Sozialraumanalyse Wurzen (Langfassung), 2004

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Sozialraumanalyse Wurzen (Langfassung), 2004
„Mein Sohn wurde von Rechten
zusammengeschlagen.“
Wahrnehmungen und Deutungen zum Thema Rechtsextremismus.
Das Beispiel Wurzen.
Kulturbüro Sachsen e.V.
erarbeitet durch das Mobile Beratungsteam
für den Regierungsbezirk Leipzig
Dr. Andrea Fischer-Tahir
Friedemann Affolderbach
Wurzen im August 2004
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
2
1. Einleitung
4
2. Methodisches Vorgehen
6
3. Allgemeines zum Thema Rechtsextremismus
8
4. Erinnerungen: Wurzen in den 1990er Jahren
4.1. Aktionen von rechts
Exkurs: Züge
4.2. Handlungsoptionen gegen rechts
4.3. Image und Identität
4.4. Zwischenfazit
13
16
18
21
25
5. Positionen zum Themenfeld Rechtsextremismus
5.1. Wahrnehmungen von Rechtsextremismus
5.1.1. Symbole
5.1.2. Räume besetzen
5.1.3. Deutungen durchsetzen
5.1.4. Gewalt als Regel
26
26
28
30
32
5.2. Ursachen deuten und erklären
5.2.1. Die sozialökonomische Perspektive
5.2.2. Die psychosoziale Perspektive
5.2.3. Blick in die Vergangenheit
5.2.4. Rechtsextremismus- ein Jugendproblem?
5.2.5. Extremismus: Das Problem rechts = links
34
34
37
40
44
48
5.3. Handlungsoptionen gegen Rechtsextremismus
5.3.1. Repressive und präventive Möglichkeiten
5.3.2. Strafrechtliche Möglichkeiten
5.3.3. Pädagogische und sozialpädagogische Möglichkeiten
5.3.4. Möglichkeiten und Grenzen in Gewaltsituationen
5.3.5. Gesellschaftspolitische Möglichkeiten
5.3.6. Kulturelle Möglichkeiten
51
51
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55
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65
5.4. Zwischenfazit
72
6. Fazit
6.1. Deutungsmuster
6.2. Fragen
73
75
7. Ressourcen bürgerlichen Engagements
78
Literatur
81
Vorwort
Seit Juli 2001 setzen die Mobilen Beratungsteams des Kulturbüros Sachsen e.V.1 neue
Impulse in sächsischen Kommunen: Ein Beratungs- und Begleitungsangebot zur Stärkung
bürgerlichen Engagements mit dem Anliegen, demokratiegefährdenden Tendenzen
entgegenzutreten.
Ziel ist es, vor Ort Handlungskonzepte für eine demokratische Stärkung des Gemeinwesens
zu entwickeln. In unserem Beratungsansatz sind die Menschen vor Ort Expertinnen und
Experten in eigener Sache. Ihre Kompetenzen und Ressourcen und die Identifikation mit ihrer
Kommune sollen für das Gemeinwesen aktiviert und nutzbar gemacht werden.
Die Stärkung von Demokratie und Toleranz ist nicht allein mittels Förderung der Jugend-,
Kultur- und Sozialarbeit zu realisieren. Die Potenziale von Bürgerverantwortung müssen
stärker genutzt werden. Unser Konzept mobiler Beratungsarbeit basiert auf dem Prinzip der
Ermächtigung; es ist ein ressourcenorientierter Ansatz, der die Akteure2 vor Ort stärkt und zur
konstruktiven Veränderung ihrer Lebenswelt befähigt. Geleitet von dem Arbeitsansatz „Hilfe
zur Selbsthilfe“ und dem Gedanken, dass die Probleme mit den Menschen vor Ort besprochen
und gelöst werden müssen, verstehen wir uns als Impulsgeber, Moderator und Begleiter.
Kommunale Problemlagen finden besondere Beachtung
Unsere Erfahrung sagt: Gehen lokale Akteure und Kommunen konstruktiv und offen mit
antidemokratischen und rechtsextremen Gefahren um, wird schnell deutlich, dass eine
Verbesserung der Situation bei den Kernaufgaben jeder Kommune ansetzt. Es geht um die
Herstellung konstruktiver Diskurse zwischen lokalen Akteuren wie Verwaltung, Schule,
Kirche, Vereine oder aber Träger der Sozialen Arbeit und um deren Perspektiven für die
nächsten Jahre. Gerade hinsichtlich dieser Zielstellung gehört der Dialog über
Zukunftsperspektiven von Menschen über tragfähige und langfristige Finanzierungskonzepte
für eine qualifizierte Kultur- und Jugendarbeit, vor allem in ländlichen und kleinstädtisch
geprägten Regionen, zu den Schwerpunkten unserer Arbeit.
Der systemische Ansatz mobiler Beratung
Unsere bisherige Arbeit hat gezeigt, dass es in vielen Regionen Problemanzeigen zu
rechtsorientierten bzw. rechtsextremen Gruppierungen gibt. Bürgerinnen und Bürger wenden
sich an uns, um Ängste anzusprechen und Lösungsmöglichkeiten zu diskutieren. Von
rechtsextrem dominierten Jugendclubs, gewalttätigen Auseinandersetzungen im öffentlichen
Raum, von der Angst der Eltern, dass ihre Kinder in solche Gruppierungen geraten, von
1
Finanziert wird die Mobile Beratungsarbeit im Kulturbüro Sachsen durch das vom Bundesministerium für Frauen, Familie,
Senioren und Jugend im Rahmen des Aktionsprogramms „Jugend für Toleranz und Demokratie - gegen Rechtsextremismus,
Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus“ initiierte Programm CIVITAS.
2
Die maskuline Pluralendung schließt Frauen jeweils mit ein.
2
Parolen und Schmierereien in Schulen bis hin zur Anmietung privater Räume als rechte
Treffpunkte oder Schulungszentren reichen die Problemanzeigen, die uns erreichen.
Von Seiten kommunaler Verantwortungsträger wird oft versucht, dieses Problem aus
verständlicher Sorge um das Image der Kommune und Region nicht zur Kenntnis zu nehmen.
Dazu trägt auch der wenig sensible Umgang mancher Medien mit diesem Problem bei.
Wir wollen mit unserer Arbeit erreichen, dass Kommunen sich offensiv mit der Fragestellung,
wie mit rechtsextremistischen Tendenzen umgegangen werden kann, auseinander setzen, um
auf dieser Basis zivilgesellschaftliche Gegenkräfte zu mobilisieren und kommunalspezifische
Problemlösungen zu entwickeln. Dazu führen wir mit vielen kommunalen Akteuren
Hintergrundgespräche, um ein möglichst genaues und facettenreiches Bild der jeweiligen
Situation zu erhalten. Nur unter Einbeziehung verschiedener Problemwahrnehmungen und
durch die Vernetzung möglichst vieler Ressourcen ist eine nachhaltige Verbesserung der
lokalen Situation erreichbar.
Sechs Beraterinnen und Berater sind jeweils als Zweierteam in den drei Regierungsbezirken
Sachsens unterwegs. Aus einem Beratungsprozess können sich verschiedene Aktivitäten
entwickeln. Das hängt von den regionalen Problemlagen, von den Bedürfnissen der Menschen
vor Ort und nicht zuletzt von der Kommunalpolitik ab.
Die bisherigen Erfahrungen von Mobiler Beratung haben uns gezeigt, dass es sich lohnt, ein
Mehr an Zeit für die komplexe Problemwahrnehmung durch kommunale Akteure
aufzuwenden. Die hier vorliegende Studie beschäftigt sich mit Wahrnehmungen und
Deutungen zum Themenfeld Rechtsextremismus exemplarisch und am Beispiel der Stadt
Wurzen.
Kulturbüro Sachsen
Oktober 2004
3
1. Einleitung
In der Leipziger Volkszeitung / Muldentaler Kreiszeitung vom 19. Mai 2004 ist zu lesen, daß
der dem Oberbürgermeister der Stadt Wurzen beigeordnete Bürgermeister der Stadt, Gerald
Lehne, gemeinsam mit dem Revierleiter von Wurzen, Michael Weiden, einem Patienten in
einem Leipziger Krankenhaus einen Besuch abgestattet habe. Dieser Patient, heißt es, sei
zuvor an einer Tankstelle in Wurzen Opfer eines rechtsextremistischen Überfalls geworden,
an dem sich mutmaßlich fünfzehn jugendliche Täter beteiligt hätten. Die Zeitung berichtet,
daß sich der Bürgermeister bei dem jungen Mann im Namen der Stadt Wurzen entschuldigt
habe. Ein Foto dokumentiert die Begegnung.
Der Zeitungsbeitrag verweist auf drei Dinge: Erstens, es gibt in Wurzen ein Problem mit
rechtsextremistischer Gewalt. Zweitens, in Wurzen gibt es Akteure, die sich dieses Problems
bewußt sind und nach geeigneten Handlungsmöglichkeiten suchen. Und schließlich drittens,
daß Medien gefragt sind und handeln, wenn es um das Öffentlichmachen
rechtsextremistischer Gewalt, aber auch darauf bezogener Handlungen geht. Und mit diesen
drei Verweisen sind wir direkt in unserem Thema angekommen.
In Sachsen wurde durch den Wahlerfolg der NPD bei den Kommunalwahlen im Juni 2004
und den Landtagswahlen im September 2004 mehr als deutlich: Rechtsextreme Akteure sind
nicht nur in der Lage, durch Machtdemonstrationen auf der Straße und in bestimmten
subkulturellen Sphären ein Stück Gesellschaft zu repräsentieren, sondern sie streben auch
danach, über repräsentative Institutionen wie Kommunalparlamenten, politische Macht
auszuüben. In Wurzen erreichte die NPD bei den Kommunalwahlen 11,8 Prozent, hat somit
statt bisher einem, drei Stadträte und kann sich in den Ausschüssen des Stadtparlaments
beteiligen.3 Dabei beschäftigt viele Menschen in Wurzen die Frage, wie mit dem Thema
Rechtsextremismus, konkret mit Gewalt und mit der NPD umgegangen werden könne. Eine
breite öffentliche Debatte hat in Wurzen bislang nicht stattgefunden. Dafür mag es mehrere
Gründe geben. Einer dieser Gründe ist sicherlich der, daß das massive Auftreten und
wirksame Agieren rechter Akteure in den 90er Jahren und darauf bezogenes überregional
organisiertes politisches Handeln sowie eine entsprechende Medienberichterstattung
spezifische Folgen für das Image der Stadt Wurzen hatten. Die in einer landschaftlich
reizvollen Gegend liegende, auf eine dokumentierte Geschichte von mehr als eintausend
Jahren zurückblickende und kulturgeschichtlich attraktive sächsische Stadt fand sich in den
Medien wieder als „Rechte Hochburg“. Dies geschah zu einer Zeit, da im Zuge der Wende
und Wiedervereinigung ohnehin bisher gültige Inhalte einer kollektiven und stadtbezogenen
Identität ins Wanken gerieten; insbesondere durch die Abwicklung der industriellen
Infrastruktur, zu der unter anderem die auch international berühmte Wurzener
Nahrungsmittelproduktion und Teppichherstellung gehörten. Heute hat die Stadt eine
3
Die CDU kam auf 44,2%, die SPD auf 23,4%, die PDS auf 20,5%. Die Wahlbeteiligung lag bei 41,9 %. In der
Nachbargemeinde Bennewitz übrigens erreichte die PDS 65,1%, die CDU 27 %, die SPD 7,9 %, wobei die NPD
draußen blieb, was nicht bedeutet, dass es die NPD dort nicht gäbe.
4
Arbeitslosenquote von 16,2 Prozent und die Abwanderung in den vergangenen Jahren ließ die
Einwohnerzahl von 18.313 Menschen (1990) auf 15.502 (2003) sinken.4
Die Erfahrung einer kollektiven Stigmatisierung als „Rechte Hochburg“ erschwert es heute
noch, in Wurzen eine offene Debatte zum Thema Rechtsextremismus zu beginnen. Dennoch
wird geredet und gibt es Handlungsansätze und auch Erfolge in sehr verschiedenen Bereichen.
Deshalb dachten wir darüber nach, wie wir zum Thema Rechtsextremismus mit Akteuren aus
Politik, Verwaltung, Wirtschaft, Kultur, Bildung, Kirche, Medien, Jugendsozialpflege und
Sozialberatung ins Gespräch kommen könnten. In der politischen und wissenschaftlichen
Literatur suchten wir nach Anregungen. Zum Thema Rechtsextremismus aber konzentriert
sich die bisherige wissenschaftliche Forschung auf rechtsextreme Täter und
Handlungsstrukturen. Dabei geht es schwerpunktmäßig entweder um gesellschaftliche
Gesamtzusammenhänge, oder aber Täter werden als Individuen und im Kontext Familie
betrachtet und analysiert. Mit Opfern rechtsextremer Gewalt oder gar mit
zivilgesellschaftlichen und anderen Akteuren, die zum Themenfeld Rechtsextremismus
handeln, wird sich kaum beschäftigt.5 Uns aber interessierte, wie sich Akteure aus den
verschiedenen, gesellschaftlich relevanten Feldern einer städtischen Kommune positionieren.
Die hier vorliegende Studie ist der Versuch, sich in der Stadt Wurzen den Wahrnehmungen
und Deutungen kommunaler Akteure zum Themenfeld Rechtsextremismus anzunähern. Für
diese Annäherung haben wir uns bewußt für das Mittel einer wissenschaftlichen Studie
entschieden. Wir wollen am Beispiel von Wurzen nach realen Handlungserfahrungen von
individuellen Akteuren fragen und diesen Erfahrungen auch durch eine entsprechende
Darstellung Rechnung tragen. Hier liegt also eine Fallstudie vor, und es ist nicht unsere
Absicht, Wurzen als eine Stadt darzustellen, die etwa besonders rechtsextremistische
Tendenzen aufzuweisen habe.
Wir fragen zentral nach Strukturierung des Erzählens. Und uns interessiert, welche Muster
bestimmten Wahrnehmungen, Deutungen und Handlungen zugrunde liegen. Unser Ziel ist es
schließlich herauszuarbeiten, welche Handlungsoptionen in bezug auf Rechtsextremismus
durch die individuellen Akteure thematisiert werden, auf welche tatsächliche Praxis sie
verweisen und welche Möglichkeiten sie zu denken bereit sind. Es geht uns also darum
aufzuzeigen, wo Ressourcen liegen könnten, um eine handlungsbezogene offene und
pluralistisch ausgestaltete Debatte zum Thema Rechtsextremismus zu beginnen. Eine solche
Debatte betrachten wir als notwendig, wenn es um die Stärkung demokratischer Stadtkultur
gehen soll. Denn grundsätzlich gehen wir davon aus, daß eine attraktiv und demokratisch
ausgestaltete Stadtkultur es rechtsextremen Akteuren erschwert, Macht zu demonstrieren und
auszuüben.6
4
Angaben nach Stadtverwaltung Wurzen. Statistiken Bevölkerungsentwicklung. Erhalten am 5.8.2004. Zum
Bevölkerungsrückgang trägt freilich auch der allgemeine Geburtenrückgang statt. Allerdings wandern
vornehmlich 18-44-Jährige, also die Erwerbsfähigen, in die nächstgelegenen Ballungszentren und in den Westen
der BRD. Nach Angaben eines Mitarbeiters der Stadtverwaltung verlangsame sich in den letzten Jahren aber
auch die Abwanderung. Die zugewanderten Spätaussiedler sind wie auch andernorts in den Statistiken nicht
extra aufgeführt. Ihre Zahl in Wurzen beträgt mehrere Hundert.
5
Vgl. Strobl, Rainer & Würtz, Stefanie & Klemm, Jana (2003): Demokratische Stadtkultur als Herausforderung.
Stadtgesellschaft im Umgang mit Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit. Weinheim und München. S. 12f.
6
Vgl. auch Strobl, Rainer et al., a.a.O. S. 13.
5
Wir möchten an dieser Stelle all jenen Menschen unsere Wertschätzung ausdrücken, die uns
bei der Studie als Interviewpartnerinnen und Interviewpartner unterstützt haben. Das von uns
wahrgenommene enorme Bedürfnis, über Rechtsextremismus zu sprechen, hatten wir nicht
erwartet. Und jede der Begegnungen verlief interessant und für unser Anliegen
gewinnbringend. Für den oft sehr freundlichen Empfang, für die Kooperation und für das uns
entgegen gebrachte Vertrauen sei nochmals auf das Herzlichste gedankt.
2. Methodisches Vorgehen
In Recherche und Auswertung der erhobenen Daten folgten wir Theorien und Methoden der
qualitativen Sozialforschung. So orientierten wir uns am Ansatz der Grounded Theorie
(Strauss & Corbin 1996), der mit unterschiedlichen qualitativen Verfahren vereinbar ist.
Dabei ist entscheidend, daß die Datenerhebung dem Verfahren des theoretical sampling folgt,
d.h. anstatt einen festen Stichprobenplan abzuarbeiten, entscheidet sich während des
Datenerhebungsprozesses, welche Gruppen und Personen noch mit in die Untersuchung
miteinbezogen werden. Datenerhebung und Datenauswertung waren also zeitlich miteinander
verschränkt.7 Das Sample, d.h. die miteinbezogene Personengruppe, strukturierte sich
entsprechend der Fragestellung: Wir suchten nach Personen, die aufgrund ihrer
professionellen oder / und gesellschaftspolitischen Tätigkeiten mit dem Thema
Rechtsextremismus zu tun haben bzw. haben könnten.
In der Interviewführung orientierten wir uns am Ansatz des diskursiven Interviews.8 Wir
trafen uns mit insgesamt 26 Personen, führten 20 Interviews und ein offenes Gespräch. Bis
auf ein Interview, bei dem wir die betreffende Person schwerpunktmäßig zu
stadtgeschichtlichen Dingen befragten, gestalteten sich alle anderen als Leitfaden gestützte
Interviews. Dabei wurde in den Interviews den Partnerinnen und Partnern die Gelegenheit
eingeräumt, durch eine eingangs offen formulierte Aufforderung zum Erzählen selbst Akzente
zu setzen. Die Analyse der Interviews zeigte uns, daß es auf Seiten fast aller Personen das
Bedürfnis gab zu sprechen, zu erzählen, berichten, argumentieren. Dabei ging es nicht mehr
nur um Rechtsextremismus im engeren Sinne, sondern um Fragen wie Demokratie,
Bürgerrechte, Sozialabbau, allgemeine Probleme von Sozialarbeit, DDR und Wende oder
Stadtgeschichte. Wir forderten durch entsprechende Fragen die Interviewten zu direkten
Positionierungen auf und konfrontierten sie mit eigenen oder fremden Aussagen.
Die Interviews wurden mit Tonband aufgezeichnet und später vereinfacht transkribiert. Wir
verzichteten auf eine vollständige Transkribierung9, vor allem deshalb, weil wir die Texte den
Interviewten zurückgaben, damit diese nochmals Gelegenheit für Anmerkungen oder
7
Strauss, Anselm & Corbin, Juliet (1996): Grounded Theory: Grundlagen Qualitativer Sozialforschung.
Weinheim.
8
Ullrich, Carsten G. (1999): Deutungsmusteranalyse und diskursives Interview. Leitfadenkonstruktion,
Interviewführung und Typenbildung. Arbeitspapiere – Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung
Nr. 3. Mannheim.
9
Viele Forscher markieren para-linguistische Merkmale wie Betonung, Sprechgeschwindigkeit und Gesten und
fügen Zeitangaben zu Sprechpausen ein. Dabei kann beispielsweise jedes „hm“ oder „aha“, jedes Kopfnicken
oder Heben und Senken einer Hand von Bedeutung sein.
6
Korrekturen erhielten und somit ein Stück Kontrolle über ihr gesprochenes Wort bewahrten.
Gleiches gilt für das Gedächtnisprotokoll zu einem geführten Gespräch. Dieser partizipative
Ansatz erschien uns fair und angemessen im Sinne der oben formulierten Zielsetzung.
Die Auswertung der Interviews gestaltete sich zunächst als thematische Sequenzanalyse, der
eine inhaltliche Feinanalyse einzelner Sequenzen folgte. Davon ausgehend verglichen wir die
individuell präsentierten Konzepte zum Thema Rechtsextremismus miteinander und suchten
nach Hinweisen auf Deutungsmuster. Schließlich überprüften wir faktische Daten,
Erlebnismoleküle und Verweise, die sich aus den Interviews ergaben, dahingehend, wo
Anknüpfungspunkte und Ressourcen für kommunikative Aushandlungsprozesse und für
strategisches Handeln bezogen auf das Themenfeld Rechtsextremismus liegen.
Das Sample
1. Interviews und Gespräche
Feld
Zahl
Stadtrat
Verwaltung
Bildung
Erwachsenenbildung
Jugendsozialpflege
Soziale und rechtliche Beratung
Kultur
Wirtschaft
Kirche
Medien
Polizei
3
2
2
3
2
2
1
2
2
1
1
Beteiligte
Personen
4
2
2
5
3
3
1
2
2
1
1
Gesamt
21
26
2. Angaben zu den Interviewteilnehmerinnen und Interviewteilnehmern
Alter
Geschlecht
Altersspanne
Verteilung
Männlich
21-30
3
18
31-40
5
41-60
15
61-70
3
Herkunft
Wurzen
Muldental (Muldentalkreis)
Neue Bundesländer
Alte Bundesländer
Ausland
Weiblich
8
8
7
7
3
1
Grundsätzlich gingen wir bei der Zuordnung von Interviews zu den oben benannten Feldern
pragmatisch vor. Agierte eine Person zum Beispiel in mehr als einem der genannten Felder,
so ordneten wir ihr Interview demjenigen Feld zu, in dem wir auf sie trafen. Die oben
stehenden Tabellen betrachtet, ist zu erwarten, daß wir mehrheitlich Aussagen aus der
7
Perspektive von Erwachsenen präsentieren werden. Kommunale Akteure, die wir
interviewten, waren mehrheitlich zwischen 40 und 60 Jahren alt und männlich. Anzumerken
ist auch, daß insgesamt fünfzehn Personen, die direkt aus Wurzen bzw. dem Muldental
stammen, insgesamt elf Personen zur Seite stehen, die im Laufe der letzten Jahre nach
Wurzen zugereist sind bzw. hier lediglich einer beruflichen Tätigkeit nachgehen.
Zur Zitierweise: Wir haben die Passagen hinreichend geglättet. Dabei ist klar, daß zwischen
gesprochener und geschriebener Sprache große Unterschiede bestehen können. Eine
umfassende sprachpflegerische Glättung würde dem Gesprochenen die Authentizität nehmen.
Einige der interviewten Frauen und Männer begegnen sich im Alltag oft oder gelegentlich.
Aus Gründen wissenschaftsethischer Standards hielten wir aber eine gewisse Anonymisierung
für angebracht. So verliehen wir denjenigen Personen, die im folgenden zu Wort kommen
werden, andere Namen.
3. Allgemeines zum Thema Rechtsextremismus
Rechtsextremes Denken und Handeln ist in der Bundesrepublik ein gesamtgesellschaftliches
Problem. Dabei müssen politisch-verfassungsrechtliche, strafrechtliche, politische, soziale
und kulturelle Dimensionen voneinander unterschieden werden.
Rechtsextremismus ist kein Begriff, der sich lexikalisch von etwaigen Selbstbezeichnungen
bestimmter Akteure, deren Praxis mit diesem Phänomen in Verbindung gebracht wird,
herleiten ließe. Vielmehr bezeichnen sich diese beispielsweise als „Nationale“, „Kameraden“,
„Rechte“ oder vielsagend als „Deutsche“. Aus Sicht des Verfassungsschutzes ist Extremismus
ein „Arbeitsbegriff“ für diejenigen politischen Bestrebungen, die „gegen die freiheitliche
demokratische Grundordnung“ gerichtet sind, konkret gegen Verfassungsmerkmale wie die
Volkssouveränität, das Rechtsstaatsprinzip oder den Ausschluß von Gewalt- und
Willkürherrschaft. Davon unterschieden wird politischer Radikalismus, denn dabei handle es
lediglich um eine radikale, also an die Wurzeln gehende bzw. zu gehen vorgebende, Art und
Weise, in der politische Ideen vorgebracht werden. Dies aber sei weitgehend Sache von
Zuschreibung.10
In der soziologischen Debatte zum Thema Rechtsextremismus ist in weiten Kreisen die
Begriffsdefinition von Wilhelm Heitmeyer akzeptiert. Er spricht von „rechtsextremen
Orientierungsmustern“, wenn zwei Kernelemente aufeinander treffen: Ideologie der
Ungleichheit der Menschen und grundsätzliche Gewaltakzeptanz. Die Ideologie der
Ungleichheit (im Sinne von Ungleichwertigkeit) äußert sich Heitmeyer zufolge in
nationalistischer bzw. völkischer Selbstübersteigerung, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit,
in Unterscheidung von lebenswertem und unwertem Leben, der Behauptung natürlicher
Hierarchien (Soziobiologie) und des Rechts des Stärkeren (Sozialdarwinismus) sowie in
einem totalitären Norm-Verständnis, d.h. der Ausgrenzung des Anderen. Die
10
Freie Hansestadt Hamburg. Behörde für Inneres / Landesamt für Verfassungsschutz (2001):
Rechtsextremismus in Stichworten. Ideologien – Organisationen – Aktivitäten. Hamburg. S. 7 f.
8
Gewaltakzeptanz wiederum schlägt sich nieder in einer Ablehnung rationaler Diskurse und
einer Überhöhung von Irrationalismen, ferner der Betonung des alltäglichen Kampfes ums
Dasein, der Ablehnung demokratischer Reglungsformen von sozialen und politischen
Konflikten, der Betonung autoritärer und militaristischer Umgangsformen sowie in der
Akzeptanz von Gewalt als normaler Aktionsform zur Regelung von Konflikten.11
Heitmeyers Definition läßt allerdings vermuten, daß rechtsextremistische Diskurse eine Reihe
von Schnittstellen zu solchen Diskursen aufweisen, die gesellschaftlich weithin akzeptiert
sind. So ist Sozialdarwinismus nicht unabhängig von kapitalistischen Strukturen zu
betrachten, sondern solche Strukturen bringen alltägliche, sozialdarwinistisch motivierte
Einstellungen und Handlungen hervor und durch die Praxis findet eine Reproduktion besagter
Strukturen statt. Auch sind Versuche, Frauen als ungleichwertig gegenüber Männern zu
betrachten und zu behandeln, weithin in der Gesellschaft anzutreffen. Ebenso steht es mit
Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Und Konspirations- und Verschwörungstheorien (hier
Überhöhung von Irrationalismus) sind kein Privileg rechtsextremistischer Akteure. Allerdings
kommt es nach Heitmeyer auch auf das Zusammentreffen verschiedener Aspekte der oben
genannten Kernelemente an.12
In der wissenschaftlichen Literatur findet sich die Darstellung, nach welcher der moderne
Rechtsextremismus zwei generelle Tendenzen aufweise.13 Die eine dieser Tendenzen
verbinde sich mit dem Begriff „Neue Rechte“: Akteure in diesem Feld treten in der
Öffentlichkeit als konsequente Verfechter neoliberalen Denkens auf. Entsprechend ihrer
Ideologie, nach welcher die soziale Inklusion und Exklusion über die Kategorie Arbeit und
damit „Nützlichkeit“ erfolgt, argumentieren sie zum Beispiel, daß zur Sicherung des
Wirtschaftsstandorts Deutschlands, bestimmte Gruppen aus der Gesellschaft ausgeschlossen
werden müssen. Zu diesen Gruppen als angeblichem „sozialem Ballast“ zählen sie
Asylsuchende, ausländische Arbeitsmigranten und deren Nachkommen, Zuwanderer generell
sowie Personengruppen, die angeblich wenig optimalen oder aber keinerlei Wert für die
marktwirtschaftliche Produktion haben. Nationalistische, rassistische und sozialdarwinistische
Einstellungen werden hier deutlich. Zum Komplex ideologischer Überzeugungen gehört aber
auch antisemitisches Verschwörungsdenken sowie antisemitische Geschichtsdeutung. Im
Gegensatz zu (anderen) konservativen Kreisen des Neoliberalismus, aber auch zu
Neoliberalen mit sozialdemokratischer Tradition gehen sie in der politischen Debatte so weit,
offen Forderungen nach „mehr Markt“ mit der Einschränkung demokratischer Grundrechte zu
verbinden. Akteure, die dieser Tendenz zuzuordnen sind, weisen oft akademische Abschlüsse
sowie ökonomisches Kapital auf und gehören zu den Gewinnern von neoliberaler
Globalisierung. An politischen und anderen Debatten und an sozialen Begegnungen im Alltag
11
Heitmeyer, Wilhelm (1992): Rechtsextremistische Orientierungen bei Jugendlichen. Empirische Ergebnisse
und Erklärungsmuster einer Untersuchung zur politischen Sozialisation. Weinheim und München. S. 15 f.
Kritisch könnte angemerkt werden, daß die Bewertung von Diskursen als rational oder als irrational normativ
und somit problematisch ist, und zweitens, daß der hier verwendete Gewaltbegriff sich auf physische und
psychische Momente bezieht und somit implizit strukturelle Gewalt aufwertet.
12
Heitmeyer a. a. O.
13
Vgl. Hirschfeld, Uwe (2000): „Globalisierung und die Konjunktur des Rechtsextremismus.“ In: derselbe &
Ulfried Kleinert 2000: Zwischen Ausschluß und Hilfe. Soziale Arbeit und Rechtsextremismus. Leipzig. S. 38-57.
9
beteiligen sie sich „kultiviert“, so daß sie vielmals nicht mit neofaschistischer Ideologie und
Habitus in Zusammenhang gebracht werden. Zu dieser Tendenz zählen beispielsweise die
Ideologen rund um rechtsextremistische Organe wie die Junge Freiheit. Deutlich wird, daß
rechtsextremistische Akteure an neoliberale Diskurse andocken können.
Die zweite Tendenz modernen Rechtsextremismus, die in der Wissenschaft verhandelt wird,
verbinde sich im Erscheinungsbild eher mit gewalttätigem Auftreten auf der Strasse und mit
Jugendkulturen: Hier finden sich Akteure, die in einem autoritär geführten Staatswesen die
völkisch-nationale Reinheit und Stärke einer vorgestellten Volksgemeinschaft erblicken bzw.
dies vorgeben. Dementsprechend antidemokratisch, nationalistisch, rassistisch und
antisemitisch ist das Handeln. Viele Akteure dieser Tendenz sind allerdings (den deutschen
Teilen) der Schicht der Ungesicherten und somit den (potentiellen) Verlierern von
neoliberaler Globalisierung zuzuordnen. Gewalttätiges Auftreten ist nicht nur als aggressive
Entladung von Menschen in einer bestimmten Lebensphase zu sehen. Gewalt kann als Option
gewählt werden, um andere abzuschrecken, einzuschüchtern und zu bestrafen. Hier äußert
sich auch der Versuch, den eigenen, wenn auch noch so unsicheren Status zu bewahren und
der erfahrenen sozialen Ungleichheit und somit Einschränkung von Autonomie aktive
Handlung und somit Macht entgegenzusetzen. Es wird also subjektiver Sinn produziert. Dabei
ist Gewalt „Ergebnis sozialer Interaktionsprozesse“, abhängig von Sozialisation und
situationsgebundenem Interaktionskontext.14 Beide der hier skizzierten Tendenzen beziehen
sich ideologisch mehr oder weniger offen auf das Modell einer völkisch-nationalistischen
Gemeinschaft. Und auch in der Praxis weisen Akteure und Gruppen dieser Tendenzen
vielfältige Querverbindungen und Bezüge auf. So kann die, von der „Neuen Rechten“
propagierte, Ideologie dem gewalttätigen Handeln auf der Strasse ein Mehr an Sinn bzw.
grundsätzlich Legitimation verleihen. Andersherum sucht die „Neue Rechte“ nach
Schnittstellen in der Gesellschaft und versucht Akteure zu mobilisieren, um ihre politischen
Projekte auch tatsachlich auf breiter Basis in die Gesellschaft umzusetzen.
Eine dominante Vertreterin im rechtsextremen Spektrum ist die Nationaldemokratische Partei
Deutschlands (NPD). Diese steht nach wie vor unter Beobachtung des Verfassungsschutzes,
der die Ansicht vertritt:
„Auch wenn die NPD in ihrer Satzung behauptet, sich zum Grundgesetz und den Prinzipien der
freiheitlich demokratischen Grundordnung zu bekennen, vertritt sie eindeutig eine rechtsextremistische
Zielsetzung. Parteiprogramm, Schulungsmaterialien und Äußerungen von Funktionären bzw.
Mitgliedern zeigen, dass die NPD die freiheitlich demokratische Grundordnung abschaffen und durch
eine von „immerwirkenden Naturgesetzen“ bestimmte „neue Ordnung“ ersetzen will – eine Ordnung, in
der nicht mehr die Freiheit der Menschen im Mittelpunkt steht, sondern in der sich der Mensch,
autoritär geführt von Eliten, einer Gemeinschaftsordnung zu fügen hat.“15
14
Vgl. auch Heitmeyer, Wilhelm & Müller, Joachim (1995): Fremdenfeindliche Gewalt junger Menschen.
Biographische Hintergründe, soziale Situationskontexte und die Bedeutung strafrechtlicher Sanktionen.
Herausgegeben vom Bundesministerium der Justiz. Bonn. S. 15 f.
15
Landesamt für Verfassungsschutz Sachsen (2003). Verfassungsschutzbericht 2002. Dresden. S. 32.
10
Dem widerspricht auch nicht, daß es von Seiten der Politik und des
Bundesverfassungsgerichtes nicht gelungen ist, die NPD als rechtsextremistische Partei
gesetzlich zu verbieten.16
Machtvolle rechtsextreme Demonstrationen und Kundgebungen, die Besetzung kultureller
Räume durch eine rechte Musikszene und die Präsens in und durch Jugendclubs sowie die
Versuche der NPD, parlamentarisch Fuß zu fassen, entsprechen dem „3-Säulen-Konzept“ der
NPD: „Kampf um die Straße – Kampf um die Köpfe – Kampf um die Parlamente“.17 Dabei
versteht sich die Partei als Speerspitze im von ihr selbst propagierten „Nationalen
Widerstand“. Inhalt des „Widerstands“ gegen das demokratische System, seine
„Systempropagandisten“ und „Vasallen der Besatzerstaaten“ ist, eine politische und kulturelle
Gegenmacht herzustellen und in „national befreiten Zonen“ die Hegemonie auszuüben. Mit
seiner stark alltagsweltlichen und alltagskulturellen Ausrichtung konnte sich das Konzept der
„national befreiten Zonen“ zum Teil durchsetzen, und zwar ohne daß es der permanenten
Anleitung durch ein Führungszentrum bedurfte.18 Rechtsextremistische Akteure agieren auch
weniger in Parteien, sondern als autonome Gruppen und Kameradschaften. Staatliche
Repressionen gegen die NPD sorgten in den vergangenen Jahren für einen Rückgang von
Straftaten. Ein gesellschaftliches Problem ist jedoch nicht strafrechtlich lösbar: Aus
jugendlichen Tätern und Täterinnen wurden vorsichtigere Väter und Mütter. In vielen
Kleinstädten setzten sich rechte Jugendkultur- und Musikszenen19 als dominant durch. Und
die Erfolg der NPD bei den Kommunal- und den Landtagswahlen lassen sich nicht nur als
Protest gegen die etablierten Parteien in Berlin interpretieren. Aus Sicht der NPD und der
Akteure in deren Umfeld ist der Kampf um die Straßen, die Köpfe und die Parlamente in
vollem Gange.
Will man das Problem und die Entwicklungen des Rechtsextremismus anhand von absoluten
Zahlen beschreiben, erweist sich dies als ein Dilemma. So zeigt die folgende Tabelle (A)
einen Auszug aus polizeilicher Statistik für politisch motivierte Kriminalität von rechts im
Muldental. Der hohen Anzahl von Straftaten im Bereich der Propagandadelikte steht eine
niedrige Anzahl von Fällen wie Körperverletzung gegenüber. Anders Tabelle (B), die auf den
Angaben der Nicht-Regierungsorganisation Amal, die konkrete Hilfe für Opfer
rechtsextremer Gewalt bietet, beruht.
16
Denn bekanntermaßen scheiterte das Verbotsverfahren nicht daran, daß die rechtsextremistische Zielstellung
der NPD nicht nachgewiesen werden konnte, sondern an formaljuristischen Widersprüchen und am
fragwürdigen Agieren auf der höchsten politischen Ebene.
17
Vgl. Freie Hansestadt Hamburg, a.a.O., besonders S. 73, 78.
18
Wagner, Bernd (1998): Rechtsextremismus und kulturelle Subversion in den neuen Bundesländern.
Herausgegeben vom Zentrum Demokratische Kultur. Berlin. S. 7. Siehe auch zu „National befreiten Zonen“ in
West- wie Ostdeutschland die Dokumentation unter www.extremismus.com/basics_links/nazizonen.rtf.
19
Zu rechter Musik vergleiche Speit, Andreas (Hg) (2002): Ästhetische Mobilmachung. Dark Wave, Neofolk und
Industrial im Spannungsfeld rechter Ideologien. Hamburg & Münster.
11
Tabelle (A): Politisch motivierte Kriminalität von rechts im Muldentalkreis. Angaben Polizei20
2000
2001
2002
2003
32
39
32
37
Delikte insgesamt
§§ 86 und 86a StGB
27
30
24
24
Landfriedensbruch
1
1
Brandstiftung
1
Körperverletzung
3
1
1
Sachbeschädigung
1
1
3
Volksverhetzung
1
1
5
5
Störung öffentlichen
Friedens / Bedrohung
2
2
Sonstige
5
2
Tabelle (B): Statistik Übergriffe von rechts im Muldentalkreis. Angaben Amal21
2002
2003
Recherchierte Angriffe
12
31
davon Körperverletzung
26
1. Halbjahr 2004
4
4
Vertreter von Amal und Polizei stimmen darin überein, dass in vielen Fällen Jugendliche und
junge Erwachsene, die Opfer rechtsextremer Gewalt geworden sind, diese Straftaten nicht
anzeigen. Bleibt eine Anzeige aus, schlagen sich diese Aktionen von rechts auch nicht in der
Statistik nieder. Auf diesen Umstand verweisen hierzulande viele, die sich professionell mit
Rechtsextremismus beschäftigen oder zum Thema recherchieren bzw. forschen.22 Insofern
lassen sich auch für den Muldentalkreis nur schwerlich statistisch begründete Aussagen zu
Rechtsextremismus treffen.
Wird Rechtsextremismus beispielsweise in der polizeilichen Statistik versucht zu beschreiben
und in der wissenschaftlichen Literatur objektivistisch verhandelt, so geht es uns mit unserer
Studie darum, Individualperspektiven in den Mittelpunkt zu rücken. Dabei sei eine
Anmerkung zu unserer sprachlichen Darstellung gemacht: Da in Politik, Alltagsgebrauch und
Wissenschaft Begriffe wie „Rechtsextremismus“, „Rechtsradikalismus“ und „rechts“ oftmals
synonym verwendet werden, behelfen auch wir uns bei vielen Gelegenheiten, indem wir
vereinfacht von – kursiv gesetzt - rechts sprechen, wenn wir Rechtsextremismus meinen.
20
Die Zahlen wurden uns freundlicher Weise von Bernd Merbitz, Leitender Kriminaldirektor der
Polizeidirektion Grimma, zur Verfügung gestellt.
21
Die Zahlen wurden uns von Amal Wurzen zur Verfügung gestellt.
22
Vgl. auch Strobl, Rainer et al., a.a.O. S. 22 f.
