnten im Exil in Dresden gelebt hatte, war von der preußischen Regierung beschuldigt worden, den französischen Geheimdienst mit
Informationen über das preußische Militär versorgt zu haben.50 Der 72-jährige
Schriftsteller wurde daraufhin zu einer Haftstrafe von dreieinhalb Jahren in
Magdeburg verurteilt, was in der polnischen Gesellschaft vielfach als Skandal
empfunden wurde.51 Wegen seines schlechten Gesundheitszustandes wurde
ihm ein Hafturlaub gewährt, den er für einen Kuraufenthalt in Italien nutzte.
Diesen Hafturlaub verlängerte er eigenmächtig und reiste weiter in die
Schweiz, wo er am 19. März 1887 starb.52
Für eine Mehrheit der Polen war damit das Ansehen Kraszewskis gestiegen, da
er in ihrer Sichtweise als Opfer bismarckischer Verfolgungen gestorben war.
Eine Ausnahme stellte der Krakauer Stadtrat Henryk Jordan (1842 – 1907) dar.
Als er sich bei einer Sitzung skeptisch hinsichtlich einer feierlichen Beisetzung
Kraszewskis äußerte, erfuhr er vielfach Kritik und persönliche Angriffe. Laut
der Berichterstattung des Kurjer Lwowski (Lemberger Courier) war die
abweichende Meinung Jordans Tagesthema in den Straßen Krakaus und die
Empörung groß. Dabei kursierten unterschiedliche Varianten dessen, was
Jordan genau gesagt haben soll. Der Korrespondent des Kurjer Lwowski
kommunizierte nach Rücksprache mit drei der fünfzehn Komiteemitglieder
folgenden Sachverhalt: In der Debatte habe sich Jordan dagegen ausgesprochen, dass die Beisetzung Kraszewskis auf Kosten der Stadt erfolge, da das
Lebenswerk des Verstorbenen durch den Prozess wegen Hochverrats „beschmutzt“ worden sei.53 Mit dieser Aussage hatte Jordan die vorherrschende
Kraszewski-Narration in Frage gestellt, die in dem Schriftsteller einen „großen
Mann“ und eine Inkarnation der Nation sah, der als solcher über moralische
Zweifel erhaben sei. Zudem hatte Jordan impliziert, dass auch ein Verrat am
49 Śmierć J. I. Kraszewski, in: Nowa Reforma, 25. 3. 1887, S. 2.
50 Hugo Friedlaender, Interessante Kriminalprozesse von kulturhistorischer Bedeutung,
Bd. 7, Berlin 1920, S. 5 – 62.
51 Danek, Kraszewski, S. 366 – 399.
52 Ebd., S. 405 – 440.
53 Listy z kraju, in: Kurjer Lwowski, 27. 3. 1887, S. 3 f.
30
Kathrin Krogner-Kornalik
preußischen Staat juristisch und moralisch verwerflich sei, und damit
ausgedrückt, dass auch die Teilungsmächte legitime Obrigkeiten seien,
denen die Untertanen – und damit auch die Polen – Loyalität schuldeten.
Diese Aussage erschien in der liberalen Wahrnehmung als pietätlose Ehrverletzung und als illoyal,54 und Jordan als Gefolgsmann Bismarcks und
nationaler Verräter.55 Der Stadtrat hatte einen weit verbreiteten Konsens
verletzt, der ihm, wenn nicht den symbolischen Ausschluss aus der Gemeinschaft polnischer Patrioten, so doch zumindest scharfe Sanktionen einbrachte.
Die Warschauer Prawda (Wahrheit) stellte Jordan in einem Artikel vor ein
Tribunal, bei dem der Geist des Verstorbenen erschien, der als „Majestät“
tituliert wurde und gleichsam als Richter fungierte, während die Zuschauer als
Ankläger auftraten:
Wiederhol hier – riefen sie – deine Beleidigung im Angesicht seiner Majestät, sag, dass er
nichts anderes war als ein französischer Agent und preußischer Gefangener, dass er uns
geistig nicht bereichert hat, sondern nur verleumdet, dass er kein Meister war […]. Nun sag
diese Worte öffentlich, die du hinter verschlossenen Türen des Rates so kühn geäußert hast.56
Zugleich sprach die Warschauer Zeitung Jordan ab, für das Komitee geeignet
zu sein, welches die Beisetzung vorbereitete, und stellte Krakaus Eignung als
bevorzugter Begräbnisort für verdiente Polen in Frage:
Bittet sofort den Krakauer Bürgermeister, dass er in Zukunft, falls erneut ein herausragender
Pole stirbt und die Landsmänner seinen Leichnam nach Smorgonia, genannt das ,polnische
Athen‘, überführen wollen, in das Beerdigungskomitee nicht Leute wählt, die bloß in das
geehrte Grab spucken können. Sie eignen sich zu anderen Zwecken.57
Den richterlichen Spruch des Verstorbenen über die Lebenden imaginierte die
Krakauer Satireschrift Djabeł, die eine Karikatur zeichnete, bei der ebenfalls
der Geist des Verstorbenen erschien und sein Urteil sprach: „Für die
ungelogene Liebe der Herzen möge Gott dich segnen, meine herzensgute
Nation – und denen vergeben, die mich zu Unrecht nach dem Tod angreifen.
Das ist eine Tat, vor der sich sogar wilde Völker ekeln.“58
Doch Jordan war nicht der einzige, der Vorbehalte gegenüber einer feierlichen
Beisetzung Kraszewskis hatte. Der zweite Grund, der Beisetzung Kraszewskis
gegenüber verhalten zu sein, entsprang einer kirchlichen Logik. Kraszewski in
der Krypta der Verdienten beizusetzen, entbehrte nicht einer gewissen Ironie.
Erstens hatte sich dieser selbst zu Lebzeiten skeptisch hinsichtlich der
54 Nowa Reforma, 17. 4. 1887, S. 1.
55 Kronika miejscowa i zagraniczna, in: Djabeł, 5. 4. 1887, S. 2; Uwagi śledziennika, in:
ebd., S. 6.
56 W. P., Liberum veto, in: Prawda, 16. 4. 1887, S. 189 f. Alle Übersetzungen der polnischen
Originalquellen in diesem Text stammen von der Autorin.
57 Ebd.
58 I przeszłość i przyszłość, in: Djabeł, 19. 4. 1887, S. 4.
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31
Einrichtung einer solchen Krypta geäußert. Für ihn war sie nur eine Ausrede,
um polnische Geistesgrößen nicht auf dem Wawel neben den Monarchen
bestatten zu müssen.59 Zweitens symbolisierte die Kirche aufgrund der
Hagiografie des Bischofs Stanislaus den vermeintlichen Vorrang der geistlichen vor der weltlichen Macht und damit der geistlichen vor der weltlichen
Sphäre. Die erste große Beisetzung in der Krypta drohte nun die symbolische
Bedeutung des Ortes zu unterlaufen, wenn mit Kraszewski dort ein prominenter Vertreter einer anderen Losung bestattet werden würde.
Für die Kirchenhierarchie stellte sich außerdem ein kirchenrechtliches
Problem: Wer als Katholik hartnäckig ein von der Kirche vorgelegtes Dogma
ablehnte, galt als Häretiker – mit Konsequenzen, die auch heute noch den
Ausschluss von einem christlichen Begräbnis nach sich ziehen können.60 Doch
anders als heute wurde im 19. Jahrhundert auch Personen ein christliches
Begräbnis verweigert, die einen Häretiker begünstigt hatten.61 Mit seinen
Positionen zu Kirchenfragen war Kraszewski aus Sicht der Ultramontanen der
Häresie oder zumindest der Nähe zu Häresie verdächtig geworden. Insofern
war eine große Begräbnisfeier inklusive Beisetzung in einer Kirche für die
Kirchenhierarchie ausgeschlossen. Zugleich wussten ihre Vertreter jedoch,
dass diese Logik auf wenig Verständnis in der polnischsprachigen Öffentlichkeit stoßen würde. Wie die Ächtung Jordans verdeutlichte, galt Kraszewski
vielen als moralisch unantastbar, was eine kirchliche posthume Strafe als
Unrecht hätte erscheinen lassen.
Unproblematisch wäre die Beisetzung jedoch dann gewesen, wenn Kraszewski
sich selbst auf seinem Sterbebett von seinen früheren Standpunkten distanziert hätte. Knapp eine Woche nach seinem Tod erschien in den polnischsprachigen Zeitungen die Meldung, dass der Schriftsteller mit den letzten
Sakramenten versehen gestorben sei.62 Für die ultramontanen Katholiken
implizierte dies, dass er sich von seinen früheren Positionen distanziert hatte.
Damit konnte auch Krakaus Oberhirte sein Einverständnis für die Beisetzung
erteilen. Allerdings blieb ein Restzweifel bestehen: Ein Augenzeuge von
Kraszewskis Sterben, der Schriftsteller Zygmunt Miłkowski, veröffentlichte
kurze Zeit später unter dem Pseudonym Teodor Tomasz Jeż in der Gazeta
Warszawska eine ausführliche Darstellung von Kraszewskis letzten Stunden.
Dieser erwähnte weder den Empfang der Sterbesakramente noch verneinte er
diesen explizit.63 Das ließ eine in Warschau erscheinende katholische Zeitung
stutzig werden, die hinter dieser Auslassung vermutete, dass Kraszewski ohne
priesterlichen Beistand gestorben war. Zugleich wollte sie darin nicht eine
59
60
61
62
63
Władysław Mickiewicz, Pamie˛tniki, Bd. 1, Warschau 1926, S. 270.
Canon 1184 des Codex des Kanonischen Rechts von 1983.
Joseph Hollweck, Die Kirchlichen Strafgesetze, Mainz 1899, S. 152 f.
Kronika miejscowa i zagraniczna, in: Czas, 24. 3. 1887, S. 2.
Teodor Tomasz Jeż, Ostatnie chwile Kraszewskiego, in: Gazeta Warszawska, 26. 3. 1887,
S. 1 f.
32
Kathrin Krogner-Kornalik
religiöse Devianz oder Indifferenz des Verstorbenen sehen, sondern ein
Versäumnis seiner Mitmenschen.64 Trotz einiger Bedenken lenkte somit auch
die Kirche ein und schloss sich der Mehrheitsposition an, die Kraszewski
aufgrund seiner Verdienste für die polnische Nation ehrenvoll bestatten und in
der Krypta der Verdienten verewigen wollte.
3. Die Feierlichkeiten
Die Auseinandersetzungen um Kraszewskis Katholizität, sein geistiges Erbe
und die Ausrichtung der Feierlichkeiten sollten noch die Beisetzung selbst
prägen. Anfang April erreichte der Leichnam die Stadt, am 19. April fand
schließlich die Beisetzung statt.65 Hierzu versammelten sich etwa 30.000 bis
50.000 Besucher, die teilweise aus Krakau kamen, teilweise aus den anderen
ehemals polnischen Gebieten angereist waren. Die Stadt trug schwarz: Die
Lampen waren schwarz verhangen, die Gebäude schwarz beflaggt.66 Wer die
wichtigen symbolischen Schauplätze der Beisetzung betreten wollte, hatte
zuvor für eine Karte anstehen müssen. Viele hatten sich die Mühe jedoch
vergeblich gemacht, weil die Nachfrage das Angebot weit übertroffen hatte. So
standen in der Marienkirche sechshundert Plätze zur Verfügung, um die sich
8.000 Interessierte beworben hatten. Karten benötigte man außerdem für den
Eintritt zu der Kirche St. Michael und St. Stanislaus, wo Kraszewski seine letzte
Ruhestätte finden sollte, und zu den Tuchhallen, von deren Dachterrassen man
einen guten Blick auf den Trauerzug hatte.67 Diesen Beobachterplatz nahmen
zumeist Frauen ein, die zwar zum großen Teil das Lesepublikum Kraszewskis
darstellten, jedoch nicht als nationale Akteurinnen in Erscheinung traten.
Vielmehr repräsentierten die Frauen die Trauer, während die Männer die
Nation vertraten, was sich auch in der Kleidung zeigte: Die Frauen trugen
Trauerkleidung, viele der Männer Nationalkleidung.68
Im Trauerzug präsentierte sich eine in der Trauer um einen nationalen
Schriftsteller geeinte, stände- und schichtenübergreifende Nation: Bauern
trugen Kränze, Krakauer Zünfte und akademische Vereinigungen aus verschiedenen polnischen Städten waren ebenso vertreten wie polnische Jugendvereinigungen aus Wien, Prag und München, diverse Lesevereine, Künstlervereinigungen, Berufsvereinigungen, Vereine und Verbände. Gekommen
waren auch die jüdische Handelsjugend sowie Warschauer und Krakauer
64 Notatki z prassy perjodycznej. Świadectwo Jeża o śmierci Kraszewskiego, in: Przegla˛d
Katolicki, 14. 4. 1887, S. 234 f.
65 Pogrzeb J. I. Kraszewskiego, in: Czas, 19. 4. 1887, S. 1 f.
66 Pogrzeb Ś. p. J. I. Kraszewskiego, in: Nowa Reforma, 19. 4. 1887, S. 2 f.; Telegramme, in:
Neue Freie Presse, 19. 4. 1887, S. 7.
67 Kronika miejscowa, in: Kurjer Krakowski, 16. 4. 1887, S. 2.; Z. Fg., Pogrzeb J. I.
Kraszewskiego, in: Gazeta Narodowa, 19. 4. 1887, S. 1 – 3.
68 Z. Fg., Pogrzeb J. I. Kraszewskiego, S. 2.
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33
Juden.69 Auch katholische Geistliche gaben dem verstorbenen Schriftsteller die
letzte Ehre: So fanden sich im Trauerzug Welt- und Ordensgeistliche, jedoch
keiner der Bischöfe. Zudem fehlten geschlossen die Jesuiten,70 sodass damit
Vertreter einer ultramontan gesinnten Geistlichkeit weitestgehend abwesend
waren.
Die österreichischen Behörden hatten der Beisetzung zwar zugestimmt,
verbaten mit Rücksicht auf den preußischen Bündnispartner aber allen
kaiserlich-königlichen Institutionen als solche bei der Trauerfeier aufzutreten.71 Nicht gekommen zu der Feier waren die höchsten Repräsentanten des
Kronlandes Galizien und Lodomerien, namentlich Landesmarschall Graf Jan
Tarnowski, Bruder des ebenfalls abwesenden Universitätsrektors Stanisław
Tarnowski, und Statthalter Filip Zaleski. Abwesend waren auch viele der
namhaften Krakauer Aristokraten, die Kraszewski seine Angriffe auf die
galizische Aristokratie offenbar nicht nachsahen oder den zu erwartenden
politischen Manifestationscharakter der Beisetzung scheuten.72 Wegen ihrer
Abwesenheit mussten sie sich anschließend dem Vorwurf des fehlenden
Patriotismus und mangelnder Identifizierung mit dem Polentum aussetzen.73
Die feierliche Beisetzung wurde in dieser Lesart als eine Praxis begriffen, deren
Teilhabe über die Zugehörigkeit zur Nation entschied.
Aus katholischer Sicht sollte eine Trauerfeier hingegen vor allem eine
gottesdienstliche Handlung und keine nationale Festivität sein. Bischof
Albin Dunajewski (1817 – 1894), der die Trauermesse zelebrierte, begann
diese mit einem Vorbehalt: Er feiere die Messe aufgrund der Annahme, dass
Kraszewski versehen mit den letzten Sakramenten verstorben sei. Wörtlich
sagte er :
Als katholischer Bischof erachte ich es als meine heilige Pflicht, meiner gläubigen Diözese zu
erklären, dass ich nur in der Überzeugung, dem Wahrheitsgehalt des Berichts vertrauen zu
können, wonach J€zef Kraszewski seligen Andenkens versehen mit den letzten Sakramenten,
versöhnt mit Gott und in Einheit mit der Kirche gestorben ist, für den Frieden seiner Seele
das heiligste Messopfer darbringen kann.74
Gleichzeitig versicherte der Bischof, dass Kraszewski ungeachtet seines
Ruhmes und des allgemeinen Erwartungsdrucks der Öffentlichkeit die
69
70
71
72
Ebd.
Pogrzeb Ś. p. Kraszewskiego, in: Nowa Reforma, 19. 4. 1887, S. 2.
Danek, Pisarz wcia˛ż żywy, S. 107.
Da ihre Anwesenheit in den Darstellungen der Beisetzung nicht erwähnt wird, ist davon
auszugehen, dass sie nicht anwesend waren.
73 In der Satirezeitung Djabeł fand sich dazu unter der Rubrik „Belauscht“ folgende
Bemerkung: „Warum hat die Aristokratie nicht an der Beisetzung Kraszewskis
teilgenommen? – Weil er nicht auf Französisch schrieb und dies die einzige Sprache
ist, die sie benutzt und schätzt.“ Posłuchane, in: Djabeł, 4. 5. 1887, S. 2.
74 Kronika miejscowa i zagraniczna, in: Czas, 20. 4. 1887, S. 2.
34
Kathrin Krogner-Kornalik
Beerdigung verweigert worden wäre, wäre er ohne die letzten Sakramente
gestorben.75 Mit diesem Vorbehalt wollte der Bischof erstens deutlich machen,
dass gottesdienstliche Handlungen der Theologie und nicht politischen
Anliegen verpflichtet seien, und sich zweitens gegenüber kritischen Anfragen
– eventuell auch aus Rom – absichern. Dafür nahm Dunajewski Kritik in Kauf:
„Ungeheuerlich und unerhört“ sei der Vorbehalt gewesen, hieß es in der
liberalen Krakauer Presse.76 Die konservative Presse Krakaus hingegen
argumentierte, dass dieser Vorbehalt nicht gegen die Person des Verstorbenen
gerichtet gewesen sei, sondern gegen die „schädlichen Einflüsse“ in dessen
Umgebung, was ein sehr beliebtes Erklärungsmuster der ultramontanen
Katholiken war, um Kraszewskis Kirchenkritik zu neutralisieren.77 Ihm wegen
seiner Haltungen dagegen das kirchliche Begräbnis abzusprechen, wäre kaum
möglich gewesen: Angesichts der großen Beliebtheit des Schriftstellers hätte
die katholische Kirche riskiert, dass eine große weltliche Trauerfeier für
Kraszewski zustande gekommen wäre, was einer symbolischen Spaltung
gleichgekommen wäre. Da sich Kraszewski nicht erfolgreich exkludieren ließ,
musste er also inkludiert werden.
Wie der Versuch einer solchen Inklusion aussehen konnte, verdeutlicht die
Predigt des Kirchenrechtsprofessors Władysław Chotkowski (1843 – 1926), der
als Prediger ebenso bekannt wie gefragt war und die vielleicht wichtigste Rede
an dem Tag hielt. In der Predigt, die Chotkowski in der bis auf den letzten Platz
besetzten altehrwürdigen Marienkirche am Krakauer Hauptplatz hielt, spiegelte sich die ambivalente Haltung des hohen Klerus wider, der zwar der
Beisetzung Kraszewskis in einer Kirche skeptisch gegenüberstand, zugleich
aber angesichts seiner großen Popularität nicht hinter den allgemeinen
Erwartungen zurückbleiben wollte. In dieser Predigt referierte er nicht, wie in
Trauerreden üblich, Leben und Verdienste des Verstorbenen, sondern ließ
vielmehr die Kirche als Hauptdarstellerin und Kraszewski als Nebendarsteller
erscheinen. Eingangs hob Chotkowski mehrfach die Barmherzigkeit der
Kirche gegenüber dem Verstorbenen hervor, der laut dem Prediger in einigen
seiner Schriften als der Kirche „abtrünnig“ erschienen war. Dennoch erweise
sich die Kirche
ihm heute auch als eine liebende Mutter, die, weil sie in ihm einen um das Vaterland
verdienten Sohn sieht, mit ihm umgeht wie ein Gärtner, der […] die harten und schlechten
Früchte abschlägt, und die edleren und reifen von eigener Hand erntet. Und deswegen hat
nur ein Gedanke den Bischof, den örtlichen Ordinarius, den ehrwürdigen geistigen Senat
75 Marjan Morawski, Dwa pogrzeby, in: Przegla˛d Powszechny 4. 1887, Beilage zu Nr. 42,
S. I – X, hier S. VI.
76 Echa z pogrzebu Ś. p. J. I. Kraszewskiego, in: Nowa Reforma, 22. 4. 1887, S. 3.
77 Czas, 29. 4. 1887, S. 1.
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Grabesunruhen
35
und die zahlreichen Vertreter der Geistlichkeit hergebracht, nämlich zu zeigen, dass in der
Kirche so wie bei Gott die Barmherzigkeit größer ist als das Gericht.78
Chotkowski nutzte die Aufmerksamkeit der zahlreich erschienenen Trauergäste, um die zentrale Stellung der katholischen Kirche im nationalen Leben zu
betonen.79 Dass diese Ansicht nicht von allen geteilt wurde, sollte sich später in
den Trauerreden zeigen.
Um zwölf Uhr verließ der Trauerzug die Kirche. Der Sarg mit dem Leichnam
Kraszewskis, der während des Requiems auf einem prachtvollen Katafalk
gethront hatte, wurde auf einen mit Blumen und Kränzen geschmückten und
von sechs Pferden gezogenen Leichenwagen gehoben. Der Trauerzug führte
nun von der Marienkirche vorbei am Wawel die von Menschenmassen
gefüllten Straßen entlang zu der in der Nähe der Weichsel gelegenen Kirche
St. Michael und St. Stanislaus.80 Die von überall läutenden Kirchenglocken
waren feierlich und erinnerten zugleich daran, dass es sich bei der Beisetzung
um ein kirchliches Ereignis handelte. Zwar war auch der nationale Charakter
der Beisetzung nicht zu übersehen, doch provokante politische Symbole und
Handlungen waren durch die Behörden erfolgreich unterdrückt worden. So
hatte ein Polizeikommisar am Morgen den Bürgermeister von Stanislau
(Stanisław€w, heute das ukrainische Iwano-Frankiwsk) erwartet und dessen
Kranz mit der Inschrift „dem Staatsgefangenen“ beschlagnahmt. Den Kranz
erhielt der Bürgermeister später zurück, allerdings war die Inschrift abgeschnitten worden.81
An der Kirche angekommen, folgten vor der Grablegung noch einige Reden
von Vertretern aus Politik und Kultur, in denen der Verstorbene als Held und
Vorbild im Vordergrund stand. In den Reden der beiden Stadtpräsidenten von
Krakau und Lemberg – Feliks Szlachtowski und Gustaw Roczkowski – zeigte
sich am deutlichsten die Vorstellung von Kraszewski als „großer Mann“,
verstanden als jemand, der sich für die Nation aufopferte, sich mit ihr
identifizierte, sie moralisch wie kulturell anleitete und Bildung gleichermaßen
in Hütten wie Paläste gebracht hatte. Oder wie es Roczkowski ausdrückte:
Es mag Menschen geben, die einen größeren Genius besitzen als er, wir werden sie mehr
loben, doch lieben und ehren wie Kraszewski werden wir sie nur dann, wenn sie – so wie er –
die gesamte Quelle ihres Geistes, all ihre Ideale und all ihre Arbeit für das Glück der Nation
aufopfern.82
78 Władysław Chotkowski, Mowa powiedzana przy zwłokach Ś. p. J€zefa Ignacego
Kraszewskiego, in: Czas, 21. 4. 1887, S. 1 f.
79 Ebd. und in: Czas, 20. 4. 1887, S. 1 f.
80 Pogrzeb J. I. Kraszewskiego, in: Czas, 19. 4. 1887, S. 1 f.; Pogrzeb Ś. p. J. I. Kraszewskiego,
in: Nowa Reforma, 18. 4. 1887, S. 2 f.
81 Z. Fg., Pogrzeb J. I. Kraszewskiego, S. 1 f.
82 Zit. u. a. in: Pogrzeb J. I. Kraszewskiego, in: Czas, 19. 4. 1887, S. 1 f.
36
Kathrin Krogner-Kornalik
Anschließend sprach der Warschauer Schriftsteller Antoni Pietkiewicz alias
Adam Pług, der seinerzeit die Idee für das Kraszewski-Jubiläum gehabt hatte,
für die Stadt Warschau und spielte auf die Auseinandersetzungen im Vorfeld
von Kraszewskis Beisetzung an.83 Als letzter ergriff ein Vertreter der Studenten
– Władysław Leopold Jaworski (1865 – 1930) – das Wort, ein liberaldemokratisch gesinnter Jurastudent, der sich in späteren Jahren den konservativen
Kreisen anschließen sollte.84 In seiner Rede betonte er den Vorrang des
Patriotismus vor anderen Bezugssystemen: Er sei der größte Wert der Jugend
und ihre drei Götter die Liebe zum Vaterland, die Arbeit und die Begeisterung.85 Damit vertrat er genau die Prioritätensetzung, gegen die sich der
Kirchenrechtsprofessor Chotkowski in seiner Predigt gewandt hatte.
Mit der Grablegung Kraszewskis und einem Regenguss, der passenderweise
gegen Ende der Trauerfeier niederging, „als wolle auch der Himmel den Verlust
Kraszewskis beweinen“, endete die Trauerfeier, die im Vorfeld so viele
Kontroversen verursacht hatte.86 Die Beisetzung hatte auch Auswirkungen auf
die symbolische Topografie der Stadt: Die wenige Jahre zuvor eingerichtete
Krypta der Verdienten bekam mit der Beisetzung Kraszewskis eine überregionale, gesamtpolnische Bedeutung, was ihren Charakter als zweites wichtiges nationales Pantheon neben dem Wawel bekräftigte.
Ob nationale Verdienste oder Rechtgläubigkeit im Sinne der katholischen
Lehrmeinung im Zweifelsfall eine größere Bedeutung haben sollten, war
zumindest im Falle Kraszewski zugunsten der nationalen Verdienste entschieden worden. Die Leitung der Krakauer Diözese hatte der Beisetzung zugestimmt, um nicht viele Polen und damit auch einen großen Teil des
Kirchenvolkes gegen sich aufzubringen. Gerechtfertigt hatte sie diese Entscheidung vor sich selbst, der versammelten Trauergemeinde und vielleicht
auch präventiv vor eventuellen kritischen Anfragen aus Rom damit, dass
Kraszewski schließlich versehen mit den letzten Sakramenten und damit – so
schloss man – seine etwaigen Verfehlungen gegenüber der Kirche im Angesicht
des Todes bereut hätte. Umso unangenehmer war es für sie, als Teodor Tomasz
Jeż nun nach der Trauerfeier in einem Artikel in einer Warschauer Zeitung
explizit verkündete, Kraszewski habe die letzten Sakramente weder empfangen noch empfangen wollen.87 Die düpierte katholische Kirche reagierte auf
83 Zit. u. a. in: ebd., und Nowa Reforma, 18. 4. 1887, S. 2 f.
84 In späteren Jahren wurde er Professor der Jagiellonenuniversität, außerdem Abgeordneter des Sejms (ab 1901) und des Reichsrats (ab 1911). Zu seiner Biografie siehe: J€zef
Buszko, Art. Jaworski, Władysław, in: Instytut Historii (Hg.), Polski Słownik Biograficzny, Bd. 11, Wrocław 1964 – 1965, S. 115 – 118.
85 Vgl. Pogrzeb J. I. Kraszewskiego, in: Czas, 19. 4. 1887, 1 f.; Pogrzeb Ś. p. J. I. Kraszewskiego, in: Nowa Reforma, 18. 4. 1887, S. 2 f.
86 Z. Fg., Pogrzeb J. I. Kraszewskiego, S. 2.
87 Teodor Tomasz Jeż, O Kraszewskim i o tych, w kt€rych oczach umarł, in: Prawda.
Tygodnik politiczny, społeczny i literacki, 23. 4. 1887, S. 199 f.
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Grabesunruhen
37
diese Nachricht, indem sie die Ursache für dieses Versäumnis nicht in der
Einstellung Kraszewskis, sondern in dem Einfluss der Menschen, die ihn in
seinen letzten Tagen begleitet hatten, suchte.88 Mit dieser Enthüllung blieb das
Andenken an Kraszewski noch nach seiner Beisetzung umstritten und damit
auch die Frage nach der Deutungshoheit darüber, wie Kraszewskis geistliches
Vermächtnis auszulegen war.
III. Fazit
Sowohl für die Genese als auch für die Verfestigung und Etablierung
gegenweltlicher Vorstellungen spielen Praktiken und Rituale in doppelter
Hinsicht eine bedeutsame Rolle. Erstens sind Praktiken nötig, um abweichende Vorstellungen von der Welt zu perpetuieren, zweitens können neue
Vorstellungen von der Welt althergebrachte Rituale neu kodieren oder neue
generieren. Das gilt auch für den politischen Totenkult, der in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts zu den Praktiken zählte, die ein polnisches
Nationalbewusstsein trotz fehlender territorialer Integrität förderten und
damit eine Gegenwelt zur Realität der Teilungen Polens schufen. Dabei
oszillierte er zwischen unterschiedlichen Logiken und Ausprägungen: einerseits ein katholisches Ritual, andererseits eine politische Manifestation,
einerseits provokativ, andererseits loyal gegenüber den Teilungsmächten.
Gleichzeitig besaßen die Beisetzungen insofern einen konservativen Charakter, als sie bestehende Machtverhältnisse festigten. In diesem Sinne war auch
Krakaus neue Krypta der Verdienten errichtet worden. Als Grablege für
verdiente Personen fügte sie die Biografien dieser Personen und die Beisetzungsfeiern in volksfromme, katholische und aristokratische Narrationen
Krakaus ein. Diese Erzählungen wurden jedoch mit einer der ersten Beisetzungen an diesem Ort unmittelbar herausgefordert, als der Schriftsteller J€zef
Ignacy Kraszewski dort begraben wurde. Er hatte sich zu Lebzeiten gegen die
in den polnischen Gebieten vorherrschende ultramontane Ausrichtung der
katholischen Kirche gewandt. Entsprechende Aushandlungsprozesse begleiteten die Vorbereitungen seiner Überführung und Beisetzung in Krakau sowie
die Veranstaltung selbst, bei der kirchliche und säkulare Logiken nebeneinander standen. Während der Trauerprediger Chotkowski und der Krakauer
Oberhirte Dunajewski den religiösen Sinn der Feier hervorhoben, überwog
ansonsten der nationale Pathos.
Dass Kraszewski mit einem besonderen Begräbnis geehrt wurde, hatte vor
allem damit zu tun, dass er als Exponent einer nationalen Gegenwelt gesehen
wurde und als solcher beliebt war. Erstens war er als Autor historischer
Romane bei seinen Zeitgenossen sehr geschätzt, zweitens eignete er sich
88 Notatki z prassy perjodycznej. W jak niefortunnem otoczeniu Kraszewski umierał, in:
Przegla˛d Katolicki, 5. 5. 1887, S. 278 – 282.
38
Kathrin Krogner-Kornalik
aufgrund seiner Biografie und der Anklage durch den preußischen Staat, um
ihn zu einer Inkarnation der Nation zu stilisieren. Daran fügt sich drittens an,
dass man mit einer prachtvollen Beerdigung postmortale Gerechtigkeit für die
Ungerechtigkeiten, die Kraszewski – und damit assoziiert Polen – durch die
Teilungsmächte erlitten habe, herstellen wollte. Kraszewski wurde so zur
Integrationsfigur der nationalen polnischen Gegenwelt, was ihm zugleich
einen unantastbaren Nimbus verlieh. Wer diesen in Frage stellte, wie etwa der
Stadtrat Henryk Jordan, der aufgrund der Anklage Kraszewskis wegen
Hochverrats eine große Trauerfeier ablehnte, musste mit entsprechenden
Sanktionen seiner Umwelt rechnen, die ihn diskursiv aus der nationalen
Gemeinschaft und damit aus der nationalen Gegenwelt ausschloss.
Diese nationale Gegenwelt beschränkte sich nicht auf die übereinstimmende
Thematisierung „großer Polen“. Sie war keine in inhaltlicher Hinsicht
kohärent konzipierte Alternative, sondern eher ein Kompromiss zwischen
vielen verschiedenen Vorstellungen über die polnische Nation. Sie ergab sich
aufgrund konfliktreicher Auseinandersetzungen, die aus unterschiedlichen
politischen Interessen resultierten, aber letztlich in einem „nationalen“
Grundkonsens mündeten. Dieser beruhte wiederum auf unterschiedlichen
Vorstellungen. So betrachtete die Kirchenhierarchie das Andenken an den
Romancier Kraszewski mit gemischten Gefühlen, weswegen sie sich entsprechend reserviert zeigte. Einerseits beteiligte sie sich an der Beisetzungsfeier
und ermöglichte diese dadurch erst, andererseits schreckte sie vor Ehrerweisungen gegenüber dem Verstorbenen zurück. Die Auseinandersetzungen
zeigen, dass auch in der katholisch geprägten polnischen Gesellschaft heftige
Auseinandersetzungen zwischen Ultramontanen und Liberalen vorkamen.
Gleichzeitig demonstriert das Beispiel, dass nichtsdestotrotz die liberalen
Kräfte auf die Unterstützung der Kirchenhierarchie für ihre der Nationsbildung verpflichteten Feiern angewiesen waren – im Unterschied zu den
nationalen Trauerfeiern in anderen europäischen Ländern und Städten. Jedoch
war die kirchliche Stellung nicht stark genug, um sich gänzlich der Ehrung für
einen beliebten Schriftsteller, der sich gleichzeitig als Kirchenkritiker exponiert hatte, entziehen zu können, obwohl die Ehrung Kraszewskis der
katholischen Logik widersprach. Als Ausweg aus dem Dilemma beschloss die
Kirchenhierarchie, sich zwar zu beteiligen, versuchte aber zugleich, die
Trauerfeier in ihre Denkschemata einzufügen, sodass bei der Beisetzung die
nationale und die kirchliche Logik nebeneinander standen. Auch wenn bei der
Beisetzung Kraszewskis stark um die Ausrichtung der Feier und damit
stellvertretend um politische, kulturelle und gesellschaftliche Belange gestritten wurde, so rangen doch Angehörige einer sozialen Welt miteinander, die
trotz aller Divergenzen mehr miteinander verband als trennte – nämlich der
gemeinsame Bezug zu Polen als Nation, die in der Zukunft wieder konkrete
Gestalt annehmen sollte. Zugleich macht das Beispiel deutlich, dass beide
Akteursgruppen aufeinander angewiesen waren. Die katholische Kirche wollte
keine symbolische Spaltung des Landes riskieren, die Demokraten die
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Grabesunruhen
39
katholische Kirche als Kulturvermittlerin behalten. Beide Lager lassen sich
demnach weniger als Opponenten denn als verschiedene Segmente einer
gemeinsamen Gegenwelt verstehen. Beisetzungen wie die von Kraszewski
waren Arenen, innerhalb derer durchaus grundsätzliche Fragen diskutiert
wurden, es aber zu keinem Bruch kam. So erwiesen sich gerade diese
Auseinandersetzungen als Praktiken, die die gemeinsame Gegenwelt stabilisierten, indem sie in einen Konsens mündeten. Für die bestehenden katholisch
geprägten Rituale bedeutete das, dass weder neue Riten entstanden noch die
alten abgeschafft wurden. Vielmehr erhielten diese innerhalb der symbolischen nationalen Gegenwelt eine Mehrdeutigkeit, die sie gerade für viele
ansprechend werden ließ. Somit ließen sich mit ein- und demselben Ritus
verschiedene Vorstellungen verbinden, was wiederum die Voraussetzung
für den gemeinsamen, gegenweltlichen Entwurf einer polnischen Nation darstellte.
Kathrin Krogner-Kornalik, Ludwig-Maximilians-Universität München,
Historisches Seminar, Maria-Theresia-Straße 21, 81675 München
E-Mail: kathrin.krogner@lrz.uni-muenchen.de
“All Dressed Up and Nowhere to Go”?
Spaces and Conventions of Youth in 1950s Britain
by Klaus Nathaus*
Abstract: Based on an analysis of streets and entertainment venues, the article stresses
the importance of post-war changes in the urban environment for the emergence of
1950s British youth culture. It explains how and why young people in Britian in this
period developed conventions and modes of self-presentation such as “coolness” and
overt enthusiasm as face-saving and socializing strategies, thus creating a distinct own
social world which was viewed and criticized by adults and authorities as the culture of
a counterworld. The article acknowledges the creativity of young people in making up
their own conventions and modes of being, but argues that their influence on wider
social and cultural change was limited; rather than seeing young people of the 1950s as
countercultural pioneers, the article suggests that they appear to have been inheritors
of late nineteenth-century mass culture.
In the early 1950s, British teenagers and early twens embraced particular styles
of fashion and music and developed their own, distinct codes of conduct. The
“Teddy Boys” or “Teds”, dressed in knee-length jackets with velvet collars,
drainpipe trousers and bootlace ties with plenty of Brylcreem in their hair,
became emblematic of post-war young males. First sighted on South London
streets in 1952 and associated with gratuitous violence by the press, their
reputation spread quickly and their look was taken up in other cities. At about
the same time, female teenagers behaved in new ways as well. Following the
example of American “bobbysoxers”, they screamed themselves nearly
unconscious at live appearances of record stars. Youth had for a long time
been considered to be stroppy and excitable, but the “cool” conduct of the Teds
as well as female “hysteria” at pop concerts seemed to exceed this by far,
informing post-war youth’s image as being out of bounds and emphatically,
yet aimlessly resistant.
