64. Sitzung der 4. Wahlperiode 15. November 2006 Erklärung des

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64. Sitzung der 4. Wahlperiode 15. November 2006 Erklärung des
Pressesprecher: Marcel Braumann
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64. Sitzung der 4. Wahlperiode
15. November 2006
Erklärung des Sächsischen Staatsministers der Justiz
Thema:Zum Vorfall in der Justizvollzugsanstalt Dresden am 8. November 2006
MdL Klaus Bartl
Beachten: Es gilt das gesprochene Wort!
Sehr geehrter Herr Präsident,
meine Damen und Herren!
Frei nach Goethe: "Es irrt der Mensch, solang er strebt!” Darin ist Ihnen recht zu geben, Herr
Staatsminister, Pannen, auch im Sicherheitsgeschäft des Strafvollzuges, können geschehen.
Gefangene sind zu allen Zeiten findig genug gewesen, um sich selbst in
Hochsicherheitsgefängnissen ihren Bewachern zu entziehen. Und obgleich sich nach jedem
nennenswerten Vorkommnis dieser Art immer besonders Kluge fanden, die wussten, wie es besser
geht, ist eine Perfektion an Verwahrsicherheit, die auch einen einem Schwerstkriminellen zu
belassenden Kern an Menschenwürde nicht verletzt, nicht zu erreichen.
Und dennoch hat der Fall Mario M., hat dieser Vorfall in der JVA Dresden am 8. November 2006
eine Singularität, die ihm auf Dauer einen vorderen Platz im historischen Ranking von Pleiten, Pech
und Pannen in der Geschichte des deutschen Strafvollzugs sichern wird.
Da ist zum Ersten der Umstand, dass es wohl selten zuvor im Zuge der Ermittlungen wegen eines
derart kapitalen Deliktes der Entführung und Geiselnahme eines Kindes aus von vornherein nicht
auszuschließenden abscheulichen sexuellen Motiven derart eklatantes Versagen in der Zielführung
der Ermittlungen, derartige Oberflächlichkeiten in der Verifizierung in Frage kommender Täter und
so schlimme Verstöße gegen elementare Ermittlungsgrundsätze gegeben hat, wie im Falle des
Kindes Stephanie, Fehler, die in ihrer Gesamtheit überhaupt erst die Dimension dieses Verbrechens
und das Leid des Opfers ermöglichten.
Ich mache es betreffs der Vorgeschichte ganz knapp: Am 11.01.2006 verschwindet Stephanie auf
ihrem Schulweg. Erst reichlichen einen Monat später, am 15. Februar 2006 findet ein Dresdner
Bürger durch Zufall und mit Glück den vom gepeinigten Kind auf offener Straße hinterlassenen
Zettel mit der Wohnanschrift des Geiselnehmers, des jetzigen Angeklagtem Mario Mederake. Bis
zu diesem Zeitpunkt, als der Dresdner Bürger den gefunden Zettel im Polizeirevier Blasewitz
abgibt, hatte die kurz nach Verschwinden von Stephanie gebildete Sonderkommission "Stephanie"
nach eigenem Eingeständnis des Herrn Innenministers Dr. Buttolo in seiner Stellungnahme vom
16.03.2006 auf unseren entsprechenden Berichtsantrag zu "Schlüssigkeit und Effizienz polizeilicher
Ermittlungsarbeit im Fall Stefanie”, Drucksache Nr. 4/4439,
Zitat:
"keinerlei konkrete Hinweise, die es ermöglicht hätten, gezielt bzw. schwerpunktmäßig einen
Ermittlungsansatz zu verfolgen.”
Dies unter anderem deshalb, wie dann im Zuge umfänglicher Auswertungen dieses Falls bekannt
wurde, weil der sattsam einschlägig vorbestrafte Geiselnehmer, obgleich er nach ebenfalls erteilter
Auskunft des Innenministers seit Dezember 2004 unter der korrekten Anschrift im entsprechenden
polizeilichen Informationssystem PASS gespeichert war, bei der Sonderkommission datenmäßig
nicht angelandet war.
Über 900 Personen sind laut ebenfalls erteilter Auskunft des Innenministers auf unseren damaligen
Berichtsantrag im Zuge bundesweiter Überprüfung und Befragung in Frage kommender Täter im
Visier gewesen. Der tatsächliche Kidnapper des Kindes, wegen sexuellen Missbrauchs, aber auch
anderer Gewaltdelikte vorbestraft und noch bis November 2005 unter Bewährung stehend, der
besonderen Aufsicht und Leitung einer Bewährungshelferin unterstellt, die regelmäßig nur bei
Bewährungspflichtigen erfolgt, bei denen die Gefahr neuer Straftaten latent ist, war vor
Ermittlungen dieser Sonderkommission in überschaubarer Nähe zu deren Sitz sicher wie in
Abrahams Schoß.