12
4. Erinnerungen: Wurzen in den 1990er Jahren
Vorbemerkung
Wir akzeptieren grundsätzlich, daß Erinnerungen konstruiert sind und sie ihre Konstruktion
derjenigen sozial vorstrukturierten Situation, in der sie entstehen, verdanken. Nicht nur die
eigenen Erfahrungen, sondern auch Alter, Herkunft, Geschlecht und Funktion von
Interviewern und Interviewten sowie Raum und Zeit der Begegnung bestimmen Verlauf und
Inhalte eines Interviews und Gesprächs maßgeblich. Da es eine Vielfalt an biographischen
Erfahrungen und sozialen Identitäten gibt, existiert auch bezogen auf Ereignisse und Prozesse
eine Vielfalt von Erinnerungen, somit ein Nebeneinander von alternativen und
konkurrierenden Erinnerungen. Diese können zu „Erinnerungskonflikten“23 führen bzw.
besagtes Nebeneinander auch Ausdruck solcher Konflikte sein. In diesem Kapitel ist es nicht
unsere Absicht, diejenigen Ereignisse von Anfang bis um die Mitte der 90er Jahre, die
Wurzen mit dem Thema Rechtsextremismus in die überregionalen Medien brachten, zu rekonstruieren.24 Vielmehr interessiert uns, was Personen – ob sie nun damals in Wurzen gelebt
bzw. gearbeitet haben oder nicht – erinnern, wie sie Erinnertes mitteilen und auf welche
gesellschaftlichen Realitäten die präsentierten Erinnerungen verweisen. Dabei geht es uns
besonders um mögliche Handlungsspielräume zum Themenfeld Rechtsextremismus.
4.1. Aktionen von rechts
Wie oben bemerkt, begannen die Interviews meist so, daß wir durch eine sehr offen
formulierte Eingangssequenz die beteiligten Frauen und Männer baten zu erzählen, woran sie
sich in Bezug auf Wurzen und das Thema Rechtsextremismus in den 90er Jahren erinnerten.
Personen, die damals nicht in Wurzen lebten, präsentierten bei dieser Gelegenheit
Wahrnehmungen „von außen“.
Herr Jonas: Also, dieser Schwapp, also Wurzen ist rechts, also dieses Lauffeuer, was sich verbreitete,
das habe ich mitbekommen. [...] Im kirchlichen Bereich, im regionalen, [war] Wurzen ein Begriff. [...]
Also, es gab eine Jugendgruppe, und die haben wir natürlich auch getroffen. [Und] ich weiß, daß in
irgend einer großen überregionalen, war es Stern, Spiegel ..., Wurzen auch mal auftauchte im
Zusammenhang mit Rechtsextremismus. Aber ich kann es nicht mehr so zuordnen [...] Nicht mehr als
diese allgemeine Idee, Wurzen sei in rechter Hand. (Kirche I)
Medien, in denen Wurzen „mal auftauchte“, sind angesprochen. Und auf die Macht von
Medien wird verwiesen. So werden Worte ins Spiel gebracht, die für Naturgewalten stehen
wie „Lauffeuer“. Ferner findet sich der Hinweis auf Personen aus dem Umfeld, die das
Thema besprochen haben müssen. Hierzu heißt es genauer:
23
Vgl. Burke, Peter 1991: „Geschichte als soziales Gedächtnis“, in Aleida Assmann & Dietrich Horth (Hg):
Mnemosyne Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung. Frankfurt am Main. S. 289-305.
24
Eine chronologisch angelegte Zusammenstellung von Ereignissen, Medienberichten etc. bei Wagner, a.a.O., S.
8-12. ferner Antifaschistisches Redaktionskollektiv (Hg) 1996: Wurzen – das Ende faschistischer Zentren, wie
wir sie kennen. S. 15-28.
13
Herr Jonas: [W]as ich gehört habe, war, daß hier in der Gemeinde ein bekannter Jugendtreff war [...]
und daß da öfter mal Rechtsextreme hergekommen wären. Also konkreter gesagt, Skinheads. [...] daß
die hergekommen wären und [...] praktisch die Veranstaltungen begleitet haben, sage ich jetzt mal. [...]
und einfach durch ihre Anwesenheit eine Provokation darstellten, das wahrscheinlich auch beabsichtigt
haben. Wir sind jetzt hier, was macht ihr nun? Was tut ihr? Also richtige Übergriffe gab es wohl nicht,
aber mehrfach war unser Pfarrer genötigt, zu Leuten zu sagen: „Geht!“ [...] Das weiß ich von diesen
Jugendlichen. (Kirche II)
Sich auf Zeugen berufend, werden rechtsextreme Akteure etwas genauer benannt (Skinheads),
wobei nicht wirklich gesichert ist, ob es tatsächlich Skinheads waren oder sich der Erzähler
eher auf ein verbreitetes Bild bezieht. In jedem Fall findet sich hier ein interessanter Hinweis
auf rechtsextremes Handeln: Räume (hier Kirche) werden versucht zu besetzen, und Akteure,
die zumindest konkurrierende Deutungen des Lebens und der Welt aktiv verhandeln, werden
provoziert und, dies kann unterstellt werden, versucht einzuschüchtern. Zumindest „nötigen“
sie den Pfarrer zu einer Handlung, nämlich jemanden des (kirchlichen) Hauses zu verweisen.
Sprechen obige Zitate noch davon, daß es keine direkten „Überfälle“ auf christliche
Jugendliche gegeben habe, so hat eine andere Person aus kirchlichem Umfeld andere
Erfahrungen gemacht:
Herr Weinblatt: [I]ch bin in Grimma zur Schule gegangen [...] Und ich hab dort auf dem Bahnhof
immer mal Zusammenstöße gehabt aufgrund meiner Kleidung und Haarfrisur, mit rechtsradikalen
Jugendlichen. Und da kamen ein paar auch aus Wurzen. Und dann erinnere ich mich an zwei Überfälle
kleineren Ausmaßes auf den Jugendkreuzweg [...], wo Leute von uns zusammengeschlagen wurden.
Und die hatten auch ein Wurzener und ein Torgauer Nummernschild. Also für mich war damals
Wurzen in der Optik die rechte Hochburg. (Interview Kirche II)
Der Erzähler stellt einen direkten Betroffenenbezug her und begründet diesen auch; mit
Benennung äußerlicher Merkmale und Hinweis auf eine Gruppe (junge Christen), die Ziel
rechtsextremistischer Aggression sein können. Zu dem Urteil, daß Wurzen „die rechte
Hochburg“ gewesen sei, mag der Erzähler durch Darstellungen in den Medien oder / und
durch auf die eigenen Erfahrung bezogene Vergleiche etwa zwischen Grimma und Wurzen
gekommen sein. Zumindest verweist das Zitat auf den räumlichen Aktionsradius von
Wurzener Rechtsextremisten zu der damaligen Zeit. Aber noch einmal zurück zum Stichwort
Medien. Insbesondere Journalisten von lokalen bzw. regionalen Medien sorgten dafür, daß die
Öffentlichkeit überhaupt von rechtsextremistischen Aktivitäten erfuhr.25 Dies reflektiert einer
der Interviewpartner so:
Herr Schubert: [W]enn es die LVZ oder Muldentaler Kreiszeitung oder [das] Wurzener Tageblatt nicht
gegeben hätte, hätten die Themen Rechtsextremismus und NPD in Wurzen [...] in der Öffentlichkeit fast
keine Rolle gespielt. (Wirtschaft II)
Dabei war das journalistische Engagement offenbar nicht ungefährlich:
Herr Fischer: Es gab mal eine Frau Z. von der LVZ oder vom Wurzener Tageblatt. Weiß ich gar nicht
so genau. Von der LVZ. Die ist bedroht worden, ganz klar, von Faschos. Also keine Artikel mehr zu
verfassen. Und dann ist es noch mal einem Herrn S. passiert. Da stand dann ganz groß im Faschohaus26
hinten [an der Wand] dran, nachdem sie das geräumt hatten: Vielen Dank. [...] Weil der nämlich die
Frechheit, in Anführungsstrichen, besessen hat, über Nazisachen zu berichten in Wurzen. (Stadtrat II)
25
Zwischen 1991 und 1996 befaßte sich eine Fülle von Artikeln in den Zeitungen Leipziger Volkszeitung und
Muldentalzeitung mit rechtsextremistischen Vorkommnissen. Eine Medienanalyse kann an dieser Stelle nicht
erfolgen. Verwiesen wird auf zugängliche Archive und auf das Internet.
26
Gemeint ist das Haus in der Käthe-Kollwitz-Straße.
14
Das Phänomen Rechtsextremismus stellte sich für Menschen in Wurzen äußerst
unterschiedlich dar. Dabei ist die Wahrnehmung vom eigenen sozialen Aktionsradius
abhängig.
Herr Krüger: Hier gegenüber war eine Diskothek, und wenn Sie abends ab 20 Uhr bis vielleicht 24 Uhr
sich in der Gegend hier aufgehalten haben, Sie dachten, Sie sind in einer Kaserne. Mit brauner und
schwarzer Uniform wurde vorgefahren. Wir hatten die Situation an der Schule, neu eingeweiht, die
Rechten machen große Diskothek, Führungspersönlichkeiten der NPD, in schwarz, weißes Hemd,
Lederschlips, dreißig Mann, geordnet, erbitten Einlaß. Das war die Situation. [...] Es waren
unwahrscheinlich viele Jugendliche, die dem Rechtsextremismus ein Ohr [...] liehen. [Und] dann der
Ausbau der Käthe-Kollwitz-Straße zum Jugendzentrum mit Reparaturmöglichkeiten vom Fahrrad bis
zum Auto, mit Kulturveranstaltungen, die organisiert wurden von der NPD [...]. (Bildung I)
Andere Interviewte erinnern ebenfalls an das Haus in der Käthe-Kollwitz-Straße.
Frau Blume: Das war so ein Treffpunkt. Da traf man sich. Und dann war wieder der Zeitpunkt...
Schlägereien. Aus welchen Gründen auch immer. (Erwachsenenbildung I)
Auch in der Außenperspektive wird immer wieder die NPD genannt und mit ihr auf Ursachen
für die besonders massive rechtsextremistische Präsenz hingewiesen:
Frau May: Ich würde schon allgemein sagen, daß da Anfang [bis] letztes Drittel der 90er Jahre eine
Ausnahmesituation herrschte, die rechte Gewalt stärker war als woanders durch den
Organisierungsgrad, der durch NPD und so weiter hier vorherrschte. (Soziale und rechtliche Beratung I)
Das Wort „Ausnahmezustand“ auf eine ganze Stadt und ihre Bewohner bezogen, mag
dramatisch und übertrieben erscheinen. Allerdings stellte sich für viele Personen die Situation
offenbar so dar. So erzählt ein Mann, der sich damals in einem alternativen Jugendzentrum
engagierte, ausführlich, was es für ihn hieß, mit rechts konfrontiert zu sein.
Herr Fischer: [Wir] waren ziemlich oft Angriffen ausgesetzt. Solche lustigen Geschichten wie ... Wir
sitzen abends zusammen [im Keller unten] an der Bar, freuen uns über ein paar schöne Flaschen
Whiskey, die wir da hatten [..] Gegenüber vom Eingang war die Toilette, und du mußtest immer an der
Tür vorbei. Gott sei Dank! Sonst wären wir da unten verbrannt, oder was weiß ich. Ich komme hoch,
will auf Toilette gehen, und da hast du noch so einen schmalen Balken an der Tür, kannst rausgucken.
[Ich] guck so raus. Und wie in so einem schlechten Film ... Gehe weiter zur Toilette und: „Häh?“ [Ich]
sag: „Häh?“ Da brannte draußen schon der Zaun und alles. Da hatte jemand Benzin ausgegossen oder
eine brennbare Flüssigkeit [und] über die gesamte Länge das Buschwerk vorne in Brand gesteckt. [...]
[Wir] waren auf dem Weg zu einem Konzert in Delitzsch. Und an der Tankstelle in Bennewitz [...] blieb
ein Auto stehen, weil jemand unbedingt noch eine Flasche Wein holen mußte. Und die anderen waren
schon weg. Eigentlich waren wir eine Masse, die groß genug wäre, jeden Angriff abzuwehren,
ordentlich abzuwehren. Es blieb aber nur ein Auto stehen. Und da hat es dann K. erwischt. Das waren
die Gerichshainer. P. und F.27 haben mit dem Auto das eine Auto gejagt, durch Bennewitz. Und am
Bahnhof haben sie dann von vorn und hinten sie gekriegt. So mit Baseballschlägern. K., raus aus dem
Auto. Konnte gar nicht so schnell gucken, hatte er einen Basy28 vorm Gesicht gehabt. [...]
[Einmal] kam ich heim und sah gerade noch, wie zwei Pyros in mein Fenster oben einschlugen, in der
zweiten Etage. [...] Gestalten rannten weg. Habe ich nie rausgekriegt, wer das war. [...] Na jedenfalls,
Fensterscheiben in Flammen. Und ich hatte gerade renoviert. [Da] standen die Bücher drunter. Totale
Hysterie. (Stadtrat II)
Was hier mit Galgenhumor präsentiert wird, sind Beleggeschichten über vorsätzliche
Brandstiftung und versuchten Mord sowie schwere Körperverletzung. Ironie mag dabei
helfen, über Erlebnisse von extremer Bedrohung zu sprechen. Dies schlägt sich auch im
Resümee des Erzählers zu diesen und einigen weiteren Geschichten nieder.
27
28
Örtlich bekannte Personen aus dem rechtextremistischen Umfeld.
Baseballschläger.
15
Es war auch ein ganz schöner Psychostreß, muß ich mal sagen. Also, immer damit zu leben, es könnte
jeden Augenblick was in deine Scheibe fliegen, oder dein Auto könnte unten explodieren. [Es] könnte
ein Anruf kommen, dein bester Freund ... Jetzt hat es doch mal jemanden erwischt. Weil, es war ja bis
dahin richtig viel Glück, daß niemand gestorben ist. Richtig viel Glück gehabt hier in Wurzen.
„Richtig viel Glück“ hatten auch die vielen Nicht-Deutschen, die von 1991 bis 1996 Opfer
rechtsextremistischer Überfälle wurden, so die Bewohner der Asylunterkunft in Wurzen, das
erst von rechtsextremistischen Schlägern überfallen wurde und dann, nach einer
Bombendrohung, evakuiert wurde29, oder aber portugiesische Bauarbeiter30. Vier der
interviewten Personen bezogen sich auf diese Ereignisse. Ebenfalls vier Personen erwähnten
den Überfall auf die Berggasse Nr. 9, einem von „Alternativen“, „Autonomen“, „Linken“
bzw. allgemein „Jugendlichen“31 bewohnten Haus32. Ein Interviewpartner erinnert an den
Überfall auf einen Obdachlosen33:
Herr Rudolfs: Also, diesen Überfall, den wir da hatten, auf den einen Behinderten, dem das Auge da
gewissermaßen zerstört wurde. Das hat mich schon erschrocken und auch ein bißchen aufgerüttelt.
Insofern war für mich klar, das ist eine Entwicklung [...], die man im Auge behalten muss.
(Erwachsenenbildung II)
Auf den möglichen Zusammenhang zwischen der spezifischen Augenverletzung, die der
Obdachlose erlitt und der Phrase „die man im Auge behalten muss“, sei aus
erzählanalytischen Gründen hingewiesen. Wichtiger aber erscheint uns, daß der Erzähler
folgendes verdeutlichen will: Vorausgesetzt, daß sich Individuen der Wahrnehmung nicht
verschließen, sondern die Augen öffnen, können erschreckend wirkende Ereignisse dazu
führen, Situationen tiefgründiger zu reflektieren. Diese Reflexion beginne mit Beobachten.
Festzuhalten bleibt hier, daß die meisten der Interviewten an rechtsextremistische Aktivitäten
erinnerten. Als betroffen von rechtsextremistischer Gewalt wurden junge und alte Mitglieder
kirchlicher Gruppen genannt, alternative Jugendliche, ausländische Flüchtlinge und Arbeiter,
Obdachlose bzw. Behinderte, schließlich Journalisten lokaler Medien.
Exkurs: Züge
Vier der interviewten Personen erinnerten (sich) an Vorfälle, die es im Raumkontext Bahn /
Zug gegeben habe und die zum Beispiel durch die damalige Medienberichterstattung im
Gedächtnis geblieben seien. Dazu zunächst drei Auszüge:
Frau Blume: Ich kann mich erinnern, da war so eine Sache mit einem Zug. Aber genau weiß ich das
auch nicht mehr. [...] Das war im Zusammenhang mit einer Ausstellung. Kann das sein?
(Erwachsenenbildung I)
Herr Berger: [D]ieses Problem, als der Zug von Leipzig gekommen ist nach Dresden. Ich nehme an,
das muß ja schon beinahe Anfang 2000 gewesen sein. Ja, das war nicht mal 90er Jahre gewesen. Als
die Rechtsextremisten hier in Wurzen zusteigen wollten. Das war natürlich, der war eigentlich schon
besetzt mit linken, normalen Jugendlichen. Und die wollten nach Dresden fahren wegen dieser
29
Überfall am 23./24.8., LVZ vom 26.8.1991, Bombendrohung am 28.8.1991, LVZ vom 29.8.1991.
Überfall am 16. Oktober 1994, MTZ vom 18.10.1994 und 20.10.1994. Über den Prozeß vorm Leipziger
Amtsgericht LVZ am 25.8.1995, 26. / 27.8.1995.
31
Attribute, die in diesem und anderen Zusammenhang häufiger benutzt wurden, um Personen genauer zu
bezeichnen, die besonders mit Rechtesextremisten in Konfrontation gerieten. Dazu später.
32
Überfall am 21./ 22.1.1995, LVZ vom 25.1.1995.
33
Überfall am 17. März 1996, LVZ vom 20.3.1996, Bild vom 23.3.1996.
30
16
Wehrmachtsausstellung. [...] Also, das sind einfach Dinge, an die man sich noch erinnert, ohne daß
man sie genau vom Datum einordnen kann, weil es schon ein ganzes Weilchen zurück ist. (Stadtrat I)
Herr Ellrich: [I]ch erinnere mich an ein Highlight. Es muß mal eine sehr starke Auseinandersetzung
gegeben haben auf der Zugstrecke. An einem Zug oder so. Das ist, glaub ich, sehr medial hängen
geblieben, auch bei anderen Leuten. Was auch immer da war, ich kann das jetzt gar nicht mehr so
genau rekonstruieren, ob das in Wurzen stattgefunden hat oder innerhalb eines Zuges, der an Wurzen
vorbeigefahren ist, will ich jetzt nicht sagen. Aber es war da was, was kolportiert wurde, in Wurzen am
Bahnhof am Zug, eine Auseinandersetzung zwischen rechts und links. (Kultur I)
Interessant ist beim letzten Zitat, dass sich der Erzähler darauf beruft, auch bei anderen
Leuten sei besagte Erinnerung im Gedächtnis geblieben, er sich also absichert. Wie auch
immer, gemeint scheint uns jeweils ein Zwischenfall mit einem Regionalzug von Leipzig
nach Dresden am 24. Januar 1998 gemeint zu sein. Damals fuhren, von Leipzig kommend,
ca. 300 Personen verschiedener Altersgruppen und aus dem linken Spektrum zu einer
Demonstration nach Dresden, zur politischen Verteidigung der von Rechtsextremisten
abgelehnten, Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht“. Als der Zug in Wurzen ankam,
attackierten ihn ca. 50 bis 60 Rechtsextremisten mit Steinen.34
Es stellt sich die Frage, warum für manche insbesondere das Ereignis mit dem Zug in
Erinnerung blieb und spontan präsentiert wurde. Womöglich liegt es daran, daß dies noch
nicht ganz so lange zurückliegt wie etwa andere Zwischenfälle und Überfälle, über die in den
Medien berichtet wurde. Es könnte aber auch sein, daß es an den spezifischen Momenten
dieses Ereignisses liegt. Zwar ließ niemand der hier zitierten Personen an irgendeiner Stelle
der Interviews eine grundsätzlich oder gar besondere Sympathie für die betroffenen Personen
im Zug („linke“, vornehmlich „Jugendliche“ aus Leipzig, sprich „Autonome“) erkennen,
aber dennoch könnte Mitgefühl mit den Betroffenen unterstellt werden. Denn es erscheint
einfach ungeheuerlich, in einem fahrenden, kleinen und geschlossenen (!) Raum zu sitzen
und plötzlich von außen attackiert zu werden. Zudem handelt es sich um eine Art Raum, den
jede und jeder mal im Alltag nutzt, ganz im Gegensatz zu einem Asylheim oder einer an
bestimmte Musikstile bzw. subkulturelle Gruppen gebundene Diskothek oder gar einem
besetzten Haus. Der Vorfall erinnert auch ein bißchen an Wegelagerei. Urängste können eine
Rolle spielen. Allerdings auch politische Ideologie. Denn die Personen im Zug waren auf
dem Weg zu einer antifaschistischen Demonstration. Um beim Stichwort Ideologie zu
bleiben, sei ein weiteres Beispiel angeführt, wo es um fahrende Objekte geht.
Herr Gerold: Ich kann mich erinnern ... Die Vorfälle in der S-Bahn damals, was ganz schlimm war. Da
sagt eine ältere Frau zu mir .... Also, das ist zehn Jahre her, daß die das zu mir gesagt hat. Da sagt sie:
„So hat das damals auch angefangen.“ [...] Die war da entsetzt. Ich weiß nicht, ob die heut noch lebt.
Aber die sagt: „So hat es damals auch angefangen.“ (Stadtrat III)
Hier bezieht sich der Interviewpartner sicherlich eher darauf, daß in den 90er Jahren immer
wieder vornehmlich junge Menschen, die von Rechtsextremisten als „Andere“ identifiziert
wurden, überfallen, gedemütigt und zusammengeschlagen wurden.35 Die Erzählsequenz hat
jedoch offenbar eine bestimmte Funktion: Sie soll historisch begründete Kontinuitäten
aufzeigen und somit das Problem des modernen Rechtsextremismus dramatisieren. Dies
könnte so verstanden werden, daß es höchste Zeit sei, wirksam und unter Bündelung aller
34
Berliner Zeitung 25.1.1998; TAZ vom 26.1.1998. Siehe auch
www.nadir.org/nadir/periodika/jungle_world/_98/05/12b.htm.
35
Siehe zum Beispiel http://www.zeit.de/archiv/1999/27/199927.schweikle_natio..xml.
17
demokratischen Kräfte gegen Rechtesextremismus vorzugehen. Gleichzeitig aber kann durch
eine suggerierte oder tatsächliche Gleichsetzung von modernem Rechtesextremismus mit dem
Nationalsozialismus, dessen Folgen hinreichend bekannt sind, ein Gefühl von Ohnmacht
entstehen bzw. gerechtfertigt werden, und beides wäre wenig hilfreich, wenn es darum geht,
Handlungsspielräume zu erschließen und zu nutzen.
4.2. Handlungsoptionen gegen rechts
Wie schon eingangs zu diesem Kapitel verdeutlicht, geht es uns nicht um eine ReKonstruktion von Ereignissen und Verläufen. Und so soll an dieser Stelle unter der Frage
nach damaligen Handlungsoptionen in Sachen Rechtsextremismus und Wurzen nicht danach
gefragt werden, was Individuen und Gruppen tatsächlich taten, sondern vielmehr interessiert,
wie Augenzeugen erzählen und auf welche möglichen Optionen das Erzählte schließen läßt.
Direkt und dauerhaft mit rechter Gewalt konfrontiert waren junge Leute, die einen
sogenannten alternativen Lebensstil präferierten, konkret für Wurzener Verhältnisse: Die sich,
subkulturell gesehen, zu Punk hingezogen fühlten und den Alltag zum Beispiel über
gemeinschaftliche Wohn- und Hausprojekte organisierten bzw. organisieren wollten. Diese
Projekte können als ein Versuch, eine pluralistische Kultur mit auszugestalten, interpretiert
werden. Zwischen solchen Projekten und rechtsextremistischen Hegemonieansprüchen, die
sich in dem NPD-Konzept der „national befreiten Zonen“ verdichtet wiederfinden und somit
eine Vielfalt demokratischer Lebensformen ablehnen, entwickelt sich notgedrungen eine
konflikthafte Beziehung. Zur kommunebezogenen Absicherung ihrer Projekte, aber eben auch
zur Absicherung gegen Angriffe von rechts suchten beteiligte jungen Menschen nach
Bündnispartnern in der Stadt.
Herr Fischer: Also, [der Oberbürgermeister] Herr Pausch war mal zu Gast bei uns unten im Keller.36 Er
hat sich sichtlich nicht wohl gefühlt, weil es offensichtlich nicht seinen Reinlichkeitsnormen entsprach
dort unten. Aber wir hatten bis dahin noch ein gutes Verhältnis miteinander und er fand, die
Eigeninitiative bis dahin auch ziemlich okay. Er konnte damit gut leben, auch wenn er mit solchen
Jugendlichen wie mit uns bisher noch nie was zu tun gehabt hatte. Gekippt ist das ganze an dem Punkt,
wo wir das erste große Konzert dort veranstaltet haben, wobei uns das aus dem Ruder gelaufen ist [...]
Kann man [...] so sagen, daß wir im besten Fall, maximal, mit dreihundert Leuten gerechnet haben und
im Endeffekt waren tausendzweihundert Leute da draußen. Unglaublich. Also, wir hatten nie Konzerte
veranstaltet außer einmal im Jahr im Schweizergarten, wo auch nie mehr als dreihundert Leute da
waren. Und dann an so einem Tag kam alles zusammen: Es war Bombenwetter. Die Szene war damals
richtig expandiert, muß man mal sagen. Es waren ziemlich viele Kids unterwegs. Und dann fielen
rundum sämtliche Open Airs aus. Die strömten dann alle zu uns. [...] Tausendzweihundert Punks. War
dann doch ein bißchen viel. (Stadtrat II)
Der Interviewpartner erzählt, daß der oberste Vertreter der kommunalen Verwaltung in
Wurzen durchaus zum Dialog bereit gewesen sei. Und obwohl habituell sehr verschieden,
konnten sich Akteure (Jugendliche und oberster Vertreter der Kommune) wohl miteinander
verständigen. Toleranz scheint eine Bedingung für diese Verständigung sein. Und es braucht
Einsicht in Notwendigkeiten; von der Seite der Jugendlichen her gesehen, diejenige, daß nur
eine kommunale Unterstützung Überleben und Ausbau des Projektes garantiert und von der
Seite der Verwaltung aus gesehen, daß Eigeninitiative und Engagement von Jugendlichen
36
Gemeint ist der Keller des Jugendprojektes Villa Kuntabunt.
18
anerkannt und auch belohnt werden muss. Der Erzähler verdeutlicht, wann und wie sich die
Bedingungen für Kommunikation verschlechterten; nämlich als im Zusammenhang mit einem
Punkkonzert ordnungspolitische Probleme auftraten, wobei einige Zufälle eine Rolle gespielt
hätten. Wichtig scheint uns, daß die erzählte Sequenz, bei aller Ironie und Freude am
Fabulieren, auch Verständnis für eine veränderte Position der Stadt gegenüber den besagten
Jugendlichen andeutet und somit für auch für das Heute implizit auf Raum für
Aushandlungsprozesse im kommunalen Rahmen verweist. Einen weiteren solchen Verweis
fanden wir bei dem selben Interview an folgender Stelle:
Herr Fischer: [E]s gab da noch eine kleine Latschdemo durch Wurzen. Die haben dann auch die Bullen
geleitet. [...] Herr P. vom Ordnungsamt Grimma war mit da. Dem hast du angemerkt, der kommt aus dem
Westen. Der hat eine andere demokratische Vorbildung gehabt als die üblichen Verdächtigen hier. (lacht)
Mit dem konnte man reden. (Stadtrat II)
Hier geht es um das Recht auf Meinungsfreiheit und Versammlungsfreiheit, darüber hinaus
aber auch um den Wunsch und Willen, in die Gesellschaft integriert zu werden bzw. zu sein.
Beide Beteiligte, der Erzähler wie der Vertreter der Ordnungsmacht akzeptieren einander auf
der Bühne demokratischer Spielregeln. Beachtet sei an dieser Stelle die explizite Kritik an der
örtlichen Polizei, eventuell auch an Vertretern der Verwaltung, wobei den örtlichen Akteuren
aufgrund der spezifischen Erfahrungen in der DDR ein Mangel an „demokratischer
Vorbildung“ vorgeworfen wird.
Wie schon oben aus Erzähltem hervorging, waren es vorwiegend junge Leute, die sich in
rechtsextremen Kreisen bewegten, und somit waren Schulen besonders mit der Thematik
konfrontiert. Daran erinnern Vertreter aus dem Bildungsbereich, aber auch daran, wo sich
Handlungsmöglichkeiten ergaben.
Herr Krüger: [Wir haben] mit den Lehrern über die [rechte] Symbolik gesprochen, aufgeklärt, wie
erkennt man das usw. Und dann ist praktisch ja daraus auch das Netzwerk37 entstanden [...]. Die meisten
sind ja hier aus der Schule gekommen. Und deswegen gab es auch ab und zu hier mal Ärger, weil die
aus der rechten Szene wußten [...], daß sich hier ein ganz starkes Pendant entwickelt. Und deshalb
hatten wir auch ab und zu mal Besuch. [...] manchmal holten sich die Kameraden ab. Aber, wenn dann
zufällig noch einer hier über den Weg lief, den sie kannten und der nicht in den Kram paßt, dann
wollten sie meist Stunk anfangen. [Das konnten] wir zumindest hier im Umfeld [...] immer glätten, aber
was dann 500 Meter weiter passiert ist, das war denn von uns nicht mehr zu beeinflussen. [...] wo immer
dagegen gesteuert wurde, von Anfang an, das war die Kirche. Ganz speziell am Dom oben die
evangelische Kirche. Also, dort haben wir von Anfang an immer Unterstützung gekriegt. Der
Superintendent hat von Anfang an bis heute immer dagegen gehalten. [...] Die lokale Presse hat [...] im
Rahmen ihrer Möglichkeiten [...] dagegengehalten. (Bildung I)
Der Erzähler spricht von einer ganzen Reihe tatsächlicher und möglicher Akteure gegen
rechts: Schüler und Schülerinnen, Vertreter und Vertreterinnen der Kirche und der Presse.
Dabei werden Grenzen von Handlungsspielräumen deutlich: Denn obgleich es im Rahmen
Schule möglich sei, pädagogisch zu agieren und Personen, die mit rechts in Konfrontation
gerieten, zu schützen, ende die Interventionsmöglichkeit da, wo der zur Schule gehörende
Raum seine faktischen Grenzen habe. Dennoch zeigt sich, daß Schule geeignet sein kann, die
Entstehung alternativer und demokratischer Aktionsformen zu fördern.
Der Erzähler verweist auch auf Polizei als Akteur. Denn, wie auch eine andere Vertreterin aus
dem Bildungsbereich erkennen ließ, konnten Schulen bzw. Lehrer in Kooperation mit
polizeilichen Organen und über spezifische Bildungsmaßnahmen ein Mehr an Wissen
37
Das Netzwerk Demokratische Kultur konstituierte sich formaljuristisch 1998.
19
beispielsweise über rechtsextremistische Symbolik anhäufen, was sich für den alltäglichen
Umgang mit dem Phänomen Rechtsextremismus als hilfreich erweisen kann. In Sachen
rechtsextremistische Symbole gibt es jedoch mindestens zwei Probleme: Erstens kann
rechtsextremistische Haltung auch dort vorhanden sein, wo keine erkennbaren Symbole
anzutreffen sind. Zweitens ist nicht jedes Symbol, das Ausdruck rechtsextremistischer
Haltung ist, verfassungswidrig und somit verboten. Hervorzuheben ist allerdings, daß es
darauf ankommt, Kenntnisse zu haben, um entsprechende Symbolik und Codes zu erkennen
und zu entschlüsseln. Dies scheint für den Erzähler Voraussetzung für pädagogisch
souveränes Handeln zu sein.38
Generell gilt, daß die Polizei, wenn ihr etwa durch eigene Beobachtung oder aber durch
Anzeige Straftaten bekannt werden, unter Strafverfolgungszwang steht. Mitte der 90er Jahre
wies das Landesamt für Verfassungsschutz mit entsprechenden durch die Presse
veröffentlichte Mitteilungen darauf hin, daß der Muldentalkreis zu den Gebieten mit
besonders ausgeprägten rechtsextremistischen Strukturen und entsprechenden Aktivitäten
zählt. So wurde von 10 aktiven Kameradschaften gesprochen.39 Einige der Interviewten
thematisierten die Rolle und Verantwortung der Polizei im Feld Rechtsextremismus.
Herr Schumann: Ich meine, vieles, was von Seiten der Polizei oder ähnlichen getan wurde, um die
Sache hier auszutrocknen, und da war überhaupt nicht gegen einzuwenden [...]. So vielleicht nicht von
der örtlichen Polizei, aber von der überörtlichen Polizei. Da wurde damals auch hart durchgegriffen, so
daß man sagen konnte, diese Auswüchse, die es damals gab, wird es wahrscheinlich so schnell nicht
wieder geben. (Wirtschaft I)
Hingewiesen sei hier auf eine implizite Kritik an der damaligen örtlichen Polizei. Und
hingewiesen sei auf eine latente Hoffnung in die Nachhaltigkeit polizeilicher Maßnahmen. In
eine ähnliche Richtung erzählen bzw. argumentieren auch andere Interviewte.
Herr Krüger: [...] Marcus Müller40 versuchte, die NPD-Strukturen weiter in die Jugend reinzubringen
und dieses, was ich am Anfang sagte, extensive Auftreten nach außen und das Zeigen und das
Rumgrölen, das wollte der kanalisieren in die saubere deutsche Bewegung, gesteuert von der NPD. Da
kam der Merbitz dazwischen mit der Schließung der Käthe-Kollwitz-Straße.41 Unmittelbar vor der
Wahl war das. Da war also nicht mehr genügend Zeit, sich neu zu organisieren, und die Zeit war
wiederum zu lang, [als]daß die Strukturen diesen Zeitraum überstanden hätten. Also, das war eine der
geschicktesten, vom Zeitplan her, Aktionen, die in Wurzen gelaufen sind. (Bildung I)
Bernd Merbitz war Leiter der Sonderkommission Rechtsextremismus (SOKO REX) beim
Landeskriminalamt des Freistaates Sachsen. Heute fungiert er als Leiter der Polizeidirektion
Grimma. In den zitierten Passagen geht es um ordnungspolitische Maßnahmen zur
Schwächung bzw. teilweisen Zerschlagung rechtsextremer Strukturen. Wichtig für die
Interviewpartner ist wohl, daß ein greifbares Ergebnis genannt werden kann. Hingewiesen sei
auf eine oben zitierte Sequenz, in welcher der zuletzt zitierte Interviewpartner Dimensionen
der alltäglichen Konfrontation mit rechtsextremen Akteuren ansprach. Insofern kann hier an
ein Ergebnis erinnert werden, das letzten Endes entlastend wirken mochte und auch in der
Gegenwart wirken mag - für den Erzähler als Individuum mit privaten Ansichten, für den
Erzähler als eine Person, die im Schuldienst tätig ist, vielleicht auch für eine ganze Kommune.
38
Zum Beispiel die Zahlen 18 (erster Buchstabe und achter Buchstabe des Alphabets als Kürzel für Adolf Hitler)
oder 88 (für Heil Hitler) etc. Zu Symbolen ausführlicher weiter unten.
39
Sächsische Zeitung vom 29.7.1996.
40
Kader der NPD, Kameradschaftsführer und von 2000 bis 2003 Stadtrat in Wurzen.
41
Das Haus wurde am 3.8.1996 von der Polizei geräumt.
20
Dabei geht es hier nicht nur um Entlastung, sondern schwingt in dem Erzählen auch
Wertschätzung mit: Die Aktion sei nicht nur im Rahmen polizeilicher Aufgaben passiert,
sondern darüber hinaus „eine der geschicktesten“ gewesen. Eine solche Beurteilung verweist
auf Respekt gegenüber Kernkompetenzen anderer und eine Erwartung des Einsatzes solcher
Kompetenzen in bestimmten Situationen. Dies wurde schon oben deutlich, als der selbe
Interviewpartner eine Reihe von Akteuren aufzählte, die sich gegen rechts engagiert hätten,
und somit darauf verwies, daß Handlungskompetenz und Handlungsmotivation
gesellschaftlich breit verteilt liegen und genutzt werden können.
Diese Überlegung führt uns zu einem Interviewpartner aus der Verwaltung. Auch dieser
bezieht sich auf Überlegungen hinsichtlich der Schließung eines bestimmten Gebäudes, das
von rechtsextremen Akteuren genutzt wurde.
Herr Bäumler: [E]s ging darum, daß wir baurechtliche Maßnahmen in Anwendung gebracht haben – das
Recht hatten wir zu diesem Zeitpunkt hier –, um Versammlungsmöglichkeiten, Treffmöglichkeiten
einzugrenzen. Wir haben dann übers Wochenende auch ein Objekt zumauern lassen, unter dem Aspekt
baurechtlicher Gegebenheiten. (Verwaltung II)
Die Verwaltung nutzt die ihr zur Verfügung stehenden Mittel, d.h. Handlungsspielräume.
Womöglich entspricht dieses verwaltungstechnische Vorgehen dem professionellen und
individuellen Selbstverständnis. Allerdings ging es darum, ...
(Herr Bäumler:) ... Tendenzen der strukturellen Festigung und strukturellen Etablierung der NPD zum
damaligen Zeitpunkt hier in Wurzen [zu] begegnen. (Verwaltung II)
Verwaltungstechnisches Agieren wie hier angedeutet, erscheint eigentlich als eine
Selbstverständlichkeit. Zu bedenken ist, daß gleichzeitig in Wurzen kaum eine öffentliche und
breit strukturierte Debatte zum Thema Rechtsextremismus stattfand, bei der sich die
Verwaltung besonders engagiert hätte.42 Und so stellt sich die Frage, ob nicht eher der
Versuch unternommen wurde, ein politisches Problem verwaltungstechnisch zu handhaben,
um einem politischen Diskurs auszuweichen.
4.3. Image und Identität
Insbesondere zwischen 1994 und 1996 sorgten rechtsextremistische Aktivitäten in Wurzen
immer wieder für Schlagzeilen. Einige Beispiele sind: „Angriff auf Wohncontainer. Mit
Stöcken und Steinen gegen Polizei“43, „Gastarbeiter abgereist“44, „Täter kamen aus
Wurzen“45, „Italienische Arbeiter wurden in Wurzen zusammengeschlagen“46, „Wurzener
´Kinderglatzen´ vor dem Leipziger Amtsgericht“47, „Skins prügelten in Wurzen“48, „Attacke
42
Allerdings halten wir es für etwas anmaßend und empirisch unbewiesen, wenn der Rechtsextremismusforscher
Bernd Wagner (1998) resümiert, daß „nennenswerter Widerspruch aus der Kommune – sei es seitens der
kommunalen Verwaltung, sei es seitens der Bevölkerung [...] aus Wurzen und dem Muldental selbst nie
bekannt“ geworden sei. Denn grundsätzlich fragt sich hier, was nennenswert bedeutet und außerdem impliziert
diese Aussage, daß Personen, die offen gegen Rechtsextremismus auftraten, nicht zur „Bevölkerung“ gehören.
43
MTZ vom 18.10.1994.
44
MTZ vom 20.10.1994.
45
LVZ vom 20.10.1994.
46
LVZ vom 2.5.1995.
47
LVZ vom 25.8.1995.
48
junge Welt vom 24.7.1996.
21
gegen Kamerateam“49. Oder aber im Stile von Sensationsjournalismus:„Wieder Randale in
Wurzen: Ausländer hatten Panne- Skin-Bande schlug zu.“50 Andererseits war auch zu lesen,
wie sich die oberste Ebene von Politik und Verwaltung in Wurzen positionierte: „Bei uns
gibt’s keine Rechten“ zitierte in einer Schlagzeile die Leipziger Morgenpost am 30. August
1994 den damaligen Oberbürgermeister von Wurzen. Und „Mir ist nicht bekannt, daß es bei
uns Rechtsradikale gibt", wurde Anton Pausch in einem der, Wurzen und das Thema
Rechtsextremismus betreffenden, Beiträge in dem renommierten Blatt Die Zeit zitiert.51
An dieser Stelle ließen sich viele, in überregionalen Zeitungen und Zeitschriften erschienene
Artikel in Überschrift oder Text zitieren und könnte eine lange Liste mit Interneteinträgen zu
den Stichworten Rechte / Rechtsextremismus und Wurzen präsentiert werden. Dies entspricht
jedoch nicht unserer Zielstellung. Und so wollen wir hier Interviewsequenzen danach
untersuchen, wie Individuen das Thema Rechtsextremismus in Bezug zu Image einer Stadt
setzen und auf welche individuellen und kollektiven Identitäten sie dabei verweisen.
Insbesondere durch den Überfall auf die portugiesischen Bauarbeiter 1994 geriet Wurzen
auch international in die Medienberichterstattung. Darauf bezogen sich einige der
Interviewten.