Young people’s unconventional behaviour attracted scholarly interest from the
time of its appearance. Social scientists of the period studied 1950s youth,
defined as teenagers from 13 to 15 upwards and unmarried men and women in
their early twenties, in view of their alleged susceptibility for deviance and
* I thank Simon Frith, Louise Jackson and Richard Rodger for sharing their knowledge
about urban space, policing and screaming girls and Eric Grosso for mapping
Edinburgh’s entertainment spaces. I am particularly grateful for thorough reading and
critical comments by the anonymous reviewers as well as Astrid Kirchhof, Nina
Leonhard and Bodo Mrozek.
Geschichte und Gesellschaft 41. 2015, S. 40 – 70
q Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2015
ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000
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Spaces and Conventions of Youth in 1950s Britain
41
delinquency.1 Invariably, the leisure “problem” was a key part of numerous
studies which expressed concerns about young people’s consumption of
commercial entertainments, contrasting cinema, dancing and billiard unfavourably with participatory culture and self-improvement.2 A more comprehensive perspective for the analysis of youth culture was proposed in the 1970s
by sociologists at the Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS) in
Birmingham who suggested the concept of “subculture” to capture the
particular way of life of rebellious adolescents. These scholars interpreted the
appearance of the Teddy Boys as a cultural response to the decline of a
traditional working-class culture, which had been based on close neighbourhood and kinship ties but eroded under the influence of post-war council
housing, education reform and rising incomes. As this proletarian parent
culture dissolved, Teddy Boys developed an unruly subculture which symbolically articulated a class conflict that had not disappeared in post-war Britain.
From this perspective, the Teds became the forerunners for the subsequent
subcultures of Mods, Rockers, Skinheads and Punks, all of which appropriated
commercial culture for their symbolic resistance and were said to be rooted in
working-class discontent.3 In the 1990s, this interpretation was criticised in
what came to be called post-subcultural studies. Stressing that the membership in contemporary cultural “scenes” and “neo-tribes” is voluntary and often
only temporary and the identities formed in those groups are fluid, these
studies challenge the connection between subcultures and class and argue that
youth culture should be seen as a culture of choice rather than necessity. They
trace this relationship between popular culture and identity back to the postwar years and identify 1950s youth who developed personal lifestyles from
consumer culture as pioneers of a post-modern individuality.4
1 According to contemporary market researcher Mark Abrams, the teenage population in
1959 comprised of five million people from 15 to 24 years of age, making up ten per cent
of the British population. See Mark Abrams, Teenage Consumer Spending in 1959. Part
II: Middle Class and Working Class Boys and Girls, London 1961, pp. 1 – 4.
2 This perspective informs both quantitative surveys such as Bryan Holwell Reed et al.,
Eighty Thousand Adolescents. A Study of Young People in the City of Birmingham,
London 1950, and qualitative studies like Richard Hoggart, The Uses of Literacy. Aspects
of Working-Class Life with Special Reference to Publications and Entertainments,
London 1957.
3 John Clarke et al., Subcultures, Cultures and Class. A Theoretical Overview, in: Stuart
Hall and Tony Jefferson (eds.), Resistance through Rituals. Youth Subcultures in PostWar Britain, London 1975, pp. 9 – 74.
4 Andy Bennett, Subcultures or Neo-Tribes? Rethinking the Relationship between Youth,
Style and Musical Taste, in: Sociology 33. 1999, pp. 599 – 617. For a recent summary of
the sociological debate see James Patrick Williams, Subcultural Theory. Traditions and
Concepts, Cambridge 2011, pp. 26 – 35, and Moritz Ege, “Ein Proll mit Klasse”. Mode,
42
Klaus Nathaus
Historians have explored a number of related aspects, adding details to our
picture of 1950s youth. Research on the police, the justice system and on
market research stresses the role of established institutions in the “invention”
of “deviant youth” and the “teenager”.5 Other work challenges the thesis of a
generational clash, arguing that the emergence of youth culture is owed to the
favourable attitude of working-class parents who often tolerated, if not
supported their children’s venture from traditional norms and conventions.6
Historians have also discussed the origins of youth culture and now commonly
agree that these are to be found well before the 1950s.7 Some recent historical
studies on 1950s youth take the CCCS framework as their orientation.8 The
majority of works, however, do not engage with the sociological debate in
greater depth and, in effect, explain the emergence of 1950s youth culture with
an increase in young people’s disposable income and the influence of
American popular culture.9
The following article turns to sociological concepts and, inspired by works of
symbolic interactionists who study conventions as a way for people to “get
along” in situations shaped by mutual expectations,10 looks for alternative
factors to account for youths’ conduct in public spaces. Its main argument is
that conventions characteristic of 1950s youth culture were established by
young people in response to a situation where older behavioural scripts
5
6
7
8
9
10
Popkultur und soziale Ungleichheiten unter jungen Männern in Berlin, Frankfurt 2013,
pp. 26 – 47.
Kate Bradley, Juvenile Delinquency and the Public Sphere. Exploring Local and National
Discourse in England, c. 1940 – 69, in: Social History 37. 2012, pp. 19 – 35; Louise
Jackson, The “Coffee Club Menace”. Policing Youth, Leisure and Sexuality in Post-War
Manchester, in: Cultural and Social History 5. 2008, pp. 289 – 308; Christian Bugge,
“Selling Youth in the Age of Affluence”. Marketing to Youth in Britain since 1959, in:
Lawrence Black and Hugh Pemberton (eds.), An Affluent Society? Britain’s Post-War
“Golden Age” Revisited, Aldershot 2004, pp. 185 – 202.
Selina Todd and Hilary Young, Baby-Boomers to “Beanstalkers”. Making the Modern
Teenager in Post-War Britain, in: Cultural and Social History 9. 2012, pp. 451 – 467.
David Fowler, The First Teenagers. The Lifestyles of Young Wage-Earners in Interwar
Britain, London 1995; Bill Osgerby, Youth Cultures in Contemporary Britain, in: Paul
Addison and Harriet Jones (eds.), The Blackwell Companion to Contemporary British
History, Oxford 2005, pp. 127 – 144.
Keith Gildart, Images of England Through Popular Music. Class, Youth and Rock ‘n’
Roll, 1955 – 1976, London 2013. See also the special issue “Youth Culture, Popular Music
and the End of ‘Consensus’ in Post-War Britain”, Contemporary British History
26. 2012, ed. by Jon Garland et al.
See, for instance, Adrian Horn, Juke Box Britain. Americanisation and Youth Culture,
1945 – 60, Manchester 2009.
Instead of many see Sherri Cavan, Liquor License. An Ethnography of Bar Behavior,
Chicago 1966; Robert B. Edgerton, Alone Together. Social Order on an Urban Beach,
Berkeley 1979.
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Spaces and Conventions of Youth in 1950s Britain
43
deteriorated due to changes in particular settings such as streets, dance halls
and variety theatres. Instead of linking the emergence of youth culture closely
with “affluence”, “Americanisation”, “post-modernity”, “class conflict” or
“consensus”, the article highlights the importance of changes in the built
environment in post-war British cities to understand the trajectory of young
people’s behaviour in public during that period. It proposes that 1950s youth
developed new conventions ad hoc and on site and sustained them through
reiterating practices.
Returning to the ethnographic origins of the study of subcultures,11 the article
employs the “social world” concept to describe the interaction among youth. A
social world can be defined as “a set of common or joint activities or concerns
bound together by a network of communication”.12 The concept has been
developed by symbolic interactionists to describe social groups which cannot
be accurately delineated by membership, income, education or territory.
Instead, social worlds are said to coalesce around common issues; its affiliates
share a body of specialist knowledge, repeatedly interact with each other and
subscribe to a common set of conventions. As they are likely to develop a
shared world view, social worlds tend to get in conflict with certainties of
mainstream society. They may turn into a “Gegenwelt”, a “counterworld” and
thereby become an important factor for social change.13 The question to what
extent 1950s youth had formed a counterworld and contributed to wider social
change will be taken up in the conclusive part of this article. It will argue that
youth’s resistant character during the period resulted mainly from the
irritation of observers who saw established rules and conventions challenged
by their social conduct which they perceived as impenetrable and “troublesome”. This, in turn, makes 1950s youth culture less a precursor of the selfconscious rebelliousness of 1960s “counterculture” than a successor of a
working-class culture that had developed since the last third of the nineteenth
century. A first link between post-war youth and working-class culture of
previous decades is that 1950s youth inherited many of the entertainment
spaces that had initially catered to a primarily adult working-class clientele.
Secondly, youth’s particular behaviour in those spaces as well as the reactions
it met with show striking similarities and continuities with working-class
leisure of earlier times. Both were equally alien to outside observers and
authorities and provoked similar concerns and responses.
11 For an early Chicago study that focuses on conventions in a public entertainment space
see Paul G. Cressey, The Taxi-Dance Hall. A Sociological Study in Commercialized
Recreation and City Life, Chicago 1932.
12 Rob Kling and Elihu M. Gerson, Patterns of Segmentation and Intersection in the
Computing World, in: Symbolic Interaction 1. 1978, pp. 24 – 43, here p. 26.
13 David R. Unruh, The Nature of Social Worlds, in: Pacific Sociological Review 23. 1980,
pp. 271 – 296; Anselm Strauss, A Social World Perspective, in: Studies in Symbolic
Interaction 1. 1978, pp. 119 – 128.
44
Klaus Nathaus
The first section of this paper looks at urban spaces from streets to dance halls
that were increasingly populated by youth, while adults and smaller children
retreated from them. Contrary to the thesis that much of teenagers’ behaviour
resulted from an “all-dressed-up-and-nowhere-to-go experience” of a Saturday night,14 this section shows that due to suburbanisation and increasing
domesticity young people occupied public urban spaces to a greater extent in
the 1950s than in the decades before and after.
The second part focuses on the conventions of self-conduct and sociality in
those public spaces. Youth developed conspicuous detachment, a “coolness”,
and the display of overt enthusiasm as two strategies to minimise the risk of
embarrassment in front of teenage peers, a risk that had increased as older
conventions eroded and became unreliable. This argument rests on the
assumption that symbolic practices, rather than simply expressing mental
dispositions or emotional states, are elements of a behavioural “tool kit” to
negotiate particular situations. While many historians define culture as a
coherent set of commonly shared values, norms and beliefs that subconsciously guide action, a tool kit understanding of culture supposes that actors
draw and choose from a heterogeneous repertoire of scripts and use them
strategically in view to the expectations they anticipate from relevant
observers.15
Both the first and the second part of the article draw on evidence from British
cities, with a particular focus on Edinburgh as a local case study. Unlike
industrial centres like Glasgow or the cities in the North of England, the
Scottish capital was not dominated by a working-class population. In addition,
it was relatively remote from the popular-cultural hub of London. This makes a
study on Edinburgh, a city with a population of about 465,000 people in the
1950s, a valuable addition to a body of literature that is mainly concentrated on
London and the industrial North of England. The existence of a youth culture
in Edinburgh would underline the importance of changes in the urban ecology
as a major factor for the emergence of new behavioural conventions among
youth in the period under study. The sources used for this article encompass
magistrate, police and court records, newspapers and trade periodicals,
records from the Musicians’ Union archive, photo collections and published
recollections of contemporaries.
14 Clark, Subcultures, p. 48. See also Tosco R. Fyvel, The Insecure Offenders. Rebellious
Youth in the Welfare State, London 1961, p. 73, and Hoggart, Uses of Literacy, p. 202.
15 Ann Swidler, Talk of Love. How Culture Matters, Chicago 2001, pp. 87 – 106. For a
discussion on culture concepts in historiography see William H. Sewell jr., The Concept
(s) of Culture, in: Victoria E. Bonnell and Lynn A. Hunt (eds.), Beyond the Cultural Turn.
New Directions in the Study of Society and Culture, Berkeley 1999, pp. 35 – 61.
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Spaces and Conventions of Youth in 1950s Britain
45
I. Space Available to Youth: The Urban Ecology from the Late
1940s to the Early 1960s
Well into the twentieth century, inner-city areas with high levels of poverty, a
declining housing stock and outdated infrastructure were a typical feature of
European cities, in Britain as well as on the Continent. To counter this problem,
British local administrations started in the interwar years to build housing
estates at the margins of cities, providing 1.5 million dwellings to rehouse
working-class families.16 Post 1945, the British state intensified these activities,
after approximately half a million houses had been destroyed during the war.17
City councils tore down “slum” dwellings at an increasing rate from 1955.
Between 1945 and 1960, more than 380,000 houses were destroyed in Britain as
a measure to combat overcrowding and bad housing conditions.18
New legislation empowered councils to build estates and New Towns.
Subsequently, some 2.5 million new houses and flats were built between
1945 and 1957, three-quarters of them by local authorities and foremost
located in suburban areas.19 Social housing as well as a growing stock of private
houses, brought into the reach of better-paid workers by mortgage schemes,
meant that a growing share of the 15 to 16 million households in the United
Kingdom moved to the suburbs, a trend that continued throughout the 1960s.
Contemporary sociologists claimed that housing estates undermined the
effortless sociability and dissolved the strong ties of kinship and credit that
had held together inner-city neighbourhoods.20 Tenants of council estates
indeed experienced and complained about a lack of pubs and shops, long
commutes and separation from relatives. The large majority of them, however,
had moved voluntarily to the suburbs and continued to do so, attracted by a
better standard of accommodation and educational opportunities for their
children. Most of them were white working-class families with children and a
skilled or semi-skilled worker as the sole breadwinner.21
While it is disputed that the new working-class suburbanites withdrew from
communal sociability to revert into an entirely private existence,22 there is
strong evidence that they developed a more domestic lifestyle. Men and women
invested time in home improvement, as tenants’ agreements in the 1950s
allowed individual alterations of rented premises and exhibitions and
16 Mark Clapson, Invincible Green Suburbs, Brave New Towns. Social Change and Urban
Dispersal in Post-War England, Manchester 1998, p. 33.
17 John Burnett, A Social History of Housing, 1815 – 1985, London 19862, p. 285.
18 Stephen Merrett, State Housing in Britain, London 1979, p. 120, see table 5.4.
19 Burnett, Housing, p. 286; Clapson, Suburbs, pp. 43 f.
20 Michael Young and Peter Willmott, Family and Kinship in East London, London 1957.
21 Clapson, Suburbs, p. 49.
22 Ian Procter, The Privatisation of Working-Class Life. A Dissenting View, in: British
Journal of Sociology 41. 1990, pp. 157 – 180.
46
Klaus Nathaus
magazines disseminated ideas for home design to all social classes.23 Twothirds of British homes had gardens in the 1950s and early 1960s, and
gardening, featured in the press, in radio and television programmes, became
an increasingly popular recreation.24 Council tenants also made their homes
more comfortable by acquiring a range of household appliances. By the end of
the decade, 82 per cent of the population or more than half of all lower-class
households owned a television set.25
1. Urban Streets
Suburbanisation had major repercussions for urban spaces. To begin with, it
meant a steep increase in motorised individual transport.26 To allow traffic to
flow and to prevent accidents, inner-city streets were transformed into
thoroughfares. Local authorities and national bodies intensified their road
safety campaigns. New forms of traffic regulation were tested, leading, for
instance, to a nationwide establishment of zebra crossings at the end of 1951
and the introduction of school crossing patrols two years later.27 Furthermore,
police and administrations sought to remove “living obstacles” of traffic. In
Edinburgh, fewer and fewer licences for street vendors were issued, and
prostitutes were effectively banned from streets.28
Increasing traffic and administrative measures transformed urban streets into
transport channels, and the maintenance and control of them was shifting
from residents to the authorities who governed them for rational use. Prior to
this development, many urban streets had been multifunctional spaces for
people to congregate, with no sharp boundaries against the private sphere of
23 Claire Langhamer, The Meanings of Home in Postwar Britain, in: Journal of
Contemporary History 40. 2005, pp. 341 – 362, here pp. 352 – 357; Matthew Hollow,
The Age of Affluence Revisited. Council Estates and Consumer Society in Britain,
1950 – 1970, in: Journal of Consumer Culture, http://joc.sagepub.com/content/early/
2014/02/05/1469540514521083.abstract.
24 Stephen Constantine, Amateur Gardening and Popular Recreation in the 19th and 20th
Centuries, in: Journal of Social History 14. 1981, pp. 387 – 406.
25 Langhamer, Home, p. 353.
26 The number of private cars in Britain grew during the 1950s from two to nearly five
million; motor cycles almost doubled in number to approximately 1.9 million. See
Amanda Root, Transport and Communications, in: Albert Henry Halsey and Josephine
Webb (eds.), Twentieth-Century British Social Trends, Houndmills 2000, pp. 437 – 468,
p. 442, here table 13.4.
27 Joe Moran, Crossing the Road in Britain, 1931 – 1976, in: Historical Journal 49. 2006,
pp. 477 – 496, here p. 486; Edinburgh City Archives [hereafter ECA], ED006 / 1, 92,
Edinburgh City Police, Annual Report on State of Crime and Police Establishment,
Edinburgh 1951, p. 17.
28 ECA, SL1 / 1, 404, Edinburgh Corporation Committee Minutes, Magistrates, Session
1954 – 55, Edinburgh 1957, p. 93.
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Spaces and Conventions of Youth in 1950s Britain
47
the home. This image of the street was idealised by contemporary writers and
social scientists. Town planners and architects tried to recreate street-based
neighbourliness in council estates, albeit with limited success.29 People’s
practices indicate that the image of the street as a public space had been more
than a myth. In Edinburgh, cases of theft in which offenders entered houses
through unlocked doors suggest that the doorstep in the early 1950s did not
sharply demarcate between the public and the private sphere.30 This changed
in the course of the decade, as streets became increasingly regarded as
dangerous. The more adults used streets primarily to get from one place to
another, and the more young children were kept away from roads because of
motorised traffic, the more this urban space was left to young people between
the age of nine and twenty who continued to meet there seemingly without
purpose. To some extent they travelled there as more excitement was to be had
than in the suburbs.31
A change in the clientele inhabiting public spaces as a consequence of
suburbanisation and increasing domesticity can also be found in commercial
venues of entertainment such as variety theatres, cinemas, dance halls and
snack bars.
2. Variety Theatres
Variety theatres, which dated back to nineteenth-century music halls, had
faced a major crisis after the First World War, as cinemas and radio threatened
to lure audiences away. British variety managed to adapt to the new situation
by raising the standards of its entertainment. Non-stop acts sped up the
programme and made it more exciting, and houses invested in furnishing and
sceneries. As variety had survived the interwar years, it was by no means
certain that it would succumb to television, the new rival entertainment
medium, during the 1950s. In fact, impresarios and performers had reason to
believe that variety could benefit from synergies with the new medium, just as
live appearances of radio personalities had attracted audiences to variety
houses during the interwar period.
Ultimately however, variety went into rapid decline during the 1950s. While in
1950, London’s twenty houses were frequented by about 425,000 people per
week, ten years later there were only four variety theatres left and attendance
29 Joe Moran, Imagining the Street in Postwar Britain, in: Urban History 39. 2012,
pp. 166 – 186.
30 See the Annual Reports on the State of Crime and the Police Establishment of the County
of the City and Royal Burgh of Edinburgh at Edinburgh City Archives for examples:
ECA, ED006 / 1, 91 – 101.
31 Department stores, for instance, attracted teenagers from further afield, as the addresses
of juvenile shoplifters indicate. See Edinburgh Burgh Court Records at Edinburgh City
Archives for cases. For the experiential richness of urban streets see also Colin Ward,
The Child in the City, London 1978, pp. 66 – 73.
48
Klaus Nathaus
had fallen by eighty per cent.32 In the provinces, variety was in decline as well.
Television played some part in this downturn. With the establishment of
Independent Television (ITV) as a commercial competitor to the BBC,
launched in 1955 and generally available from 1957, all broadcasting stations
began to step up their investment in entertainment programmes, including
variety shows. This raised audiences’ expectations which were likely to be
disappointed in second- and third-tier theatres. An additional factor for
variety’s decline was the move of potential audiences to the outskirts of the
city. This undermined the economic basis of variety which had for decades
rested on twice-nightly programmes, meaning that the same show was staged
twice six days a week (Sunday was the day for performers to travel) to sell
enough tickets. As suburban audiences had to travel to the centrally-located
theatres, the first show started too early for many of them, while attending the
second show meant that they got back home late at night.33 The decisive reason
for variety’s decline, however, was that key variety entrepreneurs like agents
Lew and Leslie Grade, and Val Parnell, Managing Director of the Moss Empires
chain, lost belief in live entertainment, as they acquired stakes in TV
production companies. Unwilling to invest in variety, these influential figures
of the stage business allowed standards to drop and theatres to decay.
To cope with a cycle of shrinking audiences and decreasing investment, some
theatres in the early 1950s turned to striptease and nude revues. While these
attractions lured men into theatres, nudity exacerbated the crisis of variety in
the longer term as it drove the family audience even further away.34
A much more successful strategy was to target an audience between 16 and 24
years of age, unmarried, living with parents and earning good wages. This
clientele was attracted by “modern rhythm singers” from America who were
booked by top-tier theatres like the London Palladium, flagship of the Moss
Empire circuit, from 1951 onwards. Performers like Frankie Laine, Johnny Ray,
Mary Small, Judy Garland, Sophie Tucker, Tennessee Ernie Ford, Nat King Cole
and Dean Martin regularly sold out variety houses and heralded the
appearance of American Rock ‘n’ Roll acts who appeared in the second half
of the decade. Pop singers were so successful that the Stage Year Book rejoiced
that “the crooners won many new patrons for variety in 1954.”35 In the wake of
American stars, home-grown recording talent, among them Dickie Valentine,
David Whitfield, Joan Regan and Frankie Vaughan, got an opening in variety
theatres too. After 1955, these were followed by domestic rock ‘n’ rollers like
32
33
34
35
Oliver Double, Britain Had Talent. A History of Variety Theatre, Basingstoke 2012, p. 70.
Ibid., p. 77.
Andrew Gray, Variety in 1954, in: The Stage Year Book 1955, London 1955, pp. 21 f.
Ibid., p. 21. “Crooners” are defined by their style of singing. Using microphones to
perform within a wide range of volume, their delivery sounded intimate rather than
declamatory.
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Spaces and Conventions of Youth in 1950s Britain
49
Tommy Steele and by Lonnie Donegan, a figurehead of the skiffle movement,
who topped the Palladium bill in 1957.36
While pop singers attracted young people, their presentation should not be
mistaken for an exclusive reorientation of variety to this audience segment.
Regardless of their “headliner” status, these performers were slotted into the
existing show format, thrown together with dance acts, comedians and
acrobats. Many of them were ridiculed by condescending critics who feasted on
the fact that their limited musical skills stood in stark contrast with their fees
and the enthusiastic adulation of teenage girls.37 Comedians parodied their
distinct performance styles,38 and seasoned variety acts, who prided
themselves on their craftsmanship, had little time for “crooners”, skifflers
and rock ‘n’ rollers who were – in their view – unable to sing “properly”.39
3. Cinemas
Like variety theatres, cinemas entered a period of economic decline in the
1950s. Facing a drop in attendance figures, they increasingly relied on the
youth audience to carry on their operations before the business was
restructured in the 1960s. Cinema attendances had peaked in Britain in
1946, when a third of the population attended one of the 4,700 cinemas in
operation at least once a week. From then on, attendance figures gradually
sank, before a rapid decline set in in 1956. Over the course of five years, ticket
sales more than halved from 1.1 billion to 500 million, and over a thousand
picture houses were closed.40 As with variety, the downturn is most often
explained with the rise of television. A more comprehensive view, however,
takes into account suburbanisation as the greater structural change leading to
a domestic lifestyle of which television became a part.41
Cinemas reacted to the decline in similar ways as variety theatres. To begin
with, they reverted to cheap programming by showing low-budget horror
36 Double, Britain had Talent, p. 82. For the connection between variety and the promotion
of British Rock ‘n’ Roll singers see Martin Cloonan, The Production of English Rock and
Roll Stardom in the 1950s, in: Popular Music History 4. 2009, pp. 271 – 287. “Skiffle” was
a musical genre popular in 1950s Britain, influenced by folk and jazz and often involving
homemade instruments such as washboards.
37 See for instance N. N., The Bobbysoxers Went Frantic, in: Aberdeen Evening Express,
13. 5. 1952, p. 4.
38 N. N., Round the Yorkshire Shows, in: Yorkshire Evening Post, 25. 8. 1953, p. 3.
39 Double, Britain had Talent, p. 85.
40 Allen Eyles, Exhibition and the Cinemagoing Experience, in: Robert Murphy (ed.), The
British Cinema Book, Houndmills 20093, pp. 78 – 84, here p. 81. For Scotland see Trevor
Griffiths, The Cinema and Cinema-Going in Scotland, 1896 – 1950, Edinburgh 2012,
pp. 273 f.
41 David Docherty et al., The Last Picture Show? Britain’s Changing Film Audience,
London 1987, p. 25.
50
Klaus Nathaus
movies, science-fiction films or offerings suggestive of sex, attracting viewers
interested in novelty in the short term, but dispelling the family audience and
ultimately aggravating the crisis. As in the case of variety, youth – who at home
had little say when it came to television and were keen to escape parental
supervision – became an increasingly important audience.
Starting with “Rock Around the Clock” in 1956, a string of films featuring
youth and teenage culture was exhibited on silver screens across the United
Kingdom, ending in the mid-1960s with the Beatles’ “A Hard Days Night”
(1964) and “Help!” (1965). The “teenpic” formula, as it was called by later-day
film historians, was developed in the United States by independent producers
and companies like Sam Katzman and American International Pictures (AIP)
in the mid-1950s. A few years before, the American film industry had been hit
by both the appearance of the television and anti-trust legislation. The latter
brought an end to the integration of film production, distribution and
exhibition, in effect destroying the studio system. Production companies first
countered the challenge of television with blockbusters in CinemaScope small
screens could not compete with, before they made peace with the new medium
and started selling their movie libraries to broadcasters and producing
network shows. With studios and television finding a mode of co-existence
smaller cinemas suffered, because the studios’ exclusive focus on major
features ended the supply of medium-budget “B-films” that had provided
neighbourhood cinemas with a pool of movies to cater to regular customers.
As a consequence, these cinemas were very much prepared to screen cheaplyproduced, sensationalist “exploitation” films. As these films’ producers
realised that youth were their primary audience, they deliberately targeted
this segment of cinema-goers with Rock ‘n’ Roll, rebel and surf movies.
Whereas the major studios had chosen to ignore evidence for the importance
of the youth market earlier, the success of Katzman and AIP convinced them to
provide for teenagers in a systematic fashion.42
After the instant success of Rock ‘n’ Roll films in Britain, domestic film
companies began to produce vehicles for local stars and their music like “The
Tommy Steele Story” (1957), featuring Steele as himself, and “Expresso Bongo”
(1959) and “The Young Ones” (1961), both starring Cliff Richard. In contrast to
America, however, British youth films continued to address a general audience.
“The Tommy Steele Story”, for instance, was advertised as “Grand Entertain-
42 Thomas Doherty, Teenagers and Teenpics. The Juvenilization of American Movies in the
1950s, London 1988, pp. 20 – 38, pp. 61 – 66 and pp. 71 f. The parallels between the
breakthrough of teenpics and Rock ‘n’ Roll music in the United States, both owing to
changes in regulation, technology, industry and markets, are striking. For the latter see
Richard A. Peterson, Why 1955? Explaining the Advent of Rock Music, in: Popular
Music 9. 1990, pp. 97 – 116.
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Spaces and Conventions of Youth in 1950s Britain
51
ment the whole Family will Enjoy”.43 Like in variety, elements for teenage
consumption were wedged into the framework of established show business,
which means that proprietors targeted young people as well as their parents, if
not grandparents, regardless of the trend that adult audiences were shrinking.
Cinemas’ involvement in live music also reveals a continuing focus on a mass
audience. On the face of it, it might seem that picture houses developed specific
offerings for youth as they hosted skiffle competitions, talent shows and
touring rock ‘n’ rollers in the second half of the 1950s.44 A closer look, however,
shows that neither skiffle nor Rock ‘n’ Roll were meant to be performed or
consumed exclusively by young people. While skiffle opened up music-making
for youthful beginners, neither the majority of the original skiffle groups nor
the musicians they inspired were teenagers.45 In a similar vein, Bill Haley and
the Comets on their British tour in 1957, which took them through cinemas
across the United Kingdom, were presented not so much as a teenage
attraction but as all-round entertainers and respectable family men.
Apparently they met with favourable responses from listeners of different
age groups. This indicates that the concept of a particular kind of music for
teenagers had not been established in the early years of Rock ‘n’ Roll in
Britain.46 The fact that films and music that were produced in the United States
with a teenage audience in mind were distributed in Britain in line with older
show-biz formats and addressed to a general public accounts both for the
particular ways in which British youth took to these offerings and the
bewilderment of adult observers, which will be studied in the second part of
this article.
4. Dance Halls
The entertainment venue that was, in general, least accommodating to youth
was the dance hall. Imported from continental Europe, “palais de danse” had
been in operation in Britain since 1919 when the Hammersmith Palais in
London opened its doors. In the late 1920s and early 1930s, dance hall chains
were established and brought social dancing to the working class. In 1938,
about two million people were estimated to visit a dance hall in Britain each
43 Quoted in Andrew James Caine, Interpreting Rock Movies. The Pop Film and Its Critics
in Britain, Manchester 2004, p. 120.
44 Ibid., p. 98; Mike Dewe, The Skiffle Craze, Aberystwyth 1998, pp. 138 f. and p. 149;
Simon Frith et al., The History of Live Music in Britain, vol. 1: From Dance Hall to the
100 Club, Farnham 2013, pp. 172 f. Skiffle contests and talent shows were also held in
variety theatres. See Chas McDevitt, Skiffle. The Definitive Inside Story, London 1997,
pp. 188 – 191.
45 Frith, History of Live Music, p. 100.
46 Gillian A. M. Mitchell, Reassessing the “Generation Gap”. Bill Haley’s 1957 Tour of
Britain, Inter-Generational Relations and Attitudes to Rock ‘n’ Roll in the Late 1950s, in:
Twentieth Century British History 24. 2013, pp. 573 – 605, here p. 577.
52
Klaus Nathaus
week. Mecca and other chains offered good entertainment value for little
money, investing in first-rate music and glamorous interiors. Interwar dance
halls were frequented by patrons of all ages, with young, unmarried people
among the most frequent visitors. Some went to the palais several times a week.
Simple dances like the Lambeth Walk enabled even non-dancers to join in the
fun. Dance hall proprietors catered to teenagers, hosting special sessions and
roping off parts of the hall for young beginners.47
After the Second World War, dance halls remained important places for young
people to court and socialise.48 In Edinburgh in the mid-1950s, there were 17
commercial dance halls in operation, five of them were open daily. The smaller
halls provided space for some two hundred guests, the largest one, the Palais de
Danse at Fountainbridge, part of the Mecca chain, was allowed to admit 2,150
patrons.49 In addition, there were a number of halls for which masonic lodges,
co-operative societies, working men’s clubs, political parties and religious
associations held licenses and which were also used for social dancing.
There were, however, signs that social dancing was in decline. To begin with,
dance hall proprietors tried to cut corners by saving on the expenses for music.
In Edinburgh in 1950, Stewart’s Ballroom advertised jobs for “non-unionised
musicians only”,50 which is a significant example as its owners John and Eric
Stewart were leading figures in the newly founded North British Ballroom
Association, representing some 160 dance halls in Scotland. In other instances,
dance promoters used recorded music to entertain dancers. The Musicians’
Union countered these attempts to rationalise dance entertainment by making
an agreement with Phonographic Performance Ltd. (PPL), a body that
represented the major record companies and licensed the public use of their
recordings, in 1947. This agreement stipulated that PPL granted licenses only
for public performances of records if these were not used to substitute
47 James J. Nott, Music for the People. Popular Music and Dance in Interwar Britain, Oxford
2002, pp. 157 – 180; Melanie Tebbutt, Being Boys. Youth, Leisure and Identity in the
Inter-War Years, Manchester 2012, pp. 211 – 224.
48 Madelaine Kerr, The People of Ship Street, London 1958, p. 32; Pearl Jephcott, Rising
Twenty. Notes on Some Ordinary Girls, London 1948, p. 149; Ross McKibbin, Cultures
and Classes. England 1918 – 1951, Oxford 1998, p. 394; Eddie Tobin and Martin Kielty,
Are Ye Dancin’? The Story of Scotland’s Dance Halls, Rock ‘n’ Roll, and How Yer Da Met
Yer Maw, Glasgow 2010.
49 ECA, SL1 / 1, 404, Edinburgh Corporation Committee Minutes, Magistrates, Session
1954 – 55, Edinburgh 1957, pp. 137 f., Public Dance Halls in Edinburgh. Maximum
Permitted Numbers Recommended by City Engineer (Appendix).
50 Musicians’ Union Archive, MU4 / 4 / 1 / 3, Minutes of the Branch and Committee Meeting
of the Edinburgh Branch of the Musicians’ Union, 1950 – 56, Special Branch Committee
Meeting, 29. 9. 1950.
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Spaces and Conventions of Youth in 1950s Britain
53
bands.51 Overall, the union successfully kept records out of live venues,
particularly outside of London. This in turn meant that proprietors continued
to carry the costs for bands, and dance halls kept much of their character as
places of live music.
Ballroom managers claimed that falling attendances required them to tighten
budgets, and the decline in admissions was in turn often explained with
frequently reported “disturbances” caused by youth.52 In Edinburgh, the North
British Ballroom Association approached the local magistrate in March 1954 to
demand harsher punishments of perpetrators and suggested to limit the
number of guests to prevent overcrowding. Furthermore, proprietors
distinguished between “legitimate”, “private” and “pirate” dance halls and
accused the latter of bringing dance venues into disrepute. They complained
that “pirates” rented spaces temporarily from licensees who were not involved
in the actual events and identified this as a major cause for disturbances.53
In late 1959, the association raised the issue of “rowdyism” again, this time
addressing the Scottish Home Department. A delegation presented the
proprietors’ plight with accounts of several cases of violence where
perpetrators were treated with apparent leniency. The owners claimed to
“know of halls who [sic] have lost more than half their business and in some
cases, have had to close down, through this bad behaviour on the part of teen
age hooligans.” They also accused the press of inflating minor incidents to
make them appear newsworthy.54 The authorities, however, thought the police
had sufficient powers to deal with dance hall disturbances and felt it was
inopportune to try to influence the press. Nevertheless, they started an
investigation to gauge the size of the problem. The subsequent reports from the
judicial authorities in the Scottish counties established that the extent of
disturbances was, in most areas, minor and did not warrant special measures
or to be dealt with in higher courts, as the ballroom association proposed.55
51 N. N., Recorded Music or You!, in: Musicians’ Union Report, September – October 1949,
p. 2.
52 For early examples preceding the Teddy Boy cases see N. N., Orkney Youth Loses Eye at
Dance Hall, in: Aberdeen Journal, 26. 8. 1948, p. 4; N. N., Knife and Cosh Found in
Dundee Dance-Hall, in: Dundee Evening Telegraph, 30. 9. 1949, p. 1.
53 ECA, SL1 / 1, 404, Edinburgh Corporation Committee Minutes, Magistrates, Session
1954 – 55, Edinburgh 1957, pp. 89 f.
54 National Archives of Scotland [hereafter NAS], DD5 / 984, Dance Halls. Representations
and Enquiries, Letter of British Ballroom Association, n. d., fols. 133 f., here pp. 4 f.
55 NAS, Dance Halls. Representations and Enquiries, J. A. (Scottish Home Department),
Disturbances in Dance Halls. Summary of Procurators-Fiscals’ Reports on Dance Hall
Offences (Annexe 2), 25. 1. 1960, fols. 47 f.
54
Klaus Nathaus
Disorder in dance halls was first and foremost a topic for the press that singled
out Teddy Boys as culprits.56 Dance hall proprietors readily accepted the view
that youth were responsible for the decline of the dance hall business during
the decade, claiming that a small number of “trouble makers” drove away
customers. Looking at the development of cinemas and variety theatres,
however, it might be more plausible to explain the decline of dance halls with
suburbanisation and domesticity that kept particularly older dancers away. In
any case, treating youth as trouble did not prevent teenagers from attending
the halls. Ultimately, it only increased the tensions between proprietors and
those customers who had in fact become their foremost patrons.
5. Snack Bars
Dance halls and cinemas are known to have been contested spaces for youth.
The case of milk and espresso bars appears to have been different, as these
places have come to be regarded as spaces which exclusively catered to young
patrons and their particular needs.57A closer look, however, reveals that cafƒs
and bars did neither open in reaction to teenagers’ demand nor cater
exclusively to this group of customers.
Milk bars had been in operation in the United Kingdom since the mid-1930s.
Imported from the United States and Australia, over nine hundred bars offered
milk-based drinks and ice cream in Britain by 1937, two thirds of them
connected with department stores, cinemas or as mobile bars.58 Due to a
shortage of milk during and after the war, milk bars began to sell sandwiches,
pastries and light snacks. This made them similar in function to the many
small cafƒs and sandwich bars that opened up after the war, often by recent
Italian immigrants. Italians were also in charge of many espresso bars which
opened after the Gaggia coffee maker was introduced in England in 1952.