Als dann die Sonderkommission dank der Handlungen des Kindes zu seiner Selbstbefreiung in den
Besitz des besagten Zettels kam, wird in nur dilettantisch zu nennender Handhabung ein
Funkstreifenwagen zur Wohnung des Mario Mederake geschickt und, als dieser auf Klopfen und
Klingeln nicht öffnet, brav bürgerlich der Schlüsseldienst geholt. Nicht auszudenken, was allein in
diesen Minuten dem Kind, bekommt Mederake mit, dass seine Festnahme droht, an Schrecklichem
geschehen konnte.
Dann folgt der nächste Akt, dass nämlich die Eltern des Kindes und sich mit ihr solidarisierende
Bürgerinnen und Bürger bzw. Vereine in einer Versammlung die Geldmittel aufbringen müssen, um
Stephanie eine den traumatischen Erlebnissen adäquate Therapiemöglichkeit zu finanzieren. Kein
Angebot seitens des Freistaates Sachsen, dem durch die himmelschreienden Unzulänglichkeiten der
Ermittlungsführer zumindest diesbezüglich eine Garantenstellung, zumindest eine Anstandspflicht,
erwachsen war. Erst nach Vorsprache der Eltern bei verschiedenen Fraktionen des Sächsischen
Landtages und entsprechendem Drängen, setzte sich die Staatsregierung diesbezüglich in
Bewegung.
Drittens: Zum Prozessauftakt vor der großen Strafkammer des Landgerichtes Dresden am 6.
November 2006 lässt der der Geiselnahme und Freiheitsberaubung über einen Zeitraum von 36
Tagen, der Kindesentziehung, des schweren sexuellen Missbrauchs sowie der zigfachen
Vergewaltigung des Kindes angeklagte Mario M. schon bei Verlesung der Anklage demonstrativ
erkennen, dass er sich keineswegs mit Einsicht und Reue dem Prozess stellen wird; vor dem
Publikum springt er auf, hantiert im Gerichtssaal um sich und zwingt die entsprechenden
Bewachungskräfte zum körperlichen Eingreifen. Für den Rest der noch ausstehenden acht der
bislang insgesamt von der Kammer anberaumten neun Verhandlungstage war also klar angesagt,
dass wir es hier mit einem Straftäter zu tun haben, der qua Persönlichkeit unberechenbar und
gefährlich ist.
Diese Signale und der Umstand, dass quasi Gott und alle Welt im Vorfeld des Verfahrens bereits
philosophiert haben, dass außer der Höchststrafe von 15 Jahren zeitiger Freiheitsstrafe und
Sicherungsverwahrung kaum ein anderes Urteil in Frage kommt, Mederake mithin wusste, was ihm
blüht, bedurfte es wirklich keiner hellseherischen Fähigkeiten oder gediegener forensischpsychiatrischer Ausbildung, um zu prognostizieren, dass dieser Mann in jeder Lage bis zur
Unterbringung im Strafvollzug akut fluchtgefährdet und als generell gefahrengeneigt einzuschätzen
ist.
Und exakt unter all diesen, von mir deshalb nochmals gerafft wiedergegebenen Vorzeichen des 8.
November durfte schlicht nicht geschehen, was Mederake gelungen ist. Wenn sich ein solcher Mann
nach derartigen Ansagen zu Gewaltpotenzial und Skrupellosigkeit kurzerhand beim Hofgang auf
das Dach des rund neun Meter hohen Gefängnisgebäudes verabschieden kann, dann 20 Stunden
Gelegenheit hat, sich vor versammelten Truppen von Sondereinsatzkommandos,
Polizei- und Anstaltspsychologen, spät nachgeeiltem Justizminister qua Reality-TV der Republik zu
präsentieren, ist dies schlicht und ergreifend eine Blamage für den Freistaat Sachsen, die uns noch
Jahre anhängen wird.
Wer nicht in der Lage ist, einen hochgefährlichen Täter, wie diesen Mario M., unter Kontrolle zu
halten, und zwar - dies betone ich - unter Ausnutzung aller vom Gesetz, auch der
Untersuchungshaftvollzugsordnung hierfür vorgesehenen rechtlichen Möglichkeiten, arbeitet
dilettantisch.
Wenn die Kernbotschaft dieses 8. November und seiner medialen Reflektion
lautet: "Der Einzige, der hier einen Plan hatte, war Mederake”, dann haben alle, die in der Kette der
Sicherung des ordnungsgemäßen Strafverfahrens gegen diesen Schwerstkriminellen qua Amts
Verantwortung tragen, ein Problem.
Es ist eigentlich völlig wurst, wie es passieren konnte, dass Hofgänger in der vermeintlich
modernsten Justizvollzugsanstalt im Freistaat Sachsen bei einiger körperlicher Gewandtheit und
Fitness auf Anstaltsdächern Quartier nehmen können.
Und dass hier eine augenscheinliche Sicherheitslücke bestand, war unter anstaltserfahrenen
Gefangenen seit langem bekannt und nachvollzogen.