Herr Schubert: [S]ymptomatisch für die Situation ist ein Erlebnis, was ich ´96 in den USA gehabt habe,
bei einer Konferenz über die NS-Geschichte, Weltkriegsgeschichte. [Da] gab es eine jährliche
Konferenz, und ich war da eingeladen, zur Kriegswirtschaft in Sachsen vorzutragen. Am Abend vorher
ist der Empfang der Referenten. Und ich wurde angesprochen: „Woher kommen Sie? Aus Wurzen?“
Zwei Dinge waren interessant: Das war der Dom [...] Und das andere war: Was ist mit den Nazis in
Wurzen? In den USA. Und das ging andern genauso. (Wirtschaft II)
In dem betreffenden Interview gebraucht der Erzähler für gewöhnlich Termini wie
„Rechtsextremismus“ (2 mal), „rechtsradikales Spektrum“ ( 1 mal) oder „NPD“ (7 mal),
wenn er moderne Formen des Rechtsextremismus meint. Hier aber ist von „Nazis“ die Rede.
Es kann angenommen werden, daß als der Erzähler auf der besagten Konferenz in den USA
von anderen, wahrscheinlich nicht in Deutschland lebenden Wissenschaftlern, auf das
Problem in Wurzen angesprochen wurde, diese anderen das Wort „Nazis“ verwendeten.52 Die
Frage ist, was eine so formulierte Frage bei einer Person, die sich persönlich und professionell
engagiert mit dem Thema NS-Zeit auseinandersetzt, auslöst. Verunsicherung?
Rechtfertigungsdruck? Schuldgefühle? Zu bedenken ist, daß der Erzähler in der angedeuteten
Situation sicherlich allein dastand, zumindest niemand anders aus Wurzen und Umgebung
anwesend gewesen sein dürfte. Insofern liest sich der letzte Satz wie eine Flucht in ein
Kollektiv: Anderen sei es genauso gegangen. Es liest sich allerdings auch wie eine
Handlungsperspektive: Mit anderen wurde sich zu dem Thema ausgetauscht.
Auch eine andere Interviewpartnerin, von Beruf Geschichtslehrerin, stellte den
Zusammenhang her zwischen Image Stadt Wurzen – Rechtsextremismus –
Nationalsozialismus, und zwar nach Erinnerungen zur Medienberichterstattung befragt.
Frau Schönfelder: Da denke ich zum Beispiel an Schlagzeilen in der Zeitung. Pausch reagiert nicht.
Oder Pausch [...] sieht keine Rechten oder keine Rechtsextremen. Dann natürlich erinnere ich mich
49
junge Welt vom 25.7.1996.
Bild vom 27.2.1995.
51
Vgl. Die Zeit, Archiv 28/2001 (Rechtsextremismus. „Die Nestbeschmutzer. Wo die Mitte der Gesellschaft
braun schillert, gilt als linksradikal, wer das Grundgesetz verteidigt.“ Von Toralf Staud.)
52
Das liegt im anglo-amerikanischen Kontext und aus nachvollziehbaren historischen Gründen nahe.
50
22
auch an die Schlagzeilen [...], wo Wurzen also wirklich durch den Dreck gezogen wurde. Also, Wurzen
war gleich Rechtsextremisten, war gleich Hochburg von Rechtsextremisten. Vieles sehr pauschal.
Vieles auch, wo viel Angst aufkam wie Drittes Reich [...]. Angst auch, nicht zu wissen, was kommt da
noch oder wie reagiert man. Wie sollte man reagieren? Ist es tatsächlich so? Ja, und daß eben das Bild
von Wurzen beschmutzt wird. Und Angst davor, [...] weil man ja selber Kinder hatte. Also meine waren
damals elf Jahre, dreizehn Jahre. ... daß die selber in diese Richtung gehen könnten. (Soziale und
rechtliche Beratung II)
Eine dreifache Angst wird hier deutlich: Erstens, die Angst vor Rechtsextremismus, der in
direkten Bezug zum Dritten Reich gesetzt wird und von daher extrem bedrohlich wirkt. Dabei
besteht Angst auch darin, als Mutter zu versagen, d.h. die eigene, an bildungsbürgerliche und
antifaschistische Traditionen anknüpfende, Identität nicht erfolgreich genug vermitteln zu
können und die Söhne nach rechts hin zu verlieren. Zweitens geht es um die Angst, kollektiv
stigmatisiert zu werden, weil der Wohnsitz nun mal in einer rechten „Hochburg“ liegt. Diese
Stigmatisierung wiegt schwer angesichts der eigenen Identität. Kollektivschuld wird als
ungerecht wahrgenommen. Drittens besteht grundsätzlich die Angst vor Hilflosigkeit, keine
Optionen gegen rechts zu kennen oder in Anwendung bringen zu können. Zu fragen, ob die
Verhältnisse tatsächlich so sind, wie sie durch die Medien vermittelt werden, kann auch als
Abwehr interpretiert werden, Abwehr einer als unterstellt wahrgenommenen, kollektiven
Schuld.
Eine Reihe der Interviewten erzählten, daß sie von Bekannten aus anderen Bundesländern
angerufen und befragt wurden. Oder aber, daß sie bei Reisen zum Beispiel ins Ausland auf
das Thema Wurzen angesprochen wurden, zumindest, wenn sie sich als Wurzener zu
erkennen gaben bzw. ihre Herkunft bekannt war.
Frau Fröhlich: Also ich fand es nur übertrieben und ich hab es nicht so wahrgenommen. Das fand ich
eigentlich blöd. [...] Das ist immer traurig, wenn man mal jemanden trifft, der sagt: „Wurzen, das sind
doch die ...“ Ich weiß nicht. Wir waren mal im Allgäu im Urlaub, da war das [im] Fernsehen. Und da
hab ich gesagt, das ist ja nicht so. Ich bin ja nicht Wurzener, aber man verteidigt ja trotzdem mal seine
Heimat. (Erwachsenenbildung I)
Auch wenn der Wohnort nicht direkt in Wurzen liegt, sondern ein paar Kilometer weiter, so
wird sich doch auf ein Stück „Heimat“ und somit eine kollektive Identität positiv bezogen.
Und wieder gerät jemand in eine Verteidigungshaltung, aber auch in eine Abwehrhaltung.
Denn die präsentierte Mediendarstellung widerspreche der eigenen Wahrnehmung. Dies ist
durchaus vorstellbar, denn, wie weiter oben schon bemerkt, hängt die Wahrnehmung
rechtsextremistischer Aktivitäten wesentlich auch vom eigenen sozialen Aktionsradius ab.
Möglich ist aber auch, daß die empfundene Kollektivverurteilung verletzender und somit
folgenreicher nachwirkt als das, was die Interviewpartnerin in den 90er Jahren etwa durch
eigene Beobachtungen, oder vermittelt durch Bekannte oder die Medien an
rechtsextremistischen Übergriffen selbst mitbekommen hat.
Wie andere Städte auch so ist Wurzen um die Wendezeit bzw. in deren Folge Partnerschaften
eingegangen. Einige Interviewpartner wiesen auf die Reaktionen aus den Partnerstädten
Warstein und Barsinghausen hin:
Herr Meinert: Die haben immer gesagt: „Was in denn bei euch los? Was ist bei euch los?“ Dauernd
klingelte das Telefon. Der Bürgermeister von Warstein oder der Herr N. aus Barsinghausen, die haben
hier oft angerufen [...] Was sollten wir hier eigentlich sagen? (Erwachsenenbildung III)
Herr Rudolfs: [D]as war natürlich für mich sehr schwer in dieser Zeit, zu den Partnerstädten zu kommen
und zu hören: „Was ist denn in Wurzen los?“ Auf Deutsch gesagt, sie haben sich geschämt eine
23
Partnerstadt im Osten Deutschlands zu haben, die in dem Ruf steht, eine rechtsextreme Hochburg zu
sein. (Erwachsenenbildung II)
Beide Erzähler sind, was die Beziehung zu Partnerstädten betrifft, engagiert; sie reisen in die
Städte bzw. gelten für Wurzen gewissermaßen als zwei der Ansprechpartner, werden also
auch persönlich in Verantwortung genommen bzw. fühlen sich selbst in Verantwortung. Sie
geraten in Erklärungsnot und auch unter Rechtfertigungsdruck - vor den Partnerstädten, aber
vielleicht auch vor sich selbst. Die betreffenden Städte (bzw. Vertreter dieser) wiederum
„schämen“ sich dafür, mit Wurzen eine Partnerstadt zu haben, die als „rechtsextremistische
Hochburg“ galt, haben Angst, daß „Schande“ auch auf sie übertragen werden und somit auch
ihr Image gefährdet sein könnte.
Herr Rudolfs: Die hatten ja gerade das Problem, daß sie sich immer rechtfertigen mußten, warum sie
mit Wurzen, dieser rechtsradikalen Stadt, eine Städtepartnerschaft hatten. Das hat auch dieser
Beziehung eigentlich geschadet. (Erwachsenbildung II)
Fragt sich, ob statt Scham und Rechtfertigung aus den Partnerstädten nicht auch Hilfe in der
Frage Umgang mit Rechtsextremismus hätte kommen können.
Herr Bäumler: [I]ch selbst habe nie das Empfinden gehabt, daß ich darauf gewartet hätte, von dort Hilfe
zu bekommen, weil ich der Meinung war, wir müssen mit diesem Problem selbst hier vor Ort fertig
werden. Es ist für mich auch in dieser Tendenz in den 90er Jahren ja ein typisch ostdeutsches Problem
gewesen. Ja, wir haben in Westdeutschland andere Formen gehabt. Wenn ich daran denke, daß die NPD
jahrelang in Baden-Württemberg in den Parlamenten gewesen ist. So hatten die andere Erfahrungen.
(Verwaltung II)
Der Einwand hinsichtlich anderer Erfahrungen und somit die Erklärung dahingehend, warum
Hilfe nicht erwartet worden sei, klingt plausibel. Die etwas komplizierte Formulierung des
ersten Satzes in der zitierten Passage scheint uns aber ein Hinweis darauf zu sein, daß mit
Unsicherheit und vielleicht Unbehagen statt kühler Distanz auf das Problem (zurück-)
geschaut wird. In allen möglichen Fragen ließen sich nach der Wende Ostdeutsche von
Westdeutschen beraten, obgleich die Strukturiertheit der jeweiligen Probleme Unterschiede
aufwies zwischen Ost und West. Warum sollte diese ein unüberbrückbares Hindernis sein,
wenn es um Rechtsextremismus ging? Das NPD-Konzept der „national befreiten Zonen“
beispielsweise wurde auch in westdeutschen Regionen versucht durchzusetzen.
Mehrere Interviewte erinnerten an den problematischen Umgang der obersten politischen und
Verwaltungsebene, insbesondere an Leugnungsstrategien. Einige der Interviewten bezogen
sich direkt auf das Verhalten des damaligen Oberbürgermeisters.
Herr Krüger: Wir wären nie im nationalen [und] internationalen Maßstab durch die Presse gezogen
worden, wenn der damalige Oberbürgermeister einen Strauß Blumen genommen hätte, von den
Fraktionen die Fraktionsvorsitzenden, wäre ins Krankenhaus [gegangen] und hätte die Blumen
überreicht: Entschuldigung. Gute Besserung. Es wäre alles erledigt gewesen. Das hat er nicht gemacht.
Als er gefragt wurde, sagte er: „Ich bin in Wurzen noch nie über ´ne Glatze gestolpert.“ Das war doch
für jeden Journalisten der Zündstoff. Unter uns gesagt, du konntest tagtäglich nicht über ´ne Glatze
stolpern, das nicht. Aber zusammenrennen konntest du mit denen. Und die waren reichlich vorhanden.
Mit dem letzten Satz betont der Erzähler, daß Wurzen tatsächlich ein beachtliches Problem
hinsichtlich des Phänomens Rechtsextremismus gehabt habe. Als Oberbürgermeister dies zu
leugnen sei also wenig sinnvoll gewesen, vor allen Dingen deshalb nicht, weil doch
hinreichend bekannt sei, wie Medienjournalismus wirke und beispielsweise Journalisten
ständig auf der Suche nach „Zündstoff“ seien. Die Passage enthält aber auch einen wichtigen
24
Hinweis auf eine Handlungsoption: Taktgefühl und diplomatisches Geschick statt Leugnung.
In die gleiche Richtung argumentieren einige andere Interviewte.
Herr Schumann: Ich meine, das ist ja keine Schande zu sagen, das und das ist passiert, und wir werden
alles versuchen, um die Sache zu verbessern. (Wirtschaft I)
Diese Aussage kann dahingehend interpretiert werden, daß nicht das Agieren
rechtsextremistischer Gruppen in einem Ort an und für sich als „Schande“ für eine Stadt als
Kollektiv gilt, sondern eher das Ausbleiben von angemessenen politischen Reaktionen. Hier
steckt eine klare Option für das Handeln.
4.4. Zwischenfazit
Eingangs zu diesem Kapitel verdeutlichten wir, daß es uns darum geht darzustellen, was
Individuen erinnern und wie sie Erinnertes präsentieren. Und uns interessierte besonders eine
handlungsoptionale Perspektive. Mit den hier zitierten und besprochenen Interviewpassagen
konnte eine erste Annäherung an Wahrnehmungen zum Thema Rechtsextremismus und ein
Einblick in tatsächliche und mögliche Handlungsperspektiven in Bezug auf rechts erfolgen.
Die interviewten Frauen und Männer sprachen Eigenerlebtes an, aber auch Dinge, die sie als
vom Hören-Sagen bekannt mitteilten. Dabei ergaben sich auch mit Beleggeschichten längere
narrative Sequenzen. Sie plausibilisierten, begründeten und rechtfertigten eigene Handlungen
und Positionen. Sicherlich ausgelöst durch unsere Fragen in den Interviews, aber, dies kann
angenommen werden, auch grundsätzlich setzten sich die Interviewten bereitwillig selbst zum
Thema in Bezug und machten teilweise alltagsrelevante Dimensionen des Problems
Rechtsextremismus deutlich. Nach unserer Meinung liegt hier, nämlich in der Bereitschaft
und Fähigkeit, über das Problem Rechtsextremismus zu sprechen, eine grundsätzliche
Ressource, wenn es darum geht, im kommunalen Kontext nach Möglichkeiten eines
(sachlichen) Umgangs mit dem Thema zu suchen. Dies zu betonen, scheint uns wichtig vor
dem Hintergrund dessen, daß Wurzen in den 90er Jahren sehr präsent in den Medien war,
wenn es um das Thema Rechtsextremismus ging und dies zu einer Reihe von
Verunsicherungen führte.
In den bisher präsentierten Interviewausschnitten deutete sich an, daß es sehr verschiedene
Konzepte gibt, mit dem Thema Rechtsextremismus umzugehen. Diese seien hier abschließend
benannt:
25
Konzepte:
Dimensionen:
Informieren / Öffentlichkeit schaffen
Skandalisieren
Leugnen
- journalistische Arbeit und Engagement
- sensationsjournalistisches Arbeiten
- das Vorhandensein rechter bzw. rechtsextremistischer Aktionen und Organisationen
bestreiten
- Mediendarstellung zum Problem verfolgen
-verwaltungstechnische Handhabung überbewerten
- polizeilich handeln
-polizeiliches Handeln begrüßen, überbewerten, als
entlastend wahrnehmen
- Rechtsextremismus mit dem Dritten Reich
gleichsetzen
- kollektiv demonstrieren („Latschdemo“)
- Räume als Gegenpol zu rechts besetzen und
ausgestalten
- Kernkompetenzen anderer erkennen, respektieren
und nach Wegen der Bündelung suchen
Beobachten
Ausweichen
Favorisierung polizeilichen Handeln
Dramatisieren
Offensive Auseinandersetzung
Allianzen schaffen
5. Positionen zum Themenfeld Rechtsextremismus
Herr Jonas: Ich kann schwer sagen, wie arg das Problem ist, weil ich selber mit einem Hintergrund da
draufgucke.
Frage: Mit welchem?
Herr Jonas: Einem lebensgeschichtlichen. Also ich habe in Leipzig mal Erfahrungen damit gemacht, die
keine guten waren. Bin mal zusammengeschlagen worden. Solche Geschichten färben dann schon die
Wahrnehmung ein. (Kirche I)
Im folgenden Kapitel soll es ausführlich um Sichtweisen und Interpretationen gehen, die
Individuen lebensgeschichtlich entwickelt haben und die in spezifischer Weise Handlungen
motivieren und erklären helfen. Dabei wirft schon die hier wiedergegebene Interviewpassage
eine wichtige Frage auf: Wie können Individuen zum Thema Rechtsextremismus sprechen?
5.1. Akteure rechts: Wahrnehmungen
5.1.1. Symbole
Viele Interviewten wiesen auf Symbole hin, die sie als typisch betrachten für rechte Akteure
im allgemeinen, für jugendliche rechte Akteure im besonderen. Immer wieder kam in diesem
Zusammenhang die Sprache auf bestimmte Kleidungsstücke. Sich an den Beginn der 90er
Jahre erinnernd, heißt es zum Beispiel:
Frau Schönfelder: Ich sag mal, das Bild mit den Springerstiefeln. Da [...] hatten dann ganz viele
plötzlich Springerstiefel und Bomberjacke. Und ich hab im Unterricht ja den Marsch [der] SA und
durch das Brandenburger Tor [behandelt]. (Soziale und rechtliche Beratung II)
26
Springerstiefel und Bomberjacke galten lange als der jugendspezifische Ausdruck einer
rechten bzw. rechtsextremen Haltung. Interessant an dieser Sequenz ist, daß auf
Assoziationen aufmerksam gemacht und der Bezug zum Dritten Reich hergestellt wird. Die
Wahrnehmung des Phänomens ist durch geschichtliches Vorwissen geprägt.
Einige der Interviewten verbanden im Erzählen symbolträchtige Äußerlichkeiten mit
symbolischen Handlungen und verwiesen somit auf typisches Agieren rechtsextremer
Akteure.
Herr Krüger: Die Haartracht und die Jacke. Die Kleidung. Die Jacke. Daß man jetzt zum Beispiel bei
uns in der Schule das Sachsen-Gau-Zeichen gesehen hätte, das nicht. Aber die Jacke als solches
symbolisiert das. In der weiteren Entwicklung wurde die Jacke dann zurückgedrängt. Dann kamen die
Lonsdale-T-Shirts. Gut, die ist bei einigen noch zu sehen, hat aber nachgelassen. Aber es gab
Tendenzen, da sind die Jungs zur Abiturprüfung gekommen, mit ´ner Bomberjacke. Frisch. Wie
sonntags. Weißes Hemd und Lederschlips. So haben die die Prüfung auch gemacht.
Frage: Ohne die Jacke auszuziehen?
Herr Krüger: Ja. Frisch geschnitten, Haartracht. Und da ist aber keiner schlechter als drei rausgegangen.
(Bildung I)
Auf eine bestimmte Haltung rechter Akteure wird hingewiesen: Wir sind deutsch und sauber,
fleißig und klug. Und wenn dem so ist, was wäre dann an unseren politischen Ansichten
auszusetzen? Beachtenswert an der Passage ist die angedeutete Entwicklung: Vom Anziehen
bestimmter Kleidungsstücke wie der Bomberjacke, die bekanntermaßen auch von NichtRechten gekauft und getragen wird, hin zu weißem Hemd und Lederschlips, einem Symbol
faschistischer Vorbilder. Dabei konnten zum Beispiel Pädagogen an Schulen recht
unterschiedliche Ausdrucksformen und Interessenlagen der jugendlichen Akteure beobachten.
Herr Krüger: [Leute aus den] Berufsschulen [...] kamen dann auch ab und zu mal her, wenn die Ausfall
hatten und [...] holten natürlich ihre Kameraden oder Kameradinnen ab. Das war natürlich immer ein
bißchen unangenehm, weil die nämlich genau das nicht hatten an Benehmen, was die hier versucht
haben, ihren Mitschülern immer zu zeigen. Wenn die dann besoffen auf dem Domplatz saßen ... Und da
ist dann der Marcus Müller praktisch dagegen vorgegangen und wollte das kanalisieren. Und dort sind
dann viele weg gebrochen, die eigentlich nur den Deckmantel Rechtsextremismus versuchten zu
benutzen, um sich benehmen zu können wie die Schweine. Ja, und um stark zu sein, denn niemand
traute sich an ´ne Gruppe junger Männer heran, die aussahen wie Bud Spencer, bloß eben ohne Haare.
[...] Und das hat Krach gegeben. Als denn dann der Marcus Müller verlangt hat, daß sie sich so
benehmen sollen, da sind die dann abgefallen. (Bildung I)
Mehrfach wiesen Interviewte darauf hin, daß Tragen bestimmter Kleidungsstücke durchaus
auch lediglich Ausdruck modischen Geschmacks sein könnte.
Frau Lehmann: Das war ja mal zu Beginn sehr, sehr extrem mit diesen Springerstiefeln, den schwarzen
Hosen, den weißen Hemden, den Bomberjacken und, und, und. Und entsprechenden Frisuren dazu. Ich
meine, das sind nur äußerliche Zeichen. Inwieweit die Innerlichkeit damit identisch ist, steht natürlich
auf einem ganz anderen Blatt. (Bildung II)
Was sich rechtsextrem äußert, stellt also keine homogene Gruppe dar. Die
Widersprüchlichkeit von Erscheinungsformen wird hier deutlich. Liegen hier Möglichkeiten
für eine pädagogische Intervention?
Was Symbole betrifft, so betrachteten Interviewte sie nicht nur als Ausdruck von Mode und
Ideologie, sondern wiesen auch auf Prozesse von Jugendgruppenbildung hin.
Frau Blume: [W]ir haben da echt auch Probleme gehabt mit unserem Jungen. Der ist irgend wie in so
einen Freundeskreis geraten. Haare, ´ne Jacke und Stiefel mußten getragen werden. Und da war das
Schlüsselerlebnis, daß sie ihn mal zusammengeschlagen haben. Der hätte nie für möglich gehalten, daß
er mal Dresche kriegt wegen seiner Kleidung. Aber wenn die achtzehn sind, dann kann ich bestimmte
27
Dinge nicht mehr verbieten. Der ist dann halt aus diesem negativen Erlebnis schlau geworden. [...] Der
hat sich nie richtig mit der rechten Szene identifiziert, der fand das nur geil, was die alle anhatten [...].
(Erwachsenenbildung I)
Mit Unbehagen beobachten die Eltern, wie der Heranwachsende Geschmack entwickelt und
sich in einem rechten Umfeld bewegt. Zureden nützt nichts. Verbote nützen nichts. Das
Umdenken des Jungen habe erst dann begonnen, nachdem er Opfer physischer Gewalt
geworden sei, und dies zumindest wegen einer symbolischen Handlung, nämlich des Tragens
von Kleidung, die andere als rechts identifizieren. Nicht damit zu rechnen, „Dresche zu
kriegen“, kann darauf hindeuten, daß sich der Junge in der Gruppe stark fühlte, aber auch
darauf, daß er überzeugt war, einem dominierenden Trend zu folgen. Hier liegt ein Hinweis
auf kulturelle Hegemonie rechter Akteure.
5.1.2. Räume besetzen
Bereits im Zusammenhang mit Erinnertem bezüglich der 90er Jahre zitierten wir eine
Passage, in der es darum ging, daß und wie „Skinheads“ Treffen von christlichen
Jugendlichen „besuchen“. Wir kommentierten, daß sich damit ein Verweis darauf fände, wie
rechtsextreme Akteure versuchen, Räume zu besetzen. Daran sei hier angeknüpft. Unter
Raum verstehen wir öffentliche Plätze, Straßen, Stadtteile, aber auch Landschaften. Raum
meint allgemein auch die lokale Rahmung sozialer Begegnungen.
Ein Interviewpartner erinnerte an die Auseinandersetzungen, die es bis Mitte der 90er Jahre
um Jugendclubs in Wurzen gegeben hatte, und wo die Stadtverwaltung in spezifischer
Verantwortung stand. Dabei forderten verschiedene Interessengruppen von Jugendlichen
eigene Jugendzentren, so auch rechtsextreme Akteure.
Herr Fischer: Ich erinnere mich noch, das war glaube ich noch im Vorfeld, bevor es das Jugendhaus53
überhaupt gab. Da ist zum Beispiel Androsch54, den ich vorhin schon erwähnt hatte, aufgetreten. [...]
Haarschnitt wie so ein HJ-Junge früher. Hemd, Schlips. Es gibt auch Filmaufnahmen davon. [...] Da gab
es eine Gesprächsrunde mit Bürgermeister und Stadträten im Blauen Saal des Schweizergartens. Das ist
so ein kleinerer Saal. Und da ist der auch aufgetreten und hat da übelste Reden vom Stapel gelassen.
„Entweder wir kriegen das hier oder die ganze Stadt fällt zusammen. Das ist kein Problem für uns.“ Das
hat der dem Pausch um die Ohren gehauen. (Stadtrat II)
Hier geht es also um die Forderung eines Jugendtreffs, der als Raum sicherlich nicht nur
konventionelle Freizeitmöglichten bieten sollte, sondern der im Kontext des rechtsextremen
„3-Säulen-Konzepts“ und der „national befreiten Zonen“ (siehe oben) betrachtet werden muß.
Gleichzeitig wird erkennbar, daß in dem Auftreten vor dem Oberbürgermeister und anderen,
Raum versucht wird zu besetzen. Und letztlich steht die Drohung, bei Nichterfüllung der
Forderung nach einem Jugendtreff, werde ein ganzer Ort vernichtet: Wenn wir an diesem Ort
nicht walten dürfen, wie wir wollen, hat auch der Ort keine Existenzberechtigung. Solche
Machtansprüche und Gewaltfantasien könnten leichtfertig abgetan werden. Allein aber der
Umstand, daß es junge Rechtsextreme wagen, in der geschilderten Art und Weise ihre
Forderungen vorzutragen, deutet auf Selbstbewußtsein und auch reale Macht.
53
54
Gemeint ist das Goldene Tälchen.
Führungsfigur in der rechtsextremen Szene Anfang bis Mitte der 90er Jahre.
28
Bekanntermaßen hinterlassen rechtsextreme Akteure an Häuserwänden gern mehr oder
weniger geheimnisvoll codierte Schriftzeichen. Davon spricht auch folgendes Beispiel:
Herr Fischer: [D]as war dann eine zeitlang der Treffpunkt, am Wehr. Das kann man jetzt noch sehen,
wenn man dahin geht. Da habe ich jetzt noch Fotos davon ..., daß die Faschos das ausnutzten, wenn wir
mal nicht da waren, und da irgend welche Fahnen hinsprühten oder Hakenkreuz oder irgendwelche
Runen und das alles. Da sind diese Beton-U’s, die sind komplett voll gesprüht. (Stadtrat II)
Hier sind es deutlich erkennbare Zeichen und Symbole, deren Plazierung wie beschrieben,
eine spezifische symbolische Funktion zukommt, nämlich Macht zu demonstrieren: Auch
dieser Raum gehört nicht euch, sondern wir verfügen über ihn. Die Handlung bezweckt
Erniedrigung. Denn wer fühlt sich schon wohl dabei, mit Symbolen, die als ablehnenswert
gelten, konfrontiert zu werden, insbesondere an dem eigenen Cliquen-Treffpunkt.
Ein weiteres Beispiel für die Besetzung von Räumen bezieht sich auf eine jugendtypische
Ausgestaltung von Freizeit.
Frau Baumgarten: Also ich habe mitgekriegt, daß die Zwölfjährigen eben schon angeworben werden,
indem man sagt: „Kommt doch zu uns. Wir machen Sport und Fußball und das ist interessant.“ [...]
Frage: Die angeworben werden von wem?
Frau Baumgarten: Ja regelrecht durch die Mitschüler, die sagen: „Wir gehen dort und dorthin, da kannst
du doch mitkommen.“ Das habe ich eben bei meinem eigenen Enkel [...] mitgekriegt.
Frage: Und wo gehen die dann hin? Sind das Vereine?
Frau Baumgarten: Das war in Roitzsch. Eine Gaststätte, die in Rekonstruktion ist. Und da haben sie
dann anschließend in dem Gelände Fußball gespielt [...]. (Stadtrat I)
Hier findet sich ein direkter Hinweis auf gezieltes Ansprechen junger Menschen über deren
Freizeitpräferenzen. Raum ist nicht nur das Gelände, in dem Fußball gespielt wird, sondern
der Raum realisiert sich auch in der Präsenz einer Gruppe, die einer unpolitisch wirkenden
gemeinschaftlichen Aktivität nachgeht. Gleichwohl findet sich in der Passage auch der
Hinweis auf private Räume. Gastronomische Einrichtungen stellen für rechte Akteure einen
wichtigen Ort der Kommunikation, aber auch der Organisation dar.
Von zentraler Bedeutung für das Leben in einer Kommune sind öffentliche Plätze und
Veranstaltungen wie Volksfeste. Auch hier versuchen Rechtsextreme, Raum zu besetzen.
Herr Holm: Wenn Sie mit der Polizei reden, zum Beispiel, werden die Ihnen immer wieder sagen, daß
auf Volksfesten die einheimischen Rechtsradikalen freundlich lächelnd im Bierzelt stehen und
irgendwann völlig fremde Leute auftauchen in dem Zelt und die Dreckarbeit machen [und]
verschwinden. Keiner hat sie gesehen. Keiner kennt sie. Und irgendwann in einem weiter entfernten Ort
läuft genau dasselbe Spiel mit vertauschten Rollen. (Verwaltung I)55
Hier findet sich ein interessanter Hinweis auf das Handeln rechter Straftäter: Präsenz wird in
zwei Richtungen gezeigt und abgesichert; durch das normale Teilnehmen als Mitglieder und
Bürger einer Kommune oder Gemeinde zum einen, zum andern durch das Demonstrieren von
Macht durch Ausüben Gewalt. Insofern geht es um mehr als nur spontane Überfalle. Es geht
um strategisches Handeln.
Die Besetzung von Räumen durch rechte und rechtsextreme Akteure kann auch dort
stattfinden, wo Themen von Interesse sind, deren Widersprüchlichkeit sich durch rechte
Ideologie auflösen läßt, so das Thema soziale Ungerechtigkeit.
55
Dies deckt sich mit Interview (Polizei I). Aber auch bei anderer Gelegenheit äußerten sich Polizeivertreter uns
gegenüber so.
29
Frau Baumgarten: Na mich hat einer angesprochen, wo es um die Großdemo ging nach Berlin, zum
Sozialabbau. Wo ich genau weiß, daß das einer von den jungen Leuten ist, die da [bei der NPD?]
anhängig sind. Und da hat der gesagt ... Ich hatte da so einen (zeigt auf Kleidung Brusthöhe links) [...]
Button. Und da hat der mich angesprochen, das erste Mal. Und da sagt der: „Was ist denn das?“ Und
ich sag: „Wir gehen zu der Demo. Wir sind gegen Sozialabbau.“ Und der sagt: „Ihr auch? Wir auch.“
(Stadtrat I)
Für die Interviewte ist es ein Moment der Überraschung, daß sich im politischen Handeln eine
Schnittstelle ergibt. Dabei geht es hier um eine Art Besetzung in zweifacher Hinsicht: Zum
einen um die Besetzung eines Raumes durch körperliche Präsenz und zum anderen die
Besetzung eines Thema, was gesellschaftlich widersprüchlich diskutiert wird und wo rechts
sich mit eigenen Deutungen einzubringen versucht. Die Begegnung mag bei der Erzählerin
ein unwohliges Gefühl hinterlassen haben.
5.1.3. Deutungen durchsetzen
Da uns immer wieder die Interviewten darauf aufmerksam machten, daß insbesondere
Jugendliche rechtsextremer Ideologie „ein Ohr liehen“56, stellte sich für uns die Frage, ob sich
solche jungen Menschen auch in spezifischer Weise im Schulunterricht selbst bemerkbar
machen würden. Vor allem Gesellschaftskunde und Geschichte bieten jede Menge
Anknüpfungspunkte für Diskussionen, so zum Beispiel Geschichte des Dritten Reiches.
Frau Lehmann: Die Thematik fasziniert die Schüler, weil es einfach ´ne interessante Geschichte ist, ´ne
unfaßbare Geschichte ist und natürlich auch ´ne furchtbare Geschichte ist. Das ist völlig klar. Hat ja so
viele Facetten. Und dann wird man schon hellhörig. Man kennt ja schon seine Pappenheimer. [...] Dann
kristallisieren sich schon so Sachen [...] heraus, wenn Schüler zum Beispiel über bestimmte Schlachten
sehr gut informiert sind, über bestimmte Hintergründe sehr gut informiert sind [...]. (Bildung II)
Die Passage deutet darauf hin, daß bestimmte Jugendliche in Sachen Geschichte ein
spezifisches Interesse haben und auch bereit sind, zum einen sich außerhalb der Schule schlau
zu machen, zum andern ihr Wissen zur Sprache zu bringen. Dabei muß überhaupt nicht
versucht werden, offensiv zu diskutieren, etwa um bestimmte Geschichtsdeutungen auch
durchzusetzen. Es geht vielleicht nur darum, daß sie eigene Kompetenzen herausstellen
wollen. Womöglich treibt die jungen Leute auch eine ehrlich gemeinte Suche nach dem, was
allgemein unter Wahrheit verstanden wird. Eventuell hat solches Handeln auch nur die soziale
Funktion, die Lehrerin und somit Autorität im Raum, mit anderen Deutungen zu provozieren.
Es geht aber auch anders.
Herr Krüger: [A]ls offensiv und sichtbar in Wurzen rechtsradikale Tendenzen waren, war hier im
Unterricht selbst eiserne Disziplin. Von Seiten der Vertreter dieser Ideologie ist im Unterricht fast nicht
diskutiert worden. Ist auch gar nicht angesprochen worden, und wenn, dann haben die meist
geschwiegen dazu. [Anderenorts] ist es mal eine Zeit lang so gewesen, da war ein Jahrgang, die waren
verschärft. [...] Die wollten deutlich zeigen, daß sie deutsch sind. Und da fielen auch immer wieder
Worte, aber nicht im Unterricht, sondern meistens in der Pause. Da haben die dann klargestellt, daß das,
was wir gerade im Unterricht gehört haben, Blödsinn ist. „Unser Jugendführer hat das anders erklärt.“
War in der Pause. Erledigt. Abgehakt. (Bildung I)
Wieder wird die Widersprüchlichkeit der Verhältnisse deutlich. Oben forderten Jugendliche
die Lehrerin heraus, hier aber verzichten sie darauf. Das kann sehr unterschiedliche Gründe
56
Siehe oben Interview (Bildung I).
30
haben, die in der Persönlichkeit der Schüler oder in derjenigen der Lehrer liegen oder aber in
der Erfahrung und somit Furcht vor Sanktionen in der Schule. Interessant ist aber an der
letzten Passage auch der Hinweis auf die Konkurrenzfigur zum Lehrer, nämlich den
„Jugendführer“. Und bemerkenswert ist der Hinweis auf taktisches Verhalten der Schüler:
Deutungen werden versucht in dem Raum durchzusetzen, in dem Lehrer vergleichsweise
wenig Einfluß und Autorität besitzen, zum Beispiel den Peergroups.
Ein anderes Feld für konkurrierende Deutungen tut sich auf, wenn die Erfahrungen
christlicher Akteure zum Thema Rechtsextremismus zur Sprache kommen. Von einer
nächtlichen Begegnung und einer auf einem Urlaubsplatz erzählen folgende Sequenzen:
Herr Weinblatt: [Da] geh ich über den Markt, [...] kurz vor zwölf nachts. Haben da zusammen gesessen
und gefeiert. Und da sitzen so Schüler, achte Klasse zusammen. [...] Und ich geh da vorbei und [...]
dann: „Odin schlägt Christus.“ So auf [eine] ganz gruselig religiösen Schiene [...]. Eine rechte
Religiösität kommt immer mal zum Tragen, obwohl die nicht wissen, was es eigentlich bedeutet.
Ich hab mal auf’m Zeltplatz mit Skinheads Fußball gespielt. So richtig mit vielen. Und das war erst mal
ein Problem, denen die Springerstiefel abzugewöhnen, weil (lachend) das ja wirklich wehtat. Aber das
war wirklich spannend. Das waren richtig religiöse, also heidnisch religiöse Leute. Die waren halt so
tätowiert und die haben gesagt: „Ich trinke Met aus den Totenschädeln meiner toten Feinde und laß
mich von hundert Jungfrauen im Walhalla bedienen.“ [...] Und [...] die sind auf einen zugekommen. Die
wußten, daß wir [von der] Kirche sind. Und die haben gesagt: „Ich glaub an Odin. An was glaubst du?“
(Kirche II)
Die Schüler, die dem Erzähler bekannt sind, wollen provozieren: „Odin schlägt Christus.“ Der
Spruch kann jedoch auch als eine Drohung interpretiert werden. In jedem Fall geht es um die
Konkurrenz unterschiedlicher Identitäten und Erklärungen der Welt. Der Erzähler dieser
Begegnungen hat das Selbstbild eines Christen, wobei zentral in der christlichen Ethik die
Nächstenliebe eingelagert ist. Beide Passagen verweisen auf eine rechtsextreme Identität, die
sich auf germanische Mythologie bezieht. Diese strukturiere sich um Begriffe wie
(körperliche) Stärke, Kampfesmut, Krieg, Ehre und völkische Reinheit. Deshalb sei sie dem
angeblich verweichlichten, jüdisch-geprägten und multikulturellen Christentum überlegen.
Der Erzähler identifiziert diesen Bezug als „rechte Religiösität“ und entdeckt vor dem
Hintergrund eigenen religiösen Selbstverständnisses Handlungsspielräume: Den OdinAnhängern in der ersten Passage kann er Unwissen bescheinigen und sie somit schlichtweg
disqualifizieren. Den Skinheads in der zweiten Passage kann er in einem Dialog begegnen,
wobei die Basis des Gesprächs darin bestehen mag, daß beide Seiten an etwas „glauben“.
Gesprächsstoff gäbe es allein aufgrund der historischen Dimensionen genug.57 Und der Wille,
die eigene Deutung vom Sein diesseits und jenseits durchzusetzen, zeigt sich schon daran, daß
es die Skinheads sind, die mit einer Frage in die Offensive gehen.
57
Siehe auch Hoyningen-Huene, Stefan von (2003): Religiösität bei rechtsextrem orientierten Jugendlichen.
Münster. Zur Bedeutung christlicher Eschatologie sowie germanischer Mythologie für die NS-Ideologie vgl.
Ley, Michael (2002): Holocaust als Menschenopfer. Vom Christentum zur politischen Religion des
Nationalsozialismus. Münster.
31
5.1.4. Gewalt als Regel
Wie wir in einem einleitenden Kapitel verdeutlichten, beziehen wir uns in der Definition
Rechtsextremismus auf Wilhelm Heitmeyer. Dieser betrachtet zwei Kernelemente als zentral,
nämlich die Ideologie der Ungleichheit (zu verstehen als Ungleichwertigkeit) der Menschen
und eine grundsätzliche Gewaltakzeptanz. Wie Gewalt als Mittel zum Zweck eingesetzt
werden kann, darauf verweisen Beobachtungen einer Interviewpartnerin.
Frau May: [W]as sich in letzter Zeit so gehäuft hat, ist, daß das mit Raub kombiniert wird, ein
Übergriff. [...] meistens ist es so, daß dann der extremistische Hintergrund sofort wegfällt, für die
Polizei, weil die froh sind ... Also wenn jemand einen Ausländer rassistisch anmacht und ihm dann die
Brieftasche klaut, dann wird das ein Raub und wird nicht unter rechtsextrem eingestuft. Warum die das
machen, keine Ahnung. Das ist mir auch nicht ganz klar, warum die neuerdings ihren Opfern die
Brieftasche wegnehmen. Als Tarnung kann ich mir kaum vorstellen, weil Raub auch bestraft wird und
wahrscheinlich stärker bestraft wird als eine rassistisch motivierte Gewalttat. Ob das wirklich Leute
sind, die an das Geld der Ausländer wollen? Ob die denken, den Ausländern steht das gar nicht zu, mit
unserem Geld zu bezahlen? Keine Ahnung zur Motivation, aber das ist irgendwie augenfällig. [...] Oder
daß drei Glatzen Heil Hitler rufen und dann dem Klempnermeister sein Geld, was er gerade auf der
Sparkasse geholt hat, [wegnehmen]. Da steckt vielleicht auch so ein Allmachtsdenken dahinter. Daß sie
eben denken, das gehört ihnen. Wir requirieren das jetzt. (Soziale und rechtliche Beratung I)
„Ausländern“ stehe es nicht zu, über „unser“ Geld zu verfügen und daher sei es legitim, als
„Deutsche“ bzw. „Nationale“ sie zu enteignen. Die Interviewpartnerin thematisiert Gewalt,
die eingesetzt werde, um Regeln durchzusetzen. Allerdings kann rechte Ideologie die
Funktion zukommen, strafrechtsrelevantes Handeln zu relativieren oder zu legitimieren,
wobei auch hier wieder eine Regel gesetzt wird; indem eine eigentlich profane Straftat mit
Verweis auf „Höheres“, nämlich ein Herrenmenschenbild bzw. ordnungspolitische
Auffassungen und damit zusammenhängende Machtansprüche begangen wird. Die selbe
Interviewpartnerin liefert auch einen Hinweis auf ein, dieser Interpretation entsprechendes
Selbstbild rechter Akteure.