British milk bars rarely resembled the American model with their curvy
counters, wide transparent shop fronts and chrome interior.59 Like espresso
bars, they looked very different from each other, depending on the individual
decorator and, crucially, the resources of their owners.60 Most of these post-war
56 See, for instance, N. N., Teddy Boys Help to Swell Police Court Statistics, in: Edinburgh
Evening News, 29. 12. 1959, p. 7, and further articles collected in the file NAS, Dance
Halls. Representations and Enquiries.
57 Dominic Sandbrook, Never Had It So Good. A History of Britain from Suez to the
Beatles, London 2005, p. 131.
58 E. E. F. Colam, Practical Milk Bar Operation. Catering and Ice Cream Making, London
[1946], p. 2.
59 For photos of model American milk bars see ibid.
60 Matthew Partington, The London Coffee Bar of the 1950s. Teenage Occupation
of an Amateur Space ? Paper given at the University of Brighton, 2. – 4. 7. 2009,
http://arts.brighton.ac.uk/__data/assets/pdf_file/0004/44842/33_Matthew-Partington_TheLondon-Coffee-Bar-of-the-1950s.pdf.
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Spaces and Conventions of Youth in 1950s Britain
55
catering venues were run by owner-proprietors on a tight budget and crammed
into available property which in turn made for a great diversity of bars.61
Between 1946 and 1948, approximately 5,000 snack, milk or sandwich bars
were opened in the United Kingdom, benefiting from the increasing spatial
separation of home, work and shopping.62 This growth was sustained as
companies closed their canteens and issued lunch vouchers, introduced in
1954, to their employees who could exchange them for a snack during their
lunch breaks.63 This means that milk, espresso and snack bars depended at
least as much on the lunch- and daytime trade of workers and shoppers as on
teenagers who inhabited them later in the day.
In the second half of the 1950s, many snack bars featured juke boxes which
attracted youth. After their introduction to Britain had been delayed by import
restrictions, there were some 13,000 boxes in operation in 1958. From then on,
their number grew monthly by four hundred.64 In hindsight, the establishment
of the juke box as a feature of snack bars may appear to have simply been
driven by teenage demand for certain music. However, we have to bear in mind
that proprietors decided whether or not a juke box was put up in the first place.
For them, the prospect of having to listen to a small number of Rock ‘n’ Roll
songs over and over again every evening was anything but an argument for a
coin-operated record player.
Proprietors’ interest in juke boxes was helped along by the Performing Right
Society (PRS), representing composers, authors and publishers and collecting
fees for the public use of their music. As PRS could not deal with thousands of
venues individually and inform them that they were liable to pay a fee if they
wanted to entertain their guests with protected music, the society initiated
court cases to establish the principle and make music users to pay up. In
Glasgow in 1951, for instance, PRS filed a suit against the proprietor of an ice
cream parlour who had played a radio on his premises. He was sentenced to
pay a fine of 300 pounds for the use of six songs registered with PRS, a
substantial sum for any snack bar owner.65 The threat of such a sentence
provided operators who set up and serviced juke boxes with a strong sales
argument. They could advise proprietors on the complicated matter of music
61 For photographic evidence see Horn, Juke Box Britain, pp. 172 – 175. For the style of
milk and espresso bars and the confusion between them see also Joe Moran, Milk Bars,
Starbucks and the Uses of Literacy, in: Cultural Studies 20. 2006, pp. 552 – 573, here
p. 557.
62 Horn, Juke Box Britain, p. 171.
63 Joe Moran, Queuing for Beginners. The Story of Daily Life from Breakfast to Bedtime,
London 2008, p. 74.
64 Horn, Juke Box Britain, p. 169.
65 NAS, CS45 / 1369, PRS vs. Anthony Franchitti, Register of Acts & Decrees. The files
contain records of further cases in Scotland during that period. In all cases, proprietors
were fined the same sum.
56
Klaus Nathaus
licenses, and they could promise an income from young customers who were
otherwise content to hold on to a single cup of tea for hours, making it
worthwhile to keep the snack bar open late. As the proprietors’ radios were
substituted with juke boxes, the selection of music fell into the hands of
teenagers. Juke box operators were interested in placing records that received
the most plays into the machines, and as the boxes were equipped with
counters, operators were able to test which records worked better than others.
In this way, any reservations on the part of the cafƒ owner against teenage
music were circumvented.
Looking at streets, snack bars and entertainment venues in the 1950s, it
becomes apparent that public spaces were increasingly occupied by youth
while adults and smaller children retreated from them to the comfort and
safety of suburban homes. In the case of the urban street, youth continued to
occupy and make use of a space that came to be perceived as dangerous and in
need of regulation. With snack bars, youth benefited from a rapid growth of the
catering trade that was based primarily on lunch- and daytime demand. In the
cases of variety theatres, cinemas and dance halls, youth inherited spaces that
had been established to entertain a mass audience in the first half of the
twentieth century, but suffered from an exodus of adult patrons in the 1950s.
The example of Edinburgh illustrates to what extent commercial entertainment spaces were a phenomenon of city centres. With very few exceptions,
dance halls, cinemas, theatres and billiard halls, another licensed venue
frequented by youth, clustered around the central areas of the West End and
East End of Princes Street, Tollcross in the south-west, the bottom of Leith
Walk near the harbour and the beach promenade of Portobello. Leaving aside
Portobello, nearly all of Edinburgh’s commercial entertainment places lay
within a 2.5 kilometre radius, a good half-an-hour’s walking distance from the
East End of Princes Street.66
In the 1960s, these venues vanished in great numbers, in Edinburgh and
elsewhere in the United Kingdom. Properties were sold at site value,
demolished or converted into supermarkets, offices or garages. In the wake
of the Betting and Gaming Act of 1961, Mecca and Top Rank turned many of
their dance venues into bingo halls, attracting an older clientele.67 In
Edinburgh in 1950, we find 166 premises licensed for entertainments,
cinematic exhibitions, dances, billiard, open-air or theatrical shows, among
them thirty cinemas, 24 commercial dance venues and nine theatres. The
remainder were mostly venues operated by churches, masonic lodges, clubs,
political parties or co-operative societies. By 1965, these numbers were down
66 For a map of licensed entertainment spaces in Edinburgh see www.mesh.ed.ac.uk/
entertainment.
67 Carolyn Downs, Mecca and the Birth of Commercial Bingo 1958 – 70. A Case Study, in:
Business History 52. 2010, pp. 1086 – 1106.
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Spaces and Conventions of Youth in 1950s Britain
57
to 101 licensed venues, including 18 cinemas, twelve commercial dance halls
and three commercial theatres. The number of billiard halls had fallen from 27
to just five.68 Numerous ailing businesses of mass entertainment, in many cases
operated by chains like Mecca, Top Rank or Odeon, went into decline after
1960, and entertainment subsequently moved into smaller, individually
managed premises. Working-class teenagers were particularly affected by
this development. As they lacked the cultural capital that was required to be
welcomed and acknowledged in more intimate club-like venues and were
easier to spot as members of groups, they were likely to be either put off by
what they considered as pretentious or kept out as trouble makers. This implies
that the social world of youth, which will be explored in the subsequent part of
this article, flourished for about a decade, before it was superseded by different
groups, spaces and conventions.
II. “Coolness” and “Hysteria”: Conventions of 1950s Youth
Streets, snack bars and entertainment venues became available for youth not
by design, but by chance, almost as a by-product of a fundamental
restructuring of post-war cities. It does not come as a surprise then that
none of these spaces unconditionally embraced and accommodated youth.
Instead, British variety theatres, dance halls and cinemas were run in a way
that they would appeal to a mass audience of all ages, offering affordable and
accessible entertainment. Similarly, snack bars were catering to the daytime
trade of adults as much as to youth in the evenings. This shaped the social
interaction among young people which will be analysed in this part of the
article. Its main point is that the social world of 1950s youth needs to be
understood as a set of conventions developed and strategically adopted by
adolescents to cope with concrete encounters in public spaces. While these
conventions first and foremost served to reduce social friction among youth in
an insecure environment, adult observers interpreted them as a challenge to
established rules, sometimes to a point where they perceived them as signals
from a counterworld. To illustrate this development, I will concentrate on
changes in dance hall conventions and the screaming of female teenagers at
pop singers’ performances in variety theatres, while pointing out similarities
in other spaces.
68 ECA, SL1/1, 400, Edinburgh Corporation Committee Minutes, Entertainment Licenses,
Magistrates, Session 1950 – 51, Edinburgh 1952, pp. 2 – 10; ECA, SL1 / 1, 415, Edinburgh
Corporation Committee Minutes, Entertainment Licenses, Magistrates, Session
1965 / 66, Edinburgh 1966, pp. 3 – 10.
58
Klaus Nathaus
1. From Courtesy to “Coolness”: Youth in Dance Halls and Streets
Dance halls had become the most important place for heterosexual courtship
in the interwar years and retained much of their ceremonious character into
the 1950s. In part, this was achieved by proprietors who took care that
potential trouble makers were kept out and that couples were able to dance
undisturbed. Dance halls were not licensed to sell alcohol on the premises, and
managers kept an eye on those patrons who returned after nipping out for a
drink in a neighbouring pub. Far more important than formal rules and
policing, however, were those features of dance halls that disciplined patrons
more subtly. The visual splendour of the grandly named “Palais”, “Plazas” and
“Rialtos” marked the evening in a dance hall out as a special occasion. It
conveyed the idea that patrons should live up to it by being dressed
appropriately and observing the rules of courtesy. Familiarity with fundamental dance steps was regarded as a necessity to enter a dance hall.
Contemporaries remember that young teenagers learned the ropes in 1950s
Edinburgh by either going to the YMCA or local church halls, attending a
dance school or taking part in Saturday morning sessions in Stewart’s
ballroom, where the owners, a married couple, would teach them the
essentials. These places are described as “dance nurseries” from where youth
advanced to the “adult world” of dance halls.69 Dance venues were ranked in
accordance to the standard of dancing, and so keen dancers often went to halls
where they could make use of their skills and were more likely to meet equally
proficient partners.
The seriousness of the dancing not only added to the sense of decorum, but
also gave patrons the license to approach members of the opposite sex. Men
and women usually sat at opposing ends of the hall, and men crossed the divide
to ask women for a dance. It was perfectly legitimate to approach a woman
without prior acquaintance, and asking for a dance was relatively easy. Neither
men nor women were required to do much talking; an ability to exercise basic
dance steps was sufficient to get going. Some dance halls had rules that
required women who declined an invitation for a dance to not accept the
invitation of another partner for its duration. Violation of this rule could lead
to the woman being asked by the management to leave the venue.70 The rule
indicates that the conventions of dance halls were devised to spare male
patrons the humiliation of being publicly rejected in favour of another man.
But not just male dancers were protected against embarrassment. Dancing
provided an opportunity for both men and women to temporarily enter an
exclusive and relatively close relationship without having to commit
69 Frank Ferri, Dancing Memories. 1950s, the Days of Dancing to Big Bands, unpublished
manuscript. See also Ferri’s and Bob Henderson’s recollections on Edinburgh History
Recollections, Dance Halls, www.edinphoto.org.uk/1_edin/1_edinburgh_history_-_recollections_entertainment_dance_halls.htm.
70 Tobin and Kielty, Are Ye Dancin’?, p. 36.
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Spaces and Conventions of Youth in 1950s Britain
59
themselves. If dance partners did not wish to pursue this temporary
engagement further, they let the end of the dance terminate the encounter
and went separate ways without having to explicitly state the potentially
hurtful demand to do so. Ballroom dancing allowed patrons to engage with
each other with generalised romantic intent while providing a mechanism to
withdraw without social friction.71 It worked as an inducement for romantic
encounters as well as a protection against the risk of losing one’s face. And
given that patrons had to put themselves out in the pursuit of love, this risk was
considerable.
In addition to dancing, traditional halls offered further aids to pursue a
romantic interest. Dancing competitions, talent contests, games and live
performances of “name” bands and singers which were hosted at larger halls
like Edinburgh’s Palais de Danse lend themselves as topics for light-hearted
conversation, so that dancers were not depending on stale chat-up lines.
Patrons of the Palais were also offered a small corner bar, suggestively named
Cupid’s Corner, as a retreat from the highly observed dance floor where
romantic conversation could ensue.72 Space and conventions made dance halls,
as they became established in the 1930s, a place where courtship flourished
and many lasting relationships were formed.73 The key to this was that its
conventions provided men and women with a script that assured both parties
of what they could expect from each other and guided them how to continue or
cease their engagement.
In the course of the 1950s, this script became less and less reliable due to
changes in and around the dance halls. To begin with, the reputation of the
halls declined as proprietors were cutting costs. The closing of venues and
tighter budgets for music and interiors undermined the glamorous image of
dance venues. In Edinburgh, towards the end of the period under study, a
number of dance halls were licensed only temporarily and under the condition
that certain repairs were undertaken,74 indicating that halls were losing some
of their splendour before they were ultimately converted or closed down.
Furthermore and as mentioned above, frequent press articles about “disturbances” in and around dance halls brought these venues into disrepute.
Staging events such as a “Marilyn Monroe Wiggle Contest” did not help in that
71 This is well captured in the description of a dance event in a Yorkshire mining town by
Norman Dennis et al., Coal is Our Life. An Analysis of a Yorkshire Mining Community,
London 1956, pp. 125 – 127.
72 See images of the Palais de Danse in the Scran collection at www.scran.ac.uk.
73 It is often reported that relationships leading to marriage started in dance halls. See
Raymond A. Thomson, Dance Bands and Dance Halls in Greenock, 1945 – 1955, in:
Popular Music 8. 1989, pp. 143 – 155, here p. 149, and recollections at Edinburgh History
Recollections, Dance Halls.
74 ECA, SL1 / 1, 408, Edinburgh Corporation Committee Minutes, Magistrates, Session
1958 / 59, Edinburgh 1960, pp. 10 f.
60
Klaus Nathaus
respect and is reminiscent of desperate attempts of variety theatres and
cinemas to regain audiences with titillating attractions.75 The decline of the
halls’ reputation is reflected in the public perception of dance hall staff.
Ballroom attendants or stewards, as they had been titled by managements
striving for respectability, were now commonly referred to as “bouncers”.
There was a widespread assumption that this personnel was inclined to
maintain order with fists rather than words and was therefore at least partly
responsible for dance hall fights.76 In effect, visiting the 1950s palais de danse
became regarded less of a special occasion and was increasingly associated
with cheap entertainment.
Outside the halls, the balance on the “love market” shifted, affecting the
relations and behaviour in dance venues.77 Firstly, post-war youth, particularly
working-class men that earned higher wages, had more money to spend than
young people of earlier days and better job prospects than their parents. This
nurtured a sense of entitlement that was not accommodated in traditional
dance halls. While working-class male youth expected dance hall rewards to
increase with their purchase power, the established conventions expected them
to be content with an apprentice role and to learn the rules of courtship before
they could move up to the adult world. Secondly, in many parts of the country
the presence of American servicemen disadvantaged local men on the love
market. Not entirely unfounded, male youth felt that British women were
particularly attracted to U. S. soldiers.78 At times, tensions cumulated in fights
between Americans – who in Edinburgh’s Palais de Danse occupied their own
section of the hall known as “Yanks Corner” – and local males about girls.79
Less combative British men emulated their foreign contenders by wearing
75 Tobin and Kielty, Are Ye Dancin’, p. 39.
76 Geoff Mungham, Youth in Pursuit of Itself, in: id. and Geoff Pearson (eds.), Working
Class Youth Culture, London 1976, pp. 82 – 104, here p. 87. For an Edinburgh example
see N. N., City Bailie Hits Out at “Bouncers”. Dance Hall Youths Found Not Guilty, in:
Edinburgh Dispatch, 5. 8. 1960.
77 For similar market arguments see Robert Roberts, The Classic Slum. Salford Life in the
First Quarter of the Century, Manchester 1971, pp. 189 – 191, refering to the imbalance
between the number of nubile men and women after the First World War. On the effects
of capitalism on social dancing in late twentieth-century Shanghai see James Farrer,
Dancing Through the Market Transition. Discotheque and Dance Hall Sociability in
Shanghai, in: Deborah Davis (ed.), The Consumer Revolution in Urban China, Berkeley
2000, pp. 226 – 249.
78 GIs were generally considered better dancing partners, see McKibbin, Cultures and
Classes, p. 396, as well as potential husbands. In 1953, there were two hundred marriages
between U. S. servicemen and British women per month. See Pat Kirkham, Dress, Dance,
Dreams, and Desire. Fashion and Fantasy in Dance Hall, in: Journal of Design History
8. 1995, pp. 195 – 214, here p. 207.
79 Ferri, Dancing Memories.
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Spaces and Conventions of Youth in 1950s Britain
61
similar clothes, sporting a Zippo lighter and adopting an American accent to
make a favourable impression on women – another example of how youth drew
on available symbolic repertoires to develop a behavioural style.80 Thirdly, the
fact that young men between 17 and 21 were temporarily called away for
National Service further complicated courtship, throwing up questions of trust
and the investment into a romantic relationship.
As the dance halls’ shine faded, adult dancers retreated, and the competition
among young men intensified, youth developed new conventions to negotiate
an increasingly uncertain, potentially embarrassing situation. One face-saving
strategy was to demonstrate disinterest and observe the dance hall scenery
with “cool” detachment. When Edinburgh’s magistrates contacted London
County Council to find out how the capital’s administration regulated the
admission to dance halls, London’s City Architect shared his observation that
some of these venues in his area had developed into “a kind of social centre
where the majority of those present do not dance but appear to be satisfied
to stand in groups in any space that may be available.”81 In combination
with a “killing look”82 and a cigarette as a prop, the strategy of not making a
move, just holding one’s ground and acting as if one was above the situation
protected young men from being disappointed which became more likely as
older ballroom conventions deteriorated. American-style gangster and western movies, which had been popular in Britain since the 1930s, offered a
repertoire of appropriate poses, looks and expressions that youth took up and
applied to the situation at hand. Given the available models, coolness lent itself
to be deployed by boys and men. But emotional detachment was also applied
by girls who were prepared to retort an unwelcome advance with snappy
remarks like “Is that meant to be a moustache or has your eyebrow come down
for a break?”83
In combination with coolness, affiliation to an in-group promised security as
well as recognition from members of the other sex. This made the Teddy Boy
style so attractive to adopt that young men risked being turned away by
bouncers, an experience that incidentally provided boys with material for “war
stories” which could enhance their reputation and strengthen group ties. Catcalls and gestures to policemen who were patrolling dance halls were similar
strategies employed by young men to impress their peers. In rare cases, such
80 Steve Chabnill, Counterfeit Yanks. War, Austerity and Britain’s American Dream, in:
Philip John Davies (ed.), Representing and Imagining America, Keele 1996,
pp. 150 – 159, here pp. 154 – 158; Ferri, Dancing Memories.
81 ECA, SL1 / 1, 404, Edinburgh Corporation Committee Minutes, Magistrates, Session
1954 – 55, Edinburgh 1957, p. 135.
82 Mungham, Youth in Pursuit of Itself, p. 87.
83 Tobin and Kielty, Are Ye Dancin’?, p. 17.
62
Klaus Nathaus
bravado escalated into gang fights and vandalism.84 When young men dressed
as Teddy Boys did find a way into the halls, they stood out and attracted the
attention of girls. Awoman from the Scottish town of Kirkcaldy remembers the
seemingly irresistible appearance of this group in her local ballroom, stating
that “[y]ou were supposed to ignore them but they looked so smart”. She
recalls that she and her female friends were “a bit wild-eyed that first Saturday
nights when the Teds came in”, but that she “decided to take a leaf out of their
book and act as nothing bothered me.”85 This quote underlines that emotional
detachment was employed by boys and girls alike and that protection as well as
recognition could be gained from that strategy. It also suggests that cool
conduct was contagious because it forced others to reconsider their behaviour,
thereby spreading the uncertainty that was at the heart of the shift of
conventions.
While coolness eroded older conventions of dancing, it proved to be
compatible with new rhythmic movements. In its most rudimentary form,
this meant that boys were “jumping about”,86 partly to signal that they were at
ease, partly to capture the attention of girls. Boys could do this without having
to leave the protection of their group. For “jiving”, they had to go a step further,
as they needed a female partner. Barely expressing a request, they approached
a girl with the least amount of ceremoniousness, cooly picking her out from her
group of friends. Edinburgh writer Muriel Sparks has sketched such a situation
in her novel about young wage earners in 1950s Peckham and gives us an idea
how this risky manoeuvre might have been undertaken. Note how both the
male show of “dƒsinvolture” and the seemingly half-hearted acceptance by the
female downplay the significance of the encounter :
Most of the men looked as if they had not properly woken from deep sleep, but glided as if
drugged, and with half-closed lids, towards their chosen partner. […] The actual invitation to
dance was mostly delivered by gesture; a scarcely noticeable flick of the man’s head towards
the dance floor. Whereupon the girl, with an outstretched movement of surrender, would
swim into the hands of the summoning partner.87
The jive was still danced in pairs, but because it increased the distance between
the partners, involved a lot of turning around and was much more energetic
than standard dances, it hampered conversations among the couples. Dance
hall managers saw jiving as a disturbance of other dancers. They restricted or
banned it, forcing jivers into the corners of halls. There the young people
started their dance, aiming at members of the opposite sex who were as much
invited to watch as to dance. Rather than serving as a starting point for an
84 William Merrilees, The Short Arm of the Law. The Memoirs of William Merrilees, Chief
Constable of the Lothians and Peebles Constabulary, London 1966, pp. 171 – 174.
85 Tobin and Kielty, Are Ye Dancin’?, p. 36.
86 Ibid., p. 39.
87 Muriel Spark, The Ballad of Peckham Rye [1960], London 1999, p. 58.
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Spaces and Conventions of Youth in 1950s Britain
63
exclusive relationship between single men and women like the standard steps,
the conspicuous and spectacular jive alleviated the formation of groups.
Contemporaries remember that crowds clustered around the jivers, encouraging them with rhythmic claps.88 Getting involved in this way freed so-called
wallflowers from having to wait for a dance invitation and spared boys the
embarrassment of meeting with a rebuff. Compared to older styles of dancing,
the jive was, once it got going, more inclusive as it allowed teenagers who would
normally have been left to wait for a partner to take part in the action.
On the downside, this communal form of sociality minimised the chances of
romantic togetherness. As it offered no conventions to start such an encounter,
romance had to be arranged elsewhere and by other means. Furthermore, the
formation of jiving in-groups created tensions with other dancers. Patrons
who were not involved in the scene as well as dance hall staff were likely to be
irritated, if not offended by groups of jiving teenagers. The problem was
probably less the flying limbs of jivers as the perception that youth collectively
opted out of established conventions and challenged “normal” dancers. This in
turn could confirm an increasingly widespread perception that contemporary
teenagers caused trouble, even if they only developed strategies to cope with
uncertainty.
Similar tensions between adult occupants of a space and figures of authorities
on one side and youth on the other can be observed on urban streets. As part of
their campaign to facilitate free-flowing traffic and prevent accidents, city
administrations and police appealed to drivers, cyclists and pedestrians to
show more consideration for each other. Courtesy became a key concern of
traffic policy. In Edinburgh, for instance, the Chief Constable in 1951 started
an initiative to officially acknowledge “exceptional acts of road courtesy” of
drivers and pedestrians with a congratulatory letter of thanks.89 Convinced
that mutual obligation was pivotal to solve the mounting problems of increased
traffic, Edinburgh’s authorities referred to the conventions of politeness.
Against the backdrop of courtesy, teenage behaviour on streets appeared ever
more “troublesome”: Loitering, street football, betting, minor cases of arson
and vandalism such as throwing stones at street lamps, theft, cycling
on footpaths, fighting and the use of air rifles, to name common forms of
“doing nothing” which were frequently brought to Edinburgh’s court in the
1950s,90 seemed increasingly suspicious and threatening as the authorities
expected road users to behave rationally. Confronted with this view and under
close observation, teenagers adopted a conscious stance of territoriality,
88 Tobin and Kielty, Are Ye Dancin’?, p. 39.
89 ECA, ED006 / 1, 92, Edinburgh City Police, Annual Report on State of Crime and Police
Establishment, Edinburgh 1951, p. 19.
90 For numerous examples see ECA, Records of Edinburgh Burgh Court for January,
February, May, June and August to October 1951, January 1952 and August to September
1955 (boxes not indexed).
64
Klaus Nathaus
defiance and insubordination. Like in dance halls, challenging prescribed
courtesy, a contradiction in itself, offered opportunities to show bravado,
which in turn was awarded with peer recognition and strengthened group ties.
Tensions between young people and the authorities were increased by the fact
that, while the latter took the responsibility to make streets safe and userfriendly, they found that they lacked the personnel to deal with trouble
satisfactorily. In Edinburgh, the police reported that many officers left the
service and that it was increasingly difficult to attract able recruits, as lack of
housing, shift work and better pay in other occupations convinced potential
candidates to look for other jobs.91 Officers with less experience, training or
talent were in turn more likely to escalate situations and add to the general
impression that youth was out of bounds.92
Similar constellations and strategic responses to changing environments can
be observed in other venues and spaces. Adults were fewer in numbers and
represented by figures like cinema proprietors and theatre managers whose
authority declined with their reputation and pay. The many Italians who ran
snack bars were disadvantaged to begin with, English not being their mother
tongue and working at the lower end of the catering trade.
2. “Hysteria” as Knowingness: Female Adulation of Pop Stars
In contrast to the coolness displayed on streets, in dance halls and in snack
bars,93 teenage girls who visited variety theatres to see the performance of U. S.
record stars showed seemingly unrestrained excitement. One of the first
American singers of record fame to appear on the British stage was Frankie
Laine, announced in Britain as “Mr Rhythm”. He was a major hit at the London
Palladium in August 1952 before he went on to perform in Blackpool, Leicester,
Manchester and Glasgow. Apart from ticket sales, the more than enthusiastic
response from teenage girls was taken as an indicator for Laine’s success. The
U. S. entertainment trade paper Billboard, accustomed to that kind of audience
behaviour, reported back that “the words of whatever lyric has been specially
written for his introduction to London were lost in the shrieking and
screaming which greeted his first agonizing contortions.”94 British media was
less familiar with the phenomenon of teenage girls screaming in excitement.
The British Stage wrote about the same show that
91 ECA, ED006 / 1, 89, Report on the State of Crime and the Police Establishment of the
County of the City and Royal Burgh of Edinburgh, Edinburgh 1948, p. 4.
92 For the complex, “all-round” requirements of policemen as “peace officers” see Michael
Banton, The Policeman in the Community, London 1964, pp. 176 – 187.
93 For the latter see Richard Hoggart’s famous account of the “juke-box boys” in his book
Uses of Literacy, pp. 202 – 205.
94 The London Palladium, in: Billboard, 30. 8. 1952, p. 17 and p. 42, here p. 17.
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Spaces and Conventions of Youth in 1950s Britain
65
[o]lder members of the audience were puzzled by the extraordinary enthusiasm and ‘swoon
noises’, but sat back patiently, hoping that enlightenment would come to them, and from
time to time they were won over by the magnetism, showmanship and inhibited singing of a
likeable personality who seems completely absorbed in his many numbers, and who
certainly has a talent for hitting and holding a final note.95
Taking the perspective of established show business, the Stage preferred to
judge Laine’s performance on charisma and craftsmanship and found youths’
enthusiasm rather exaggerated, not to say inappropriate.
In subsequent years, bewildered and slightly amused accounts of teenagers’
reactions to “swoon singers” appeared frequently in newspapers. Journalists
heard “squeals, moans, dying sighs” and sensed “restless ecstasy”, “delirium”
and “electric thrills”. Teenage girls were apparently “mesmerised by the magic
suggestions of the singers’ voices”. Reporters noticed juvenile spectators
jumping up from their seats, leaning over railings, swaying, seemingly unable
to control their legs and barely keeping their consciousness. They described
girls clamping their hands and sometimes holding on to one another. Singers
were thought to provoke these collective responses with their emotionally
charged, highly expressive delivery. The thin, fragile-looking Johnny Ray
became famous for performing near nervous breakdowns while singing his
1952 hit “Cry”, while the square-jawed, bullish Laine was constantly moving,
bawling at his microphone and caressing it, going through a register of
emotions from anger over laughter to soppiness and back in the course of forty
minutes. Working hard to get a response from their audiences, the modern
rhythm singers were only partly in control of their fans. As Laine put it,
“[s] ometimes I know where I can make ‘em yell […] and I play for it.
Sometimes it just happens when I’m not expecting it.”96
Boys or young men are never mentioned explicitly in these newspaper reports,
but are likely to have been included in mentions of the “teenage crowds”.
Apparently, they did not engage in the screaming regardless of whether the
performer was male or female. It is quite possible that they reverted to
coolness, a behavioural strategy that appears the more effective and gratifying
the greater the excitement the cool persona manages to resist.
The seemingly hysterical behaviour of girls has at times been interpreted as “a
scream of sexual release”,97 an interpretation that takes the apparent
95 Round the Halls. The Palladium, in: The Stage, 21. 8. 1952, p. 5.
96 Quoted in Peter Chambers, The Bobbysoxers Once Loved Sinatra – Now They Swoon
over “Mr Rhythm”, in: Aberdeen Evening Express, 23. 8. 1952, p. 4. For similar
descriptions see Round the Halls. Palladium, in: The Stage, 8. 4. 1954, p. 5; Ray’s a
Scream. Madness Bill at the Palladium, in: ibid., 8. 5. 1958, p. 4. For Edinburgh see
Empire. Frankie Laine, in: The Scotsman, 28. 9. 1954, p. 5; Empire. Johnny Ray, in: ibid.,
10. 5. 1955, p. 5.
97 Francis Cassidy, Young People, Culture and Popular Music, in: Youth Studies 10. 1991,
pp. 34 – 39, here p. 38.
66
Klaus Nathaus
irrationality of this conduct at face value and presumes a pressure-cooker
model of female sexuality. Alternatively, female teenagers’ screams and shrieks
have been analysed as a form of female empowerment and rebellion and thus
interpreted as early stirrings of resistance against the conformity of “mass
society” which erupted on a greater scale in the subsequent decade.98 While
this approach acknowledges young women’s agency, it may overstate the
political meaning of the female adulation of pop stars and projects intentions
onto this behaviour which the actors themselves would have been unaware of.
A way to explore British teenage screams at Johnny Ray and Frankie Laine in
the early 1950s more closely to the situation is to describe it as a display of
“knowingness”. This term has been proposed by Peter Bailey to account for
what he calls a “conspiracy of meaning” between performers and workingclass audiences in nineteenth-century British music halls. According to Bailey,
spectators who were “in the know” joyfully and conspicuously uncovered
hidden meanings of music hall songs, often, but not necessarily aided by
singers dropping their character mask for a moment and indicating an allusion
with a wink, a gesture or a meaningful pause. In this way, singers delivered
material loaded with innuendos aimed at a complicit audience, to the chagrin
of moral reformers who had problems banning such “vulgarities” from stages
as they found it difficult to prove actual indecency.99 In the early 1950s,
something similar happened as British teenage girls established an equally
conspirative relationship with their stars and other audience members who
demonstrated that they were in the know through their swaying, swooning and
screaming. In this case, the relevant knowledge consisted of conventions which
had been developed in America at least ten years earlier.100 Engaging in this
practice offered British teenagers the self-gratification of being part of a
selected audience that was able to communicate with American swoon singers
in the way it was done in their home country. Screaming themselves to a state of
near unconsciousness, girls claimed their own time, space and meaning in
what was still very much a traditional variety setting. As in the dance hall these
new conventions facilitated the formation of an in-group of youth that rubbed
up against audiences who were not in the know and found the noise irritating,
if not obnoxious. In this respect, teenage girls succeeded nineteenth-century
working-class audiences. Both were castigated and ridiculed for their “bad
98 In reference to audience reactions at Beatles concerts see Barbara Ehrenreich et al.,
Beatlemania. Girls Just Want to Have Fun, in: Will Brooker and Deborah Jermyn (eds.),
The Audience Studies Reader, London 2003, pp. 180 – 184.
99 Peter Bailey, Conspiracies of Meaning. Music-Hall and the Knowingness of Popular
Culture, in: Past & Present 144. 1994, pp. 138 – 170.
100 Frank Sinatra, singing with the band of Benny Goodman, encountered this kind of
audience response in December 1942. See Jon Savage, Teenage. The Creation of Youth
1875 – 1945, London 2008, pp. 442 f.
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Spaces and Conventions of Youth in 1950s Britain
67
taste” and lack of emotional restraint, but reaped self-gratification from their
competence to understand hidden meaning and follow unwritten codes.
The establishment of coolness and enthusiastic screams as new conventions of
youth’s social conduct was greatly facilitated by recorded culture. Films,
teenager magazines and recorded music provided repertoires of poses and
slogans, hair styles and fashions, plots, rhythms, sounds and songs. These were
adopted and worked into social conduct by young people to meet a favourable
response from peers, who could be expected to know about those conventions
because these media were widely available. The common reference to popular
culture also unifies the seemingly disparate forms of behaviour discussed here.
While being gendered, site-specific and different in their emotional temperature, coolness and overt enthusiasm refer to the same body of knowledge
contained in popular media content.
Shared knowledge enabled youth to communicate in surroundings where
older scripts were losing their authority, in turn making it essential for youth to
be up-to-date. To some extent, this was done in private by reading star
magazines like the Picturegoer (1921 – 1960) or the New Musical Express
(NME), first published in 1952. The NME charts provided a focus on current
pop songs relevant to youth. But record players were still very expensive for the
majority of young people so that their presence in adolescents’ bedrooms
should not be overestimated. Television was occupied by adults and offered
little which was of genuine interest for younger viewers; portable radios were
still uncommon, sets at home controlled by parents and Radio Luxembourg,
the main station for pop music at the time, difficult to receive.101 As a
consequence, relevant sounds and images were still consumed primarily in
variety theatres, cinemas and juke-box cafƒs rather than at home. And as the
social world of youth in this period was formed in public, the communicative
value of popular culture was explored immediately, which required a fair
amount of courage and improvisational skills and allowed for considerable
creativity. Selecting a particular record on the juke box, jiving in cinema aisles
to Rock ‘n’ Roll songs and attending concerts of recording stars was both a way
to acquire and to display knowledge. This tied relevant knowledge to presence
and practice, and so learning and employing the pop tool kit contributed to the
communal experience of 1950s youth as well as the high visibility of young
people’s behaviour that provoked irritation among outside observers.
101 Horn, Juke Box Britain, pp. 76 f.
68
Klaus Nathaus
III. Spaces, Conventions and Social Change: Concluding
Remarks on the Oppositional and Transformative Character of
1950s Youth
Suburbanisation and domesticity, combined with structural changes in the
entertainment sector, affected the built landscape of post-war British cities,
opening up more opportunities for youth to socialise with less adult supervision.
With changes in the clientele occupying public spaces, social relations began to
shift. The occupational status of dance hall owners, cinema proprietors and theatre
directors declined, while young wage earners, with better pay and job prospects,
expected to be taken seriously. They also became more self-assured when they
faced the police, who found that the deference that had been shown to their
authority was beginning to wane. Older conventions, based on courtesy and a
clear, hierarchical distinction between adults and adolescents, were no longer
reliable to guide people’s social conduct. In this situation, youth developed
emotional detachment and displays of overt enthusiasm as “cool” and “hot”
strategies to cope with increased insecurity and to navigate the public spaces
where adolescents socialised.
In effect, young people in post-war Britain established a social world with a set of
common practices bound together by a network of communication. In contrast to
older conventions which had guided youth to take first steps into the adult world as
individuals, the new codes of conduct in dance halls, on streets and in variety
theatres alleviated the formation of age-specific groups, such as the so-called
Teddy Boys who gained the assurance and recognition of being part of a gang,
crowds of jiving youth who partook in a communal event and screaming female
teenagers who collectively got involved in a “conspiracy of meaning”. It is
noteworthy that this development started in the early 1950s, which suggests that
the influence of Rock ‘n’ Roll music which appeared in the second half of the
decade might have been overstated in historical studies.102 It also underlines the
importance of spatial changes for the emergence of youth culture as well as the
creativity of young people who developed their new conventions from less than
rebellious cultural repertoires.
While this analysis stresses the active part youth played in the establishment of
new behavioural conventions among themselves, it also finds young people’s
agency limited by developments on which they had very little influence indeed.
Youths’ continued presence in variety theatres, cinemas, dance halls and billiard
salons did not prevent the rapid disappearance of many of these venues
throughout the decade. Their way of appropriating spaces did by and large not
force owners and managers to accommodate their needs. And in contrast to the
decade that followed, affiliates of 1950s youth culture did not in greater numbers
enter the film, music, fashion or advertising business to radically transform them.
102 See, for instance, Gildart, Images of England.
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Spaces and Conventions of Youth in 1950s Britain
69
To conclude this point, 1950s youth made their own social conventions, not as they
pleased, but under given circumstances.
To adult observers, the particular behaviour of adolescents appeared incomprehensible, inappropriate and sometimes threatening. While young people devised
new codes of conduct primarily as face-saving strategies, outsiders who felt
challenged perceived them as an expression of aimless rebelliousness. In principle,
this has been repeated by social scientists and historians who interpret youth’s
behaviour as a manifestation of resistance instead of looking for its social meaning
closer to the particular situations where it occurred, and from where it was not
necessarily transferred to other social realms.
