Augentraining
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Augentraining
Augentraining Brillen allein lösen nicht alle Sehprobleme. Bei organischen Problemen wie Schielen oder angeborener Sehschwäche hilft oft nur ein intensives Seh- und Augentraining. Fachleute erreichen erstaunliche Resultate. Text und Fotos: Regula Schneider A ndrea Lucian ist diplomierte Orthoptistin an der Sehschule am Zürcher Unispital. Sie erklärt: «Zum richtig Sehen gehören nicht nur die Augen. Die ganze ‹Sehbahn› vom äusseren Sinneseindruck bis zur Verarbeitung im Gehirn muss entwickelt werden.» Ein Neugeborenes erkenne gerade mal Umrisse und Helligkeitsgrade, erklärt die Fachfrau. Sehen und das Gesehene verarbeiten müsse jeder Mensch erst lernen. 18 Natürlich | 11-2006 Wenig Verständnis für Sehschwächen Was das heissen kann, wenn die Voraussetzungen schlecht sind, hat Carlos Isenschmid eindrücklich erlebt. «Sie sehen schlecht, warum tragen Sie keine Brille?» – Tausendmal musste er diese Frage schon beantworten. Und die Antwort wusste er längst auswendig: «Mit einer Brille kann man nur optische Mängel korrigieren, wie Kurzsichtigkeit, Weitsichtigkeit, Hornhautverkrümmung. Ich aber leide unter einem organischen Schaden. Ich habe seit jeher eine mangelhaft ausgebildete Netzhaut. Da helfen weder Kontaktlinsen noch eine Brille.» Dass Carlos Isenschmid dennoch das Beste aus seiner Sehschwäche gemacht hat, verdankt er einer klugen Augenärztin und jahrelangem Sehtraining. Carlos kam 1947 in Bogotá, Kolumbien, zur Welt. Als er fünf Monate alt war, bemerkten seine europäischen Eltern beunruhigt, dass er auf optische Reize nicht reagierte. Statt dass seine Augen interessiert Gegenstände und Bewegungen verfolgt hätten, wackelte der Blick unkontrolliert hin und her. Die Angst, dass das Baby blind sein könnte, war gross. Die augenärztliche Versorgung war schlecht in dem südamerikanischen Entwicklungsland. Niemand wusste Rat. Im Lauf seiner ersten Lebensjahre begann der kleine Carlos zum Glück, seine Umgebung wahrzunehmen. Aber er ging sehr nahe an die Dinge heran und Heilerfolge mit Alternativen Methoden Insbesondere die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) hat einen wichtigen Beitrag zur Augenheilkunde zu bieten. Die Augenärztin Melanie Eberle aus Emmenbrücke praktiziert erfolgreich schulmedizinische und alternative Methoden. «Die Traditionelle Chinesische Medizin versteht sich in der Augenheilkunde als Ergänzung zu den schulmedizinischen Möglichkeiten», sagt die Spezialistin. Mittels Akupunktur und pflanzlichen Präparaten hilft TCM bei den verschiedensten Erkrankungen am Auge wie zum Beispiel: • allen entzündlichen Erkrankungen des vorderen Augenbereiches (Trockenes Auge, Lidrandentzündungen) • Allergien • Glaukom (Grüner Star) • trockener Degeneration der Netzhaut (Makuladegeneration) • bestimmten Formen der Kurz- und Weitsichtigkeit (vor allem bei Kindern und Jugendlichen wirksam) «Keine Illusionen sollte man sich hingegen bei Degeneration der Netzhaut wie bei Makuladegeneration machen. Bereits abgestorbene Nerven können nicht reaktiviert werden. Aber dank TCM kann ein Zustand stabilisiert und die Degeneration aufgehalten oder verlangsamt werden», sagt die Augenärztin. Die Erfolge dieser Methode werden teilweise von der WHO anerkannt. Naturheilkunde GESUNDHEIT Andrea Lucian bildet selber Orthoptistinnen aus. Nach der Matur hat