Das Chaos der Stille
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Das Chaos der Stille
GABRIELLE ROTH Das Chaos der Stille Fünf Wege zur intuitiven Weisheit Aus dem Amerikanischen von Tom R. Schulz KOHA Titel der amerikanischen Originalausgabe: Connections Published by Jeremy P. Tarcher/Penguin a member of Penguin Group, New York Copyright © 2004 by Gabrielle Roth Deutsche Ausgabe: © KOHA-Verlag GmbH Burgrain 1. Auflage: August 2005 Published by arrangement with Candice Fuhrman Literary Agency, Mill Valley Lektorat: Nayoma de Haën Illustrationen: Hans Li Gesamtherstellung: Karin Schnellbach Druck: Bercker, Kevelaer ISBN 3-936862-59-1 Für Jonathan den geliebten Sohn, Hüter der Flamme Gabrielle Roth ist Theaterregisseurin, Bewegungserfinderin und -erforscherin, sie hat über ein Dutzend Schallplatten mit Tranceund Heilungsmusik aufgenommen und zwei in viele Sprachen übersetzte Bücher veröffentlicht, Maps To Ecstasy und Sweat Your Prayers (auf Deutsch unter Das befreite Herz bzw. Totem und Leben ist Bewegung erschienen). Seit über 35 Jahren unterrichtet sie in Schulen, Gemeindezentren, Büros, Theatern und Seminarhäusern die Fünf Rhythmen, eine Bewegungsmeditation, in der Workout und Ekstase, Selbstausdruck, Kunst, Theater und Heilung auf schillernde und immer neue Weise zusammenfließen. Ihre Workshops sind legendär; mithilfe verschiedener so genannter Maps weist Gabrielle Roth den Teilnehmern Brücken zwischen ihrem Alltagsleben und der Transzendenz, zwischen Ego und Seele, wobei sie die Energie und die Elektrizität moderner Tanzmusik mit der uralten Weisheit des Schamanismus verbindet. Sie lebt in New York City. Inhalt Danksagung9 Prolog13 Die Leere durchstreifen 21 Tanzen in der Dunkelheit 53 Ein langsamer Tanz mit dem Chaos 87 Das Netz weben 117 Alles, was ich tun kann, ist tanzen 159 Quellen und Materialien 196 Danksagung Ich habe einen tollen Verleger – Joel Fotinos hat’s einfach drauf. Er gab die Anregung zu diesem Buch und begleitete mich mit Geduld und Charme durch den Entstehungsprozess. Ihm und meiner ebenso liebenswerten wie loyalen Agentin Candice Fuhrman danke ich dafür, dass sie jederzeit für mich da waren, wenn ich sie brauchte. Vor meinen Lektoren falle ich auf die Knie. Sie haben mich zehntausend Mal aus der Dunkelheit geholt. Ich fühle mich Linda Kahn und Hal Bennet zu tiefem Dank verpflichtet. Linda begann und beendete diese Reise mit mir, und obgleich wir mein Sofa nie verließen, durchstreiften wir viele Länder des Mysteriums. Ihr Können trug entscheidend zum Schicksal dieses Buchs bei, ebenso wie ihr Witz und ihre Weisheit. Hal Bennet stieß auf halbem Wege hinzu und nährte das Projekt in endlos vielen Ferngesprächen und Entwürfen mit seiner Poesie und Leidenschaft. Und großen Dank auch an Robert Ansell, meinen lieben Mann, der (fast)unermüdlich las, korrigierte, tippte und über jede einzelne Seite jedes Entwurfs steppte. Viele tolle Leute brachten ihre Kunst, ihre Kreativität und ihre Geschichten ein. Besonders danken möchte ich: Hans Li dafür, dass er erneut Ikonen aus dem Dunkel hervorzulocken vermochte; Jewel Mathieson für ihre krassen Gedichte und Jonathan Horan dafür, dass er das Leben der Medizin lebt und sich furchtlos und großzügig mitteilt, ganz zu schweigen davon, wie er mich auf diesem Weg dabei unterstützte, authentisch zu bleiben. Ohne meine Horde Freunde und ein paar Fremde hätte ich diese 9 Reise nicht unternehmen können: Donna Karan, Seelenschwester, danke ich dafür, dass sie mich übers große Wasser getragen hat, immer und immer wieder, dass sie mich fürs Yoga begeistert hat und für meinen tollen Yogalehrer Rodney Yee. Ich danke meiner