Reise an den Anfang einer Region

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Reise an den Anfang einer Region
Reise an den Anfang einer Region
Northern Ontario um 1900
Karl H. Schneider
aus: Raphaela Averkorn, Eberhard, Winfried, Haas, Raimund, Schmies, Bernd, Hrg., Europa und die
Welt in der Geschichte. Festschrift zum 60. Geburtstag von Dieter Berg. Bochum 2004, S. 731-751.
731: Wenn Historiker sich mit einem Thema zuwenden, machen sie wenigstens eine Reise, nämlich in die
Vergangenheit. Dies ist meist eine „virtuelle“, sie kann am eigenen Schreibtisch, in der Bibliothek oder
im Archiv stattfinden, und die Reiseutensilien sind häufig alte Texte wie Urkunden, Akten, Biographien
oder auch Bilder und manchmal Filme. Nicht immer bleibt es bei einer solchen „virtuellen“ Reise, sondern zuweilen kommt es auch zu einer realen Begegnung; einer doppelten Reise dann: an einen fremden
Ort in einer fremden Zeit.
Der folgende Bericht handelt von einer solchen zweifachen Reise: in ein anderes Land, eine andere Region und in eine (gar nicht so ferne) Vergangenheit. Dabei begegnete dem Reisenden Fremdes und
Vertrautes, und das Fremde trugt zuweilen dazu bei, das Vertraute neu zu sehen. Die Reise in die
Vergangenheit war zugleich kombiniert mit einer weiteren Reise, die an den „Anfang einer Region“. Als
Regionalhistoriker hatte der Reisende zwar Kontakt mit Regionen gehabt, aber diese waren eigentlich
immer schon „irgendwie“ immer da gewesen, als räumliche Konstrukte oder Verwaltungseinheiten, aber
hier konnte bei der Reise an einen anderen Ort und in andere Zeit auch das Entstehen einer Region beobachtet werden.
Wer als Regionalhistoriker nach Nordamerika kommt, ist mit einem Phänomen konfrontiert, das er in
Deutschland nicht erlebt. Während hier, im „alten“ Kontinent, sich zwar Regionen verändern und ggf.
auch völlig neue Arten von Regionen herausbilden, so sind sie doch in historischer Zeit schon immer vorhanden gewesen: als von Menschen besiedelte und strukturierte räumliche und soziale Gebilde. In Nordamerika entstehen dagegen in historischer Zeit völlig neue Regionen, Gebiete, in denen bis dahin zumindest keine Menschen lebten, die eine schriftliche Überlieferung kannten. Mit solchen Einschränkungen sind schon die Ureinwohner, in diesem Fall die Indianer ausgeschlossen, woraus sich umgekehrt schließen ließe, dass der Regionsbegriff eine ethnische Komponente enthält, die unsere Wahrnehmung beeinflusst und lenkt.1 Region heißt mit anderen Worten in diesem eingeschränkten Kontext ein
von weißen Siedlern erschlossenes Gebiet, von dem hinreichende schriftliche Überlieferung existiert.
Das Gebiet, um das es hier geht, liegt in Kanada, in der Provinz Ontario, ca. 400 km nördlich von Toronto.2 Ich kam vor zwei Jahren eher zufällig dorthin und das, was mir
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Neuerdings wird diese Ebene allerdings verstärkt auch in der amerikanischen Forschung thematisiert, etwa programmatisch
ARMITAGE, S.: From the Inside Out. Rewriting Regional History, in: Frontiers, 2001, 22/3, 32-48.
Als neuere Einführung zu Ontario siehe etwa MONTIGNY, E./CHAMBERS, L., (Hrsg.): Ontario since Confederation. Toronto 2000.
Einen knappen neueren Überblick zur kanadischen Geschichte bieten etwa MORTON, D.: A Short History of Canada. Toronto
2001 oder RIENDEAU, R.: A Brief History of Canada. Markham 2000. Siehe außerdem die beiden Darstellungen von Udo
SAUTTER: SAUTTER, U.: Geschichte Kanadas. Von der europäischen Entdeckung bis zur Gegenwart. München 1992 (zitiert als
SAUTTER, Geschichte Kanadas (1992)), DERS.: Geschichte Kanadas. München 2000.
Karl H. Schneider, Reise an den Anfang einer Region. Northern Ontario um 1900, in: Raphaela Averkorn, Eberhard, Winfried,
Haas, Raimund, Schmies, Bernd, Hrg., Europa und die Welt in der Geschichte. Festschrift zum 60. Geburtstag von Dieter Berg.
Bochum 2004, S. 731-751.
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besonders auffiel, war der Charme des Verfalls.3 Er war am stärksten zu beobachten in dem kleinen Ort
Cobalt, einst ein wichtiger Minenort, heute Rückzugsort für etwa 1500 Menschen, die nicht wahrhaben
wollen, dass die große Zeit von Cobalt lange vorbei ist. Bei meinem ersten Besuch war es Winter und
dieser deckte manches zu, was einige Monate später, im Hochsommer, ohne Schutz frei da lag. Nur
wenige Meilen nördlich von Cobalt liegt Haileybury, direkt am Lake Temiskaming4, einer sehr tiefen Verbreiterung des Ottawa-River und ca. 80 Meilen lang. In Haileybury war der Verfall nicht unbedingt erkennbar, aber doch spürbar, und zwar am Fehlen eines größeren Einkaufszentrums oder – ganz schlicht –
einer Verkehrsampel. Beides hatte der wiederum einige Meilen weiter nördlich, ebenfalls am Lake
liegende Ort New Liskeard. Alle drei Orte, so unterschiedlich sie sich heute präsentieren mögen (wobei
die Größenunterschiede relativ gering sind), haben eine gemeinsame Geschichte, und diese Geschichte
soll im folgenden zumindest für die ersten Jahre beschrieben werden.
Die Geschichte beginnt vor etwas über 100 Jahren, begeben wir uns deshalb auf eine doppelte Reise in die
Region und in die hier interessierende Zeit um 1900 und begleiten zunächst eine Reisegruppe, die damals
ebenfalls das erste Mal in das Gebiet reiste. Es handelte sich um eine Gruppe junger Männer, die aufbrachen um die Voraussetzungen für ein neues Leben als Farmer zu erkunden.
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Zu dem Gebiet gibt es eine wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Darstellung: CASSIDY, G. L.: Arrow North. The Story of
Temiskaming. New Liskeard 1976; eher lokalgeschichtlich argumentiert: FANCY, P.: Temiskaming Treasure Trails. 1886-1903,
1904-1906. Cobalt 1992 und 1993; BARNES, M.: The Tri-Towns. Cobalt, Haileybury and New Liskeard. Cobalt 2000; speziell
zu Cobalt: ANGUS, Ch./GRIFFIN, B.: We Lived a Life and Then Some. The Life, Death and Life of a Mining Town. Toronto 1997
(2nd edition)
Die Schreibweise variiert übrigens immer stark, im folgenden wurde, wenn nicht die zitierten Quellen eine andere
Formulierung enthalten, die heutige Schreibweise (Temiskaming) verwendet.
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Abbildung 1 Northern Ontario (Northern Ontario, Toronto 1917)
Die Reise begann am Dienstag, dem 28. Mai 1900 in der Union Station in Toronto.5 30 Landsucher
stiegen an dieser Station ein, es folgten an den nächsten Stationen weitere Männer, so dass insgesamt 152
Mann auf der Reise waren (es waren offenbar tatsächlich alles Männer). In zwei Wochen wollten diese
eine neue Heimat erkunden, Plätze für ein Homestead finden, und dann endgültig mit entsprechender Ausrüstung, Saatgut und ihren Familien (viele von ihnen seien verheiratet, hieß es in dem Artikel) im Herbst
in den Norden zurückkehren. So nebenbei erfahren wir hier etwas über geschlechterspezifische Zuordnungen: die Landsuche und die damit verbundenen Aufgaben waren Sache der Männer, Frauen und
Kinder kamen erst später ins Spiel.6
Die Männer werden in der zeitgenössischen Beschreibung als „men, mostly young, with a fair sprinkling
of men of middle age“ beschrieben werden. Dem Berichterstatter ist es wichtig, darauf zu verweisen, dass
es sich um Personen handelte, die in der Lage waren, ein Leben als Siedler zu führen, und es sich weder
um unerfahrene Männer,
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noch um „Glücksritter“ wie beim „Yukon fever“ handelte. Als Berufe werden genannt: „farm laborers,
farmers of rented land and farmers who need more land for their sons and growing families“, außerdem
befanden sich unter der Reisegruppe „a number of blacksmiths and carpenters“. Als weiteres Kennzeichen wird erwähnt, „the presence of a number of men, who some years ago worked on farms, but who of
late have been employed as section men on railways and workers about factories in cities“. Dagegen seien keine „street railway employes“ dabei, von denen aber eine Delegation schon zuvor in diesem Frühjahr
die Region am Lake Temiskaming erkundet hatte.
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6
The Temiskaming Country. It’s soil, timber, climate and agricultural possibilities. Series of Articles Written by a Staff
Correspondent of the Mail and Empire. June 1901. Ex. im Museum Haileybury. Die folgenden Zitate hiernach, wenn nicht
anders angegeben.