Frau May: Vielleicht [verstehen sie sich] auch als eine Art nationale Polizei. Zum Beispiel auch in [...]58
gab es mal eine Sache, da wurden Täter vor Gericht gefragt, warum sie denn jetzt den indischen Imbiß
überfallen hätten und haben gesagt: „Wir hatten den Hinweis, daß dort mit Drogen gedealt wird.“ Die
sehen sich selbst in so ´ner Vollstreckerposition für Sachen, die durch unsere schlampige, verlodderte,
undeutsche Polizei nicht mehr richtig gemacht werden. (Soziale und rechtliche Beartung I)
Das Gewaltmonopol des Staates werde durch rechte Akteure offen zur Disposition gestellt.
Die Interpretation, die Akteure mögen sich als „nationale Polizei“ betrachten, könnte
allerdings Anlaß zu der Frage geben, wo Grenzen zu ziehen sind zwischen Straftätern, rechten
und herkömmlichen Bürgerwehren.
Gewalt dient zum einen dazu, eigene Macht durchzusetzen, indem andere eingeschüchtert,
erniedrigt und mißhandelt und zur Akzeptanz von Regeln gezwungen werden (sollen). Zum
anderen kann es auch so sein, daß durch gewaltsames Handeln anderen Menschen Gewalt als
Regel oder Norm an sich aufgezwungen werden soll.
Herr Holm: Mein Sohn ist [...] zusammengeschlagen worden. [...] Von Rechten. Damals im Wurzener
Stadtbad. Nachmittags in einem vollbesetzten Stadtbad, wo niemand was gesehen hat. (Verwaltung I)
Freilich hat nicht niemand nichts gesehen, sondern ist der Vorgang sicherlich von anderen
beobachtet worden, was die bitter-ironische Schilderung durch den Interviewpartner
58
Name einer sächsischen Kreisstadt.
32
verständlich macht. Allerdings ist diese Passage ein Hinweis auf eine mögliche Wirkung von
Gewalt, die von einer Gruppe ausgeht: Personen, die eigentlich Zeuge sein könnten, fühlen
sich eingeschüchtert, sehen weg oder aber haben sich an ein bestimmtes Maß von Gewalt
bereits gewöhnt. Regeln wurden durchgesetzt.
Hatten wir im Kontext Erinnerungen an die Zeit Anfang bis um die Mitte der 90er Jahre noch
als Betroffene von rechter bzw. rechtsextremer Gewalt alternative Jugendliche wie Punks,
Christen, Obdachlose und Ausländer genannt, so zeigt die zuletzt zitierte Passage, mehr aber
noch die folgende, daß auch „ganz normale“ Jugendliche Opfer gewaltsamen Handelns
werden und Gewalt als legitimes Mittel zur Durchsetzung von Regeln und rechter Ideologie
Einsatz findet.
Frau Schönfelder: [D]as war für mich auch wieder so eine Geschichte, daß das gezielt war. [...] Das
war Silvester. [...] Vor sechs Jahren. Da war [mein Sohn] vierzehn geworden. [Die Jugendlichen] sind
von Roitzsch nach Wurzen gelaufen, haben sich dort noch mit ein paar andern getroffen, am
Kreisverkehr, haben dort ihre Raketen losgelassen. [...] Und dann sind die auf dem Heimweg gewesen.
So Torgauer Straße. [...] Und unser Jüngster, der lief halt mit einem Kumpel als letzter in einem Pulk
von zehn, fünfzehn Leuten[...]. Und alle hatten so zu tun, ihre Knaller loszuwerden. Ja, und unser
Jüngster war grad dabei, sich so einen Knaller anzuzünden. [...] Und plötzlich sagt einer aus dem Pulk:
„Rennt! Macht, daß ihr fortkommt! Die nieten alles um, was sie kriegen können!“ Und da war einer
drunter, der sonst nicht so mit diesen Jugendlichen [zusammen im Sportverein war]. Ja, was macht
man? Rennen. Nach vorne. Aber für den einen ist da vorne, den andern dort. [...]die andern waren weg.
Und zwei haben sich seiner angenommen und haben ihn ganz mächtig verprügelt. Also, er hat mir
dann beschrieben, wie er sich hingestellt hat, um seinen Kopf zu schützen. [...] die haben dann auch gar
nicht mit ihm gesprochen, wir haben ´ne offene Rechnung oder so. Und dadurch, daß er [...] so
gestanden hat (deutet gebückte Haltung und Schutz des Kopfes mit Gesicht nach unten an), [...] hat er
gesehen, was unten los ist. Springerstiefel, Hosenbeine hoch gekrempelt. Kapuzen hatten sie
aufgesetzt. Und einer hatte auch einen Schlagring. [...] Und er hatte als Verletzung über der
Augenbraue ´ne Platzwunde, am Hinterkopf ´ne Platzwunde und einen Zahn eingeschlagen. (Soziale
und rechtliche Beratung II)
Die Springerstiefel, hoch gekrempelten Hosenbeine und Kapuzen lassen keinen Zweifel zu:
Die Angreifer kamen aus dem rechten / rechtsextremen Spektrum. Mindestens einer in der
Gruppe des vierzehnjährigen Jungen erkennt die Angreifer. Diese handeln zielgerichtet und
mit Vorsatz, denn der Schlagring wurde sicherlich mit der Absicht mitgeführt, andere zu
verletzen. Zuschlagen gilt als Konfliktlösungsstrategie und Regel. Und diese Regel ist
offenbar bekannt, denn in der Geschichte fordert eine Person die anderen zur Flucht auf
(„Rennt! Die nieten alles um, was sie kriegen können!“), wobei die anderen dem Aufruf
folgen ohne zu diskutieren. Da die Angreifer prinzipiell akzeptieren, bei ihren Aktionen
andere, auch eventuell unbeteiligte Personen zu verletzen, offenbart das Vorgehen Willkür.
Und diese willkürliche Gewalt hätte vielleicht jeden (Jugendlichen), der sich zu dem
damaligen Zeitpunkt auf der Straße aufhielt treffen können. Willkür produziert Angst.
Gewalt setzt sich als Regel durch. Und das Durchsetzen eigener Regeln mag den Akteuren
als Bestätigung ihrer Gewalt verherrlichenden Ideologie gelten, und zwar samt deren
religiösen Bezügen. Hier geht es um mehr als nur jugendtypisches Verhalten, nämlich um
rechtsextremes strategisches Handeln. Die Beleggeschichte spricht von Gewalt. Sie verweist
auf ein situatives Gewaltmonopol rechtsextremer Akteure. Und eben dieses Gewaltmonopol
macht das aus, was Rechtsextreme unter „national befreiten Zonen“ verstehen.
33
5.2. Ursachen: Deutungen
5.2.1. Die sozialökonomische Perspektive
Die von uns interviewten Frauen und Männer sprachen nicht nur darüber, wie sie Phänomene
wahrnehmen, sondern suchten auch nach Erklärungen. Von allein oder auf Nachfrage
deuteten sie Ursachen von Rechtsextremismus. Dabei verwiesen einige von ihnen auf einen
Zusammenhang zwischen sozialökonomischen Problemen einerseits und Rechtsextremismus
andererseits.
Herr Weinblatt: „Martinsumzug. Das ist die Geschichte am 11.11. Vor zwei Jahren auch. Da ziehen wir
durch die Stadt. Ist richtig abgesperrt, also Feuerwehr, Polizei. Und sind so hundertzwanzig,
hundertfünfzig vor allem kleine Kinder mit Müttern. Und vorn ein Pferd. Die Geschichte vom Heiligen
Martin [...], also das Fest des Teilens. Und dann gibt ´s Martinshörnchen hier vorn an der Kirche. Ist
immer ´ne große Geschichte, die wir organisieren. Wir gehen durch die Straße [...] vom Wettiner Platz
zur Pesta59 hin. [...] Ich weiß, daß das sozial ´ne relativ schwierige Gegend ist. [Da] ruft ein [...]
vierzigjähriger Mann aus ´m Fenster, ganz laut: „Ihr marschiert aber schön. Wo ist denn euer rechter
Arm?“ (Kirche II)
Es kann ausgeschlossen werden, daß der Rufer am Fenster das Vorbeiziehen von Kindern und
Müttern mit Kindern für eine rechte Demonstration gehalten hat. Und sicherlich ging es eher
um eine Provokation. Worauf es uns hier aber ankommt, ist der latente Hinweis des Erzählers
darauf, daß sozialökonomische Benachteiligung und, zumindest, eine Affinität zu
Rechtsextremismus miteinander zusammenhängen würden. Deutlicher formulieren diese
Annahme andere Interviewte, insbesondere nach direkter Aufforderung zu einer
Positionierung hinsichtlich Ursachen von Rechtsextremismus.
Frau Baumgarten: Na ja, da stecken viele in Arbeitslosigkeit.
Herr Berger: Die sozialen Probleme. Ja, die sozialen Probleme von Arbeitslosigkeit und so weiter. Die
spielen natürlich eine große Rolle. Das ist ja auch schon eine Ursache gewesen [19]33, warum, sagen
wir mal, der Faschismus so Fuß fassen konnte, die sozialen Probleme. Also, die sechs Millionen
Arbeitslose[n] waren ja damals nicht wegzudenken. (Stadtrat I)
Es bestehe also ein direkter Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und
Rechtsextremismus, der schon allein deshalb auf der Hand liege, da er in geschichtlichen
Entwicklungen nachweisbar sei. Problematisch an dieser Position scheinen uns zwei Dinge:
Erstens wird durch die Parallelisierung von modernem Rechtsextremismus und Faschismus
(Nationalsozialismus) eine Unausweichlichkeit suggeriert, was den Blick auf
Handlungsspielräume verstellen kann. Zum andern liest sich das Zitat wie eine
Schuldzuweisung an „die Arbeitslosen“. Wie auch immer, eine Option wird hier angedeutet,
nämlich eine sozial gerechtere Verteilung von materiellen Ressourcen zu organisieren. Dies
deuten auch andere Interviewte an, wobei die Argumentation anders strukturiert sein kann.
Frau Blume: Das hat schon mit Arbeitslosigkeit zu tun. Wenn man nicht weiß, wieso und warum es
einem schlecht geht und dann kommt einer und sagt: „Die Ausländer nehmen uns die Arbeitsplätze
weg.“ Wir haben ja in Wurzen das Neubaugebiet ... [Man sagt] Russenblock. So. „Die kommen alle
hierher und die nehmen euch die Arbeit weg. Und die ganzen Ausländer in den Städten!“ Ein
Jugendlicher, der keine Ausbildung findet ... Na klar sieht der da seine Interessen vertreten. So, und
dann soll man als Eltern denen erklären, daß man falsch liegt. (Erwachsenenbildung I)
59
Mittelschule Pestalozzi.
34
Ausgehend von rechten bzw. rechtsextremen Argumentationen wird nach Erklärungen für
spezifisches Handeln von Jugendlichen gesucht, und zwar, indem bestimmte Parolen ins
Verhältnis zu wahrnehmbaren sozialen Realitäten gesetzt werden. Dabei begreifen es Eltern
als ihre Aufgabe, als ihre Pflicht („soll“), den Kinder klar zu machen, daß sie mit der
Auffassung, nach welcher Ausländer und andere Zugewanderte für die eigene Misere
verantwortlich seien, „falsch liegen“. Die Frage ist, wie sie dies erklären können. Eine
gewisse Hilflosigkeit wird deutlich. Es ist schwierig aufzuklären, was einerseits Ursachen
sozialer Benachteiligung und Ungerechtigkeit, und was Ideologien sind, mit deren Hilfe
Ursachen erklärt oder – dies ist Frage von Interpretation – verschleiert werden. Dabei besteht
die Attraktivität der „Sündenbockthese“ gerade darin, ein Problem handhabbar und
Verhältnisse erklärbar zu machen, und dies mag zumindest entlastend wirken.
Neben der These, sozialökonomische Unsicherheit erkläre Rechtsextremismus (zumindest zu
einem Teil), geht es auch um andere Zusammenhänge. So, wenn ein Interviewpartner über
Akteure von rechts spricht, die Mitte der 90er Jahre besonders aktiv gewesen seien.
Herr Krüger: Das ist auch bemerkenswert gewesen damals. [...] Von denen war keiner arbeitslos. Das
dürfen Sie ja nicht glauben. Das waren alles, in handwerklichen Berufen organisierte Jugendliche oder
junge Männer. Die Häuser, die die haben, die die Familien haben, die sind zum Nulltarif rekonstruiert
worden. Da kamen drei, vier Dachdecker. Alles solche (deutet breite Schultern an) Leute. Und dann
ging das am Wochenende ab dort. Da war das Haus fertig. Drei Wochen später kamen die Maurer und
dann kam das Gerüst ran. Drei, vier Maurer, ähnliche Statur, ähnliches Aussehen, organisiert bis hin
nach Torgau, bis nach Großenhain. [...] die Autos, da sahst du die Nummernschilder. Die hatten alle
Arbeit und das ist auch jetzt so. Die bei uns an der Schule auffällig waren, die, bei denen man das
wußte, die haben studiert, die haben ein Haus. Und andere? Nichts. (Bildung I)
Statt geplagt von Arbeitslosigkeit, „Rechte“ in Lohn und Brot. Ein nur allzu weit verbreitetes
Klischee wird infrage gestellt. Und mehr noch: Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten
politisch-ideologisch strukturierten Gruppe kann sich in alltagspraktischen Dingen als äußerst
hilfreich erweisen. Hier sind Netzwerkressourcen angesprochen. Diese sind besonders wichtig
in Zeiten ökonomischer Unsicherheiten. Es könnte interpretiert werden, daß Teilnahme an
rechtsextremen Symbolen und sozialen Formen auch als eine individuelle Strategie zur
Minimierung ökonomischer Unsicherheit bzw. Herstellung ökonomischer Sicherheit tauglich
ist. Dafür spricht die folgende Passage, die sich auf Nachfrage danach ergab, was aus
Jugendlichen, die sich mal rechts bewegt hatten, geworden sei:
Herr Krüger: So, und dann einer, den wir dann an der Schule hatten, der mit der NPD [zu tun hatte], der
ist in München, ist jetzt fast fertig mit dem BWL-Studium. Die Mädchen damals aus der Zeit, die habe
ich ein bißchen aus den Augen verloren bzw. sind die nicht groß hochgekrabbelt. Das sind so meistens
Verkäuferinnen mit Abitur bei OBI oder so, und so auf der Ebene befinden die sich. Aber die Jungs,
hier, die sind schon ganz schön weit vorangekommen. (Bildung I)
Jungs studieren und werden Manager. Mädchen ergreifen frauentypische Berufe mit
Dienstleistungscharakter. Was die „Mädchen“ betrifft, so scheint uns hier mit dem Hinweis
auf frauentypische Berufe ein Beleg für die soziale Wirksamkeit rechtsextremer Ideologie
angedeutet zu sein. Allerdings ist die Benachteiligung durch geschlechtsspezifische
Sozialisation und ungerechte Strukturierung des Arbeitsmarktes allgemeines Problem.
Wichtig an der Stelle ist uns aber der Blick auf folgendes: Rechtsextreme Ideologie mit
Moralbegriffen wie Ordnung, Sauberkeit, Stärke und insbesondere Disziplin kann hilfreich
sein für die Karriere. Wieder geht es um strategisches Handeln.
35
Bezüge
zwischen
sozialökonomischer
Strukturiertheit
der
Rechtsextremismus thematisiert auch ein anderer Interviewpartner.
Gesellschaft
und
Herr Schumann: Ein persönliches Erlebnis. Wir waren auch bei einer dieser [Gegen-]Demonstrationen
in Leipzig. Dieser Kampf der Rechtsradikalen mit der Stadt, ob sie nicht doch mal eine Demonstration
bis zum Völkerschlachtdenkmal auf die Beine stellen können.60 Wo wir denn auch zu der
Demonstration privat hingegangen sind, zum Augustusplatz und vorsichtshalber gedacht haben, fährst
du mal nicht mit dem Auto rein, sondern du fährst mit dem Zug. [...] Und dann stieg natürlich ein
Haufen Leute [...] ein, Richtung Leipzig. [...] So eine Gruppe Skinheads mit allem drum und dran,
allerdings ohne Springerstiefel. Die waren verboten. Aber wie die sich dann ... Das war irgendwo
frappierend. Wie die sich im Zug unterhielten, da war von Politik oder ähnlichem überhaupt nicht die
Rede. Das waren die liebsten Mitreisenden. Natürlich mit einem Bier in der Hand oder ähnliche
Geschichten. Es wurde nicht gepöbelt und gar nichts gemacht. Wie ich das so aus den Gesprächen raus
bekam, wurde über die Arbeit gesprochen. Die meisten waren beschäftigt, hatten ihre Arbeitsplätze und
gingen jetzt dahin, um Randale zu machen. (Wirtschaft I)
Auf das individuelle bürgerliche Engagement sei an dieser Stelle nur hingewiesen. Interessant
im Kontext sozialökonomische Ursachen von Rechtsextremismus ist folgendes: Der Erzähler
wird durch ein spezifisches Erlebnis mit eigenen Vorannahmen konfrontiert. Er empfindet das
Beobachtbare als „frappierend“, als überraschend. Seine eigenen Deutungen sieht er plötzlich
im Widerspruch zum Erlebbaren. Und als wir ihn fragen, was, wenn nicht Arbeitslosigkeit,
denn Ursache dafür sein könne, daß sich die in der Beleggeschichte dargestellten jungen
Leute rechts zuordneten und bewegten, versucht er, diesen Widerspruch aufzulösen:
Herr Schumann: [I]ch will es jetzt nicht zu hoch aufhängen. Allgemeine Unzufriedenheit mit der Lage,
der bestehenden politischen Situation. Ich weiß es nicht. Vielen, es tut mir leid, vielen spreche ich die
Intelligenz aber ab. [...]Was man da gesehen hat, die würde ich nicht unbedingt, was die Intelligenz
betraf, so am oberen Ende der Skala angesiedelt haben. Was natürlich ganz anders ist bei denen, die
letztlich die Führung in solchen Gruppierungen machen. Da sehe ich das ganz anders. Aber diese
Mitläufer, die ich damals gesehen habe ... Ja, also was führt die dazu? Eine richtige Antwort kann ich
nicht geben. Ob das der Frust mit der Arbeit ist oder dem Vorgesetzten oder ähnliche Geschichten. Daß
da eben nach Feierabend nichts mehr los ist und die sagen, da muß was losgemacht werden. Ich weiß es
nicht [...] (Wirtschaft I)
Mehrere Gründe werden in Erwägung gezogen. So die allgemeine politische Situation, deren
Betrachtung und Erfahrung bei vielen zu Frust führen mag. Dann wird vermutet, daß
Personen, die sich zu einer rechtsextremen Ideologie hinreißen lassen, nicht besonders
intelligent und somit rekrutierbar durch strategisch klug handelnde rechte Führer seien. Dies
könnte in Widerspruch zu den oben angeführten Möglichkeiten strategischen Handelns
gesehen werden. Die Variante „Frust mit der Arbeit oder dem Vorgesetzten“ eröffnet den
Blick auf eine weitere Dimension sozialökonomischer Bezüge: Arbeitsalltag und
Arbeitsorganisation schaffen Reibungspunkte, wenn nicht gar Konflikte, die Frustration
auslösen können. Nicht vergessen werden darf, daß es sich um junge Leute handelt, die in
ihren Arbeitsverhältnissen sicherlich eher unten in der Hierarchie stehen. Der
Interviewpartner / Erwachsene legt sich nicht dahingehend fest, ob er für solcherlei
Unzufriedenheit Verständnis hat oder nicht. Es liegt ihm aber auch fern, einfache und fertige
Erklärungen als allein gültige zu präsentieren.
60
Die NPD versuchte in der zweiten Hälfte der 90er Jahre immer wieder Demonstrationen durch Leipzig
durchzuführen. Neben politischen und gewerkschaftlichen Gruppen war es auch immer die Stadtverwaltung
unter dem Oberbürgermeister Wolfgang Tiefensee, die sich offen gegen die Pläne der NPD stellte und (Gegen-)
Demonstrationen organisierte.
36
Wir möchten abschließend festhalten, daß eine sozialökonomische Perspektive den Blick auf
komplexe und widersprüchliche Verhältnisse eröffnen kann. Eine monokausale Erklärung
über einen Zusammenhang zwischen sozialökonomisch prekären Verhältnissen und einer
Affinität zu rechts greift aber sicherlich zu kurz.
5.2.2. Die psychosoziale Perspektive
Neben den sozialökonomischen Gründen führten unsere Interviewpartnerinnen und
Interviewpartner auch eine Reihe weiterer Gründe dafür an, daß, insbesondere, junge
Menschen rechtsextreme Ideologie anzunehmen bereit seien. Dabei drehten sich die
Argumentationen immer wieder um das, was wir alltagsgegenwärtige und
perspektivebezogene Unsicherheiten nennen möchten.
Herr Holm: Also, ich denke, es geht los bei einem deutlich höheren Druck in der Schule, einem deutlich
höheren Leistungsdruck. Zumindest empfinde ich das jetzt so, wenn ich sehe, was meine Kinder in der
Schule haben. Weil, es ist irgendwo ein k.o.-System geworden. Die Kinder, die schulisch versagen ...
Die Gefahr, daß die im Abseits stehen, ist sehr groß. Und das spüren die Kinder auch. Die spüren
einerseits, daß auf den Eltern ein deutlich größerer Druck lastet. Daß zum Teil Eltern, wenn sie
berufstätig sind, deutlich weniger Zeit haben, sich um ihre Kinder zu kümmern. Daß sie [...] durch ihre
berufliche Angespanntheit doch so unter Druck stehen, daß es schwer wird, mitunter einfach mal
zuzuhören. [...] Die andere Seite ist, wir haben ´ne recht hohe Arbeitslosigkeit. Und auch unter den
Arbeitslosen, die Kinder spüren diese tiefe Unzufriedenheit, diesen Pessimismus, keine Chance, da
irgendwo wieder Arbeit zu bekommen, gerade bei Langzeitarbeitslosen. [...] Und diese Angst, da
irgendwo unterzugehen, die ist immens groß. Und das geht am Ende in der Lehre weiter. [...] Daß der
Druck in den Betrieben mittlerweile so groß ist, daß die sagen: „Wenn du jetzt nicht huppst, dann gehst’
de wieder. Sind genug auf dem Markt, [durch] die wir [dich] ersetzen können.“ (Verwaltung I)
Hier steht die ökonomische und soziale Strukturiertheit der Gesellschaft allgemein im
Blickpunkt. Dabei wird der Leistungsdruck, der bereits in der Schule beginnt und sich in der
Lehre und im Berufsleben fortsetzt, kritisiert und die Praxis von sozialdarwinistischer Auslese
und Konkurrenz problematisiert. Der psychische Druck, unter welchem berufstätige und
nicht-berufstätige Eltern stehen und den sie vor den Kindern nicht verbergen können, wirke
belastend. Die Unsicherheiten und Ängste, die, wie beschrieben, entstehen und sich in die
weitere Praxis festschreiben können, werden thematisiert. Das Zitat verweist aber auch auf
Gefahren und somit Ursachen für den Erfolg rechtsextremer Organisationen: Erstens,
mangelnde Aufmerksamkeit der Eltern gegenüber ihren Kindern in unsicheren Situationen
berge die Gefahr, daß extremistische Ideologen Anknüpfungspunkte fänden. Zweitens schaffe
die gesellschaftlich strukturierte Sozialisation in einem, gewissermaßen, sozialdarwinistischen
Sinne, günstige Bedingungen für den Erfolg solcher Ideologie. In eine ähnliche Richtung
argumentieren auch andere Interviewpartner.
Herr Jonas: Ich sehe im Gymnasium ein Plakat so hängen: „Gewinne einen Laptop mit deinem
Zeugnis.“ Also, wo ich denke, [...] das sind Dinge, die nicht wirklich Heimat bieten. (auf Nachfrage)
Das Konzept Leistung [...] ist nicht sozialbildend, nicht gemeinschaftsbildend in irgend einer Form.
Und das hebt Individuen raus, und vielleicht noch mal zehn Prozent der Leute. Also der eine ist ein
klasse Musiker, der zweite ist ein guter Sportler, was ja auch eine Rolle spielt, und der dritte ist einfach
ein mathematisches oder Sprachgenie. So, und die sind persönlich damit bedient, aber das bildet keine,
[...] Sozialform. Das gibt auch keine Identität [..] für mehr als nur den Leistungsträger. [...] Von daher
kann ich mir vorstellen, daß das ein Kind schnell spürt: Dem Konzept werde ich nicht gerecht. Warum
auch immer, das wird es sich nicht fragen, aber es wird spüren: Das ist nicht meine Welt. Und [es] wird
sich anders orientieren. [...] vielleicht dann Zugang zu [etwas] suchen, wo ein Bekenntnis reicht. Zu
37
sagen, ich gehöre dazu. Wo es reicht, wenn ich sage, ich bin Deutscher, und wo das anerkannt ist als
gut, verbunden mit Eigenschaften noch und Verhaltensweisen, [...] als Konzept ausreicht. Da hab ich
dann was gefunden, als junger Mensch. (Kirche I)
Der Interviewpartner thematisiert einen Zusammenhang zwischen Leistung, Identität und
Bekenntnisideologie. Unsicherheiten dahingehend, Leistungsanforderungen zum Beispiel in
der Schule und dann auf dem, von harten Konkurrenzen gekennzeichneten, Markt der Lehrund der Arbeitsstellen, gerecht zu werden, wirken in spezifischer Weise in Prozessen der
individuellen Identitätsbildung. Die Suche nach Sicherheit kann über den Weg entlastender
Bekenntnisse führen, für die rechte bzw. rechtsextreme Ideologie nur ein Beispiel ist. Und es
kann um noch etwas anderes gehen als nur Sicherheit durch den Bezug auf eine Identität
bietende Ideologie.
Herr Holm: [I]ch denke auch, daß die Kinder und Jugendlichen, die in der Familie keinen Rückhalt
haben und keinen Rückhalt in Form eines Vereins oder einer kirchlichen und sozialen Organisation [...]
Daß die dann anfällig dafür sind und mitunter Geborgenheit suchen und auch finden in so einer
Kameradschaft. Daß in dem Moment, wenn die dort hingehen, noch nicht mal das rechte Gedankengut
da ist, sondern daß die einfach irgendwo Anerkennung und Geborgenheit suchen und dann über die
Gemeinschaft erst mit diesem ganzen Gedankengut infiziert werden. (Verwaltung I)
Zu beachten ist hier der Sprachgebrauch: anfällig sein für bzw. infiziert werden von rechtem
Gedankengut. Rechtsextremismus als Seuche oder Krankheit? Sind diese Formulierungen
Ausdruck für eine Willkürlichkeit, die bei Begegnungen mit dem Phänomen
Rechtsextremismus wahrgenommen wird? Oder entspringen sie der (vielleicht eher latenten)
Auffassung von rechtsextremer Ideologie als unrein im religiösen Sinn und somit die eigene
moralische Reinheit gefährdend? Aber das nur am Rande. Im Vordergrund geht es hier um
Suche nach Gemeinschaft, die möglicherweise sich in Kameradschaften realisiert.
Angenommen wird hier, daß eine solche Suche erst dann relevant werde, wenn das
(kindliche oder jugendliche) Individuum erkennt oder fühlt, in einer instabilen Gruppe
(Familie), einer schwachen Gruppe zu leben und das Gefühl von mangelndem Rückhalt und
Unsicherheit auch nicht in gesellschaftlich akzeptierten Gruppen wie Vereinen oder aber in
anderen Organisationen ausgleichen kann. Dabei mag es auch andere Gründe dafür geben,
sich starken bzw. als stark wahrgenommenen Gruppen anzuschließen.
Frau Blume: [U]nser [Sohn], der ist ja eher dieses (zeigt eine schmale Gestalt) von der Statur her. Der
[hat] sich dann auch irgendwo sicher gefühlt [...] in einer Gruppe. Und dann versuchen die ja auch, die
jungen Leute zu organisieren. (auf Nachfrage) Die Leute, die das organisieren. Das ist ja straff
organisiert und die, die da an der Spitze stehen, sind ja keine doofen Leute. Die sind intelligent und
schlau. Die wissen ganz genau, wie sie die jungen Leute ranziehen. (Erwachsenenbildung I)
Körperliche Schwäche kann durch Stärke einer Gruppe, deren Mitglied jemand ist,
wettgemacht werden. Zu beachten ist hier die Überzeugung dahingehend, daß „Leute, die das
organisieren“, als Führungsfiguren und Kader, durchaus wissen würden, was günstige
Bedingungen für die Mobilisierung und Rekrutierung seien, also strategisch und taktisch
geschickt handeln würden.
Um die Verdrängung bzw. Überwindung von selbstdiagnostizierter Minderwertigkeit geht es
auch in der folgenden Sequenz, die sich ergab, nachdem der Interviewpartner ausführlicher
die Bezüge rechtsextremer Ideologie zu germanischer Mythologie beschrieben hatte.
Frage: Hast du ´ne Erklärung zum Beispiel dafür, was die Faszination an so ´ner zum Beispiel
heidnischen Religiösität ist?
38
Herr Weinblatt: Ja. Und das ist [...] ein bißchen mit dem Islamismus zu vergleichen. Das ist ´ne
Religion, die, so sage ich, einem das Auserwähltsein anträgt und einen zur Elite erklärt und damit die
eigene Minderwertigkeit, die man erlebt im täglichen Leben aufhebt. Das ist ja auch für mich der
Hauptgrund, warum so viele Leute rechts sind. Weil sie damit sagen können: Wir sind die weiße Rasse.
Wir sind mehr wert als die Aussiedler, als die Ausländer, als die Juden. Wir sind wer. Das erleben sie
aber nicht. Das erleben sie in der Schule nicht, das erleben sie zu Hause nicht. Weil ihre Eltern auch so
sind. (Kirche I)
Auf Islam sei hier nicht weiter eingegangen.61 Was uns interessiert ist die Position, daß rechte
bzw. rechtsextreme Ideologie geeignet sei, den eigenen Status aufzuwerten, indem sie das
Konzept völkischer Überlegenheit zur Entlastung und Legitimation anbiete. Anzumerken ist
dabei, daß „Aussiedler“ aus Sicht der bundesdeutschen Politik als Deutsche gelten, was auch
dem Selbstverständnis wohl sehr vieler Spätaussiedler bzw. Aussiedler entspricht. Dennoch
sind sie die Zugewanderten, die „Fremden“, und zur Rechtfertigung ihrer Diskriminierung
durch rechte Akteure können sogar Aspekte der multiplen Identitäten, die Spät-Aussiedler
aufweisen, herangezogen werden.
Weiter oben hatten wir bereits einen Zusammenhang von Gewaltausübung und Macht
skizziert. Darauf sei hier zurückgekommen. Wir konfrontierten einen Interviewpartner damit,
daß er einerseits Perspektivlosigkeit aufgrund mangelnder Lehrstellen und Arbeitsplätze als
einen Grund für rechtsextreme Gewalt sehe, andererseits aber von rechten Straftätern spreche,
die Beschäftigung hätten.
Herr Steinmetz: [D]ie Beschäftigung haben, die leben das dann aus an den Wochenenden. In der Woche
[...] wissen [sie]: Okay, wenn ich in der Woche irgendwie draußen rumziehe und komm nicht pünktlich
auf Arbeit, dann war’s das für mich jetzt. Die so denken, sind die, die das dann an den Wochenenden
ausleben.
Frage: Und wie sieht das denn aus, wenn die das ausleben?
Herr Steinmetz: Indem sie sich eben treffen und dann, wie gesagt, dort Festbesucher [finden] und dann
gleich auf Konfrontation aus sind. Wollen ein bißl stänkern. Und eigentlich warten [sie], bis sie einen
Gegenpart finden, um dann ihre Kräfte zu demonstrieren. (Polizei I)
Rechte Gewalt als sportliche Betätigung? Sicherlich geht es um mehr als nur darum, ein
bißchen zu „stänkern“. Denn Gewalt erfüllt für den ausübenden individuellen Akteur und
innerhalb der Binnenstruktur einer Gruppe Funktionen. Durch die erfolgreiche, d.h. physisch
wirksame und psychisch nachhaltige, nämlich Angst produzierende, Ausübung von Gewalt
läßt sich gegenüber anderen Macht demonstrieren bzw. herstellen und ferner werden
Positionen der Individuen innerhalb einer Gruppe bestätigt oder neu verhandelt. Wie auch
immer, der Interviewpartner verdeutlicht hier, daß rechte Akteure prinzipiell Gewalt bejahen
61
Der Vergleich mit Islamismus (oder mit Islam? „Das ist ´ne Religion ...“) wirkt etwas befremdlich.
Anzumerken ist, dass der Islam vom Judentum das Element Gesetzesreligion entlehnt hat und dem Muslim
geboten ist, Gott ergeben und Gott zu Gefallen zu handeln. Eine etwa rassisch oder völkisch begründete
Auserwählung kennt der Islam an sich nicht, obwohl es seit seinem Entstehen immer wieder Bestrebungen
arabischer Muslime gegeben hat, aus der arabischen Herkunft des Propheten Muhammad eine privilegierte
Position gegenüber etwa Persern oder anderen abzuleiten. Die Annahme, im islamisch legitimierten Terror
einiger zeitgenössischer Gruppen manifestiere sich der Kampf um Überwindung der eigenen Unterprivilegierung
und Minderwertigkeit, scheint uns eine Referenz zu sein an orientalisierende aktuelle Debatten in den Medien,
kann aber auch als soziale und religiöse Abgrenzung des Interviewten interpretiert werden. Wie auch immer,
äußerst lesenswert zum Themenfeld Rechtsextremismus, Antisemitismus und Islam ist das Buch des
Orientalisten Lewis, Bernard (1989): „Treibt sie ins Meer!“ Die Geschichte des Antisemitismus. Frankfurt am
Main. Es ist allerdings anzumerken, daß der Originaltitel Semites et Anti-Semites äußerst unglücklich, um nicht
zu sagen, mit ideologischer Voreingenommenheit aus dem Französischen ins Deutsche übertragen wurde.
39
und sich ferner wohl überlegen, wann es Zeit sei, diese einzusetzen. Und er macht klar, daß
Aggressionen zielgerichtet sind.
Um es an dieser Stelle zusammenzufassen: Argumentationen aus psychosozialer Perspektive
drehten sich um, eine vor allem junge Menschen betreffende Suche nach Sicherheiten bzw.
Sicherheit verleihende Identität. Dabei resultieren die Unsicherheiten, die es zu überwinden
gelte, insbesondere aus der spezifischen sozialökonomischen Strukturiertheit der
Gesellschaft. Bestimmte Konzepte rechtsextremer Ideologie seien geeignet, für ein
Individuum erklärend und entlastend in Identifikationsprozessen zu wirken. Und vor allem
Gruppenstrukturen eröffneten Möglichkeiten sich abzusichern. Diese Absicherung wiederum
könne ihren Ausdruck finden in der diskursiven Absetzung von anderen („Aussiedler“,
„Ausländer“, „Juden“), aber auch in der Demonstration von Macht durch kollektive
Ausübung von Gewalt.
5.2.3. Blick in die Vergangenheit
Mehrfach wiesen die von uns interviewten Frauen und Männer auf gesamtgesellschaftliche
Begründungszusammenhänge hin. Im folgenden soll es um die thematisierten Bezüge zur
Vergangenheit gehen. Denn, um Rechtsextremismus in seinen Erscheinungsformen zu
erklären, gingen die Interviewten immer wieder gedanklich zurück zur DDR und zur Wende,
aber auch, naheliegender Weise und schon mehrmals angesprochen, zur Zeit des
Nationalsozialismus in Deutschland.
DDR und Wende
Um zu erklären, warum gerade Anfang und Mitte der 90er Jahre rechte bzw. rechtsextreme
Organisationen entstanden bzw. sich im Osten Deutschland vermassen konnten, setzten
Interviewpartnerinnen und Interviewpartner beim Systemzusammenbruch 1989 und seinen
unmittelbaren Folgen an.
Frau Schönfelder: [D]ie Jugend brauchte ´ne Orientierung. Die war nicht da. Aber es waren rechte
Gedanken da und daran haben die sich orientiert. Also nicht, daß ich die, die fit genug im Kopf sind,
freispreche von den Taten, die sie da gemacht haben, sich da rechts zu orientieren. Und das paßte so den
Jugendlichen in den Kram und da haben sie mitgemacht. (Soziale und rechtliche Beratung II)
Wieder sind Fragen von Orientierung und Identität angesprochen. Mit der Wende 1989
gerieten alte Bezugs- und Identifikationssysteme ins Wanken und dies nicht nur abstrakt,
sondern auch über Personen mittelbar und unmittelbar erfahrbar. Das allein erklärt aber nach
Meinung einiger Interviewpartner nicht den Erfolg rechter Gruppen.
Herr Gerold: Einen rechten Bodensatz gab es auch zu DDR-Zeiten, der natürlich auflebte dadurch, daß
aus alten Bundesländern Einzelkämpfer kamen, ich will es mal so sagen, die sich an die Spitze der
Bewegung stellten. (Stadtrat III)
Rechte Initiative von West sei also auf einen günstigen Boden in Ost getroffen. Davon gehen
auch andere Interviewpartner aus und skizzieren diesen Umstand näher:
40
Herr Berger: Wir hatten ja auch zu DDR-Zeiten [...] leichte Probleme, mal hier und da, mit Kindern und
Jugendlichen, die solche Dinge aufgegriffen hatten.
Frage: In welcher Form?
Herr Berger: In welcher Form? Na, daß die eine Feier gemacht haben zum Hitlergeburtstag. Oder daß es
auch mal eine Hakenkreuzschmiererei gab oder so was. Ich weiß noch, so was gab es mal an der
Diesterweg-Schule. In welcher Form, das kann ich nicht sagen. Ich weiß nur, daß da der Direktor
damals zusammengeschissen wurde. Na daß der sich mit einem Brief an seine Schüler wenden wollte.
Das wurde nicht für gut befunden. Ich meine, warum soll der Direktor an seine Schüler einen Brief
schreiben? Der kann sich erst mal mit denen unterhalten. Lächerlich. Das war ein bißchen blöd.
(Und an anderer Stelle:)
Herr Berger: Das hat ja schon in DDR-Zeiten welche gegeben, die durch ihre Eltern zum Teil, aber
durch Westfernsehen zum Teil auch, an Material rangekommen sind oder Sachen gesehen haben, die
eher in die Richtung Verherrlichung von Faschismus ging als [...] Kritik. (Stadtrat I)
Nach Meinung des Interviewpartners konnten und können Eltern einen Anteil daran haben,
wenn junge Menschen sich auf rechtsextreme Ideologie positiv bezogen bzw. beziehen. Der
Hinweis auf die negative Rolle des Westfernsehens mutet allerdings etwas überkommen an.
Zumal gerade in den 80er Jahren in der BRD eine zunehmende Beschäftigung mit der NSZeit einsetzte, was auch in den Medien reflektiert wurde. Dabei wies diese Beschäftigung
durchaus extreme Widersprüchlichkeiten auf. Erinnert sei an den Historiker-Streit. Nicht zu
vergessen ist aber, daß auch ein neuer Umgang mit dem Thema Shoah (Holocaust) angeregt
wurde, und zwar unter anderem dadurch, daß die 68er Generation neue politische Themen
setzte, aber auch durch die Genozidforschung. Im Unterschied zur DDR gab es öffentliche
Debatten. In diesem Zusammenhang erscheint uns interessant, was in der zitierten Sequenz
über den Direktor gesagt wird. Es sei lächerlich gewesen, damals als Direktor einen Brief an
seine Schüler zu schreiben. Anzumerken wäre, daß es in der DDR bei auftretenden
Problemen eher üblich war, zu einem klärenden Gespräch in ein Zimmer gebeten zu werden,
in dem Funktionsträger Anwesenheit zeigten und die Staatsmacht vertraten. Einen Brief zu
schreiben aber hätte bedeutet, eine Art Dokument zu produzieren, auf das sich alle
Beteiligten hätten beziehen können und mit dem Verbindlichkeit einklagbar gewesen wäre.