schamanischen Busenfreundin Terry Iacuzzo; dem Kammermystiker Johnny Dark; der Kriegsbraut Lynn Kohlman; dem Zen-Mann Eliezer Sobel; dem Rockstar Lorca Simons; der vertrauenden Seele Bobby Bethea; dem wilden Engel Robby Anton; dem Grenzgänger Marty Klein; den elektrischen Musen Martha und Zeet Peabody und der schonungslosen Rechercheurin Muireann O’Callaghan. Und Dank an Jared Pitman, meinen Sitznachbarn auf dem UnitedFlug UA 10 von Los Angeles nach JFK, dessen Unschuld und Neugierde meine Schreibhemmung durchbrachen. Danken möchte ich auch den Straßenkämpfern des Moving Centers, die allzeit bereit sind zu geben, zu dienen, zu opfern und über sich selbst hinauszuwachsen – Kathy Altman, Susannah DarlingKhan, Ya’Acov Darling-Khan, Jonathan Horan, Andrea Juhan und Lori Saltzman. In meinen Dank schließe ich auch alle meine Schüler ein – jeder von ihnen war ein Katalysator für die Vertiefung meines Bewusstseins. Und bei Tarcher/Penguin einen Riesendank an Terri Henesy für ihre freudige, spaßbetonte Herangehensweise ans Redigieren und für ihre Hilfe dabei, dass das Buch seinen Weg durchs System nahm – keine leichte Aufgabe; Meredith Phebus für ihre Zauberei bei der Produktion und Mitch Horowitz für seinen Enthusiasmus und seine Unterstützung. 10 Lass es für dich ein großes und hohes Mysterium im Lichte der Natur sein, dass ein Ding seine Form und Gestalt vollkommen verlieren und einbüßen kann, nur um in der Folge aus nichts neu zu erstehen und zu etwas zu werden, dessen Kraft und Tugend bei weitem edler ist als das, was es zu Beginn war. PAR ACELSUS Prolog Deine Kunst ist der Heilige Geist, der dir durch die Seele weht. JACK KEROUAC Vor zwanzig Jahren machte ich mich auf die Suche nach der idealen Wohnung in Manhattan. Sieben Monate lang latschte ich von einer Seite der Insel zur anderen und sah mir Wohnungen an, Stadthäuser, Lofts, sogar leerstehende Kirchen. Ich glaube, mein Makler war am Ende reif für eine Selbsthilfegruppe. Eines Tages, nachdem wir eine Wohnung im Village besichtigt hatten, blieben wir in einer Einbahnstraße im Verkehr stecken. Als ich aus dem Wagenfenster sah, bemerkte ich einen Papierfetzen, der an einer Haustür klebte. Irgendwas ließ mich aussteigen. Auf dem Zettel wurde ein Loft zur Miete angeboten, oben im fünften Stock. Ich drückte auf die Klingel, und der Eigentümer zeigte mir die Wohnung. In dem Moment, als ich meinen Fuß über die Schwelle setzte, wusste ich, dass ich zu Hause war. Ein Freund von mir war eine Woche zum Skilaufen in Aspen. Am Ende dieser Woche wurde starker Schneefall angekündigt, es sollte einen halben Meter herrlichen Neuschnee geben. Mein Freund hatte keinen zwingenden Grund abzureisen – er lebte allein und war selbstständig –, aber aus irgendeinem Grund nahm er trotzdem das Flugzeug, das letzte, das noch planmäßig abflog. Zurück in New York ging er auf die Geburtstagsparty seiner Cousine. Als er um ein Uhr morgens seinen Mantel anzog, um zu gehen, sagte sie zu 13 ihm: »Du musst unbedingt noch meine Freundin kennenlernen!« Sie machte die beiden miteinander bekannt, und sie unterhielten sich zwei Stunden lang. Noch im selben Monat suchten sie nach einer gemeinsamen Wohnung, und noch vor Ablauf eines Jahres heirateten sie. Ein Bekannter von mir, ein Börsenmakler, lag eines Morgens mit hohem Fieber im Bett. Er fühlte sich elend und war drauf und dran, den Tag frei zu nehmen. Aber etwas zwang ihn dazu, ein paar Paracetamol einzuwerfen und sich ins Büro zu schleppen. An diesem Tag gelang ihm ein Deal, der seine ganze Karriere veränderte. Zufall? Wunder? Göttliche Fügung? Handelt es sich dabei um Ereignisse, die einem nur einmal im Leben zustoßen, oder