Diesem Bild folgte auch lange Zeit die Forschung, inzwischen hat sich hier aber ein deutlicher Wandel vollzogen; siehe etwa
die Sammelrezension von LEVINE, P.: The Construction of Empire: Gender, Race, and Nation in Europe‘s Imperial Past. In:
Journal of Women‘s History, 2003, 202-209.
3
Nicht nur die Tatsache, dass die meisten aus handwerklichen bzw. landwirtschaftlichen Berufen stammten,
sondern auch weitere Eigenschaften werden hervorgehoben. Alle seien davon überzeugt, hieß es, dass es
besser sei, für eine Farm zu bezahlen („to tackle a bush farm“), die in wenigen Jahren ihr Eigentum
werden würde, als in der Stadt für $ 40 zu arbeiten, ohne Aufstiegsmöglichkeiten zu haben. Damit bewegt
sich die Argumentation offenbar ganz im Rahmen eines gesellschaftlichen Konsenses, der die Farmarbeit
immer noch der industriellen Arbeit vorzog: „because the ideal of independence through rural property
ownership continued to hold sway“7.
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Die Nähe zur Farmarbeit, bzw. zu ländlichen Arbeit fällt bei diesen Beschreibungen auf und sie war kein
Zufall; der Schreiber des Artikels wollte offenkundig darauf verweisen, dass hier keine Abenteurer unterwegs waren, sondern überlegt und sachkundig handelnde Personen. Wir erfahren aber auch etwas über die
Vorgeschichte: trotz der in dieser Zeit expandierende Industrie in den Ballungsregionen war das vermeintlich selbstständige Landleben immer noch attraktiv. Außerdem gab es eine zweite oder dritte Migrationswelle von Farmern, die für die nichterbenden Söhne eine neue Existenzgrundlage suchten. Unverkennbar
ist hier eine geschlechtsspezifische Komponente zu beobachten, die sich auch in anderen Zusammenhängen wiederfinden lässt: die Siedlung in der „Wildnis“ ist eine Herausforderung für „richtige“ Männer,
nichts für solche, die einen leichten Weg gehen wollen.8
Weiter wird über die Interessenten bemerkt, dass sie über die Region, welche sie erkunden wollten, gut informiert seien; sie hätten nicht nur alle verfügbaren Informationen gelesen, sie wüssten, was die Professoren am „Guelph Agricultural College“9 geschrieben hätten, und sie hätten sich auch bei Bekannten oder
Freunden, die schon in der Region waren, erkundigt. Außerdem besäßen sie eine bessere Vorstellung von
dem Land und den Entfernungen als viele andere Menschen in Ontario. Die meisten würden außerdem mit
der Vorstellung diese Reise antreten nie mehr nach Southern Ontario zurückzukehren.
Keiner von ihnen würde aus Not heraus diese Reise antreten: „They were all energetic, thinking men who
were going to New Ontario because they believed they could better their condition, not because they had
failed in old Ontario.“ Und später heißt es noch einmal deutlicher: „Taking it altogether it was hardly
possible to imagine a party of men better fitted by education, nationality, and hard, active outdoor labor,
for the work of building up a new province on the broad fields looking toward James Bay.“
Und, als sei es damit nicht genug, wird noch die Liebe zum Land betont: „They like the Timber Country.“
Die Männer würden als besondere Eigenschaft im Vergleich zu anderen Regionen die Tatsache schätzen,
dass es Waldland (timber country) sei. Ihnen sei allerdings auch die Schwere der Arbeit bewusst, aber sie
seien sicher, zu gewinnen.
Weshalb unternahmen die Männer diese Reise? Ihr Ziel waren „homesteads“ von der Größe einer
quarter-section, 160 acres. 36 sections bildeten ein Township. Jeder Siedler konnte ein Homestead
kaufen, außerdem 160 acre für jeden Sohn, aber nicht mehr. Der Kaufpreis betrug 50 cts per acre,
außerdem mussten ein Haus gebaut (16x18 Fuß groß) und jedes Jahr wenigstens 2 acre gerodet werden;
waren 16 acres gerodet und das Haus gebaut, wurde das Land Eigentum der Homesteaders. Es handelte
sich damit um ein Modell, welches bei der Kolonisation Nordamerikas seit 1862 angewendet wurde.10
735:
Die Reise ging mit der Bahn von Toronto nach Mattawa am Südufer des Lake Temiskaming, von dort
weiter mit einem Dampfboot nach New Liskeard, das am Abend des 29. Mai bei regnerischem Wetter erreicht wurde. Angesichts der langen Fahrt ist es nicht überraschend, dass immer wieder der große Vorteil
einer durchgehenden Eisenbahnverbindung erwähnt wurde. Die Forderung nach der Bahnverbindung
wurde übrigens schon wenige Jahre später verwirklicht.11
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9
10
11
CROWLEY, T.: Rezension zu: BASKERVILLE, P./SAGER, E. W.: Unwilling Idlers: The Urban Unemployed and Their Families in Late
Victorian Canada. Toronto 1998, in: Victorian Studies, 43, 1 (2000), 122-124; hier 123.
Hierzu u.a. WINDHOLZ, A. M.: An Emigrant and a Gentleman: Imperial Masculinity, British Magazines, and the Colony That
Got Away. In: Victorian Studies 42.4 (1999), 631-658.
Das College wurde 1874 gegründet und mit weiteren Instituten 1962 zur University of Guelph zusammengelegt.
<http://www.hridir.org/countries/canada/PROVCOUN/university_of_guelph_ontario_agricultural_college/> Zugriff am
11.9.2003
Zum kanadischen Hintergrund siehe CASSIDY, Arrow North. 112-114.
Zur Entwicklung der Eisenbahn in dieser Region und ihrer weit reichenden regionalen Bedeutung siehe die Studie von
SURTEES, R.J.: The Northern Connection. Ontario Northland since 1902. North York/Ontario 1992.
4
1901 bot sich den Reisenden auf dem See ein malerisches Bild, welches verständlich macht, dass die Region auch für Touristen immer attraktiver wurde. Der 80 Meilen lange, sehr tiefe Lake ist zwischen ¾ und
9 Meilen breit; in seiner Mitte verläuft die Grenze zwischen Ontario und Quebec.
Nach einer anderthalb Tage langen Reise erreichten die Siedler also an einem regnerischen Maiabend
New Liskeard, zusammen mit Haileybury die einzige Siedlung in dieser Region, jede knapp 300 Einwohner groß. Die mit dem Dampfschiff Meteor ankommenden Siedlungswilligen wurden von nahezu der
gesamten Einwohnerschaft empfangen, an ihrer Spitze Rev. F.C. Pitts, Chairman of the Reception Committee, einer der führenden Männer von New Ontario. Er wies auf die vorbereitete Unterbringung der Ankommenden hin und dass sie von Führern zu möglichen Siedlungsplätzen gebracht werden sollten. Die
Unterbringung war recht einfach: da kein Hotel zur Verfügung stand, übernachteten die meisten Männer
in einem ehemaligen Dampfschiff, wo sie, mit eigenen oder geliehenen Decken versorgt, die Nächte verbrachten. Einige wurden außerdem in Privatfamilien untergebracht.
New Liskeard liegt in einem Gebiet mit gleichmäßiger Bodengüte, in dem nur 10 Townships zur Siedlung
freigegeben waren, um eine Siedlungskonzentration zu erreichen. Der Ort selbst liegt am südöstlichen
Rand vom Township Drummond. In diesem und den benachbarten Townships konnten die Siedler nach
geeigneten Siedlungsplätzen suchen, wobei Fahrten zu den benachbarten Townships entweder auf den
schlechten Straßen oder mit dem Steamer organisiert wurden.
Am nächsten Morgen brachen dann die Siedlungswilligen auf, und wurden durch die Townships von Armstrong, Kerns und Hilliard geführt, wo sie mit Siedlern sprechen konnten, die die ersten schweren Jahre
überstanden hatten. Einige dieser Siedler wurden auch im Bericht näher vorgestellt.
John G. Richards lebte früher in Muskoka, nahe Bearbridge, kam am 6.4.1897 in New Liskeard an, hatte $
15 und ein Pferd, das er für $ 75 verkaufte. „He afterwards rented seven acres of cleared (!) land, which
he sowed and harvested in the intervals of working for neighbors.“ Als Ernte von den 7 acres werden 200
Bushels of „oat“ bei einer Aussaat von 11 bushels genannt, davon verkaufte er 144 bushels für $ 1 an die
„lumber camps“. Am 1. Juli (vermutlich 1898) kaufte er 159 acres Land („parts of two adjoining farms“)
und baute ein Blockhaus. „Most of this land was paid for in work for the owners of the two farms. He
chopped six acres on his own farm in 1897, ten acres in 1898, and enough in 1899 and 1900 to bring up
the present total amount cleared to about 52 acres.“
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1900 erntete er 80 Bushels Weizen, 76 „bushels peas“, 390 „bush oats“. Davon allein konnte er offenkundig nicht leben, denn es heißt weiter: „He worked during the winter in the logging camps and for
neighbors in chopping and clearing land.“ Inzwischen hatte er das Homestead bezahlt, ein Blockhaus gebaut, ebenso eine Scheune; er besaß drei Pferde, 10 Kühe, Wagen, Zubehör und außerdem noch 160
Acres in Sutton Bay. Dem Bericht wird folgende Bemerkung hinzugefügt:
„It is only fair to mention that he has not only worked hard on his farm, in the lumber camps, and for his
neighbors, but also that he has two sons, of about 18 and 19 years of age, and several younger boys, who
have greatly assisted him.“
Einer der ältesten Siedler, Mr. Thomas Chester, früher Scarboro, York County, besaß 125 acres in
Scarboro, suchte aber nach mehr Land in New Ontario, hatte insgesamt 800 acres, war seit 1895 in der
Gegend, hatte 15 acres gerodet, weitere 15 „chopped“ und fertig für „clearing“. Der Großteil seines
Landes war also noch unkultiviert, als landwirtschaftlicher Siedler hatte er sich bislang kaum betätigt.