The social world of 1950s youth can hardly be described as a self-conscious
counterworld, as it lacked a formulated world view and an agenda for social
transformation. However, young people’s cool or hysterical behaviour violated
prevalent notions of courtesy and acceptable conduct and thereby created tensions
with outsiders. It was the external attribution from outsiders who sought to
maintain established conventions that turned youth culture into a counterworld,
not so much young people’s actions as such. Tensions between adolescents and
observers were exacerbated by the fact that British entertainment venues
continued to address an undifferentiated mass audience. This meant that youth’s
experiments with social conventions happened publicly, in spaces open to the
majority of people and in the presence of outsiders. In this respect, the British case
shows differences to developments in America, where adolescents were targeted
explicitly and systematically as a distinct teenage audience earlier on and had their
own spaces to engage with culture. In the United States, Rock ‘n’ Roll and teenpics
were aimed at young people who in greater numbers than their British peers
owned transistor radios and portable record players, did not have to share their
bedrooms with siblings, had access to cars and telephones and were thus able to
consume popular culture in secluded settings.103
The coherence of the social world of 1950s British youth was based on repertoires
drawn from commercial popular culture and its continuity was guaranteed first
and foremost by repeated encounters in particular venues. Many teenagers
became relatively “normal” adults by 1950s standards once they stopped
frequenting dance halls and snack bars, usually as a consequence of marriage,
which illustrates the importance of spaces and reiterating practices for the
understanding of their social world. To some extent, youth conventions were
adapted and added to by subsequent youth generations who consciously linked
them to political issues and identities. It could be argued that the advances of 1950s
youth paved the way for subsequent generations to either formulate discontent or
construct identities from elements of popular culture, as sociological and
historical studies commonly do. A closer look, however, reveals marked
103 Sarah Thornton, Club Cultures. Music, Media and Subcultural Capital, Cambridge 1995,
pp. 16 f.
70
Klaus Nathaus
differences between the social world of 1950s adolescents and subsequent youth
cultures. In the 1960s, a more articulate, better educated cohort of young people
transformed youth into a self-reflexive counterculture. In the course of this
development, class and gender divisions within youth culture were realigned as
parts of popular music became “serious”, artistically aspirational, politically
relevant, middle-class and male, while the disarmingly affirmative screams of
female teenagers and the blunt disinterest of adolescent boys were considered
na‡ve. Whereas 1950s popular culture addressed youth as a mass audience, from
the 1960s it became ever more fragmented, hierarchical and exclusive.104
With these differences in mind, 1950s British youth appears not so much as the
harbinger of subsequent subcultures or scenes, but as an inheritor of a declining
mass culture that had originated in the late nineteenth century and flourished in
the years between the World Wars. Periodically, it appears during events like the
football World Cup or other televised events and surprises us that beyond all the
special interests and lifestyle “tribes” that have proliferated since the 1960s there
still is “mainstream” entertainment. Young people of the 1950s were the last to
occupy the then ubiquitous theatres, cinemas and dance halls that had offered
accessible and affordable entertainment for the majority of the people, provided
for by national chains and traditional show business impresarios. Soon after, these
spaces made way for smaller, club-like venues which were often run by a new type
of entrepreneur with countercultural credentials and connections. As inheritors of
mass culture, 1950s youth found themselves confronted with similar ridicule and
moral panics as nineteenth-century workers visiting music halls and seaside
resorts. Like them, young people in the 1950s found ways to engage with relevant
peers on their own terms, in effect blocking out attempts at moral reform that very
much resembled earlier initiatives to instil “rational recreations” into the working
classes.105 While 1950s youth established new and distinct behavioural conventions which to some extent reappeared in subsequent subcultural styles, young
people in this decade were also inhabitants of a vanishing world of mass culture, a
world that became outdated as parts of popular culture were transformed into
counterculture.
Prof. Dr. Klaus Nathaus, University of Oslo, Department of Archaeology,
Conservation and History, Postboks 1008, Blindern, 0315 Oslo, Norway
E-Mail: klaus.nathaus@iakh.uio.no
104 For this line of argument see Elijah Wald, How the Beatles Destroyed Rock ‘n’ Roll. An
Alternative History of American Popular Music, Oxford 2009.
105 The parallels are observed by Kate Bradley, Rational Recreation in the Age of Affluence.
The Cafƒ and Working-Class Youth in London, ca. 1939 – 1965, in: Erika Rappaport et al.
(eds.), Consuming Behaviours. Politics, Identity and Pleasure in Twentieth Century
Britain, London [2015].
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„Der freie Mensch fordert keine Freiheiten, er lebt
einfach“
Die Nestoren des DDR-Naturschutzes und die
Herausbildung einer reformbewegten Gegenwelt
von Astrid Mignon Kirchhof *
Abstract: Erna and Kurt Kretschmann were the pioneers of environmental conservation in the GDR. Their philosophy, rooted in nineteenth-century reformist
movements, and their ideals and principles constituted a counterworld in opposition
to the ideology promoted by the state’s ruling party, the SED. This article analyzes the
development and consolidation of this counterworld, discusses its effects on the SED
dictatorship and examines how and to what extent the environmental movement of the
1980s adopted the Kretschmanns’ principles in the GDR. This account of an aspect of
non-compliant behavior in the GDR provides us with a new analytical tool to approach this field of GDR research.
Es muss im Januar 1978 gewesen sein, als ich Erna und Kurt Kretschmann kennengelernt
habe. Ich fuhr zu dem zweiten Klavierabend nach Bad Freienwalde. […] Im Sommer
besuchte ich sie mit meinem Sohn in ihrem wunderschönen ,Haus der Naturpflege‘. Ich war
überwältigt von diesem Paradies. Es störte mich jedoch sehr, dass die Besucher dieses
Gartens keine Rücksicht nahmen. Die Kinder aus der russischen Kaserne klauten z. B.
Blumen, die Muttis mit den Kinderwagen fuhren durch die Beete und die anderen Besucher
nahmen Samen mit. Mich störte das so sehr, dass ich all diese Leute zur Ordnung rief und
ihnen verbat, den Garten zu plündern. Daraufhin mischte sich jedoch die wundervolle Erna
ein mit der Bemerkung: ,Lass sie doch! Die Russenkinder bringen ihren Muttis Blumen, das
ist gut; die Babys sollen im Garten spazieren fahren und die Samen sollen die Leute
weiterpflanzen. Der Garten ist nicht nur für uns, der Garten ist für alle da.‘ […] Seit dieser
Zeit sind Erna und Kurt Kretschmann für mich die großen Vorbilder gewesen und bleiben es
für immer. […] Die Freundschaft mit Erna und Kurt […] hat mir eine neue Lebensweise
eröffnet.1
Erna und Kurt Kretschmann gelten als die Nestoren des Naturschutzes in der
DDR. Nach dem Zweiten Weltkrieg bekleideten sie verschiedene ehrenamtliche Positionen in der Naturschutzverwaltung sowie bei den Natur- und
Heimatschützern im Kulturbund, und übernahmen 1954 die Leitung der
* Ich danke Nina Leonhard für die umsichtigen Kommentare, von denen der vorliegende
Artikel sehr profitiert hat.
1 Galina Iwanzowa, Für immer in meinem Herzen, in: Haus der Naturpflege e.V. (Hg.),
Erinnerungen an Erna Kretschmann (1912 – 2001), Bad Freienwalde 2012, S. 9 – 11, hier
S. 9 f.
Geschichte und Gesellschaft 41. 2015, S. 71 – 106
q Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2015
ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000
72
Astrid Mignon Kirchhof
weltweit ersten Lehrstätte für Naturschutz, die im heutigen Bundesland
Mecklenburg-Vorpommern lag. Ab 1960 schieden sie jedoch weitgehend aus
den offiziellen Strukturen des Systems aus und bauten das im obigen Zitat
erwähnte Haus der Naturpflege im brandenburgischen Bad Freienwalde auf.
Auf dem gepachteten Grundstück lebten sie nicht nur materiell autark,
sondern organisierten auch ein an bürgerliche Salonkultur erinnerndes
öffentliches Natur- und Kulturzentrum. Hier empfingen sie über Jahrzehnte
Gäste aus dem In- und Ausland, die sich mit ihnen über Naturschutzfragen
austauschten und untereinander vernetzten. Mit einer Lebensphilosophie, die
auf den Idealen der Reformbewegung des 19. Jahrhunderts aufbaute, schufen
die Kretschmanns so eine Gegenwelt, die in merklichem Widerspruch zu der
von der SED propagierten Lebensweise stand. Dieser gegenweltliche Handlungsraum, in dem Werte und Ideale verhandelt und weitergegeben wurden,
basierte auf der kollektiv geteilten Überzeugung eines notwendigen Naturund Umweltschutzes sowie der Möglich- und Notwendigkeit eines harmonischen Lebens im Einklang mit der Natur. Erna und Kurt Kretschmann hingen
einer Weltanschauung an, die das Individuum und seine Freiheiten in den
Mittelpunkt stellte. Das Ehepaar trat für eine Selbstreform des eigenen Lebens
ein und glaubte daran, dass diese wirksamer sei als Reformen des Staates, weil
gesellschaftliche Veränderungen vor allem durch einsichtige, überzeugte und
selbstverantwortliche Menschen erreicht werden könnten. Da in der marxistischen Überzeugung jedoch Reformen vom Staat ausgehen, stand in der DDR
die staatlich gelenkte Lebensweise im Vordergrund und nicht die individuelle,
wie es die Reformbewegung propagierte. Auch die offizielle Naturschutz- und
Umweltpolitik folgte der marxistischen Maxime. Damit befanden sich Erna
und Kurt Kretschmann in einem schwer aufzulösenden Konflikt gegenüber
dem SED-Staat, den sie gleichwohl grundsätzlich befürworteten. Darüber
hinaus baute die DDR auf der vollständigen Lenkung und Kontrolle von Staat
und Gesellschaft durch die Partei auf: Wer diese Kontrolle und vermeintliche
Stabilität infrage stellte, wurde selbst zur Bedrohung. Wie lässt sich die nonkonforme Lebensweise des Ehepaares unter diesen Bedingungen fassen? Wie
war es möglich, dass in einer „durchherrschten“ Gesellschaft wie der DDR ein
eigenes Universum, ein spezifischer Kosmos jenseits offizieller Strukturen
geschaffen werden konnte, der unter den Augen von SED und Staatssicherheit
über Jahrzehnte existierte?2
Ziel dieses Beitrags ist es, den herkömmlichen Ansätzen zur Erklärung nonkonformen Verhaltens in der DDR eine weitere Analysemöglichkeit an die
Seite zu stellen, da gängige methodische Konzepte zur Erklärung der
2 Jürgen Kocka, Eine durchherrschte Gesellschaft, in: Hartmut Kaelble u. a. (Hg.),
Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, S. 547 – 553, hier S. 548; Alf Lüdtke, ,,Helden
der Arbeit“ – Mühen beim Arbeiten. Zur missmutigen Loyalität von Industriearbeitern
in der DDR, in: ebd., S. 188 – 213, hier S. 188.
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Die Nestoren des DDR-Naturschutzes
73
Kretschmann’schen Philosophie und Lebensweise nicht greifen. So kann das
Ehepaar nicht zur DDR-Opposition gerechnet werden. Oppositionelles Verhalten zeigte sich laut Rainer Eckert darin, dass Distanz und zeitweilige
Ablehnung des Staates mit der Absicht einer Reform des Realsozialismus offen
artikuliert wurde, wobei die hergestellte Öffentlichkeit den Unwillen und die
Schikanen des Regimes nach sich zogen.3 Christoph Kleßmann versteht
demgegenüber Opposition gleichbedeutend mit Widerstand: Er erklärt
Opposition als bewusste, zumindest partielle Gegnerschaft mit dem Ziel des
Systemumsturzes.4 Obwohl die Kretschmanns vor allem in den ersten Jahren,
bis 1960, zum Teil mit starker Kritik an ihrer Naturschutzpraxis durch
Vorgesetzte, Verwaltung und die Staatssicherheit konfrontiert waren, hatten
sie nie den Systemsturz im Sinn und traten auch nicht offen oder provokativ
für Systemreformen ein.5 Damit gehörten sie durchaus zur Mehrheit der DDR3 Rainer Eckert, Widerstand und Opposition. Umstrittene Begriffe der deutschen
Diktaturgeschichte, in: Ehrhart Neubert u. Bernd Eisenfeld (Hg.), Macht – Ohnmacht
– Gegenmacht. Grundfragen zur politischen Gegnerschaft, Bremen 2001, S. 27 – 36.
4 Christoph Kleßmann, Opposition und Resistenz in zwei Diktaturen in Deutschland, in:
HZ 262. 1996, S. 453 – 479. Zur Oppositionsbewegung der DDR wurde in den letzten
zwanzig Jahren empirisch vergleichsweise intensiv gearbeitet, vgl. Michael Beleites, Die
unabhängige Umweltbewegung in der DDR, in: Hermann Behrens u. Jens Hoffmann
(Hg.), Umweltschutz in der DDR. Analysen und Zeitzeugenberichte, Bd. 3: Beruflicher,
ehrenamtlicher und freiwilliger Umweltschutz, München 2007, S. 179 – 224; Sung-Wan
Choi, Von der Dissidenz zur Opposition. Die politisch alternativen Gruppen in der DDR
von 1978 – 1989, Köln 1999; Jonathan Grix, Erscheinungsformen widerständigen
Verhaltens im Alltag der DDR, in: Heiner Timmermann (Hg.), Die DDR. Analysen
eines aufgegebenen Staates, Berlin 2001, S. 157 – 163; Axel Große, Die Gegenkultur in
der DDR. „Alternativer Underground“, „Treibhausanarchie“, Boheme oder Opposition?, in: ebd., S. 533 – 549; Carlo Jordan u. Hans-Michael Kloth (Hg.), Arche-Nova.
Opposition in der DDR. Das „Grün-ökologische Netzwerk Arche“ 1988 – 90, Berlin 1995;
Vera Lengsfeld, Von nun an ging’s bergauf. Mein Weg zur Freiheit, München 2002;
Torsten Moritz, Gruppen der DDR-Opposition in Ost-Berlin – gestern und heute. Eine
Analyse der Entwicklung ausgewählter Ost-Berliner Oppositionsgruppen vor und nach
1989, Berlin 2000; Erhart Neubert, Geschichte der Opposition in der DDR 1949 – 1989,
Berlin 19982 ; Benjamin Nölting, Strategien und Handlungsspielräume lokaler Umweltgruppen in Brandenburg und Ostberlin 1980 – 2000 (= Beiträge zur kommunalen und
regionalen Planung, Bd. 19), Frankfurt 2002; Detlef Pollack, Politischer Protest.
Politisch alternative Gruppen in der DDR, Opladen 2000; Dieter Rink, Soziale
Bewegungen in der DDR. Die Entwicklungen bis Mai 1990, in: Roland Roth u. Dieter
Rucht (Hg.), Neue soziale Bewegungen in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1991,
S. 54 – 70; Wolfgang Rüddenklau, Störenfried. DDR-Opposition 1986 – 1989, Berlin
1992; Herbert Schwenk u. Hainer Weisspflug, Umweltschmutz und Umweltschutz in
Berlin (Ost), Berlin 1996.
5 In einem Interview, das Kurt Kretschmann 1988 der Wochenpost gab, wird sehr
deutlich, dass die Kretschmanns auch noch im hohen Alter daran glaubten, dass der
74
Astrid Mignon Kirchhof
Gesellschaft, denn Opposition und besonders Widerstand blieben bis kurz vor
dem Zusammenbruch des Systems randständige Phänomene.
Die Gegenwelt des Ehepaares Kretschmann lässt sich jedoch auch nicht als
„soziale Bewegung“ verstehen. Ähnlich wie der Begriff der Opposition
zeichnen sich soziale Bewegungen gemäß übereinstimmender Definition
durch das Herstellen von Öffentlichkeit aus, meist um die Reform eines
bestimmten sozialen, kulturellen oder politischen Bereiches zu erzielen.
Soziale Bewegungen verstehen sich daher häufig als außerparlamentarische
Opposition.6 Es finden sich zwar durchaus Schnittmengen zwischen der
Kretschmann’schen Gegenwelt und sozialen Bewegungen, da beide kollektiv
handelnde Akteure sind. Gegenwelten können auch Teil sozialer Bewegungen
sein und andersherum, dennoch sind die Begriffe und Bedeutungen nicht
identisch, weil Gegenwelten weder immer aktiv auf Reformen zielen, noch
hierzu zwingend in der politischen Öffentlichkeit wirken. Darüber hinaus
versuchen soziale Bewegungen gemeinhin zu mobilisieren, wohingegen das
Ehepaar Kretschmann und ihre gegenweltlichen Anhänger missionierten, um
ihr Ziel zu erreichen.
Angesichts des beträchtlichen Repressionspotenzials des Regimes arrangierten sich weite Teile der Bevölkerung auf die eine oder andere Weise mit den
Verhältnissen. Manche von ihnen entwickelten eine gewisse Distanz zum
System, wenn nicht ideologisch, so doch zum real existierenden Sozialismus.
Sie lehnten den Staat, so wie er war, nicht unbedingt ab, befürworteten ihn aber
auch nicht nachdrücklich. Thomas Lindenberger spricht in dem Zusammenhang von „Eigen-Sinn“ und entwickelte ein Konzept, das auf vorangegangene
Forschungen Alf Lüdtkes basiert.7 Lindenberger fragt mit seinem Konzept
danach, wie stark Bedürfnisse, Interessen, Werte und Identitäten von der
Herrschaftsideologie der SED geprägt oder dieser entzogen waren. Er prüft mit
diesem Denkmodell ebenso die „kleinen Arrangements“ zwischen der Diktatur und den vom System Beherrschten, wie die so geschaffenen Nischen.8 In
Sozialismus grundsätzlich das für den Naturschutz bessere System sei, nicht zuletzt, weil
durch die Bodenreform das Volk offiziell Besitzer der natürlichen Ressourcen geworden
war und der Ausbeutung der Natur, wie sie durch Privatinteressen geschehe, besser
vorgebeugt werden könne. Siehe Bundesarchiv [im Folgenden BArch], DY 27, Nr. 9646,
Im Dienst der Eule. Ein Naturschützer gibt Auskunft, in: Wochenpost 1988, Nr. 24, S. 16.
6 Einführend siehe Cordia Baumann u. a. (Hg.), Linksalternative Milieus und Neue Soziale
Bewegungen in den 1970er Jahren, Heidelberg 2011.
7 Vgl. Alf Lüdtke, Herrschaft als soziale Praxis, in: ders. (Hg.), Herrschaft als soziale
Praxis. Historische und sozial-anthropologische Studien, Göttingen 1991, S. 9 – 63;
ders., Eigen-Sinn, in: Berliner Geschichtswerkstatt (Hg.), Alltagskultur, Subjektivität
und Geschichte. Zur Theorie und Praxis von Alltagsgeschichte, Münster 1994,
S. 139 – 153.
8 Thomas Lindenberger, Herrschaft und Eigen-Sinn in der Diktatur. Das Alltagsleben
der DDR und sein Platz in der Erinnerungskultur des vereinten Deutschlands,
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Die Nestoren des DDR-Naturschutzes
75
Teilen können auch Kurt und Erna Kretschmann in diese Definition aufgenommen werden. Ein Handlungsraum jedoch, der auf einer von vielen
Akteuren geteilten Weltsicht mit entsprechenden Bedeutungsgrundsätzen
beruht, die im Gegensatz zu anderen, Deutungshoheit beanspruchenden
Wirklichkeitsinterpretationen steht, ohne öffentlichen Protest zu üben, ist
weder im Konzept des Eigensinns noch in den verschiedenen Oppositionsdefinitionen mitgedacht. Deshalb sind sie nicht zur Erklärung des vorliegenden Phänomens geeignet. Der Unterschied zwischen dem von Lindenberger
angedachten Eigensinn-Konzept, Oppositionsmerkmalen beziehungsweise
Kennzeichen sozialer Bewegungen und dem hier zu analysierenden Phänomen
liegt darin, dass der geschaffene Kosmos des Ehepaares Kretschmann weder
treffend als „alltägliches Arrangieren“ mit den SED-Vorgaben oder als „stilles
Umgehen“ derselben durch Einzelne noch als eine öffentliche Herausforderung des SED-Staates durch eine Gruppe oder Bewegung beschrieben werden
kann. Vielmehr entfaltete sich die durch die Kretschmanns maßgeblich
konstituierte Gegenwelt auf einem philosophischen Fundament, das fest in der
Reformbewegung verankert war und über ein rein individuelles Agieren
hinaus durch Netzwerkbildung und Zugehörigkeit zu „Assoziationen“9 wie
den Natur- und Heimatfreunden kollektives Handeln generierte, ohne dabei
die DDR notwendigerweise reformieren oder gar abschaffen zu wollen. In Bad
Freienwalde wurde so ein gegenweltlicher Naturraum geschaffen, in dem es die
Kretschmanns auf eine Bekehrung Einzelner abgesehen hatten, die dann im
Zusammenwirken ein Leben der Gesellschaft in Harmonie mit der Natur
bewirken sollten.
Mit ihrer Lebensphilosophie und -praxis, so meine These, wurde durch Kurt
und Erna Kretschmann eine Gegenwelt etabliert, die eine SED-gegenläufige
Weltanschauung konstituierte. Diese Gegenwelt entfaltete eine gewisse Wirkung durch die von Minderheiten in der DDR rezipierten Ideale der
Lebensreform, durch Ärzte, die naturheilkundlich praktizierten oder durch
vegetarisch lebende Bürger. Auf diese Weise entwickelte sich das Ehepaar zu
Vordenkern, deren Ideale und Prinzipien von Teilen der DDR-Umweltbewehttp://www.bpb.de/apuz/25409/herrschaft-und-eigen-sinn-in-der-diktatur?p=all. Empirisch erforscht wurde das Eigensinn-Konzept in folgenden Studien: Kerstin Engel
hardt u. Norbert Reichling (Hg.), Eigensinn in der DDR-Provinz. Vier Lokalstudien über
Nonkonformität und Opposition, Schwalbach 2011; Thomas Lindenberger (Hg.),
Herrschaft und Eigen-Sinn in der Diktatur. Studien zur Gesellschaftsgeschichte der
DDR, Köln 1999.
9 Den Begriff verwendet Martina Löw in ihrer Studie zur Raumsoziologie für die
Zugangsmöglichkeiten bestimmter Akteure zu Assoziationen, wie beispielsweise zu
berufsständigen Vereinigungen. Ich übernehme den Begriff in diesem Artikel und
benenne damit die Zugangsmöglichkeiten der Kretschmanns zu Vereinigungen wie die
Natur- und Heimatfreunde. Siehe Martina Löw, Raumsoziologie, Frankfurt 2001,
S. 158 f u. S. 210 f.
76
Astrid Mignon Kirchhof
gung der 1980er Jahre aufgenommen wurden. Während die Mehrheit der
Forschungsliteratur auf die Bedeutung westlicher Einflüsse auf Entstehen und
Verlauf dieser Bewegung rekurriert, wird in diesem Artikel somit auf die
Bedeutung von geistigen Wegbereitern im eigenen Land verwiesen.10 Die
Kretschmanns hatten aus Altersgründen keinen aktiven Anteil mehr an der
Umweltbewegung; 1989 waren beide bereits 74 und 76 Jahre alt. Dennoch
wurde die Wirkung der von ihnen geschaffenen Gegenwelt zu dieser Zeit
virulent. Auf mentaler Ebene fand eine Annäherung an Werte statt, die die
Kretschmanns schon seit Jahrzehnten vertraten. Viele Umweltaktivisten in der
DDR stellten – ähnlich wie die Aktiven im Westen – nun das Individuum in den
Mittelpunkt des Denkens, das durch seinen konsumkritischen Lebensstil ein
Leben im Einklang mit der Natur suchte, mithin also nachhaltige Ideale
entwickelte. Auf praktischer Ebene wurden bereits seit den 1950er Jahren von
den Kretschmanns erhobene Forderungen nach der Einrichtung von Naturschutzgebieten auf dem Gebiet der DDR von der Umweltbewegung aufgegriffen und als naturschützende Alternativvorschläge in den Einigungsvertrag
eingebracht. Durch ihre Verankerung im vereinten Deutschland verloren diese
Postulate ihren gegenweltlichen Charakter und gingen im bundesdeutschen
Naturschutz auf.
Ich werde im Folgenden einen Überblick über den weltanschaulichen
Hintergrund des Ehepaares geben, der die Basis für ihr naturbezogenes
Leben und den Aufbau des Natur- und Kulturzentrums in Bad Freienwalde war.
Dabei wird herausgearbeitet, unter welchen Umständen ihre Vorstellungen
von der Welt entstanden und auf welche geistigen Strömungen diese zurückzuführen sind. Anschließend wird der Blick auf die Praktiken der Konstitution
eines gegenweltlichen Naturraumes gerichtet. Im Mittelpunkt dieses Kapitels
10 Michael Beleites konstatierte, dass die Wurzeln der Friedens-, Menschenrechts- und
unabhängigen Umweltbewegung an die westlichen Debatten anknüpften. Wichtige
Impulse seien von der westlichen grünen Bewegung und den Debatten über den 1972
veröffentlichten Bericht „Grenzen des Wachstums“ des Club of Rome sowie von
verschiedenen internationalen kirchlichen Konferenzen ausgegangen. Vgl. Beleites, Die
unabhängige Umweltbewegung in der DDR, S. 184 f. Auch der Soziologe Detlef Pollack
ist überzeugt, dass für die politisch alternativen Gruppen „die Rezeption der westlichen
Kapitalismus- und Zivilisationskritik entscheidend gewesen [sei].“ Durch die Kapitalismuskritik sei ein Argument geliefert worden, um die DDR als moderne Industriegesellschaft ebenfalls in die Modernitätskritik mit einzubeziehen. Vgl. Detlef Pollack,
Politischer Protest. Politische alternative Gruppen in der DDR, Opladen 2000, S. 257.
Die hier aufgeworfene These von der Bedeutung von Vordenkern des eigenen Landes für
die DDR Umweltbewegung wird im folgenden Aufsatz ebenfalls diskutiert: Astrid
Mignon Kirchhof, Gelebte Überzeugung. Das Wirken von Erna und Kurt Kretschmann
für den DDR Umwelt- und Naturschutz, in: Jutta Braun u. Peter Ulrich Weiß (Hg.),
Agonie und Aufbruch. Das Ende der SED-Herrschaft und die Friedliche Revolution in
Brandenburg, Potsdam 2014, S. 190 – 211.
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Die Nestoren des DDR-Naturschutzes
77
steht zum einen die konkrete Bebauung und symbolische Aufladung des
Geländes in Bad Freienwalde mit dem Haus der Naturpflege. Zum anderen
wird die Verstetigung des so geschaffenen Naturraumes analysiert und damit
der Frage nachgegangen, wie die Kretschmanns ihre Gegenwelt auf Dauer
stellten. Hierbei steht der wechselseitige Austausch von Ideen, durch den die
Kretschmanns von der offiziellen Linie vorherrschender Strukturen in Staat
und Gesellschaft abwichen, im Mittelpunkt. Abschließend soll diskutiert
werden, was der durch die Kretschmanns und ihre Anhänger verkörperte
gegenweltliche Raum in und für die SED-Diktatur bedeutete, das heißt, welche
Einflüsse auf die entstehende Umweltbewegung der 1980er Jahre erkennbar
sind. Neben Verwaltungsakten, die den Briefwechsel Kurt Kretschmanns mit
staatlichen Stellen bis 1960 abbilden, sowie Quellen des Ministeriums für
Staatssicherheit (MfS), die die Einschätzungen über das Ehepaar wiedergeben,
stellten die autobiografischen Aussagen Kurt Kretschmanns sowie Einschätzungen von Wegbegleitern des Ehepaares den Quellenkorpus dar, der für diese
Analyse eingehend ausgewertet wurde.
I. Ganzheitlichkeit, Lebensreformbewegung und
Vegetarismus
Erna Kretschmann, geborene Jahnke, kam 1912 in Stettin zur Welt und war
zwei Jahre älter als Kurt Kretschmann, der 1914 in Berlin geboren wurde. Bevor
beide ihr Leben dem Naturschutz widmeten, übten sie andere Berufe aus: Erna
war Kindergärtnerin und Kurt erlernte das Schneiderhandwerk. Dem Leben
im Einklang mit der Natur und für den DDR-Naturschutz ging eine längere
Phase in den 1930er Jahren voraus, in der sich die Weltanschauung des
Ehepaares entwickelte und in lebensreformerischen Idealen verankerte. In der
Literatur werden Kurt und Erna Kretschmann zuweilen mehr als Pragmatiker
denn als eigentliche „Denker“ dargestellt.11 Dies greift jedoch zu kurz. Da die
Werte der Kretschmanns stets mit dem Alltäglichen in Beziehung standen, hat
es bisweilen den Anschein, als seien sie weniger an weltanschaulichen Fragen
als an der Lebenswirklichkeit interessiert gewesen. Nichtsdestotrotz war ihre
Orientierung am Vorbild der Reformbewegung, das sie mit ihrer eigenen
politischen Gesinnung zu einem eigenen Gedankengebäude formten, grundlegend für ihre Lebensführung. In dieser Weltanschauung kamen verschiedene
ethische Grundhaltungen und Reformansätze zusammen, griffen ineinander
und lassen sich nicht unabhängig voneinander betrachten: Vegetarismus,
Kapitalismuskritik, Antialkoholismus, Technik-und Großstadtablehnung, Pa11 Siehe Michael Succow u. a. (Hg.), Naturschutz in Deutschland, Berlin 2012. Hier
verweisen die Autoren selbst auf Erna und Kurt Kretschmann als die „ostdeutschen
Vordenker und Wegbereiter“, S. 35 – 44, ins. S. 39 f.
78
Astrid Mignon Kirchhof
zifismus und Naturverbundenheit.12 In einem mit Marion Schulz geführten
Interview Ende 1990 erzählten beide, wie sie zum Naturschutz gekommen
waren: Während Kurt Kretschmann auf seine Großstadtkritik verwies, die in
ihm eine Natursehnsucht ausgelöst habe, schilderte Erna, dass es die
Begegnung mit Kurt Mitte der 1930er Jahre war, die ihr Leben veränderte.13
Als überzeugter Antifaschist und Pazifist hatte Kurt Kretschmann 1933 seine
Anstellung in einer Berliner Schneiderei in dem Moment gekündigt, als diese
ihre Produktion auf Uniformen umstellte, weil er seine Arbeit „auf keinen Fall
dem faschistischen Staat und seinen Kriegsvorbereitungen zur Verfügung
stellen wollte.“14 Nun von Arbeit freigestellt, begann er die Umgebung von
Berlin zu durchstreifen. Auf seinen Wanderungen lernte er Herbert Marquardt
kennen, der in den brandenburgischen Wäldern in der Nähe von Bernau lebte.
Er entschied sich, bei dem neugewonnenen Freund zu bleiben und lebte
zusammen mit ihm in einer Blockhütte von Gartenbau und Imkerei.
Kretschmann ernährte sich vegetarisch, trieb Sport und lebte alkoholabstinent. Beide Männer lernten Erna kennen, die im Nachbardorf, in
Rüdnitz, wohnte, und verliebten sich in sie.
Wenngleich die oben angesprochene Haus- und Arbeitsgemeinschaft von Kurt
Kretschmann und Herbert Marquardt im engeren Sinne nicht Teil der damals
populären Siedlungsbewegung war, so teilten die beiden Männer dennoch die
von Wolfgang Krabbe definierten vier Grundmotive der Siedlungs- und
Kommunebewegung: erstens, Ablehnung des Kapitalismus und daher von
Privateigentum sowie Präferenz der Gütergemeinschaft, zweitens, Streben
nach „Natürlichkeit, Wahrhaftigkeit und Echtheit“, drittens, Gemeinschaft als
Selbstzweck und viertens, Streben nach naturverbundenem Leben und
Ablehnung der Großstadtzivilisation.15 Die Erprobung sozialer Utopien
12 Die Überzeugungen und die Lebensphilosophie der Kretschmanns hat Kurt viele Jahre
später niedergeschrieben und im Selbstverlag in Bad Freienwalde veröffentlicht. Die
Broschüren „Unsere Eß- und Trinkgewohnheiten unter die Lupe genommen. Erfahrungen aus 70-jähriger fleischloser Ernährung“ und „Gedichte gegen den Krieg“ geben
Auskunft über die vegetarische Lebensweise, die politisch-ethische Grundlage des
Vegetarismus sowie die politischen Überzeugungen der Kretschmanns, die über die
Lebensreform hinausgehen. Siehe außerdem Kurt Kretschmann, Erinnerungen an
meinen im Hitler-Krieg gefallenen Freund Herbert Marquardt, Biesenthal 2002.
13 Marion Schulz, Ein Leben in Harmonie. Kurt und Erna Kretschmann – für den Schutz und
die Bewahrung der Natur, Neuenhagen 1999, S. 13. Siehe hierzu auch Daniel Fischer, Zum
Gedenken an Kurt Kretschmann, einem einzigartigen Menschen, der Naturschutzgeschichte
schrieb, http://www.haus-der-naturpflege.de/Nachruf_Kurt_Kretschmann.pdf.
14 Kretschmann, Erinnerungen, S. 12, Anm. 1. Um ein Zeichen gegenüber dem Krieg und
dem nationalsozialistischen Staat zu setzen, nannten die Kretschmanns ihren Sohn
Friedhart; siehe Kretschmann, Gedichte gegen den Krieg, S. 63.
15 Wolfgang Krabbe, Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform, Göttingen 1974,
S. 36, zit. n. Anne Feuchter-Schawelka, Siedlungs- und Landkommunebewegung, in:
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Die Nestoren des DDR-Naturschutzes
79
durch gemeinschaftliches Wohnen und Arbeiten wurden von den Anhängern
der Siedlungsbewegung unterschiedlich rezipiert – entweder völkisch, christlich-religiös oder sozialistisch – und hatte ihre Wurzeln in der Lebensreformbewegung, die bis in das 19. Jahrhundert zurückreichte. Schon 1845 hatte
Friedrich Engels in der kommunistischen Siedlung die Möglichkeit eines
sozialistischen Gesellschaftsmodells gesehen, das den sozialen Neubeginn für
die Arbeiterschaft bedeuten sollte.16
Die Siedlungs- und Bodenreform- beziehungsweise die Kommunebewegung
war neben der Naturheil- und Lebensreformbewegung eine von drei Strömungen innerhalb der übergeordneten Lebensreformbewegung, die zu unterschiedlichen Zeiten virulent waren. Während die Naturheilbewegung
bestimmte Naturheilmethoden als Antwort auf eine angeblich von Zivilisationskrankheiten angegriffene Gesellschaft hervorbrachte, entdeckte die
Lebensreformbewegung den schlanken und gesunden Körper als Schönheitsideal. Die Anhänger huldigten dem von Kleidern und sonstigen Zwängen
befreiten Körper, beschritten neue Wege der Sexualität und erprobten durch
gemeinsames Wandern, Baden, Spielen und Musik neue Lebensformen. Die
Siedlungs- und Bodenreformbewegung wiederum schlug den Menschen eine
gesündere Lebensweise abseits von Industrie und Großstadt im Grünen vor.17
Die erste deutsche Kommune, in der die Ideale der Lebensreform praktisch
umgesetzt wurden, war durch den Maler und Vegetarier Karl Wilhelm
Diefenbach im Münchener Isartal 1887 entstanden.
Über die Anfänge der Auseinandersetzung mit diesen verschiedenen philosophischen Denkrichtungen, aus der sich später für Kurt und Erna eine eigene
lebensreformerische Weltsicht ergab, bemerkte Kurt Kretschmann rückblickend:
Während dieser Zeit, im ersten Sommer, beschäftigten wir [die beiden Freunde Kurt und
Herbert, A. M. K.] uns stark mit den von mir herbeigeschleppten Büchern. Wir wollten
unsere geistige Entwicklung vorwärtstreiben und diskutierten Tag und Nacht über das
Gelesene.18
Kurt las und diskutierte mit seinem Freund Herbert Marquardt beispielsweise
die Lehren Gandhis, über den er später selbst Gedichte verfasste.19 Mahatma
Gandhis Inspirationsquelle für den gewissensgeleiteten, gewaltfreien Widerstand war Henry David Thoreau. Thoreau zog für zweieinhalb Jahre in eine
16
17
18
19
Diethart Kerbs u. Jürgen Reulecke (Hg.), Handbuch der deutschen Reformbewegungen
1880 – 1933, Wuppertal 1998, S. 227 – 244, hier S. 232.
Feuchter-Schawelka, Siedlungs- und Landkommunebewegung, S. 230.
Sabine Merta, Wege und Irrwege zum modernen Schlankheitskult. Diätkost und
Körperkultur als Suche nach neuen Lebensstilformen 1880 – 1930, Stuttgart 2003, S. 82 f.
Kretschmann, Erinnerungen, S. 21.
Beispielsweise in dem Gedicht „Mahatma Gandhi – ,Die große Seele‘“, siehe ders.,
Gedichte gegen den Krieg, S. 65.