zumindest höchst selten und unvorhersehbar? Oder kann man sein ganzes Leben auf dieser ebenso rätselhaften wie wunderbaren Frequenz zubringen, auf der man immer genau weiß, wer man ist, wohin man geht und wie man dort hinkommen wird, ohne sich endlos den Kopf zu zerbrechen und jede Entscheidung hin und her zu wenden? Nun ja, man kann; dazu muss man nur seine Seele befreien, damit sie ihrem wahren Weg folgen kann, mit der Intuition – diesem heiligen Funken göttlicher Weisheit – als Führer. Hat man die Intuition erstmal zum Leben erweckt und sich angewöhnt, ihr zuzuhören und ihr gemäß zu handeln, dann wird jede Entscheidung im Leben auf die innere Wahrheit bezogen sein und diese widerspiegeln – sei es, was man im Restaurant zu essen bestellt oder ob man eine neue Arbeitstelle antreten, heiraten, schwanger werden oder einem Ashram beitreten soll. Der Trick dabei ist, dir nicht alle Antworten im Kopf zurecht zu legen, sondern lieber alle Informationen, die du brauchst, im Körper aufzunehmen, deinem Bauchgefühl zu vertrauen und zu tanzen, zu meditieren, spazieren 14 zu gehen oder das zu tun, was du für gewöhnlich tust, um in einen entspannten Seinszustand zu kommen. Dann wirst du wissen, was zu tun ist. Das war schon immer so, und so wird es immer sein. Bei einer Freundin von mir wurde kürzlich Brustkrebs diagnostiziert. Sie stand vor der Wahl, sich entweder die Brust abnehmen zu lassen oder zu warten und den Krankheitsverlauf zu beobachten. Der Chirurg riet ihr, darüber die nächsten zwei Wochen lang nicht nachzudenken. Er sagte: »Gehen Sie nach Hause und lassen Sie es sich gut gehen. Tief im Innern wissen Sie sowieso schon, was Sie tun müssen. Nachdenken – eine Entscheidung herbeizwingen wollen – führt nur zu Ängsten und schließlich zu Bedauern. In ein oder zwei Wochen werden Sie einfach wissen, was zu tun ist.« Und sie wusste es. Stell dir vor, wir könnten unser Leben so leben, dass wir immer wissen, was wir zu tun und was wir zu lassen haben! Das ist möglich, bloß vertrauen wir dieser inneren Weisheit nicht so oft, wie wir sollten. Wenn wir auf intuitive Art und Weise leben, können wir feine Veränderungen in der Stimmung von Leuten wahrnehmen, zwischen Angst, Phantasien und wirklicher Gefahr unterscheiden, und wenn wir an eine Weggabelung gelangen, wissen wir, welche Richtung für uns die richtige ist. Es geht darum, zu unterscheiden wer du bist und wer du nicht bist und herauszufinden, wo deine persönliche Wahrheit mit der größeren Wahrheit des Universums zusammenfließt. Es ist eine Lebensweise. Wir alle kommen hundertprozentig intuitiv auf die Welt; es geht nur darum, dieses angeborene Recht wieder einzufordern. Um das zu tun, darfst du dir selbst nicht im Weg stehen. Du musst dich von all dem befreien, was den natürlichen Tanz deiner Intuition blockieren, ablenken, zerstreuen oder unterdrücken könnte. Mit der Intuition in Kontakt zu kommen soll natürlich nicht dazu 15 dienen, alle Welt zu verblüffen oder sich als jemand aufzuspielen, der begabter, aufregender oder besser aufs Universum eingestimmt ist als alle anderen. Im Gegenteil: ich wüsste nichts, was einen demütiger macht als der Kontakt zur eigenen Intuition. Anstatt dir dabei zu helfen, dein Selbst aufzublasen, macht es das Selbst entbehrlich, und du wirst zu einem Gefäß, einem Kanal, einem Werkzeug. Das höchste Ziel der Intuition besteht darin, deinem höheren Selbst und dem höheren Selbst der anderen zu dienen und in diesem Dienen die geheimnisvolle Weisheit der Seele zu erfahren. Damit wir unsere intuitiven Fähigkeiten ganz verwirklichen können, müssen wir instinktiv, intim, intentional, integer und inspiriert