Bislang hatte er nur Holz von seinem Land verkauft, von 10 acres insgesamt $ 543. Da ein Fluss durch
sein Land verlief, war der Transport des Holzes einfach. In den letzten drei Jahren hatte er von seinem
Holzverkauf („over cost of labor“) verdient: $ 60, $ 500, $ 325. Der Holzverkauf sei, so heißt es in dem
Bericht, eine gute Möglichkeit für einen Farmer, der einen Wasserweg habe, für andere sei das Abbrennen
des Holzes die geeignete Möglichkeit.
„Mr. Chester’s case ist that of a man with experience and capital, who is able to employ labor when
required and direct it to good advantage.“
5
William Brown kam vor 5 Jahren, mit 20 Jahren, hatte nichts als Energie und Muskeln, „but that he put in
five years of hard work for lumbermen, for neighbors, and for himself, and now has a property that he
values at $ 1.500. He has a considerable clearance, and a good frame barn, three horses, and other
stock. He had raised 35 bushels of fall wheat to the acre, and considered the soil of Dymond as good as
the richest land in Pickering.“
Prof. Sharpe, Philosophieprofessor der Queens University, Kingston, kam zuerst für die Ferien nach New
Ontario, hatte jetzt eine Farm in Bucke Township gekauft mit Blick auf den Lake Temiskaming. Das erste
Land wurde im Herbst 1899 eingesät, das Land war vorher nicht gepflügt worden. Dennoch erbrachten die
nicht gedüngten Flächen eine Ernte von 28 bushels/acre, das gedüngte Land sogar von 34 ½ bushels/acre,
als Dünger wurde verwendet: muriate of potash and nitrate of soda. Außerdem würden oats und barley
angebaut; der Frost habe keinen Schaden angerichtet, und er könne nur dort Schaden anrichten, wo die
Rodungen zu klein seien, um die Luft zirkulieren zu lassen.
Prof. Sharpe wies allerdings auch auf die Konsequenzen hin, die sich aus der notwendigen engen Abhängigkeit zur Holzwirtschaft ergaben: „There is not enough produce raised to supply the local market, and
with the large lumber trade the local market will likely absorb all the produce of the district for the next
10 years, by which time exporting will begin. The chief difficulty at present is that lumbering offers so
many inducements to the workingmen that settlers do not by any means give their hole strength
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to the clearing and working of their farms and the development of the country is consequently retarded.“
J.T. Newton war einer der ersten Siedler im Township of Kerns, J.T. kam 1897 aus Northumberland, habe
jetzt 16 cleared und weitere 10 chopped acres Land. Das bei der Rodung angefallen Holz wurde verkauft,
der Ertrag betrug auf einer Fläche von 3 acres $ 275 (die Arbeit machten 4 Männer und ein Pferd), Newton glaubte, dass die Erträge in den nächsten Jahren noch zunehmen würden. Im Township gab es schon
eine Schule, eine sawmill, einen general store und einen Schmied.
P.T. Lawlor kam aus Ottawa, lebte in der Nähe von Haileybury, vorrangig von „lumbering“, habe aber
auch eine gute Ernte, allerdings: „At present the small clearings and their distance from one another
renders, threshing with a flail almost a necessity, while both the small size of the fields and the presence
of stumps prevents the use, as yet, of labor-saving machinery; all of which tends to lower the records that
it has been possible to make so far. With larger clearings and more of them, farming is bound to become
much easier and consequently more profitable. Mr. Lawlor cites his own as typical case of injustice to
the land. Last fall, when the land should have been ploughed, he was off looking after his lumber camp,
and this continued until after the logs had come down the ‘drive’. By that time it was too late to do spring
work properly, and the ground was harrowed and the seed thrown in. In spite of this the crops were looking fairly well at the time of the party’s visit.“
Die Fallbeispiele sind insofern aufschlussreich, als sie bei aller positiven Beschreibung einige wichtige
Aspekte der Siedlerexistenz nicht verheimlichen. Hierzu gehörte die lange Frostperiode, die zu einer nur
kurzen Anbauperiode führte. Allerdings zielten die Beschreibungen der Siedler auch darauf hin, die negativen Folgen dieses Umstandes möglichst zu kaschieren. Glaubt man den Berichten, so wirkte sich ein
weiteres Element wenigstens ebenso problematisch aus: die Region wurde zu diesem Zeitpunkt in hohem
Maße für den Holzeinschlag genutzt. Für die neuen Kolonisten ergaben sich daraus durchaus Vorteile: für
die Versorgung der Pferde wurde Heu benötigt, die Holzfäller mussten ebenfalls mit Nahrungsmitteln versorgt werden, wodurch sich ein lukrativer lokaler Markt ergab. Zudem konnten die Siedler selbst in den
Camps arbeiten, um etwas Geld verdienen zu können. Und schließlich konnten sie selbst Holz verkaufen,
das bei dem Roden ihres Landes anfiel. Doch diesen Vorteilen standen auch nicht erhebliche Nachteile
gegenüber, die sich vor allem daraus ergaben, dass die Arbeit als Holzfäller wichtige Zeit kostete, die
nicht mehr für die Rodung des eigenen Landes verwendet werden konnte.
Damit ist ein Aspekt angesprochen, der in den Beschreibungen gar nicht auftaucht: die Siedler erhielten
keinerlei staatliche Unterstützung.12 Da die meisten Siedler offenbar auch wenig Kapital hatten, standen
sie vor einem grundsätzlichen Dilemma: die konnten das benötigte Geld durch Holzeinschlag verdienen,
dann fehlte es aber an Zeit für die sorgfältige Bearbeitung des Landes. Hinzu kamen die kurzen Wachstumsphasen, die zwar in den Berichten (und nicht nur in diesen) immer wieder geradezu
12
Siehe dazu kritisch: GOSSELIN, A./ BOUCHER, G. P.: Settlement Problems in Northwestern Quebec and Northeastern Ontario.
Ottawa 1944. (Dominion of Canada, Department of Agriculture B. 758).
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banalisiert wurden, jedoch von großer Bedeutung waren.13 Dem wurde in der Sprache des Artikels mit
dem Bild von Männlichkeit begegnet, aus der Bedrohung wurde auf diese Weise eine (männliche) Herausforderung.
Das hier formulierte Männlichkeitsbild postulierte aber nicht nur, es kaschierte auch, denn die objektiven
Rahmenbedingungen für die Siedlung in dieser Region waren ungünstig: nicht nur das schlechte Wetter
und die völlig fehlenden finanziellen Hilfen sind hier zu nennen, sondern auch die unzureichende Verkehrsentwicklung wirkte sich hemmend aus. Das war mehr als ein Schönheitsfehler, denn es ging nicht
allein darum, Kolonisten anzusiedeln, sondern mehr noch, die in der Region angebauten Produkte auf den
Markt zu bringen. Damit war die Verkehrsanbindung angesprochen: „Roads and railroads are the two
things which the people of Temiscamingue are most interested in.“14 Zwar konnte Holz bislang im Winter
gefällt und dann im Sommer auf dem Wasserweg transportiert werden, das ging aber nicht für Früchte, die
im Herbst geerntet wurden. Eine Eisenbahnverbindung war eine der zentralen Forderungen, die auf einer
Versammlung in New Liskeard formuliert wurde.
In der Zusammenfassung wurden noch einmal die entscheidenden Aspekte zusammen getragen: Forstschäden seien gering, insgesamt sei die Nachfrage nach Nahrungsmitteln durch die Holzarbeiter größer als
das Angebot zumal die Arbeiter gute Preise zahlen würden. „Oats, pressed hay, flour, beans, and pork“
würden weitgehend importiert, die Preise seien höher als in Süd Ontario. Ein weiteres Kennzeichen der
Region seien die gut ausgebildeten Siedler. Es gebe deshalb auch eine gute Infrastruktur mit Schulen, Kirchen, Büchereien. „While Temiscamingue is not a tourist country, being too flat for the seeker of fine
scenery, it has the great attraction of being a country where people from Southern Ontario can see the
very beginning of settlement, and imagine that they are back, say, in York County a hundred years ago.“
Und immer wieder findet sich der Hinweis auf die Eisenbahn und bessere Straßen: „The country needs a
railway and it needs more colonization roads, while the improvements to navigation have not been all of
the happiest.“ Der Wasserweg, obwohl von der Regierung unterstützt, könne dagegen keinen Ersatz darstellen, zumal er im Winter nicht nutzbar war.