sie ihren Beruf in einer dreijährigen Ausbildung erlernt. Sie präzisiert: «Sehschule ist eine unvollständige Bezeichnung. Unsere Aufgabe teilt sich in Diagnose, Therapie und Betreuung. So beinhaltet unser Beruf weit mehr als nur die Assistenz eines Arztes.» Vaters Erfahrung hilft dem Sohn wackelte dabei mit dem Kopf, um das Augenzittern auszugleichen. Augentraining mit Luftgewehr und Angelrute Carlos ist sieben Jahre alt, als seine Familie in die Schweiz übersiedelt. Sogleich wird in Zürich eine Augenärztin konsultiert. Der schwachsichtige Junge soll ja jetzt zur Schule gehen und schreiben und lesen lernen. Die Ärztin stellt fest: Anstelle des Gelben Flecks, der Macula Lutea, befindet sich eine graue Zone. Die Stelle auf der Netzhaut, mit der man am besten sieht und die Dinge fixiert, ist bei dem Buben nicht entwickelt, und so beträgt sein Sehvermögen rechts zwanzig Prozent, links nur knappe zehn Prozent. Doch 1953 gibt es noch keine Sehschule. Trotzdem weiss die kluge Ärztin Rat: Die pazifistisch gesinnte und Tier liebende Mutter soll dem Siebenjährigen ein Luftgewehr und eine Angelrute kaufen. Die Mutter ist entsetzt, der Junge begeistert. In jeder freien Minute sitzt er am See und angelt. Carlos Isenschmid erinnert sich: «Stundenlang fixierte ich den Schwimmer auf der Wasseroberfläche. Regelmässig übte ich mich auch im Schiessen. Den Gewehrkolben an die Wange gedrückt, Kimme und Korn auf das Schwarze der Scheibe richtend, hatte mein Kopf keine Möglichkeit zum Wackeln. Mit der Zeit traf ich sogar ganz ordentlich.» Dass er seine Hobbys als Augentraining betreibt, hatte er zu diesem Zeitpunkt längst vergessen. Als ihn sein Klassenlehrer anherrscht: «Zieh eine Brille an, wenn du nicht lesen kannst, was an der Wandtafel steht», verpasst ihm die Ärztin eine Brille mit Fensterglas. So muss er nicht ständig lästige Fragen beantworten oder sich gar beschimpfen lassen. Viel Üben stärkt das Sehvermögen Der Erfolg seiner Sehübungen mit Gewehr und Angelrute stellt sich nach und nach ein. In der vierten Klasse muss Carlos zwar noch immer vorne in der Mitte, direkt vor der Wandtafel sitzen, aber er kann beinahe alles lesen, und was noch wichtiger ist, er wackelt nicht mehr mit dem Kopf, weswegen er von einigen Kameraden als «nicht normal» ausgegrenzt worden war. Nur im Sport versagt der Junge. Er kann nicht dreidimensional sehen und deshalb Distanzen nur schlecht einschätzen. Er kann keine Bälle fangen, er springt beim Hochsprung im falschen Moment ab, weil er die Latte nicht sieht, und vom Sprungbrett aus sieht er einen beängstigend tiefen Abgrund vor sich. Doch das jahrelange Sehtraining zahlt sich aus. Obwohl Carlos Isenschmid keinen Sport treibt, nicht Auto fahren darf und vom Militärdienst ausgeschlossen ist, kann er dank seinem jahrelangen Sehtraining ein normales Leben führen. Matur und Studium schafft er mit einem Sehvermögen von hartnäckig erübten fünfzig Prozent auf dem besseren Auge. Das linke bleibt schwach, weil es nicht gezielt geschult wurde. Als junger Mann will sich Carlos nicht mit seinem Handikap abfinden. Statt zum Augenarzt geht er zum Optiker – und wird vom Resultat enttäuscht. In der Zwischenzeit wurde erkannt, dass zum besseren Sehen mehr gehört als eine Brille. Die Krücke ersetzt dem Gehbehinderten das Gehen nicht: Er muss üben. Es werden Methoden und Apparate für das Augentraining entwickelt. Spezialistinnen