sein. Jede dieser Energien ist eine Facette der Intuition, unserer Verbindung zur göttlichen Kraft, die alles in Bewegung hält. Schwierig wird es nur, wenn wir ihrer überlegenen Intelligenz nicht mehr vertrauen und zulassen, dass unsere Intuition von den lärmenden, ausbremsenden und abwehrenden Stimmen des Egos überrannt und mundtot gemacht wird. Dem Ego geht es nur um seine Selbstherrlichkeit. Carlos Castanedas Don Juan nennt es eine »fremde Installation«. Es hat nichts mit dem zu tun, wer wir wirklich sind, wohin wir gehen und wie wir dort hinkommen. Vielmehr sabotiert es jede Suche nach dem Wahren, nach der Wirklichkeit und nach dem, was unsere Aufmerksamkeit verdient. Das Ego möchte uns festlegen, verstecken, klein machen, abtrennen und unterwandern. Es lebt in einer Schattenwelt, und jedes Mal, wenn wir nach etwas Wirklichem greifen wollen, taucht es urplötzlich vor uns auf wie ein Maulwurf. Es ist wie ein Guerillakrieger, der aus dem Dschungel springt und uns aus dem Hinterhalt überfällt, während wir uns durchs Gestrüpp zum verlorenen Königreich durchkämpfen. Unsere Aufgabe ist es, 16 seine Angriffe abzuwehren und unser Ziel nicht aus dem Auge zu verlieren – nämlich diesen einen, unverwechselbaren Tanz zu entdecken, durch den jeder auf seine Weise der Menschheit am besten dienen kann. Während die Intuition unser Superheld ist, der innere Batman, wirkt das Ego als innerer Joker, der ständig Ränke gegen uns schmiedet und Hindernisse auftürmt, damit wir unsere Bestimmung verfehlen. Um unsere Intuition zu befreien, müssen wir schlauer sein als unser Ego. Wir werden mit einer Intelligenz geboren, die auf irgendeine Weise der Welt dienlich sein soll. Wie groß oder klein unser Beitrag auch sein mag: wir müssen herausfinden, worin er besteht. Und das funktioniert am schnellsten, wenn wir uns in den geheimnisvollen Wirkungsweisen unserer Innenwelt tief verwurzeln. Für mich bedeutet Verwurzelung, dass ich in meine Füße finde und mich im Rhythmus der Erde wiege. Im Tanz wachen wir auf, wir spüren plötzlich unsere pralle Lebendigkeit, wir haben Spaß und vergessen den ganzen Scheiß, den wir sonst so mit uns rumschleppen. Beim Tanzen kommt das Wahre in uns zum Vorschein, wir befreien uns und stehen uns nicht länger im Weg. In der Bewegung trittst du dich selbst in den Hintern: Wenn du dich deinem Rhythmus wirklich ganz hingibst, dann siehst du genauso cool, geheimnisvoll und verführerisch aus, wie du eigentlich am liebsten aussehen würdest, aber nicht glaubst, dass du es je könntest. Abgesehen davon, dass wir es leben sollen, glaube ich nicht, dass das Leben irgendeine besondere Bedeutung hat. Das Leben nach dem Tod ist wie ein Gedanke, der einem erst einfällt, wenn er einem nichts mehr nützt – es kommt ein bisschen spät. Die Zeit, deinen Groove zu finden, ist Jetzt. Das geschieht, indem du anfängst, dich im Mysterium wohl zu fühlen, ruhig in der Dunkelheit, zentriert 17 im Chaos, verbunden mit dem vereinten Feld und absolut bereit, deiner Bestimmung zu folgen. Ehrlich zu sein gegenüber den Zeichen und Signalen, die aus der Innenwelt kommen, unterscheiden zu lernen, welche aus der Seele stammen und welche aus dem Ego – das ist unsere heilige Arbeit, die Arbeit, die uns ganz macht. Andere können viel für uns tun, aber dies können nur wir selbst für uns tun. Dieses Buch ist wie ein Spinnennetz – es ist weder gradlinig noch schreibt es eine bestimmte Reihenfolge vor. Alle seine Punkte sind auf sehr feine Weise miteinander verwoben. Fäden der Weisheit, die über Jahre des Tanzens mit einem Tribe von Suchenden gesammelt wurden, haben sich zu einer mystischen Matrix zusammengefügt, an der du dich