Zum Zeitpunkt des Berichts lebten in der Region ca. 2000 Menschen auf 107 Farmen. Die Besiedlung
wurde also um die Jahrhundertwende voran getrieben, hatte aber schon vorher begonnen.
Die Region um den Lake Temiskaming kannte zu diesem Zeitpunkt schon eine lange Vorgeschichte
weißer Siedlungsaktivitäten.15 Zwar ist es unsicher, ob Champlain am Lake Temiskaming war, jedoch
führten die Routen späterer Entdecker (de Troyes) am Lake entlang. Zwar gibt es keine Belege für französische Aktivitäten in dieser Region, aber sie sind dennoch wahrscheinlich. Im 18. Jahrhundert wurde
schließlich das Fort Temiskaming errichtet, noch Ende des Jahrhunderts wurde auch die Hudson-Bay739:
Company in dieser Region aktiv. Als Zwischenstation auf dem Weg zur Hudson-Bay war der Lake in den
folgenden Jahrzehnten von Bedeutung. Seit 1839 wurde die Region selbst wegen ihres Holzreichtums und
der Pelztiere interessant. Die Hudson-Bay hatte 1795 das Fort Temiskaming von der North-West-Company erworben und es zum Zentrum seiner Aktivitäten in dieser Region ausgebaut. 1869 wurde das Fort
noch vergrößert, ehe es in den 1880er Jahren aufgegeben wurde.
13
14
15
Von ebenfalls waghalsigen Versprechungen für neue Homesteaders, lediglich etwas später und in den USA, handelt das Buch
von RABAN, J.: Bad Land. Ein amerikanisches Abenteuer. Frankfurt/M-Leipzig 1999.
Temiskaming Country, wie Anm.
Das folgende nach CASSIDY, Arrow North, 55-79.
7
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde diese Region vor allem als Holzlieferant ausgebeutet,
wobei parallel dazu auch die landwirtschaftliche Nutzung zunahm: „At first, agricultural settlement and
lumbering went hand in hand.”16 Im Frühjahr oder im Herbst zogen Crews los, die die zu schlagenden
Stämme bzw. Gegenden mit einschlagbaren Holz erkundeten, danach folgten die eigentlichen Crews, die
die Bäume schlugen und dann für den späteren Transport lagerten. Das Fällen war etwa Mitte März beendet, mit dem Tauwetter wurden die Wege unpassierbar, die „Lumbermen“ gingen zu ihren Farmen zurück, nur wenige blieben in den Camps, machten Restarbeiten und warteten auf das Auftauen der Wasserwege.17 Mit dem Frühjahr wurden die Stämme zu Flössen zusammengebunden und zu den Sägemühlen
oder anderen Zielorten transportiert, wobei es teilweise komplizierter Konstruktionen bedurfte, um
Wasserfälle oder Stromschnellen zu umgehen.18 In den 1890er Jahren ging die Zeit des „squared timber“
vorbei und Sägemühlen entstehen, die ersten Siedler entwickelten eine Nachfrage nach billigen Brettern.
Der wachsende Weltmarkt, der jetzt zunehmend Holz für die Papierherstellung benötigte, war mit den
vorhandenen langsamen und saisonabhängigen Transportwegen jedoch nicht mehr zu bedienen. Erst die
Eisenbahn ermöglichte die Anbindung an diesen wichtigen Markt, so wie sie gleichzeitig die Siedlungstätigkeit forcierte.19
Seit den 1880er Jahren wurde die Kolonisation verstärkt voran getrieben, zunächst eher erfolglos, dann
nach 1890 mit zunehmendem Erfolg.20 Dafür gab es mehrere Gründe. Zum einen bestand in der kanadischen Gesellschaft ein starkes Interesse, das Land als Einwanderungsland attraktiv zu machen, und
damit den Wettlauf mit den in vielen Dingen überlegenen USA nicht einfach aufzugeben. Zum anderen
gab es seit 1890 eine unverkennbare Tendenz nach neuen Siedlungsgebieten. Die im südlichen Ontario
besiedelten Gebiete produzierten mittlerweile einen Überschuss an siedlungswilligen weichenden Erben,
Söhne von Farmern, die sich eine Generation zuvor im südlichen Ontario niedergelassen hatten. Daneben
gab es aber auch aus den Städten ein Potential von Menschen, die offenbar ein Leben auf dem Land, damit die Erwartung einer unabhängigen Existenz, bevorzugten.
Zwar gab es schon vorher so genannte Landgrants, die die Vergabe von Siedlungsland regeln sollten, jedoch wurde das System nach 1850 deutlich verbessert. So wurde das Land planmäßig erkundet, Townships angelegt (d.h. die Flächen der
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Townships vermessen) und das Land bestimmt, welches für eine Siedlung geeignet schien.21 Durch den
Public Land Act von 1853 sollte nicht nur die Siedlung freien Landes erleichtert (die Siedler erhielten 100
acres freies Land), sondern durch die Formulierung von Auflagen zugleich verhindert werden, dass dieses
Land lediglich zur Spekulation erworben wurde.22 Allerdings schritten die Siedlungen nur langsam voran.
Bis in die 1870er Jahre wurde erst North Bay erreicht, was auch an den unzureichenden Verkehrswegen
lag, denn der Straßenbau blieb mangelhaft und die Eisenbahn konnte nur die Hauptorte verbinden,
immerhin hatte die CPR 1881 Mattawa erreicht.23
Die kanadische Westwärts-Bewegung war vorrangig auf die westlichen Gebiete gerichtet, Northern Ontario spielte in diesem Kontext eine eher untergeordnete Rolle.24 Bei dem in Frage kommenden Gebiet
handelte es sich um Land, das bislang als Waldland genutzt wurde. Die kanadische Administration, bzw.
die Verwaltung des Kronlandes ermittelte ab Ende der 1880er Jahre die Rahmenbedingungen für ländliche Siedlung. In den Berichten des „Commissioner of Crown Land“ wurden die Siedlungsbedingungen
detailliert beschrieben. Das Gebiet des Lake Temiskaming wurde zu diesem Zeitpunkt schon von wenigen
Siedlern bevölkert, wie der Bericht für das Jahr 1887 belegt.25
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25
CASSIDY, Arrow North, 83.
CASSIDY, Arrow North, 83 f.
CASSIDY, Arrow North, 85 f.
CASSIDY, Arrow North, 86 f.
Allgemein RIENDEAU, Brief History, hier 174ff. CASSIDY, Arrow North, 87 ff. SAUTTER, Geschichte Kanadas (1992), 154-163.
CASSIDY, Arrow North, 91.
Etwa durch die Auflage, dauerhaft auf dem Land zu siedeln; CASSIDY, Arrow North, 93.
CASSIDY, Arrow North, 95.
Dazu zusammenfassend: RIENDEAU, Canada, 174-180, SAUTTER, Geschichte Kanadas (1992), 154-163.
REPORT of the Commissioner of Crown Land of the Provine of Ontario for the Year 1887. Toronto 1888, S. 48 (Township of
Bucke, District of Nippissing).
8
Abbildung 2 Auszug aus dem Bericht des Commissioner of Crown Land 1887
(Report of the Commissioner of Crown Land of the Province of Ontario of the Year 1887, Toronto 1888,
48)
In den Jahren zuvor waren schon weitere detaillierte Berichte angefertigt worden, die die Eignung des Gebietes für eine landwirtschaftliche Siedlung ermitteln sollten. Wie der Bericht des Commissioners von
1887 zeigt, gab es zu diesem Zeitpunkt schon entsprechende Aktivitäten.
Es gab eine Koexistenz von Holzeinschlag und agrarischer Siedlungstätigkeit in dieser Phase, die auch dadurch bedingt war, dass die Verkehrswege in hohem Maße nur saisonabhängig genutzt werden konnten.