werden ausgebildet. Man nennt sie Orthoptistinnen. Viele Augenärzte und -ärztinnen gliedern ihrer Praxis eine Sehschule an. Als Carlos Isenschmid Vater geworden ist, stellt sich heraus, dass sein Sohn Michael stark schielt. Hier ist der Spott der Kameraden schlimmer als die Behinderung selbst. Der aufmerksame Vater zögert nicht und geht mit dem Dreijährigen zum Augenarzt. Der rät zur Operation mit einer Erfolgsaussicht von fünfzig Prozent. Vater Carlos ist skeptisch und holt eine Zweitmeinung ein. Michael Isenschmids nächster Arzt rät von einer Operation ab und verordnet die Sehschule. Der Kleine findet sofort den Zugang zur Therapeutin. Begeistert schaut er in die interessanten Apparate mit ihren farbigen Lichtern und lustigen Figuren. Und siehe da: Der Erfolg stellt sich rasch dank gezielter Therapie ein, verbunden mit neusten Erkenntnissen und speziellen technischen Einrichtungen. Als zusätzliche Hilfe hat der kleine schielende Michael eine Brille getragen. Sie erfüllte gleichzeitig drei Funktionen. Erstens half sie, die Blickrichtung beider Augen in die Parallele zu richten. Zweitens korrigierte sie eine leichte Hornhautverkrümmung, so dass der Junge mit Sehprobleme sorgfältig abklären lassen Heute bieten viele Augenoptiker eine gute und kompetente Beratung an. Die Aufgabe der Optiker ist es, Brillengläser optimal anzupassen. Für medizinische Untersuchungen der Augen sind jedoch ausschliesslich die Augenärzte ermächtigt. Darum gilt: Bei allen Seh- und Augenproblemen zuerst den Augenarzt aufsuchen. Er stellt ein Brillenrezept aus und überweist Patienten an die Orthoptistin. Die Kosten für Konsultation und Sehschule übernehmen in der Regel die Krankenkassen. Natürlich | 11-2006 19 Naturheilkunde GESUNDHEIT 50 verschiedene Arten Schielen: Sehkraft mittels abgedeckter Brillengläser ausgleichen beiden Augen gleich gut sehen konnte. Drittens konnte er zeitweise mit einem trüben Glas vor dem einen Auge das andere gezielter trainieren. Sehhilfen wie Brille oder Kontaktlinsen können also eine gute Ergänzung zum Training sein. Genau so gilt auch das Umgekehrte. Sehtraining gehört zum Ärzte-Repertoire Heute, da die Augenchirurgie fortgeschritten ist, können einige Krankheiten mit gutem Erfolg auf chirurgischem Weg geheilt werden: Beim Grauen Star wird eine künstliche Linse eingepflanzt, sich ablösende Netzhaut wird wieder «angeschweisst». So werden viele Patienten vor der Erblindung bewahrt. Beim Schielen sind die ärztlichen Meinungen geteilt: Je nach Auffassung wird Sehtraining, Brille oder Operation empfohlen – oder die Kombination aller drei Möglichkeiten. Da sollte der einzelne Fall gründlich abgeklärt und mehrere Meinungen eingeholt werden. Inzwischen ist Michael Isenschmid dreissig Jahre alt, Erkenntnisse, Methoden und Hilfsmittel der Sehschulen haben sich verändert. Während Vater Carlos in den Fünfzigerjahren noch auf die intuitiven Fähigkeiten der Augenärztin angewiesen war, begegnet Sohn Michael in den Achtzigerjahren einem reich ausgestatteten Labor mit vielen komplizierten Geräten. Alltag ersetzt komplizierte Apparate Die Orthoptistin Eugénie Schweizer arbeitet in der Praxis des Augenarztes Bruno Eberli in Schaffhausen. Ihr Arbeitsraum beinhaltet kaum Geräte. Von den Appa- raten zu Therapiezwecken, die in den 80erJahren die Einrichtung einer Sehpraxis dominierten, sei man wieder weggekommen, erklärt die