80
Astrid Mignon Kirchhof
Blockhütte in die Wälder von Massachusetts, um, wie er schrieb, dem
„wirklichen Leben näher [zu] treten“.20 Aufgrund Thoreaus Vorträge und
Schriften avancierte er schließlich zum Namensgeber des Begriffs „Ziviler
Ungehorsam“ gegen die Obrigkeit, der von Gandhi aufgegriffen wurde.21 Es
war Gandhis vermeintliche Authentizität, seine gepredigte und gelebte
Gewaltlosigkeit und seine eingeforderte politische Selbstbestimmung, die
Kurt und Herbert ebenso faszinierte wie Konfuzius’ Ideal des „Edlen“, des
moralisch einwandfreien Menschen, der in Harmonie mit dem Weltganzen
lebt. Das ganzheitliche Denken der Lebensreformer förderte ihr Interesse an
außereuropäischen, vor allem asiatischen Traditionen, in denen die Ganzheitlichkeit ebenfalls eine herausragende Rolle spielte, wie im Buddhismus
oder Konfuzianismus. Der Schweizer Lebensreformer Werner Zimmermann,
dessen Lehren Kurt und Erna Kretschmann am nachhaltigsten prägen sollten,
hatte eine Biografie über Mahatma Gandhi geschrieben, den er bei dem prokommunistischen Antikriegsgegner und Schriftsteller Romain Rolland kennengelernt hatte.22 Diese lebensreformerischen Ideen zirkulierten durch
gegenseitige Besuche oder das Rezipieren der veröffentlichten Schriften. So
besuchte Werner Zimmermann Romain Rolland, um sich mit ihm auszutauschen, während Kurt und seine Freunde wiederum die Schriften von
Zimmermann, Roland und dessen Freund Hermann Hesse lasen, dessen
Interesse an alternativer Lebensform, asiatischer Weisheitslehre und Spiritualität sich auch in seinen Romanen niederschlug.23
Kurt Kretschmann hatte Werner Zimmerman auf einer Veranstaltung im
Berlin der 1930er Jahre kennengelernt. Zimmermann sprach sich für Herrschaftslosigkeit, Antikapitalismus und Sozialismus in Freiheit ebenso wie für
eine Lebensreform im Sinne einer Neugestaltung menschlichen Lebens,
20 Henry David Thoreau, Walden oder Leben in den Wäldern [1854], Zürich 1979, S. 98.
21 Henry David Thoreau veröffentlichte 1849 die Schrift „Civil Disobedience“. Die
deutsche Übersetzung „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“ erschien im
selben Jahr.
22 Siehe Florentine Fritzen, Gesünder leben. Die Lebensreformbewegung im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2006, S. 295.
23 Der Schriftsteller Hermann Hesse fühlte sich von reformbewegten Idealen angezogen
und setzte sich auch immer wieder mit chinesischer Philosophie auseinander. 1907
wohnte er einige Wochen auf dem Monte Verity. Die dort lebende Gemeinschaft wurde
als eine der ersten „Zurück zur Natur“-Bewegungen bezeichnet, weil deren Mitglieder
im Einklang mit der Natur lebten, sich vegetarisch ernährten und freie Beziehungen
zwischen ihren Mitgliedern erprobten. Später suchte Hesse spirituell-religiöse Inspiration in Ceylon und Indonesien; seine Erfahrungen verarbeitete er unter anderem in
seinem Buch „Aus Indien“. Asiatische Weisheitslehren kennzeichnen auch seinen 1922
erschienenen Roman „Siddhartha“. Zum Einstieg in Hesses Leben und Werk siehe
Gunnar Decker, Hermann Hesse. Der Wanderer und sein Schatten, München 2012.
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Die Nestoren des DDR-Naturschutzes
81
ökologischen Landbau und freie Sexualität aus.24 In der spezifischen Philosophie Zimmermanns vereinigen sich der Wunsch nach Erneuerung der
gesamten Lebensweise durch ein Leben im Naturzustand mit der Forderung
nach einer anarchistischen Wirtschaftsweise, der Freiwirtschaft. 1934 gründete Zimmermann den Wirtschaftsring, eine Selbsthilfe-Initiative, die „zugleich eine praktische Form des freien Sozialismus“ darstellte.25 Dieses
Lebens- und Wirtschaftsmodell verband Zimmermann durch das Gebot einer
Sexual- und Ernährungsreform. Er sprach sich für eine neue Form der
Sexualität aus, die geschlechtliche Vereinigung mit Begierdefreiheit verband.
Kurt Kretschmanns Nachdenken, Spielen und Experimentieren mit seiner sich
langsam formenden Lebensphilosophie führten dazu, dass er „Ernale“, wie er
seine spätere Frau liebevoll nannte, fragte, ob sie sich vorstellen könne, sich
seinem besten Freund Herbert hinzugeben, weil alle drei eine innige
Freundschaft verband, sodass eine auf diese Freundschaft und Verbindung
aufbauende Sexualität möglich sein müsse. Den letzten Schritt sexueller
Vereinigung solle sie aussparen. Erna willigte ein. Sein an Erna gerichteter
Wunsch und ihre Umsetzung entsprachen ganz den Vorstellungen einer
sexualfreundlichen „kontrollierten Lust“ nach Werner Zimmermann, der die
zeugungsunabhängige sexuelle Lust bejahte und im deutschen Sprachraum
zum Apostel der aus Amerika stammenden „Karezza“-Methode wurde, die
ihre eigenen religiös-asketischen Züge der Enthaltsamkeit besaß.26 Zusam24 Es gibt wenig Forschung zu Werner Zimmermann. Siehe Meike Sophie Baader,
Erziehung als Erlösung. Transformationen des Religiösen in der Reformpädagogik,
Weinheim 2005, S. 230 – 234; hier findet sich in dem Unterkapitel „Selbstverwirklichung
als Selbsterlösung und wahre Göttlichkeit: Werner Zimmermann“ eine kurze Darstellung dieses Lebensreformers. Kurt Kretschmann hat ihm das Gedicht „Werner
Zimmermann“ gewidmet. Aus diesem geht hervor, dass Kurt ihn während des Dritten
Reiches kennengelernt haben muss; die genaue Jahreszahl bleibt jedoch offen. Siehe
Kretschmann, Gedichte gegen den Krieg, S. 64.
25 Günter Bartsch, Die NWO-Bewegung Silvio Gesells. Geschichtlicher Grundriss
1891 – 1992 / 93, Lütjenburg 1994, S. 27 f.
26 Bei dieser Technik basiert der Sexualverkehr auf der durch Willenskontrolle zu
erzielenden Orgasmus-Vermeidung. Die Karezza-Praxis kam der ambivalenten deutschen Sexualreform durchaus entgegen, die die Sexualität einerseits als legitim und die
natürlichste Sache der Welt anerkannte und sich für die Überwindung der als repressiv
empfundenen Sexualmoral einsetzte. Andererseits dominierten aber in der deutschen
Lebensreform geschlechtliche Askese als eine neue Form aufgeklärter Prüderie, und der
Appell an das Verantwortungsgefühl, die Mäßigung und Selbstbeherrschung. Die
Karezza-Methode, die auch Werner Zimmermann vertrat und die dem Spiel der
Kretschmanns mit freier Sexualität zugrunde lag, changierte dazwischen, weil sie es
erlaubte, den Geschlechtsverkehr auszuüben, diesen aber durch Selbstbeherrschung
aufzuwerten, ohne dabei auf Empfängnisverhütung zurückgreifen zu müssen. Siehe XY,
Das Knospenwunder. Karezza, die Prophetie der unvollendeten Liebe, in: Rudolf Olden
(Hg.), Propheten in deutscher Krise. Das Wunderbare oder Die Verzauberten, Berlin
82
Astrid Mignon Kirchhof
menfassend schrieb Kretschmann über die Umsetzung der lebensreformerischen Ideen:
Wir aßen und tranken, arbeiteten oder schliefen, wenn es uns richtig erschien. Wir lehnten
jedes Schema ab und lebten mit der Natur, hatten weder einen Kalender noch eine Uhr,
nahmen uns Muße, wann und wie viel wir wollten, ohne den Tag in Stunden, die Stunden in
Minuten, die Minuten in Sekunden einzuteilen. Endlich konnten wir jedem Zwang entgehen
und arbeiten, wenn es uns freute, wandern, wenn es uns lockte, und schlafen, wenn wir es für
nötig hielten.27
Die meisten Wortführer der Lebensreformbewegung, welcher Richtung sie
auch anhingen, hatten zumeist im Vegetarismus eine gemeinsame Grundlage.28 Auch Kurt und Erna Kretschmann waren überzeugte Vegetarier. Kurt
Kretschmann wurde häufig gefragt, ob ihm Fleisch fehle, worauf er konterte:
Man geht dabei von der Annahme aus, die fleischlose Kost wäre mit großen Opfern
verbunden. Daß wir einen Standpunkt vertreten, der auf Überlegung, Erfahrung, wirtschaftlichen, gesundheitlichen und moralisch-sittlichen Grundsätzen aufgebaut ist, wozu
noch der Umweltschutz hinzugerechnet werden muß, geht den Fragestellern vollkommen
ab.29
Die Ausgangsbasis des Vegetarismus ist eine Fundamentalkritik an der
kapitalistischen Lebensweise, die als Reaktion auf die gesellschaftliche
Umgestaltung durch die Industrialisierung ebenfalls im Verlauf des 19. Jahrhundert entstand. Den Bogen zwischen Kapitalismuskritik und Naturschutz
schlägt Erna Kretschmann in einem Interview folgendermaßen:
Ich kenne Leute, die brauchen alle paar Jahre neue Möbel. Aber wenn das die ganze
Menschheit so praktiziert, müssen immer mehr Wälder abgeholzt werden, um die
1932, S. 273 – 291; Ulrich Linse, Sexualreform und Sexualberatung, in: Kerbs u.
Reulecke, Handbuch, S. 211 – 226; Kretschmann, Erinnerungen, S. 82 f.
27 Kretschmann, Erinnerungen, S. 21.
28 Eva Barlösius, Naturgemäße Lebensführung. Zur Geschichte der Lebensreform um die
Jahrhundertwende. Frankfurt 1997, S. 217. Siehe auch Heinrich Schipperges, Zur
Theorie der Lebensordnung und Praxis der Lebensführung in historischer Sicht, in:
Eden-Stiftung zur Förderung Naturnaher Lebenshaltung und Gesundheitspflege (Hg.),
Lebensreform als ganzheitliche Daseinsgestaltung. 25 Jahre Eden-Stiftung, Bad Soden
[1988], S. 11 – 34. Ebenso Merta, Wege und Irrwege, S. 93 f. Florentine Fritzen verweist
darauf, dass Vegetarismus ursprünglich für eine grundsätzlich gesunde Ernährungsform, aber nicht notwendigerweise eine fleischlose Ernährung stand, wie es für Erna
und Kurt Kretschmann 70 Jahre lang selbstverständlich war. Vgl. Florentine Fritzen,
Gesünder leben, S. 41.
29 Kretschmann, Unsere Eß- und Trinkgewohnheiten, S. 33; siehe ebenso Judith Baumgartner, Vegetarismus, in: Kerbs u. Reulecke, Handbuch, S. 127 – 139.
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Die Nestoren des DDR-Naturschutzes
83
ungeheuren Mengen an Möbeln zu produzieren. […] Alles ist auf ,Wegwerfen‘ und
,Verschleiß‘ ausgerichtet. Wir konnten und wollten da nie mitgehen.30
Tatsächlich waren antikapitalistische Überlegungen auch die Voraussetzung
für Kurt Kretschmanns Weg in den Vegetarismus. Während jedoch die
Mehrheit der Anhänger des Vegetarismus, die mittelständisch geprägt waren,
vor allem die eigene Proletarisierung fürchteten und bei der Lösung der
sozialen Frage eine grundsätzlich andere Gesellschaftsform als die bürgerliche
ablehnten, identifizierte sich Kurt Kretschmann mit der kommunistischen
Lehre. Das tat er auch noch viel später, als er über seine vegetarische
Lebensweise schriftlich Zeugnis ablegte:
Nicht umsonst war im ,roten Berlin‘ die KPD die stärkste Partei. Auch ich reihte mich mit 17
Jahren begeistert als Sympathisierender mit ein und marschierte in allen Demonstrationen
mit. […] Dann 1933: es überstürzten sich die Ereignisse. Hitler, mit Millionen vom
deutschen Schwerkapital finanziert, kam an die Macht. Ich war verzweifelt, hatte aber schon
zuvor Tag und Nacht darüber nachgedacht, wie man der kapitalistischen Ausbeutung
entgehen könnte. Wenn es mir gelänge, die Ausgaben für die Ernährung von wöchentlich
14,– M zunächst zu halbieren und weiter zu senken, dann müßte man das Joch des
rechtlosen, ausgepreßten Proletariers abschütteln können. […] Es begann 1931. Ich wollte
feststellen, ob ein oder zwei reine Obsttage in der Woche Einfluß auf die zu leistende Arbeit
haben könnten.31
Vegetarismus war und ist eine Lebenshaltung, die über gesellschaftlichökonomische Problemstellungen nachdenkt, wie die ökologischen Konsequenzen des übermäßigen Fleischverzehrs, und darüber hinaus verschiedene
Motive beinhaltet, wie die Achtung vor jedem Lebewesen und eine gesunde,
naturverbundene, zuweilen auch religiös-spirituelle Lebensweise. Die angesprochene Spiritualität glaubten viele Naturschützer, ost- wie westdeutscher
Provenienz, in der Natur zu finden und sprachen von der Metaphysik des
Waldes, die Antworten auf letzte Fragen gebe: Viele Naturschützer waren
davon überzeugt, dass beim Wandern durch die Natur eine beseelte Innenschau möglich werde, bei der der Wanderer Zwiesprache mit sich selbst und
der Natur hielte und dadurch Heimat mit allen Sinnen begreifen könne. Die
Erkenntnis darüber, was die Natur zu bieten habe, welch kontemplativer
Nutzen aus ihr gezogen werden könne, sei dem Mensch nicht in die Wiege
gelegt worden. Vielmehr müsse er durch einen Reifungsprozess diese
Erkenntnis erwerben.32 Aufgrund dieser Überzeugung war Kurt Kretschmann
schon als junger Mann mehrmals bis nach Oberitalien gewandert und
30 Zit. n. Marion Schulz, Das Ehepaar mit den meisten Denkmälern, in: dies., Ein Leben in
Harmonie, S. 13 – 47, hier S. 43.
31 Kretschmann, Unsere Eß- und Trinkgewohnheiten, S. 8 f.
32 Hermann Schurhammer, Warum wandern wir und warum müssen wir Naturschützer
sein?, in: Natur und Landschaft 28. 1953, S. 46.
84
Astrid Mignon Kirchhof
gründete später, gemeinsam mit seiner Frau Erna, in Bad Freienwalde eine
Wandergruppe, die sie dreißig Jahre lang leiteten.33
Das Dritte Reich beendete vorläufig diese verschiedenen Experimente ernährungstechnischer und lebensreformerischer Art. 1936 wurde Kurt Kretschmann zum Wehrdienst eingezogen und zwar bald darauf wieder entlassen, weil
er als gefährlich für den Truppengeist galt, dann aber 1941 zur Zwangsarbeit
verpflichtet und später als Sanitäter der Wehrmacht an der Ostfront eingesetzt.
Nachdem er wegen Wehrkraftzersetzung zum Tode verurteilt worden war,
konnte er 1944 desertieren und versteckte sich wochenlang in einem Verschlag
in Bad Freienwalde, wo ihn Erna, die inzwischen seine Frau geworden war,
versorgte. Das Ende der nationalsozialistischen Diktatur empfanden die
Kretschmanns als umfassende Befreiung und wollten sich dem neuen Staat
gegenüber dankbar erweisen und an seinem Aufbau und Erhalt tatkräftig
mitarbeiten. Rückblickend schrieb Kurt: „Nun mussten wir entscheiden,
welche Arbeit nehmen wir auf ? Der Vegetarismus war sehr wichtig in unserem
Lebenslauf. Wir überlegten und traten dann für den Naturschutz an, damit
kamen wir an mehr Bürger heran.“34
II. An Oder und Müritz: Das Ehepaar als Naturschützer in der
frühen DDR
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Erna und Kurt Kretschmann Mitglieder
der KPD-Ortsgruppe Freienwalde und traten nach der Vereinigung von SPD
und KPD zur SED sowohl der neuen Partei als auch dem Kulturbund zur
demokratischen Erneuerung Deutschlands bei. Erna Kretschmann war zunächst bis 1949 Kreisrätin für Volksbildung und baute in dieser Funktion das
Schloss Bad Freienwalde als Kulturhaus aus. Im selben Jahr wurde Kurt
Kretschmann Naturschutzbeauftragter im Landkreis Oberbarnim im östlichen Brandenburg. Zu den Aufgaben, die der Landesbeauftragte zu erfüllen
hatte, gehörten die Erfassung noch vorhandener Naturdenkmale sowie die
Sicherung der alten Naturschutz- und der Landschaftsschutzgebiete. Auch
politische Weichenstellungen wie die bereits 1945 einsetzende Bodenreform
spiegelten sich im Tätigkeitsprofil der Naturschutzbeauftragten wider. So
hatten sie sich um die Erhaltung der in Volksparks umgewandelten Gutsparks
ebenso zu kümmern wie um die Bepflanzung der Neubauernhäuser mit
Hecken und Baumgruppen. Darüber hinaus sollten sie junge Kräfte für den
33 Darauf verweist Kurt Kretschmann in dem Film „Kurt und Erna Kretschmann im
Naturschutzmuseum“, siehe Studienarchiv Umweltgeschichte, Kurt Kretschmann,
027 – 47. Neben spirituellen Gründen suchte Kretschmann auf seinen Wanderungen
jedoch auch nach einem Ausweg, das nationalsozialistische Deutschland verlassen zu
können, siehe Kretschmann, Unsere Eß- und Trinkgewohnheiten, S. 23.
34 Kurt Kretschmann, Erna, in: ders., Gedichte gegen den Krieg, S. 60.
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Die Nestoren des DDR-Naturschutzes
85
Naturschutz rekrutieren, eigene Aufsätze über ihre Tätigkeit in der Presse
veröffentlichen und Vorträge halten. Auch für die Gründung weiterer Kulturbund-Sektionen der „Natur- und Heimatfreunde“ war der Landesbeauftragte
zuständig.35
Der Kulturbund war vom Dichter und Politiker Johannes R. Becher initiiert
und im Frühsommer 1945 von der sowjetischen Militärverwaltung genehmigt
worden.36 Die Organisation wollte ursprünglich insbesondere Intellektuelle
und Künstler für einen demokratischen Neuanfang nach der nationalsozialistischen Herrschaft ansprechen. Die organisierten Aktivitäten stellten aber
auch ein Angebot für Menschen dar, die auf der Suche nach nützlicher
Betätigung und sozialem Kontakt zu Gleichgesinnten waren. So kamen im
Kulturbund schon bald nicht nur Akademiker und Kunstschaffende, sondern
auch Wanderfreunde, Naturschützer und Volkstanzgruppen zusammen.37 Im
November 1950 fand in Dresden eine erste Tagung statt, auf der die Zentrale
Kommission Natur- und Heimatfreunde gegründet und acht Bereiche, später
in Fachausschüsse umbenannt, eingerichtet wurden. Seit ihrer Gründung im
Jahr 1949 expandierten die Natur- und Heimatfreunde kontinuierlich, was sie
zu einem Problem für die Kulturbundleitungen machte, da sie in den 1950er
Jahren in „vielen Ortsgruppen schon so stark vertreten waren, dass der
Kulturbund als ,Organisation der Intelligenz‘ kaum noch als solche zu
erkennen war.“38 Bei den Natur- und Heimatschützern arbeitete Erna
Kretschmann im Zentralen Fachausschuss Landschaftsgestaltung und Natur-
35 Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Rep. 205 D, Nr. 1, Kurt Kretschmann, Die
Arbeit des Landesbeauftragten für Naturschutz, 14. 10. 1950. Zur Bodenreform siehe
Wolfgang Benz, Auftrag Demokratie. Die Gründungsgeschichte der Bundesrepublik
und die Entstehung der DDR 1945 – 1949, Berlin 2009, S. 113 f.
36 BArch, DY 27, Nr. 841, Brief an Mr. Bell der Information Section Control Branch,
6. 6. 1947. Das genaue Beantragungs- und Zulassungsdatum ist in verschiedenen Quellen
unterschiedlich angegeben. So findet sich in den Akten auch ein Brief des stellvertretenden Militärkommandanten der Stadt Berlin, Oberst Jelissarow, der angibt, dass dem
Antrag Bechers bereits mit Wirkung vom 25. Juni 1945 stattgegeben worden sei. Der
Brief war vermutlich im Datum auf den Juni rückdatiert worden. Siehe ebd., Brief des
stellvertretenden Miitärkommandanten Oberst Jelissarow an Johannes R. Becher,
25. 6. 1945.
37 Ulrike Köpp, Heimat DDR. Im Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands, in: Martina Krause u. a. (Hg.), Ethnografisches Arbeiten in Berlin. Wissenschaftsgeschichtliche Annäherungen, Berlin 2003, S. 97 – 107, hier S. 97.
38 Thomas Schaarschmidt, Heimat in der Diktatur. Zur Relevanz regionaler Identifikation
im Nationalsozialismus und in der frühen DDR, in: Manfred Seifert (Hg.), Zwischen
Emotion und Kalkül. „Heimat“ als Argument im Prozess der Moderne, Leipzig 2010,
S. 127 – 141, hier S. 138. Siehe auch Jan Palmowski, Inventing a Socialist Nation. Heimat
and the Politics of Everyday Life in the GDR 1945 – 1990, Cambridge 2009, S. 30.
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Astrid Mignon Kirchhof
schutz mit und war ebenso als Bezirkssekretärin für Natur und Heimat beim
Kulturbund Frankfurt an der Oder aktiv.39
Die Regierungen der sozialistischen Staaten – so das lange gültige Masternarrativ von Forschung und öffentlicher Wahrnehmung im Westen – waren auf
Industrialisierung fixiert und hatten für Naturschutz nichts übrig; vielmehr
betrieben diese, ungehemmt durch Bevölkerungsproteste oder privatwirtschaftliche Interessen, Raubbau an natürlichen Ressourcen.40 Wenig bekannt ist, dass
die DDR weitaus früher als die Bundesrepublik ein Naturschutzgesetz erließ
und, parallel zu Entwicklungen im Westen, schon in den 1950er Jahren
Forschung und Politikberatung durch überwiegend ehrenamtliche Naturschutzaktivisten betrieb. Im Gegensatz zum herrschenden Bild wurden in der DDR
Naturschutzbemühungen Einzelner im staatlichen Rahmen gefördert, und das
gesellschaftliche Naturschutzengagement war während des gesamten Zeitraumes der Existenz der DDR durchaus nicht unbedeutend. Der DDR-Naturschutz
fußte auf drei Säulen: erstens den Staatsorganen, vor allem dem Ministerium für
Land- und Forstwirtschaft (MLF), zweitens der wissenschaftlichen Beratung
desselben, die durch das Institut für Landschaftsforschung und Naturschutz
Halle der Akademie der Landwirtschaftswissenschaften der DDR gewährleistet
wurde, und drittens dem Kulturbund.41 Mit Gründung der DDR wurden
Naturschutz und Landschaftspflege zunächst getrennt institutionell angebunden: Einerseits wurde ein Referat Naturschutz und Denkmalpflege beim
Ministerium für Volksbildung eingerichtet und andererseits schuf man ein
Referat für Landschaftspflege und Landschaftsgestaltung beim Ministerium für
Land- und Forstwirtschaft. Letzteres begleitete vor allem Flurneuordnungen
und Meliorationen fachlich.42 Diese Aufgabenverteilung wurde 1952 noch
einmal mit der Gebiets- und Verwaltungsreform in der DDR verändert, mit der
39 Vgl. Tabellarischer Lebenslauf von Erna Kretschmann, in: Haus der Naturpflege e.V.,
Erinnerungen an Erna, S. 18 f. Vgl. Schaarschmidt, Heimat in der Diktatur, S. 138.
40 Als eine erste negative Bestandsaufnahme im Westen siehe Marshall Irwin Goldman,
The Spoils of Progress. Environmental Pollution in the Soviet Union, Cambridge 1972.
Ebenso Murray Feshbach u. Alfred Jr. Friendly, Ecocide in the USSR. Health and Nature
under Siege, New York 1992. Inzwischen gibt es auch diese Forschungsmeinung
revidierende Schriften. Siehe Stephen Brain, Stalin’s Environmentalism, in: Russian
Review 69. 2010, S. 93 – 118, v. a. S. 97 f. u. S. 117 f.
41 Hermann Behrens, Naturschutz in der DDR, in: Stiftung Naturschutzgeschichte (Hg.),
Wegmarken. Beiträge zur Geschichte des Naturschutzes, Essen 2000, S. 189 – 258, hier
S. 206.
42 Naturschutz und Landschaftspflege zu trennen, hatte geschichtliche Gründe. Bis in die
1930er Jahre war es üblich, Naturschutz und Denkmalpflege bei der Staatlichen Stelle für
Naturdenkmalpflege zu organisieren. 1935 wurde das Reichsnaturschutzgesetz erlassen
und erst jetzt der Naturschutz um die Landschaftspflege erweitert. Ein Jahr später wurde
die Reichsstelle für Naturschutz dann dem Reichsforstamt zugeordnet. Vgl. Joachim
Radkau u. Frank Uekötter (Hg.), Naturschutz und Nationalsozialismus, Frankfurt 2003.
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Die Nestoren des DDR-Naturschutzes
87
der Naturschutz der Hauptabteilung Forstwirtschaft als Oberster Forstbehörde
unterstellt wurde. Die oberste Naturschutzbehörde war somit das Ministerium
für Land- und Forstwirtschaft, auf mittlere Ebene standen die Forstbehörden bei
den Räten der Bezirke und die unteren Naturschutzbehörden waren die Räte der
Kreise. Ab 1951 wirkte Erna Kretschmann zwei Jahre lang als Referentin für
Naturschutz und Landschaftsgestaltung beim Rat des Kreises Oberbarnim.43 Im
selben Jahr wurde Kurt Kretschmann Sonderbeauftragter für Aufgaben im
Naturschutz, angestellt vom MLF des Landes Brandenburg, und übernahm die
Landesstelle für Naturschutz. Zu dieser Zeit konnte er die stilisierte Eule als
Naturschutzzeichen in der DDR etablieren, die mit dem Naturschutzgesetz 1954
für die ganze Republik verbindlich und 1992 auch in der Bundesrepublik
eingeführt wurde.44
Wie Kurt sein Amt als Sonderbeamter ausfüllte, lässt erkennen, dass er seine
Naturschutzziele um jeden Preis durchsetzen wollte. Um administrative
Hürden zu umgehen, riet er anderen Naturschutzbeauftragten, es ihm
gleichzutun und auf kleine Notlügen zurückzugreifen. Gemäß der eigenen in
der Reformbewegung verankerten Maxime von der größtmöglichen Selbstverantwortung des Individuums, gepaart mit einer sozialistisch motivierten
Skepsis gegenüber Privateigentum, versandte er regelmäßige Rundschreiben
wie das folgende vom 26. Juli 1951, bei dem er Handlungsanleitungen gab, wie
Naturschutz wirksam gegen Privatbesitzer durchgesetzt und Widerstände
beseitigt werden könnten:
Bei Verhandlungen mit Privatbesitzern empfiehlt es sich, falls sich Widerstand bemerkbar
macht, zu erklären, daß die Kreisstelle für Naturschutz bereits beschlossen hat, daß das
besagte Objekt unter Naturschutz zu stellen ist, der Landrat und der Bürgermeister sofort
Nachricht erhält und damit jede Veränderung genehmigungspflichtig ist. Wenn man sich
dagegen nach dem im Naturschutzgesetz vorgeschriebenen reichlich umständlichen Weg
richtet, kann es geschehen, daß der Eigentümer, um die Unterschutzstellung zu verhindern,
zur Axt greift und uns zuvorkommt […].45
Hierarchische Strukturen unterliefen die Kretschmanns im Dienst der selbsternannten Aufgabe als DDR-Naturschutzapostel regelmäßig. Um ihren Forderungen größere Durchschlagkraft zu verleihen, schrieben sie deshalb nicht
43 Vgl. Tabellarischer Lebenslauf von Erna Kretschmann, in: Haus der Naturpflege e.V.,
Erinnerungen an Erna, S. 18 f.
44 Siehe Kurt Kretschmann, in: Hermann Behrens u. Jens Hoffmann (Hg.), Naturschutzgeschichten. Lebenswege zwischen Ostseeküste und Erzgebirge, Friedland 2013,
S. 263 – 270, hier S. 265.
45 BArch, DK 1, Nr. 3752, Bl. 181, Rundschreiben Nr. 4 / 51 des „Landesbeauftragten für
Naturschutz des Landes Brandenburg“, Kretschmann, betrifft „Richtlinien über die
Erfassung von Naturdenkmalen“, zit. n. Hermann Behrens, Wende-Wege. Erna und Kurt
Kretschmann und das „Studienarchiv Umweltgeschichte“, in: Schulz, Ein Leben in
Harmonie, S. 94 – 106, hier S. 101, Anm. 4 u. S. 106.
88
Astrid Mignon Kirchhof
nur an eine Stelle, sondern richteten ihre Eingaben an verschiedene staatliche
Adressaten und stellten somit eine gewisse Öffentlichkeit her. Das Paar hatte
damit erkannt, dass eine, wenn auch kleine, Fachöffentlichkeit helfen konnte,
sich Gehör und eine Lobby zu verschaffen. Es versuchte mithin also,
demokratische Einspruchsmöglichkeiten zu schaffen, die ansonsten fehlten.
Ihr Vorgehen beschrieb Kurt Kretschmann folgendermaßen:
Jeder wußte damit, daß dieser Brief an alle möglichen Behörden und Ämter gegangen war. Das
ging den Leuten meist so an die Nerven, daß sie unseren Vorschlag akzeptierten und umsetzten.
So sind von den 70 Einsprüchen mindestens 50 durch uns selbst realisiert worden.46
Sonderbeauftragte für Aufgaben im Naturschutz wurden in allen, bis 1952
existierenden Ländern der DDR eingesetzt, weil zunächst Planstellen für den
Naturschutz fehlten. Kurt Kretschmann erweiterte seine Aufgaben, Kompetenzen und Befugnisse aber eigenmächtig zu denjenigen eines offiziellen Landesbeauftragten, die es seit Inkrafttreten des Reichsnaturschutzgesetzes 1935 in
allen Ländern und Provinzen des Deutschen Reiches gegeben hatte, und
inszenierte sich in Brandenburg als Nachfolger des entlassenen ehemaligen
Landesbeauftragten Dr. Kurt Gruhl, indem er nicht nur dessen Amtsbezeichnung übernahm, sondern wohl auch hoffte, die damit verbundenen Kompetenzen und Machtbefugnisse zu erhalten. Er fertigte zusammen mit seiner Frau
Plakate und Druckschriften mit der Überschrift „Landesbeauftragter für
Naturschutz“ oder „Landesfachstelle für Naturschutz des Landes Brandenburg“
an und wurde dafür vom Leiter der Hauptabteilung Forstwirtschaft im MLF der
DDR, König, massiv gerügt. Nach fortlaufenden Auseinandersetzungen zwischen Kretschmann und dem MLF wurde ihm das im Werkvertrag niedergeschriebene Recht abgesprochen, sich als Repräsentant einer Landesfachstelle für
Naturschutz und als Landesbeauftragter darzustellen:
Uns liegen erneut Druckschriften und Schreiben Ihrerseits vor, auf denen als Briefkopf
,Landesfachstelle für Naturschutz des Landes Brandenburg‘ in Bad Freienwalde steht. Wir
machen Sie nun letztmalig darauf aufmerksam, daß 1. Die Einrichtung einer Landesfachstelle
für Naturschutz der Bestätigung des Ministerrates der DDR bedarf. Diese liegt bisher nicht vor,
deshalb darf eine Landesfachstelle nicht bestehen. […] Wir verbieten Ihnen ausdrücklich,
Druckschriften und Rundschreiben mit der Überschrift ,Landesfachstelle für Naturschutz‘ zu
senden. […] 2. Sie besitzen mit dem Land Brandenburg, HA Forstwirtschaft, lediglich einen
Arbeitsvertrag und haben keinerlei amtliche Funktionen, das heißt, Sie haben auch keine
Unterschriftsberechtigung und auch kein Recht, einen Schriftverkehr über Naturschutz, sofern
er nicht privat ist, zu führen.47
Durch Regelverstöße wie diesen gerieten die Kretschmanns immer wieder in
Konflikt zu staatlichen Institutionen, da ihr wenig willfähriges, streitbares
46 Schulz, Ein Leben in Harmonie, S. 30.
47 BArch, DK 1, Nr. 3752, Bl. 138, Schreiben MLF HA IV F an Kretschmann, betrifft
Landesfachstelle für Naturschutz, 27. 12. 1951, zit. n. Behrens, Wende-Wege, S. 104, Anm. 9.
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Die Nestoren des DDR-Naturschutzes
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Verhalten den SED-Staat und sein Kontrollbedürfnis herausforderte und es zu
Reibungen mit Vorgesetzten und Verwaltungsstellen kam. Diese verloren
dabei gleichwohl nicht ihr Vertrauen in das Ehepaar. Kurt Kretschmann
beendete zwar seine Position als Sonderbeauftragter, was auch der Bezirksreform geschuldet war, in deren Folge nun Bezirksbeauftragte eingesetzt
wurden. Er übernahm jedoch eine neue Position als Referent für Naturschutz
in der Akademie der Landwirtschaftswissenschaften zu Berlin. Ein Jahr später
wurde ihm mit der Leitung des Müritzhof ein neuer Wirkungsbereich
angetragen: Es handelte sich um einen abgelegenen Bauernhof in dem damals
größten Schutzgebiet der DDR im heutigen Landkreis Mecklenburgische
Seenplatte. Hier wurde die Zentrale Lehrstätte für Naturschutz Müritzhof
eingerichtet, die sich zur ersten Lehrstätte für Naturschutz weltweit entwickelte.48 Diese wegweisende Einrichtung leiteten die Kretschmanns für sechs
Jahre von 1954 bis 1960 und schulten während dieser Zeit rund 1.200
Teilnehmer, die auf unterster Ebene in ihren Dörfern und Kommunen tätig
waren, darin, wie Naturschutz vor Ort effektiv praktiziert werden konnte.49 Die
Aufgaben der Kretschmanns auf dem Müritzhof waren vielfältig und bezogen
sich beispielswese darauf, das 1954 in Kraft getretene Naturschutzgesetz zu
erläutern, an dessen Ausformulierung Kurt Kretschmann maßgeblich beteiligt
gewesen war, oder auch zu erklären, welche Methoden anzuwenden seien, um
den Naturschutz im eigenen Umfeld durchzusetzen: wie man mit Behörden
umging und wie man Widerstände beseitigen konnte. Kurt Kretschmann
führte hierzu aus: „Von Anfang an war es unsere Absicht, alle möglichen
Institutionen nach Müritzhof zu ziehen, um eine Breitenwirkung zu erzielen.
[…] Der Anteil der Staatsfunktionäre wird sich erheblich steigern. […]
Dadurch dringen wir überall ein“.50
Darüber hinaus wollten die Kretschmanns den Stellenwert des Naturschutzes
dadurch erhöhen, dass sie Minister und andere Vertreter zentraler Verwaltungen zum „Naturtourismus“ in das Naturschutzgebiet Ostufer der Müritz
einluden. Auch diese Strategie rief Ablehnung in der Zentralen Naturschutzverwaltung im MLF hervor. Aus dem Bericht über die Dienstreise des
Hauptreferenten für Naturschutz, Fritz Wernicke, geht das unmissverständlich
hervor :
48 Ludwig Bauer, Naturschutzarbeit der 1950er und 1960er Jahre in der ehemaligen DDR,
in: Stiftung Naturschutzgeschichte (Hg.), Natur im Sinn. Zeitzeugen im Naturschutz,
Essen 2001, S. 47 – 61, hier S. 53.
49 Kurt Kretschmann, Entstehung der Lehrstätte für Naturschutz „Müritzhof“, Neustrelitz
1995.
50 BArch, DK 1, Nr. 20291, Bl. 135 f., zit. n. Institut für Umweltgeschichte und Regionalentwicklung (Hg.), Lexikon der Naturschutzbeauftragten, Bd. 3: Naturschutzgeschichte
und Naturschutzbeauftragte in Berlin und Brandenburg, Friedland 2010, S. 175.