Diese Koexistenz hatte auch Folgen für die Biographie einzelner Menschen wie des J.D. McLaren. 1883
geboren, begann er 1901 als ein Lumberjack, arbeitete dann für mehrere Firmen und wurde später Farmer.26 Am Beispiel von Haileybury lässt sich zeigen, dass beide Tätigkeiten auch nebeneinander betrieben
wurden. Wie schon aus dem zitierten Kommissionsbericht von 1887 hervor
741:
ging, gab es am Nord- und Nordwestufer des Lake Temiskaming um diese Zeit Siedlungsaktivitäten, hinter denen u.a. ein C.C. Farr stand. Zu diesem Zeitpunkt war es noch ein siedlungsarmes Gebiet, in dem
zwar vergleichsweise günstige Siedlungsbedingungen bestanden, die aber aufgrund der ungünstigen Verkehrslage nicht genutzt wurden. Die Region lag am nördlichen Ufer des Lake, der von Toronto aus per
Bahn nur bis Mattawa, dann per Schiff und schließlich mittels Rindenkanus erreicht wurden. Aktiv wurde
in dieser Region vor allem der schon erwähnte C.C. Farr.27 Farr stammte aus Suffolk, wo er 1851 geboren
wurde und das Haileybury College besuchte. Nach dem Tod seines Vaters ging er nach Ontario, musste
allerdings mehrfach schwere Enttäuschungen erleben, ehe er im Dienst der Hudson Bay Company eine
feste Anstellung fand. Durch seine Arbeit lernte er die am Lake Temiskaming lebenden Indianer kennen,
entwickelte aber auch einen engen Kontakt zu den dort lebenden wenigen Weißen. Ab 1885 begann er am
nördlichen Ufer des Sees Land aufzukaufen, womit er seiner Zeit ein wenig, aber entscheidend voraus
war. Ab 1887 wurde der so genannte Little Clay Belt nördlich vom Lake erkundet und damit die planmäßige Siedlung gefördert. Farr hatte in diesem Prozess unverkennbare Startprobleme. 1889 hörte Farr bei
der HBC auf zu arbeiten, holte seine Familie nach und entwickelte eigene Aktivitäten, so gründete er das
Haileybury Post Office, baute eine „grist mill“ und eine Sägemühle.28 Erste Mineralogen erkundeten das
Gebiet ebenfalls, waren aber skeptisch, ob die Region abbauwürdige Erze hatte.
Farr musste allerdings sehen, dass trotz dieser Aktivitäten, die 1893 auch zur Anlage neuer Townships unter John Armstrong führten, die Siedlungen sich nur langsam entwickelten. In dieser Situation verfasste er
ein 1894 gedrucktes Pamphlet:
„Lake Temiskamingue (!) District, Province of Ontario, Canada. A Description of its Soil, Climate, Products, Area, Agricultural Capabilities and other Resources, together with Information pertaining to the
Sale of Public Lands“29. Überliefert ist die Geschichte, wie er das Pamphlet publizierte: mit Kanu,
Schneeschuhen und Zug reiste er nach Toronto zu einem Treffen mit Premier Hardy, später reiste er nach
England, wo er ein zweites Pamphlet verfasste.30
Diese Publikation ist ein bemerkenswerter Text, geschrieben mit Optimismus und Humor, die konkreten
Probleme keineswegs leugnend und sie doch in einem positiven Licht darstellend. Farr kämpfte regelrecht
für „seine“ Siedlung. Dabei werden aber auch wieder Interpretationsmuster erkennbar wie wir sie schon in
der späteren Zeitschriftenserie von 1901 kennen gelernt haben.
26
27
28
29
30
CASSIDY, Arrow North, 88.
Zu Farr gibt es eine Autobiographie: FARR, C.C., The Life of Charles Cobbold Farr. Founder of the Town of Haileybury,
District of Temiskaming, Ontario. 1967. Daneben widmet sich CASSIDY, Arrow North, 103 ff.
CASSIDY, Arrow North, 106.
Im folgenden zitiert als Farr, Lake Temiskaming. Fundort des benutzten Exemplars: Haileybury Museum, Ontario. An dieser
Stelle sei den ehrenamtlichen Mitarbeitern des Museums für ihre intensive und zuvorkommende Hilfe gedankt.
CASSIDY, Arrow, 107. Siehe auch FANCY, Treasure Trails, 1889-1903, 35 f, der sehr anschaulich die Entstehung der Schrift
schildert.
9
Die ersten Sätze zeigen diesen speziellen Charakter schon deutlich: „In writing this short pamphlet, I
have endeavored to treat the subject as dispassionately as is consis
742:
tent with one whose heart is in the work, and who believes in the great future of Lake Temiscamingue.“31
Sein Hinweis, dass er sich nur an den Fakten orientiere, ist durchaus ernst zu nehmen, wird aber verbunden mit einer neuen Bedeutung: Adressaten sind keine Touristen, sondern Männer, die hart arbeiten
können, aber auch viel Geld verdienen wollen: „Nor is this a guide book for tourists. I speak to men with
whom the question of the day is how to live and make money, not how to spend it; for by such men is the
bush subdued, and the forests turned into farms.“32
Es sind keine idyllischen Zustände, die den Zuwanderer erwarten, sondern solche, die Zupacken erfordern, welches aber in Zukunft durch Unabhängigkeit und ein gutes Leben belohnt werden. Die Betonung dieses Aspekts war nicht zufällig, denn die Region hatte mit erheblichen strukturellen Problemen zu
kämpfen, von denen einige in Zukunft behoben werden konnten, andere jedoch nicht. Die ungünstige Verkehrslage musste kein Dauernachteil sein, sondern würde durch eine Eisenbahn behoben werden. Anders
war es beim Wetter: die Winter waren lang und hart, die Vegetationsperiode nur kurz, sie setzte spät ein
und endete früh. Deshalb musste das Pamphlet nachweisen, wie wenig nachteilig dieser Faktor war. Farr
begann mit einem Hinweis auf die geographische Lage. Die Region liege, allen gegenteiligen Annahmen
zum Trotz viel weiter südlich als angenommen: „The last few years have proved that this was all a grave
mistake, and that geographically Temiscamingue is further south than many countries famous for their
cereals-south of London, of Paris, of Vienna, and of the best wheat-growing sections of European Russia,
whilst on our own continent Manitoba and the great North-West are to us in latitude as is the North Pole.“33 Daraus ließ sich zwar eigentlich nicht folgern, dass dies Gebiet genau so gute Voraussetzungen für
den Ackerbau besaß, aber Farr verband mit der geographisch gesehen „südlichen“ Lage genau diese Vorstellung. Ehe dieser Aspekt weiter behandelt wurde, wandte er sich den konkreten Verhältnissen zu, beginnend mit dem Boden („a magnificent sub-soil of calcareous clay, ... perfect for the use of man“)34 und
dem Holz (Niederwald, leicht zu roden) und dem Markt (Preise für agrarische Produkte werden genannt,
die günstigsten Verkaufszeiten und die Folgen eines möglichen Eisenbahnanschlusses).
Es folgt eine Liste der möglichen Anbaufrüchte, wobei fast alles versprochen wird:
„Anything that can be grown in a temperate climate can be grown on Temiscamingue soil, even to some
of the tenderest vegetables, as the following will show:
Vegetables: Beans, beets, cabbage, cauliflower, carrots, celery, cucumbers corn, lettuce, melons, onions,
parsnips, peas, pumpkins, potatoes, radishes, rhubarb, squash, tomatoes, tobacco, turnips.
Cereals: Barley, oats, peas, wheat.
Fruits: Apples, plums, grapes, gooseberries, currants, raspberries, strawberries.
743:
Everything included in the above list has been successfully grown, and it is probable that if anything else
yet remains to complete those lists it would prove equally successful.“35
Farr wusste, dass die langen Winterzeiten und die Sommerfröste potentielle Siedler fern halten konnten.
Deshalb widmet er sich speziell diesem Thema vergleichsweise ausgiebig. Sein Resümee ist wieder vergleichend angelegt und bezieht die zukünftige Entwicklung mit ein:
31
32
33
34
35
FARR, Lake Temiskaming, 3.
Ebd.
Ebd.
Ebd., 4.
FARR, Lake Temiskaming, 5.
10
„As a matter of fact, Temiscamingue is less afflicted in this respect than were many parts of southern Ontario when first opened for settlement. It is possible that the height of land may have a sheltering effect
upon this low-lying valley of the Ottawa, or perhaps such frosts are purely local and the result of local
causes, such as swampy land and dense green forest growth. Be what it may the chances of such frosts
will be yearly lessened by the clearing of the bush, and in the future Temiscamingue will enjoy more
certain immunity from them than some of the most favored spots of Ontario.“36 Verharmlosend wirken
seine Bemerkungen über die Aussaat- und Erntezeiten: die Aussaat sollte im Mai (!) stattfinden, die Erntezeit wird offen gelassen, es erfolgt lediglich ein Hinweis auf die Zeit, wenn der See zufriert (Dezember).
Und schließlich bemerkt er noch, dass die Winter weit weniger kalt seien als häufig vermutet werde.
Weitsichtig waren seine Bemerkungen hinsichtlich der Erzfunde. Farr verwies auf entsprechende Aktivitäten des „Geological Survey Department at Ottawa“, welches „have paid more attention to this section
than to any other“.37 Erzfunde würden in naher Zukunft das Gesicht der Region dramatisch verändern,
aber das konnte Farr lediglich vermuten.
Wichtig in dem Pamphlet sind die Beschreibungen der Infrastruktur, wobei hier auch sein Sinn für Ironie
zu Tage tritt. Zum Thema „Schule“ heißt es: „There are none. Temiscamingue civilized is a condition of
the future. It is essentially a new country.“38 Das galt auch für kirchliche Einrichtungen. Jedoch war sich
der Autor sicher: wenn erst genügend Siedler kämen, wäre dies Problem schnell gelöst.