In einem dieser Tage eingegangenen Brief eines derzeit in der JVA Dresden einsitzenden
Gefangenen an einen Abgeordneten dieses Hohen Hauses liest sich das im Originalton wie folgt:
"Zu der letzten Nacht 8. zum 9. könnte ich aus früheren Tagen etwas sagen .... wie man das Problem
mit Streifen aus Plexiglas an bestimmten Seiten von den Fenstern lösen könnte. Dazu hatte ich mir
schon früher Gedanken gemacht, damit kein Natodraht oder anderes verwendet werden muss..."
Vielleicht sollten wir in Zukunft unsere Sicherheitsgremien, die Verwahrstandards austüfteln,
stärker mit Vertretern der Gefangenen selbst besetzen, denen die Befindlichkeit und Kompetenz der
Betroffenheit zukommt.
Im Ernst: Wenn man dieser ganzen Sache überhaupt etwas Positives abgewinnen will, dann, dass
wir dieses schlimme Ereignis als Signal dafür nehmen, dass es seinen Preis hat, wenn wir bei der
Ausstattung des Strafvollzugs oder sonstwo im Bereich der öffentlich-rechtlichen
Aufgabenwahrnehmung des Staates zuallererst an Einsparpotentiale sächlich-technischer,
organisatorischer und personeller Art denken.
Seit langem überfüllte Justizvollzugsanstalten, seit langem nachhaltig überfordertes
Anstaltspersonal, seit langem chronisch unterbesetzte Bereiche der psychologischen, sozialen und
fachtherapeutischen Intervention haben ihre Konsequenz.
Es versteht sich von selbst und dabei bleiben wir, dass die politischer Verantwortung für die
Tatsache, dass der sächsische Strafvollzug bislang diesem Mario M. nicht gewachsen war, dieser
nach allen Verlautbarungen hochintelligente und bis in die Fußspitzen abgebrühte
Schwerstkriminelle sein Drehbuch durchziehen konnte, mit gewaltigem Nachhall von der so
medienträchtigen Verfahrensbühne abzutreten, natürlich zuerst der Justizminister trägt; völlig egal,
wie er heißt, völlig egal, wie unbeteiligt und schuldlos am Detail er sein mag, völlig egal, ob, wann
und von wem es unterlassen wurde, ihm und andere herausgehobene Verantwortliche rechtzeitig
über alle Risiken, die von der Persönlichkeit dieses Mannes ausgehen, zu unterrichten.
Es kann eben unter keinen Umständen eine Rechtfertigung für die Anstaltsleitung sein zu erklären,
der zuständige Richter habe keine Hand- oder Fußfesselung beim Hofgang angewiesen. Die
entsprechenden Entscheidungen zur Gewährleistung der Verwahrsicherheit richterlicherseits
herbeizuführen, liegt selbstverständlich bei der Anstalt.
Die Frage ist vorliegend, wem geholfen und was gewonnen ist, wenn jetzt verschiedentlich und den
Ritualen gemäß der Kopf des Justizministers gefordert wird. Die Frage ist, ob die Ablösung des
Anstaltsleiters, eines Verantwortlichen für den Sächsischen Strafvollzug oder eben des Ministers die
nochmals um Dimensionen aufgeladene psychische Belastung des Opfers Stephanie abschwächen
kann. Die Frage ist auch, ob man Mederake die Genugtuung verschaffen muss, dass er auf dem Weg
in die Sicherungsverwahrung noch den Justizminister zu Fall brachte und einigen sonstigen
personellen "Kollateralschaden” anrichten konnte. All das, kann man so oder so beantworten.
Wir bleiben bei unserer Auffassung: Der Maßstab dafür, dass der Staatsminister der Justiz jetzt im
Amt seiner Verantwortung gerecht wird, ist, dass er den Schneid und das
Verantwortungsbewusstsein entwickelt, alles, aber auch alles, was sich um den Fall Mario M. und
dessen spektakuläre Aktionen im Gewahrsam rankt, lückenlos, ehrlich, unter Ermittlung von Ross
und Reiter, unter Feststellung von Ursachen und begünstigenden Bedingungen benennt, offenlegt
und durchgreifende Konsequenzen anbietet und durchsetzt.
Nächste Gelegenheit, dass wir uns hierzu Aufschluss und eine Überzeugung schaffen, wird die
Sondersitzung des Verfassungs-, Rechts- und Europaausschusses am kommenden Montag sein, da
der Staatsminister nochmals en detail Fragen der Fachpolitiker standzuhalten haben wird. Hiernach
werden wir entscheiden, welche weiteren Entscheidungsvorschläge in das Parlament gehören.
Summa summarum: Es gibt aller paar Wochen Gründe, weshalb man einen Minister abzusetzen
begehren kann. Es gibt schlechtere, aber auch wesentlich zwingendere Gründe als dieses eklatante
Vorkommnis. Für uns ist der Maßstab für nicht wahrgenommene politische Verantwortung nicht, ob
ein Fachbereich in eine öffentliche Vermittlungs- und Glaubwürdigkeitskrise gerät, sondern ob und
wie der Ressortchef dann dafür geradesteht und dafür sorgt, dass diese überwunden wird. An
diesem Maßstab halten wir fest, gleich, ob wir von der geneigten Öffentlichkeit belobigt oder
kritisiert werden.