90
Astrid Mignon Kirchhof
Da seit einigen Tagen der Kranichzug eingesetzt hat, weilen in der Lehrstätte ständig
zahlreiche Gäste. […] Meinerseits (wird) zu bedenken gegeben, dass die Beobachtung des
Kranichzuges nicht zu einer Kulthandlung werden sollte. Unterzeichneter steht auf dem
Standpunkt, dass die Lehrstätte nicht […] zu einer ,Erlebnisstätte‘ entwickelt (werden
sollte).51
Zum Hauptproblem der Kretschmanns während dieser Jahre entwickelte sich
der Zwiespalt, dass die DDR zwar ihrer Meinung nach auf der moralisch
richtigen Ideologie aufbaute, aber ihre Herzensangelegenheit, der Naturschutz, hier keine ausreichende staatliche Unterstützung erfuhr. Zwar wurde
ehrenamtliches Naturschutzengagement staatlicherseits meist unterstützt und
eine Vielzahl Natur- und Umweltschutzgesetze erlassen. Allerdings wurden
diese mitnichten immer umgesetzt, vor allem dann, wenn sie kostspielig waren
oder wirtschaftlichen Belangen im Wege standen. Mit ihren unkonventionellen Aktionen und der Unbedingtheit, mit der die Kretschmanns Veränderungen nach ihren eigenen Vorstellungen bewirken wollten, stießen sie daher an
Grenzen der Bürokraten und Funktionäre. 1960 beendeten Kurt und Erna
Kretschmann nicht nur ihre Tätigkeit auf dem Müritzhof, sondern trafen eine
grundsätzliche Entscheidung: Sie zogen wieder nach Bad Freienwalde und
eröffneten ein Natur- und Kulturzentrum, das „Haus der Naturpflege“, das sie
bis 1982 bewirtschafteten. Für die genauen Motive des Ehepaares zu diesem
Schritt bieten sich verschiedene Interpretationen an. Gebhard Schultz,
Archivar des Erna-und-Kurt-Kretschmann-Archivs, vermutet, dass hierfür
die „anarchistische“ Grundhaltung des Ehepaares letztendlich verantwortlich
gewesen sei.52 Demgegenüber vertritt der Leiter des Studienarchivs Umweltgeschichte, Hermann Behrens, die Ansicht, dass eher die geschilderten
Auseinandersetzungen mit staatlichen Stellen und Vertretern der Naturschutzadministration den Grund für den Rückzug darstellten.53 Kurt Kretschmann selbst verweist in der Broschüre „Entstehung der Lehrstätte für
Naturschutz ,Müritzhof ‘“ darauf, dass es die fehlende Unterstützung des
Staates gewesen sei, die das „Faß zum Überlaufen“ gebracht habe.54 Vermutlich
war es das Zusammenspiel mehrerer Faktoren, nämlich fehlende staatliche
Unterstützung und Konfliktmüdigkeit, ein gewisser Freiheitswillen und der
Wunsch, sich staatlicher Kontrolle zu entziehen, das die Kretschmanns dazu
brachte, sich in Bad Freienwalde einen eigenen Naturraum zu schaffen. Hierbei
spielte die reformbewegte Weltanschauung der Kretschmanns ohne Zweifel
51 BArch, DK 1, Nr. 10290, Bl. 61, zit. n. ebd.
52 Siehe Erna-und-Kurt-Kretschmann-Archiv [im Folgenden KreA], Online-Findbuch,
http://www.haus-der-naturpflege.de/uploads/PDF/KreA_Online-Findbuch_2011.pdf,
S. 11. Siehe ebenso Behrens, Wende-Wege, S. 106.
53 Ebd.
54 Hier schildert Kretschmann, dass er eine Idealbeschreibung eines Kreises im Naturschutz entworfen hatte, die von der Parteileitung scharf kritisiert wurde. Kretschmann,
Entstehung der Lehrstätte, S. 16.
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Die Nestoren des DDR-Naturschutzes
91
eine zentrale Rolle: Anhänger der Reformbewegung setzten statt auf Reformen
des Staates auf das Individuum. Die hinter diesem Entschluss der Kretschmanns stehende Idee war, dass die naturgemäße Lebensweise zwar vom
Einzelnen durchgeführt werden solle, in ihrer Gesamtheit aber die gewünschten Reformen bewirke, wobei nicht auf eine Reform der Produktion, wie in
kommunistischen Systemen, sondern des Konsums, wie es die Reformbewegung propagierte, abgezielt wurde.55 Gemäß des reformbewegten Credos
„Fang bei Dir selbst an“ lag es dementsprechend nahe, nun auch die
Lösungsmöglichkeiten gesellschaftlicher (Naturschutz-) Probleme beim Individuum, sprich bei sich selbst, zu suchen. Kurt Kretschmann schrieb hierzu:
Dann kehrten wir nach Bad Freienwalde zurück und begannen auf dem eigenen Grundstück
rein privat mit dem Ausbau des ,Hauses der Naturpflege‘. Das haben wir dann 22 Jahre ohne
staatliche Unterstützung betreut und immer weiter entwickelt.56
Die Idee einer Bildungsstätte, die bereits hinter der Lehrstätte Müritzhof stand,
nahmen sie nach Bad Freienwalde mit und setzten sie dort nach eigenen
Vorstellungen um.
III. Gegenwelten im Haus der Naturpflege: Beginn –
Bewahrung – Bedeutung
Lebenslang blieb der Natur- und Umweltschutz als bevorzugtes Problem- und
Aktivitätsfeld für die Kretschmanns sinnstiftend. Das von ihnen geschaffene
Haus der Naturpflege in Bad Freienwalde hatte hierbei verschiedene Funktionen: Es war der zentrale Ort für die Fokussierung ihrer Aktivitäten, an dem
viele Besucher zu praktischem Naturschutz angeregt wurden. Es diente aber
auch als Rückzugsort und schuf die Möglichkeit für ein bedingungslos am
Naturschutz orientiertes Handeln, das äußeren, das heißt staatlichen, Einflüssen weitgehend entzogen war. Das Haus und den Austausch mit Interessierten aus dem In- und Ausland ohne Einflussnahme von Politik und
Verwaltung zu betreiben, gelang dem Ehepaar, weil es in staatlichen Strukturen, wie dem Kulturbund, assoziiert und vernetzt blieb. Dabei war es stets
das Ziel der Kretschmanns, ihr Handeln auf Dauer zu stellen und dieses über
ihren eigenen Wirkungskreis hinaus ausstrahlen zu lassen. Ihre Ideen wurden
schließlich von der erstarkenden Umweltbewegung der 1980er Jahre aufgenommen, und im Verlauf des Vereinigungsprozesses wurden Naturschutzgebiete, und damit eines der zentralen Anliegen des Ehepaares, im Einigungsvertrag festgesetzt.
55 Vgl. Barlösius, Naturgemäße Lebensführung, S. 170 f. u. 198 f.
56 Kretschmann, Entstehung der Lehrstätte, S. 16.
92
Astrid Mignon Kirchhof
1. Die Entwicklung einer naturbewussten Gegenwelt
Der Soziologin Martina Löw zufolge entstehen Räume im Handeln durch einen
Prozess, den sie „Spacing“ nennt.57 Für den gegenweltlichen, naturbezogenen
Handlungsraum der Kretschmanns war dieser Ort das Gelände des Boasberges
an der Berliner Straße in Bad Freienwalde. Kurt und Erna errichteten hier ein
eigenes Wohnhaus sowie weitere Gebäude, die als Bildungsstätten dienten.58
Darüber hinaus bewirtschafteten sie den großen Garten, nutzten ihn auch als
Anschauungsmaterial für Besucher, stellten auf dem Areal Schilder wie die
selbst entworfene Waldohreule als Kennzeichen für Naturschutzgebiete auf
und vergaben symbolische Namen für ihre Bildungshütten.59 So nannten sie
eine Lehrstätte die „Storchenhütte“, weil ihnen der Schutz der Störche
besonders am Herzen lag.60 Für die vielen Besucher, die das Haus der
Naturpflege im Laufe der Jahre besuchten, bauten die Kretschmanns 1962 ein
zweigeschossiges, für vier Personen angelegtes Gästehaus, das sie „Kneschke“Hütte nannten und damit Karl Kneschke, den Bundessekretär des Kulturbundes, würdigten, durch den Kurt bei der Erarbeitung des ersten Naturschutzgesetzes der DDR Anfang der 1950er Jahre große Unterstützung erfahren
hatte.61
Auf dem Gelände entstanden im Verlauf der 1950er und 1960er Jahre noch
weitere Häuser, bei denen die Kretschmanns darauf achteten, dass diese ihren
Ökologie-Vorstellungen und ihren Bedürfnissen in Bezug auf eine missionarisch angelegte Bildungsarbeit entsprachen.62 So gelang es ihnen, in dem nur
35 Quadratmeter reine Wohnfläche umfassenden und somit für vier Personen
57 Löw, Raumsoziologie, S. 158 f.
58 Für folgende Ausführungen über das bebaute Gelände, auf dem das Ehepaar
Kretschmann lebte und arbeitete, siehe Haus der Naturpflege e.V., Bauwerke im Haus
der Naturpflege, http://www.haus-der-naturpflege.de/index.php?page=bauwerke-imhaus-der-naturpflege.
59 Für die Beschreibung des Schaugartens siehe Haus der Naturpflege e.V., Schaugarten,
http://haus-der-naturpflege.de/index.php?page=schaugarten. „Räume sind mit symbolischer Wirkung aufgeladen und ziehen dadurch bestimmte Akteursgruppen an“, zit.
n. Cornelia Dlabaja, Symbolische Markierungen im Stadtraum, in: Oliver Frey u. Florian
Koch (Hg.), Positionen zur Urbanistik I. Stadtkultur und neue Methoden der
Stadtforschung, Wien 2011, S. 147 – 167, hier S. 153. Dlabaja bezieht sich ebenfalls auf
Martina Löw und exerziert vor, wie Stadtviertel bewusst gestaltet werden können, damit
sie für erwünschte Bevölkerungsgruppen anziehend wirken. Genau das war auch das
Ziel von Kurt und Erna Kretschmann, die durch das Nutzen einer bestimmten Symbolik
im Haus der Naturpflege ihren Naturraum ansprechend aufbereiteten wollten und unter
anderem dadurch kontinuierlich Besucher für ihre Ideen begeistern konnten.
60 Siehe Haus der Naturpflege e.V., Bauwerke, Abs. 4.
61 Ebd., Abs. 3.
62 Das Wohnhaus kann heute noch als Museum besichtigt werden. Siehe Haus der Naturpflege
e.V., Museum, http://www.haus-der-naturpflege.de/index.php?page=museum.
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Die Nestoren des DDR-Naturschutzes
93
sehr kleinen Wohnhaus durch sinnvolle Möbeleinbauten, effektive Ausplanungen des Kellers und unter dem Dach sowie durch den Einbau doppelter
Wände zusätzlichen Speicherplatz zur Aufbewahrung für Brennmaterialien,
für die Korntrocknung sowie Platz für eine Werkbank und einen Ofen zum
Brotbacken zu schaffen.63 Neben dem Haus installierten sie eine umweltfreundliche Toilette, die ohne Wasserzuleitung funktionierte.64 In einem der
Vortragshäuser gelangte Licht durch das Dach in den Raum und machte so
künstliche, weil elektrifizierte Lichtquellen verzichtbar.65 Das Ehepaar versuchte, bei seinen Bauvorhaben stets auch in finanzieller Hinsicht sparsam
vorzugehen. Für nur knapp einhundert Mark entstand ein acht Meter hoher
Turm mit einer großen Aussichtsfläche, die häufig für geselliges Beisammensein genutzt wurde.66 Mit diesem „Wackelturm“ reihte sich das Ehepaar in die
Vielzahl von Bad Freienwalder Türmen und Warten ein, von welchen man
einen Panoramablick in die umliegende Gegend genießen konnte.67
Bis 1982 wohnten und lernten viele Besucher in den gebauten Häusern,
musizierten, aßen und diskutierten mit den Kretschmanns und wurden so zu
Mitstreitern für ein naturbewusstes Leben. Das durchkomponierte Gelände
sollte jedem Besucher verdeutlichen, dass es sich hier um einen eigenen
naturbezogenen Kosmos handelte, der eine bewusst inszenierte Atmosphäre
ausstrahlte. Der Garten, die Hütten mit ihren jeweiligen Funktionen sowie
Ökotoilette, Backofen, Lichtexperimente und Natur-Aussichtstürme sollten
jedem Gast aufzeigen, dass an diesem Ort die Natur im Zentrum stand, dass ein
Naturraum durch die Kretschmanns geschaffen worden war. Da das Ehepaar
auf dem Boasberg nicht nur arbeitete, sondern dort auch ganzjährig lebte,
führten sie so ganz praktisch vor, wie eine harmonische Einheit mit der Natur
aussehen konnte. Das in diesem gegenweltlichen Naturraum verwirklichte
„bessere Leben“, das auch die reformbewegten Vorbilder im 19. Jahrhundert
versucht hatten zu realisieren, war durch die Benennung der Hütten und die
Aufstellung von Schildern symbolisch markiert und daher an den Ort, das
Haus der Naturpflege auf dem Boasberg, gebunden.68
63 Erna Kretschmann hatte zwei Kinder aus erster Ehe mit in ihre Verbindung mit Kurt
gebracht. Siehe Haus der Naturpflege e.V., Erinnerungen an Erna, S. 18. Das gemeinsame Kind war 1945 an Diphterie gestorben, siehe Kretschmann, Gedichte gegen den
Krieg, S. 63. Zur Ausplanung des Hauses siehe Haus der Naturpflege e.V., Bauwerke,
Abs. 2.
64 Ebd.
65 Vgl. ebd., Abs. 4.
66 Ebd., Abs. 5.
67 Ebd.
68 Vgl. Löw, Raumsoziologie, S. 170 u. S. 204 f.
94
Astrid Mignon Kirchhof
2. Die Verstetigung des gegenweltlichen Raumes
Neben der eben beschriebenen sowohl konkreten als auch symbolisch
gekennzeichneten Örtlichkeit verstetigt sich ein Raum nur dann, wenn er
sich institutionalisiert, das heißt, wenn er über das eigene Handeln hinaus
wirksam bleibt und dauerhaft Handeln formt – ein Vorhaben, das als das
grundsätzliche Ziel der Kretschmann’schen Bemühungen angesehen werden
kann. Ihre Aktivitäten waren nicht nur auf Dauer angelegt, sondern zielten
über den eigenen Wirkungsbereich hinaus darauf ab, Menschen anzuleiten,
ebenfalls langfristig für und im Sinne der Natur zu handeln. Ihren vielen
Besuchern lebten die Kretschmanns vor, was sie lehrten, beispielsweise
experimentierten sie mit organischem Dünger und Sonnenenergie.69 Die
Institutionalisierung eines Raumes setzt jedoch voraus, dass dieser kontinuierlich Gegenstand von Wahrnehmungs-, Vorstellungs- oder Erinnerungsprozessen ist beziehungsweise bleibt. Der durch die Kretschmanns geschaffene
gegenweltliche Naturraum konnte mit anderen Worten nur dadurch Bestand
haben, weil er von anderen als solcher wahrgenommen, erkannt und
anerkannt wurde.70 In der Tat wurde das Ehepaar im Laufe der Jahre täglich
von vielen Menschen besucht, mit denen sie gesellschaftliche Gestaltungsvorstellungen durch ständigen Austausch umsetzten und Netzwerke bildeten.
Inoffizielle Mitarbeiter der Staatssicherheit berichteten in den 1970er Jahren
von bis zu 80.000 Besuchern, die das Haus der Naturpflege innerhalb von 15
Jahren besucht haben sollen, also circa 5.000 pro Jahr.71 Für diese hielten die
Kretschmanns Lehrgänge ab und schulten sie durch Vorträge. Sie bewirteten
ihre Besucher aus dem eigenen Garten und nutzten ihn bildungspolitisch als
Anschauung für die Interessenten, die ihr neugewonnenes Wissen in ihrem
Lebensumfeld umsetzen sollten. Auf diese Weise gewannen sie Freunde und
Unterstützer für ihre Idee des Lebens in Harmonie mit der Natur. Zwar lebten
die vielen Gäste nicht alle vegetarisch oder gar autark aus dem eigenen Garten,
aber viele teilten doch die grundsätzliche Idee eines „besseren Lebens“, zu dem
jeder Einzelne einen Beitrag leisten könne. Was damit für das Ehepaar gemeint
war, beschreibt Kurt Kretschmann in einem Gedicht:
Wer weit hinausschaut über das eigene Ich, zieht am Ende Bilanz – es lohnt sich! Nicht
materiell, das lag uns fern. Wir wollten nur einen besseren Stern; Wo Mensch und Natur
69 Schulz, Ein Leben in Harmonie, S. 25 – 30.
70 Löw, Raumsoziologie, S. 158 f.
71 Archiv des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der
ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik [im Folgenden BStU], BVfS Frankfurt
Oder, Abteilung XI 300, Bl. 38, Operativ-Information 3 / 77, 28. 4. 1977. Die Schriftstellerin Gisela Heller spricht in ihrem Beitrag zur Gedenkbroschüre zur Erinnerung an
Erna Kretschmann von 7.000 Besuchern pro Jahr, siehe Gisela Heller, Geliebt und
verstanden werden ist das höchste Glück, in: Haus der Naturpflege e.V., Erinnerungen
an Erna, S. 5 – 8, hier S. 6.
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Die Nestoren des DDR-Naturschutzes
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nicht Wasser und Feuer, und die ,Krone der Schöpfung‘ ein raubendes Ungeheuer, wo die
Frau und der Mann und das Kind zufrieden, froh und glücklich sind.72
Ein (Handlungs-) Raum ist stets von sozialen Ungleichheiten durchzogen. Die
Art seiner Konstitution ist daher von der Möglichkeit der Akteure abhängig,
auf Wissen, materielle Güter, soziale Position und die Zugehörigkeit zu
Assoziationen und dadurch Netzwerke zurückgreifen zu können.73 Die
Kretschmanns waren weder reich noch bekleideten sie eine hohe soziale
Position. Dass auch in der DDR eine starke soziale Schichtung herrschte, zeigt
sich am Naturschutz exemplarisch.74 So traf man vor allem Akademiker in den
führenden Positionen dieses Bereiches. Kurt Kretschmann war der einzige
Nicht-Akademiker, der an dem Naturschutzgesetz 1954 mitgearbeitet hatte.
Fehlende soziale Position kompensierten Erna und Kurt Kretschmann
dadurch, dass sie durch einen enormen Bildungsschatz und die praktische
Umsetzung dieses Wissens bereits zu Lebzeiten als Koryphäen ihres Gebietes
galten. Sie engagierten sich darüber hinaus im Kulturbund und gaben diese
Zugehörigkeit und die damit verbundenen Kontakte nie auf. Durch diese
Assoziation und ihren Status konnten sie Netzwerke aufbauen, die in die
höchsten gesellschaftlichen Kreise reichten. Das Problem des finanziellen
Einkommens, das normalerweise für einen Lebensstil, wie ihn die Kretschmanns führten, notwendig ist, in ihrem Fall jedoch nicht vorhanden war, löste
das Ehepaar auf sehr eigene Weise: Während des Aufbaus ihres Naturzentrums
sicherte Erna Kretschmann den Lebensunterhalt, indem sie noch einige Jahre
berufstätig blieb. Von 1960 bis 1964 arbeitete sie als Bezirkssekretärin für
Natur und Heimat beim Kulturbund in Frankfurt an der Oder, danach bis 1968
in der Volksbuchhandlung Bad Freienwalde.75 Kerstin Götter, die heutige
Geschäftsführerin des Hauses der Naturpflege, weist darauf hin, dass die
Kretschmanns, nachdem sich ihre neue Lebensweise stabilisiert hatte, stets
versuchten, die Lebenshaltungskosten niedrig zu halten, weil sie kaum
Einnahmen hatten. So kostete die Pacht für ihr Grundstück nur einhundert
Mark im Jahr. Vor allem Fleisch sei in der DDR teuer gewesen, so Kerstin
Götter ; da Erna und Kurt jedoch Vegetarier waren, hätten sie von den
72 Kurt Kretschmann, Du bist für mich die richtige Frau, in: Haus der Naturpflege e.V.,
Erinnerungen an Erna, S. 16.
73 Martina Löw ordnet die von ihr benannten sozialen Ungleichheiten sogenannten
„institutionalisierten Tauschmitteln“ zu und zwar das Wissen dem Zeugnis, die
materiellen Güter dem Geld, die soziale Position dem Rang und die Assoziationen der
Zugehörigkeit. Siehe Löw, Raumsoziologie, S. 210 f.
74 So verweist Heike Solga darauf, dass es auch in der DDR soziale Mobilität gab, die nicht
selten an Systemloyalität gekoppelt war. Siehe Heike Solga, Systemloyalität als
Bedingung sozialer Mobilität im Staatssozialismus am Beispiel der DDR, in: Berliner
Journal für Soziologie 4. 1994, S. 523 – 542.
75 Vgl. Tabellarischer Lebenslauf von Erna Kretschmann, in: Haus der Naturpflege e.V.,
Erinnerungen an Erna, S. 18 f.
96
Astrid Mignon Kirchhof
Erzeugnissen aus ihrem Garten leben und somit kostengünstig wirtschaften
können, so wie es Kurt schon in den 1930er Jahren erprobt habe.76 Anhänger
der Kretschmanns, die aufgrund ihrer gesellschaftlichen Position die Möglichkeit dazu hatten, halfen dem Ehepaar materiell, um so eine Verstetigung
ihres Zirkels und der geleisteten Arbeit zu erreichen. Die eingangs zitierte
Pianistin und Professorin an der Hochschule für Musik Hanns Eisler, Galina
Iwanzowa, schreibt:
Ich bin froh, dass ich mit vielen Benefiz-Konzerten die Arbeit dieser beiden Menschen
unterstützen konnte. Von ihnen habe ich gelernt, meinen eigenen Garten nach ihren
Vorstellungen zu gestalten. Die Freundschaft mit Erna und Kurt sowie auch die Freundschaft
mit Professor Krauß, unserem gemeinsamen Freund, hat mir eine neue Lebensweise
eröffnet. Davon hat auch mein Sohn profitieren können, der auch nach diesen Idealen lebt.
Dank der Freundschaft mit Erna und Kurt ist mein Leben so sehr reicher und viel intensiver
geworden.77
Der Kontakt zu der von den Kretschmanns geschaffenen Gegenwelt entstand
zum Teil zufällig, indem Besucher, die im Kulturbund oder bei den Natur- und
Heimatschützern organisiert waren, Bekanntschaft mit dem Ehepaar machten.
Andere kamen unangemeldet beim Haus der Naturpflege vorbei, weil sie
Anleitungen zum Bepflanzen ihres Privatgartens benötigten oder über andere
von dem Ehepaar gehört hatten. Beträchtliche Zeit verbrachten die Kretschmanns am Schreibtisch. Sie korrespondierten mit Experten im In- und
Ausland und betrieben aufwendige Recherchen zur Vorbereitung von Ausstellungen, Vorträgen und Publikationen. Die Zahl ihrer Veröffentlichungen
ging „in die Tausende“.78 Bereits zu DDR-Zeiten wurden auch zensierte Filme
über das Ehepaar und sein Haus der Naturpflege gedreht, was wiederum der
Vernetzung unter Gleichgesinnten und damit der Popularisierung ihrer Ideale
diente.79
Manche Besucher kamen schon als Kinder, weil die Eltern das Haus der
Naturpflege besuchten, und blieben den Kretschmanns auch als Erwachsene
verbunden, wie Anke Jenssen, die vormalige Vorsitzende des 1993 gegründeten Vereins Haus der Naturpflege e. V. Auch Michael Succow, der spätere
stellvertretende Naturschutzminister der DDR, kam als Kind eines Tages zu
den Kretschmanns zu Besuch. Kurt Kretschmann erinnerte sich in den 1990er
Jahren an die erste Begegnung:
76 Kerstin Götter im Gespräch mit der Autorin im Haus der Naturpflege, Bad Freienwalde,
Oktober 2011.
77 Iwanzowa, Für immer in meinem Herzen, S. 10.
78 Darauf weist der Archivar des Erna-und-Kurt-Kretschman-Archivs, Gebhard Schultz,
hin, siehe KreA, Online-Findbuch, S. 13.
79 Hartmut Sommerschuh, 22 Jahre OZON. Umweltberichterstattung in den Medien, in:
Studienarchiv Umweltgeschichte 16. 2011, S. 65 – 79, hier S. 67 – 69.
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Die Nestoren des DDR-Naturschutzes
97
Ich habe den Tag nicht vergessen, als der 12-jährige Michael zum ersten Mal zu mir kam.
Geschickt von seiner klugen Mutter, um von seinen ornithologischen Beobachtungen im
heimatlichen Dorf zu berichten. […] Als er dann die erweiterte Oberschule in Bad
Freienwalde besuchte, kam er abends oft zu uns, um sich mit der Naturschutzliteratur zu
beschäftigen. So begleiteten meine Frau und ich, bis heute, 38 Jahre seinen Entwicklungsweg. Daß er ein Kämpfer für den Naturschutz werden würde, davon waren wir überzeugt.
Doch wir konnten nicht ahnen, daß der junge Michael einmal auf diesem Gebiet mit genialem
Weitblick und schöpferischer Kraft der Motor für eine nie für möglich gehaltene
Aufwärtsentwicklung im Natur- und Umweltschutz werden würde.80
Das Ehepaar Kretschmann schulte Michael Succow in jungen Jahren nicht nur
in Fragen des Naturschutzes, sondern beriet ihn auch später im Leben. So
mahnte ihn Kurt Kretschmann: „Als außenstehender Kritiker nützt man dem
Naturschutz nichts.“81 Diesen Rat hat Succow schon früh beherzigt. Er
studierte Biologie, wurde wissenschaftlicher Assistent am Botanischen Institut
der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, wo er später promovierte, war
als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Bodenkunde in der Eberswalder Akademie der Landwirtschaftswissenschaften tätig, schloss eine
Habilitation an, wurde drei Jahre später, 1984, zum Professor der Akademie
der Landwirtschaftswissenschaften der DDR ernannt und setzte 1990 als
stellvertretender Minister für Naturschutz durch, dass große Flächen der DDR
zum Naturschutzgebiet erklärt wurden.82 Zeitlebens blieb Michael Succow den
Kretschmanns eng verbunden und machte immer wieder deutlich, dass sie für
ihn die geistigen Zieheltern des Natur- und Umweltschutzes in der DDR und
auch für seinen eigenen Lebensweg von herausragender Bedeutung seien.83
Wo auch immer die verschiedenen Personen auf das Ehepaar trafen, Erna und
Kurt Kretschmann gaben ihre Lebensphilosophie gezielt weiter und schufen
ein zur DDR-Realpolitik gegenweltliches, bewusstseinsförderndes soziales
Arrangement, in dem sie bisher wenig oder gar nicht thematisierte Probleme
des Natur- und Umweltschutzes in der DDR bewusst machten und dementsprechende Gegenmaßnahmen entwickelten. So berichtete die Schriftstellerin
und Redakteurin Gisela Heller :
Er [Kurt Kretschmann, A. M. K.] trommelte auch das Bewusstsein wach, dass man die Natur
nicht beherrschen, nicht auf Dauer ungestraft ausbeuten kann, sondern dass man ihre
Gesetze erkennen müsse, um sie sich dienstbar zu machen. Denn die Natur könne ohne den
Menschen auskommen, aber der Mensch nicht ohne die Natur.84
80 KreA, 152, Kurt Kretschmann, Prof. Dr. Michael Succow – aktiv und weitsichtig für den
Natur- und Umweltschutz tätig. Aufsatz für den Freienwalder Kreiskalender, hier S. 2 – 3,
nach 1991.
81 Zit. n. Christian Siepmann, Leben im Todesstreifen, http://nationale-naturlandschaften.com/
index.php?q=leben-im-todesstreifen-das-tafelsilber-der-deutschen-einheit-wird-20.
82 KreA, 152, Maschinenschriftlicher Lebenslauf von Michael Succow, 1991.
83 Zuletzt in dem Band Naturschutz in Deutschland, S. 35 – 44, hier S. 39 – 40.
84 Heller, Geliebt und verstanden, S. 6.
98
Astrid Mignon Kirchhof
Genau diese Maxime beherzigte auch Michael Succow und machte sie zur
grundlegenden Philosophie der Michael-Succow-Stiftung, die er als erste
gemeinnützige Naturschutzstiftung 1999 in den Neuen Bundesländern ins
Leben rief.85 Der Nukleus dieser Gegenwelt, das Haus der Naturpflege, zog
kontinuierlich die Aufmerksamkeit einzelner Akteure an und schuf darüber
hinaus gemeinsame Problemsichten und Handlungskategorien.
Wie weit verzweigt die Verbindungen der Kretschmanns in verschiedene
gesellschaftliche Segmente der DDR-Gesellschaft waren, wie viele Menschen
ihr Haus der Naturpflege kannten und anerkannten, sich mit ihnen vernetzten,
austauschten und dadurch eine Art Wir-Gefühl entwickelten, zeigt sich auch
bei dem bereits erwähnten Herbert Krauß. Er war Professor für Physiotherapie
an der Berliner Humboldt-Universität sowie Chefarzt in der Klinik für
physikalisch-diätische Therapie im städtischen Krankenhaus Berlin-Buch, wo
er naturheilkundlich praktizierte. Unter seinem Einfluss wurde die Naturheilkunde als klinische Disziplin der Physiotherapie in der DDR anerkannt. Da
eine natürliche Lebensweise auf allen Gebieten die Grundlage des Denkens von
Kurt und Erna Kretschmann war, war es nur eine Frage der Zeit, dass sich der
Professor für Physiotherapie und Naturheilkunde und die Koryphäen für
Naturschutz kennenlernten.86 Als sich in den 1980er Jahren schließlich
verschiedene Umweltgruppen in der DDR gründeten, hatten diese auch
Kontakte in die Bucher Klinik von Herbert Krauß: So berichteten Inoffizielle
Mitarbeiter des MfS, dass Aktivisten Kontakte zu Ärzten in Buch aufnehmen
wollten, um sich naturheilkundlich zu informieren.87
Unter den Personen, die sie als Freunde und Gäste trafen, sind viele, die sowohl
zu Lebzeiten als auch über den Tod des Ehepaares hinaus dem Naturschutz
verhaftet blieben und in ihrem Sinne für einflussreiche gesellschaftliche
Institutionen, wie beispielsweise den Naturschutzbund (NABU), weiterwirken. Dies gilt auch für Mechthild und Christoph Kaatz, die 1979 den
Storchenhof gründeten, eine Auffangstation für verletzte Störche und andere
Großvögel im sachsen-anhaltinischen Loburg. Dieses Engagement brachte das
Ehepaar Kaatz in Kontakt mit Kurt und Erna Kretschmann, die ebenfalls für
den Schutz des Weißstorches im Kulturbund aktiv waren und hierzu
entsprechende Mitteilungen des Arbeitskreises Weißstorch herausgaben.88 Sie
85 Siehe http://www.succow-stiftung.de/.
86 Claus Ruda, Die Naturheilkunde in Berlin, Berliner Ärzteblatt 1999, http://www.clausruda.de/artikel/naturheilkunde.html.
87 BStU, 1697 / 89, Berlin 161 / 91, Akte „Reinhard Schumann“, Bd. 5, Bl. 22, OperativInformation 115 / 88, 13. 7. 1988.
88 Einige der von Kurt Kretschmann herausgegebenen Mitteilungen des Arbeitskreises
Weißstorch gibt es im Bundesarchiv Berlin, siehe BArch, DY 27, Nr. 9646. Der von ihm
eingebrachte Vorschlag im Zentralausschuss für Ornithologie und Vogelschutz zur
Gründung eines Arbeitskreises Weißstorch im Jahr 1978 findet sich in BArch, DY 27,
Nr. 9721.
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Die Nestoren des DDR-Naturschutzes
99
tauschten sich mit Fachpersonen aus dem östlichen wie westlichen Ausland
aus. Laut Mechthild Kaatz kommen diese Kontakte bis heute dem Storchenhof
zugute: „Auch gerade in ihrem Sinne führen wir das Vermächtnis beider
Kretschmanns in der NABU-Bundesarbeitsgruppe Weißstorchschutz fort.“89
Für Anhänger einer sich später entwickelnden Umweltbewegung in der DDR
ebenso wie für zahlreiche nur indirekt Beteiligte wurden Erna und Kurt
Kretschmann stilles Zentrum, Repräsentanten und Vermittler ihrer naturbetonten Vorstellung eines besseren Lebens, aber auch missionarisch predigende
Vorkämpfer des Naturschutzes in der DDR.
Wie Martina Löw aufzeigt, sind Räume von Geschlechterkonstruktionen
durchzogen und schreiben sich nicht nur strukturell, sondern auch in der
Körperlichkeit der Menschen ein, das heißt, sie finden im gesamten Habitus
ihren Ausdruck. Hierbei wird Geschlecht im Handeln konstituiert und über
Routinen, also im Alltag, reproduziert.90 Auch die Gegenwelt von Kurt und
Erna Kretschmann war durch eine klassische Geschlechteraufteilung gekennzeichnet: So war Erna beispielsweise für die Essenszubereitung zuständig.
Obwohl die Lebensreform und speziell die Lehren des von den Kretschmanns
bewunderten Werner Zimmermann auf ein gleichberechtigtes Leben zwischen
den Geschlechtern und auf die Emanzipation von Frauen abhoben, blieb Erna
Kretschmann stets im Hintergrund und ließ Kurt den Vortritt.91 Sie trug seine
Ideen eher mit, als dass sie eigene formulierte, fungierte beispielsweise in der
umfangreichen Öffentlichkeitsarbeit, die die beiden bewältigten, quasi als
seine Sekretärin und bescheinigte ihm, die Antriebsfeder für ihre Lebensphilosophie gewesen zu sein.92 Mit Blick auf die vegetarische Lebensweise hat die
Soziologin Eva Barlösius darüber hinaus aufgezeigt, dass und wie männliche
Vegetarismus-Theoretiker über die richtige, nämlich vegetarische Lebensweise und -führung ihre Zuständigkeiten in originär weibliche Verantwortungsgebiete sogar noch erweiterten. Die soziale Bedeutung weiblicher Verantwortlichkeits- und Tätigkeitsbereiche, der Haushalt und namentlich die
Essenszubereitung, sei dadurch aufgewertet worden, den Frauen selbst kam
zugleich aber nur noch eine ausführende Rolle zu.93 Kurt Kretschmann
erinnert sich:
Die Herrichtung des Essens darf nicht aufwendig sein und nicht viel Zeit erfordern. Sie
erfolgt für uns persönlich ganz nebenher. Daß meine Frau bei den vielen Gästen, die uns
89 Mechtild Kaatz, Ihr schaute die Menschlichkeit aus dem Gesicht, in: Haus der
Naturpflege e.V., Erinnerungen an Erna, S. 11 f., hier S. 12.
90 Löw, Raumsoziologie, S. 173 f.
91 Steffen Göttmann, Bad Freienwalder erinnern an Erna Kretschmann, in: Märkische
Oderzeitung, 7. 1. 2012.
92 Schulz, Ein Leben in Harmonie, S. 13.
93 Barlösius, Naturgemäße Lebensführung, S. 191 – 193.
100
Astrid Mignon Kirchhof
bedingt durch die gesellschaftliche Arbeit aufsuchen, für das Essen mehr Mühe aufwendet,
ist selbstverständlich.94
Im Aufbau ihres lebenslangen „Bildungswerkes“95 ergänzte sich das Ehepaar
dennoch oder gerade wegen der klassischen Arbeitsaufteilung sehr erfolgreich:
Vieles was er [Kurt, A. M. K.] damals mit Engelszungen predigte, gewann tatsächlich
landesweit Gesetzeskraft. Mancher, der ihn damals hörte, wird hier einwenden, Kurt sei ihm
eher als Erzengel erschienen, der mit dem Flammenschwert dazwischenfährt. Ja, er war ein
Eiferer, ein Unbequemer.96
Erna Kretschmann hingegen schien der ruhende Pol sowohl innerhalb ihrer
Ehe als auch im Kontakt mit den vielen Besuchern gewesen zu sein, die sie als
„wunderbare Trösterin, eine Aufrichterin, eine stille Revolutionärin“97 bezeichneten, die diplomatisches Geschick98 und eine „ausgleichende aber auch
energische, zielgerichtete Art“99 hatte. Dass Erna Kretschmanns Wirkungskreis weit über den Haushalt hinauswies, zeigen Einschätzungen wie die von
Anita Tack, seit 2009 Brandenburgische Ministerin für Umwelt, Gesundheit
und Verbraucherschutz, die Erna Kretschmanns Aufgabe für und innerhalb
ihres gegenweltlichen Naturraumes folgendermaßen beschrieb: „Sie hat
Gleichgesinnte gesucht, zusammengeführt und mit Blick auf gemeinsame
Werte und Ziele zusammengehalten.“100 Gerade ihre Milde und Mütterlichkeit,
ihr gelebter Altruismus und ihre Selbstlosigkeit festigten, wie es scheint, ihren
Platz in ihrer Ehe, unter den vielen Anhängern und auch im deutschen
Naturschutz insgesamt. Weggefährten wie ihr geistiger Ziehsohn Michael
Succow beschreiben sie folgendermaßen:
Erna Kretschmann galt als die ,Mutter‘ des ostdeutschen Naturschutzes. Alle, die ihr
begegnet sind, waren von dieser kleinen, zierlichen Frau fasziniert; ihre Klugheit, ihr
diplomatisches Geschick, ihre kritische Auseinandersetzung mit der Zeit, ihre Uneigennützigkeit, Freundlichkeit und Güte, ihr Werben und Eintreten für den Naturschutz, ihre
immerwährende Bereitschaft, Kurt zur Seite zu stehen, manchmal auch zu lenken. Wie vielen
Menschen gab sie Lebensanstöße, konnte sie für den Naturschutz gewinnen.101
Jeder der beiden hatte somit seinen klar zugeordneten Bereich und gepaart mit
der unterschiedlichen Persönlichkeit der beiden Eheleute fühlten sich viele
94 Kretschmann, Unsere Eß- und Trinkgewohnheiten, S. 31.
95 Anita Tack, Beeindruckendes Lebenswerk, in: Haus der Naturpflege e.V., Erinnerungen
an Erna, Beizettel.