Ein heikles Thema, aber mit der berechtigten Hoffnung auf Änderung, war die Verkehrsanbindung. Der
Hinweis auf den Weg, den Farr zurücklegen musste, um zu seinem Premierminister zu kommen, zeigte es
schon deutlich: um nach Haileybury zu gelangen, musste zunächst bis zu der Mitte des Sees auf der Höhe
des Forts Temiskaming im Sommer mit Rindenkanus gefahren werden, dann konnten Schiffe genommen
werden, ehe ab Mattawa ein durchgehender Zug nach Toronto fuhr. Farr beschreibt aber schon die
Existenz kleiner Dampfschiffe („small vessels“), die im oberen Teil des Sees verkehrten.39 Erst durch eine
direkte Eisenbahnverbindung konnte die Region erschlossen werden, auch für den Tourismus aus Toronto.
Doch zurück zur banalen Realität. Farr empfahl neuen Siedlern, auf das Mitbringen von Vieh zu verzichten: „I believe that a man is better without stock of any kind for
744:
the first year, and even after that it is best not to have too many animals to feed and look after“.40 Es sei
denn, er sei bereit, für Futter viel Geld auszugeben. Erst wenn der Siedler genug eigenes Futter ernten
könne, solle er zur Viehhaltung über gehen.
In den weiteren Abschnitten des Heftes wurden genauere Angaben über die Siedlung selbst gemacht: worauf bei der Anreise zu achten sei, wie die Kleidung, insbesondere für Kinder aussehen sollte, welche
Townships zur Siedlung frei gegeben waren, auf welche Art und Weise „public land“ erworben werden
konnte. Zudem wurde aus den staatlichen Erkundungsberichten über die einzelnen Townships zitiert.
Die Schrift schließt mit Auszügen aus einem Rundbrief von John Armstrong, dem „Crown Lands agent“
für den Lake Temiscamingue, geschrieben im Dezember 1893. In diesem Brief werden nicht nur die Vorzüge der Region, sondern auch die Aktivitäten von C.C. Farr hervorgehoben. Im wesentlichen geht es aber
darum, die Region als eine besonders gut geeignete für Siedlung und Holzeinschlag zu loben. Erneut
werden die besonders guten agrarischen Möglichkeiten gelobt: „The District promises to be one of the
best wheat-growing parts of the Province, as the soil is composed of rich clay, with a large percentage of
lime and about nine inches of black muck on the surface, and is free from stones or rock.“41 Die Hervorhebung der Holznutzung hat noch einen weiteren Aspekt: sie soll darauf verweisen, dass es Folgeindustrien geben wird, insbesondere Holzfabriken.
36
37
38
39
40
41
FARR, Lake Temiskaming, 6.
Ebd., 7.
Ebd.
Ebd., 10.
Ebd., 9.
Ebd.
11
Die hier kurz vorgestellte Darstellung war nicht die einzige ihrer Art, sondern gehörte einer Gattung von
Werbeschriften an, die es nicht nur in Kanada, sondern besonders in den USA gab.42 Ihr Zweck war
immer der gleiche: sie sollten Menschen/Männer in Regionen führen, die bislang nicht für eine Siedlung
genutzt wurden und neben vielen Vorteilen auch gravierende Nachteile hatten, welche aber immer wieder
in einem günstigen Licht dargestellt wurden. Im Fall des mittelamerikanischen Westens bestand ersteres in
der Weite des Landes und dem grundsätzlich fruchtbaren Boden, letzteres in den geringen Niederschlagsmengen und den weit entfernt liegenden städtischen Märkten und der damit verbundenen hohen Abhängigkeit von der Eisenbahn. Im „Temiskaming Country“ war es nicht viel anders. Hier gab es zwar genügend Wasser, dafür war das Klima durch lange Winterperioden geprägt und es fehlte lange Zeit an einer
gut nutzbaren Eisenbahnverbindung.
Vergleicht man beide Schriften, so werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede erkennbar. In der Schrift
von 1901 trat das Wetter erkennbar in den Hintergrund, dagegen wurden die konkreten Probleme der vorhandenen Siedler erkennbar. Hierzu hatte Farr sieben Jahre vorher deutlich weniger mitzuteilen, allein,
weil die Siedlung nicht so weit gediehen war und es deshalb an Erfahrungswerten mangelte. Ebenfalls
stärker trat die Forderung nach einer Eisenbahn hervor, was sowohl die Folge der größeren Siedlerzahl als
auch gestiegener Erwartungen war.
In beiden Darstellungen ist aber auch eine ideologische Konzeption erkennbar, die über die Beschreibung
konkreter Erscheinungen hinaus geht. Anne Windholz hat diese Konzeption des „richtigen“ Engländers,
des Gentleman, wie folgt beschrieben:
745:
„British manhood would bring civilization to the hinterlands of the world; in turn, the hinterlands of the
world would save British manhood from civilization.“ 43 Folgt man ihrer Darstellung, dann bestand ein Interesse an der englisch dominierten Besiedlung des Northern Ontario nicht allein bei Männern wie Farr,
sondern auch an den Protagonisten einer Emigration von Engländern in englische Kolonien und nicht in
die Vereinigten Staaten, wohin allerdings die meisten auswanderten.44
Darüber hinaus zeigen aber auch die Beschreibungen, wie sehr Männlichkeit sich durch die Ausfüllung
einer Rolle als Organisator, Beschützer und Siedler ergab, der seine Männlichkeit erst durch die Erfüllung
von Abenteuer und Herausforderung entwickelte und bestätigte. Indem der Wald gerodet und eine Zivilisation (Schulen, Kirchen) aus der Wildnis geschaffen wurde, erfüllte der Mann seine Aufgabe. „The West
offered the Briton an unparalleled opportunity for winning the wealth due his status as a gentleman while
at the same time promising romance, adventure, and (not least) unadulterated masculine society.“45
Der Mann viktorianischer Prägung, der sich durch die Annahme der Herausforderung auszeichnete, war
der Adressat der Publikationen um 1900. Dieser Mann nahm die Herausforderung nicht nur an, er wusste
auch, was auf ihn zukam, der „skilled man“ war ein wichtiges Kennzeichen: nicht der unbedarfte Städter,
sondern der erfahrene Mann vom Land war der richtige Mann. Die Beschreibungen waren demnach zwar
auch realistisch, insofern sie auf die harten Rahmenbedingungen verwiesen, aber sie bestanden dennoch in
hohem Maße aus Fiktion und Ideologie. Fiktion deshalb, weil die konkrete Härte immer noch untertreibend beschrieben wurde, Ideologie deshalb, weil die Kolonisation zum Abenteuer für Männer mutierte. Frauen dagegen haben keinen wirklichen Platz in diesem Bild, sie tauchen erst auf, wenn die
Männer das Abenteuer bewältigt haben. Es sei hier nur angedeutet, dass dieses Bild nichts mit der
Wirklichkeit in den Kolonisationsgebieten zu tun hatte, wo die Frauen teilweise stärker belastet waren als
die Männer.46
42
43
44
45
46
Dazu etwa RABAN, Bad Land, 34-50.
WINDHOLZ, An Emigrant and a Gentleman, hier 631.
Ebd., 632.
Ebd., 636.
Zur Frauenarbeit in Ontario in dieser Zeit siehe etwa DERRY, M.: Patterns of Gendered Labour and the Development of Ontario
Agriculture. In: MONTIGNY, E.-A./CHAMBERS, L. (Hrsg.): Ontario since Confederation. Toronto 2000, 3-15.
12
Wie hatte sich die Siedlung nun konkret zwischen der Mitte der 1880er Jahre und der Jahrhundertwende
entwickelt?47 Ein detaillierter Blick auf die Verhältnisse um den Lake Temiskaming in dieser Zeit zeigt
eine Region, in der unterschiedliche Akteure und Interessen aufeinander stießen: auf der östlichen Seite
(Quebec) agierte um diese Zeit die „Société de Colonization du Lac Témiscamingue“, die 1886 immerhin
schon auf die Ansiedlung von 37 Familien verweisen konnte.48 Zugleich spielten katholische Mönche des
Oblatenordens eine Rolle; bis 1887 lebten sie in der „Old Mission“ am Westufer des
746:
Sees, dann wechselten sie auf die französischsprechende Seite nach Ville Marie.49 Eine bedeutende Rolle
spielte weiterhin die Hudson-Bay Company.
Zu dieser Zeit hatte sich die Verkehrsanbindung erheblich verbessert, weil seit 1880 die Eisenbahn
immerhin bis Mattawa fuhr. In diesen Jahren lassen sich an vielen Stellen Aktivitäten beobachten, wobei
die jeweiligen Akteure versuchen, wichtige Positionen zu besetzen: Konzessionen für Poststellen zu erhalten50, Säge- oder Getreidemühlen zu erwerben.51 Zur gleichen Zeit gingen die mineraologischen
Erkundungen im „mineral county“52 voran, mit wechselndem Erfolg, vor allem aber zunächst enttäuschten
Erwartungen.53
In dieser Zeit um 1888/1887 suchte C.C. Farr an unterschiedlichen Standorten eine Existenz, ehe er sich
im späteren Haileybury endgültig niederließ, wo er neben dem Post-Office auch eine Sägemühle einrichtete und mit einem Freund zusammen weiteres Land rodete.54 Die wichtigste Verbindung zur Außenwelt erfolgte in den Sommermonaten über kleine Dampfer wie die Meteor. Doch allen Versuchen zum Trotz
entwickelte sich die mit so viel Enthusiasmus begonnene Siedlung nicht ausreichend, weder die dringend
benötigten Verkehrsverbindungen wurden errichtet noch erfüllte der Bergbau die ihn gesteckten
Erwartungen. In dieser Situation erfolgte der Entschluss zum oben beschriebenen Pamphlet von 1894.