nun bei deiner Suche nach einem von Seele erfüllten Leben entlanghangeln kannst. Die Intuition ist dein Pass in diese unsichtbare Zauberwelt, die, wie das Spinnennetz auf der nächsten Seite, fünf Bereiche umfasst. In jeden dieser Bereiche gibst du wie eine Opfergabe etwas von dir hinein. Gib deinen Körper dem Bereich des Mysteriums und nimm dafür das Geschenk des Instinkts entgegen. Biete dein Herz dem Bereich der Dunkelheit und nimm dafür das Geschenk der Intimität. Gib deinen Verstand dem Bereich des Chaos und nimm dafür das Geschenk der Intention, der absichtsvollen inneren Ausrichtung. Biete deine Seele dem Bereich der Einheit und nimm dafür das Geschenk der Integrität. Gib deinen Geist dem Bereich der Bestimmung und nimm dafür das Geschenk der Inspiration. Deine Aufgabe dabei wird es sein, ein wachsames Auge auf dein Ego zu behalten, das dich mit seinem Netz der Selbstherrlichkeit einwickeln möchte. Im Bereich des Mysteriums wird es versuchen, dich festzulegen. Im Bereich der Dunkelheit wird es versuchen, dich zu verstecken. Im Bereich des Chaos wird es versuchen, dich 18 klein zu machen. Im Bereich der Einheit wird es versuchen, dich abzutrennen. Im Bereich der Bestimmung wird es versuchen, dich zu sabotieren. Dem Ego geht es nur um Kontrolle, es will dich festnageln, damit du dich nicht mehr frei bewegen, verändern und nicht mehr frei wachsen kannst. Um tanzend deinen Träumen entgegenzuleben, musst du auf deine Intuition vertrauen, denn die Intuition nährt deine Seele, und deine Seele ist das Wichtigste an dir. Die Intuition ist eine spirituelle Kraft. Sie leitet uns auf unserem Weg, sie bringt uns voran und lässt unsere Füße und Hände, unseren Atem und unseren Bauch dem Großen Geist dienen. Nur wenn wir unsere intuitive Intelligenz mit offenen Armen aufnehmen, wird unsere Seele frei, ihre Bestimmung zu erfüllen. 19 Die Leere durchstreifen Es gibt keine Antwort. Es wird keine Antwort geben. Es hat nie eine Antwort gegeben. Das ist die Antwort. GETRUDE STEIN Für Zauberer ist Disziplin eine Kunst; die Kunst besteht darin, der Unendlichkeit ins Auge zu sehen, ohne mit der Wimper zu zucken – nicht aus Stärke, sondern aus Ehrfurcht. CARLOS CASTANEDA Ihr seid die Hüter des göttlichen Lichts, deshalb kehrt zurück zur Urwurzel eures Selbst. RUMI 21 Im siebeneinhalbten Monat schwanger Suchend bin ich auf Berggipfel gestiegen habe an heiligen Stätten gesessen mein Hirn mit Stoff durchtränkt nackt im Vollmondlicht getanzt bin über glühende Kohlen gelaufen hab gebetet, mich niedergeworfen und Mantren gesungen bis meine Zunge taub war doch nie war ich dem Mysterium näher Gott näher als jetzt im rotsamtenen Lehnstuhl wo ich fühle wie du dich drehst und sacht trommelst unter meiner Haut JEWEL MATHIESON 22 Der inneren Wahrheit auf der Spur Wenn du dich entspannst, akzeptierst du; das Dasein zu akzeptieren ist die einzige Möglichkeit, sich zu entspannen. OSHO Eines schönen Tages, im Alter von fünfzehn Jahren, sprang ich auf den Rücksitz des Autos von einem Freund, um mit fünf Freunden einen draufzumachen. Plötzlich kam meine Mutter über den Rasen unseres Vorgartens gerannt, schwang einen mit Schokoladenglasur verschmierten Holzlöffel in der Luft und schrie: »Gabrielle, raus aus dem Wagen! Du kannst da nicht mitfahren!