96 Heller, Geliebt und verstanden, S. 5 – 8, hier S. 6.
97 Ebd., S. 7.
98 Tack, Lebenswerk, Beizettel.
99 Kaatz, Menschlichkeit, S. 12.
100 Tack, Lebenswerk, Beizettel.
101 Succow, Naturschutz in Deutschland, S. 40.
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Die Nestoren des DDR-Naturschutzes
101
verschiedene Menschen von ihnen angesprochen. Dass es sich dabei um eine
vermeintlich klassisch aufgebaute Geschlechterbeziehung handelte, war sicherlich auch der Generation geschuldet, in die sie hineingeboren waren.
3. Beobachtung und Wirkung des gegenweltlichen Raumes
Kurt und Erna Kretschmann arbeiteten parallel zum Haus der Naturpflege in
Bad Freienwalde im gewissen Rahmen innerhalb offizieller Strukturen weiter
und blieben daher in vereinsartigen Strukturen assoziiert und vernetzt. So
kümmerten sie sich bei den Natur- und Heimatschützern nicht nur um
Weißstörche, sondern wiesen auch Wanderwege und Lehrpfade aus, planten
öffentliche Grünanlagen und kümmerten sich um den Schutz von Fledermäusen. Dass sie nicht vollständig aus offiziellen Strukturen ausschieden,
sondern sich durch ihre Mitarbeit im Kulturbund weiterhin innerhalb der
Grenzen des SED-Systems bewegten, ist sicherlich einer der Gründe, warum es
ihnen möglich war, das Haus der Naturpflege ohne Einflussnahme durch
offizielle Stellen zu unterhalten. Mindestens bis 1965, aber vermutlich auch
darüber hinaus, galt Kurt Kretschmann als freischaffend und war daher in
keiner Betriebsparteiorganisation, jedoch in der Parteigruppe der SED im
Wohngebiet rege engagiert. Weil die Betriebs- und nicht die Wohnparteiorganisation die entscheidende Organisationseinheit der SED in der DDR
darstellte, waren in der Wohnparteiorganisation vorrangig Rentner, Hausfrauen und Freiberufler organisiert. Daraus resultierte die nachgeordnete
Rolle der Wohnparteiorganisation zum Betrieb, der zum eigentlichen Zentrum
der politischen Arbeit avancierte.102 Die Haltung der SED zu den Organisierten
der Wohnparteiorganisation war eine eher uninteressierte. Damit hatte
Kretschmann ein politisches Engagement gewählt, das vergleichsweise geringe
Verpflichtungen mit sich brachte, wodurch das Ehepaar die nötigen Freiräume
erhielt, um sein Naturzentrum aufzubauen. Wie Lindenberger ausführt, war es
den DDR-Bürgern durchaus möglich, Interessen und Bedürfnisse zu artikulieren und – so möchte man hinzufügen – auch zu leben und zu praktizieren,
solange schwerwiegende Konflikte mit den Machtinstanzen vermieden wurden.103 Diesem Gebot kamen die Kretschmanns weitgehend nach, indem sie
sich bis zum Ende der DDR nie ganz aus den offiziellen Strukturen
verabschiedeten.
Parallel dazu entwickelte sich das Naturzentrum des Ehepaares zur Nische in
der DDR, die ebenfalls zu Freiräumen führte.104 Es gibt weitere Beispiele dafür,
dass sich DDR-Bürger bewusst gegen politische Konfliktsituationen entschieden und sich im Naturschutz einrichteten, gerade weil er als politisch harmlos
102 Katrin Passens, Der Zugriff des SED-Herrschaftsapparates auf die Wohnviertel, Berlin
2003, S. 22 f.
103 Lindenberger, Herrschaft und Eigen-Sinn in der Diktatur, S. 4.
104 Günter Gaus prägte den Begriff der Nischengesellschaft bereits in den 1980er Jahren.
Siehe ders., Wo Deutschland liegt. Eine Ortsbestimmung, Hamburg 1983, S. 156 – 233.
102
Astrid Mignon Kirchhof
eingestuft wurde. Einer dieser Fälle ist der Journalist Kurt Gentz. Der
Historiker Mike Schmeitzner beschreibt ihn als „eigensinnig“, als einen
Menschen, der sich nach anfänglicher Zustimmung zum System schließlich
weigerte, seiner politischen Vergangenheit als SPD-Mann abzuschwören und
sich in die SED zu fügen, nur um als politischer Journalist überleben zu
können.105 So wurde er schließlich Mitglied im Kulturbund und verband Beruf
und heimliche Leidenschaft: Als Chefredakteur der Zeitschrift Der Falke blieb
er der Welt der Vögel und Ornithologie bis zu seinem Tod 1980 treu und fand
im Naturschutz seine Nische.106
Dass sich Andersdenkende Nischen in der DDR schufen, um sich vor
Überpolitisierung zu retten, dadurch aber wiederum zur Stabilität des Systems
beitrugen, gehört inzwischen zu den Gemeinplätzen der DDR-Forschung.107
Das Außergewöhnliche der Kretschmann’schen Nische im Sinne einer
Gegenwelt war jedoch, dass sich das Ehepaar zu Vordenkern von Ideen
entwickeln konnte, die von der Umweltbewegung teilweise aufgenommen
wurden. Diese Ideale wurden in dem Moment virulent, als sich die Bedingungen des Systems insofern änderten, als nun die Kritik am SED-Regime
öffentlich artikuliert wurde. Das heißt, Natur- und Umweltschützer, wie
Mitglieder der Bürgerbewegung Neues Forum und der Bürgerinitiative
Müritz-Nationalpark, sowie Wissenschaftler wie Michael Succow griffen die
von Kurt und Erna Kretschmann vertretenen Ideale auf, die durch IdeenTransfer in ihren Bereich gelangt waren und dort ihre Wirkung entfaltet
hatten.
Wie oben bereits angesprochen, blieb der Stasi das Wirken von Erna und Kurt
Kretschmann nicht verborgen. Das machen die Aussagen der Inoffiziellen
Mitarbeiter, die sie jahrzehntelang beobachteten, sehr deutlich. Wurde Kurt
Kretschmann in den 1950er Jahren noch als „Sonderling“ tituliert, dessen
Aussagen vor der Kreisparteikontrollkommission als unglaubwürdig eingestuft wurden,108 mäßigten sich die Urteile über das Ehepaar in den nächsten
Jahrzehnten deutlich und changierten zwischen Meinungen, wie dass sie
105 Mike Schmeitzner, Eine „freiheitliche demokratische Presse“? Kurt Gentz und die
Gründerjahre der „Sächsischen Zeitung“, in: Dresdner Hefte 30. 2012, S. 61 – 69, hier
S. 68.
106 Ebd.
107 Janka Kuball, Der Kulturbund Altlandsberg. Stadtpflege und Umweltschutz unter dem
Dach einer staatlichen Organisation, in: Engelhardt u. Reichling, Eigensinn in der DDRProvinz, S. 20 – 67.
108 BStU, BVfS Frankfurt Oder, KD Bad Freienwalde, ZMA 4884, Bl. 15, An die BVfS
Neubrandenburg Ref. 0, Betr.: Kretschmann, Kurt, 21. 2. 1958 und Bl. 23, An das
Ministerium für Staatsicherheit Bezirksverwaltung Neubrandenburg Ref. 0, Betr.:
Kretschmann, Kurt, 28. 2. 1958.
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Die Nestoren des DDR-Naturschutzes
103
„politische Ereignisse nicht werten“ könnten,109 bis hin zu der Ansicht, die
Kretschmanns hätten eine „gute Einstellung zur Politik“.110 Zudem wurden
ihre Verdienste für den Naturschutz in der DDR von Inoffiziellen Mitarbeitern
des MfS sogar hervorgehoben. Im Grunde wurden die Kretschmanns als
unpolitisches Paar dargestellt, dessen wichtigstes Ziel der Naturschutz war.111
Für die Veränderung der Urteile der Staatsicherheit über das Ehepaar lassen
sich zwei wesentliche Gründe nennen: Erstens veränderte sich die DDR selbst
sukzessive von einem Staat der starken Hand und strengen Durchsetzung
kommunistischer Herrschaft unter Walter Ulbrich zu einem Staat, der mit
Erich Honecker, zumindest zeitweise, eine außen- und innenpolitische
Entspannungspolitik verfolgte.112 Zweitens entfalteten die Kretschmanns
ihren Wirkungsraum jenseits der Metropole, abgelegen in der Natur, in
provinzieller Umgebung, und dadurch auch außerhalb der Epizentren von
Städten wie Berlin, Leipzig oder Jena, auf die sich die Aufmerksamkeit der
politisch Verantwortlichen konzentrierte. Dass dieser einseitige Blick ein
Irrtum war, machen neuere Forschungen zur durchaus nicht unbedeutenden
Rolle regionaler Städte im DDR-Erosionsprozess sehr deutlich.113 Die stillschweigende Schlussfolgerung des Staates, dass von dem Ehepaar keine
politische Wirkung ausging, muss spätestens im Rückblick als falsch gelten.
Denn unter den Augen von SED und MfS wurde es den Kretschmanns so
möglich, einen gegenweltlichen Raum zu schaffen, der in den 1980er Jahren
eine beachtliche Wirkung entfaltete. Ein Beispiel hierfür ist das Engagement
des bereits genannten Michael Succow, der jenseits seines beruflichen
Interesses für Natur- und Umweltschutz auch in der entstehenden Umweltbewegung aktiv war. So nahm er gemeinsam mit dem Bürgerrechtler und
Mitinitiator der Grünen Liga, Matthias Platzeck, an den Brodowiner Gesprächen teil, einem von dem Schriftsteller und Umwelt- sowie Menschenrechtsaktivisten Reimar Gilsenbach initiierten Zirkel aus natur- und umweltschutzbewegten Schriftstellern, Wissenschaftlern und Aktivisten.114 Schließlich
109 BStU, BVfS Frankfurt Oder, Abteilung XI 300, Bl. 40, Operativ-Information 3 / 77,
28. 4. 1977.
110 BStU, BVfS Frankfurt Oder, KD Bad Freienwalde, Bericht, Kretschmann, Kurt, 22. 4. 1970
und Bl. 13, Ermittlungsbericht Kretschmann, Erna, 1. 6. 1970.
111 BStU, BVfS Frankfurt Oder, KD Bad Freienwalde, ZMA 4884, Bl. 94, Bericht von IME H.
Hockum, 17. 5. 1988.
112 Andreas Malycha u. Peter Jochen Winters, Die SED. Geschichte einer deutschen Partei,
München 2009, S. 201 f.
113 Vgl. Braun u. Weiß, Agonie und Aufbruch.
114 Matthias Platzeck, vormaliger Ministerpräsident des Landes Brandenburg, gründete
1988 die Potsdamer Bürgerinitiative „Arbeitsgemeinschaft für Umweltschutz und
Stadtgestaltung“ (ARGUS), die 1989 zu den Gründungsmitgliedern der Grünen Liga,
eines Dachverbandes von Umweltgruppen, gehörte; als Bundessprecherrat der Grünen
Liga gehörte Platzeck zu den Vertretern von Umweltgruppen am Zentralen Runden
104
Astrid Mignon Kirchhof
mischte sich Succow auch direkt in die Politik ein. Als stellvertretender
Umweltminister wirkte er daran mit, dass der Lebenstraum der Kretschmanns,
die Einrichtung von Nationalparks, aus der Taufe gehoben wurde.115 1989
forderten Umweltschützer im Kulturbund der DDR die Gründung eines
eigenen Naturschutzministeriums mit genau jenem Mann an der Spitze, der
viel von den Kretschmanns gelernt hatte und sie als „Vordenker“ titulierte: der
Agrarwissenschaftler, Biologe und Träger des alternativen Nobelpreises
Michael Succow, der im Januar 1990 seinen Dienst im neu geschaffenen
Ministerium für Naturschutz, Umweltschutz und Wasserwirtschaft der DDR
als stellvertretender Minister antrat.116 Zeitgleich wurden Forderungen der
Bürgerbewegung Neues Forum zur Errichtung eines Nationalparks an der
Müritz, im größten und ältesten Staatsjagdgebiet der DDR, laut. Schließlich
unterbreiteten der Direktor des Müritz-Museums, ein wissenschaftlicher
Mitarbeiter und ein freischaffender Biologe der Volkskammer den Vorschlag,
ein Nationalparkprogramm durchzuführen.117 Zugleich gründeten die drei
zusammen mit einem Mitglied des Neuen Forums die Bürgerinitiative MüritzNationalpark. Es bildete sich eine Arbeitsgruppe zur Ausarbeitung des
Nationalparkprogramms, die dem Runden Tisch in Berlin ihre Idee vorstellte
und hierfür grünes Licht bekam. Ein erstes Zwischenziel erreichte die rund
zehnköpfige Initiative um Succow am 16. März 1990: In ihrer letzten
Ministerratssitzung fasste die Übergangsregierung von Hans Modrow einen
Beschluss, der insgesamt 10,8 Prozent der Landesfläche der DDR vorläufig
unter Schutz stellte. Zwei Tage später wählten die DDR-Bürger zum ersten Mal
in freien und geheimen Wahlen die Mitglieder der Volkskammer und stellten
die Weichen in Richtung deutsche Vereinigung, was den Prozess der Schaffung
von National- und Naturparks nun enorm beschleunigen sollte. Das bundesdeutsche Umweltministerium unter Klaus Töpfer (CDU) kam bei der Ausarbeitung des Programms zu Hilfe, sodass die bundesdeutschen Beamten in der
Folge an den Rechtstexten für die Schutzgebiete mitschrieben. Gegen den
Widerstand einflussreicher bundesdeutscher Politiker und Lobbyisten konnten sich die Befürworter des Nationalparkschutzprogramms durchsetzen und
Tisch der DDR in Berlin. Zur Autobiografie Platzecks siehe Matthias Platzeck, Zukunft
braucht Herkunft. Deutsche Fragen, ostdeutsche Antworten, Hamburg 2009. Reimar
Gilsenbach, Wer im Gleichschritt marschiert, geht in die falsche Richtung. Ein
biografisches Selbstbildnis, Berlin 2004, S. 284 f.
115 Siehe für die folgenden Ausführungen Kirchhof, Gelebte Überzeugung, S. 190 f.
116 Da in der DDR nur zwei Mitarbeiter für Naturschutz auf zentraler Ebene im
Landwirtschaftsministerium angestellt waren und es auf Kreisebene lediglich eine
Planstelle für Naturschutz und Jagd gab, wurde die Einrichtung eines eigenständigen
Naturschutzministeriums für dringend notwendig erachtet. Vgl. Michael Succow,
Persönliche Erinnerungen, in: ders. u. a., Naturschutz in Deutschland, S. 63 – 70, hier
S. 63.
117 In dieser Reihenfolge Ulrich Voigtländer, Ulrich Meßner und Hans-Dieter Knapp.
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Die Nestoren des DDR-Naturschutzes
105
damit eines der größten und spektakulärsten Naturschutzprojekte jener Zeit
realisieren, als die DDR am 3. Oktober 1990 Teil der Bundesrepublik wurde,
und das neue Deutschland um die fünf Nationalparks Jasmund, Vorpommern,
Müritz, Harz und Sächsische Schweiz sowie sechs Biosphären-Reservate und
drei Naturparks reicher war. Festgeschrieben im Einigungsvertrag gelten diese
geschützten Landstriche auch heute noch als das „Tafelsilber der deutschen
Einheit“, so wie es Bundesumweltminister Klaus Töpfer formulierte.118 Die
gesetzliche Verankerung war das Ergebnis hartnäckigen politischen Engagements in den buchstäblich letzten Tagen der untergehenden DDR.
IV. Fazit
Das Ehepaar Kretschmann hing einer aus der Reformbewegung stammenden,
individualistischen Maxime an, wodurch der Einzelne selbst gesellschaftliche
Veränderungen anschieben konnte, statt das Heilsversprechen in staatlichen
Reformen zu suchen. Auf der Grundlage dieser Überzeugung schufen Erna
und Kurt Kretschmann eine Gegenwelt, die in deutlichem Widerspruch zu der
von der SED propagierten Lebensweise stand, obwohl sie dessen moralische
Basis und politische Ausrichtung grundsätzlich befürworteten. Gegenwelten
benötigen einen Ort, um ihren Handlungsraum zu entfalten. In diesem
Beispiel war dies das Gelände auf dem Boasberg in Bad Freienwalde. Kurt und
Erna Kretschmann bebauten das Gelände und schufen einen Naturraum, in
dem sie vorlebten, wie eine harmonische Einheit des Menschen mit der Natur
aussehen konnte. Dabei ging es ihnen nie darum, nur für sich selbst diesen
Raum zu nutzen, vielmehr missionierten sie Tausende von Gästen, die sie über
die Jahrzehnte besuchten. Dadurch kam es zu einem Wertetransfer und
Anhänger der Kretschmann’schen Lebensweise setzten in ihrem Bereich um,
was sie von dem Ehepaar gelernt hatten. Der hier nachgezeichnete Prozess der
Entstehung und Konsolidierung dieser Gegenwelt lässt indes auch deutlich
erkennen, welche Schwierigkeiten das Ehepaar zu überwinden hatte. Beispielsweise hatten sie selbst gewählt keinen Zugang zu sozialen Positionen im
Sinne hoher gesellschaftlicher Ränge. Weiterhin verfügten sie nicht nur über
keinen Reichtum, sondern lehnten eine finanzielle Einnahmequelle im Grunde
ab, da sie unabhängig und frei leben wollten. Diese zwei Grundvoraussetzungen zur erfolgreichen Errichtung eines Raumes lösten die Kretschmanns,
indem sie zum einen fast komplett autark von den Erträgen ihres Geländes
118 Ulrich Messner, Nur einmal im Leben, in : Nationalpark 149. 2010, S. 21 – 24 ;
Succow, Pers önliche Erinnerungen ; Arnulf Müller-Helmbrecht, Als Westbeamter in
den Osten, in : Succow u. a. , Naturschutz in Deutschland, S. 71 – 79 ; Christian
Siepmann, Das Tafelsilber der deutschen Einheit, in : Klartext 19. 2009, http://www.
klartext-magazin.de/47A/deutschland2/?p=38.
106
Astrid Mignon Kirchhof
lebten. Zum anderen häuften sie soziales und politisches Kapital an.119 So
galten sie als Koryphäen auf ihrem Gebiet und wurden dafür weithin
anerkannt. Darüber hinaus blieben sie lebenslang SED-Mitglieder und bei
den Natur- und Heimatfreunden im Kulturbund engagiert. So hatten sie
Zugang zu einer Assoziation, die ihnen neue Netzwerke eröffnete, zum Teil bis
in höchste gesellschaftliche Kreise. Dass sie nicht vollständig aus offiziellen
Strukturen ausschieden, sondern sich durch ihre Mitarbeit im Kulturbund
weiterhin innerhalb der Grenzen des SED-Systems bewegten, ist sicherlich
einer der Gründe, warum es ihnen möglich war, das Haus der Naturpflege ohne
Einflussnahme durch offizielle Stellen zu unterhalten. Es gelang ihnen, mit
ihrem Naturzentrum eine gegenweltliche Nische zu schaffen, die nicht
politisch kodiert und nicht explizit vom SED-Staat abgegrenzt war. Diesem
von den Autoritäten unbehelligten Raum war darüber hinaus dienlich, dass er
jenseits der Metropolen entstanden war, weil der Staat eher auf diese
Epizentren und ihre Akteure blickte. Es zeigt sich, dass in der DDR
gegenweltliche Handlungsräume möglich waren, wenn sie nicht im Zentrum
der Aufmerksamkeit der politischen Stellen standen und wenn es gelang, trotz
gegenweltlicher Philosophie Teil offizieller Strukturen zu bleiben und schwerwiegende Konflikte mit den Machtinstanzen zu vermeiden. Das Außergewöhnliche der Kretschmann’schen Nische im Sinne einer Gegenwelt war
somit, dass Kurt und Erna Kretschmann eine Gegenwelt etablierten, deren
Ideale und Weltsicht von Teilen der Umweltbewegung der 1980er Jahre
schließlich aufgenommen und in den Einigungsvertrag eingebracht wurden.
Diese Ideale wurden in dem Moment virulent, als sich die Bedingungen des
Systems insofern änderten, dass nun die Kritik am SED-Regime öffentlich
artikuliert wurde. Bedenkt man, dass ab den 1980er Jahren Umweltdaten zur
Verschlusssache in der DDR gemacht und nicht mehr veröffentlicht wurden,120
wird deutlich, dass gegenweltliche Strukturen zum aufklärerischen Prinzip
gegen systematische Ignorierungs- und Ausblendungsmechanismen werden
können.
Dr. Astrid Mignon Kirchhof, Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für
Geschichtswissenschaften, Friedrichstraße 191 – 193, 10117 Berlin
E-Mail: astrid.m.kirchhof@hu-berlin.de
119 Pierre Bourdieu, Politisches Kapital als Differenzierungsprinzip im Staatskapitalismus,
in: ders. u. Irene Dölling (Hg.), Die Intellektuellen und die Macht, Hamburg 1991,
S. 33 – 39.
120 Andreas Dix u. Rita Gudermann, Naturschutz in der DDR. Idealisiert, ideologisiert,
instrumentalisiert, in: Hans-Werner Frohn u. Friedemann Schmoll (Hg.), Natur und
Staat. Staatlicher Naturschutz in Deutschland 1906 – 2006, Münster 2006, S. 535 – 613,
hier S. 594.
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Zwischen Ökobiblizismus und Neo-Animismus
Aspekte alternativer Gegenwelten in den Evangelischen
Kirchen der Bundesrepublik um 1980
von Michael Schüring
Abstract: Around 1980, West Germany’s environmental movement had come to
deeply affect the spiritual and cultural self-understanding of the country’s Protestant
churches, which saw themselves challenged to respond to growing societal concerns
around pollution and sustainability. This article will take a close look at two aspects of
the intertwinement of environmentalism with modern German Protestantism: first,
the attempts, referred to as “eco-biblicism”, to reconcile Scripture with an environmentalist world-view; second, a tendency to incorporate concepts of natural religion
claimed to have been preserved by Native American tribes into both theological
reflection and liturgical practice. These practices can be read as having concurrently
created Gegenwelten in both an imaginary and a concrete sense.
Im Jahr 1978 gab das Evangelische Missionswerk in Hamburg eine Unterrichtshilfe heraus mit dem Titel: „Indianer. Sachtexte, Erzählungen, Spiele,
Bastelanleitungen und Buchhinweise. Geschichte und Gegenwart der Indianer,
Entwicklung von Kirche und Mission.“ Es handelte sich dem Untertitel zufolge
um ein „Unterrichtsmodell für Schule, Konfirmandenunterricht und Jugendarbeit“.1 Unter der Überschrift „Entwurf für Konfirmanden“ wurden „methodisch-didaktische Hinweise“ für Jugendliche im Alter von 14 Jahren vorgestellt, nach denen Pastorinnen und Pastoren sowie Erzieherinnen und Erzieher
eine Unterrichtseinheit für Konfirmanden gestalten konnten:
Im Rahmen des Themas ,Schöpfung‘ kann von den Konfirmanden eine Kollage gemacht
werden, auf der die Folgen der stetigen Industrialisierung und Urbanisierung sinnfällig
werden. Sie führt inhaltlich zu dem Film ,Home‘, in dem sehr anschaulich die Zerstörung der
Umwelt dargestellt wird. Nach Fertigstellung der Kollage sollte die Frage erörtert werden, ob
es nicht Menschen und Gesellschaften gibt, die einen anderen Umgang mit der Natur zeigen.
In diesem Zusammenhang bietet sich der Hinweis auf die Indianer an. […] Die historische
Rede, die als Hintergrund des Films dient, sollte den Konfirmanden erläutert werden [zur
Rede des Häuptlings Seattle siehe unten; M. S.]. Der Film sollte intensiv besprochen werden,
um folgende Gesichtspunkte herauszustellen:
a) Der Indianer begreift die Natur als Schöpfung Gottes, mit der er als Teil derselben
brüderlich umgehen möchte.
1 Evangelisches Missionswerk Hamburg (Hg.), Indianer. Sachtexte, Erzählungen, Spiele,
Bastelanleitungen und Buchhinweise. Geschichte und Gegenwart der Indianer, Entwicklung von Kirche und Mission, Hamburg 1978.
Geschichte und Gesellschaft 41. 2015, S. 107 – 139
q Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2015
ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000
108
Michael Schüring
b) Der Begriff des ,Eigentums‘ ist ihm fremd. Aus diesem Grund kann er nicht begreifen, daß
der Weiße Land kaufen möchte. Die Erde kann ihm, dem Indianer, nicht gehören, weil er ihr
gehört.
c) Die Verletzung der Erde bedeutet, die Schöpfung zu verachten.
Das diesem Band zugrunde liegende Leitthema der „Gegenwelt“ kommt hier
gleich in zweifacher Form zum Ausdruck: zum einen als imaginäre Welt „des
Indianers“, der im Gegensatz zum modernen Zivilisationsmenschen angeblich
im Einklang mit der Natur lebt oder gelebt hat; zum anderen als Aneignung
und Umwidmung des Raumes der Kirchen als Ort der Unterweisung in das
„indianische“ Vorbild eines respektvollen Umgangs mit der Schöpfung. Darin
zeigt sich der Wunsch, die Kirchen selbst mögen sich als Gegenpole zu einer als
verfehlt oder gar gescheiterten Zivilisation re-etablieren und somit zum
Aktionsraum für eine „bessere“ Lebensführung werden. Deutlich formuliert
wurde das bereits 1973 in einer Schrift der Reihe „Religionspädagogische
Modelle“, in der zum Thema Umweltschutz Modelle für den Religionsunterricht der Sekundarstufe I – also für die bereits erwähnte Zielgruppe von
Jugendlichen – vorgestellt wurden. In ihren Überlegungen zur theologischen
Begründung ihrer didaktischen Vorstellungen schrieben der Theologe Horst
Berg und der Religionslehrer Folkert Doedens:
Kann sich angesichts der umfassenden Gefährdung und Bedrohung der Umwelt noch ein
statisch-normatives Kirchenverständnis behaupten? Können sie noch die ,Eingemeindung
der Welt‘ als ihren gottgewollten Auftrag bezeichnen? In der gegenwärtigen Situation scheint
es weitaus angemessener, von der ,Kirche für andere‘ […] zu reden.2
Die folgenden Ausführungen sollen zeigen, dass und auf welche Weise
innerhalb der evangelischen Kirchen die indianische Lebensweise als Gegenwelt im Sinne eines ideellen Gegenentwurfs zur modernen Konsumgesellschaft
konstruiert wurde, um mittels eines ökologisch gewendeten christlichen
Verkündigungsauftrags eine andere Lebensweise zu propagieren.3 Zunächst
2 Horst-Klaus Berg u. Folkert Doedens, Qualität des Lebens – Umweltschutz und
Theologie. Analyse und Planung Sekundarstufe I, München 1973, S. 26. Die Autoren
übernehmen hier mit dem Konzept einer „Kirche für andere“ eine Formulierung
Dietrich Bonhoeffers aus dem Text „Entwurf einer Arbeit“, in: ders., Widerstand und
Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft (= DBW, Bd. 8), hg. v. Christian
Gremmels u. a., Gütersloh 2011, S. 556 – 561, hier S. 560 f. Dr. Horst Klaus Berg,
emeritierter Professor für Evangelische Theologie an der Pädagogischen Hochschule
Weingarten, ist Autor zahlreicher theologischer, religionspädagogischer und erziehungswissenschaftlicher Werke. Folkert Doedens entwarf in den 1970er Jahren neue
Modelle für den Religionsunterricht und war von 2000 bis 2008 Leiter der Hamburger
Arbeitsstätte des Pädagogisch-Theologischen Instituts der Nordelbischen Kirche.
3 Im Folgenden ist von den Kirchen im Plural die Rede, weil es sich um 1980 in der
Bundesrepublik um einen Zusammenschluss mehrerer selbstständiger Gliedkirchen
handelte.
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Zwischen Ökobiblizismus und Neo-Animismus
109
analysiere ich die Versuche von Pfarrern und Pädagogen, aus der biblischen
Überlieferung und Kirchengeschichte handlungsleitende Prämissen einer
ökologischen Lebensweise abzuleiten. Das ist von kritischen Beobachtern
gelegentlich als Ökobiblizismus bezeichnet worden, insofern als die biblische
Überlieferung in vereinfachender Weise und wörtlich als Grundlegung einer
ökologisch erweiterten christlichen Sozialethik herangezogen wurde.4 Anschließend befasse ich mich mit den auch innerhalb der Kirchen nicht
unumstrittenen Ansätzen, nicht-christliche und außereuropäische Weltbilder
in den weltanschaulichen Bestand evangelischer Wertmaßstäbe zu integrieren.
Diese Zusammenführung möchte ich überspitzt als Neo-Animimus bezeichnen, als Versuch, sich von einer anthropozentrischen auf eine bio- beziehungsweise physiozentrische Umweltethik zuzubewegen, in deren Mittelpunkt
die Eigenwürde einer re-animierten, also „wiederbeseelten“ Natur steht.5
Gerade in der kirchlichen Verehrung von Indianermythen hat man es mit
einer neuen Form des Synkretismus zu tun. Dies war die weltanschauliche
Basis für die alltagsweltlichen Praktiken des kirchlichen Umweltengagements,
durch die der Raum der Kirchen für die Ausbreitung gegenweltlicher Entwürfe
genutzt wurde. Entscheidend ist dabei der Umstand, dass von Theologen und
Pädagogen der mythopoetischen Überlieferung der Bibel, die nur mit Mühe
und unter Einbeziehung der Kategorien Schuld und Sünde in ein modernes
Ideal der Schöpfungsverantwortung zu übersetzen war, ein neuer Mythos des
„reinen Indianers“ an die Seite gestellt wurde. Der „Indianer“ galt damit als
Sinnbild eines „Alternativuniversums“, das im Kontrast zu tradierten Formen
der Volks- und Amtskirche stand und dessen ethische Leit- und Lebensvorstellungen sich gegen die Achtlosigkeit einer Gesellschaft wandten, die an den
indigenen Völkern und ihrer natürlichen Umgebung gleichermaßen schuldig
geworden war.
Dass die Kirchen für solche Strömungen offen waren und gegenweltliche
Akteure bis zu einem gewissen Grad gewähren ließen, ist sowohl dem
zeithistorischen Hintergrund als auch ihrem sozial-ethischen Selbstverständnis geschuldet. Nach den gesellschaftlichen Umbrüchen der späten 1960er
Jahre wurde in den Kirchen die „Politisierung“ kirchlichen Handelns und
kirchlicher Räume thematisiert.6 In gewisser Hinsicht hatten die Kirchen dafür
nach 1945 selbst gesorgt. Der „Öffentlichkeitsauftrag“, dem sie sich vor allem
aufgrund der Erfahrungen im Nationalsozialismus verpflichtet fühlten und
demzufolge sie gesellschaftlichen Konflikten nicht aus dem Weg gehen
4 Kritisch dazu Martin Honecker, Grundriss der Sozialethik, Berlin 1995, S. 255.
5 Zum Begriff siehe auch Hans Maier, Natur und Kultur [1992], in: ders., Gesammelte
Schriften, Bd. 3: Kultur und politische Welt, München 2008, S. 390 – 408, hier S. 390.
6 Sven-Daniel Gettys, Wie politisch darf die Kirche sein? Politisierungsdiskurse in
protestantischen Zeitschriften (1967 / 68), in: Klaus Fitschen u. a. (Hg.), Die Politisierung des Protestantismus. Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland während
der 1960er und 70er Jahre, Göttingen 2011, S. 221 – 242.
110
Michael Schüring
durften, machte sie empfänglich für verschiedene politische Strömungen
innerhalb der sogenannten Neuen Sozialen Bewegungen, vor allem für die
Ökologiebewegung.7 Damit waren die Kirchen von einem sich verändernden
gesellschaftlichen Klima, das schon seit längerer Zeit Gegenstand zeithistorischer Forschungen ist, mitbetroffen und hatten es teilweise auch selbst
mitbefördert.8
Je tiefer man dabei in die 1970er und frühen 1980er Jahre der alten
Bundesrepublik vordringt, desto genauer wird die Diagnose von einem
Wendepunkt der Nachkriegszeit formuliert. Verschiedene Bestandteile dieser
Diagnose lassen sich ausmachen als „Ende der Zuversicht“, als soziale
Wirklichkeit „nach dem Boom“ oder als Beginn einer „Ära der Ökologie.“9 Der
politik- und wirtschaftshistorische Rahmen dieses neuen Zeitempfindens
wird gesetzt durch die Reformpolitik der sozial-liberalen Koalition, den
Strukturbruch beim Übergang zu einer post-industriellen Gesellschaft und die
Folgen der Ölkrise von 1973. Innerhalb dieses Rahmens vollzogen sich
darüber hinaus Veränderungen in der Selbstwahrnehmung der bundesdeutschen Gesellschaft. Die Legitimität und Stabilität der Nachkriegsordnung ließ
sich nicht mehr auf wirtschaftliche Prosperität und sozialen Frieden allein
gründen, denn in zunehmendem Maße kamen die Schattenseiten dieser
7 Roland Roth, Neue soziale Bewegungen in der politischen Kultur der Bundesrepublik.
Eine vorläufige Skizze, in: Karl Werner Brand (Hg.), Neue soziale Bewegungen in
Westeuropa und den USA. Ein internationaler Vergleich, Frankfurt 1985, S. 20 – 83;
Dieter Rucht, Linksalternatives Milieu und Neue Soziale Bewegungen in der Bundesrepublik. Selbstverständnis und gesellschaftlicher Kontext, in: Cordia Baumann
u. a. (Hg.), Linksalternative Milieus und Neue Soziale Bewegungen in den 1970er
Jahren, Heidelberg 2011, S. 35 – 59.
8 Siehe hierzu auch Thomas Kroll, Protestantismus und Kernenergie. Die Debatte in der
Evangelischen Kirche der Bundesrepublik Deutschland in den 1970er und frühen 1980er
Jahren, in: ders. u. Hendrik Ehrhardt (Hg.), Energie in der modernen Gesellschaft.
Zeithistorische Perspektiven, Göttingen 2012, S. 93 – 115; Luise Schramm, Evangelische
Kirche und Anti-AKW-Bewegung. Das Beispiel Hamburger Initiative Kirchliche
Mitarbeiter und Gewaltfreie Aktion im Konflikt um das AKW Brokdorf 1976 – 1981,
Diss. Universität Leipzig 2014. Der Autor dankt Luise Schramm herzlich für die
Zusendung einer elektronischen Version. Zu den Bezügen zum Nationalsozialismus
siehe Michael Schüring, „Bekennen gegen den Atomstaat“. Historische und religiöse
Codierungen im kirchlichen Protest gegen die Atomenergie, in: Jochen Ostheimer u.
Markus Vogt (Hg.), Die Moral der Energiewende. Risikowahrnehmung im Wandel am
Beispiel der Atomenergie, Stuttgart 2014, S. 230 – 243; Michael Schüring, West German
Protestants and the Campaign against Nuclear Technology, in: Central European
History 45. 2012, S. 744 – 762.
9 Konrad Jarausch (Hg.), Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte,
Göttingen 2008; Anselm Doering-Manteuffel u. Lutz Raphael, Nach dem Boom.
Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008; Joachim Radkau, Die Ära
der Ökologie. Eine Weltgeschichte, München 2011.
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Zwischen Ökobiblizismus und Neo-Animismus
111
Erfolge in den Blick. Mit der Fragwürdigkeit der Konsumorientierung, der
Wahrnehmung von wachsenden Umweltproblemen und der Dauerkrise in den
Entwicklungsländern entfaltete sich eine neue Form der Reflexivität, die am
damaligen Selbstverständnis der Industriegesellschaft schlechthin rührte.10
In diesem Zusammenhang und eng verflochten mit der Geschichte der Neuen
Sozialen Bewegungen entstand eine imaginäre und zugleich auch ganz
konkrete Gegenwelt. Den Lebensreformbestrebungen der Jahrhundertwende
nicht unähnlich strebten deren Protagonisten nach neuen Idealen der
Bescheidenheit, nach einer globalen Solidarität und nach einer Ausweitung
demokratischer Partizipation gegenüber technokratischen Strukturen.11 Diese
Tendenzen fanden ihre Sprache und kulturellen Ausdrucksformen vor allem in
der Umwelt- und Anti-AKW-Bewegung. Insbesondere die Evangelischen
Kirchen in Deutschland bildeten einen Resonanzraum für ein Umweltbewusstsein, das auf neue sozial-ethische Positionen verwies und nach weltanschaulichen Orientierungen jenseits materieller und ökonomischer Daseinsbestimmungen Ausschau hielt.12 Der Begriff der Resonanz erweist sich hier als
fruchtbar, weil die Kirchen in diesen Fragen nicht nur reagierten, sondern den
Diskurs aktiv mitbestimmten, wenn auch bezüglich ihrer Binnenstrukturen
mit unterschiedlichen Fließgeschwindigkeiten und Akzenten.