Dank einer finanziellen Hilfe aus England konnte er sich auf den erwarteten Siedlerzustrom einrichten und
seine Getreidemühle erneuern.55 1894 begannen sich die Dinge dann deutlich zu entwickeln, ein Cousin
Farrs kam aus England und übernahm den kleinen Store, und schließlich betrat ein neuer wichtiger regionaler Akteur die Bühne: John Armstrong. Armstrong arbeitete als Crown Lands Agent und war am Erwerb
von Haileybury interessiert.56 Doch Farr ließ sich darauf nicht ein, so dass Armstrong weiter nach Norden
zog, in das Gebiet des Wabi River. Dort hatten sich seit 1891 schon die ersten Siedler nieder gelassen, als
erster ein William Murray.57 Doch erst Armstrong verstärkte die Bemühungen um die Gründung eines
neuen Ortes. Damit entstand eine Konkurrenz, die bis heute bestehen geblieben ist: das von Farr favorisierte Haileybury und nördlich davon an der Mündung des Wabi River die von Armstrong gegründete
Siedlung. In die jetzt beginnende Konkurrenz wurden auch die Kirchen mit einbezogen; Farr knüpfte Verbindungen zur Church of England, damit eine feste Kirche gebaut werden konnte, ebenso begannen die
Baumaßnahmen für ein erstes kleines Schulhaus.58 Die Siedlung entwickelte sich, aber sehr langsam.59
747:
47
48
49
50
51
52
53
54
55
56
57
58
59
Die Darstellung folgt den Studien von FANCY, Treasure Trails, 1889-1903. Fancys Arbeit basiert weitgehend auf gedruckt
vorliegender Literatur, einschließlich zeitgenössischer Darstellungen und unveröffentlichten Manuskripten, privaten
Erinnerungen und Zeitungsberichten; Archivalien scheinen nicht benutzt zu sein; siehe ebd., 141, Bibliography.
Ebd., 1.
FANCY, Treasure Trails, 1889-1903, 9.
Zur Bedeutung eines Postoffice für die Siedlung siehe auch WOOD, D. J. : Making Ontario. Agriculture Colonization and
Landscape Re-Creation before the Railway. Montreal and Kingston 2000, 6.
Das galt auch für C.C. Farr in Haileybury, siehe FANCY, Treasure Trails, 1889-1903, 12.
So der Royal Commissioner Edward Haycock, FANCY, Treasure Trails, 1889-1903, 19.
FANCY, Treasure Trails, 1889-1903, 26, 29.
Ebd., 29 ff.
FANCY, Treasure Trails, 1889-1903, 37.
FANCY, Treasure Trails, 1889-1903, 38 f.
Edb., 39, sowie New Liskeard – The Young City of the North. The Temiskaming Herald. Illustrated Supplement, Vol. 1, No.
28, New Liskeard, February 1905. (Mikrofilm in der Library of Cobalt/Ont.)
FANCY, Treasure Trails, 1889-1903, 41.
„Painfully slow“, ebd., 42.
13
Siedlungswillige, die mit der Meteor ankamen und mangels einer Pier mit Booten zum Ufer übergesetzt
werden mussten, waren enttäuscht von dem eher trostlosen Anblick, der sich ihnen bot.60 Farr war deshalb
1895 sogar nach England gefahren, um neue vorrangig protestantische Siedler zu werben.61 Immerhin gelang es ihm, einige Engländer zu überzeugen, die wie die Atkinson-Brüder im nächsten Jahr nach Haileybury folgten.62
Die Konzentration auf protestantische Engländer führte 1895 zum ersten Mord: der katholische Peter Giroux wurde von aufgebrachten Protestanten ermordet.63 Das „Profil“ dieser Siedlung wird aus beiden Ereignissen deutlich: eine englisch-protestantische Siedlung sollte hier entstehen, andere ethnische oder konfessionelle Orientierungen waren weniger erwünscht. Dennoch kam es zu weiteren Einwanderungen von
Nicht-Briten wie der schwedischen Oslund-Familie noch 1896.64
In der zweiten Hälfte der 1890er Jahre fingen die beiden Siedlungen an zu prosperieren. Allerdings zeigte
sich jetzt, dass New Liskeard besser für eine agrarische Siedlung geeignet war als Haileybury; die Zahl
der Siedler dort nahm schneller zu als in der älteren Siedlung.
New Liskeard liegt am Rande des Little Clay Belt an der Mündung des Wabi River in den Lake Temiskaming. Die Siedlung war ebenfalls von Engländern gegründet worden: Charles Wittfield Tucker, in Bristol
geboren, hatte in Westindien und den USA gelebt, dann östlich von Toronto, hatte dort das Pamphlet von
Farr gelesen und sich auf den Weg gemacht.65
Die Familie Tucker baute den Ort bald weiter aus, Mrs. Tucker gründete in Haileybury die erste Presbyterianische Kirche. An der Mündung des Wabi gründeten Angus McKelvie und Tom McCamus eine Holzmühle, 1896 wird der erste „store“ eröffnet, die erste Schule und die erste Kirche werden gebaut. Zu
dieser Zeit verbesserten sich die Verkehrsverhältnisse in diese Region deutlich: jetzt gab es immerhin eine
Schmalspurbahn von Mattawa nach South Temiskaming und es werden weitere kleine Dampfer am oberen
See eingesetzt. Bis dahin war die Siedlung an beiden Ufern des Wabi ausgebaut worden, ohne dass eine
direkte Verbindung bestand, 1897 wird dann die erste Brücke gebaut. Die prägende Erfahrung der ersten
Siedler war der Dreck; hölzerne Sidewalks brachten nur wenig Verbesserung. Schmutz gehört zum Alltag
der ersten Siedler. Die Siedlungsbedingungen sind hart, speziell für die Frauen und kleine Kinder. „How
Haileybury housewives survived spring and fall is an unanswered mystery.”66
748:
Kennzeichnend für diese Phase ist eine hohe Fluktuation unter den Siedlern, die Bedingungen sind ungünstig, die Mobilität ist hoch; gleichwohl halten sich die Siedlungen: „Nevertheless, the settlement took
hold”.67 Nach einigen Problemen mit der Post wird 1897 der Name „New Liskeard“ festgelegt.68
Anfang des neuen Jahrhunderts präsentierte sich die Stadt mit unverkennbaren (und übertriebenem)
Selbstbewusstsein: „Five Years ago New Liskeard was but a frame and the Temiskaming District, to the
average man of Old Ontario, a wilderness of stunted pine and rock. To-day it is the talk of Ontario. The
Great Clay Belt, of sixteen million acres of arable land, north of the Laurentian region, runs south to the
head of Lake Temiskaming in the shape of a big V.”69 Die Siedlung hatte allerdings in der Tat gerade nach
dem Besuch der Landseaker Anfang des Jahrhunderts deutlich zugenommen.
60
61
62
63
64
65
66
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68
69
„On the C.P.R. From Ottawa they [gemeint sind Siedler] saw scarce life in endless forests but the rough streets of Renfrew,
Pembroke and Mattawa teemd with people. Haileybury, though, does not even have a recognizable street.“ FANCY, Treasure
Trails, 1889-1903, 61.
Ebd., 52.
Ebd., 55 ff.
FANCY, Treasure Trails, 1889-1903, 50, 51, 64 f; der Konflikt wurde im Nachhinein durch den Bruder des Toten beigelegt;
anschließend lebten Protestanten und Franco-Kanadier ohne größere Konflikte nebeneinander.
Ebd., 65 ff. OSLUND, Chr. : One Hundred Years of Swedish Settlement in Timiskaming. Haileybury 1996
Das folgende nach CASSIDY, Arrow, 116 ff. Temiskaming Herald, wie Anm.
CASSIDY, Arrow, 247.
CASSIDY, Arrow North, 119.
Der Name New Liskeard wurde vergeben, nachdem es Verwechslungen mit einem Ort namens Lisgar gegeben hatte.
Temiskaming Herald, wie Anm. .