« Sie schlug gegen die Autoscheibe und sah vollkommen verstört aus. Stocksauer, wütend und gedemütigt stieg ich aus. Meine Freunde brausten davon. Ich schmollte. Ein paar Querstraßen weiter fuhr ein Auto bei Rot über die Ampel und rauschte ihnen voll in die Seite. Die Rückbank, auf der ich kurz zuvor noch voller Abenteuerlust gesessen hatte, war völlig demoliert. Ich habe das meiner Mutter nie erzählt, weil ich fürchtete, dass sie mir dann jedes Mal diese Story auftischen würde, wenn ihr meine Pläne mal wieder Sorgen bereiteten. Aber die Geschichte gab mir sehr zu denken. Nächtelang lag ich auf dem Bett, starrte die Decke an und grübelte über diese mysteriöse Angelegenheit nach. Dieser intuitive Instinkt meiner Mutter gehörte auch zu mir, er war in meine Erbsubstanz eingeschrieben, ob mir das nun passte oder nicht. Ich fand es beängstigend, dass ich aus dem Nichts heraus 23 Dinge wusste, und das Aufflackern meiner Hellsichtigkeit brachte auch andere Leute aus der Fassung. Diese Gefühle ließen sich mit nichts anderem vergleichen. Sie ergriffen von mir Besitz, gingen mir durch und durch und waren im ganzen Körper spürbar, wie eine tierhafte Wahrnehmung. Als wäre ich einer unermesslichen, archaischen Macht ausgeliefert – einer innerlichen Flutwelle. Ein paar Jahre später auf dem College verabschiedete sich meine Mitbewohnerin mit den Worten, sie sei zu einem doppelten Blind Date verabredet. Es gab keinen vernünftigen Grund zu widersprechen, aber jede Faser meines Körpers schrie: »Geh nicht!« Alle Überredungskünste waren umsonst. Sie lachte mich aus und sagte, ich sei eine alte Glucke. Alle vier Beteiligten kamen in derselben Nacht bei einem tödlichen Autounfall ums Leben. Das wühlte mich total auf. Wie war es möglich, dass ich im Voraus wusste, was jemand anderem zustoßen würde? Das war kein Mutterinstinkt gewesen. Und was hieß das über die Zukunft, wenn etwas wahrgenommen werden konnte, noch bevor es sich ereignet hatte? War ich irgendwie für ihren Tod verantwortlich? Hätte ich ihn verhindern können? Diese Fragen zerrissen mich innerlich. Irgendwann wurde mir klar, dass das, was da geschah, so viel umfassender und größer war als alles, was ich mir vorstellen konnte, dass mir nur die Wahl blieb, mich entweder völlig verrückt zu machen oder nachzugeben und meinem Bauchgefühl zu vertrauen – und diesen Instinkt nicht zu analysieren, sondern seinen rätselhaften Fluss zu respektieren. Instinkt ist die Intuition des Körpers. Er äußert sich ganz urtümlich – in plötzlichen Schweiß- oder Kälteausbrüchen oder darin, dass man ruhelos auf und ab läuft oder sich gelähmt fühlt, weil man spürt, dass jemand, den man kennt oder liebt oder vielleicht sogar ein ganz Unbekannter in Gefahr schwebt. Wenn ich Gefahr spüre, wird mein ganzer Körper sehr 24 still, nur mein Kopf bewegt sich. Ich komme mir dann vor wie ein Leuchtturm, der einen Lichtstrahl durch trübes, unheimlich stilles Wasser schickt. Plötzlich hält der Lichtstrahl an und richtet sich auf etwas, und in diesem Augenblick empfange ich eine Anweisung, die mir genau sagt, womit ich es zu tun habe. Hände haben mir schon verraten, dass sie jemanden töten wollten, und das Meer verriet mir, dass es gleich mein Haus verschlingen würde. Seinem Instinkt auch in weniger dramatischen Situationen zu folgen kann dazu führen, dass man unvermittelt eine Bushaltestelle früher aussteigt als üblich oder sein Kind doch nicht bei der Schule anmeldet, für die man sich eigentlich schon entschieden hatte. Als ich mal mit einer Freundin zum Mittagessen im Restaurant saß, hatte ich, kaum war das Essen serviert worden, den sicheren Instinkt, dass wir uns unverzüglich an einen anderen Tisch setzen müssten. Fünf Minuten später krachte der Kronleuchter auf den Tisch, an dem wir zuvor gesessen hatten. Wie Woody Allen schon sagte: »Wenn Gott mich das nächste Mal testet, wird er es hoffentlich schriftlich ankündigen.