Wie auch immer, andere Interviewte haben einen etwas anderen Blick auf die damaligen
Verhältnisse und den Umgang der DDR mit dem NS-Regime.
Herr Gerold: [D]ieses rechte Potential [...] wurde massiv durch Strafandrohung damals unterdrückt, aber
auch, was nicht sein durfte, konnte nicht sein. In einem sozialistischen Staat, der sich DDR nannte,
konnte es keinen Rechtsextremismus geben [...] Weil wir ja die Geschichte zu DDR-Zeiten
aufgearbeitet hatten. Also die Aufklärung in den Schulen war dementsprechend. Da kann man zu
stehen, wie man will. Aber man hat die Geschichte sicher [...] aus einer einseitigen Sicht aufgearbeitet.
(Stadtrat III)
Und genau da, nämlich in einer „einseitigen“ Aufarbeitung, so scheint es, liege für den
Interviewpartner ein Problem. Dabei wurde nicht alles bestraft, was sich rechts äußerte.
Herr Fischer: [Das war] zu DDR-Zeiten. Ich denke, das war [19]88, vorm alten Jugendclub in der
Leninstraße, jetzt Schweizergartenstraße. Wir hatten ja noch die Rote Armee in der Stadt. Und dann
kamen natürlich, wenn da mal welche auf Ausgang gingen, die kamen dann auch dort runter und hatten
dann natürlich die ganze Disko gegen sich. „Die scheiß Russen!“ [...] Die wurden dann irgendwann,
wenn der Alkoholpegel weit genug war, aus der Disko geprügelt. Und da stand dann der halbe
Jugendclub da unten und hat teilweise mit Rechten-Arm-Ausstrecken das Deutschlandlied gesungen.
Das war schon recht deftig und die Russen wurden halt weggeprügelt. [...]
Ich weiß noch von einem Vorfall, wo jemand im Park am Denkmal von Albert Kunz vorbeigegangen
ist und wo einer ein Lied verhohnepiepelt hat, und wo den jemand verpfiffen hat bei der Stasi und der
41
ist das von der Penne geflogen. War wohl betrunken. War nicht wirklich was Ernstzunehmendes. Aber
solche Reaktionen gab es auch. Aber ein größerer Mob wie am Jugendclub, da passierte
komischerweise nichts. (Stadträte II)
Die Geschichten sprechen für sich.62 Der Umgang im und des DDR-Systems mit dem Thema
Rechtsextremismus war widersprüchlich.
Es sei aber direkt auf die Situation während und in unmittelbarer Folge der Wende
zurückgekommen. Die Suche nach Orientierung wurde bereits angesprochen. Mehrere der
Interviewten gaben auch Deutungen dahingehend ab, welche Rahmenbedingungen Anfang
der 90er Jahre noch ausschlaggebend für den Erfolg von rechts gewesen seien.
Herr Steinmetz: Nach der Wende war es ja ganz schlimm. Da hat jeder gedacht, es kann jeder machen,
was er will. Gibt keine Normen mehr. [...] Und dann hat jeder gedacht, mit der Polizei kann man
machen, was man will. Und das, würde ich sagen, war auch der Grund damals am Anfang, wo das hier
mit dem Rechtsextremismus in Wurzen losging. (Polizei I)
In eine ähnliche Richtung heißt es in einem anderen Interview:
Herr Bäumler: Und letztlich haben wir die Situation hier in Wurzen auch gehabt, daß hinter einer
Symbolfigur Marcus Müller die Leute hinterher gelaufen sind. Und ich kann nur sagen, ich hab ihn in
den letzten fünf Jahren erlebt. Das ist für mich unbegreiflich, [...] wie das überhaupt passieren kann. Der
hat weder Charisma noch Ausstrahlung. [...] Aber es ist halt aufgeputscht worden und die Leute sind
hinterher gelaufen. [...] eine ganze Reihe Jugendlicher mit verschiedenen Geschichten. Ich denk, das ist
eine Erscheinung der [...] großen Freiheit gewesen nach der Wende. Und des Findens. (Verwaltung II)
Ausstrahlung ist auch immer eine Frage von Fremdwahrnehmung und Zuschreibung durch
andere. Das, was Mitgliedern einer bestimmten Gruppe als heilig gilt, mag andern völlig
profan vorkommen. Und was Mitglieder einer Gruppe wertschätzen und was sie respektieren,
mag denjenigen, die nur ein Stück der Szenerie beobachten, fragwürdig erscheinen oder sich
ihnen ganz verschließen. Dabei gibt ein anderer Interviewpartner einen Hinweis darauf, was
an der besagten „Symbolfigur“ Besonderes gewesen sein mochte. So heißt es anschließend an
die Erzählung über Gewaltausbrüche gegenüber Angehörigen der Roten Armee, die in der
DDR durch Ausgang in Kontakt zur einheimischen Bevölkerung kamen:
Herr Fischer: [W]enn ich heute überlege, wer damals mit dort unten gestanden hat, dann ist da auch eine
Kontinuität in den Personalien zu erkennen. Also zum Beispiel Androsch, ein ehemaliger
stellvertretender Kreisvorsitzender der NPD, der war damals schon dabei genauso wie [Marcus] Müller.
Die waren dabei. Und, ja, nach der Wende gab es die, die als Prügelskins und Prügelfaschos verschrien
waren. Die waren damals alle dabei und haben sich mit den Russen geprügelt. Also das war schon
erheblich. Daß sich das schon in der Zeit rekrutierte, ist vielen gar nicht so bewußt gewesen,
letztendlich. (Stadtrat II)
Es sind sicherlich nicht nur die personellen Kontinuitäten, sondern auch der Umstand, daß
entsprechende Akteure durch erfolgreich eingesetzte Gewalt Prestige anhäuften und dieses in
der Organisierung wiederum gewinnbringend umsetzen konnten.63
Es sei an dieser Stelle festgehalten, daß mehrfach Interviewpartnerinnen und
Interviewpartner auf die Bedeutung der „sozialistischen Vorgeschichte“ für den Erfolg
rechtsextremer Strukturen nach 1990 hinweisen. Ferner wurde der Systemzusammenbruch
1989 angesprochen und somit Brüche in den Biographien sowie neue Dynamiken in den
62
Zu Rechtsextremismus in der DDR vor allem aus strafrechtlicher Perspektive vgl. Wagner, Bernd 1995:
Jugend – Gewalt – Szenen. Berlin.
63
Wir können hier von symbolischem Kapital sprechen im Sinne von Bourdieu, Pierre (1983): „Ökonomisches
Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital.“ In: Kreckel, Reinhard. (Hg) Soziale Ungleichheiten. Soziale Welt
Sonderband 2. Göttingen.
42
Identitätsprozessen, aber auch sanktionsfreie Räume, die für die Durchsetzung rechter
Orientierungsfolien mitverantwortlich gemacht werden.
Bezüge Nationalsozialismus
Bereits weiter oben verwies eine zitierte Interviewsequenz auf die Rolle von Eltern und somit
Familie bei der Aneignung und Reproduktion rechtsextremer Ideologie. Mehreren
Interviewpartnerinnen und Interviewpartnern war der Blick auf Familie und somit die Eltern,
aber auch die Großeltern wichtig, um Handlungen junger Leute rechts zu erklären.
Frau Baumgarten: [Schüler der Mittelschule] haben sich dann eben auch diese Plakate64 geholt. Die
haben sie dann hier oben hingeschmissen. Und da habe ich gefragt: „Wer ist denn das bei euch? Ist das
dein Vati?“ - „Nein, mein Opa.“ Also daß die Anleitungen von der älteren Generation kriegen. (Stadtrat
I)
Hier sind Vertreter der älteren Generation angesprochen, die Jugendliche zu Handlungen
motivieren oder aber deren Handlungen legitimieren. In eine ähnliche Richtung geht folgende
Beleggeschichte.
Herr Krüger: Wir fahren jedes Jahr nach Spanien, ins Baskenland. Wir fahren jedes Jahr nach
Schweden. Ja, wir hatten jahrelang mit Argentinien zu tun. Israel, waren wir zweimal. Es fahren aber
immer nur die, die es eigentlich nicht nötig hätten, sage ich mal, nach der politischen Bildung. Da
fahren die hin, die eh schon sagen: „[Ja.] Paßt mir aber gut in den Kram. Das unterstreicht eigentlich
noch, was ich so denke.“ Und die andern kriegst du nicht mit hin. Es hat Situationen gegeben, da ist
mir fast die Gusche stehen geblieben und das will schon was bedeuten. [Da frag ich eine]: „Wie sieht’s
es denn aus? Hast du nicht mal Lust, mit nach Argentinien zu fahren?“ Kommt die [an und sagt]: „Ich
hätt’ schon Lust mitzufahren, aber [da] muß man doch ´n Gast aufnehmen.“ Ich sag: „Na, wenn du da
bist, schläfst du in ´ner Gastfamilie. Und wenn der herkommt, schläft der bei dir.“ - „Tja. Kann keen
Gast uffnehmen.“ Ich sag: „Wie? Du wohnst wohl Wurzen-Nord, Neubauwohnung? Geht schlecht,
drei vier Wochen dann, ne?“ – „Nee“, sagt se: „Wir ham ´n ganzes Gehöft. Wir ham Zimmer ohne
Ende, aber der Opa lebt noch und der hat gesagt: Das Viehzeug kommt mir ne ins Haus.“ – [...] Da war
ich sprachlos. (Bildung I)
Der hier geschilderte Schock des Erzählers ist verständlich. Denn „das Viehzeug“ ist zum
einen eine absolut menschenverachtende und rassistische Stigmatisierung von „NichtDeutschen“. Zum anderen ruft dieses Schimpfwort Erinnerungen an Viehwaggons, mit denen
bekanntlich „Judentransporte“ nach Auschwitz realisiert wurden, wach. Somit steht der
Bezug zur NS-Zeit und zur Shoah im Raum. Die Geschichte noch einmal gelesen, wird
deutlich, daß es für die angesprochene Person nach Meinung des Erzählers gut wäre im
pädagogischen Sinne, sich einmal die Welt und somit die Fremde anzusehen. Denn offenbar
ist es ein junges Mädchen mit einer Affinität zu rechts. Diese Affinität (und es kann sogar
noch mehr sein) und die so geschilderte Wiedergabe von Opas Worten lassen die düstere
Vermutung zu, daß sich das junge Mädchen in ihren Ansichten und ihrer Haltung positiv in
einem wichtigen sozialen Feld, nämlich Familie, widerspiegeln kann. Es kann aber auch sein,
daß besagtes Mädchen einfach nur als „Normalokid“ gilt, aber jeglicher Widerspruch gegen
Opa schwierig ist. Denn Opa kann zweierlei Autorität verkörpern: als Zeitzeuge der NS-Zeit
eine ideologische und eine sozial begründete als das Oberhaupt der sich um das Gehöft
organisierenden Familie. Es kann noch eine dritte Autorität dazukommen, eine
64
Wahlkampfplakate einer etablierten Partei.
43
innerpsychisch begründete: Mein Opa ist schon so alt. Dem darf ich jetzt nicht wehtun. Denn
vielleicht stirbt er ja schon morgen.
Das Beispiel eben verdeutlichte recht anschaulich, wie sich in unseren Tagen ein über die
Familie verwirklichter Bezug zur NS-Zeit darstellen kann. Diese Problematik beschäftigt
auch andere Interviewpartner, beispielsweise auf Nachfrage hinsichtlich Ursachen von
Rechtsextremismus.
Herr Weinblatt: [Die] überkommenen Denktraditionen von Erwachsenen. Da merke ich in Wurzen
schon, daß viele so ... Na ich kann das jetzt nur von meinem Opa sagen. Die Juden waren halt die Juden
und die Juden sind mit Vorsicht zu genießen. Das hatte der noch drin aus seiner HJ-Zeit. Das ging auch
nicht raus, obwohl er den Krieg und alles furchtbar fand. Aber solche Sachen, die setzen sich, denke ich,
über Generationen fort. Und dann ist es immer ganz leicht, auf andere zu schimpfen [...]. (Kirche II)
Der Interviewte präsentiert das, was in dem Beispiel oben aufgrund der drastischen
Dimension noch wie eine Ausnahme wirken mochte, als verallgemeinerbares Phänomen: Die
Denkhaltung der älteren Generationen kann rechtem Denken und Handeln Sinn verleihen
oder / und Legitimation. War im Beispiel oben noch eine Assoziation (Vieh - Waggon Auschwitz) nötig, so wird hier direkter auf Antisemitismus hingewiesen. Interessant ist
dabei, daß der Interviewte selbst noch aktiv versucht, sich diesem Schatten der
Vergangenheit zu entziehen. Darauf deutet die Erzählweise. Denn die Verallgemeinerung
von Beobachtungen bricht abrupt ab, und der eigene Opa rückt in den Mittelpunkt. Die
Auseinandersetzung mit einem Familienmitglied ist vielleicht noch nicht abgeschlossen.
Wir sahen und kommentierten hier drei Beispiele, die durch die Interviewten als Ausdruck
für einen Zusammenhang zwischen Erscheinungsformen modernen Rechtsextremismus und
familiär kommunizierten Bezügen zum Nationalsozialismus interpretiert wurden. Dabei
werden drei Ebenen dieses komplexen Problemzusammenhangs deutlich: Erstens ist da die
gesellschaftliche Ebene und die implizite Kritik der Interviewten dahingehend, daß unter den
gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen bislang keine hinreichende Aufarbeitung der NSZeit stattgefunden habe, was Privatpersonen immer wieder Raum für eigene Deutungen des
Dritten Reiches läßt. Erinnert sei an eine Passage weiter oben, in der ein Interviewpartner
ausdrücklich die „einseitige“ DDR-Geschichtsaufarbeitung kritisierte. Die zweite Ebene, um
die es hier geht, ist die soziale, wobei das Erzählte auf Hierarchien in der Familie verweist.
Die dritte Ebene ist die psychosoziale. Und es ist vielleicht gerade diese zuletzt genannte
Ebene bzw. die hier wirkenden Mechanismen von Tabu, Schuld und Verantwortung, die eine
kritische Auseinandersetzung mit dem Thema NS-Zeit erschweren.
5.2.4. Rechtsextremismus ein Jugendproblem?
Nach einer Studie über fremdenfeindliche Gewalt junger Menschen von Heitmeyer & Müller
(1995) liegt in der Bundesrepublik das Durchschnittsalter bei Gewalttätern
(Körperverletzung, Landfriedensbruch, Sachbeschädigung, Brandstiftung etc.) bei 18,5
Jahren, wobei die Täter zwischen 14 und 35 Jahre jung sind. Das Durchschnittsalter bei
sonstigen Straftaten mit rechtsextremistischem Hintergrund (Volksverhetzung,
Propagandadelikte) geben die Autoren mit 22,5 Jahren an, wobei die Täter zwischen 15 und
44
70 Jahre alt seien und der Anteil der über fünfundzwanzigjährigen deutlich höher sei als bei
den Gewaltstraftätern.65 Diese Erkenntnis deckt sich weitgehend mit dem, was die von uns
interviewten Frauen und Männern aus eigenen Beobachtungen und Erleben oder aber vom
Hören-Sagen über Akteure von rechts erzählen. Dies belegt eine Vielzahl der bisher unter
verschiedenen thematischen Stichworten hier präsentierten Interviewpassagen: Immer wieder
ging es um Jugendliche, junge Menschen, Schüler etc. Dabei wurde zum Beispiel die Suche
nach Identität als für eine bestimmte Lebensphase, nämlich Jugend, typischer Prozeß
dargestellt.
Herr Jonas: Also, ich habe das Gefühl, daß grundsätzlich bei Jugendlichen die Suche nach Sicherheiten
eine Rolle spielt. [...] daß sie sagen, wir wollen was, woran wir uns halten können [...] Woran wir
unsere Identität festmachen können. [...] was uns definiert. Wo wir sagen können, das sind wir. Und
[...] da denke ich, das sind oft Negativdefinitionen. (Kirche I)
Wird hier mit dem Verweis auf die Suche nach Sinnkonstruktion Jugendlichen noch eine
aktive Rolle und somit Ausgestaltung von Identitätsprozessen eingeräumt, stellen, implizit
oder explizit, andere Interviewte die aktive Rolle anderer Personen in den Vordergrund.
Frau Lehmann: Und Kinder, junge Menschen sind ja sehr verführbar. Das ist ganz einfach so. In
jegliche Richtung. (Bildung II)
Frau Schönfelder: [R]echte Orientierung, das ist eben, sich zuerst orientieren an Klamotten, sich
orientieren, in bin jetzt mit drin, und die Freunde. [...] Die brauchen doch dann auch ´ne Bestätigung.
Und wir vergeben uns doch eine ganze Menge, wenn wir die nicht vorher, bevor die von solchen
Rattenfängern eingefangen werden, auffangen. (Soziale und rechtliche Beratung II)
Im ersten Zitat werden Kinder und Jugendliche als schwach beschrieben, was sie, vielleicht
mehr als Erwachsene, auch sind. Schwäche bedeutet Verwundbarkeit. Diese würden sich
bestimmte (erwachsene) Akteure (Ideologen?) zunutze machen. Das zweite Zitat expliziert
die „Rattenfänger“. Erst wird die Suche nach Identität, die im Absatz oben einem
Interviewten noch sehr von Bedeutung war, herunter gebrochen auf Äußerlichkeiten und
jugendtypische Gruppenprozesse. Und dann kommen diejenigen, die mit dem Angebot
rechter Ideologie Sinn stiften. Dies alles wirft einige Fragen auf: Werden Jugendliche
fremdbestimmt? Würden nicht, die Dinge so betrachtet, gesellschaftliche
Rahmenbedingungen und Konflikte ihre Erklärungskraft verlieren? Ist Sozialisation nicht ein
gesamtgesellschaftlich strukturierter Prozeß? Und welche Funktion erfüllen Erklärungen,
nach denen junge Menschen wenig Handlungskompetenz und somit auch Verantwortung
besitzen? In den Interviews fanden wir das Absprechen von Handlungskompetenz in der
Argumentation auch noch in weiter zugespitzter Art und Weise.
Herr Neumann: Für Extremismus gibt es ja ne Grundlage. [...] Der Extremismus basiert auf Dummheit.
Weil, [...] ohne diesen Mob wäre der nicht möglich. Einfach in der Form, daß er sagen könnte, er könnte
gefährlich werden. Klar ist, es gibt immer eine gewisse Schicht von Intelligenz, die auch im
Extremismus eine Rolle spielt oder ganz besonders den Mob anstiftend. Denn ohne die würde es nicht
funktionieren.
Frage: Was ist das, der Mob? Kann man das noch mal deutlicher machen?
Herr Neumann: Ja, also das sind diese Mitläufer. Also die, die sich jetzt in Schulung den Vorsagern
unterwerfen. Und dann einfach nach ein paar Attacken oder nach ein paar Jahren sind die dann [...] der
Überzeugung, daß die Jungs dann recht haben. (Jugendsozialpflege I)
65
Heitmeyer, Wilhelm & Müller, Joachim 1995, a.a.O., S. 41f.
45
Extremismus / Rechtsextremismus funktioniere also so, daß wenige aus der Intelligenz einen
unwissenden, willfährigen und unterwürfigen „Mob“ zu Ideologie und Taten „anstiften“,
welche wiederum gesellschaftlichen Normen widersprechen würden. Neben dem Hinweis
auf gruppendynamische Prozesse (Rolle von „Attacken“), findet hier eine Abgrenzung in
zweifacher Richtung statt: Zum einen weiß der Interviewte um die Verwerflichkeit rechter
Ideologie und wird ihr deshalb nicht zusprechen. Zum andern sieht er sich auf der Seite der
Gebildeten und Aufgeklärten, würde also nie rechten Anstiftern zum Opfer fallen. Allerdings
wird auch deutlich, daß der Interviewte in der Tradition der bürgerlichen Aufklärung samt
ihrer (eben auch kommunistisch tradierten) Spielarten argumentiert. Denn er läßt die
Überzeugung erkennen, daß Massenbewegung eine intelligente Führung und somit Anleitung
brauche. Damit aber anonymisiert und entindividualisiert er die Handelnden. Die Frage ist:
Wer ist dann für deren Handeln verantwortlich?
In einigen Interviews wird ein Zusammenhang zwischen rechter Jugendgewalt und
Freizeitausgestaltung thematisiert und auf Problemstrukturen hingewiesen.
Herr Schumann: Daß gerade Jugendliche in dem Alter, die natürlich vielfach Randale machen wollen,
[...] dann irgendwelchen Sprücheklopfern aufsitzen. Sie haben wenig Perspektive. Da kommt jemand,
der ihnen alles Mögliche an Spaß und, was weiß ich nicht alles beschert. Und da laufen die hinterher.
(Wirtschaft I)
Frau Fröhlich: [B]evor sie zu Hause rumgammeln, treffen sie sich dann irgendwo mit Jugendlichen,
mit Gleichaltrigen und mit Gleichgesinnten. Und irgend welche Aktivitäten unternehmen sie ja doch
gemeinsam. Das denke ich schon. Und es gibt vielleicht auch zu wenig Angebote für die Jugendlichen.
[...] im Freizeitbereich ist zu wenig da für die Jugendlichen. (Erwachsenenbildung I)
Die Ausgestaltung der Jugendphase ist angesprochen. Dabei wird ein Zusammenhang
zwischen „Randale“ von rechts und Defizitstrukturen im staatlich verantworteten
Freizeitangebot vermutet. Und wieder treten Akteure auf, die gezielt da ansetzen würden, wo
Staat, Familie und Schule nicht hinreichend präsent zu sein scheinen.
Frau Fröhlich: Ja, mit Menschen können sie umgehen. Die wissen auch sich auf die verschiedenen
Typen einzustellen, also wo ich der Meinung bin, beeinflussen können sie die. Und mit der Zeit, immer
die gleichen Reden und Floskeln. Die können schon beeinflussen, so daß die denn auch dort bei Laune
gehalten werden und immer wieder hingehen. (Erwachsenenbildung I)
Denjenigen (erwachsenen) Akteuren, die hier wie Anleiter wirken, werden psychologisches
Wissen und pädagogisches Geschick, Handlungskonzepte und Einfluß zugeschrieben.
Da immer und immer wieder beim Thema Rechtsextremismus junge Akteure im Fokus
standen, versuchten wir, die Interviewpartnerinnen und Interviewpartner auch zu direkten
Positionierungen zu bewegen.
Frage: Es gibt ja die weit verbreitete Annahme, daß Rechtsextremismus nur ein Jugendproblem ist ...
Herr Berger: Nein.
Frage: Das würden Sie anders sehen?
Herr Berger: Es gibt auch ein paar Ältere, wie gesagt. Wieviel das sind, das ist schwer zu sagen.
(Stadtrat I)
Der Interviewpartner bezieht sich auf eine früher getätigte Aussage bezüglich des NPDStadtrats Marcus Müller und, seines Nachfolgers, Wolfgang Schroth. Die Frage nach der
Quantifizierbarkeit erwachsener Akteure läßt vermuten, daß auf der latenten
Bewußtseinsebene Rechtsextremismus eher als Jugendproblem existiert. Dies entspricht,
46
zumindest dann, wenn es um gewalttätige Straftäter von rechts geht, auch dem, was Polizei
im professionellen Alltag erlebt und was sich statistisch auch belegen läßt.
Herr Steinmetz: Es sind oft Jugendliche [...], die keine Perspektive haben oder auch nicht aufgezeigt
bekommen. Wo auch das Elternhaus nicht funktioniert, die Jugendlichen allein gelassen sind mit sich
[...] Ich will sagen, [wo] die ganzen gesellschaftlichen Normen nicht mehr vorhanden sind. [...] wo die
sich eben selbst überlassen sind und selbst [etwas] mit dem Tag anfangen wollen. Und dann flüchten die
sich in dieses Gedankengut rein. (Polizei I)
Rechtes „Gedankengut“ als einen Rettungsanker darzustellen, klingt sehr dramatisch. Dabei
kann bekanntermaßen Flucht auch eine Strategie sein, in unsicheren Zeiten Sicherheit
herzustellen. Hier wird der Gegensatz funktionierendes Elternhaus versus Jugendliche allein
und sich selbst überlassen aufgemacht. Steckt dahinter die Annahme, daß nicht
beaufsichtigte Jugendliche potentielle Straftäter sind? Außerdem stellt sich die Frage, ob
rechte Ideologie und damit verbundener Habitus wirklich ein Bruch mit den „ganzen
gesellschaftlichen Normen“ darstellt. Dies bestreitet eine andere Interviewpartnerin.
Frau May: Mir ist klar, daß irgendwie Jugendliche häufiger reagieren auf die gesellschaftlichen
Probleme. Also weil die noch nicht im Arbeitsleben stehen, keine Familie haben und sowieso öfter auf
der Straße sind als andere Menschen. Von daher ist es kein Jugendproblem, sondern ein allgemeines
Problem, wo die Jugendlichen vielleicht an vorderster Front stehen, kann man so sagen. Also
Jugendproblem heißt ja, die müssen erst erwachsen werden und dann ist alles weg. Aber dieses
rechtsextremistische Gedankengut und der Nährboden. Also die sind die auf der Straße, die das
vollstrecken, weil die alten Papis das nicht mehr können, körperlich. Aber diese ganzen Strukturen, daß
die Eltern es zum Beispiel auch gut finden, was die Jugendlichen machen. Also das zeigt ja, daß es kein
Jugendproblem ist, also wenn jemand Ausländer schlägt und die Eltern das gut finden. (Soziale und
rechtliche Beratung II)
Mit „nicht im Arbeitsleben stehen, keine Familie ... und öfter auf der Straße“ werden hier
auffällige Charakteristika genannt für die Ausgestaltung der Lebensphase Jugend. Und wieder
geht es um familiale Strukturen, in denen Bedeutungsinhalte verhandelt werden, die
Schnittstellen zu rechtsextremer Ideologie aufweisen, wenn nicht gar dieser entsprechen. Aber
nicht nur Eltern stehen in der Kritik, sondern Erwachsene allgemein.
Frau May: [E]in Asylheim wird überfallen durch Jugendliche, die mit ´m Regionalzug anreisen, in der
Tankstelle Benzin kaufen, aber das Öl vergessen, weshalb ihre Molotowcocktails, die sie an die Wand
werfen, auch nicht richtig losgehen. Da offensichtlich auch ´n Wachmann da ist, der das Ganze nicht
sonderlich komisch findet und nicht der Meinung ist, daß er da jemand rufen müßte. Die Dinger
brennen ab und die fahren mit dem Regionalzug wieder nach Hause, ohne daß irgend ´ne Polizei
alarmiert wird, [w]eder das Tankstellenpersonal, noch das Wachpersonal irgendwie auf die aufmerksam
wird. Und erst durch die Ermittlung der SOKO Rex das rauskommt. [...] Also wenn jemand das normal
findet, daß jemand ´n Molotowcocktail gegen ein Haus wirft und nicht denkt, daß er die Leute vielleicht
mal festhalten müßte, dann kann man schon davon ausgehen, daß er in gewisser Weise ein fehlendes
Problembewußtsein hat. (Soziale und rechtliche Beratung II)
Was hier bei allem Ernst sehr ironisch skizziert wird, wirft mehrere Fragen auf: Sollten die
hier angesprochenen Erwachsenen (Wachmann, Tankstellenpersonal, Bahnpersonal) die
kollektive Gewalt der Jugendlichen fürchten und sich deshalb zurückhalten? Billigen die hier
angesprochenen Erwachsenen das Verhalten der Jugendlichen? Nehmen sie es billigend in
Kauf, weil sie unabsehbare Konsequenzen fürchten? Unterlassen sie es zu handeln, weil die
Distanz zur angesprochenen Opfergruppe (Flüchtlinge) groß genug ist? Oder wissen die
angesprochenen Erwachsenen schlichtweg nicht, was sie in der Situation anders machen
könnten? Fehlen ihnen die Handlungsoptionen? Und wenn ja, was kann Ursache dafür sein?
47
Wenn wir, hypothetisch, unterstellen wollten, daß es ein Einverständnis zwischen den
gewaltsam handelnden Jugendlichen und den nicht-handelnden bzw. die Tat ermöglichenden
Erwachsenen gibt, wie kommt es dann, daß sich im allgemeinen eher junge Menschen als
rechts outen, und weniger ältere?
Herr Jonas: Also unter Erwachsenen würde kaum jemand sich als rechtsradikal einschätzen oder als
Nationalist nicht mal. Und doch, denke ich, es gibt viele, die mit so einem Gedankengut arbeiten, [...]
die sich identifizieren damit. Also die das vertreten.
Frage: [...] Warum würde man das als Erwachsener nicht?
Herr Jonas: Es ist nicht opportun. Also, es würde dem Bild [...] des tüchtigen Wurzeners, der sich seine
Existenz geschaffen hat, [...] widersprechen. [...] Die spüren [...], hier gibt es Reibungsflächen, aber
diese Mühe mache ich mir nicht zu klären, was bin ich denn nun oder wofür stehe ich ein. Das wird
nicht nur bei Katholiken so sein. Das wird auch bei normalen Wurzenern so sein. Natürlich sind wir
weltoffen. Natürlich sind wir Europäer. Deutsch. Weiß nicht, ob die das mit Stolz sagen würden. Aber,
Sachsen beispielsweise. Das mag noch ein Identitätsfeld sein. Und Sachsen sind gemütlich. Das ist so
das Selbstbild. Und da paßt natürlich der Nationalismus und die aggressive Haltung nicht rein. (Kirche
I)
Brauchen die Erwachsenen Symptomträger? Fragen von Prestige und Status, von Identität
und präsentiertem Selbstverständnis stehen im Raum. Und dies sind Fragen, die bei Analyse
des gesellschaftlichen Phänomens Rechtsextremismus berücksichtigt werden sollten. Es sind
multiple Identitäten, die sich in der sozialen Interaktion herausbilden, sozial wirksam sind
und jeweils neu verhandelbar. Dies gilt nach unserem Dafürhalten für Jugendliche wie für
Erwachsene und lässt auch die Frage zu, ob nicht normatives Verhalten bei Erwachsen
ausgeprägter ist als bei Jugendlichen, da diese bekanntlich im Laufe ihrer Sozialisation sich
auf die Suche nach Identität begeben und in diesem Prozess die Normen der
Erwachsenenwelt in Frage stellen.
5.2.5. Extremismus: Das Problem rechts = links
Mehrere von unseren Interviewpartnerinnen und Interviewpartnern erzählten und
argumentierten zum Themenfeld Rechtsextremismus dahingehend, daß rechte (rechtsradikale
/ rechtsextremistische) Ideologie und Gewalt einen Gegenpol habe, nämlich linke
(linksradikale / linksextremistische) Ideologie und Gewalt. Beispielhaft sei ein Satz zitiert,
den ein Interviewpartner auf unsere Frage bezüglich einer möglichen Beratung und
Unterstützung kommunaler Akteure durch Partnerstädte in Fragen Rechtsextremismus Mitte
der 90er Jahre äußerte.
Herr Meinert: Die konnten uns da nicht helfen in dieser Beziehung, was die Auseinandersetzung jetzt
mit rechts oder links anging. (Erwachsenenbildung III)
Auseinandersetzung mit rechts oder links. Damit ist das Problem skizziert, mit dem sich
kommunale Akteure im fraglichen Zeitraum meinten, konfrontiert zu sehen. Diese
Wahrnehmung kann auch auf einer eher latenten Bewußtseinsebene präsent sein.
Herr Holm: Also festgebrannt haben sich die ganzen Diskussionen um Rechtsextremismus in Wurzen.
[...] daß das Problem, negativ in den Schlagzeilen war. [Daß es] eine ganze Menge Ausschreitungen und
Aktivitäten von Rechten, zum Teil auch NPD und so weiter [gab] und diese ganze [...] Entwicklung, die
dort gelaufen ist. Zum Teil, sagen wir mal, unglückliches Agieren der politischen Ebene im Umgang
damit. Aber auch diese Auseinandersetzungen, die sich daran angeschlossen haben. Bis hin zu dieser
48
Demonstration66, die dann im Nachhinein [...] in Wurzen war, wo der Connewitzer Block hier mit
durchmarschiert ist. (Verwaltung I)
Die argumentative Kette hinsichtlich einer Entwicklung läßt sich wie folgt zusammenfassen:
Medien, die in spezifischer Weise Öffentlichkeit schaffen, dann rechte Akteure wie NPD und
ferner Akteure auf der kommunal verantwortlichen politischen Ebene. Und schließlich ist da
der Connewitzer Block, der in Sachsen wohl als Sinnbild für linke Akteure gilt.67 Die
Parallelisierung konnte auch erfolgen in bezug auf konkrete Formen der Kommunikation bzw.
der vermeintlichen Ablehnung von Kommunikation.
Herr Berger: [M]anchmal sind die Leute, vor allen Dingen, wenn sie dann auch noch auf Gewalt setzen,
auch nicht gerade interessiert. [...] Das sind ja oft eher Eigentore. Was haben wir denn da gekonnt? Das
gibt eigentlich immer noch mal den Rechten Argumente in die Hand, die denen noch helfen. [...] denn
dem normalen Bürger gefällt ja Krakeelerei [und] Gewalt [...] auch nicht. (Stadtrat I)
Grundsätzlich läßt sich alles vergleichen, allerdings kommt es auf das zu vergleichende Dritte
an. Hier sind es Handlungsformen, die ins Feld geführt werden: links und rechts weisen dabei
Parallelen auf, und mehr noch, sie spielen sich angeblich gegenseitig die Argumente in die
Hand. Das Zitat verweist auf die Annahme, nach der sich gewaltsames Handeln und
diskursives Ausdrücken von gesellschaftlichen Widersprüchen gegenseitig ausschließen
würden. Gleichzeitig wird mit „dem normalen Bürger“ eine Mitte konstruiert, in der
„Krakeelerei“ und gewaltsames Handeln als normwidrig gelte.68 Um die Mitte zwischen den
Polen rechts und links geht es auch anderswo, und zwar im Kontext Ursachendeutung.
Herr Krüger: Ich denke, bei einer Unzufriedenheit, bei einer allgemeinen Unzufriedenheit, wo immer
die Ursachen dafür liegen mögen, ist es ja relativ einfach, extremistisches Gedankengut von da und
von da in die Köpfe reinzukriegen oder eine Annäherung an dieses Gedankengut. Und dort sehe ich die
Hauptursache, hier in der Region, Ostdeutschland oder Muldentalkreis, wie man sagen will. Dass die
allgemeine Unzufriedenheit zur Aneignung von derlei Gedankengut geführt hat oder noch führt. [...]
Denn es ist ja nicht nur hauptsächlich zu beobachten ... Ihr Auftrag ist es, über den Rechtsextremismus
zu forschen. Links ist es genauso. Es geht in das linke Spektrum, geht genau in die Richtung ab. Das
Bedauerliche ist halt, daß die, die in der Mitte stehen, immer weniger werden und daß die Polarisation
immer mehr zunimmt. (Bildung I)
Wieder geht es um den Zusammenhang von allgemeinen ökonomischen und politischen
Strukturproblemen auf der und extremistischen Orientierungsmustern als erklärende,
entlastende und handlungsleitende Antwort auf der anderen Seite. Die Frage ist, ob hier
tatsächlich empirische Realitäten Grundlage für die Konstruktion dieses
Bedeutungszusammenhangs sind.69 Aber kann es nicht auch so sein, daß wir es mit einer
hypothetischen Annahme zu tun haben, die sich konsequenterweise aus dem eigenen
Selbstverständnis als Akteur der „Mitte“ ergibt? Zu berücksichtigen ist, daß in dem Zitat
nicht nur ein Bedauern hinsichtlich der Möglichkeit des Verlustes von Stabilität und des
unaufhaltsamen Schrumpfens der „Mitte“ zum Ausdruck gebracht wird, sondern auch
66
Gemeint ist die bundesweit organisierte linke Großdemonstration in Wurzen am 16.11.1996.
„Block“ bezieht sich auf „Schwarzer Block“ und somit „Autonome“. Einen Connewitzer Block gibt es freilich
ebenso wenig wie einen Reudnitzer oder Gohliser Block.
68
Anmerkung: Wenn Gewalt so ablehnenswert ist, warum spricht die jährliche Polizeistatistik dann von so
vielen Fällen häuslicher und innerfamiliärer Gewalt? Gibt es akzeptierte und nicht akzeptierte Formen von
Gewalt? Oder ist ausschlaggebend, ob Gewalt in öffentlichen oder in nicht-öffentlichen Räumen stattfindet?
69
Diese Frage stellt sich insbesondere dann, wenn die Verfassungsschutzberichte der letzten Jahre sowie die
Ergebnisse der Kommunalwahl vom Juni 2004 berücksichtigt werden.
67
49
tatsächlich Angst anklingt. Es geht, so scheint es uns, um die Angst, die Normen
repräsentierende Mitte und damit auch die eigene Identität nicht mehr verteidigen zu können.
Liest sich das Zitat oben noch so, als sei eine Polarisierung, ob nun rechts oder links,
Ausnahmeerscheinung, weil auf konkrete Unzufriedenheit bezogen, argumentiert ein anderer
Interviewpartner, daß diese Polarisierung schlicht und einfach zum System dazugehöre.
Herr Rudolfs: Alle Formen von Extremismus sind eigentlich immer gesellschaftsimmanent, das heißt
die Gesellschaft wird immer an irgend einer Stelle mit extremistischen Tendenzen leben müssen. Aber
Sicherheit ist das Entscheidende. Man kann natürlich nicht sagen, das gehört nicht dazu. Im Moment
zum Beispiel, wo viele Jugendliche keinen Arbeitsplatz finden, keinen Ausbildungsplatz finden, ist
völlig klar, daß diese frustriert sind. Und das von denen ein Teil auch dann so reagiert und sagt: Wir
wenden uns gegen alles, was in diesem Staat passiert. Wir wenden uns gegen Demokratie, weil sie
angeblich nicht funktioniert. Das ist auch klar. [...] Und daß sie sich dann des Mittels des Extremismus,
des Rechts- oder Linksextremismus bedienen, das gibt es dann eben. Und das hängt auch mit nicht
ausreichender Kenntnis, mit nicht ausreichender sozialer Entwicklung, mit der Prägung zusammen.
(Erwachsenenbildung II)
Sicherheit scheint hier in einem doppelten Sinne von Bedeutung zu sein: So geht es um
ökonomische und soziale Sicherheiten. Denn politischer Extremismus als Orientierungsfolie
bestehe ohnehin in der (demokratischen) Gesellschaft und sei Ausdruck von mangelnder
Aufklärung und von Problemen in der Sozialisation, werde aber nur dann tatsächlich
gefährlich, wenn sich sozialökonomische Widersprüche zuspitzten. Und hier kommt
Sicherheit im Sinne von Gewährleistung ordnungspolitischer Standards, die das
demokratische System zu schützen haben, ins Spiel.
Es stellt sich die Frage, welche Funktion eine Parallelisierung von rechts und links zukommt.
Geht es darum, sich selbst als zur normativen Mitte zugehörig zu präsentieren und von
anderen abzugrenzen? Geht es darum, durch eine Parallelisierung und Fokussierung auf junge
/ jugendliche Akteure Rechtsextremismus und (implizit) Linksextremismus zu entpolitisieren?
Und daran anschließend: Ermöglicht eine solche Sicht Handhabbarmachung des Problems
und Orientierung auf pädagogische Handlungsoptionen? Wie auch immer, eine
Parallelisierung rechts gleich links nehmen nicht alle unsere Interviewpartnerinnen und
Interviewpartner vor. Vielmehr findet sich auch die begründete Ansicht, nach der rechts
besonders problematisch sei.