14
Neben diesen beschreibenden Quellen erlauben auch die vorhandenen demographischen Quellen einen
Blick in die Lebensverhältnisse am Anfang der Siedlung.70 Eine Auswertung dieser unterschiedlichen Daten zeigt eine Gesellschaft, die teilweise noch einen frühneuzeitlichen Charakter hatte: die Menschen
waren vergleichsweise jung und die Kindersterblichkeit hoch. Die Bedingungen einer Frontier-Region
werden hier deutlich sichtbar. Die zentrale, hier teilweise ausgewertete Quelle sind die Kirchenbücher der
St. Paul‘s Anglican Church in Haileybury, die ab 1894 einsetzen.71
Abbildung 3 Sterbealter in Haileyburg (Anglican Church) (1896-1917, n=159)
749:
Das durchschnittliche Alter der zwischen 1896 und 1917 Gestorbenen72 betrug bei den Männern 24,5 Jahre und bei den Frauen 21,4 Jahre. Sehr hoch war die Kindersterblichkeit (Abbildung 3): von 159 Toten im
untersuchten Zeitraum waren 31 im ersten, weitere 33 zwischen dem ersten und fünften Lebensjahr gestorben, das entspricht einem Anteil von 40,2 %. Weshalb dieser Prozentsatz so hoch war, zeigt sich anhand
der genannten Todesursachen: Frauen und Kinder starben in erster Linie an Krankheiten der Atmungsorgane und solchen, die in unterschiedlicher Form auf schlechte Hygiene73 zurückzuführen waren. Unter
54 Todesfällen der Frauen fanden sich nur vier, die mit der Geburt verbunden waren. Jedes 10. Kind starb
direkt im Zusammenhang einer Geburt.74 Bei den Männer waren die Verhältnisse in einem Punkt anders:
in 52 von 86 Fällen führten auch hier Krankheiten zum Tod, aber der entscheidende Unterschied waren 17
Unfälle, die sich im Zusammenhang mit der Arbeit ereignet hatten: Explosionen, Erschießen, Fallen in
Schächte, Ertrinken, Erschlagen von herabfallenden Bäumen oder in 2 Fällen Trunkenheit. Hinzu kamen
noch besondere Fälle wie ein Schuljunge, der bei einer Schießerei ums Leben kam, oder zwei Männer, die
unter mysteriösen Umständen tot im Bett gefunden wurden.
In all diesen Fällen zeigt sich die extreme Situation der frühen Siedler: Kindersterblichkeit, Krankheiten,
die auf Grund der extremen Wetterverhältnisse oder unzureichender Hygiene ergaben75, dazu die besondere Gefährdung der Männer während ihrer Arbeit.
70
71
72
73
74
75
An dieser Stelle sei besonders den Mitarbeitern des Museum in Haileybury sowie Mr. Bruce Taylor, New Liskeard, gedankt,
die mir die im folgenden genannten Unterlagen zur Verfügung stellten (als Kopien oder als Abschriften).
Die benutzten maschinenschriftlichen Abschriften sind im Haileybury Museum.
N=159.
Hierzu wäre auch die Ruhr zu zählen. Sowohl bei Männern als auch bei Frauen wird in jeweils einem Fall Phthisis angegeben,
was auf Filzlausbefall hinweisen würde.
6 von 61.
Hierzu sind auch Epidemien wie mehrere Choleraepidemien wie 1909 zu zählen.
15
Schließlich darf die unzureichende ärztliche Versorgung nicht vergessen werden. Angesichts der schlechten Wegeverbindungen vieler Häuser weitab von den größeren Siedlungen dürfte es oft nicht gelungen
sein, einen Arzt rechtzeitig zu holen. Das lässt sich auch an den Taufen feststellen: besonders in den frühen Jahren fanden die Taufen erst nach Ablauf des Winters statt, zuweilen betrugen die Abstände zwischen Geburt und Taufe sogar mehrere Jahre, so dass gleich mehrere Kinder getauft wurden.
An diesen Zahlen wird aber auch erkennbar, dass die neue Region keineswegs eine reine Männerdomäne
war, aber sie wurde von Männern rein zahlenmäßig dominiert. Das lässt sich jedenfalls an den den Census-Daten von 1901 ablesen.76 Danach handelte es sich beider Hälfte aller Haushalte um solche von Ehepaaren mit Kindern, aber immerhin ca. 1/3 aller Haushalte bestanden nur aus Männern, während unvollständige Familien selten waren. Die Kategorie „Männer ohne Frau und Kinder“ bezieht sich auf solche
Haushalte, in denen mehrere Männer lebten.
Familienverhältnisse
Distr. Nippissing 1901
Männer ohne Frau und Kinder 26
Ehepaare mit Kindern 165
Männer allein 115
Frauen mit Kindern, ohne Mann 4
Männer mit Kindern, ohne Frau 26
Census Nippissing 1901;
Bruce Taylor;
Diagramm: Schneider
Mit dem Jahr 1901 ist eine Grenze markiert, sie markiert das Ende dieses Artikels. Sie bildet aber insofern
für die beschriebene Region eine Grenze, als 1902 die Eisenbahn gebaut wurde, welche in den Jahren zuvor immer wieder gefordert wurde, und weil mit dem Eisenbahnbau 1902 eine entscheidende Wende eintrat: während des Eisenbahn750:
baus stießen mehrere Arbeiter 1903 auf hochwertige Silbervorkommen; sie bildeten die Basis für „the
Cobalt Bonanza“77.
Wie ein Region entsteht: oder wer konstruiert was?
Es ist kein Zufall, wenn die neuere Forschung bei der Frage nach den konstitutiven Merkmalen von Regionen nach ethnischen und geschlechtsspezifischen Aspekten fragt, jedenfalls in der englischsprachigen
Literatur. Eher ist es schon erstaunlich, wie wenig die deutsche Forschung danach fragt. Region, so kann
man nach den vorliegenden Befunden schließen, ist – neben allen objektiven Unterschieden – ein Konstrukt und ein Produkt zugleich. Beides ist miteinander verbunden: sie ist das Produkt konkreten historischen Handelns, wobei es Elemente gibt, die auch für europäische Regionen nicht unwichtig sind. Die
Eisenbahn als wichtige, regionenbildende Kategorie fällt hier sofort auf. Doch das ist nur der erste Eindruck, denn die Einordnung der Regionenbildung in einen weitergehenden gesellschaftlichen Kontext ist
umfassender.
76
77
District of Nipissing; frdlw. mitgeteilt von Mr. Bruce Taylor, New Liskeard.
SURTEES, Northern Connection, 29-45, sowie die in Anm. genannte Literatur.
16
Die Region entsteht nicht einfach aus „wilder“ Wurzel, sondern ist das Ergebnis zielgerichteter Kolonisation, die wiederum in einen größeren gesellschaftlichen Kontext eingebettet ist. Die kanadische Kolonisationsbewegung Ende des 19. Jahrhunderts ist ohne mehrere Voraussetzungen nicht denkbar. Hierzu gehören insgesamt die großen Migrationsbewegungen des 19. Jahrhunderts, die in erster Linie eine transatlantische (und transpazifische) Wanderung darstellten, wobei die USA als Haupteinwanderungsland zugleich
auf die interne Konkurrenz zwischen Kanada und den USA verweist. Die Wanderung erhielt am Ende des
19. Jahrhunderts dadurch eine zusätzliche Aufwertung, dass einerseits eine interne Wanderung einsetzte
und andererseits die Voraussetzungen
751
für eine ländliche (Farm-)Siedlung günstig waren, weil es eine weltweite Nachfrage nach Getreide gab.
Diese beiden Aspekte verweisen auf die gesamtgesellschaftlichen, die industriellen Rahmenbedingungen
für die Siedlung. Ohne diese Nachfrage und das nationale Interesse an einer systematischen Siedlung hätte
es eine Siedlung weder in Ontario noch in den westlichen Landesteilen Kanadas oder den USA gegeben.
Sie waren aber nicht nur Anlass und Grund für die Kolonisation, sondern auch Voraussetzung. Denn ohne
eine Anbindung an die Märkte hatten diese Siedlungen keinen Sinn. Insofern kam der Eisenbahn als
Voraussetzung für eine Siedlung fernab von den klassischen Massenverkehrswegen der Flüsse, Ströme
und Meere eine existentielle Bedeutung zu.
Es ist aber offenkundig, dass diese objektiven Faktoren für die Entstehung einer Region nicht allein ausschlaggebend waren, sondern verbunden waren mit einer subjektiven Ebene – die Region war auch ein
Konstrukt. Hier fällt übrigens der Unterschied zwischen amerikanischer und deutscher Regionalgeschichte
auf: während in neueren amerikanischen Studien der Konstruktcharakter von Region betont wird, fehlt er
in deutschen Studien, die Region wird hier zu einer eher objektiven, allerdings auch identitätsbildenden
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Diese Identität war mit gesellschaftlich relevanten Stereotypen verbunden, die zudem eine betonte geschlechtsspezifische Komponente hatten. Die Darstellung der zwei Schriften zu Haileybury zeigt dies sehr
deutlich: die Region wird von „Männern“ errichtet, Frauen treten erst in der zweiten Phase auf, nachdem
die wichtigste Arbeit getan ist. Dass dies eine Konstruktion ist, zeigt sich schnell, wenngleich die statistischen Daten durchaus darauf verweisen, dass in der ersten Kolonisationsphase der Männeranteil überproportional groß war.
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Einige Beispiele: LEVINE, Ph.: The Construction of Empire: Gender, Race, and Nation in Europe’s Imperial Past. In: Journal of
Women’s History 14,4 (2003), 202-209. LÉGARÉ, A.: Nunavut. The Construction of a Regional Collective Identity in the
Canadian Arctic. In: Wicazo SA Review 17,2 (2002), 65-89. Entscheidend ist nicht der Bezug auf die Identitätsbildung,
sondern auf den kontruktiven Charakter dieser Identität.
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