In ihrer Gesamtheit nahmen die Kirchen also weder eine Vorreiterrolle ein
noch liefen sie der Entwicklung einfach hinterher. Einerseits gerieten sie rasch
in den Sog lokaler Umweltkonflikte im Einflussbereich der einschlägigen
Bürgerinitiativen, andererseits setzten sie sich schon früh mit der Umweltproblematik systematisch auseinander und beriefen bereits im Jahr 1970 ihren
ersten Umweltbeauftragten für die gesamte Evangelische Kirche in Deutschland (EKD), den später zu großer Bekanntheit gelangten Pfarrer Kurt Oeser.13
Dabei schien zunächst unumstritten zu sein, dass die Kirchen ihren Millionen
von Mitgliedern in jeder großen und aktuellen gesellschaftlichen Auseinandersetzung Orientierung und Halt geben wollten. Ganz allgemein gesprochen
war es den Kirchen immer schon um Fragen der sittlichen Lebensführung
gegangen. Sie fungierten als Orte der Kontingenzbewältigung in Zeiten des
Umbruchs, und eine solche sahen Umweltaktivisten in den 1970er Jahren
heraufziehen. Natürlich sorgte die Umweltthematik zugleich für reichlich
10 Zum Befund der Reflexivität der Moderne siehe Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf
dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt 1986, S. 254.
11 Zu den Lebensreformbewegungen siehe auch den Beitrag von Astrid Mignon Kirchhof
in diesem Heft.
12 Siegfried Hermle u. a. (Hg.), Umbrüche. Der deutsche Protestantismus und die sozialen
Bewegungen in den 1960er und 70er Jahren, Göttingen 2007; Fitschen, Die Politisierung
des Protestantismus.
13 Claudia Rühlig u. Carmen Rebecca Hecht, Kurt Oeser. Gemeindepfarrer und erster
„Umweltpfarrer“ Deutschlands. Ein Leben für soziale Gerechtigkeit, demokratische
Selbstbestimmung und ökologische Verantwortung, Bad Homburg 2008.
112
Michael Schüring
Konfliktstoff innerhalb der Kirchen, deren Leitung ihrem Selbstverständnis
gemäß sozial integrativ zu wirken hatte und sich zu politischen Streitfragen
meist vorsichtig, zurückhaltend und im Geiste des Ausgleichs und der
Versöhnung äußerte. Dies passte oftmals nicht zu den von den innerkirchlichen Aktivisten mit dem Gestus der Dringlichkeit vorgetragenen Anliegen
und lief häufig genug auf eine Vielfalt spontaner, nicht koordinierter und
kontroverser Stellungnahmen hinaus, die sich allenfalls ganz allgemein mit
dem Verkündigungsauftrag der Kirchen begründen ließen. Es ist ein Merkmal
der „Konfliktgemeinschaft“ der evangelischen Kirchen, dass hier niemand mit
verbindlichen Lesarten den Diskurs zu dominieren vermochte.14 Differenzen
gab es dabei unter Pastoren und Laien, unter Universitätstheologen und den
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Kirchenämter. Die Akteurskonstellationen bildeten sich quer zu den innerkirchlichen Hierarchien und blieben in
ständiger Bewegung. Das ist insofern nicht überraschend, als die Umweltproblematik unabhängig vom Bildungsstand und sozialen Status der Diskursteilnehmer aufgegriffen wurde. Dies konnte als Zeichen der Pluralität innerkirchlicher Strukturen gewertet werden, ließ aber gleichzeitig eine klare
gemeinsame Linie der Akteure vermissen. Wenn man überhaupt von einem
politischen Selbstverständnis der evangelischen Christen in Deutschland
sprechen kann, und zwar unabhängig von parteipolitischen Präferenzen, dann
orientierte es sich an der Kategorie des persönlichen Gewissens und Bekenntnisses und weniger an dogmatischen Schriften oder bischöflichen Stellungnahmen. Das sei hier erwähnt, um den wesentlichen Unterschied zur
katholischen Konfessionskultur anzusprechen, und weil damit weitreichende
Konsequenzen für die innerkirchlichen Umweltaktivitäten verbunden waren.15
Denn jenseits unmittelbar einleuchtender Argumente für den Umweltschutz
und jenseits der durchaus rein innerweltlich zu beurteilenden Frage nach
Vorteilen und Risiken verschiedener Ressourcenregime machten sich Theologen und intellektuelle Stichwortgeber in den Kirchen auf die Suche nach
weltanschaulichen Grundlegungen der Umweltethik im Sinne einer neuen
beziehungsweise erneuerten Schöpfungstheologie. Die Tatsache, dass es hier
keine zentrale Instanz für letztgültige Lehrmeinungen gab, wirkte ermutigend
auf ökologisch motivierte gegenweltliche Entwürfe. An diesen lässt sich auch
zeigen, dass die traditionellen Formen von Verkündigung und Seelsorge im
Alltag Defizite und Leerstellen aufwiesen, die den ökologischen Gegenwelten
in den Kirchen seit Mitte der 1970er Jahre theologisch und lebenspraktisch den
Boden bereitet hatten.
14 Zum Begriff Konfliktgemeinschaft siehe Wolf-Dieter Hauschild, Konfliktgemeinschaft
Kirche. Aufsätze zur Geschichte der Evangelischen Kirche in Deutschland, Göttingen
2004.
15 Stellungnahmen der Katholischen Kirche sind nachzulesen in: Hans Diefenbacher u.
Ulrich Ratsch (Hg.), Energiepolitik und Gefahren der Kernenergie, Gütersloh 1986.
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Zwischen Ökobiblizismus und Neo-Animismus
113
I. Aporien des Ökobiblizismus
Wenn man den Zeitpunkt einer „reflexiven“ Wende innerhalb moderner
Industriegesellschaften – als Beginn einer kritischen Revision der mit der
Hochmoderne und Konsumgesellschaft verbundenen Folgekosten – etwa um
das Jahr 1970 ansetzt, so wird man in den Archiven der Evangelischen
Landeskirchen schnell fündig. Neben der Korrespondenz der kirchlichen
Umweltbeauftragten und den Briefwechseln zwischen Amtskirche und Gemeindemitgliedern zu Fragen der Umweltproblematik gelangt man auch an
den Ursprungsort einer fast überbordenden Verlautbarungskultur, mit Entwürfen zu Memoranden, Eingaben, Thesensammlungen und Protokollen, also
einem typisch protestantischen wortreichen Bekenntnisschrifttum, das den
Prozess der ethischen und schöpfungstheologischen Standortbestimmung
deutlich zu Tage treten lässt. Es ist wichtig für die nachstehende Diskursanalyse, dass die Wahrnehmung der Umweltkrise durch Mitglieder und Angestellte der Kirchen sozial integrativ wirkte, das heißt, dass sich sowohl Laien
aus allen sozialen Schichten als auch ausgebildete Theologen in den Gemeinden und an den Universitäten angesprochen und zur Mitarbeit aufgefordert
fühlen konnten.16 Anhand der Quellen lassen sich, unter einstweilen gebotener
Ausklammerung persönlicher Stile und variierender Schwerpunkte, vor allem
einzelne Diskurselemente identifizieren, die sich in verschiedenen Räumen
entfalteten und wie folgt zusammengefasst werden können.
1. Die Bibel als zentraler Bezugspunkt: Eine Schadensbilanz
Die ernüchternde Schadensbilanz der Umweltkrise, wie sie in den genannten
Schriften zutage tritt, orientierte sich an Publikationen wie den Berichten
„Limits to Growth“ an den Club of Rome oder „Global 2000“ an den
amerikanischen Präsidenten, die als düstere Prophezeiungen und religiös
konnotierte Aufrufe zur Umkehr gelesen werden können.17 Aus kirchlicher
Sicht war hier ein Moment des „Innehaltens“ gekommen für einen Rückblick
auf zivilisatorische Fehlentwicklungen. Es ist ganz typisch für den prophetischen Habitus der kirchlichen Umweltaktivisten, nach dem historischen
Augenblick zu suchen, in dem die „Menschheit“ vom rechten Weg abgekommen ist. Es wurde hierbei in großem Maßstab argumentiert und der Nachweis
zuweilen bewusst, häufiger aber unreflektiert und unter Heranziehung eines
biblischen Sprachduktus geführt. Kennzeichnend war dabei die Tendenz zu
einer Universalisierung der Schuld, die sich, neben der Benennung konkreter
Missstände und ihrer Verursacher, in Demut dem Pathos der Weltverantwor16 Siehe hierzu Ulfrid Kleinert, Gewaltfrei widerstehen. Brokdorf-Protokolle gegen
Schlagstöcke und Steine, Reinbek 1981, S. 128.
17 Donella H. Meadows u. a., The Limits to Growth. A Report for the Club of Rome’s Project
on the Predicament of Mankind, New York 1972; Gerald O. Barney, Global 2000. Bericht
an den Präsidenten, Frankfurt 1980.
114
Michael Schüring
tung hingab. Um die Unverfügbarkeit einer Allheit zu unterstreichen, die in
letzter Konsequenz einen göttlichen Ursprung hatte, war es von großer
Bedeutung, ob man statt von Umwelt von der Natur der Schöpfung sprach.
Während man im Begriff Umwelt in seiner landläufigen Verwendung keinen
Unterschied zwischen der belebten und der unbelebten Natur auszumachen
vermag, auch keinen zwischen Pflanzen und Tieren, impliziert der Begriff
Schöpfung durch den Bezug zu einem göttlichen Akt die ethisch bedeutsame
Eigenwürde der natürlichen Umgebung und schließt einen achtlosen und
verschwenderischen Umgang damit aus. Dies war bereits generell konsensfähig, nachdem der Ökumenische Rat der Kirchen auf seiner Konferenz in
Uppsala 1968 den Begriff der Schöpfung mit der Umweltproblematik in
Zusammenhang gebracht hatte.18 Als Ursache für die Herabsetzung der
Schöpfung zum bloßen Material der menschlichen Naturaneignung und des
technischen Fortschritts wurde oft eine naturwissenschaftliche Praxis ausgemacht, die einem Drang zur Herrschaft folgt. So formulierte der Biologe und
Theologe Günther Altner im Jahr 1976:
Ist die Kirche in früheren Jahrhunderten dem Erkenntnisdrang der Naturwissenschaft
wiederholt in den Arm gefallen, weil sie die Ehre des Schöpfers berührt sah, so müsste sie
heute dort den Mut zum Protest aufbringen, wo Naturwissenschaft als Herrschaftspraxis
über die Natur zur Zerstörung der irdischen Schöpfung grundlegend und dauernd beiträgt.19
Diese Bezüge auf das Geheiß der Schöpfungsverantwortung beriefen sich
dabei immer wieder auf Bibelstellen, aus denen sich vermeintlich einleuchtende, gegenwartsbezogene Prämissen ableiten ließen, die aber bei genauerem
Hinsehen wegen ihres unterschiedlichen historischen Entstehungszusammenhanges und damit in ihrer Gesamtheit uneindeutig oder sogar widersprüchlich waren.
Theologen wie Jürgen Moltmann, Günther Altner oder Gerhard Liedke, die
sich mit der Autorität ihrer Bibelkenntnis zu diesen Fragen äußerten, mussten
sich dabei das Terrain mit anderen Diskursteilnehmern teilen, mit den Laien
zumal, auf die sie auch bei der Wahrung volkskirchlicher Besitzstände zählten.
Dabei ist es wichtig zu beachten, was als Essenz theologischen Nachdenkens
über die Umwelt eigentlich bei den Laien in den Kirchengemeinden „ankam“,
was als unmittelbar überzeugend und stichhaltig in Gemeindearbeit, Predigt
und Seelsorge Verwendung finden konnte. Kritik an Tendenzen des Ökobiblizismus mit seiner „Direktübertragung biblischer Aussagen auf unsere
Verhältnisse“ wurde dabei auch formuliert, prominent vor allem von dem
Bonner Professor für Systematische Theologie Martin Honecker, der eine
Gefahr der Simplifizierung der biblischen Texte sah und einen Mangel an
18 Norman Goodall (Hg.), The Uppsala Report 1968. Official Report of the Fourth
Assembly of the World Council of Churches, Uppsala July 4 – 20, Genf 1968.
19 Günter Altner, Am Beispiel Kernenergie, in: RADIUS 2. 1976, S. 3.
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Zwischen Ökobiblizismus und Neo-Animismus
115
Reflexion der hermeneutischen Voraussetzungen konstatierte.20 Er blieb damit
aber in der Kirche nur eine Stimme unter vielen. Die wohl am meisten zitierte
Bibelstelle, die zur Begründung der Kategorie „Schöpfungsverantwortung“
herangezogen wurde, findet sich im Kapitel 2 des Buches Genesis, Vers 15:
„Und Gott der Herr nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden,
daß er ihn bebaute und bewahrte.“ Damit war die Vorstellung von der guten
Haushalterschaft etabliert, nach der die Menschen die Gaben der Natur zwar
nutzen durften, dabei aber gleichzeitig zur Hege und Pflege der ihnen
anvertrauten Schöpfung verpflichtet wurden. Auch nachdem der für ökologisch orientiertes Wirtschaften gebräuchliche Begriff der „Nachhaltigkeit“
Mitte der 1980er Jahre ins Spiel gekommen war, erwies sich der Bibel-Topos
vom „Bebauen und Bewahren“ als beachtlich stabil.21 Es handelte sich
allerdings keineswegs um die einzige biblische Festlegung der Daseinsbestimmung des Menschen im Hinblick auf seine natürliche Umwelt, und aus Sicht
der kirchlichen Umweltaktivisten, Theologen und Laien gleichermaßen
konkurrierte sie seit jeher und auf offenkundige Weise mit dem in Genesis,
Kapitel 1, Vers 28 festgehaltenen Herrschaftsauftrag:
Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die
Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die
Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alles Getier, das auf Erden kriecht.
Zwischen der Gottesebenbildlichkeit einerseits, aus der sich die herausgehobene Stellung des Menschen gegenüber anderen Lebewesen ableitete, und dem
göttlichen Ursprung allen Lebens andererseits, mit dem ein besonderer
Eigenwert der natürlichen Umwelt begründet werden konnte, hatte die
mythopoetische Überlieferung ein Spannungsfeld geschaffen, das schwer
auflösbar schien und innerkirchliches Konfliktpotenzial bereithielt.22 Dieses
Spannungsfeld konnte in der liturgischen Praxis auch zu konkreten Alternativformen führen. Wenn man die Schöpfungsgeschichte zum Ausgangspunkt
einer kritischen Revision gesellschaftlicher Naturverhältnisse machte, ergaben
sich neue kulturelle Ausdrucksformen. Dazu verdient das Material zu einem
Gottesdienst eine nähere Betrachtung, wie es in der Kirche St. Katharinen in
Hamburg von in der Anti-AKW-Bewegung engagierten Pastoren benutzt
wurde: Der Gottesdienst trug den Titel „Anfänge neuen Lebens“ und folgte
nicht den althergebrachten Abläufen, sondern gliederte sich in fünf Teile mit
den jeweiligen Titeln „Was uns Angst macht und wovon wir träumen“, „Was
20 Martin Honecker, Grundriss der Sozialethik, Berlin 1995, S. 255.
21 Soweit ersichtlich, wurde der Begriff Nachhaltigkeit wesentlich durch den „BrundtlandReport“ von 1987 populär : Volker Hauff (Hg.), Unsere gemeinsame Zukunft. Der
Brundtland-Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung, Greven 1987.
22 Christian Link, Schöpfung. Ein theologischer Entwurf im Gegenüber von Naturwissenschaft und Ökologie, Neukirchen-Vluyn 2012, S. 199.
116
Michael Schüring
uns zu denken gibt“, „Wie wir Anfänge neuen Lebens erfahren“, „Was wir tun
können“ und „Was wir mitnehmen“.23
Im ersten Teil wurde unter anderem eine Tonbildschau mit dem Titel „Die
letzten sieben Tage der Erde“ vorgeführt, wobei es sich um eine Umkehrung
der Schöpfungsgeschichte des Theologen und populären Autors Jörg Zink
handelte, die sich damals großer Beliebtheit bei kirchlichen Umweltschützern
erfreute. In diesem Text, der sich in der Form an die Abfolge der Schöpfungstage anlehnte, wie sie in Genesis, 1. Buch Mose, Kapitel 1 dargelegt ist,
entfaltete sich eine Vision vom selbstverschuldeten Ende der Menschheit als
Folge von Fortschritt und Hybris. Hier sind Errungenschaften der Moderne
immer schon eine Folge der Gottesvergessenheit der Menschen, die dann
notwendig zu deren grausamen Ende führt.
Am fünften Tage
drückten die letzten Menschen den roten Knopf, denn sie fühlten sich bedroht. Feuer hüllte
den Erdball ein, die Berge brannten, die Meere verdampften, und die Betonskelette in den
Städten standen schwarz und rauchten. Und die Engel im Himmel sahen, wie der blaue Planet
rot wurde, dann schmutzig braun und schließlich aschgrau. Und sie unterbrachen ihren
Gesang für zehn Minuten.
Am sechsten Tage
ging das Licht aus. Staub und Asche verhüllten die Sonne, den Mond und die Sterne. Und die
letzte Küchenschabe, die in einem Raketenbunker überlebt hatte, ging zugrunde an der
übermäßigen Wärme, die ihr gar nicht gut bekam.
Am siebten Tage
war Ruhe. Endlich. Die Erde war wüst und leer, und es war finster über den Rissen und
Spalten, die in der trockenen Erdrinde aufgesprungen waren. Und der Geist des Menschen
irrlichterte als Totengespenst über dem Chaos. Tief unten, in der Hölle, aber erzählte man
sich die spannende Geschichte von dem Menschen, der seine Zukunft in die Hand nahm, und
das Gelächter dröhnte hinauf bis zu den Chören der Engel.24
Hier begegnet man einer jener Vermengungen von biblischen Motiven mit
modernen Erfahrungen und Ängsten, die für die kirchlichen Umweltschützer
charakteristisch sind. Da wo man in der Schöpfungstheologie in der eigentlichen Überlieferung nicht weiterkam, entstanden neue Texte, die dann an die
Stelle des alten Kanons traten. In einer Zeit, in der sich aufgeklärte Christen
mit dem Gedanken anfreundeten, dass die Bibel nicht „wörtlich“ zu verstehen
23 Nordelbisches Kirchenarchiv [im Folgenden NEK], 98 / 120, Bd. 79, S. 2, Anfänge neuen
Lebens, 15. 1. 1978.
24 Jörg Zink, Die letzten sieben Tage der Schöpfung, auf der Website des Autors: http://
www.joerg-zink.de/die-letzten-sieben-tage-der-schoepfung/. Dort heißt es: „Diesen
Text schrieb Jörg Zink 1970 ursprünglich für eine Anti-Atom-Demonstration in
Stuttgart. Er wurde zuerst gedruckt in ,Die Welt hat noch eine Zukunft – eine Einladung
zum Gespräch‘ (Stuttgart, Kreuz-Verlag, 1971).“
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sei, dass also auch die Schöpfungsgeschichte ein Mythos sei, eine kosmische
Weltdichtung, die es vor einer allzu fundamentalistischen Lesart zu retten
galt, begegnet man in dieser Vision wieder den Engeln und einer Hölle, die
aber dieses Panorama durchaus mit konkreten Artefakten wie Atomwaffen
teilen.
Im weiteren Verlauf des Gottesdienstes in Hamburg bemühten sich die Planer
der Veranstaltung, die Teilnehmer als aktive Gestalter einzubeziehen. Hier
zeigt sich, dass gegenweltliche Strukturen Räume umwidmen. Das war
allerdings nur möglich, weil die Kirchen es vermochten, alte und neue Ansätze
zusammenlaufen und die Kritiker und Mahner zu Wort kommen zu lassen. Bis
zu einem gewissen Grad werden der Rahmen und die Plattform, die die Kirche
hier ihren Kritikern zur Verfügung stellte, damit natürlich verändert. Kirchenleitung und Pfarrer akzeptierten dies jedoch, weil sie damit die Relevanz
der christlichen Weltsicht bewahren konnten. Diese Strategie war geschickt
und erfolgreich: Vor dem Hintergrund des oben erwähnten positiven Bildes
der demokratischen, weil dialogischen Kirche konnte sie durch Inkorporation
kritischer Stimmen den eigenen Einfluss sichern. Angestrebt wurde eine
kommunikative Struktur, in der die Besucher zu Wort kommen sollten und in
der über die üblichen Praktiken hinausgehende symbolische Handlungen
vorgenommen wurden. So teilte man „gutes Brot und frisches Wasser“
miteinander, und man pflanzte vor dem Altar kleine Gewächse in Becher ein.
Im dritten Teil wurde gepredigt, und zwar über einen Text von Dorothee Sölle,
„Erinnert Euch an den Regenbogen“. Der vierte Teil des Gottesdienstes war
einem „Markt der Möglichkeiten“ gewidmet, auf dem einzelne Projektgruppen
ihre Arbeit vorstellten. Darunter waren Mitglieder „Neuer Wohngemeinschaften“, die Aktion „Brot für die Welt“, die Initiative „Gorleben soll Leben“,
Landkommunen und die Initiative „Stromzahlungsboykott“.25
Im Januar 1978 war ein solcher Gottesdienst für die evangelische Kirche gewiss
nicht repräsentativ, er weist aber in die Richtung neuer Liturgien, die in den
1980er Jahren gängiger wurden. Ähnliche Formen einer kirchlichen Aneignung von Umweltthemen waren parallel dazu auch auf Kirchentagen zu
beobachten. Beachtung fand der geschilderte Gottesdienst auch im alternativen Stadtmagazin Szene Hamburg, wobei es dem Autor vor allem der von
einigen kirchlichen Mitarbeitern mitgetragene Stromzahlungsboykott angetan hatte. Aber auch sonst sah er viele Berührungspunkte mit der sonst eher
kirchenfernen linken Szene und brachte seinen Respekt vor den engagierten
Pastoren zum Ausdruck: „Die meinen es ernst, riskieren ziemlich viel Krach
mit ihren Oberen und erreichen Bevölkerungsgruppen, die sonst keinen
Zugang zur breiten Anti-AKW-Bewegung fänden.“26 In den Aktionen und
Gottesdienstfeiern der kirchlichen Atomkraftgegner überschnitten sich dezi25 NEK, 98 / 120, Bd. 79, S. 2, Anfänge neuen Lebens, 15. 1. 1978.
26 Ebd., Steve B. Peinemann, in: Szene Hamburg 2. 1978.
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Michael Schüring
diert linke und gesellschaftskritische Tendenzen mit herkömmlichen Formen
von Gebet und Gesang, während parallel dazu eine neue Form der poetischen
Besinnungsliteratur entstand. Gemeinsamer Nenner dieser unterschiedlichen
Strömungen war eine grundlegende Kritik an der westlichen modernen
Lebensweise und die Überzeugung von der Notwendigkeit eines ökologischen
Neuanfangs.
2. Aspekte kirchlicher Umweltethik
In der Umweltethik, so wie sie auch heute noch in der Kirche und unter
Theologen diskutiert wird, lässt sich eine vereinfachte Systematik der
Positionen innerhalb dieses Spannungsfeldes ausmachen, die von der Anthropozentrik über die Pathozentrik, die Biozentrik bis hin zur Physiozentrik
reicht.27 Die Anthropozentrik steht für einen Ansatz, der die ethische
Forderung der Schöpfungsverantwortung hauptsächlich mit dem Wohlergehen und Überleben der Menschheit begründet, worunter auch die Kategorie
der Generationengerechtigkeit zu fassen wäre. Die Pathozentrik leitet diese
Forderung in erster Linie aus der Leidensfähigkeit der Kreaturen ab, die zu
einer Anerkennung der „Mitgeschöpflichkeit“ (abgeleitet von Mitmenschlichkeit) führen müsse. Dies postuliert auch die biozentrische Position, wobei
hier die Betonung noch stärker auf dem inhärenten Wert aller Lebewesen selbst
liegt. Die Extremposition der Physiozentrik betreibt schließlich die Aufwertung der Welt in ihrer materiellen Gesamtheit.
Wie so oft bei systematischen Ordnungen gibt es auch hier fließende
Übergänge zwischen den verschiedenen Weltbildern. Allerdings hat die
Verortung einzelner Autoren und Aktivisten praktische Konsequenzen im
Hinblick auf Konsum, Ernährungs- und Lebensgewohnheiten und allemal auf
die immer neu zu bestimmende Akzeptanz konkreter Eingriffe in verschiedene Ökosysteme. Bio- und physiozentrische Ansätze laufen freilich am
ehesten Gefahr, sich Illusionen über die Aufhebung der Gegensätze zwischen
„Bebauen“ und „Bewahren“ oder anders gesagt: zwischen „Natur“ und
„Kultur“ hinzugeben. Denn Vorstellungen von einer „Versöhnung mit der
Natur“ können schnell in Maximalforderungen münden, die wiederum zu
ethischen Aporien führen, wie beispielsweise in den Fragen des Bevölkerungswachstums, der Lebensqualität in Entwicklungs- und Schwellenländern
oder den Widersprüchen zwischen erneuerbaren Energien und Landschaftsschutz. Was sich in der innerkirchlichen Umweltdebatte schon in den 1970er
Jahren beobachten ließ, ist das Bewusstsein von einer schuldhaften Verstrickung in diese Aporien, mithin eine Gewissensnot, die nach Auswegen aus der
Krise der gesellschaftlichen Naturverhältnisse sucht und dennoch bei deren
Verursachern auf die Gesamtheit der Menschheit und damit wieder auch auf
27 Zu dieser Systematik siehe ausführlich: Ursula Lorenz, Umwelt-Ethik. Ein evangelischkatholischer Vergleich, Göttingen 2013.
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die eigene Stellung verwiesen bleibt. Vor allem die kirchlichen Umweltbeauftragten, die diese Debatte wesentlich bestimmten, vereinten dabei in ihrer
eigenen intellektuellen Standortbestimmung sowohl die theologische Bildung
als auch die Aneignung ökologischer Sichtweisen.28 Dort, wo die aus der
Schrift abgeleiteten ethischen Zielvorstellungen im Widerspruch zu den
bestehenden Verhältnissen und Missständen in Stellung gebracht wurden,
konnten auch gegenweltliche Räume gedacht werden. Diese Mobilisierung
alter Glaubensbestände für drängende Fragen der Gegenwart hat drei Gründe,
die wegen ihrer grundlegenden Natur im Folgenden näher erläutert werden
sollen.
Der erste Grund liegt darin, dass beim Umgang mit dem Begriff Schuld in der
kirchlichen Umweltdebatte kontinuierlich der Begriff der Sünde mitschwang,
zentral im „Sündenfall“ des Schöpfungsberichtes. Bereits hier sind die
Naturverhältnisse des Menschen irreparabel zerstört. Die Vertreibung aus
dem Paradies entlässt die Menschen in eine mühselige Daseinsfristung, in der
die natürliche Umwelt als widerspenstig und feindselig empfunden wird. Was
sie an Ressourcen spendet, kann nur noch durch harte Arbeit errungen
werden, und zwar auf einem „verfluchten“ Acker mit „Dornen und Disteln“
(Gen 3, 18). Mit dem Tod schließlich ist dem vertriebenen Menschen die
natürliche Grenze seiner Verfügbarkeit gesetzt. Es war deshalb konsequent,
wenn im kirchlichen Umweltdiskurs ein Zusammenhang zwischen Natur- und
Todesvergessenheit in der Zivilisation der Moderne konstatiert wurde.29 Die
Verdrängung der Sterblichkeit durch die fortschreitende Verfeinerung wissenschaftlichen, technischen und medizinischen Könnens gehe, so der
allgemeine Tenor, einher mit einer Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen durch die ungebremste Expansion der Methoden und Produkte dieses
Könnens. Die Bezüge auf die gute Haushalterschaft bei Genesis, Kapitel 2, Vers
15 ergeben vor diesem Hintergrund nur dann Sinn, wenn der Bruch zwischen
den Zuständen vor und nach dem Sündenfall ebenfalls thematisiert wird.
Ein weiterer Schlüsseltext des Alten Testamentes, der die Brüchigkeit der
menschlichen Naturverhältnisse im Gefolge sündhafter Verfehlungen zeigt, ist
die Geschichte von Kain und Abel (Gen 4, 3 – 22). Eine gängige Sichtweise
deutet den Text als mythische Darstellung des Übergangs vom Nomadentum
zur Kultur sesshaft gewordener Bauern.30 Es wird im Text nicht klar, warum
Gott Kains Opfer nicht anerkennt, aber Kain steht trotz des Brudermords unter
göttlichem Schutz und hat im Gegensatz zum Hirten Abel Nachkommen, die
28 Siehe hierzu Konrad Barner u. Gerhard Liedke, Schöpfungsverantwortung konkret. Aus
der Arbeit der kirchlichen Umweltbeauftragten, Neukirchen-Vluyn 1986.
29 Günter Altner, Bewahrung der Schöpfung und Weltende, in: ders. (Hg.), Ökologische
Theologie. Perspektiven zur Orientierung, Stuttgart 1989, S. 409 – 423, hier S. 419.
30 Siehe unter anderem Thomas Macho, Lust auf Fleisch? Kulturhistorische Überlegungen
zu einem ambivalenten Genuss, in: Dirk Matejovski u. a. (Hg.), Mythos Neanderthal.
Ursprung und Zeitenwende, Frankfurt 2001, S. 147 – 162, hier S. 158.
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Michael Schüring
später in der Bibel noch einmal erwähnt werden. Der Kulturmensch, also in
diesem Fall ganz sinnfällig der das Land „kultivierende“ Mensch, ist nicht
völlig verloren, aber von seiner Mühsal auch nicht erlöst, während eine
deutliche Distanz zu Gott bestehen bleibt. Es bedarf eines neuen Bundes, wie er
in der Geschichte von der Sintflut am Ende geschlossen wird, wobei die
Herrschaft des Menschen über die Tier- und Pflanzenwelt abermals bekräftigt
wird (Gen 9, 2 – 3). Über diese Verwerfungen hilft auch nicht das oft zitierte
„Lob der Schöpfung“ hinweg (Psalm 104), in dem zwar die Schönheit und der
Wert von Tieren und Pflanzen gepriesen werden, aber bei genauerer Betrachtung eben nicht unabhängig vom Geschehen einer gnädigen Zuwendung
Gottes zum Menschen. Diese Zuwendung geschieht nicht unabhängig vom
Nutzen für den Menschen und ist damit in erster Linie Ausduck und Vehikel
der Gnade, in jedem Fall also, um mit der oben genannten Terminologie zu
sprechen, Grundlage einer anthropozentrischen Umweltethik.31
Der zweite Grund dafür, dass die Umweltkrise zum Anlass für eine in biblische
Vorstellungswelten vordringende Ursprungssuche wurde, liegt in dem oben
zitierten Herrschaftsauftrag nach Genesis, Kapitel 1, Vers 28. Die Einwände
vieler Autoren, dass hier Herrschaft nicht gleichzusetzen sei mit Tyrannei oder
Unterwerfung, hielt Kirchenkritiker und Skeptiker nicht davon ab, die
Naturentfremdung des Menschen und seinen rücksichtslosen Umgang mit
Ressourcen auf eben diese Stelle zurückzuführen. Die Zeichnung einer solchen
Kontinuitätslinie erscheint aus historischer Sicht äußerst kühn, aber der
Horizont dieser Sichtweise dehnt sich bis zu den Grenzen der jüdischchristlichen Weltaneignung aus, und zwar sowohl zeitlich als auch räumlich.
Der Kerngedanke ist hierbei die Feststellung, dass das Verhältnis des über die
Natur erhabenen Menschen zu einem unsichtbaren, allgegenwärtigen und
ewigen Gott jegliche Vermittlung durch naturreligiöse Größen ausschließt.
Gelehrte wie Max Weber oder Arnold Gehlen sahen in der jüdisch-christlichen
Tradition die Aufkündigung einer „entente secr|te“ (Gehlen) zwischen Natur
und Mensch und damit die Voraussetzung für eine fortschreitende Entzauberung der Welt.32 Opfer dieser Entwicklung waren die vorchristlichen Kulte,
deren Heiligtümer und Opferstätten von Missionaren im Gefolge christlicher
Heere zerstört wurden. Von hier ist es zwar noch ein sehr weiter Weg bis zum
modernen Ressourcenregime infolge der thermo-industriellen Revolution.
Wenn man aber daran festhalten wollte, dass der biblische Herrschaftsauftrag
den langwierigen Säkularisierungsprozess mehr oder weniger unbeschadet
31 Zum historischen Kontext des Psalms siehe Eckhard von Nordheim, Die Selbstbehauptung Israels in der Welt des Alten Orients. Religionsgeschichtlicher Vergleich anhand
von Gen 15 / 22 / 28, dem Aufenthalt Israels in Ägypten, 2 Sam 7, 1 Kön 19 und Psalm 104,
Göttingen 1992, S. 167.
32 Arnold Gehlen, Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen,
Bonn 1956, S. 285; Max Weber, Die Protestantische Ethik I [1904], hg. v. Johannes
Winckelmann, Gütersloh 1991, S. 123.
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überstanden hat, dann erscheint er selbst in seiner innerweltlich gewendeten
Form noch als Antrieb der modernen, wissenschaftlich-technischen Naturaneignung. Die Schöpfungstheologie arbeitet sich bis heute daran ab, ohne
dass in sich völlig schlüssige und widerspruchsfreie Auslegungen zu erwarten
wären. In sich geschlossen ist der Kreis dieser Krisendiagnose dann in dem
Moment, wo die totale Technisierung der Welt in ihrer apokalyptische
Aufzehrung mündet, wie die oben beschriebene Umkehrung des Schöpfungsmythos mit ihrem heilsgeschichtlich bedeutungslosen, weil ganz und gar
profanen Ende dieser Welt.
Der dritte Grund für den Nexus von Schöpfungsmythos und Umweltkrise
schließt hier unmittelbar an und verweist auf den Zusammenhang von
Kolonialgeschichte, Mission und den Verbrechen an indigenen Völkern seit
Ende des 15. Jahrhunderts.33 Hier ist zu beachten, dass zu dem Befund einer
zeithistorischen Wende um 1970 auch der veränderte Blick auf die Einwohner
der ehemaligen europäischen Kolonialreiche gehört. Zu dieser Zeit wurden
sich die Kirchen, und zwar auf allen Ebenen, ihrer schweren Verantwortung im
Prozess der Unterwerfung dieser Völker bewusst, die sich in der Verflechtung
von Ressourcenaneignung, Umweltverschmutzung und Armut niederschlug.
In diesem Zusammenhang ließen sich kirchliche Umweltaktivisten dazu
hinreißen, ihre ethischen Forderungen aus den vermeintlich intakten Naturverhältnissen indigener Völker abzuleiten beziehungsweise auf diese zu
projizieren. Visionen einer globalen Gerechtigkeit wurden dabei mit dem
Aufzeigen „einer spirituellen Harmonie mit der Natur und eine[r] gemeinschaftliche[n] Wirtschaftsweise“ kurzgeschlossen.34 Tatsächlich flossen die
Bilder der vermeintlich zivilisationsfernen „Naturmenschen“ in ihrer Anspruchslosigkeit und Urwüchsigkeit zusammen mit den christlichen Paradiesvorstellungen, so als habe sich der Sündenfall einer Entfremdung von der
Natur und Gott in Teilen der außereuropäischen Welt nicht ereignet.
II. Die imaginäre Gegenwelt einer „Wiederverzauberung“35
1. Die Rede des Häuptlings Seattle
Dort, wo die kirchliche Umweltbewegung nicht auf die christlichen Bestände
einer ökologischen Gegenwelt zurückgreifen konnte, und weil sie in ihren
ganzheitlichen Bestrebungen global integrativ sein wollte, bezog sie sich auf
33 Siehe hierzu Horst Gründer u. a. (Hg.), Christliche Heilsbotschaft und weltliche Macht.
Studien zum Verhältnis von Mission und Kolonialismus, Münster 2004.
34 So auch heute noch auf der Homepage der EKD zum Thema „Internationaler Tag der
Ureinwohner“, https://www.ekd.de/aktuell_presse/news_2003_08_08_1_tag_der_urein
wohner.html.
35 Zu diesem Begriff siehe auch Hartmut Lehmann, The Interplay of Disenchantment and
Re-Enchantment in Modern European History, or, the Origin and the Meaning of Max
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Michael Schüring
das animistische Naturverständnis und die spirituellen Praktiken außereuropäischer beziehungsweise vormoderner Kulturen. Meine These ist, dass die
oben geschilderten, vermeintlichen ethischen Defizite der eigenen Überlieferung, die Aporien einer ökologisch ausgerichteten Auslegung der Bibel und die
unbestreitbare historische Verantwortung für Eroberung und Zwangsbekehrung (ob nun im frühen Mittelalter oder in den außereuropäischen Kolonien)
der Grund dafür sind, dass sich gegenweltliche Strömungen innerhalb der
protestantischen Kirche den indigenen Völkern, das heißt – um hier den
gängigen zeitgenössischen Begriff zu bemühen – den „Indianern“ zuwandten.
Dies war darüber hinaus den zeitgenössische