Herr Schumann: [I]n unserer Gesellschaft halte ich den Rechtsradikalismus für eine permanente,
latente Gefahr, [...] weil [er] grundsätzlich das System akzeptiert. Er stellt sich nicht gegen das System,
sondern er versucht, das System zu nutzen, um es dann für seine Zwecke in irgend eine Richtung zu
schieben.. [...] Der Kommunismus war immer das komplette Gegenteil. Der wollte alles, alles auf den
Kopf stellen. [...] von seinen Grundthesen lief er sicherlich mehr gegen die Bedürfnisse des kleinen
Mannes. Der Rechtsradikalismus, der tastet das nicht an. Der sucht sich irgend welche Minderheiten,
auf die eingeschlagen werden kann. (Wirtschaft I)
Geht (bzw. ging) es linksextremen Akteuren um einen gesamtgesellschaftlichen Umbruch, so
können sich rechtsextreme („rechtsradikale“) Akteure positiv auf die sozialökonomische
Strukturiertheit der Gesellschaft beziehen, lautet die Aussage. Dabei weist der
Interviewpartner auch auf einen alttradierten Mechanismus zur vermeintlichen Lösung von
Widersprüchen hin, nämlich die „Sündenbockthese“.
Abschließend zu diesem Unterkapitel sei hier folgendes festgehalten: Die von uns
interviewten Frauen und Männer betrachteten Rechtsextremismus aus verschiedenen
Perspektiven, d.h. aus sozialökonomischer, psychosozialer, geschichtsbezogener und
50
allgemein gesellschaftspolitischer. Berufs- oder tätigkeitsbezogene und alltagsweltliche
Erfahrungen wurden reflektiert. In jedem Fall argumentierten sie als Erwachsene und an
verschiedenen Stellen entstand der Eindruck, daß der damit verbundene eigene soziale Status
wesentlich den Blick strukturiert. Deutlich wurde, daß es für die hier zitierten Frauen und
Männer nicht um eine rein theoretische Debatte geht, sondern daß sie nach Erklärungen
suchen, um das Problem zu verstehen und es handhabbar zu machen, und zwar für die
tatsächliche Praxis.
5.3. Optionen gegen Rechtsextremismus: Handlungen
5.3.1. Repressive und präventive Möglichkeiten
In diesem Unterkapitel soll es nun darum gehen, welche Handlungsoptionen zum Phänomen
Rechtsextremismus die von uns interviewten Frauen und Männer aufzeigten bzw. auf welche
Möglichkeiten ihre Aussagen verwiesen. Beginnen möchten wir mit staatlich organisierten
repressiven und präventiven Möglichkeiten.
Über die Einschätzung der NPD durch den Verfassungsschutz und das NPDVerbotsverfahren wurde oben bereits gesprochen. Mehrere der Interviewten bezogen sich
indirekt oder direkt auf das Verbotsverfahren.
Herr Steinmetz: Die NPD ist ´ne zugelassene Partei. Da können wir jetzt erst mal nicht umhin. Das muß
man auch so erkennen. [...] Daß die als rechtsextremistisch eingestuft werden, daran haben sich schon
höhere Institutionen die Zähne ausgebissen. (Polizei I)
Herr Rudolfs: Solange die NPD eine Partei ist, die sich in Deutschland an Wahlen beteiligen darf, muß
man das einfach mal so zur Kenntnis nehmen. [...] Es ist zwar ärgerlich, daß es so ist, aber alle
Versuche, die NPD zu überprüfen, haben letztlich zu einem negativen Ergebnis geführt. Das muß man
in einer Demokratie einfach mal zur Kenntnis nehmen. Und deshalb denke ich, daß man in einem
Parlament mit zwei Vertretern oder drei dieser Partei einfach leben muß. (Erwachsenenbildung II)
Beide Interviewpartner sehen das Problem recht pragmatisch: Ein Verbot wäre besser, aber da
es keines gäbe, sei sich damit abzufinden. Der Akteur aus dem Bereich Polizei wird weiterhin
lediglich das verfolgen, was strafrechtsrelevant ist. Und der Akteur aus dem Bereich
Erwachsenenbildung, der sich als Demokrat betrachtet, hat die Überzeugung, daß eine starke
Demokratie an einem rechten Rand nicht zusammenbriche. Diese Meinung teilen andere,
verweisen aber auf die in dem Zusammenhang notwendige Vernetzung von
Kernkompetenzen.
Herr Bäumler: Ich kenne die Dinge aus unseren wöchentlichen Beratungen mit unserer Wurzener
Polizei. Und da kann ich sagen, weiß ich, was los ist. [Ich weiß Bescheid] über die Dinge, die gemeldet
sind und auch die Dinge, die zum Teil nicht gemeldet werden. Wir haben da ja doch zu unterscheiden
zwischen Angelegenheiten, die zu einer Anzeige geführt werden und Geschichten, die zu keiner
Anzeige führen. (Verwaltung II)
Stehen hier noch Dinge im Vordergrund, die bereits strafverfolgt oder aber aus Gründen nicht
erfolgter Anzeige nicht verfolgt werden, so stellte sich für viele der Interviewten die Frage,
wie in Sachen Rechtsextremismus präventiv agiert werden könne. Dabei bewegten sich die
vorgestellten und tatsächlichen Präventionsmaßnahmen zwischen Abschreckung und
Aufklärung.
51
Herr Gerold: In Torgau. [...] also, dieses beklemmende Gefühl. Wenn man dort durch diese Schleusen
reingeht, das wäre für mich schon so ´n Gefühl, wenn man dort mal Jugendliche in einem frühen Alter
wohlbemerkt, nicht mehr mit sechzehn, sondern mit zehn oder zwölf reinführt, das könnte unter
Umständen einige [...] Mauern höher bauen, [...] überhaupt straffällig zu werden. [...] Und genau so
könnte ich mir vorstellen, daß mit Aufklärungsarbeit in der Schule dem ein Stückchen entgegengewirkt
werden könnte. (Stadtrat III)
Gefängnisbesuche für Kinder als Abschreckung? Wird durch solche rabiaten Maßnahmen
nicht eher eine thematische Auseinandersetzung verhindert? Wie auch immer, Aufklärung
passiert in den Schulen.
Frau Lehmann: Wir haben [...] einen Kooperationsvertrag mit der Polizeidirektion Grimma. [...] das
heißt, es gibt Veranstaltungen, die von der Präventionsabteilung dort mit unserer Schule gemacht
werden, entsprechend altersgerecht. Es geht also los mit Klasse fünf beim Ladendiebstahl und das sind
so Kleinigkeiten [...]. Und das natürlich bis zum Rechtsextremismus. Und bis die denn oben durch sind,
durchlaufen die alle dieses [...] Ausbildungsprogramm. [...] Und ich merke es dann eben besonders,
auch in Klasse neun, wenn ich da diesen Rechtskundeteil in Gemeinschaftskunde behandle [...] Die
kennen sich schon sehr gut aus. [...] Was ist ein Strafprozeß? Was ist ein Zivilprozeß? (Bildung II)
Auch hier stellt sich die Frage nach der Wirkung. Verhindert rechtliche und strafrechtlicher
Aufklärung wirklich, daß sich rechtsextreme Ideologie manifestiert? Das folgende Beispiel
verdeutlicht die Grenzen pädagogisch organisierter und staatlich gestützter Prävention:
Herr Weinblatt: Also, ich hab [...] fünf Klassen mit jeweils um die zwölf, dreizehn Schüler. Sind
Religionsunterrichtsklassen, ganz klein. Und ich hab ganz speziell in einer Klasse sechs Schüler
gehabt, deren Eltern NPD-Anhänger sind und die dann auch darüber, über die Eltern und den
Freundeskreis [...] in die rechte Szene rein geraten sind und auch das bekennen und die dann im
Religionsunterricht also gerade, wenn es um Judentum geht, relativ genau wissen, was sie sagen dürfen
und was nicht. Also, Antisemitismus ohne strafbar zu sein. Weil ich das auch sehr streng ahnde und da
aufpasse, daß so was nicht passiert. Also, das [sind] Sachen, wo man im Gespräch bleibt. (Kirche II)
Hier findet sich mit „Eltern“ und „Freundeskreis“ der Hinweis auf soziale Gruppen, die in
Konkurrenz stehen zu Schule und Staat. Und der Interviewpartner ist überzeugt davon, daß in
diesen Gruppen rechtsextremistische, hier konkret antisemitische, Ansichten kommuniziert
werden und den Jugendlichen erfolgreich vermittelt wird, was strafrechtsrelevant sei und
deshalb in Schule und öffentlichen Räumen nicht gesagt werden dürfe. Was Jugendliche
nicht dürfen, vermittelt aber auch Präventionsaufklärung. Nur, daß diese mit Sanktionen
droht, während wohl die „Aufklärung“ durch NPD-Eltern und Freunde das Individuum vor
Sanktionen schützen soll. Ein Dilemma. Es stellt sich die Frage, wie Präventionsarbeit durch
Schule und Staat so gestaltet werden kann, daß Jugendliche, die eine Affinität zu rechts
aufweisen, nicht in taktischem Handeln bestärkt werden. Das Zitat verweist auf eine
Möglichkeit: „Im Gespräch bleiben“. Statt nur Fehlverhalten zu „ahnden“ wird hier der Blick
auf Aushandlungsprozesse, die allerdings resolut und dominant auszugestalten sind, gelenkt.
5.3.2. Strafrechtliche Möglichkeiten
Bezugnehmend auf oben soll es hier um Möglichkeiten von individuellen Akteuren gehen,
die strafrechtliche Verfolgung von rechtsextremistischen Taten mit zu ermöglichen.
Bekanntermaßen steht die Polizei bei Wissen um eine Straftat unter Strafverfolgungszwang.
Dabei fällt es nicht jedem leicht, gegen mutmaßlich rechte Akteure eine Anzeige bei der
Polizei zu tätigen. Dies gilt insbesondere für kleinere Orte und Kleinstädte. So erzählt einer
52
der Interviewten davon, daß sein Sohn Opfer eines rechten Überfalls geworden ist und
beschreibt die individuell wahrgenommenen Probleme mit der Strafverfolgung.
Herr Holm: Und ich habe bewußt auch den ganzen Weg gesucht über Anzeige, über Untersuchung im
Krankenhaus, die ganze Sache Körperverletzung. Es ist dann von der Staatsanwaltschaft eingestellt
worden, das Verfahren, obwohl der Täter bekannt war. Und wegen Geringfügigkeit. Weil er nicht
vorbestraft war. Und ich habe mich mehrmals öffentlich zu diesem Vorgang geäußert, auch gegenüber
dem Sächsischen Innenminister, wo in Grimma erst jetzt wieder eine Konferenz war. [Ich] habe das
immer wieder öffentlich gemacht, weil es für mich, für eine Demokratie nicht akzeptabel ist, daß
Gewalttaten von Extremisten, egal ob die von der rechten oder linken Seite sind [...] wegen
Geringfügigkeit eingestellt werden und gleichzeitig der Staat in der Lage ist, Falschparker konsequent
bis zum Ende durch zu strafen. (Verwaltung I)
Der Erzähler verdeutlicht, daß er „bewußt“ die Straftat zur Anzeige gebracht habe. Dies zu
betonen scheint ihm äußerst wichtig, und der weitere Verlauf des Zitates begründet seine
Empörung über wahrgenommene Ungerechtigkeit in der Gesellschaft, konkret in Justiz und
Staat. So thematisiert der Interviewpartner die Bagatellisierung (rechts-)extremistischer
Straftaten. Straffreiheit für Täter mag bei dem Erzähler Angst auslösen oder dahingehend
verstärken, daß sich das Geschehene jeder Zeit wiederholen kann. Dem aber wolle er
bewusst und im Rahmen seiner Möglichkeiten entgegen wirken. Außerdem kann
angenommen werden, daß es in kleineren Orten als Großstädten immer problematisch ist,
Anzeigen gegen rechts vorzunehmen, weil zum einen grundsätzlich das Gewaltpotential und
somit die Konsequenzen nicht abzuschätzen sind und zum anderen die Söhne (und Töchter)
des Nachbarn sich als Täter (und Täterinnen) erweisen könnten, was wiederum zu
nachbarschaftlichen Verwicklungen führen kann. Das Wort „bewußt“ verbindet sich
vielleicht auch noch mit einem weiteren Aspekt, einem, vielleicht unbewußten, Grund:
Womöglich ist dem Erzähler erst durch dieses Erlebnis bewusst geworden, welche Gefahren
in der Bagatellisierung von rechtsextremen Gewaltdelikten für eine Demokratie liegen.
Auch eine andere Interviewpartnerin berichtet von Problemen bezüglich der individuell
angeregten Strafverfolgung. Um das folgende Zitat zu kontextualisieren, sei an eine längere
und kommentierte Interviewpassage zum Thema „Wahrnehmungen von Rechtsextremismus
– Gewalt als Regeln“ erinnert. Da ging es um einen Überfall auf eine Gruppe junger Leute zu
Silvester, bei dem ein vierzehnjähriger Junge verletzt wurde.
Frau Schönfelder: [W]ir haben unsern Sohn gefragt und haben dann auch gesagt: „Paß auf! Wenn wir
´ne Anzeige machen, das kann noch ganz heftig kommen. Das kann sein, daß das dann rauskommt,
und daß Leute bestraft werden, auch weil die sonst Dreck am Stecken haben.“ Und ich hab dann Angst
gehabt um meine Kinder, denn wenn man eine Anzeige macht und die bestraft, daß sie sich die dann
erst recht noch mal vornehmen[...] Und nun war es so, er hat tatsächlich niemanden erkannt. Aber wir
haben dann gesagt, wir machen die Anzeige[...] Denn, wehret den Anfängen! Und man soll sich auch
nicht verstecken. Aber es war halt ´ne Gewissensfrage. [B]eim Gericht in [Name der Stadt] hatten sie
dann zwei Jugendliche irgendwie gefunden. Und dann sollte mein Sohn aussagen. [...] Also, das ist, ich
will nicht absichtlich sagen, verschleppt worden. Aber einer, der gesagt hat: „Rennt, was das Zeug hält.
Die nieten jeden um, den sie kriegen!“ Der hat doch was erkannt! Und ob nun die andern Zeugen
nichts gesagt haben... Und unser Jüngster kannte den Burschen nicht, der das gesagt hat. So, aber die
andern hätten ihn gekannt. Also, es war so ´ne Verschwörung, wo man nicht so genau wußte, wer
wollte denn nun nicht, daß da was rauskommt. Ja, was […] von der Sache her passiert ist, die waren
zur falschen Zeit am falschen Ort. (Soziale und rechtliche Beratung II)
Wie auch schon in dem Beispiel oben erleben Eltern, daß das Bedürfnis nach Gerechtigkeit
nicht erfüllt wird. Dabei bestand sicherlich Hoffnung und Vertrauen in die Justiz. Wie auch
eine konkrete Nachfrage ergab, hatten sich die Eltern nicht einmal mittels Nebenklage
53
dahingehend abgesichert, daß das Verfahren zugunsten der Opfer beeinflußt werden kann. Wie
schon oben angesprochen, ist das Vornehmen einer Anzeige ein nicht leichter Schritt. Denn
geht es darum, Ängste zu überwinden, was die Erzählerin mit Hinweis auf Rache an den
eigenen Söhnen durch Akteure von rechts verdeutlicht. Die erlebte Ohnmacht und Hilflosigkeit
veranlaßt die Erzählerin zu der Annahme, Justiz und rechte Akteure seien irgendwie
miteinander verstrickt. Zu dieser Deutung mag sie kommen, weil sie davon ausgeht, daß es
nicht unbedingt in der Macht von Tatbeschuldigten oder von Zeugen stehe, Verfahren bei
Gericht zu „verschleppen“. Und diese Deutung drängt sich ihr vielleicht auch deshalb auf, weil
bereits der Überfall der Rechten auf die Gruppe von vierzehnjährigen Jungs, als „gezielt“ und
„geplant“ analysiert worden war. Auch ist hier darauf hinzuweisen, daß der Versuch, am
individuellen Einzelfall strafrechtliches Agieren gegen rechts zu befördern, wiederum politisch
begründet wird. Aber gerade mit dem Satz „Wehret den Anfängen“ gibt die Interviewpartnerin
einen Hinweis auf eine dritte Begründung für die Annahme einer „Verschwörung“: Mit
traditionell antifaschistischem Vorwissen Rechtsextremismus betrachtet, liegt die Verstrickung
von rechts mit Justiz nahe. Dies mag die eigene Hilflosigkeit verstärken und eine Opferhaltung
befördern. Wie auch immer, anhand von zwei Beispielen sollte verdeutlich werden, daß
individuelle Akteure Anzeigen rechtsextremistischer Gewalttaten für notwendig halten, solche
Anzeigen jedoch zum einen mit Gefahren verbunden sein können, zum andern nicht immer
zum erhofften Ergebnis führen mögen. Aber nicht nur Bürgerinnen und Bürger kritisieren die
Justiz, wenn es um die konsequente Verfolgung rechtsextremistischer Straftaten geht. Auch aus
Reihen der Polizei sind ähnlich Positionen zu hören.
Herr Steinmetz: Wo es eine gute Zusammenarbeit gibt von Seiten des Reviers, ist die
Staatsanwaltschaft Grimma als Außenstelle von Leipzig. Da gibt’ s absolut keine Probleme. [...] Aber
wenn der Ermittlungsrichter nicht mitgeht, war’s [...] das gewesen. [...] am Gericht scheitert auch der
Staatsanwalt. Aber (lachend) das kann nicht ich hier vom Revier beeinflussen. Das muß auf höherer
Ebene klar sein. (Polizei I)
Frust eines Polizisten. Hier werden aber auch engagiertes Handeln und klare Entscheidungen
auf politischer Ebene gefordert.
Was den Strafvollzug betrifft, so ist er kein Garant dafür, daß Akteure von rechts abschwören
bzw. als angepaßt einzustufende Individuen das Gefängnis verlassen. Dies entspricht auch
den Beobachtungen, die manch Interviewpartner macht.
Herr Fischer: [I]ch denke, daß viele wieder da sind, viele noch dabei sind und jede Menge neu rekrutiert
werden von rechter Seite. Ich denke, daß die ganze Blood & Honor-Bewegung jetzt langsam wieder aus
dem Knast kommt, mehr Konzerte organisiert werden [...] Und es ist jetzt tatsächlich so weit, in der
Rathenau-Straße gibt es wieder ein [Zentrum]. Dort probt schon die Band White Destiny. (Stadtrat II)
Auch nach unserem Dafürhalten sollte es nicht nur um eine effizientere Ausgestaltung von
Sanktionsspielräumen gehen. Vielmehr, und auch dies wurde in den Interviews
angesprochen, ist der Staat insbesondere da gefragt, wo einzelne Akteure aus rechtsextremen
Zusammenhängen diese verlassen wollen, aussteigen wollen. Möglichkeiten und Grenzen
dieser Perspektive wurden in der Vergangenheit auch in Wurzen beobachtet.
Herr Krüger: Daß sie gesagt haben: „Ich mach jetzt einen Schnitt mit meiner Vergangenheit“. Das hat
es auch gegeben. [...] ein Problem ist das schon. Wenn wir vielleicht was erreicht haben oder die Eltern
was erreicht haben, so leicht kamst du da auch nicht wieder raus. Das waren schon viele. Du konntest
wirklich nicht durch Wurzen laufen, ohne einem zu begegnen oder mehreren, die der Szene
54
angehörten. Und damit war ein Ausstieg auch nicht so leicht möglich, auch wenn sie es vielleicht gerne
gewollt hätten, der eine oder andere. (Bildung I)
Vor dem Hintergrund dessen, daß viele der interviewten Frauen und Männer im
gegenwartsbezogenen Kontext Akteure rechts immer wieder von „Mitläufern“ sprachen, d.h.
solchen (jungen) Menschen, die nach außen keine dichte Identifikation mit
Rechtsextremismus aufweisen würden, scheint uns die Frage des Aussteigens noch immer
von Relevanz zu sein
5.3.3. Pädagogische und sozialpädagogische Möglichkeiten
Vielfach wiesen die interviewten Frauen und Männer auf Möglichkeiten pädagogischer und
sozialpädagogischer Intervention hin, die sich in bezug auf das Thema Rechtsextremismus
anbieten würden. Dabei sprachen sie aus eigenem Erleben oder argumentierten theoretisch.
Frau Lehmann: Schritt Nummer eins [ist], daß man nicht nur Stundenhalter, sondern sehr aufmerksam
ist. [...] daß man Zwischentöne hört, und daß auf die eine oder andere Bemerkung, die vielleicht
bewußt oder unbewußt gemacht wird, [reagiert wird] und [man] sich darum Gedanken macht und im
Kollegium ins Gespräch kommt. (Bildung II)
Eine erste Handlungsoption liege also darin, gut zuzuhören. Das ermögliche nicht nur
offensichtlich Gesagtes zur Kenntnis und ernst zu nehmen, sondern auch Hinweisen auf eher
latente Bewusstseinsinhalte nachzugehen. Das Kollegium könne dann der Ort des Austauschs
sein, aber auch eine professionelle Gruppe, in welcher Strategien überlegt und erarbeitet
werden, um pädagogisch bestimmten Denkansätzen und dezidierten Haltungen zu begegnen.
Beispiele für pädagogisches Handeln zu Themen wie Rechtsextremismus und
Nationalsozialismus liefert das folgende Zitat.
Herr Krüger: Wir nehmen jährlich an Polis-Spiel70 teil. So. Dann wird genutzt unsere sehr günstige
Lage zu Leipzig und Weimar. Mit den Schülern werden Exkursionen gemacht. Die haben Aufgaben,
Aufgaben aus der politischen Sicht zu bearbeiten. Wir haben im Augenblick die Ausstellung [über
Zwangsarbeiter während der NS-Zeit] dahinten. [...] in vierzehn Tagen kommt eine Schriftstellerin, die
eine Lesung macht über Aussagen rechtsradikaler Mädchen, warum die in der Szene etabliert sind.
Also, es wird richtig viel gemacht. [...] Es ist halt immer die Frage: Erkenne ich, ob das ankommt? Das
ist nämlich das Problem. Ich kann ja nicht aufklappen, reingucken und dann ist gut. Ist an der richtigen
Stelle. Der denkt jetzt anders. Das weiß ich nicht. (Bildung I)
Trotz der Fülle an Dingen, die unternommen werden, bleibt die Frage nach der Wirkung.
Grenzen des Handelns werden deutlich. Irritierend ist, daß einige Interviewpartner die
Meinung äußerten, in den Schulen werde zuwenig getan.
Herr Steinmetz: Der Lehrer spult in der Schule seinen Stoff ab und dann war’ s das gewesen. (Polizei I)
Herr Gerold: Die Lehrpläne, wenn man die sich mal anguckt, das wird einfach nur abgehandelt. [...] Ich
frage: Warum ist ein Besuch im Konzentrationslager nicht einfach mal auf der Tagesordnung? (Stadtrat
III)
Diese Wahrnehmungen stehen im Widerspruch zu dem, was viele Lehrer berichten. Und
gerade in dem Zitat weiter oben wurde deutlich, wieweit Handlungsspielräume durch die
Schule versucht werden zu nutzen. Bei solchen, auch ein wenig herablassend wirkenden
Äußerungen, wie hier zweimal zitiert, drängt sich auch der Eindruck auf, daß
70
Ein politisches Plan- und Rollenspiel, bei dem internationale Beziehungen simuliert werden.
55
gesellschaftliche und aber auch bürgerliche Verantwortung einfach abdelegiert werden
sollen, wobei nicht einmal die Bereitschaft besteht, die Arbeit in den Schulen anzuerkennen.
Aber bleiben wir bei dem Vorschlag Gedenkstättenarbeit. Deren Wirkung ist umstritten.
Herr Schubert: Sie können Leuten aus dem rechtsradikalen Spektrum [...] Wissen vermitteln, die
können sie nach Auschwitz schicken [...]. Die fangen dann an zu diskutieren, das wäre ja alles
inszeniert. Es gibt da Beispiele [...] in der Gedenkstättenarbeit. [...] die das Problem sehen, daß also mit
Wissensvermittlung im Grunde genommen nichts verändert werden kann. Also, es muss eine andere Art
von Identifikations- und Tätigkeitsangeboten gemacht werden, wobei das Spektrum nun auch wieder
problematisch ist, weil ja auch die Jugendarbeit, die akzeptierende Jugendarbeit schmählich gescheitert
ist. Die ja im Grunde genommen, nur eine Organisationsplattform bieten. (Wirtschaft II)
Wir schlittern von einem Problem in das nächste. Und gerade das macht die Komplexität der
Problematik deutlich. Aus der Erkenntnis heraus, daß Wissensvermittlung an sich nicht
unbedingt die gewünschten Resultate bringt, wird nach anderen Optionen gesucht. Der
Sprecher verweist hier mit Identifikations- und Tätigkeitsangeboten auf Formen von
Jugendsozial- und Jugendkulturpolitik. Dabei sei wiederum problematisch, daß zum Beispiel
in akzeptierender Jugendarbeit mit rechten Jugendlichen die Gefahr liege, rechten Akteuren
eine politische Plattform zu bieten. Wir möchten in dem Zusammenhang nochmals an das
Konzept „national befreite Zonen“ mit der darin eingelagerten Rolle von Jugendtreffs
erinnern. Es besteht also Bedarf an einer kritisch-reflexiven Jugendarbeit. Aber auch hier gibt
es Grenzen, die bereits durch rechte Akteure gesetzt werden können.
Frau Apfelbaum: Herr P.71 hatte große Probleme. [...] Da kann man wirklich sagen, der hat einen
rechten Club in Trebsen gehabt. [...] Also, das waren dort Chaoten! [...] Den mußten sie schließen, den
Jugendclub.72 Bloß wenn Sie da, gerade in so einer Position auf weiter Flur, auf sich allein gestellt
sind, keine Unterstützung kriegen vom Bürgermeister, keine Unterstützung kriegen von der
Stadtverwaltung, [...] da sehen Sie alt aus! Da sehen Sie alt aus! (Jugendsozialpflege II)
Die Interviewpartnerin spricht hier ein Beispiel für den problematischen Umgang der
kommunalen Stellen mit rechten Jugendtreffs an. Wenn Jugendsozialarbeit nicht von der
kommunalen Verwaltung unterstützt wird, dann ist sie allein auf sich gestellt. Dies ist um so
dramatischer, als es ja nicht nur um – auch nicht zu unterschätzende – jugendtypische
Probleme geht wie Alkoholmißbrauch, sondern um ein gravierendes Politisches. Der
Jugendclub war ob seiner Frequentierung und Besetzung durch rechtsextremistische Akteure
bekannt. Die politisch verantwortlichen Stellen im Ort hätten sich in Kooperation mit der
Jugendclubleitung und anderen Akteuren im Ort Gedanken machen müssen. Die Ignoranz
von Politik läuft dem Selbstverständnis moderner Jugendarbeit, nämlich Öffentlichkeit zu
schaffen, entgegen. Dabei leidet Jugendsozialarbeit ohnehin darunter, daß an sie die Lösung
von sozialen Problemen abdelegiert wird. Das Scheitern überforderter Sozialarbeiter kann
zur Folge haben, daß nur noch eine einzige, nämlich repressive Handlungsoption übrig zu
bleiben scheint: die Schließung eines Jugendtreffs.
Um repressives Handeln im Kontext pädagogische Möglichkeiten geht es auch im folgenden
Beispiel, die eine Begegnung an einer Schule anspricht.
71
Name eines Jugendsozialarbeiters im Muldentalkreis.
Der Club wurde 2002 geschlossen. In diesem Zusammenhang recherchierte das Mobile Beratungsteam
Regierungsbezirk Leipzig in Trebsen und suchte mit anderen Partnern wie der Polizei und Verwaltung nach
Möglichkeiten des Umgangs mit rechtsextremen Akteuren. Dabei ging es dem MBT und anderen neben der
zeitweiligen (!) Schließung des Clubs, um die Problemlage zu beruhigen, darum, Bedingungen zu klären für eine
Investitionen in eine breit gefächerte Jugendarbeit.
72
56
Frau Meier: [D]a hatte ich ein Erlebnis. Da kam eben einer mit Rucksack und der hatte da solche
Zeichen drauf. Da kam die Lehrerin angeschnipst und hat gesagt: „Das machst du sofort ab.“ Und da hat
er es abgemacht. Da hat sie es zerrissen und in den Papierkorb geschmissen. Fand ich ganz toll.
(Stadtrat I)
Die Erzählerin unterstreicht am Ende ihre Zustimmung zu der, pädagogisch vielleicht doch
etwas fragwürdigen, repressiven Maßnahme. Eventuell handelt es sich ja wirklich um einen
jungen Menschen, bei dem Erklären und Argumentieren nichts mehr nützt. Es könnte die
Frage aufgeworfen werden, ob, wenn schon nicht für den betreffenden Schüler selbst, so
doch zumindest für diejenigen jungen Menschen, die ebenfalls die Szene beobachtet haben
dürften, eine Erklärung abzugeben angebracht wäre. Und damit weiter zum Thema (sozial-)
pädagogische Optionen.
Frau Apfelbaum: Sie haben ja sicher gehört, daß der Hessische Rundfunk da war, und daß das eskaliert
[ist] auf dem Marktplatz.73 [...] Die Jugendlichen, das war P., S., K.. Da hat mich von dem P. – der hat
ja noch ein bißchen Verstand – die Oma angerufen und hat mich gebeten, mich um den Jungen zu
kümmern. [...] Der kam. Den habe ich angehört, hab mit dem gesprochen, warum das so gewesen ist.
Warum die die Naziparolen geschrieben haben? Warum sie das Team angegriffen haben? [...] Ich sage:
„P., wir gehen mit deinen andern zwei Kumpels [...] zum Oberbürgermeister [...] Es wird sich
entschuldigt!“ [..] Termin ausgemacht. Ich komme ans Stadthaus hin. Da steht der S. dort [...] Ich
dachte, mich tritt ein Pferd. Ich sage: „Was hast du denn für Abzeichen hier an der Jacke?“ - „Die
bleiben dran.“ - Ich sage: „Nein.“ - „Die bleiben dran.“ - Ich sage: „Na soll ich dir jetzt mal
vormachen, wie schnell du die Jacke aushast? Zieh die Jacke aus!“ [...] Zog der die Jacke aus und
nahm die so über die Schulter, daß man wieder die doofen Abzeichen sieht. Ich sag: „Was sind denn
das eigentlich für Abzeichen? (Schulternzucken) Ich sage: „Du bist doch nicht ganz astrein“, sage ich.
„Du hast hier Gelumpe auf der Jacke und weißt gar nicht dessen Bedeutung!“ Ich sage: „Da
unterhalten wir uns dann.“ - „Mit Ihnen unterhalte ich mich gar nicht“, hat er gesagt. [...] Ich sage: „S.,
es tut mir leid. Aber bei dir ist die Zusammenarbeit oder eine Umerziehung total fehl am Platze.“ Und
Sie müssen sich mal überlegen, was die Eltern mit dem durchgemacht haben. Der hat ja denn auch die
Frau ermordet in Wurzen. (Jugendsozialpflege II)
Die Geschichte belegt Möglichkeiten und Grenzen, einzelfallbezogener Sozialer Arbeit. Nur
am Rande und an viel weiter oben ausgeführte Gedanken anknüpfend, sei hier auf die
angedeuteten Symbole hingewiesen und auf den Versuch, über eine demonstrative
Präsentation derselben beim Oberbürgermeister die höchste politische Ebene der Stadt zu
provozieren. Zentral geht es in der Beleggeschichte um einen Machtkampf zwischen dem
jungen Mann S. und der sozial engagierten Erzählerin, den diese letztendlich verliert. Dabei
hatte sie versucht, sowohl repressiv als auch pädagogisch-argumentativ vorzugehen. Der
geschilderte Dialog und ein Wort wie „Umerziehung“ verdeutlichen den sehr autoritären
Charakter der Erzählerin, den sie auch versucht, in der Erziehung nutzbringend einzusetzen.
Sie scheitert beim geschilderten Einzelfall aber daran, daß der betreffende junge Mann sie als
Autorität nicht akzeptiert. Hier liegt ein generelles Problem von Jugendsozialarbeit: Was tun,
wenn die Autorität des Erwachsenen von den Jugendlichen einfach nicht akzeptiert oder
offen in Frage gestellt wird? Und wenn sich schon einmal für repressive Maßnahmen
entschieden wird, weil alle anderen Versuche sich als wirkungslos erwiesen haben, welche
Sanktionsmittel stehen denn dem Sozialarbeiter zur Verfügung?
Frau Apfelbaum: Der Jugendtreff74 ist für manche ein Zuhause. Und da ist natürlich, vier Wochen,
sechs Wochen, sechs Monate ... Ich habe sogar schon mal einen ein Jahr ausgesperrt. Das ist ein
Problem. Und da stehen die dann unten und sagen: „Red doch du mal mit der Frau Apfelbaum . Und
ach! Ob ich mal wieder reinkomme.“ Da habe ich einmal mindestens zehnmal [...] dem klargemacht,
73
74
Bezieht sich auf ein, vieldiskutiertes Ereignis am 13.8.2001.
Ein Jugendtreff in Wurzen.
57
was er falsch gemacht hat. Der hat es aber kapiert. Der darf jetzt wieder rein und benimmt sich ganz,
ganz unauffällig. (Jugendsozialpflege II)
Hier ist die zentrale soziale Funktion, die Jugendtreffs im allgemeinen haben, angesprochen.
Und auch wenn sich diese Sequenz nicht ausdrücklich auf rechte Akteure bezieht,
verdeutlicht sie, wie die Erzählerin Handlungsspielräume auslotet. Und sie findet Mittel und
Wege, die ihr geeignet erscheinen, Jugendliche zu erziehen. Das Zitat gibt Anlaß zu der
wichtigen Frage, welchen erzieherischen Wert Ausübung und Durchsetzung von Hausrecht
und von Hausordnungsregeln haben, außer vielleicht den, daß sich die Jugendlichen
oberflächlich den Regeln unterwerfen oder anpassen. Und daran an schließt sich die Frage,
ob die viel geführte Diskussion um Verbote rechtsextremistischer Symbole in Jugendclubs
nicht ins Leere läuft. Bleibt zu fragen: Welche anderen pädagogischen Möglichkeiten sind
denkbar? Die Erzählerin gibt an dieser Stelle aber auch Anlaß, über ein wichtiges Problem
nachzudenken. Sie erzählt, sie habe jemandem etwas „mindestens zehnmal klargemacht“.
Das mag übertrieben sein, weist aber darauf hin, daß pädagogisches Handeln wie Erziehung
allgemein viel Zeit braucht. Und sind es in unserer Gesellschaft nicht gerade diejenigen
Tätigkeiten wie Erziehung und Pflege, die zeitintensiv sind und dabei schlecht bezahlt und
gering geschätzt werden? Denn es heißt ja auch: „Zeit ist Geld.“ Liegt hier eine Erklärung
dafür, daß so oft mit Herablassung auf Lehrer und Sozialpädagogen geblickt wird und sie als
die geeigneten Personen erscheinen, an die gesellschaftliche Probleme abdelegiert werden
können? Und müßte nicht grundsätzlich, bei aller Kritik am Einsatz und Ausspielen von
Autorität, pädagogisches und sozialpflegerisches Handeln etwas mehr Anerkennung
entgegengebracht werden?
5.3.4. Möglichkeiten und Grenzen in Gewaltsituationen
Einige der interviewten Frauen und Männer erklärten nicht nur, noch nie direkt mit rechter
Gewalt konfrontiert gewesen zu sein, sondern brachten auch zum Ausdruck, diese
Möglichkeit perspektivisch ausschließen zu können. Dafür ließen sie spezifische Gründe
erkennen wie die alltagsbezogene Fixierung auf bestimmte soziale und kulturelle Räume, in
denen Rechte oder Rechtsextreme für gewöhnlich nicht agieren würden. Dies klingt
plausibel. Angesprochen fanden wir aber auch das Thema Körperlichkeit.
Herr Ellrich: [E]s ist mir nicht vorgekommen, daß ich mit Rechten zusammengestoßen bin. Das liegt
aber sicherlich auch an mir und meiner Statur oder so. (lachen) Ich verspüre nie oder ganz, ganz selten
ein Aggressionspotential mir gegenüber, weil, das kommt zum Glück nicht vor. Ich kann das [...]
runterbrechen für andere Leute, die anders aussehen, eine andere Körperlichkeit haben, die weiblich
sind. So daß das Bedrohungspotential ganz anders [wahrgenommen wird]. Also, ich kann sagen, ich
nehme das nicht wahr. Und selbst wenn, man gewöhnt sich an seinen Körper doch, daß man dann
einfach dran vorbeischreitet und fertig. (Kultur I)
Begegnungen mit rechts sind angesprochen und mit der eigenen Körperstatur ein Grund für
das Ausbleiben von Gewaltakten erklärt. Implizit wird hier ein bedrohtes Kollektiv
konstruiert, zu welchem Menschen von eher schmächtiger und weniger kraftvoller Statur
gehören, ferner Frauen und wohl Menschen, die wohl dem Bild „des Fremden“ entsprechen.
Was dieses Kollektiv charakterisiere, sei eine gewisse Schwäche im Gegensatz zu der
58
männlichen Stärke, die der Interviewte meint, mit seiner eigenen Körperlichkeit zu vertreten.
Diese Konstruktion von männlich und weiblich mag dem Interviewten, so er sich mit der
Frage Rechtsextremismus auseinandersetzt, helfen, Distanz zu gewinnen und Sicherheit
herzustellen. Und dieses Konstrukt mag nur deshalb in der Praxis hilfreich sein, weil sich
gerade Akteure von rechts auf eine ähnliche Konstruktion von Geschlecht und damit
verbundenen Handlungsweisen beziehen. Wie auch immer, die nachstehende
Interviewpassage bestätigt die Bedeutung von Körperlichkeit in bezug auf Gewalt.
Herr Weinblatt: [W]enn ich sehe, daß dreißig Leute in Autos kommen und ich sehe, daß die nur auf
Gewalt aus sind ... Also, sobald man bewaffnet ist, ist die Regel: nur noch rennen. Das ist so. Eine
andere Geschichte ist, [...] wenn man mit Jugendlichen unterwegs ist. Da kann man oft nicht
wegrennen, weil die Jugendlichen ja noch da sind. [...] Vor zwei Jahren Himmelfahrt. Lüptitzer Teiche.
Wir hatten ein Volleyballturnier und haben gesagt, okay, das Wochenende, das lange, das zelten wir
dann noch zusammen. Mit der Jungen Gemeinde. Waren so dreizehn. Der älteste war siebzehn von
uns, außer mir jetzt. Und ich wußte nicht, daß da jedes Jahr ´ne Horde Skinheads Himmelfahrt feiert.
Wir sind dann abends [...] nach dem Volleyballturnier dort angekommen und fanden fünfunddreißig
besoffene Skinheads in direkter Nachbarschaft zu uns vor. Also (lachend) richtig besoffene Skinheads.
Die waren auch alle älter. Und das war total gruslig. Das beschränkte sich dann auf Brunstschreie: „Ich
brauch ´ne Frau“ und mal zwei geflogene Bierflaschen. Hab auch die Polizei angerufen. Die kam dann
auch vorbei. War ja nichts vorgefallen dort. Und da ging’s. Aber das war eben eine aufregende Nacht.
Bis um drei oder vier, bis die dann alle besoffen irgendwo rumlagen. Und das sind so Situationen, wo
man eigentlich auch nicht mehr weg kann. Weil, nachts kann man niemanden anrufen. Und da muß
man dann irgendwie deeskalierend tätig sein. Und das geht auch meistens. (Kirche II)
Die Passage liest sich wie eine hilfreiche Handlungsanleitung: Erstens, Weglaufen, wenn eine
Übermacht naht. Zweitens, Stillhalten und Hilfe rufen (Polizei), wenn die Lage wirklich
aussichtslos ist. Drittens, nach deeskalierenden Handlungsmöglichkeiten suchen, wenn Hilfe
nicht (rechtzeitig) kommt. Zu beachten ist hier, daß das Thema Verantwortung angesprochen
ist. An einen Pädagogen stellen schwierige Situationen wie hier beschrieben enorm hohe
Anforderungen. Und sie sind eine Herausforderung, und zwar dahingehend,
Konfliktsituationen zu reflektieren, wenn möglich, gemeinsam mit den Jugendlichen, für die
Aufsichtspflicht und Verantwortung besteht. Hingewiesen sei auf die Rolle der Polizei, die
hier kaum als eine besonders aktive bezeichnet werden kann. Und uns stellt sich die Frage,
wie beispielsweise ein Kirchenvorstand solche berichteten Vorfälle bewertet.
Wenn auch eine direkte Konfrontation nicht erfahrbar war, so bezogen sich, wie auch schon
oben in Beispielen ausgeführt, Eltern oft auf ihre Kinder und deren Erfahrung, was zu einer
(intensiveren) Auseinandersetzung mit dem Phänomen Rechtsextremismus veranlaßte. Dabei
nimmt das Problem Gewalt und Gewaltkonfrontation einen zentralen Platz ein.