« Instinkt funktioniert im Grunde unter Umgehung des Gehirns; er ergreift den Körper und macht dir laut und deutlich klar, was du zu tun oder zu lassen hast. Das Problem dabei ist, dass wir, wenn wir im Kopf leben, unsere Instinkte womöglich gar nicht hören und spüren. Und selbst wenn, weigern wir uns vielleicht, entsprechend zu handeln, denn wir sind in einem Kokon aus Identitäten und Persönlichkeiten eingesponnen, wir leben mit Bildern unserer Selbst als einer Person, die sich auf eine bestimmte Art verhält. Stell dir vor, du hast ein günstiges Ticket bekommen, mit dem du zur Hochzeit eines Freundes fliegen willst, aber ohne ersichtlichen Grund will dein Körper plötzlich nicht in dieses Flugzeug steigen. Nicht, dass du Angst hättest – es fühlt sich eher an wie ein Anfall 25 von Starrsinn. Jetzt spielt sich folgender Kampf ab: dein Kopf sagt, dass du unmöglich die Hochzeit verpassen kannst. Was würden die Leute von dir denken? Außerdem könntest du das Geld für das Ticket in den Wind schreiben. Gleichzeitig ruft es aus deinem Bauch: »Nicht fliegen!« Was machst du in dieser Situation? Also ich würde zuhause bleiben und mich um die Meinung der anderen nicht weiter scheren. Es muss ja nicht notwendigerweise heißen, dass das Flugzeug abstürzen wird, aber aus irgendeinem Grund hat es offenbar nicht sein sollen, dass du auf diese Hochzeit gehst. Wenn du deinen Instinkten mehr vertraust als allem anderen, wird es dir nicht leid tun. Sich dauernd damit zu beschäftigen, was für ein Bild man für andere abgibt, ist ein Zeichen von Überheblichkeit und es trennt dich von deinen Instinkten ab. In einer solchen Verfassung denkst du, du wüsstest alle Antworten; wahrscheinlich denkst du sogar, du selbst seiest die Antwort. Du glaubst an deine eigene »Öffentlichkeitsarbeit«, dabei ist das Ganze pure Windbeutelei. Und derjenige, der die heiße Luft hineinbläst, ist niemand anderer als dein Ego. Es verabscheut alles Vieldeutige und möchte unbedingt, dass du mit einer ganz festgefügten Vorstellung von dir selbst durchs Leben gehst. Aber Identität ist ungefähr so was wie ein Briefbeschwerer – ein Geschenk, das Leute machen, denen partout nichts einfällt, was sie schenken könnten. Sie ist etwas, das uns festnageln und verhindern möchte, dass wir uns wie Licht, wie Luft, wie Rhythmus bewegen. Die schwierige Aufgabe besteht darin, das Gewicht der Identität abzuwerfen, mitsamt seiner Vergangenheit und seinen möglichen Zukünften. Wir müssen uns von festgefügten Vorstellungen und Verhaltensweisen trennen, von allen Anhaftungen. Das mag beängstigend klingen, aber der Lohn der Mühe ist, dass 26 du dann jenes geheimnisvolle, überaus faszinierende Selbst, von dem du tief innen weißt, dass du es bist, auch wirklich sein kannst. Ungehindert kann dein Selbst dann an die Oberfläche kommen und dich deiner Aufgabe entgegenführen, deiner Bestimmung hier auf Erden. Nach seinen Instinkten leben heißt, im Mysterium zu leben. Das geht nur in der totalen Hingabe an das Unbekannte. Es ist wie das Laufen im Wasser; du steigst in den Strom, ohne dich an irgendetwas festhalten zu können. Das Wasser wäscht dich rein wie bei einer Taufe; es spült alle fixen Selbstbilder von dir ab und macht dich frei für das göttliche Selbst, das du deiner Bestimmung nach sein sollst. Der Weg der Wurzel Unter deiner Haut lebt der Mond. PABLO NERUDA, Liebe Als ich neulich an einem Sonntag ins Tanzstudio kam, stand da Sanga, mein fabelhafter Trommler, in seinen kanariengelben Stiefeln lässig an die Backsteinwand gelehnt; er hatte natürlich keinen Schimmer, dass an eben diesem Sonntag auf den Modeseiten der »New York Times« zu lesen stand, kanariengelb sei die neue InFarbe. Manche Leute werden einfach cool geboren. Ich umarmte ihn und telefonierte weiter auf meinem Handy. 27