Fachfrau. «Damals wurde versucht, durch raffinierte Versuchsanordnungen eine künstliche optische Realität zu schaffen. Das ging so weit, dass man versuchte, mangelnde Fusionsfähigkeit mit optischen Mitteln zu erreichen.» Mit Fusionsfähigkeit wird die gesunde Möglichkeit gemeint, die Bilder beider Augen zu einem Bild verschmelzen zu lassen. Heute üben die Seh-Patienten in ihrer Alltagsumgebung. Nach erfolgter Diagnose wird eine Brille angefertigt, die die Sehkraft beider Augen optimiert. Das stärkere Auge kann dafür zeitweise abgedeckt werden. So ausgerüstet trainiert der Patient das schwächere Auge über einen bestimmten Zeitraum. Die Orthoptistin kontrolliert die Fortschritte und manchmal ist es nötig, die Abdeckung von einem Auge auf das andere zu wechseln, bis ein optimaler Zustand des Sehvermögens erreicht ist. Häufigstes Problem sind die etwa fünfzig verschiedenen Arten des Schielens und ihrer Folgen auf die Sehschärfe. Da wird zuerst mittels zeitweise abgedeckter Brillengläser versucht, die Sehkraft beider Augen auf das gleiche Niveau zu bringen. Dieser Vorgang wird von der Orthoptistin sorgfältig begleitet; ein differenzierter Zeitplan ist unumgänglich. Ob eine Operation sinnvoll ist, wird nach den Erfahrungen mit Brille und Sehschule festgestellt. Frühes Üben lohnt sich Die elfjährige Tanja Hofmann hat mit einem Auge geschielt. Das abschweifende Auge ist durch Inaktivität schwächer geworden. Andrea Lucian hat ihr die richtige Brille angepasst und mit ihr geübt. Dank der Sehschule schielt Tanja mit der Brille nicht mehr, und selbst ohne Brille kann sie den Blick gerade halten. Andrea Lucian und Eugénie Schweizer sind sich einig: «Es gibt Mängel, die bis zum zehnten Lebensjahr diagnostiziert und therapiert werden müssen, sonst ist es endgültig zu spät.» Deshalb werden in einigen Regionen der Schweiz Reihenuntersuchungen in Kindergärten durchgeführt, aber leider lange nicht überall. Da sind die Eltern gefordert. Je früher Mängel wie Schielen, Brechfehler oder Augenkrankheiten entdeckt werden, desto grösser die Chance für eine nachhaltige Korrektur. Carlos Isenschmid, dessen Therapie in den 50er-Jahren mit Angeln und Luftgewehrschiessen begann, ist heute bald 60 Jahre alt. Er hat, wie er heute rückblickend von sich sagen kann, durch eigene Anstrengung, durch ärztliche und therapeutische Hilfe und dank moderner optischer Technik das Bestmögliche aus seiner Sehbehinderung gemacht. Und, wie er augenzwinkernd bemerkt, gelernt, ohne Bitterkeit auf alles zu verzichten, was mit vermindertem Sehvermögen eindeutig nicht möglich ist. Er fasst zusammen: «Durch die Behinderung habe ich meine Grenzen vielleicht deutlicher erlebt als Menschen ohne Handikap. Aber genau dadurch habe ich gelernt, mein Leben innerhalb seiner Grenzen umso voller zu geniessen.» ■ I N FO B OX Literatur zum Thema • Jochum: «Das AugenHeilbuch», Verlag Nymphenburger 2004, ISBN: 3-485-00925-3, Fr. 18.10 • Scholl: «Das Augenübungsbuch», Verlag Rowohlt 2004, ISBN: 3-499-61174-0, Fr. 15.80 • Angart: «Vergiss deine Brille», Verlag Nymphenburger 2004, ISBN: 3-485-01029-4, Fr. 34.90 • Liberman: «Natürliche Gesundheit für die Augen», Verlag Piper 2000, ISBN: 3-492-22894-1, Fr. 18.– • Goodrich: «Spielend besser sehen für Kinder», Verlag Nymphenburger 1996, ISBN: 3-485-00746-3, Fr. 34.90 Internet • www.gesund.ch/meth/augentra.htm • www.sehtraining.ch Natürlich | 11-2006 21