Frau Fröhlich: [W]enn dann wirklich mal eine Situation wäre, wo es vielleicht mal eskaliert oder so,
weil da ein paar Glatzen sind, dann hauen die lieber ab. So habe ich [meinen Sohn] auch erzogen. Daß
er sich nicht auf so was einläßt. Weil, also in der Masse sind die ja doch stark. Und wenn da so ´ne
Gruppe, vielleicht Glatzen ist... [...] Wenn die genug sind, fühlen die sich auch stark, und das bilden die
sich zumindest ein. Wenn das fünf oder sechs sind, dann können die denen Paroli bieten. Da habe ich
eigentlich immer versucht [...] zu sagen: Lieber nachgeben. Weil, ich kann wirklich nicht sagen, wie
das ausgeht. (Erwachsenenbildung I)
Die Mutter möchte, daß der eigene Sohn (und seine Freunde) in Gewaltsituationen
zurückweicht. Nachzugeben ist für die Interviewpartnerin keine Schande, weil sie weiß, daß
es immer eine Reihe von Unwägbarkeiten gibt und daher eine sichere Voraussage ob des
Ausgangs einer Konfrontation nicht möglich ist. Die Mutter befürchtet aber, daß sich der
Sohn und andere auf die Vorgabe Gewalt einlassen könnten, und sie spricht von einer
59
Grundbedingung dafür: Sich in der Gruppe stark fühlen. Die Mutter thematisiert aber auch
Selbstüberschätzung. Sie tut dies sicherlich aus berechtigter Sorge und weil sie ihr Kind
kennt. Vielleicht auch, weil sie glaubt, die Realität besser zu kennen. Und es scheint so, als
gäbe es bereits Erfahrungen hinsichtlich Gewaltsituationen. Die Frage ist hier vielleicht, wo
die Interviewpartnerin wie auch andere Eltern einen Raum finden könnten, um Erfahrungen
und Reflexionen, aber auch Handlungsmöglichkeiten zum Thema Gewalt (von rechts) zu
kommunizieren. Aber bleiben wir bei Gruppe und durch Gruppe begründete Stärke.
Herr Weinblatt: Da gibt’s [an der Schule] inzwischen nicht nur Rechte, sondern auch HipHopper und
die Aussiedler. Die Aussiedler, die lassen sie alle in Ruhe, weil sie Angst vor deren großen Brüdern
haben. Das ist wirklich so. Und weil, die sind wirklich organisiert. Und wenn da wirklich was ist, die
kommen dann auch. [...] Die holen denn die großen Brüder und dann gibt es [...] Ärger. [Und als]
irgendwelche Nazis einen HipHopper zusammengehauen haben, da hat der dann Freunde rantelefoniert.
Mit Handy geht das ja jetzt ganz schnell. Und die standen dann alle draußen vor der Tür und haben auf
den gewartet, vor der Schule. Na ja, und da sind wir denn zu dritt als Lehrer rausgegangen und haben
gesagt: Leute, hier nicht, erstens. Zweitens, überhaupt nicht. Drittens, klärt das bitte anders. Es gibt ja
auch Streitschlichter. (Kirche II)
Mit jugendlichen Spätaussiedlern und mit Anhängern von HipHop sind zwei Gruppen
angesprochen, die in Wurzen auffallen. Spätaussiedlerjugendliche haben Erfahrungen von
Migration und sie erleben in der deutschen Aufnahmegesellschaft neben gut gemeinten
Integrationsbemühungen (Eingliederungsmaßnahmen, Klasse Deutsch als Zweitsprache etc.)
auch Separation und Diskriminierung. Dabei ist die beobachtbare Tendenz, daß solche
Familien relativ kompakt in den Städten der Aufnahmegesellschaft angesiedelt werden, nicht
nur einer spezifischen Wohnungspolitik geschuldet, sondern auch dem Streben der
Zugewanderten danach, durch Begründung eigener Nachbarschaft einen sicheren und
vertrauten Raum in der Fremde herzustellen. Das Zitat verweist darauf, daß sich jugendliche
Spätaussiedler wie auch andere Deutsche jugendtypisch in Peergroups organisieren. Für diese
anderen Deutschen sind hier die HipHopper ein Beispiel. Um sich erfolgreich gegen
Aggressionen von rechts zu wehren bzw. um solchen vorzubeugen, versuchen jugendliche
Akteure, durch Gruppenbildung Stärke auszustrahlen. In ihrem Handeln unterliegen sie
ebenso wie andere der Logik von Gewalt. Sie verfügen über Ressourcen hinsichtlich
Handlungswissen und Handlungsmacht, die sie in Gewaltsituationen einsetzen können. Das
Zitat zeigt aber auch, wie Dritte, nämlich wiederum Pädagogen, Optionen aufzuzeigen
versuchen, indem sie deeskalierend, belehrend und warnend auftreten.
5.3.5. Gesellschaftspolitische Möglichkeiten
Die interviewten Frauen und Männer nach gesellschaftspolitischen Möglichkeiten zum
Umgang mit dem Phänomen Rechtsextremismus befragt, kristallisierte sich Demokratie als
ein wichtiges und zu diskutierendes Thema heraus. Dabei waren zwei Grundtendenzen zu
erkennen: Erstens eine Fokussierung auf die verfassungsrechtliche und auf die
parlamentarische Ebene. Zweitens ging es um Begegnungen im Alltag. Einige Interviewte
bezogen sich in ihren Ausführungen auf die Vergangenheit und setzten sich von dieser ab.
Herr Holm: Also, ich bin sehr froh gewesen, daß wir das Grundgesetz als Rahmen bekommen haben.
Und gedanklich im Rahmen des Grundgesetzes [...] sehe ich auch diese Möglichkeiten. Daß wir sagen,
60
es gibt eine Wahlfreiheit. Es gibt ein Recht, Religion auszuüben. Ich bin sehr froh, daß wir diesen
ganzen Spitzeldienst, den wir mal hatten, [nicht mehr haben]. Ich bin heilfroh, daß wir eine
Pressefreiheit haben. Es muß mir nicht jeden Tag gefallen, was in der Zeitung steht. Aber ich denke, es
ist Teil der Demokratie, daß alle die, die sich entschlossen haben, ins öffentliche Leben zu gehen, auch
Rede und Antwort stehen müssen und kontrolliert werden. Daß das Teil der politischen Sauberkeit ist.
Daß es nicht mehr möglich ist, daß irgendein Unternehmen sich Abgeordnete kauft oder irgendeine
Gruppierung oder irgend jemanden im Hintergrund. [...] Ich bin auch froh über die ganze
Gewaltenteilung. [Und] daß wir sagen, was in Wurzen hier läuft, ihr könnt das selber entscheiden. Und
das wird nicht in Berlin entschieden, was wir zu machen haben und wie wir es zu machen haben. Birgt
natürlich auch die Gefahr, wenn hier einzelne Akteure versagen, daß hier auch mal die Karre an die
Wand gefahren wird, irgendwo in der Provinz. (Verwaltung I)
Angesprochen sind hier Grundgesetz und somit Bürger- und Freiheitsrechte, die dieses
beschreibe und zu garantieren habe. Besonders werden dabei Wahlfreiheit, Religionsfreiheit,
Pressefreiheit und Meinungsfreiheit betont, ferner Gewaltenteilung und die Möglichkeit
dezentralen politischen Agierens, wobei Verantwortung und Kontrolle und damit Transparenz
von Entscheidungen thematisiert sind. Dabei wirft der Ausdruck „politische Sauberkeit“ eine
Frage auf: Wir könnten davon ausgehen, daß „sauber“ ein Idealzustand, eine Norm ist und es
ständig bestimmter Tätigkeiten bedarf, um dieser Norm gerecht zu werden. Die Sequenz liest
sich so, als wäre ehrenhaftes Handeln der Akteure in der Öffentlichkeit und ihre Kontrolle
durch die Öffentlichkeit eine Garantie für das gute Funktionieren des Systems und somit die
„politische Sauberkeit“. Ein anderer Interviewpartner betrachtet die Strukturiertheit
parlamentarischer Demokratie und politischer Entscheidungsprozesse aber als
diskussionswert.
Herr Schubert: [Thema] Demokratie. Also, ich denke, daß es ganz wesentlich ist, zwei Fragen zu
stellen. Sind bestimmte Strukturen und bestimmte Abläufe gegeben, um wirklich sachkundig bestimmte
Probleme zu bearbeiten? Das ist die erste Frage. Also, inwiefern gibt es überhaupt effiziente
Entscheidungsmechanismen? [...] Und die Entscheidungen müssen nachvollziehbar sein. Und das
andere ist, was ich für ganz wesentlich halte und denke, daß das ganz besonders auf der kommunalen
Ebene wichtig ist: Es muß sachliche Entscheidungen geben. Also, welche Person oder was ist für ein
gewisses Problem der beste Vorschlag, welche Idee. Also, nicht: Den Vorschlag hat jetzt die SPD
gemacht oder die PDS. Da lehne ich es ab. Und den Vorschlag hat die CDU gemacht. Und weil sie die
Mehrheit haben, geht er durch. (Wirtschaft II)
Angesprochen ist hier wiederum Transparenz. Aber grundsätzlich wird die Frage
aufgeworfen, inwieweit das herrschende Konzept Demokratie und die Fixierung auf politische
Parteien als Ausdruck und Träger von politischem Willen und verallgemeinerbaren Interessen
überhaupt, und ganz besonders auf kommunaler Ebene tauglich ist. Als Alternative deutet
sich hier ein Modell an, in dem Fachexperten sachbezogen entscheiden und nicht politische
Ideologie und Interessen politischer Gruppen Verhandlungen und Entscheidungen bestimmen.
Das aber wirft die Frage auf, inwieweit solche Fachexperten unabhängig von politischen
Ideologien und von (sozialen) Beziehungen zu Mitgliedern politischer Interessensgruppen
sein können und sind.
Für einige der Interviewten stand das drängende Problem auf der Tagesordnung, wie im
Rahmen einer parlamentarischen Vertretung mit solchen Kräften umgegangen werden könne,
die wir hier als rechtsextremistische Akteure bezeichnen, so die NPD. Dabei kann sich die
NPD selbst erfolgreich zum Teil auf das beziehen, was Demokraten als Kernstück von
Demokratie betrachten.
61
Herr Bäumler: Demokratie stellt für mich dar, daß wir eine maximale Meinungsfreiheit praktizieren.
Und diese maximale Meinungsfreiheit regulieren mit einer klaren Mehrheitsentscheidung. (Verwaltung
II)
Mehrheiten können aber gefährdet sein, wenn rechtsextremistische Akteure in den Stadtrat
einziehen. Diese Gefahr skizziert ein Interviewpartner so:
Herr Holm: [Die] einzelnen Parteien und auch die einzelnen Abgeordneten [könnten] gar keine
Einzelinteressen mehr durchsetzen [...]. Sondern die würden immer nur [überlegen]: Wie verhindern wir
ein Aktivwerden der NPD? Das wäre die einzige Aufgabe, die sie wirklich noch umsetzen könnten. [...]
Und daß unterschiedliche Parteien, unterschiedliche Abgeordnete unterschiedliche Vorschläge
erarbeiten könnten und aus diesen Vorschlägen dann irgendwann der beste rausgefiltert würde und an
diesem Vorschlag so weit gefeilt wird, bis er wirklich für eine Mehrheit im Stadtrat tragfähig ist und
dann damit wirklich das beste Konzept für die Stadt umgesetzt wird, sehe ich dann wirklich in Gefahr.
Denn das ist einfach nicht mehr möglich, weil man sich einfach zu viel mit sich selbst [und] der
Aufgabe, [die] NPD zu blockieren, beschäftigen müßte. [...] Wenn den Leuten keine Alternativen
angeboten werden, sondern immer nur ein Konzept von allen oder NPD, dann sehe ich die Gefahr, daß
das der NPD Zulauf bringt. (Verwaltung I)
Wenn es nicht mehr möglich sein sollte, sachbezogen Konzepte (beispielsweise bezüglich der
Innenstadtgestaltung) verschiedener (Partei-)Fraktionen zu diskutieren, sondern eine ständige,
parteipolitisch motivierte Auseinandersetzung aller mit der NPD den parlamentarischen
Alltag so störe, und zwar so, daß sich gar unter Zeitdruck am Ende für ein qualitativ
schlechteres Konzept entschlossen werde, dann mag das Folgen haben: Wähler spüren und
beobachten im Alltag, daß die demokratischen Parteien wenig akzeptable Entscheidungen
treffen und erwägen beim nächsten Wahlgang, einer vermeintlichen Alternative die Stimme
zu geben. Das Zitat verweist auf parteipolitisch und somit gruppenbezogene Interessen und
Befindlichkeiten, die einen Konsens bezüglich des Umgangs mit der NPD erschweren und es
so ermöglichen, daß das Thema NPD immer wieder auf der Tagesordnung steht. Ist somit
nicht eine Schwachstelle von Demokratie, wie wir sie kennen, angesprochen? Und sind nicht
parteipolitisches Selbstverständnis und interessegeleitetes Taktieren hinderlich bei einer
Konsenssuche zum Thema Rechtsextremismus? Und liegt hier nicht eine Chance für
rechtsextremistische Akteure?
Herr Bäumler: Wir haben im Parlament Facharbeit zu erledigen. Und ich werde jede Gelegenheit beim
Schopfe packen, damit wir nicht ideologisieren. Das ist nicht unsere Aufgabe im Parlament, sondern es
geht um Wurzen. Und wer zu Wurzen nichts zu sagen hat, kann den Mund halten. Ja, und so haben wir
es in den letzten fünf Jahren gehandhabt und so werden wir es auch, denke ich, künftig handhaben. Und
da haben wir keine Probleme damit. Glaub ich jedenfalls. (Verwaltung II)
Bisher war es nur ein NPD-Stadtrat in Wurzen. Vor dem Hintergrund, daß nun drei Stadträte
eine Fraktion bilden und somit sich auch in den Ausschüssen beteiligen können, aber mit dem
Vorwissen, NPD-Kader seien nicht unbedingt zu einer sachlichen Kommunalpolitik fähig,
was sich auch mit entsprechenden bisherigen Erfahrungen belegen ließe, wird folgende
Strategie aufgezeigt: Politisch-ideologischen Debatten ist sich zu verweigern, und die NPDStadträte sind in der sachbezogenen Praxis aufgrund ihrer vermeintlichen Inkompetenz zu
disqualifizieren. Was aber, wenn sich in der Zukunft herausstellt, daß einer dieser NPDStadträte über Kernkompetenzen verfügt, die für Wurzen als Stadt gewinnbringend sein
könnten?
Herr Rudolfs: [I]ch meine, wir sind nun mal ein Land, welches ein gut funktionierendes System hat,
und, natürlich auch fehlerbehaftet, aber eine gute Demokratie kann auch mit solchen Dingen umgehen.
Das muß nicht nur parlamentarisch sein. (Erwachsenenbildung II)
62
Hier sind zwei Dinge angesprochen: Erstens die grundsätzliche Überzeugung, daß nicht nur
die Demokratie stark ist, sondern auch die sie tragenden Demokraten. Diese müssten mit
Problemen wie oben skizziert fertig werden, und zwar unter Einsatz aller demokratischen
Kompetenzen. Und zweitens wird der Blick erweitert auf außerparlamentarische Optionen im
Umgang mit Rechtsextremismus.
Außerparlamentarisch muß nicht nur explizit politische Formen mit Aktionscharakter meinen,
sondern, so jedenfalls eine Reihe der von uns interviewten Frauen und Männer, kann auch die
demokratische Ausgestaltung von Alltagsbegegnungen und somit die Schaffung von
Alternativen zu autoritären Konzepten bedeuten.
Herr Krüger: Also, entscheidend für mich ist der Respekt. Daß ich den andern respektiere, und daß ich
auch respektiert werde. Vielleicht so rum: Damit man eine Basis erst mal hat, um sich überhaupt zu
verständigen [und] um dann [zu sehen], wo steht der und wo stehe ich. Um den andern auch erkennen
zu lassen, das ist meine Meinung, [...] muß ich ihn erst mal respektieren, erst mal mit ihm ins Gespräch
kommen. Und das jetzt ins Große übertragen, das ist Demokratie für mich. Mit den Spielregeln leben
können und auch, daß ich im Rahmen derer das gestalten kann, daß ich die Regeln auch verändern kann,
wenn das und das nicht geht. Aber mit angemessenen Mitteln. (Bildung I)
Die Betonung von Respekt scheint uns wie eine Referenz an pädagogische Konzepte.
Verwiesen wird hier auf den Prozeßcharakter von Demokratie, nämlich das ständige
Aushandeln von Meinungen und Positionen. Wichtig scheint uns auch der Hinweis darauf,
daß Regeln veränderbar sind und als veränderbar wahrgenommen werden sollten, wobei auch
das Verändern von Regeln wiederum Frage von Aushandlung und Konsens sei. So jedenfalls
interpretieren wir „angemessene Mittel“. Dabei ermöglicht gegenseitiger Respekt die
Begegnungen im Alltag.
Die Gestaltung alltäglicher Aushandlungsprozesse beschreibt ein Interviewpartner am
Beispiel einer Gruppe junger Christen.
Herr Jonas: Demokratisches Verhalten, würde ich sagen, zeigen die, wenn sie sagen, okay, wir wollen
erst mal alles hören. Und ich denke, das ist auch Selbstdefinition von denen, also zu sagen: Wir hören
uns erst mal alles an, bevor wir irgendwie entscheiden. [Auch] wenn wir ein Interesse selber haben. [...]
[Es] sind [...] Gruppenprozesse. [...] Es gibt die [...] Alphatypen, die sagen: Wir bestimmen das
Gruppenklima. Wir sind die, die sich als, sagen wir mal, sachlich Kompetente gezeigt haben oder eben
auch die, die die Kommunikation in der Gruppe ein Stück bestimmen. Das sind dann schon die, die ihre
Ideen am klarsten formulieren und dann am klarsten präsentieren können. (Kirche II)
Die Widersprüchlichkeit sozialer Realitäten wird wieder deutlich. Zum einen ist da das
Selbstverständnis als offene, aufnahmewillige, tolerante, die eigenen Interessen nicht in den
Vordergrund stellende junge Menschen. Zum andern sind da Personen, die unter Einsatz von
Redegewandtheit und legitimiert mit besonderen Kompetenzen die eigenen Interessen
durchsetzen, wobei es wiederum andere Personen gibt, die das akzeptieren, sich also den
diktierten Regeln unterwerfen. So funktioniert die Gruppe. Allerdings scheint hier noch vieles
im Flusse zu sein. Anders verhält es sich mit stark strukturierten Gruppen wie Parteien. Und
da fällt es bekanntermaßen gerade jungen Leuten immer etwas schwer, in solche Gruppen
hineinzugehen und hineinzuwachsen. Ein Beispiel aus Wurzen, Anfang der 90er Jahre:
Herr Fischer: [W]ir haben da versucht, in die Organisationsstruktur [der Partei X] reinzukommen, in
den Vorstand jemanden reinzudrücken von der Jugendgruppe in Wurzen und so weiter. Aber das ist
geblockt worden von den Älteren, die uns damals überhaupt nicht haben verstehen können. Heute wären
sie froh. [...] Wir waren ja auch viele [...] Wir wollten das ein bißchen aufbrechen. So gleichberechtigte
Vorstände und so was haben wir versucht, da reinzubringen. Also nicht den Vorsitzenden mit der
Wahnsinnsallmacht, sondern gleichberechtigte. Wie das bei den Grünen ist. Die haben ja auch immer
63
zweie. Diese Struktur schwebte uns da mehr vor. Ja, und das hat dann alles nicht funktioniert, sodaß wir
allmählich die Lust verloren haben. (Stadtrat II)
Thematisiert werden hier miteinander verschränkte Hierarchien. Die Älteren sind an
Lebensjahren reicher, aber sie sind auch in der Partei die Dienstältesten und bekleiden
bestimmte Funktionen. Was der Interviewpartner hier darstellt, ist das Abwehrverhalten von
Älteren gegenüber Jugendlichen, das sich zum einen sozial begründen läßt, aber auch
politisch. Denn nicht nur sind es angeblich unwissende junge Menschen, die alles
durcheinanderbringen wollen, sondern sie stellen mit der offenen Forderung nach
demokratischen Reformen die herrschenden politischen Strukturen der als Partei verfaßten
Gruppe in Frage. Den Jugendlichen ging es sicherlich um Gleichberechtigung mit den Älteren
und somit eine gerechte Beteiligung an Entscheidungsprozessen.
Das Thema Gerechtigkeit beschäftigte auch andere Interviewpartnerinnen und
Interviewpartner. Dabei wurden zum Beispiel politisch-moralische und alltagsmoralische
Dimensionen angesprochen.
Frau Apfelbaum: Für mich bedeutet Gerechtigkeit in erster Linie Ehrlichkeit. Daß jemand ehrlich ist
und, wie gesagt, mir nicht irgendwas vorspinnt. Den kann ich gerecht behandeln. Bloß wenn mich einer
anlügt, na der hat mit den Konsequenzen zu rechnen. Das ist für mich keine Gerechtigkeit.
Gerechtigkeit ist zum Beispiel für mich auch [...] Demokratie. Bloß [...] wer ist denn demokratisch,
wer? (Jugendsozialpflege II)
Grundvoraussetzung für ein faires Miteinander im Alltag sei Respekt, der darin zum
Ausdruck komme, offen und ehrlich miteinander umzugehen. Fairneß im Sinne von gerecht
miteinander umgehen, sei nur möglich, wenn über den anderen Klarheit herrsche, was durch
Lügen unter Umständen eingeschränkt werde. Ein Aspekt von Gerechtigkeit sei Demokratie.
Dies könnte so verstanden werden: Grundlegende Spielregeln in den Begegnungen sind
Respekt, Offenheit und Ehrlichkeit. Wieder ist Transparenz eingefordert. Besonders
bemerkenswert finden wir die zuletzt aufgeworfene Frage: Wer ist demokratisch? Akteure,
die sich demokratisch nennen, werden zur kritischen Reflexion hinsichtlich ihrer
Selbstpräsentation aufgefordert. Diese Aufforderung kann pädagogisch und politisch gemeint
sein. Dabei stößt uns die Interviewpartnerin, bewusst oder nicht, auf ein Grundproblem
politischer und gesellschaftlicher Begegnungen, nämlich Konkurrenz. An diesen Gedanken
anschließend, möchten wir auf den Begriff des Aushandelns zurückkommen.
Herr Ellrich: Demokratie ist Interessenausgleich, ist gemeinsame Konsenssuche. (Kultur I)
Ist hier ein normatives Ideal benannt oder ein Ist-Zustand beschrieben? Statt dieser Frage
weiter nachzugehen, möchten wir abschließend eine der interviewten Frauen zu Wort
kommen lassen.
Frau Schönfelder: Wir sind noch nicht bei dem, was Demokratie bedeutet, angekommen. Das ist ein
Lernprozeß. (Soziale und rechtliche Beratung II)75
75
Nachgespräch zum Interview.
64
5.3.6. Kulturelle Möglichkeiten
Ein Interviewpartner sprach oben im Kontext pädagogische Möglichkeiten im Umgang mit
Rechtsextremismus davon, daß (jungen) Menschen eine „andere Art von Identifikations- und
Tätigkeitsangeboten gemacht werden“ müsse.76 Daran möchten wir hier anknüpfen. Denn
eine Reihe der interviewten Frauen und Männer sprachen von tatsächlichen und möglichen
Handlungen, die wir unter den Begriff Kultur fassen würden. Dabei verstehen wir unter
Kultur nicht nur Ausdrucksformen künstlerischer Hochkultur und die für die moderne
Gesellschaft charakteristischen Subkulturen sowie Sport und freizeitbezogene Vereinsarbeit.
Dies ist für uns Kultur im engeren Sinne. Im weiteren Sinne aber hat Kultur eine allgemein
soziale Dimension und bedeutet die sozial vorstrukturierte Alltagspraxis, d.h. die
Ausgestaltung sozialer Begegnungen im täglichen Leben aller. Beides kann miteinander
verschränkt sein.
Jugendfreizeit / Freizeit junger Erwachsener
Das Leben in Wurzen hinsichtlich Kultur im engeren Sinne ist facettenreich. Und was den
Freizeitbereich und junge Menschen anbelangt, so gibt es eine Reihe von anerkannten
„Identifikations- und Tätigkeitsangeboten“, angefangen mit Sportvereinen, über Jugendtreffs
mit spezifischen Angeboten, Freizeitmöglichkeiten im Bereich Musik (zum Beispiel
Jugendchor Akzente), Literatur etc. Wir wollen hier keinen, etwa auf Vollständigkeit
bedachten Überblick über eben solche Möglichkeiten geben, sondern Interviewpassagen
danach befragen, wie Interviewte Kultur im engeren wie im weiteren Sinne in Bezug zum
Thema Rechtsextremismus sehen.
Herr Holm: Demokratie heißt auch Engagement in irgendwelchen Vereinen und die Frage, wie bringe
ich mich aktiv ein in einer demokratischen Gemeinschaft. [...] dadurch, daß ich Leben bringe mit in die
Gemeinschaft, daß ich das Gemeinschaftsleben unterstütze, tu ich doch meinen Teil fürs demokratische
Spektrum. (Verwaltung I)
Angesprochen sind hier Vereinsarbeit und ehrenamtliches Engagement und der Blick darauf,
daß die Gemeinschaft den (demokratischen) Rahmen biete, innerhalb dessen sich Individuen
engagieren können und dieses Engagement wiederum das Demokratische einer Gemeinschaft
ausmache. Hier geht es um freiwillige Beteiligung an der Ausgestaltung des Lebens in einer
Kommune. Dabei scheint die dreifache Benutzung des Wortes „Gemeinschaft“ einen
Hinweis auf eine vom Sprecher präferierte Form der sozialen Begegnungen zu geben,
nämlich auf ein konsensbezogenes Miteinander einer überschaubaren Gruppe von Menschen.
Meint die Passage noch Engagement, das unabhängig vom Alter ist, so beziehen sich andere
Interviewte direkt auf Jugendliche und junge Menschen.
Herr Bäumler: [Wichtig ist] daß wir neben der [...] Sportvereinstätigkeit [...] auch den Jugendlichen
eine Freizeitchance geben, die sagen, sie wollen eben nicht in einen Sportverein, weil es uns viel zu
streng zugeht [...]. Oder sie sagen, wir lernen kein Instrument in der Musikschule, weil wir da jeden
Tag üben müssen. Die Tendenzen haben wir ja auch. Und auch die Aussage dazu, es ist noch nie ein
Musikschüler erwischt worden bei einer Schlägerei, weil der übt [...]. Das ist ja so ein
76
Interview (Wirtschaft II).
65
Standardargument der Musiklehrer. Ich kann das nachvollziehen. Ich war auch Musikschüler. Aber
man muß ja auch den anderen Möglichkeiten geben. Und ich denke, das haben wir bisher gut
durchgehalten,
gut
durchhalten
können,
gestützt
mit
ABM-Maßnahmen,
mit
Arbeitsamtsrückendeckung [...]. Weil wir, das ist meine Überzeugung, das brauchen. Wir brauchen die
Vielfalt von [...] Jugendtreffmöglichkeiten. Bis hin zu solchen Dingen wie D5 am Domplatz vom
Netzwerk Demokratische Kultur, bis hin zu den Jungen Gemeinden von den Kirchen, den Pfadfindern.
(Verwaltung II)
Grundsätzlich klingen hier Vorstellungen dahingehend an, was „gut und richtig“ sei für junge
Menschen. Sind Jugendliche in der Freizeit ausgelastet, ob nun durch das Üben an bzw. mit
einem Musikinstrument oder aber mit Sport und Kulturmöglichkeiten bis hin zu Angeboten
in staatlich organisierten Jugendtreffs oder in kirchlichen Räumen und Kreisen, dann bestehe
weniger die Gefahr von eskalierender Jugendgewalt auf der Straße. Indem auf verschiedene
Möglichkeiten der Betreuung von Jugendtreffs hingewiesen wird, thematisiert der Sprecher
die Verantwortung staatlicher und kommunaler Stellen für die Mitausgestaltung von
Jugendfreizeit, zeigt aber auch auf, daß es den Erwachsenen, den Älteren, um Möglichkeiten
von Kontrolle über die Jüngeren geht. Die Formulierung „Wir haben das gut durchhalten
können“ scheint uns auf zwei Dinge zu verweisen: Zum einen betrachtet der Interviewpartner
die Aufgabe, Jugendlichen ein, auf Vielseitigkeit und Attraktivität bedachtes und
sozialpädagogisch abgesichertes, Angebot machen zu können, als eine hohe
Herausforderung. Zum anderen zeigt er mit der Erwähnung arbeitsamts- und somit staatlich
unterstützter Maßnahmen eine wichtige Rahmenbedingung für die Realisierung von
Jugendprojekten auf. Und die Andeutung von enormer Mühe könnte auch als vorsichtige
Kritik verstanden werden. Handlungsspielräume sind gegeben, aber eingeschränkt.
An das Zitat oben anknüpfend seien einige Anmerkungen zum erwähnten Netzwerk
Demokratische Kultur (NDK) gemacht. Das NDK organisiert seit einigen Jahren ein breites
kulturelles Angebot, so zum Beispiel Konzerte, Lesungen, Kino oder erst kürzlich
gemeinsame Abende um die Fußball-Europameisterschaft. Das CIVITAS-Programm des
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend finanziert dem NDK eine
Stelle, eine andere halbe sowie zwei geringfügige Stellen werden aus regionalen Töpfen
bezahlt. Ansonsten lebt das NDK vom freiwilligen Engagement der bis zu fünfzig jungen
und junggebliebenen Bürger. Das NDK ist ferner Träger der Hilfsorganisation Amal
Sachsen, die sich einzelfallbezogen für die Rechte von Opfern rechtsextremer Gewalt
engagiert.77 Gerade durch die Aktivitäten im kulturellen Bereich hat sich das NDK die
Beachtung und auch Anerkennung durch etablierte Akteure in der Stadt erworben.
Herr Bäumler: [I]ch bin der festen Überzeugung, daß das Netzwerk Demokratische Kultur sich in
Wurzen etabliert hat, daß man angekommen ist in unserem System, einen festen Platz eingenommen hat
und auch dazugehört. [...]aus meiner gegenwärtigen Kenntnis, denk ich mir, ist die Zielgruppe vom
NDK keine reine Jugendszene, sondern darüber hinaus, ja. Und am Sonntagabend war ich im Museum
und nebenan lief Fußball-EM, ja. Da kommen auch Leute hin, die sind weit über dreißig. Und das ist in
Ordnung. (Verwaltung II)
Das NDK spricht also nicht nur Jugendliche an. Dies entspricht dem Umstand, daß Personen,
die das NDK gegründet haben, Erwachsene sind. Das generationenübergreifend-formulierte
Angebot reflektieren auch andere Interviewte.
77
Angaben nach Melanie Haller, Geschäftsführerin des NDK. Wurzen, 11.8.2004.
66
Frau Fröhlich: Die mühen sich. Auch mit dem Kino. Die haben jetzt so ein Kino ins Leben gerufen, da
kannst du immer mal [hingehen] [...]
Frau Blume: NDK, die hatten jetzt auch in Machern eine Veranstaltung. [...] Mit dem Liedermacher.78
Das sind wohl doch eher Leute in unserm Alter, die da hingehen.
Frau Fröhlich: Das Kulturangebot in Wurzen, da gibt es auch zu wenig. Aber ob die das nun alles mit
abdecken können? Ich denke, da sollte sich auch die Stadt ein bißchen mehr mit einklinken.
Frage: In welcher Form vielleicht?
Frau Fröhlich: Ja, daß sie sich auch mit solchen Gruppen absprechen. Vielleicht zum Beispiel so: Das
Netzwerk spricht die Stadt an nach Fördermitteln. Ich denke, so was könnte man gemeinsam machen.
(Erwachsenenbildung I)
Neben der Anerkennung und ausgedrückten Wertschätzung gegenüber dem kulturellen
Engagement anderer wird hier auch deutlich eine Forderung formuliert, nämlich
dahingehend, daß es Aufgabe der Verantwortlichen in der Kommune sei, solche Initiativen
zu unterstützen. Dies ist der Sprecherin um so wichtiger, als sie meint, daß es in Wurzen
Defizite in der kulturellen Infrastruktur gebe. Das NDK, so könnten wir interpretieren, ist der
Versuch von jungen Menschen, in ihrer Heimatstadt den Raum kulturell mit auszugestalten,
d.h. statt, wie viele junge Menschen, abzuwandern, zu sagen: Wir bleiben hier. Eine feste
lokale Verankerung und lokal organisierte Finanzierung von Projekten dieser Gruppe könnte
einen wichtigen Beitrag zur Stärkung demokratischer Stadtkultur bedeuten.79
Lokale Identität und Vergangenheit
Ein anderer Ansatz, stadtbezogene Identität zu entwickeln, ist, Wurzen als Gedächtnisort und
Ort von Geschichte zu entdecken.80 Ein Beispiel ist der Jacobspilgerweg, über den einige der
interviewten Frauen und Männer sprachen. So ein Vertreter aus der katholischen Gemeinde:
Herr Jonas: [E]ine Chance zum Beispiel hier ist dieser Jacobspilgerweg. Ich weiß nicht, ob Ihnen das
bewußt ist, daß wir an diesem Jacobsweg liegen, einer alten Handelsstraße der Via Regia. Und das ist
natürlich ein Symbol für Einbindung in eine europäische Welt, für Wurzen auch. Also unsere Kirche lag
direkt drauf. [...] Vor zwei Jahren ist eine Pilgerin vorbeigekommen, die [...] diesen Weg so gangbar
gemacht hat für Mitteldeutschland, und die da Enormes geleistet hat. Die in der Stadtverwaltung wie
auch in der evangelischen und katholischen Gemeinde, [...] Spuren gezeigt hat, die uns gar nicht so
bewußt waren. Und da denke ich, besteht eine Chance. Also wenn zum Beispiel hier Pilger ihr Quartier
aufgeschlagen haben, wenn hier Religionsunterricht ist, dann holen wir die Pilger rüber und fragen die:
„Was machen Sie in Wurzen?“ - „Ja, wir kommen nach Wurzen, weil das am Jacobsweg liegt.“ Also da
riecht es nach Schweiß hier im Raum, aber es ist interessant. Das ist so ein Punkt, wo ich denke, da
können Wurzener, also Wurzener katholische Kinder und Jugendliche [...] eine Verortung entwickeln.
Daß man sagt, von außen schaut man auf Wurzen als eine Pilgerstation. (Kirche I)
Dem entgegen heißt es in einem anderen Interview:
Herr Meinert: Die Katholiken haben damit nichts zu tun, sondern die Evangelische Landeskirche. Und
zwar die Jugendbeauftragte hat das initiiert. Und es ging darum, daß man alte Wege, alte
transkontinentale Wege für alternative Fortbewegung wiederentdeckt. Und dazu sollte der
Jacobspilgerweg [gangbar gemacht werden]. (Erwachsenenbildung III)
78
Gemeint ist ein Konzert mit dem Liedermacher Bernd Begemann am 28.2.2004.
Auf das NDK werden wir unten noch zurückkommen.
80
Mit den Begriffen Gedächtnisort und Ort der Geschichte beziehen wir uns auf den französischen Geschichtsund Sozialwissenschaftler Nora, Pierre (1990): Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Berlin. Besonders S. 29.
79
67
Ohne hier Konkurrenzen hinsichtlich Wissen und Handlungsmacht überbewerten zu wollen,
geht es uns darum, anhand der, bislang wohl noch wenig ausgereiften, Ideen rund um den
Jacobspilgerweg darauf hinzuweisen, daß sich hier ein „Identifikations- und
Tätigkeitsangebot“ auftut. Und auch wenn der Ursprung des diesbezüglichen Anstoßes
widersprüchlich dargestellt wird und diskutiert werden kann, bietet sich doch die Möglichkeit
für eine Vielzahl von kirchlichen und nicht-kirchlichen Akteuren jeglichen Alters, in einem
landschaftlich reizvollen Rahmen Spuren von Geschichte zu entdecken und damit auf
Prozesse kollektiver Identitätsbildung einzuwirken.81
Um Spuren von Geschichte und darüber hinaus um Verantwortung geht es auch bei
Erinnerungs- und Gedenkpraktiken, bezogen auf die Zeit des Nationalsozialismus. Zu
erwähnen wäre hier der vom NDK und anderen alljährlich, organisierte Gedenkmarsch von
Borsdorf nach Wurzen oder aber an die im Gymnasium aufgestellte Ausstellung über
ausländische Zwangsarbeiter in der Region.82 Darüber hinaus wird sich über andere
Möglichkeiten von Erinnerungskultur und Erinnerungsarbeit vor Ort Gedanken gemacht.
Herr Meinert: Es gibt keine Juden mehr [in Wurzen]. [...] Man müßte an bestimmten Gebäuden – in der
Wenceslaigasse wäre das möglich, hier wäre das möglich, in der Dr.-Rudolf-Friedrich-Straße wäre das
möglich und das wäre in der Domgasse 17, 19 möglich, wo Seeligmanns wohnten – mit einem
schlichten Hinweis daran erinnern. Amos Oz in Israel hat gesagt, als es um die Diskussion um die
Gedenkstätte in Berlin ging [...] Betonwüste. Ist alles Quatsch. Brauchen wir nicht. Es wäre viel
intensiver, wäre viel gerechter, wenn man an jedes Haus, wo einmal Juden wohnten [und] vertrieben
wurden, eine kleine Tafel, einen kleinen Hinweis [anbrächte]. Das wäre so viel in Deutschland, da
braucht man nicht so eine Betonwüste dort zu bauen. Der Mann hatte recht. So ein Hinweis, das könnte
man in Wurzen natürlich machen, wenn der jetzige Besitzer damit einverstanden ist.
(Erwachsenenbildung III)
Hier liegt ein Anknüpfungspunkt für eine bürgerlich organisierte Initiative in Wurzen.
In Sachen Migration
Wir möchten noch einmal auf eine Interviewpassage von oben zurückkommen, in der ein
Akteur, den wir der Verwaltung zugeordnet haben, hinsichtlich der Jugendfreizeitangebote
betont, daß die Stadt eine Vielfalt an Angeboten für die Jugend brauche. Interessant erscheint
uns, daß „Vielfalt“, also nicht Vielzahl, von Jugendtreffs für sinnvoll und notwendig erachtet
wird. Die Aufzählung verschiedener Dinge bis hin zum Netzwerk Demokratische Kultur und
zu den Pfadfindern skizziert diese Vielfalt.
In Wurzen leben mehrere hundert Spätaussiedler, oftmals in größeren Familien. Einige der
von uns interviewten Frauen und Männern sprachen auch bei anderer Gelegenheit an, daß
Probleme im Zusammenleben von hier aufgewachsenen und zugewanderten Jugendlichen
auftreten würden. Und einige hielten die Möglichkeit, Spätaussiedlern einen eigenen Treff zu
geben mit einem fachlich und sprachlich geeigneten Jugendsozialarbeiter, der bei alltäglichen
81
Eine interessante Initiative ist auch die auf lokale Geschichte bezogene Werkstatt, die der Verein für
umweltbewußtes und soziales Handeln betreibt.
82
Zu erwähnen wäre auch das beim Sax-Verlag herausgegebene und vom Wurzener Stadtchronisten Wolfgang
Ebert aus dem Niederländischen übertragene und mit einer Nachrede versehene, Buch des ehemaligen
niederländischen Zwangsarbeiters Bremer, Geert (2001): Dem Feinde zuwinken. Ein Niederländer erzählt über
seine Wurzener Zwangsarbeiterjahre 1943-1945. Beucha.
68
Problemen der Eingliederung hilft, für diskutierenswert.83 Und auch wir würden die Frage
aufwerfen, ob es nicht sinnvoll sei, zugewanderten Jugendliche wie Spätaussiedlern die
Möglichkeiten zu geben, sich mit ihren eigenen kulturellen Präferenzen in einem eigenen
Jugendtreff zu versuchen. Andere Interviewte vertreten dazu eine andere Meinung.
Herr Bäumler: Das würde ich verneinen. Kategorisch. Weil ich der Überzeugung bin [...]: Wir haben
die Aufgabe, die Spätaussiedler so gut wie möglich zu integrieren und nicht zu separieren. Es wäre ein
Grundfehler, Spätaussiedlerkindern einen eigenen Treff zu geben. Ich finde das bedauerlich, daß die
sich eigene Gangs bilden, auch durch Sprachhürden. [...] Ich bin der Meinung, wir müßten viel
deutlicher darauf drängen, auf unbedingte Sprachkompetenz der Spätaussiedler, um deren Integration
zu erleichtern. Das ist mein Eindruck, [das] wird [...] noch nicht konsequent genug gemacht. Ja, und
wer hier leben will und wer zu uns herkommt... [...] Auch wenn die Kinder sagen, wir wollen gar nicht
herkommen, wir sind mitgebracht worden. Ich kenn das Problem. Dann ist das trotzdem eine Frage
auch der staatlichen Autorität [...] zu sagen, wenn du hier bleiben willst, dann hast du Deutsch zu
lernen. (Verwaltung II)
Was wäre so problematisch daran, wenn Spätaussiedlerkinder und -jugendliche einen
eigenen Club bekämen? Dies würde ja nicht ausschließen, daß diejenigen
Spätaussiedlerjugendlichen, die es wollen, weiterhin von Deutschen betriebene Jugendtreffs
besuchen. Wichtig scheint uns aber, auf diese Frage genauer einzugehen:
Wie auch hier aufgewachsene Deutsche organisieren sich viele der jungen Zugewanderten
aus der ehemaligen Sowjetunion in Cliquen (Peergroups)84. Und diese spezifischen
Jugendgruppen sind Ausdruck von Geschmack, Lebensstil und Identität zum einen, zum
anderen aber konstituieren sie einen sozialen Raum, um all dies zu entwickeln, zu verhandeln
und zu pflegen. Wenn solche Praxis bezüglich der „normalen“ Deutschen akzeptiert und in
der Jugendpolitik versucht wird zu berücksichtigen, warum dann eine andere Auffassung
bezüglich der Spätaussiedler, zumal diese doch in der Statistik als Deutsche geführt werden.
Klar wird hier die Auffassung, diese Gruppe der Zugewanderten müßte sich voll integrieren.
Geht es aber wirklich um Integration oder nicht eher um Assimilation? Und hieße die
Forderung nach Anpassung nicht, die multiplen Identitäten von Zugewanderten, die
Ausdruck für Brüche in den Biographien und Versuche von Neuverhandlung
lebensweltlicher Einstellungen sind, zu ignorieren?85 Um in die Gesellschaft hinein zu
agieren, bedarf es der Sicherheit in der eigenen Gruppe, braucht es eine starke Identität, nicht
eine solche voller Brüche. Aber steckt hinter der Forderung an Zuwanderer nach absoluter
Anpassung nicht auch ein bißchen die Angst vor Kontrollverlust und davor, daß es Räume in
der Kommune geben könnte, in denen Angehörige der Mehrheitsgesellschaft plötzlich zu
einer Minderheit werden? Sollte eine starke Demokratie nicht aber damit leben können, daß
Vielfalt auch die Akzeptanz von Minderheiten bedeutet? Und wenn eine Störung der
Kommunikation in der Kommune befürchtet wird, wäre dann nicht Zeit, nach Möglichkeiten
für eine gleichberechtigte Aushandlung von Positionen Ausschau zu halten, nach
Möglichkeiten, die nicht auf eine Anpassung hinauslaufen?
83
Interview (Kirche II), informelle Gespräche (Erwachsenenbildung I), (Jugendsozialpflege I), (Stadtrat II).
Stecken hinter der Verwendung des Wortes „Gang“ Vorurteile, die sich mit dem Begriff „Russenmafia“
verbinden?
85
Vgl. Herwartz-Emden, Leonie & Westphal, Manuela (1998): Akkulturationsstrategien im Generationen- und
Geschlechtervergleich bei eingewanderten Familien. Expertise im Auftrag der Sachverständigenkommission 6.
Familienbericht, BMF SFJ. Ferner: Treder, Anna (1998): „Psychische Aspekte der Migration und ihre
Entwicklung im Integrationsprozeß“, in: Bundesarbeitsgemeinschaft Jugendaufbauwerk / BAG JAW (Hg):
Jugend-Beruf-Gesellschaft. Beratungs- und Betreuungsarbeit für junge Aussiedler. 36. Sozialanalyse. S. 50-61.
84
69
Netzwerk Demokratische Kultur
Mehrere der von uns interviewten Frauen und Männer ließen erkennen bzw. wiesen explizit
darauf hin, daß sich der Begriff Demokratie für sie mit einer spezifischen Ausgestaltung von
als sozial und politisch verstandenen Begegnungen verbinde. Vielfach drehte sich in dem
Zusammenhang das Gespräch um das Netzwerk Demokratische Kultur. Dabei wurden auch
Kritik und Vorwürfe erhoben.
Herr Rudolfs: Rechtsradikalismus kann man nicht mit HipHop-Konzerten und mit Demonstrationen
ernsthaft bekämpfen. Hier muß man, glaube ich aus meiner Sicht, anders vorgehen.
(Erwachsenenbildung II)
Der Sprecher kritisiert hier den Event-Charakter bestimmter Handlungsformen, derer sich
einige Akteure im Kampf gegen „Rechtsradikalismus“ bedienen würden. Allerdings ist
HipHop Ausdruck einer Subkultur, der freilich zumeist junge Menschen angehören und die
eine ernsthafte Konkurrenz zu rechter Subkultur darstellt.86 Ansonsten würden wir der
Aussage, daß es mehr brauche als kulturelle und politische Events, um sich mit
Rechtsextremismus ernsthaft und wirkungsvoll auseinanderzusetzen, zustimmen. Welche
anderen Möglichkeiten aber gibt es?
Herr Ellrich: [I]ch glaube auch, daß das NDK heute andere Funktionen hat, als es damals hatte. [...]das
NDK macht etwas, was zum Aufbau demokratischer Kultur wirklich im eigentlichen Sinne gehört. Und
das ist sicherlich auch etwas, was genau auf das Thema Rechtsextremismus abzielt, weil da ja wirklich
eine Un-Demokratie herrscht. [Das NDK ist] eine Gruppe von jungen Erwachsenen, die sich gegen
Rechtsextremismus stellt. [Sie] nennen das Haus [aber] bewußt Bürgerzentrum, Bürgerkulturzentrum.
[...] weil [...] es wichtig [ist], die Meinungsführer und diejenigen, denen ernsthaft diese Stadt und
Region am Herzen liegt zu beteiligen. Und das ist eigentlich das Ziel: Entscheidungsprozesse
anzuleiern. Das ist, glaube ich, der tiefere Inhalt. (Kultur I)
Angesprochen ist hier der Begriff Demokratische Kultur als ein Gegenentwurf zu
Rechtsextremismus, der wiederum „Un-Demokratie“ sei. Demokratische Kultur bedeute eine
bürgerliche
und
bürgerorientierte
Organisation
und
Ausgestaltung
von
Entscheidungsprozessen. Das Zitat verweist auf Möglichkeiten eines solchen Agierens nach
außen. Die Frage ist, wer Entscheidungsprozesse „anleiert“ und unter welchen Bedingungen
wem wie ein Angebot zur „Beteiligung“ unterbreitet. Denn wenn es um die Umsetzung von
Projekten geht, dann haben erfahrungsgemäß und mit Erfahrungen begründet sehr
verschiedene Akteure sehr verschiedene Auffassungen. So können sich in der Praxis jede
Menge Reibungspunkte mit anderen Akteuren ergeben.
Frau Lehmann: Ich hab zu diesem Netzwerk ´ne zwiespältige Meinung. Und das hängt einfach damit
zusammen, daß sie sicher viele gute Ideen haben und positive Dinge machen möchten und auch die
Schulen da gerne mit im Boot hätten, aber ich wehre mich einfach dagegen, daß mir Dinge aufs Auge
gedrückt werden. [...] dann verpuffen einfach viele Aktionen, weil, die wollen etwas Riesiges auf die
Beine stellen, und ich krieg ´s zwei Tage vorher auf den Tisch. Und dann geht natürlich organisatorisch
nichts mehr. [...] Die jungen Menschen sehen das immer sehr schwer ein, daß ich nicht vierhundert
Schüler in zwei Tagen für irgend ´ne Geschichte am Wochenende [...] mobilisieren kann. (Bildung II)
Kommunikationsstörungen, die in der Konsequenz Kooperation verhindern, sind
angesprochen. Und das Zitat gibt Anlaß zu einer Reihe von generellen Fragen: Verlangen wir
nicht oft genug anderen Kompromisse ab, ohne selbst kompromißbereit zu sein?
Berücksichtigen die, an der Begegnung beteiligten, Akteure die jeweiligen
86
Siehe oben das Beispiel über Auseinandersetzungen an der Schule.
70
Handlungsbedingungen des anderen? Wenn nicht, was sind Ursachen dafür? Veranlassen
nicht auch oft aktuelle Ereignisse zu Handlungen, die ein Mehr an Flexibilität erfordern?
Und, bezugnehmend darauf, daß hier wieder auf eine Aktion mit Event-Charakter verwiesen
wird: Gibt es nicht auch unter Zeitdruck immer auch Spielraum zur Diskussion über
Aktionsformen? Es sei allerdings hier auch angemerkt, daß die Interviewpartnerin eine
Erklärung dafür nahe legt, warum Kommunikationsstörungen vorkommen: „Die jungen
Menschen sehen das immer sehr schwer ein.“ Die Sprecherin redet nicht etwa von
„Mitgliedern von ...“, die irgend etwas nicht verstehen wollten, sondern von „jungen
Menschen“ und setzt sich von diesen ab. Soll damit nicht zum Ausdruck gebracht werden,
daß junge Akteure prinzipiell sporadisch, aktionistisch und anmaßend, nämlich die
potentiellen Partner vor vollendete Tatsachen des engagierten Handelns stellend agieren?
Und wenn dies so ist, beunruhigt das die Sprecherin?
Wie auch immer, kritische Töne zum Agieren des NDK kamen auch von anderen
Dabei
verorteten
die
Interviewten
einen
Hauptgrund
für
Interviewten.87
Kommunikationsstörungen darin, daß das NDK eher von Berlin aus unterstützt werde und
dies auch nur, wenn es dauerhaft nachweisen könne, daß es wegen der anhaltenden Probleme
mit Rechtsextremismus weiterhin förderungswürdig sei. Allerdings wurden dann auch eher
Förderrichtlinien ob ihrer Sinnhaftigkeit in Frage gestellt und es wurde die Hoffnung
geäußert, daß sich das NDK im Gemeinwesen verankert und dauerhaft etablieren würde.88
Ging es bis hierher um die Beteiligungsangebote nach außen, so gibt es auch noch die Ebene
Binnenstruktur der Gruppe NDK.
Herr Ellrich: [D]as NDK [...] beweist, was sonst nur geredet wird, nämlich die große Menge an
ehrenamtlich Beteiligten, die es hier nirgendwo in einem Verein gibt. [Das heißt auch] Beteiligung schaffen,
insofern, daß Leute, wenn sie ein Projekt machen, wirklich bestimmen, wie das aussieht und gestaltet wird.
(Kultur I)
Eingangs zu diesem Unterkapitel hatte ein anderer Interviewpartner davon gesprochen, daß
freiwilliges Engagement für das Leben in der Kommune dabei helfe, eine demokratische
Gemeinschaft auszugestalten. Hier nun haben wir ein Beispiel für ehrenamtliches
Engagement. Dieses bietet Chancen.
Herr Schumann: Ich meine, hier ist ja eine für meine Begriffe bewundernswerte Initiative in Wurzen tätig,
dieses Netzwerk. [...] Die Chance, die jetzt [besteht], jetzt eine solche Einrichtung zu nutzen, um vielen
Jugendlichen eine Möglichkeit zu geben, [...] eine Form der Freizeitgestaltung zu finden, [...] um jetzt mal
wegzukommen und eine Alternative zu irgend welchen rechtsradikalen Geschichten zu bieten, [...] die ist
sicherlich lange Zeit vertan worden. [...] die sind ja damals auch vom Bundespräsidenten ausgezeichnet
worden. Da war die Reaktion der Stadt auch nicht besonders glücklich. (Wirtschaft I)
Frau Fröhlich: Ich finde es wirklich gut, daß wir auch so ´ne Alternative haben. Ich bewundere den X., ich
sag mal, der kleine X. [...] Daß der den Mut hatte, so ´ne Sache ins Leben zu rufen. Ich weiß nicht, drei
Mann waren die damals, als sie angefangen hatten. Also da gehört auch Mut dazu, denn die sind ja auch
gegen die Richtung geschwommen. Und viele haben gesagt: Ach der. Und guck doch mal, das wird doch
nichts. Ich will nicht sagen, was sonst noch gesagt wurde. Aber ich finde, das, was die entwickelt haben,
das ist viel Arbeit. Das honoriere ich. Und eine mutige Sache. Denn, das ist ein Gesicht, den kennen jetzt
die Rechten in Wurzen. Und wenn die es auf sie abgesehen haben, das weiß er, daß er auch mit dran ist.
(Erwachsenbildung I)
87
88
Interview (Wirtschaft II), Nachgespräch zum Interview (Jugendsozialpflege II) sowie Gespräch (Medien I).
Besonders Nachgespräch Herr Ehrlicher (Jugendsozialpflege II).
71
Beide Zitate wollen den Blick wiederum darauf lenken, daß beim NDK junge Menschen
agieren. Und beide Zitate können so verstanden werden, daß Engagement Anerkennung
braucht, um auf Dauer durchgehalten zu werden. Vor allen Dingen aber braucht es
kommunebezogene Anerkennung, Unterstützung und strukturelle Verankerung. Dies gilt
aber auch für andere Initiativen, die sich mit dem Thema Rechtsextremismus beschäftigen,
wobei das Thema eingebettet sein kann in generellere Möglichkeiten zur Ausgestaltung des
bürgerlichen und demokratischen Gemeinwesens und der Gesellschaft. Erinnert sei an die
Standortinitiative, die sich als Teil einer „Bürgergesellschaft“ versteht und
Kommunikationsprozesse zugunsten der Stärkung bürgerlicher Rechte und Erhöhung der
Lebensqualität in der Stadt befördern und ausgestalten will.89 Erinnert sei aber auch an
Gesprächskreise sowohl in der katholischen als auch der evangelisch-lutherischen Gemeinde.
Sinnvoll scheint uns dabei die Akzeptanz, daß es um Prozesse des Verhandelns von
Positionen gehen sollte. Daß also nicht die eigene Deutung als die allein richtige betrachtet
wird und der Versuch der rigorosen Durchsetzung dieser Position unternommen wird.
Verhandeln setzt zwar starke Positionen voraus, aber nicht unumstößliche. Wir möchten an
ein früheres Unterkapitel anknüpfen, in dem verschiedene Interviewpartnerinnen und
Interviewpartner die Suche nach Sicherheit verleihender Identität als typisch für Jugendliche
beschrieben hatten. Die Frage ist: Ist die von Erwachsenen gelebte und selbstpräsentierte
Identität denn wirklich „sicher“ und daher derjenigen der Jüngeren überlegen? Und was
verlieren wir Erwachsenen, wenn wir Unsicherheiten im Umgang mit der komplex
strukturierten gesellschaftlichen Realität zugeben?
5.4. Zwischenfazit
In diesem Unterkapitel beschäftigten uns Positionen unserer Interviewteilnehmerinnen und
Interviewteilnehmer zum Thema Rechtsextremismus. Dabei strukturierten wir die Fülle an
Aussagen nach Wahrnehmungen des Phänomens, Deutungen vor allem hinsichtlich Ursachen
für das Phänomen und schließlich darauf bezogene tatsächliche oder mögliche Handlungen.
Die von uns interviewten Frauen und Männer verwiesen auf reale Handlungserfahrungen und
auf Begründung sowie Legitimierung von Handeln, der anderen sowie des Selbst.
Wir befragten die Interviews nach Wahrnehmungen, die sich in vorgetragenen
Argumentationen und in Beleggeschichten sowohl auf der manifesten als auch der latenten
Bewußtseinsebene aufspüren ließen. Wir präsentierten eine Reihe von Beispielen, in denen
es um Verletzungen ging, körperlich und seelisch durch Schläge und Tritte, noch mal
seelisch durch Erniedrigungen, Herabsetzungen und Beleidigungen und schließlich durch die
Nicht-Erfüllung erwarteter Gerechtigkeit, die in Verantwortung der Justiz verortet wurde.
Wir referieren hier auch an den Titel unserer Studie: „Mein Sohn wurde von Rechten
zusammengeschlagen“, hieß es sinngemäß in einer Interviewpassage. Es sei nochmals darauf
hingewiesen, daß es die Menschen von nebenan und nicht vorrangig die uns angeblich so
„Fremden“ und „Ausländer“ waren, die hier als Opfer rechter Gewalt vorkamen. Dabei
89
Interview (Wirtschaft II).
72
wurde anhand der Interviewpassagen deutlich, daß zum Beispiel Gewalterfahrungen im
Zusammenhang mit Rechtsextremismus kaum in die Gesellschaft kommuniziert werden,
sondern bei einzelnen Individuen oder kleinen sozialen Gruppen wie Familie bleiben. Ist es
tatsächlich so, daß viele Menschen mit ihren konkreten und oft mit Gewalt verbundenen
Erfahrungen in Sachen Rechtsextremismus eher auf sich allein gestellt sind? Und wenn das
so ist, was sind Gründe? Liegt es daran, daß andere nicht zuhören wollen, wenn es um
Gewalterfahrung geht? Und was schränkt die Fähigkeit zum Sprechen ein? Scham oder aber
Schuldgefühle, die daraus erwachsen, dass die Betroffenen denken, selbst ihre Situation
verschuldet zu haben? Wo aber sind Möglichkeiten, eine Kommunikation zum Thema anders
zu gestalten?
Die Interviewten führten uns vor, daß und wie Menschen versuchen, wahrgenommene
Phänomene und persönliche Erfahrungen zu deuten, d.h. die soziale Realität zu erklären und
durch eine Erklärung Handhabbarkeit von im Grunde genommen, äußerst komplexen
Problemen herzustellen oder auch nur anzudeuten. Dabei blickten die Interviewten aus
verschiedenen Perspektiven auf das Problem Rechtsextremismus, wobei es für viele offenbar
nicht nur eine einzige gültige Perspektive gab, sondern verschiedene.
Generell wurde Rechtsextremismus von allen Interviewten als Problem betrachtet. Inwieweit
aber das Problem selbst zu einem Gegenstand erhoben wird, d.h. klargestellt wird, daß
Rechtsextremismus („Rechtsradikalismus“, rechts) auf der Tagesordnung der zu
diskutierenden Probleme stehe und sich ernsthaft Gedanken um Handlungsstrategien
gemacht werden müsse, ist eine andere Frage.
Um Dimensionen tatsächlicher und möglicher Handlung ging es im Anschluß. Staatlich
organisierte Repression und Prävention, individuelle Nutzung strafrechtlicher Möglichkeiten,
pädagogische und sozialpädagogische Ansätze, individuelle Strategien in Gewaltsituationen,
gesellschaftspolitische Optionen sowie kulturelle Möglichkeiten konnten aufgezeigt,
zumindest aber angedeutet werden. Aber immer auch Grenzen, auf die wir in der Darstellung
entsprechend hinwiesen. Und so widersprüchlich die soziale Realität reflektiert bzw.
dargestellt wurde, so widersprüchlich waren auch Vorstellungen, wenn es um
Handlungsstrategien zu Rechtsextremismus ging.
6. Fazit
6.1. Zusammenfassung
Eingangs zu dieser Studie gingen wir davon aus, dass insbesondere wegen der spezifischen
Erfahrungen in den 90er Jahren in Wurzen kaum eine öffentliche Kommunikation zum
Thema Rechtsextremismus stattfindet. Über das Anregen von Erinnern versuchten wir einen
Zugang zu finden zu individuellen Wahrnehmungen und Deutungen, die kommunale Akteure
zum Thema lebensgeschichtlich und in Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen
Realität entwickelt haben. Bereits das, was als Erinnerung präsentiert wurde, verwies auf
eine Reihe von Konzepten, mit denen das Thema Rechtsextremismus in der und für die
Praxis handhabbar gemacht wurde und werden kann.
73
Wir analysierten das durch die Interviews zustande gekommene Material ferner nach
aktuellen und allgemein wahrnehmbaren Phänomenen, nach Erklärungen für diese sowie
nach realen Handlungsoptionen, die sich aus der Reflektion des Erlebbaren und des
Erfahrbaren ergeben können. Die Wahrnehmung von Rechtsextremismus bezog sich
weitgehend auf Symbole und symbolisches Handeln, auf Konkurrenzen in den Deutungen
von der Welt und des eigenen Seins sowie auf Gewaltereignisse und Gewaltformen, wobei
zuletzt genannte sich in bestimmten Räumen und in Regeln der sozialen Interaktion
ausdrückten. In der Interpretation und Analyse rechtsextremen Handelns und rechtsextremer
Strukturen nahmen die Interviewten verschiedene Perspektiven ein und verschränkten zum
Teil diese miteinander. Dabei blieben für die Interviewpartnerinnen und Interviewpartner,
aber auch für uns viele Fragen offen. Was die handlungsoptionale Ebene betrifft, konnte
vieles an Möglichkeiten aufgezeigt und auch Erfolge angeführt werden. Auch wurden
konkrete Verantwortlichkeiten benannt. Allerdings war bei vielen Gelegenheiten zu fragen,
wo die Reichweite bestimmter zielgerichteter Handlungen liege erstens, und zweitens, ob
nicht Handeln oftmals von der eigenen Person wegdelegiert werde.
Auch wir sind weder in der Lage noch willens, fertige Antworten dahingehend, wie mit
Rechtsextremismus umgegangen werden sollte, zu präsentieren. Vielmehr möchten wir einen
Zugang anregen zu einem Feld voller nachdenkenswerter und diskussionswürdiger Fragen:
* Welche Wirkung können Repression und Prävention haben, wenn sie zum einen an
gesellschaftspolitische, verfassungsrechtliche und strafrechtliche Grenzen stoßen und zum
andern rechte Akteure sich ihnen, geschützt durch bestimmte soziale Räume, zu entziehen
vermögen?
* Können Repression und Präventionsmaßnahmen eine offen und offensiv geführte politische
Debatte um Rechtsextremismus ersetzen?
* Wie können Opfer und betroffene Angehörige in ihren Rechten und in ihrer Würde
geschützt werden?
* Wie kann eine Raum-Zeit-Begegnung mit Opfern und Angehörigen so gestaltet werden,
daß es für die einen möglich wird zu sprechen und für die andere zuzuhören?
* Verstellt eine einseitige Erklärung von Rechtsextremismus als sozialökonomisch
begründetes Problem nicht den Blick auf andere Dimensionen wie die sozialpsychologische?
* Ist es sinnvoll und dem Problem angemessen, vor allem aber, ist es gerecht, ein eigentlich
gesellschaftliches Problem zu einem Jugendsozialproblem zu machen und somit die
gesellschaftliche und politische Verantwortung an Lehrer und Sozialarbeiter abzudelegieren?
* Nimmt eine Fixierung auf pädagogische und jugendsozialpflegerische Ansätze nicht die
Politik aus der Verantwortung?
* Was heißt Politik und wer sind politische Akteure? Ist es sinnvoll, Politik auf eine
parteipolitische und parlamentarische Ebene beschränkt zu sehen und an diese das Problem
Rechtsextremismus abzudelegieren?
* Davon ausgehend, daß ein rechtsextremistisches Volksgemeinschafts- und Staatsideal
Freiheitsrechte im Sinne der bürgerlichen Aufklärung negiert und sich diese Negation im
gewaltsamen und völkisch-rassistischen Handeln rechter Akteure niederschlägt, muß es da
nicht Aufgabe und Inhalt individuellen und kollektiven bürgerlichen Engagements sein, diese
Freiheitsrechte zu schützen?
74
* Wie kann bürgerliches Engagement gestaltet werden?
Wir möchten all diese Fragen und das nachdenken über sie jedoch noch für einem Moment
zurückstellen und uns im folgenden einer, mehr analytischen Ebene zuwenden.
6.2. Deutungsmuster
Im Aufspüren und Darstellen von Wahrnehmungen unserer Interviewpartner und
Interviewpartnerinnen und in den auf diese Wahrnehmungen bezogenen Erklärungen sowie
Handlungsorientierungen fanden sich Hinweise auf etwas, was in den Sozialwissenschaften
Deutungsmuster genannt wird. Unter Deutungsmustern verstehen wir Sichtweisen und
Interpretationen, die Individuen durch Sozialisation und durch lebensgeschichtlich
begründete Auseinandersetzung mit der sozialen Realität internalisiert und entwickelt haben.
Dabei ermöglichen solche Deutungsmuster dem Individuum, sich in alltäglichen und
außeralltäglichen Situationen zu orientieren und Handlungen zu erklären und zu
rechtfertigen. Begründung und Legitimation des Handelns wiederum reproduziert
Orientierungen bzw. die diesen Orientierungen zugrundeliegende Muster. Deutungsmuster
weisen also neben kognitiven auch normative und motivationale Momente auf. Dabei sind
sie einem Individuum nicht unbedingt und zu jeder Zeit bewusst.90
90
Vgl. auch Arnold, Rolf(1983): „Deutungsmuster. Zu den Bedeutungselementen sowie theoretischen und
methodologischen Bezügen eines Begriffs.“ In Zeitschrift für Pädagogik, 29. S. 893-912. Ferner: Schütze,
Yvonne (1986): Die gute Mutter. Zur Geschichte des normativen Musters „Mutterliebe“. Bielefeld. Wir könnten
auch von „Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata“ und von „strukturierten und strukturierenden
Strukturen im Sinne Bourdieus sprechen. Vgl. Bourdieu, Pierre (1976): Entwurf einer Theorie der Praxis auf der
ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Frankfurt am Main.
75
Schaubild91:
Deutungsmuster
(sozial verfügbare Interpretation und
Legitimation)
Problem
Situationsdefinition
Handlungsorientierung
Handlung
Begründung / Legitimation
Schwierig ist es, Bewußtseinsstrukturen punktgenau zu benennen. Daher versuchen wir eher,
solche Strukturen, d.h. solche Muster atmosphärisch dicht zu beschreiben.
Beispiel 1
Muster
Dimensionen internalisierten Vorwissens
„Die normale Mitte“.
- Geber und Garant gesellschaftlicher Normen ist die Mitte.
- Akteur der Mitte ist der aufgeklärte Bildungsbürger.
- Demokratische Werte haben in der Mitte die höchste Dichte.
- „Links“ / „rechts“ ist nicht normal, sondern Abweichung.
- „Links“ und „rechts“ fordern die Mitte heraus.
Problem:
Rechtsextremismus
Situationsdefinition:
- Es gibt ein Problem mit rechts.
- „Rechts“ ist undemokratisch / antidemokratisch, aber Bestandteil von Demokratie.
- „Rechts“ entsteht, weil die demokratische Mitte nicht stark genug ist.
- „Rechts“ hat den Gegenpol „links“.
- Extremismus („rechts“ wie „links“) basiert auf Unwissen.
Handlungsorientierung / Handlung:
- Demokratische Mitte stärken heißt „rechts“ schwächen.
- Gegenpol „links“ muß mitthematisiert werden und ebenso geschwächt werden.
- Aufklären und Belehren. (Pädagogisieren).
91
Nach Ullrich, Carsten G., a.a.O. S. 5.
76
- Aufforderung zur Anpassung an das Normale. (Repression, Prävention, Pägadogisieren)
Begründung / Legitimation:
- Verweis auf Erfolge.
- Verweis auf die normativen Komponenten der Mitte.
- Bürgerliche Demokratie sei das herrschende / ein bewährtes / ein gutes Modell.
- Verweis auf Alternativen zum Modell bürgerliche Demokratie, welche die Würde des Menschen verletzen
würden und historisch gescheitert seien.
Beispiel 2
Muster:
Dimensionen internalisierten Vorwissens
„Wissen und Handlungskompetenz
sind an Alter gekoppelt.“
- Lebenserfahrung heißt Wissen.
- Ältere haben Wissens- und Definitionsrecht und –macht
- Dies rechtfertigt Herrschaft über Jüngere.
- Ältere handeln rational.
- Jüngere handeln irrational.
Problem:
Rechtsextremismus
Situationsdefinition:
- Ältere „Rechte“ als Verführer / Anstifter / Rattenfänger.
- Jüngere „Rechte“ verführt / angestiftet / irregeleitet.
- Jugend läuft generell Gefahr, von Extremismus verführt zu werden.
- Rechtsextremismus ist ein Jugendproblem
Handlungsorientierung / Handlung:
- Jugend muß kontrolliert und überwacht werden.
- Aufklären und Belehren. (Pädagogisieren)
- Jüngere Akteure in Bezug auf „rechts“ sind wenig kompetent (ihnen fehlt Wissen, sie handeln sporadisch und
aktionistisch) und müssen belehrt oder neutralisiert werden.
- Jugend muß einsehen, daß sie lernen muß.
Begründung / Legitimation:
- Verweis auf Soziobiologie
- Verweis auf eigene Biographie und Prozeß des Erwachsenwerdens.
- Verweis auf Erfolge von Aufklärung und Sanktion und Beispiel gelungener Anpassung von Jugendlichen.
- Wissen basiere auf Lebenserfahrung.
Beispiel 3
Muster
Dimensionen internalisierten Vorwissens
„Die Welt ist durch jeden
verhandelbar.“
- Strukturen sind durch Handeln veränderbar.
- Handlungskompetenz und Handlungswissen ist unabhängig
verteilt von Alter, Geschlecht, Schicht / Klasse, Herkunft etc.
Problem:
Rechtsextremismus
Situationsdefinition:
- Es gibt ein Problem mit „rechts“.
77
- „Rechts“ ist undemokratisch / antidemokratisch und reduziert Handlungskompetenz auf eine völkisch
definierte Elite.
- Akteure von „rechts“ wissen, was sie tun, handeln zielgerichtet und strategisch.
- „Rechts“ ist KEIN Jugendproblem.
Handlungsorientierung / Handlung:
- „Rechte“ Akteure ernst nehmen und nicht für unmündig halten.
- Selbstbewußtsein hinsichtlich eigener Handlungsfähigkeit entwickeln.
- Kernkompetenzen anderer, potentieller Partner erkennen.
- Wege suchen, um Strategien in Bezug auf „rechts“ gemeinsam auszuhandeln.
Begründung / Legitimation:
- Verweis darauf, daß das Zugestehen von Handlungskompetenz an alle Menschen Ausdruck für
gleichberechtigten Umgang in sozialen Begegnungen sei.
- Verweisen auf Erfolge der Kooperation.
Diese Deutungsmuster sind keine für sich selbst stehenden Idealtypen. Im übrigen war auch
nicht Ziel unserer Studie, eine fallbezogene und fallkontrastierende Deutungsmusteranalyse
vorzunehmen.92 Dabei dürfte klar sein, dass das „Repertoire“ vorhandener und verfügbarer
Interpretationen und Legitimationen eine Fülle an Kombinationsmöglichkeiten zulässt. Was
wir hier mit Beispielen allerdings versuchen, ist aufzuzeigen, wie Bewusstseinsstrukturen
Praxis zu strukturieren vermögen. Und wir möchten Anlaß geben, eigene Sichtweisen und
Erklärungen zu reflektieren.
7. Ressourcen bürgerlichen Engagements
Oben fragten wir danach, wie bürgerliches Engagement in bezug auf Rechtsextremismus
ausgestaltet werden kann. All unsere Wurzener Interviewpartnerinnen und Interviewpartner
aus Politik, Wirtschaft, Kultur, Bildung, Erwachsenenbildung, Sozialer Arbeit und Beratung,
Kirche, Medien und Polizei betrachteten Demokratie als eine schützenswerte, wenn auch
veränderbare Größe, die durch Akteure von rechts bei allen Beteiligungsversuchen in Frage
gestellt, wenn nicht sogar ernsthaft bedroht werde. Die Interviews lieferten eine Reihe von
Hinweisen darauf, daß und wie sich Menschen als Bürgerinnen und Bürger dieser Stadt und
dieses Landes selbst verstehen und engagieren bzw. auf Möglichkeiten bürgerlichen
Engagements. Diese greifbaren Möglichkeiten möchten wir hier als Ressourcen bezeichnen
und skizzieren.
1.
Grundsätzlich besteht eine wichtige Ressource des Handelns darin, über
Rechtsextremismus zu sprechen und ihn ernsthaft zu problematisieren. Dabei kann
das Bedürfnis zu sprechen sehr unterschiedlich motiviert sein. So Leidensdruck, der
aus konkreten Gewalterfahrungen mit Rechtsextremismus resultiert, aber auch
92
Möglich wäre es, auf Wurzen oder eine andere Kommune bezogen, mit Ansätzen der Biographischen
Forschung zu arbeiten, um abgesicherter und präziser Deutungsmuster herauszuarbeiten.
78
2.
3.
4.
5.
6.
bürgerliches Selbstverständnis, oder aber die Sorge um das Image dieser Stadt.93
Bedingung für eine gesellschaftlich breite Kommunikation zum Thema wäre
allerdings, sich auf die jeweils verschiedenen Sichtweisen einzulassen und nicht auf
Durchsetzung eigener Deutungen zu bestehen. Es muss einen gleichberechtigten
Aushandlungsprozess geben.
Die Positionen anderer zuzulassen und zu verstehen setzt die Erkenntnis und
Akzeptanz dahingehend voraus, dass bürgerliche Gesellschaft keine konfliktlose,
homogene Gemeinschaft, sondern eine pluralistische Gesellschaft ist. Und zu dieser
gehört: Probleme und Konflikte ansprechen, aussprechen und verhandeln.
Eine attraktive und demokratische Stadtkultur mindert die Chancen
rechtsextremistischer Versuche, eigene Deutungen im kulturellen und politischen
Feld durchzusetzen. Davon ausgehend müssen umfangreiche Ressourcen in die
Ausgestaltung des kulturellen Lebens im allgemeinen, der Jugendarbeit im
besonderen investiert werden. Dies meint nicht nur nötige Finanzen, sondern auch
Engagement und Zeit, das Zulassen individueller Kreativität und die Zulassung von
Vielfalt. Dabei sollte Bereitschaft dahingehend bestehen bzw. entwickelt werden, das
Engagement anderer anzuerkennen.
Ausgehend davon, daß Parlamentarier nicht nur gewählte Repräsentanten sind, die
kommunalbezogene Fachpolitik zu leisten haben, sondern daß sie sich als Individuen
mit einem bürgerlichen Selbstverständnis präsentieren, könnte nach geeigneten
Wegen gesucht werden, mit der Realität rechtsextremer Akteure im Stadtrat politisch
und offensiv umzugehen.
Generell könnte sich mit der Selbstreflexion dahingehend, daß jede und jeder über
die professionsbezogene Funktion hinaus auch Bürgerin bzw. Bürger dieser Stadt und
Gesellschaft ist, eine Ressource auftun. Denn Handlungskompetenz und
Handlungsspielräume sind nicht durch berufliche Grenzen beschränkt. Vielmehr ist
auch das „private“ Individuum im Umgang mit Rechtsextremismus gefragt und – die
Interviews führten uns das deutlich vor Augen – aussagefähig und kompetent.
Kernkompetenzen finden sich in den verschiedensten Bereichen, in Politik,
polizeilicher Ermittlung und Repression, schulischer Pädagogik und Sozialarbeit.
Kernkompetenzen können aber auch aus Erfahrungen bezüglich Organisation und
Vernetzung, Öffentlichkeitsarbeit, Informations- und Bildungsarbeit oder
Kulturarbeit resultieren. Solche Kompetenzen können kombiniert und für eine
Kooperation nutzbar gemacht werden. Dies setzt voraus, die Fähigkeiten anderer zu
erkennen, und diese anderen dabei aber nicht als Konkurrenz und Bedrohung,
sondern als Ressource wahrzunehmen. Denn vielfach kann aus den Erfahrungen
anderer gelernt werden. So könnten zum Beispiel Schulen / Gymnasium,
Volkshochschule und das Netzwerk für demokratische Kultur (verstärkt) gemeinsam
93
Wir halten die häufig anzutreffende Sichtweise, nach der Rechtsextremismus durch Imageschädigung zu
Nachteilen in der wirtschaftlichen Standortansiedlung führen würde, für fragwürdig. Auch in den Interviews gab
es kaum einen ernsthaften Hinweis darauf. Und prinzipiell könnte gefragt werden: Vorausgesetzt im
Rechtsextremismus komme eine zugespitzte sozialökonomische Situation zum Ausdruck, sprich: viele
Arbeitslose bedeute viel Rechtsextremismus, wäre es dann aus Sicht eines kühl rechnenden Unternehmers nicht
erst recht attraktiv zu investieren, und zwar aufgrund der günstigen Lohnbedingungen?
79
Angebote politischer Bildung zu Themen wie Rechtsextremismus und
Nationalsozialismus organisieren.
7. Orte für Reflexionen zum Thema Rechtsextremismus, den Erfahrungsaustausch und
die Aushandlung von Positionen gibt es in Wurzen hinreichend. Dabei kann Schulen
und Kirchen eine vermittelnde und verbindende Funktion zukommen. Aber auch
Gruppen wie die Standortinitiative und das Netzwerk für Demokratische Kultur
weisen Potentiale auf, Diskussionen in der Öffentlichkeit zu organisieren.
8. Eine Möglichkeit zur kollektiven stadtbezogenen Identitätsstärkung besteht sicher
darin, sich mit Wurzen als Gedächtnisort und Ort der Geschichte zu befassen. Dies
wird vielfach getan. Der Jacobspilgerweg bietet eine weitere konkrete Option,
lokalen Bezug mit Weltzugewandtheit zu verbinden. Hier könnte unabhängig von
Konfession oder Alter kooperiert werden. Und es ist gerade die auf gleichberechtigte
Beteiligung beruhende Kooperation, die dazu beiträgt, eine Stadtkultur demokratisch
auszugestalten.
9. Demokratische Stadtkultur braucht auch immer kritische Reflexion von
Vergangenheit. In Wurzen finden sich widersprüchliche Momente von
Erinnerungspolitik und Erinnerungsarbeit. Ein Schwerpunkt dabei ist die Zeit des
Nationalsozialismus. Im Text oben wies ein Interviewpartner auf die Möglichkeit hin,
zum Gedenken an die vertriebenen jüdischen Bürgerinnen und Bürger der Stadt
Wurzen Tafeln an privaten Häusern anzubringen und somit lokale Bezüge deutlicher
zu machen.
10. Eine letzte Ressource, die wir hier ansprechen möchten, bezieht sich auf die oben
skizzierten Deutungsmuster. Sie kann darin bestehen, eigene Positionen und
Sichtweisen selbstanalytisch und selbstkritisch zu reflektieren und somit auch
Sichtweisen anderer besser zu verstehen.
80
Literatur:
Arnold, Rolf 1983: „Deutungsmuster. Zu den Bedeutungselementen sowie theoretischen und methodologischen
Bezügen eines Begriffs.“ In: Zeitschrift für Pädagogik, 29. S. 893-912.
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Landesamt für Verfassungsschutz Sachsen 2003. Verfassungsschutzbericht 2002. Dresden.
Lewis, Bernard 1989: „Treibt sie ins Meer!“ Die Geschichte des Antisemitismus. Frankfurt am Main.
Ley, Michael 2002: Holocaust als Menschenopfer. Vom Christentum zur politischen Religion des
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Nora, Pierre (1990): Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Berlin.
Schütze, Yvonne 1986: Die gute Mutter. Zur Geschichte des normativen Musters „Mutterliebe“. Bielefeld.
Speit, Andreas (Hg) 2002: Ästhetische Mobilmachung. Dark Wave, Neofolk und Industrial im Spannungsfeld
rechter Ideologien. Hamburg / Münster.
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Jugend-Beruf-Gesellschaft. Beratungs- und Betreuungsarbeit für junge Aussiedler. 36. Sozialanalyse.
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Ullrich, Carsten G. 1999: Deutungsmusteranalyse und diskursives Interview. Leitfadenkonstruktion,
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Nr. 3. Mannheim.
Wagner, Bernd 1995: Jugend – Gewalt – Szenen. Berlin.
Wagner, Bernd 1998: Rechtsextremismus und kulturelle Subversion in den neuen Bundesländern.
Herausgegeben vom Zentrum Demokratische Kultur. Berlin.
81
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Text und Redaktion:
Layout Titel:
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